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German Pages 657 [685] Year 2018
Frauke Berndt | Daniel Fulda (Hg.)
D ie Erzählung der Aufklärung
Studien zum achtzehnten Jahrhundert · Band 38
Meiner
S T U DI E N Z U M ACH TZ EH N T E N JA H R H U N DE RT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 38
FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG
FR AU K E BE R N DT / DA N I E L F U L DA (HG.)
Die Erzählung der Aufklärung Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2015 in Halle a. d. Saale
Unter Mitarbeit von Cornelia Pierstorff
FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landesforschungsschwerpunkts »Aufklärung – Religion – Wissen« in Halle und der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen (Universitätsbund e. V.).
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3356-1 ISBN eBook: 978-3-7873-3357-8
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INH A LT
Frauke Berndt / Daniel Fulda Die Erzählung der Aufklärung. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xiii T E I L I : PRO S PE K T E Michel Delon Der Roman vom ersten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Robert E. Norton Die deutschen Aufklärungen und die Dialektik der Geschichtsphilosophie . . 21 Elisabeth Décultot Vom Ursprung und Werden der Kunst erzählen. Narratologische Modelle der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Franz M. Eybl Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten als Erzählpoetik zwischen Chronik und Exempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Fritz Breithaupt Narrative der Vulnerabilität. Die Märchen der Brüder Grimm als serielle Reproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 T E I L I I : A S PE K T E
1. Sektion ›Die Aufklärung‹: Historische Erzählungen Iwan-Michelangelo D’Aprile ›Die Aufklärung‹: Historische Erzählungen. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 John A. McCarthy Erzählstrategien und europäische Politik in Wielands Geschichte des Agathon. Ein Beitrag zum Kontinentalisierungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
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Inhalt
Markus Debertol »Pest der Vernunft und der Religion!« Inquisitionsnarrative der katholischen Spätaufklärung am Beispiel einer bayerischen Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . 118 Mareike Gebhardt Kants kosmopolitischer Traum der befriedenden Demokratie. Ein Motiv der Aufklärung zwischen Philosophie und Erzählkunst . . . . . . . . 127 Andreas Hütig / Christine Waldschmidt Erzählen von Ursprung, Entwicklung und Fortschritt. Narrative Strategien in kulturgeschichtlichen Schriften der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Marlene Meuer Historisierung der Antike und geschichtliches Überlegenheitsgefühl nach dem Ende der Querelle des Anciens et des Modernes ? . . . . . . . . . . . . . . . 149
2. Sektion Stimme (n) der Vernunft: Philosophische Erzählungen Heiner F. Klemme Stimme(n) der Vernunft: Philosophische Erzählungen. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Hans Graubner Erzählen statt Beweisen. Johann Georg Hamanns Einwände gegen Vernunftkonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Leonhard Herrmann Erzählen von der Aufklärung als Aufklärung vom Erzählen. Aufklärungs- und Vernunftdiskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Elisabeth Johanna Koehn Das Rezeptionsmuster der Dialektik der Aufklärung im deutschsprachigen Roman seit 1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Manuel Mühlbacher Narratives Gegengift. Mimesis und Mimikry bei Shaftesbury . . . . . . . . . . . 192
Inhalt
VII
Wolfert von Rahden »Ein gewagtes Abenteuer der Vernunft«. Fußnotar Kant, Gedankendränger Herder und Sprachpsychonaut Moritz: Narrative vom Sprachursprung . . . . 202 Paola Rumore Eine fortgeschrittene Stimme in der deutschen Aufklärung. Georg Friedrich Meiers Erzählungen einer aufklärerischen Weltweisheit . . . 216 Martin Urmann Narration und Kontingenz. Erzählungen des Verfalls bei Montesquieu und Rousseau zwischen akademischem Diskurs und literarischem Entwurf . . . . 224
3.
Sektion ( Aber ) Glauben: Religiöse Erzählungen Sabine Volk-Birke (Aber)Glauben: Religiöse Erzählungen. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Florian Bock Gegen die »Bezauberung der Welt«. Katholische Predigten erzählen Aufklärung (1720–1803) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Astrid Dröse Friedrich Nicolais satirischer Roman Sebaldus Nothanker und der Höllen-Diskurs der Spätaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Clare Haynes Aufgeklärte Nach-Erzählung der Auferstehung und Himmelfahrt Christi. William Hogarths Altarbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Andreas Keller Heiligenlegenden. Aufklären mit den Mitteln des Aberglaubens oder Rettung des Christentums mit seinen erzählerischen Frühformen? . . . . . . . . 285 Ute Poetzsch Über Erzählungen in der Kirchenmusik Telemanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Laura M. Stevens The New Pilgrim’s Progress, The Female American und die Entstehung narrativer Formen gegen die Erweckungsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
VIII
Inhalt
4 . Sektion
Überlieferung: Von Anderem und Anderen erzählen Birgit Neumann Überlieferung: Von Anderem und Anderen erzählen. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Susanne Greilich Vom Anderen erzählen in den Grenzen der eigenen Narrative. Marmontels Les Incas. Der inkaische ›Andere‹ in der Literatur der Aufklärung . . . . . . . . . 329 Florian Kappeler Das schwarze Licht der Aufklärung. Erzählungen der Haitianischen Revolution im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Katja Kremendahl Vom Anderen in den Reiseberichten des Kapitän James Cook. Eine Funktionsanalyse des Tabus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Lucia Mor Pyramiden, Geheimnisse, Schwärmer. Das erzählte Ägypten in den Trivialromanen der Spätaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Paul Strohmaier Tahiti oder Europa als Insel. Bougainville, Diderot und der sauvage raisonneur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 5 . Sektion
Theorien und Modelle (un) möglicher Welten Martin Mulsow Theorien und Modelle (un)möglicher Welten. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Michael Dominik Hagel Beschreiben, Abschweifen, Folgen. Zur Narratologie des utopischen Genres am Beispiel von C. M. Wielands Der Goldne Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Christian Reidenbach »Zur Tatsache!« Krise der Mimesis und diskontinuierliches Erzählen bei Denis Diderot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
Inhalt
IX
Fabian Schmitz Unter dem Mikroskop des Micromégas. Voltaires Science-Fiction der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Lars-Thade Ulrichs Vom Roman der Philosophen zum philosophischen Roman. Der conte philosophique (Voltaire, Diderot) und der Roman der deutschen Spätaufklärung (Wieland, Wezel, Heinse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
6.
Sektion Medien des Erzählens: Inter- und Tr ansmedialität Cornelia Pierstorff Medien des Erzählens: Inter- und Transmedialität. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Friederike Felicitas Günther Vom Einbruch der Erzählung in die deskriptive Poesie. Brockes’ Beschreibung eines fliehenden Hirschs im Kupferstich von Johann Elias Ridinger . . . . . . . 429 Wiebke Helm Vom Lesen, Sehen und Begreifen. Intermedialität im Kinder- und Jugendsachbuch der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Beate Hochholdinger-Reiterer Schauspielkunst erfinden und erzählen. Theaterkritiken, Schauspieler- und Rollenporträts als Agenten der aufklärerischen Theaterreform . . . . . . . . . . . 449
7.
Sektion Narr ation, Perspektive, Ambivalenz: Szenen und Rollen des Erzählens Fritz Breithaupt Narration, Perspektive, Ambivalenz: Szenen und Rollen des Erzählens. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Anna Cordes Diderot und die Fiktion performativen Erzählens: Jacques le fataliste et son maître . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
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Inhalt
Wolfram Malte Fues Der Philosoph und das natürliche Frauenzimmer für eine kleine Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Irmtraud Hnilica »Oh Clary! Clary! Thou wert always a two-faced girl!« Ambivalenz und Polyperspektivität in Samuel Richardsons Clarissa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Judith Jansen Die Stimmen der Sprache. Inszeniertes Erzählen in F. G. Klopstocks Grammatischen Gesprächen (1794) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Daniel Kazmaier Der Tempel der queeren Dichtkunst. Immanuel Jakob Pyras Lehrgedicht Der Tempel der wahren Dichtkunst queer gelesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Christopher Meid Erzählte Aufklärung. Reflexionen über den politischen Roman zwischen Sinold von Schütz und Wieland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Miriam Seidler »Ein Augenzeuge kann, ohne Schuld seines Willens, unrichtig sehen.« Biographisches Erzählen und das Erzählen von Biographien in Christoph Martin Wielands Roman Agathodämon (1799) . . . . . . . . . . . . . . . 526
8 . Sektion
Narr ation, Kognition und Affekt: Fühlen, Empfinden, Erkennen Frauke Berndt Narration, Kognition und Affekt: Fühlen, Empfinden, Erkennen. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Evelyn Dueck »[D]enn es ist genug, daß dieses empfindet‹. Narration, Sinneswahrnehmung und das Problem des aufrechten Sehens in der Optik um 1700 . . . . . . . . . . . 545 Tanja van Hoorn Affektregie. Schillers Verbrecher aus Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
Inhalt
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Anthony Mahler Die Kunst, die Lebensgeschichte zu verlängern. Zur narrativen Einheit der Diät in Hufelands Makrobiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Jürgen Meyer ›Senti-mental‹? Theories of Mind in englischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
9. Sektion
Erzählen in den Wissenschaften – wissenschaftliches Erzählen Anita Traninger Erzählen in den Wissenschaften – wissenschaftliches Erzählen. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Marie-Theres Federhofer Der erzählende Patient. Narrative von Augenkranken in Aufklärungszeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 Martin Gierl Plan und Poesie. Erzählte und konstruierte Geschichte bei Johann Christoph Gatterer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Norman Kasper Urwelt – Vorwelt – Vorgeschichte. Konzepte des menschlichen Anfangs in Weltgeschichte, Menschheitsgeschichte und früher Paläontologie 1770–1820 608 Sebastian Meixner Erkenntnis erzählen. Goethes frühe naturwissenschaftliche Schriften . . . . . 617 Bettina Noak Medizinisches Erzählen bei Frederik Ruysch (1638–1731) . . . . . . . . . . . . . . 629 Bastian Ronge Philosophia oeconomiae medicans. Zur ethopoetischen Funktion von Adam Smiths Wealth of Nations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651
Frauke Berndt / Daniel Fulda
Die Erzählung der Aufklärung Einleitung »si narrem«1
D
ass die Aufklärung ein europäisches Projekt, noch dazu ein nicht abgeschlossenes Projekt sei, prägt das Epochenbild.2 Dass dieses offene Projekt der Aufklärung ein narratives Projekt ist, kommt erst langsam in den Blick, obwohl die Verbindung von Aufklären und Erzählen so nahe liegt. Denn aufklären heißt erzählen, weil Erzählungen dadurch Sinn stiften, dass sie Wissen in einer bestimmten Art und Weise veranschaulichen. Sowohl von den Gegenständen, über die die Aufklärung aufklärt, als auch von der Aufklärung selbst – vom Metanarrativ ›Aufklärung‹ – wird von Aufklärern erzählt,3 und dieses Erzählen setzt mit der Aufklärung ein und hält bis heute an. Es findet sowohl in literarischen Texten, also in Romanen, Erzählungen, Dramen und (Lehr-)Gedichten, Balladen und Oden, als auch in wissenschaftlichen Texten statt, die nicht nur dann auf Erzählungen ausweichen, wenn die Komplexität des Gegenstandes die argumentative Begriffsarbeit überfordert oder gar sprengt. Im September 2015 stand der Zusammenhang von Aufklären und Erzählen im Zentrum der am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung ausgerichteten internationalen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts: Narrating Enlightenment and Enlightenment Narrative.4 Im europäischen Erzählschatz spielt das Metanarrativ der Aufklärung eine zentrale Rolle. Auf der einen Seite verbindet es bis heute nicht nur Europa mit allen Kulturen, die sich dem Projekt der Aufklärung verpflichtet sehen, z. B. der Freiheit der und des Einzelnen, der Trennung von Staat und Kirche oder dem Prinzip der Gewaltenteilung. Auf der anderen Seite haben sowohl dieses Metanarrativ als auch die wichtigsten Erzählformen der Moderne ihren Ursprung im Zeitalter der Aufklärung. Dort werden sie in verschiedenen Medien, insbesondere in der Literatur, eingeübt und reflektiert. Ist die Aufklärung also als genuine Epoche des Erzählens 1 Alexander
Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Hrsg. v. Dagmar Mirbach. 2 Bde. Bd. 1. Hamburg 2007, S. 484. 2 Vgl. Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek 2012, S. 9–13. 3 Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hrsg. v. Peter Engelmann. Wien 62009, S. 24. 4 Vgl. Cornelia Pierstorff: Erzählende und erzählte Aufklärung – Narrating Enlightenment and Enlightenment Narrative. Tagung der DGEJ, Halle (Saale), 28. – 30. September 2015. Tagungsbericht. In: Das achtzehnte Jahrhundert 39 (2015), S. 136–138.
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Einleitung · Frauke Berndt / Daniel Fulda
zu begreifen? Stellt die Aufklärungsbewegung womöglich gar ein genuin narratives Unternehmen dar, weil sie sich durch die Absetzung von einer (schlechteren) Vergangenheit definiert? Muss Aufklärung erzählt werden? Und wenn heute die ›Großen Erzählungen‹ (angeblich) an ihr Ende gekommen sind: Lässt sich dann allenfalls in vielen kleinen Geschichten von Aufklärungen reden? Vor dem Hintergrund dieser Fragen geht es im Folgenden zunächst darum, das Verhältnis von erzählter Aufklärung und erzählender Aufklärung zu bestimmen (1.), um das Forschungsdesiderat einer historischen Narratologie zu profilieren (2.). Daran anschließend werden die Eckpfeiler abgesteckt (3.), die das Forschungsfeld dieses Bandes begrenzen.
1. Erzählungen über die Aufklärung und in der Aufklärung: Das Metanarrativ und die Funktionen der Erzählung im 18. Jahrhundert Das Erzählen in der Aufklärung und über die Aufklärung verbindet pragmatische, systematische und kulturwissenschaftliche Modelle. Zu erzählen heißt, amorphes Geschehen zu einer nachvollziehbaren Geschichte mit einem ›Ereignis‹ zu konfigurieren und eine spezifische Perspektive darauf anzubieten. Diese Operation ist keine objektive Wiedergabe, sondern eine Form, die Welt zu ordnen und zu deuten. Wie stets, wird auch im 18. Jahrhundert auf bestimmte Weisen erzählt, zu den Bedingungen und Möglichkeiten der Zeit. Erzählen zeigt sich als lokalisiertes Faktum, das freilich sehr weitreichende Ansprüche erheben kann, wenn es bis zu geschichtsphilosophischen Entwürfen ausgreift: Indem die Aufklärer (oder ihre Gegner) von der Aufklärung erzählen, bildet sich das Metanarrativ ›Aufklärung‹. Zwischen Erzählungen, von denen die Identitätsbildung einzelner Individuen abhängt, und den ›großen Erzählungen‹, welche die intersubjektive Kommunikation und gesellschaftliche Sinnbildung steuern, fungiert insbesondere der Begriff des Ereignisses als Relais, das die Zustandsveränderung, von der erzählt wird, als springenden Punkt der Erzählung markiert.5 Denn gerade durch die Erzählung solcher Ereignisse entstehen, wie es Albrecht Koschorke formuliert, »kulturprägende Narrative«, die »als Institutionen im Reich der Semantik aufgefasst werden« können.6 Je intensiver die Aufklärung in den vergangenen Jahren erforscht worden ist, desto schwieriger ist es anzugeben, was diese Epoche ausmacht, und desto zweifelhafter erscheint, ob ihre Akteure einem gemeinsamen Grundmotiv folgten. Auf diese Verunklärung des Epochenprofils reagierend, hat Dan Edelstein vorgeschlagen, die Aufklärungsforschung solle nicht mit einem Merkmalbündel ›aufklärerischer‹ Ziele, 5 Vgl.
Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin/Boston 32014, S. 12–30. Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 32013, S. 293. 6 Albrecht
Einleitung
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Denkweisen und Praktiken starten, sondern die Frage stellen, wo sich die historischen Akteure von dem Bewusstsein leiten ließen, zur Aufklärung beizutragen. Dabei bindet Edelstein aufklärerisches Selbstbewusstsein weniger an den Gebrauch von Begriffen wie aufklären, aufgeklärt oder gar Aufklärung als vielmehr an ein »historical narrative«, das die eigene Gegenwart in einer für die europäische Geistesgeschichte ganz neuen Weise als Fortschritt gegenüber aller Vergangenheit definierte.7 Mit seiner These hat Edelstein vor allem die querelle des anciens et des modernes im Auge; sie lässt sich ohne weiteres aber auch für das Fortschrittsbewusstsein der so genannten wissenschaftlichen Revolution, die Traditions- und Autoritätskritik eines Thomasius oder die geschichtsphilosophischen Entwürfe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Turgot, Herder, Lessing, Schiller, Condorcet) geltend machen. Grundlegend ist in jedem Fall der narrative Ansatz der ›aufklärerischen‹ Selbst bestimmung: der kritische Rückblick auf eine Vorgeschichte und die Akzentuierung einer signifikanten Änderung, die stattgefunden habe – eines Ereignisses eben. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird dabei zunehmend ausführlicher erzählt, wie und in welchen Stationen sich der Wandel vom Früher zum Heute vollzogen hat: Die bloße Gegenüberstellung von Altem und Neuem differenziert sich zur genetischen Erklärung der Entstehung der aktuellen Weltverhältnisse. Der fortschrittsstolzen Selbstversicherung treten zudem Verfallsgeschichten in zivilisationskritischer Absicht gegenüber, wie sie Rousseau vertritt. Die narrative Struktur bleibt indes das verbindende Element dieser Varianten aufklärerischer Selbstbestimmung.8 Dass das 18. geradezu als ›Jahrhundert des Erzählens‹ bezeichnet werden kann, ist kein Zufall. Zum einen formierte sich hier bekanntermaßen der moderne Roman (Fielding, Sterne, Goethe, Diderot), und auch weitere narrative Gattungen erhielten in der Literatur ihre neuen Formen. Zum anderen haben neuere Forschungen ergeben, dass das Erzählen zugleich zu einer zentralen Wissensform avancierte.9 Seine Flexibilität und seine Fähigkeit, sachliche Differenzen in zeitliche aufzulösen, schienen es überhaupt erst zu ermöglichen, differenziertes Wissen zu repräsentieren. Von ihren Erfahrungen oder beobachteten ›Fällen‹ erzählen nun Ärzte, Psychologen, Reisende, Naturforscher und sogar Philosophen, und all dies zudem auch in fiktionaler Variante.10 In Großbritannien wird die moderne Quellenforschung und erzählerische Darstellung nutzende Geschichtsschreibung erfunden 7 Dan
Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy. Chicago 2010, S. 13. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 270–277. 9 Vgl. John Bender: Ends of Enlightenment. Stanford 2012. 10 Vgl. Hanna Nohe: »La naissance de l’Europe moderne est un spectacle surprenant«. Zur Verhandlung kultureller Identitäten in fingiert orientalischen Reisebriefromanen der europäischen Aufklärung. Diss. Bonn 2016; Nicolas Pethes: Literarische Fallgeschichten. Zur Poetik einer epistemischen Schreibweise. Paderborn 2016. 8 Vgl.
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Einleitung · Frauke Berndt / Daniel Fulda
(Robertson, Gibbon); in Deutschland steht die erzählende Geschichtsdarstellung als dringendes Desiderat auf der Tagesordnung.11 Neue Medien wie die Moralischen Wochenschriften bedienen sich intensiv narrativer Formen. Der zunehmend kritischer beurteilten systematischen Deduktion macht das ›induktive‹ Erzählen ebenso Konkurrenz wie dem Bild. Dabei geht die Tendenz nicht nur in Richtung auf ein ›reines‹ Erzählen, sondern ebenso auch auf inter- und transmediale Mischformen. Was die Forschung zu leisten hätte, wäre eine Narratologie des 18. Jahrhunderts – und zwar im Sinne einer Bestandsaufnahme sowohl der zeitgenössischen theoretischen Behandlung der Erzählung (etwa in der Romanpoetik oder der Historik) als auch der typischen Erzählformen und -funktionen, sei es in der schönen Literatur, in den Geistes- und den Naturwissenschaften, in der Philosophie oder in den neuen Massenmedien. Welchen Einfluss haben die Diskurs- oder Gattungszugehörigkeit (von der Anekdote12 über den Reisebericht bis zur Weltgeschichte) sowie der Publikationsort bzw. das genutzte Medium auf die jeweilige Gestaltung des Erzählens? Wie verhält sich die Erzählung zu anderen Darstellungsweisen, die als typisch aufklärerisch gelten wie etwa die Enzyklopädistik?13 Wo dienen Erzählungen der exemplarischen, wo der genetischen Sinnbildung? Wann und wie wird die Erzählung eingesetzt, um über philosophische Aporien hinwegzukommen? Besonderes Interesse verdient die Reflexion beliebter Narrative (›Tugend führt zu Glück‹; ›Mehr Wissen macht ein besseres Leben möglich‹) in den Erzähltexten der Epoche: In welchem Maße gelingt es Erzählungen, den Kausalnexus der erzählten Handlung mit dem Finalnexus der zu demonstrierenden Nützlichkeit einer Moral zu harmonisieren, bzw. wo brechen sie die weltbildlich vorausgesetzte Koinzidenz beider Nexus auf?14 Obwohl die Gültigkeit von Metanarrativen bereits in den 1960er-Jahren prinzipiell in Frage gestellt wurde, hat die ›Erzählung der Aufklärung‹ ihren institutionellen Charakter nicht eingebüßt. Nach wie vor stellt die Erzählung die dominante Form dar, mit der man sich über die Bedeutung der Aufklärung in historischer wie aktueller Hinsicht verständigt. Gleich, ob dabei das Lob der Aufklärung gesungen, ob sie als entscheidender Schritt des europäischen Menschen zu Freiheit und Selbst11 Vgl. Stephan Jaeger: Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archen
holz und die Brüder Schlegel. Berlin/Boston 2011; Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin/New York 1996. 12 Vgl. Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1997. 13 Vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2004. 14 Vgl. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Aga thon«-Projekt. Tübingen 1991; Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1988.
Einleitung
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bestimmung beschrieben wird, ob ihr destruktive Konsequenzen zugerechnet werden (einseitiger Rationalismus, Euro- und Androzentrismus, Totalitarismus) oder ob sie etwas nüchterner als Formierungsphase einer ambivalenten Moderne gekennzeichnet wird: In aller Regel wird die ›Aufklärung‹ als für das Weitere maßgebliches Ursprungsereignis modelliert, das die relativ stabilen Gesellschaftsstrukturen und Wissensordnungen der vorangegangenen Jahrhunderte aufgebrochen und jene Dynamik in Gang gesetzt habe, in der wir uns heute noch befinden. Das gilt auch dann, wenn zur Institutionalität des Aufklärungsnarrativs Momente der Kritik hinzutreten, so dass in pluralisierender Weise von Aufklärungen die Rede ist.15 Auch wenn die pluralisierten Erzählungen von einer keineswegs einheitlichen Aufklärung sich reflexiv zum Metanarrativ verhalten, bleibt die Erzählung die Basisstruktur. Erzählungen der Aufklärung prägen (in der einen oder anderen Variante) sowohl die innerwissenschaftliche als auch die gesellschaftliche Diskussion. Sie reklamieren die Beschäftigung mit dem 18. Jahrhundert als nicht nur antiquarisch relevant. Die von ihnen betriebene Sinnbildung kann begründend angelegt sein (›Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‹), exemplarisch (›Voltaire ist ein unerschrockener Vorkämpfer religiöser Toleranz‹), kritisch (›Die Universität Halle wurde nicht als Reformhochschule, sondern aus konfessions politischen Motiven gegründet‹) oder genetisch (›Der Pietismus führt über die his torische Apologie von Glaubenswahrheiten zur Neologie‹).16 In jedem Fall fungiert die Erzählung als Denk- und Darstellungsform, die Sachverhalte abgrenzt (gegeneinander und vor allem vom unaufgeklärten Vorher), sie plastisch und spannend macht, in Beziehung zum Erzähler und seinen Adressaten setzt sowie bewertet. Mit all dem dienen die verschiedenen Narrative zugleich dem wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Deutungs- und Positionskampf. Zu beachten gilt es, dass neben den von der Wissenschaft formulierten Erzählungen über die Aufklärung ebenso künstlerische oder populärkulturelle Erzählungen im Umlauf sind, die das allgemeine Bild von der Aufklärung häufig viel stärker prägen. Wie soll die Aufklärungsforschung sich dazu verhalten? Oder grundsätzlicher gefragt: Lässt sich überhaupt nicht-erzählerisch über die Aufklärung sprechen, wenn sie weiterhin als ›Ereignis‹ im historischen Prozess gelten soll? Eine institutionalisierte Form des erzählerischen Nachdenkens über die Beziehungen zwischen historischer Aufklärung und Gegenwart sind historische Romane, die Figuren und Fragen des 18. Jahrhunderts behandeln, historische Figuren wie Rousseau in Karl-Heinz Otts Winzenried (2011) oder fiktive wie den Parfumeur Grenouille in Patrick Süs15
Vgl. Ian Hunter: Rival Enlightenments. Civil and Metaphysical Philosophy in Early Modern Germany. Cambridge 2001, S. 24–25. 16 Unsere Typologisierung orientiert sich an Jörn Rüsen: Die vier Formen des historischen Erzählens. In: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz u. Jörn Rüsen (Hrsg.): Formen der Geschichtsschreibung. München 1982, S. 514–605.
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kinds Das Parfum (1985). In ihrer Studie Aufklärung erzählen – Raconter les Lumières hat Johanna Koehn 2015 ein gutes Dutzend solcher Akteure in deren narrativen Auftritten in der Gegenwartsliteratur beobachtet.17 Eine Neuerscheinung konnte sie noch nicht berücksichtigen: Angela Steideles Rosenstengel.18 Dieser Roman fällt zunächst durch seine narrative Form auf, denn die erzählte Geschichte wird nicht von einem Erzähler dargeboten, sondern ergibt sich aus einem Mosaik von insgesamt 252 Briefen der historischen Akteure, genauer gesagt fiktiven Briefen, die allerdings aus vielen Quellenzitaten montiert sind und im Übrigen den Stil der Zeit verblüffend gut – und nicht selten auch ironisch – nachahmen. Außergewöhnlich ist der Roman zudem dadurch, dass zwei historische Zeitebenen aufgefaltet werden: das frühe 18. und das späte 19. Jahrhundert. In Gestalt einer Herausgeberfiktion, in der die Autorin unter dem eigenen Namen als bloße Finderin des nachfolgenden Briefwechsels auftritt, ist darüber hinaus auch unsere Gegenwart ins Spiel gebracht. Die Doppelung der historischen Zeit mit einem Abstand von fast zwei Jahrhunderten macht selbst Leser, die es nicht gewohnt sind, über die historische Bedingtheit ihrer eigenen Standpunkte nachzudenken, darauf aufmerksam, dass Schreib- und Denkweisen sich stets wandeln und dass auch das vermeintlich bessere Wissen der Späteren überholt werden kann und dass es deshalb falsch wäre, die Fremdheit vergangener Zustände für uns so aufzulösen, dass wir an ihr ablesen könnten, wie herrlich weit wir es gebracht haben. Den Stoff bildet ein durchaus historischer, aber wenig bekannter Fall weiblicher Homosexualität aus dem 18. Jahrhundert und ein durchaus bekannter, aber durch viel Kitsch überlagerter Fall von männlicher Homosexualität aus dem 19. Jahrhundert. Der bekannte Fall ist Ludwig II. von Bayern, der andere ist der von Catharina Margaretha Linck (1687–1721), die als Jugendliche Männerkleider annahm, unter dem Namen Anastasius Rosenstengel als pietistischer Erweckungsprediger durch Deutschland zog, eine Jüngerin heiratete und diese über Jahre hinweg in dem Glauben erhielt, sie lebe mit einem Mann zusammen (eine Lederwurst gab dabei das unentbehrliche Werkzeug ab).19 Die Verschränkung der beiden Geschichten erfolgt nicht willkürlich. Vielmehr gibt es ein unwahrscheinlich klingendes, aber wahres Bindeglied: Einer der ›Irrenärzte‹ Ludwigs II. war Franz Carl Müller, der sich später eingehend mit Homosexualität beschäftigte und dabei auch mit dem Fall der Linc17 Vgl.
Johanna Koehn: Aufklärung erzählen – Raconter les Lumières. Akteure des langen 18. Jahrhunderts im deutschen und französischen Gegenwartsroman. Heidelberg 2015; vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band: Das Rezeptionsmuster der Dialektik der Aufklärung im deutschsprachigen Roman seit 1985, S. 183–191. 18 Angela Steidele: Rosenstengel. Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II. Berlin 2015. 19 Als Historikerin hat Steidele diesen Fall in ihrem Buch: In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation. Köln/Weimar/Wien 2004 untersucht.
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kin. Müllers Absicht war eine aufklärerische, und zwar im Sinne nicht nur der Sexualaufklärung, sondern des (unausgesprochenen) Einsatzes für Homosexuelle (es ging also um mehr als um vorurteilslose Kenntnisnahme). Das war um 1900 nicht ungefährlich, so dass die Thematisierung einer Gegenwartsfrage auf historischem Wege nahelag. Über die historische Aufklärung zu schreiben, um das Nachdenken über die Gegenwart anzuregen, das ist bis heute ein wichtiger Aspekt geblieben. In Rosenstengel sind erkennbar viele Forschungen zum 18. Jahrhundert eingegangen. Steidele nimmt Bezug nicht bloß auf ein allgemeines, gesellschaftlich etabliertes Bild vom Zeitalter der Aufklärung, das häufig ziemlich weit von dem der Experten entfernt ist. Was die Autorin ihren Briefschreibern – darunter Thomasius, Francke, dessen Frau, um nur einige der Halleschen Akteure zu nennen – in den Mund legt, hat seinen Gehalt aus der neueren Aufklärungsforschung; der Anhang dokumentiert, auf welche Quellen sie sich stützt, was sie daraus in die fiktiven Briefe eingewebt hat und wo sie die historische Realität imaginativ überschritten hat. In diesem Roman zeigt sich, dass die Aufklärungsforschung über die Wissenschaft hinaus produktiv sein kann, und zwar in erzählerischen Formen.
2. Erzähltheorien der Aufklärung: Rhetorische, ästhetische und poetologische Ansätze für die Profilierung einer historischen Narratologie Die Aufklärung begründet sich nicht nur selbstreferentiell durch ihr eigenes Metanarrativ. Rhetorik, Ästhetik und Poetik der Aufklärung haben auch die Weichen für die moderne Erzählforschung gestellt. Deren aktuelle Situation bringt David Herman auf den Nenner des Plurals: An die Stelle der Narratologie sind die ›interessierten‹ Narratologien getreten, u. a. eben auch die historisch interessierten. Sie gelten bereits der älteren Forschung als Desiderat,20 und es besteht bis heute. In den vergangenen Jahren wurde diesem Desiderat in der so genannten postklassischen, d. h., nach- und vor allem nicht-strukturalistischen, daher gewissermaßen ›prästrukturalistischen‹ Narratologie einerseits als »Archäologie der Erzähltheorie« in systematischer Hinsicht,21 andererseits in Mediävistik und Frühneuzeitforschung nachgegangen.22 Allerdings trägt gerade letztere weniger zur Narratologie im engeren 20 Vgl.
Jan Alber: Bibliography of German Narratology. In: Style 38 (2004), S. 253–272.
21 Ulrich Ernst: Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer
historischen Narratologie. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Köln 2000, S. 179–199, hier: 179. 22 Vgl. Maximilian Benz u. Katrin Dennerlein (Hrsg.): Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie. Berlin 2016; Hartmut Bleumer: Historische Narratologie. In: Christiane Ackermann u. Michael Egerding (Hrsg.): Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Berlin 2015, S. 213–274; Gert Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen. In: Literaturwissen-
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Sinn als vielmehr zur historischen Kontextualisierung von Narrativen im weiteren bei,23 so dass sich das Desiderat für eine historische Narratologie noch verstärkt hat. Monika Fludernik hält in diesem Sinn fest: »Despite this impressive variety of new narratological approaches, however, there has been comparatively little interest on a theoretical level in the history of narrative forms and functions.«24 Bedenklich ist die damit programmatisch einhergehende Wende von der unter Generalverdacht der Universalität stehenden Struktur zur historisierbaren Form, woraus sich die Opposition von der Erzählung und den Erzählformen ergibt, also von Allgemeinem und Besonderem.25 Im Hinblick auf das 18. Jahrhundert fasst Matthias Grüne das theoretische Dilemma folgendermaßen zusammen: Eine Theoriegeschichte »hat zunächst zu klären, ob von einer historischen Theorie des Erzählens überhaupt die Rede sein kann oder nur von Theorien einzelner Gattungen erzählender Literatur«.26 In seiner Studie Narratologie und Epistemologie entwirft Sebastian Meixner daher das erste Mal in der Forschungsgeschichte eine historische Narratologie mittlerer Reichweite, die Lessing, Blanckenburg und Engel poetologisch ebenso geprägt haben wie Baumgarten, Herder und Kant philosophisch. Sowohl in theoretischen Schriften – nicht zuletzt im Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung (1797) sowie im Briefwechsel mit Schiller – als auch in narratologischen Experimenten trug insbesondere Goethe zu dieser allgemeinen Erzähltheorie bei,27 die bereits im 18. Jahrhundert den theoretischen Rahmen für die Disziplin der Narratologie im 20. und 21. Jahrhundert abgesteckt habe. Seit Platon die diegesis in seiner Politeia definiert hat, zeichnet sich eine Erzählung einerseits durch die Vermittlung des Dargestellten durch eine vermittelnde Instanz – den so genannten Erzähler –, andererseits durch die doppelte zeitliche Sequenz – Erzählzeit vs. erzählte Zeit – aus,28 was die oben diskutierte Ereignisschaftliches Jahrbuch 56 (2015), S. 11–54; Harald Haferland u. Matthias Meyer (Hrsg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Berlin/New York 2010; Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin 2004. 23 Vgl. Seymour Chatman: What Can We Learn from Contextualist Narratology? In: Poetics Today 11 (1990), S. 309–328. 24 Monika Fludernik: History of Narratology. A Rejoinder. In: Poetics Today 24.3 (2003), S. 267–284; dies.: The Diachronization of Narratology. In: Narrative 11 (2003), S. 331–348, hier: 331. 25 Vgl. Editorial. In: Diegesis 3.2 (2014) (https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/ diegesis/article/view/174, Aufruf 20. 03. 2017). 26 Matthias Grüne: Das vergessene Erbe. Zur Konzeption einer Geschichte der Erzähltheorie. In: Diegesis 3.2 (2014), S. 50–65, hier: 51. 27 Vgl. Sebastian Meixner: Narratologie und Epistemologie. Studien zu Goethes frühen Erzählungen. Diss. Tübingen 2017. Unsere Ausführungen verdanken sich der Lektüre seines Buches, vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band: Erkenntnis erzählen. Goethes frühe naturwissenschaftliche Schriften. 28 Vgl. Matías Martínez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 102016; Christian Metz: Essais sur la signification au cinema. Paris 1968.
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Narratologie einschließt. Die strukturalistische Narratologie basiert deshalb auf drei narrativen Funktionen: Stimme (voix), Zeit (temps) und Modus (mode).29 Ernst Ulrich knüpft bei der zeitlichen Struktur an, indem er auf das Modell der doppelten Ordnung des Erzählens (ordo narrandi) und die daraus entstehenden Spannungen zwischen ordo naturalis und ordo artificialis in historischen Rhetoriken und Poetiken aufmerksam macht. In seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751) analysiert Gottsched die Wirkung von Analepsen und Prolepsen sowie den Einzug intradiegetischer Ebenen und dort angesiedelter erzählender Figuren. Zwar findet sich eine solche »poetische« Ordnung bereits im antiken Epos, insbesondere aber den Aufklärungsroman unterscheidet sie von der »historische[n]«, d. h. »einfältigste[n]« Erzählung »der Zeit nach«: »Hier führt der Dichter seinen Leser gleich in die Mitte der Geschichte, und holet im Folgenden das vorhergegangene nach; indem er es von jemanden erzählen läßt«.30 Ebenenwechsel und Zeitsprünge ersetzen das syntagmatische Erzählen durch ein paradigmatisches, das die Grundlage des modernen Romans ist. Während das eine im weitesten Sinn einer Chronologie folgt, erlaubt das andere darüber hinaus Verbindung von Elementen nach Ähnlichkeiten. Die erste Narratologie des 18. Jahrhunderts hält Baumgarten 1750/58 in der Aesthetica bereit. Dabei leistet er das, was Goethe im Dichtungs-Aufsatz mit Hilfe der Figur des Rhapsodens veranschaulicht: »Er bezeichnet gewissermaßen die reine Erzählfunktion, die nicht an eine Figur mit individuellen Zügen gebunden ist«.31 Aus philosophischer Perspektive nähert sich Baumgarten der Erzählung daher als Aussageform an, so dass er wie Käte Hamburger 1957 eine Logik der Dichtung entwickelt. In der Rhetorik verankert, basiert sie 1. auf einer Erzeugungsfunktion, von der die Vielstimmigkeit von Erzählungen abhängt, 2. auf einer Gestaltungsfunktion, bei der es Baumgarten wie Engel um Anschauung und wie Blanckenburg um Zeit sowie um bestimmte Story- und Plotstrukturen geht, und 3. vor allem auf einer Wahrheitsfunktion. Auf der Grundlage dieser drei Funktionen bildet Baumgarten einen eigenen ›Typenkreis‹ – ein systema fictionum, das nicht etwa zwischen wirklich und erfunden unterscheidet, sondern in dem Modalität und Wahrheit verschiedene Fiktionstypen bilden.32
29 Vgl.
Gérard Genette: Die Erzählung. München 21998. Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Leipzig 1751, S. 527; vgl. Ernst: Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens, S. 194 f. 31 Grüne: Das vergessene Erbe, S. 59. 32 Vgl. Frauke Berndt: Mundus poetarum. A. G. Baumgartens Fiktionstheorie. In: Albrecht Koschorke (Hrsg.): Komplexität und Einfachheit. DFG-Symposion 2015. Stuttgart/Weimar 2017, S. 316–338. 30 Johann
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Wahrheit Modalität
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allgemein
individuell
• fictiones strictius historicae,
• fictiones historicae late dictae,
notwendig
z. B. Livius Ab urbe condita • fabulae historicae
z. B. Vergil Aeneis
möglich
• fictiones poeticae • fabulae poeticae
• fictiones heterocosmicae
unmöglich
• figmenta anomala
• utopiae
Genau auf diesem modallogischen Weg versuchen auch die Fiktionstheorien des 20. Jahrhunderts der ontologischen Falle zu entkommen, in die eine wohlfeile Unterscheidung zwischen Fiktionalität und Faktualität lockt, man denke etwa an Lubomír Doležel, David Lewis oder Marie-Laure Ryan. Die Pointe des Systems besteht in Baumgartens unerhörter Begründung, warum ausgerechnet poetische Fiktionen nicht bloß individuell, sondern allgemein wahr sind. Und das sind sie aufgrund ihrer Intertextualität. Es ist die Ähnlichkeit, die eine poetische Fiktion mit der lite rarischen Enzyklopädie verbindet und die poetische Fiktion als selbstreferentielle Welterzeugung legitimiert: »Was wir empfinden und empfunden haben, das ist alt, da [der Dichter, Anm. d. Verf.] nun etwas Neues schaffen soll, so muß er nicht pur die alten Empfindungen wieder zeigen, sondern die alten mit Imagination verbunden mit neuen zusammensetzen«.33 In seinem Versuch über den Roman von 1774 profiliert Blanckenburg nicht von philosophischer, sondern gattungspoetologischer Warte aus eine ebensolche Erzählfunktion. Er analysiert verschiedene Techniken, derer sich die erzählenden Gattungen Epos, Fabel und Drama gleichermaßen bedienen, um den Roman auf zwei Leis tungen zu verpflichten: Dieser soll das Leben einer Figur als lückenlose Kausalkette erzählen – und zwar nicht wie das Epos als zeitliche Kette äußerer Begebenheiten, sondern als komplexe Ordnung einer inneren Handlung, die kausal motiviert ist. Das könne der Roman, weil er als Erzählung auf einer Funktion – dem fingierenden »Dichter« – basiere, die seine Perspektive nicht einschränke und ihn auch gegenüber dem bloß zeitlich verknüpfenden biographischen »Erzehler« privilegiere. Der Dichter
33 Alexander
Gottlieb Baumgarten: Kollegium über die Ästhetik. In: Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Münster 1907, S. 59–258, hier: 88 f.
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kann den Vorwand nicht haben, daß er das Innre seiner Personen nicht kenne. Er ist ihr Schöpfer: sie haben ihre ganzen Eigenschaften, ihr ganzes Seyn von ihm erhalten; sie leben in einer Welt, die er geordnet hat. Mit dieser Voraussetzung werden wir nun, bey dem Wirklichwerden irgend einer Begebenheit, das ganze innre Seyn der handelnden Personen, mit all’ den sie in Bewegung setzenden Ursachen in dem Werk des Dichters sehen müssen, wenn der Dichter sich nicht in den bloßen Erzehler verwandeln soll.34
Der Briefroman, der als Vorläufer moderner Multiperspektivität gilt, ist eben aufgrund seiner perspektivischen Beschränkung kein ›richtig‹ potenter Roman.35 Trotzdem soll »der Mensch […] nie Maschiene seyn; auch nicht Maschiene des Dichters«,36 mahnt Blanckenburg den im 18. Jahrhundert so dominanten Topos des Natürlichen an. Während die Linie von Blanckenburg direkt zur Romankunst, den Bauformen des Erzählens und narratologischen Typologien und d. h. zu E. M. Forster oder Lämmert im 20. Jahrhunderts führt, steht mit Engels ebenfalls 1774 erschienener Abhandlung Ueber Handlung, Gespräch und Erzehlung eine erste Modusanalyse zur Diskussion. Als Wegbereiter der modernen Erzählkunst behandelt ihn 1993 Christoph Blatter im Horizont der Stanzelschen Diskursnarratologie.37 Engels Erzähltheorie, die transgenerisch und in der Tendenz transmedial angelegt ist, missachtet die Gattungstrias vollends, indem er die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten erörtert, Ereignisse – bei Engel: Handlungen, insbesondere die ›inneren‹ Handlungen – darzustellen: Gespräch und Erzählung, wobei ›episch‹ nun eben kein generisches, sondern ein funktionales Kriterium ist,38 das eng mit Genettes Kategorien der Stimme und der Zeit verbunden ist: »Was das Gespräch an Vollständigkeit gibt, hat die Erzählung an Exemplarität und Signifikanz«.39 Mit den Vor- und Nachteilen des dramatischen und des narrativen Modus für die Literatur geht es Engel um die Anschaulichkeit der Darstellung. Das Gespräch – also der dramatische Modus – ist für Engel der Erzählung – also dem narrativen Modus – aufgrund seiner Unmittelbarkeit bei der Wiedergabe von Figurenrede, insbesondere aber von verba34 Friedrich
von Blankenburg: Versuch über den Roman. Leipzig/Liegnitz 1774, S. 264 f. Sebastian Meixner: Die Notwendigkeit der Apostrophe. Metaleptische Strukturen in Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers. In: Christoph Pflaumbaum, Carolin Rocks, Christian Schmitt u. Stefan Tetzlaff (Hrsg.): Ästhetik des Zufalls. Ordnungen des Unvorhersehbaren in Literatur und Theorie. Heidelberg 2015, S. 121–137. 36 Blankenburg: Versuch über den Roman, S. 260. 37 Vgl. Christoph Blatter: Johann Jakob Engel (1741–1803). Wegbereiter der modernen Erzählkunst. Untersuchungen zur Darstellung von Unmittelbarkeit und Innerlichkeit in Engels Theorie und Dichtung. Bern u. a. 1993. 38 Vgl. Michael Scheffel: Theorien der Epik. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart/Weimar 2010, S. 311–314, hier: 312. 39 Meixner: Epistemologie und Narratologie, S. 57. 35 Vgl.
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lisierten ›inneren‹ Vorgängen wie Gedanken oder Gefühlen überlegen. Zwischen beiden Modi ist die Wiedergabe von Figurenrede und -bewusstsein angesiedelt. Den im narrativen Modus erzeugten Kausal- und Finalnexus hält er aufgrund des hohen Grades an Mittelbarkeit für weniger ›natürlich‹. Wenn Dorrit Cohn 1978 in Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction eine Typologie interner Fokalisierungen bzw. eben der »psycho-narration« aufstellt,40 so folgt sie Engels Wunsch, das Bewusstsein einer Figur in verschiedenen Graden der (Un)Mittelbarkeit zu spiegeln: Es ist unglaublich, wie sehr sich die Seele den Worten einzudrücken, wie sie die Rede gleichsam zu ihrem Spiegel zu machen weiss, worinn sich ihre jedesmalige ganze Gestalt bis auf die feinsten und delikatesten Züge darstellt. Der logische Satz, oder der blosse allgemeine Sinn, aus den Worten herausgezogen, ist immer das Wenigste; die ganze Bildung des Ausdrucks, die uns genau die bestimmte Fassung der Seele bey dem Gedanken zu erkennen giebt, ist alles.41
Die kognitive Narratologie, wie sie u. a. Herman vertritt, spricht bei solchen Verfahren von frames, d. h. kognitiven Rahmen des Erzählens. Symptomatischerweise trifft Engel dabei auf genau das Problem, das mit Booths42 unreliable narrations Einzug in die Narratologie des 20. Jahrhunderts halten wird: Es darf keinen Zweifel an der Gewissheit der dargestellten und sich in Rede manifestierenden Handlung geben – und d. h. an der Glaubwürdigkeit der Figuren, an welche die Erzählinstanz die Regie abgibt.
3. Prospekte und Aspekte Die Forschung steht vor der doppelten Aufgabe, eine historische Narratologie des 18. Jahrhunderts zu entwickeln sowie die auch in den Wissenschaften verbreiteten Erzählungen von der ›Aufklärung‹ auf ein narratologisch reflektiertes Fundament zu stellen. Bis heute ist das Wieder- und Weiterzählen von Narrativen, die sich die Akteure der Aufklärung selbst zurechtgelegt haben, ein weit verbreitetes Phänomen, das wissenschaftlich aber nicht unproblematisch ist. Es scheint daher dringend geboten, dass sich die Aufklärungsforschung Rechenschaft über ihre Art und Weise ablegt, vom 18. Jahrhundert zu erzählen. Dabei sind sowohl die in der Forschung bzw. in der gesellschaftlichen Debatte verbreiteten Narrative kritisch in den Blick 40 Dorrit
Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978, S. 14. 41 Johann Jakob Engel: Ueber Handlung, Gespräch und Erzehlung. Hrsg. v. Ernst Theodor Voss. Leipzig 1774, S. 233. 42 Vgl. Wayne Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1973.
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zu nehmen als auch die Erzählungen, mit deren Hilfe die Aufklärer sich definierten, ihr Unternehmen begründeten und gegen ihre Widersacher durchzusetzen versuchten. Um die wissensformierenden und legitimierenden Formen wie Funktionen von Erzählungen umfassend analysieren zu können, bieten sich einerseits Rückgriffe auf die aktuellen Entwürfe der post-klassischen Narratologie(n) an, wie sie unter anthropologischen, historischen, kulturwissenschaftlichen, gender-theoretischen oder kognitionswissenschaftlichen Vorzeichen in den vergangenen Jahren erprobt worden sind. Andererseits ist diesen Formen und Funktionen mit Blick auf die (neuen) erzählerischen Gattungen, Medien und Formen sowie auf die poetologischen Debatten des 18. Jahrhunderts nachzuspüren, um zu rekonstruieren, was die Aufklärer von ›ihren‹ Erzählungen erwarteten und mit welchen erzählerischen Mitteln sie kalkulierten. Um das Verhältnis von erzählter und erzählender Aufklärung in ihren Aspekten zu umreißen, stellen wir den neun Sektionen fünf Prospekte voran. Michel Delon führt vor, dass und wie Autoren der französischen Aufklärung im Rückgriff auf Narrative des ›ersten Menschen‹ oder der zum Leben erweckten Statue die Anthropologie der Aufklärung entwickeln, so dass Erzählen die Voraussetzung für philosophische Erkenntnis wird. Robert E. Norton greift die philosophische Erkenntnis auf und rekonstruiert die deutsche Aufklärungskritik des 20. Jahrhunderts, durch welche ›die Aufklärung‹ als ›Schreckgespenst‹ geistert. Elisabeth Décultot geht die Erzählung der Aufklärung von Seiten der Kunstgeschichte an, indem sie erläutert, wie narrative Darstellungsverfahren die Organisation kunstgeschichtlichen Wissens prägen. Franz M. Eybl stellt am Beispiel von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten die Modernisierung narrativer Verfahren von funktionalen Erzählformen wie Chronik und Exempel hin zur Novelle vor. Als Katalysator der Modernisierung versteht Fritz Breithaupt das Märchen, das in der Lage ist, die Komplexität aufgeklärter Anthropologie mit einfachen Formen zu bewältigen. Aspekte des Verhältnisses von erzählender und erzählter Aufklärung untersuchen im Folgenden die Beiträge dieses Bandes in neun unterschiedlichen, wenngleich vielfach interferierenden interdisziplinären Sektionen, in die im Band jeweils noch einmal ausführlich separat eingeführt wird: Sektion 1: ›Die Aufklärung‹: Historische Erzählungen – ›Die Aufklärung‹ ist, gleich ob als Bewegung oder als Epoche verstanden, immer schon das Produkt einer his torischen Erzählung, in der sie als Subjekt auftritt. Solche Erzählungen bilden sich bereits im späten 18. Jahrhundert heraus und werden seitdem – nicht immer kritisch reflektiert – fortgeschrieben. Die Sektion untersucht verschiedene historische Narrationen, in denen die Aufklärer Konzepte und Modelle entwickeln, sich selbst historisch zu verorten und in Beziehung zu setzen, und die gleichzeitig nachhaltig das historische Verständnis ›der Aufklärung‹ geprägt haben.
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Sektion 2: Stimme(n) der Vernunft: Philosophische Erzählungen – Immer wieder erzählen die aufgeklärten Philosophen. Auf der einen Seite wählen sie dabei bestimmte Formate, z. B. verschiedene Spielarten des narrativen Exempels, die Fabel oder die allegorische Erzählung. Auf der anderen Seite bevorzugen sie bestimmte Erzählsituationen. Nicht ausschließlich im Dienst philosophischer Systeme stehend, generieren solche narrativen stand-ins epistemisches Wissen auf eigene, nämlich narratologische Rechnung. Diesen Stimmen, wie sie nicht zuletzt in der gegenwärtigen Romanproduktion reflektiert werden, gilt die Aufmerksamkeit der Sektion. Sektion 3: (Aber)Glauben: Religiöse Erzählungen – Religiöses Wissen besteht zum erheblichen Teil aus Erzählungen: vom Handeln Gottes, vom Leben des Religionsstifters und seiner Anhänger, von den Möglichkeiten guten und schlechten Handelns im religiösen Sinne. Die zunehmende Geringschätzung der Dogmen im Zuge der Aufklärung verstärkt diesen Aspekt noch. Aber auch die aufklärerische Religionskritik arbeitet gerne mit Erzählungen, etwa von der historischen Bedingtheit der Glaubensformen oder vom Aberglauben. Welche erzählerischen Muster sich in den unterschiedlichen Verwendungen und auch Medien beobachten lassen und welche Eigendynamik sie möglicherweise haben, die über religiöse Funktionalität hinausschießt, ist das Thema dieser Sektion. Sektion 4: Überlieferung: Von Anderem und Anderen erzählen – Wenn die Aufklärer mit geographisch oder zeitlich entfernten Kulturen in Dialog treten, dann müssen sie nolens volens von der Begegnung des Eigenen mit dem Fremden erzählen. Denn kulturelle Wert-, Norm- und Bedeutungszusammenhänge sind auf die narrative Vermittlung angewiesen. Die Sektion beobachtet daher insbesondere die Forschungs- und Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts sowie Erzählungen über die Antike. Welche Rolle spielen europäische Aufklärungskonzepte für die Narrativierung des Anderen und welche neuen Konzepte von Aufklärung bringt die Begegnung mit Anderen ihrerseits hervor? Wo stoßen bestehende Erzählmuster an ihre Grenzen? Von Interesse sind vor allem neuartige Formen und Verfahren des Erzählens, welche die Begegnung mit Anderem und Anderen erfordert. Dabei steht zum einen die Kontiguität von ›faktischen‹ und fiktiven Erzählungen zur Diskussion, die ein gemeinsames Ensemble narrativer Topoi teilen. Zum anderen diskutiert die Sektion die Rolle von Anderem und Anderen für die Entwicklung des Romans im 18. Jahrhundert. Sektion 5: Theorien und Modelle (un)möglicher Welten – Mit der Ausdifferenzierung narrativer Formen geht im 18. Jahrhundert die Reflexion auf mögliche, erfundene und erdichtete Welten einher. Denn jede Erzählung stellt eine Form der Realitätsverdoppelung dar, die nicht anders als nicht-narrative Formen der Fiktion, wie z. B.
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die Wahrscheinlichkeitsrechnung, im Dienst der Kontingenzbewältigung steht. Die Sektion beschäftigt sich mit der spezifischen Wahrheit der Fiktion, ihrer Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit, die einerseits von den epistemologischen Rahmenbedingungen des Erzählens – Lügner lügen, Schwärmer schwärmen, Kritiker kritisieren – , andererseits von der logischen Struktur der Verdoppelung abhängt. Sektion 6: Medien des Erzählens: Inter- und Transmedialität – Erzählungen des 18. Jahrhunderts bedienen sich verschiedener Medien: Die Sektion untersucht einige der zahlreichen Medienwechsel und Medienkombinationen, die nicht zuletzt die technische Entwicklung in den populären (Print)Medien ermöglicht. In diesem Zusammenhang nimmt auch der Anteil an transmedialen und seriellen Formen zu. Mit den neuen intermedialen Formaten des Erzählens geht eine zunehmende Reflexion auf die Medien und ihre jeweiligen Leistungsprofile einher, die abhängig vom jeweiligen intermedialen Setting ist. Sektion 7: Narration, Perspektive, Ambivalenz: Szenen und Rollen des Erzählens – In der Aufklärung wird nicht mit einer Stimme erzählt, sondern mit vielen. Der scheinbar gleiche Sachverhalt kann aus mehreren Perspektiven unterschiedlich dargestellt werden. Und die eine Erzählung kann von den Rezipienten unterschiedlich aufgenommen werden. Neben rhetorischen Formaten der Ambiguität gründet sich diese neue Narrativik vornehmlich auf verschiedene semantische Rollen der Erzählstimme, welche die erzählten Ereignisse je anders in Szene setzen. Diese Perspektivierungen etablieren einerseits klare Erzählziele, die sie andererseits unterlaufen, eben da sie zugleich auch Raum für andere Perspektiven schaffen. Die Sektion beobachtet in historischer Hinsicht, wie Pluralität und Ambivalenz von Narration entdeckt und verarbeitet werden. Narration wird abgekoppelt von klaren Instrumentalisierungen. Doch welche Funktionen erhält sie damit? Und wie gehen die Zeitgenossen mit dieser neuen Freiheit oder auch Unklarheit um? Sektion 8: Narration, Kognition und Affekt: Fühlen, Empfinden, Erkennen – Mit der Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen sowie der Entdeckung der Sinnlichkeit, mit der Etablierung der modernen Ästhetik sowie der Entwicklung der Poetik zur Literaturtheorie entstehen auch neue Techniken des Erzählens. Sowohl Figuren als auch Erzähler werden als Erkennende, Empfindende oder Fühlende dargestellt; die ihnen zugeschriebenen psychologischen Vorgänge konstituieren sich dabei im Wechselverhältnis mit Erzähltechniken wie Fokalisierungen (Selbstgespräche, erlebte Rede und autonome direkte Rede). Diese neuen, sich in der Literatur ausbildenden Erzählverfahren und ihre epistemologischen Voraussetzungen sind Gegenstand der Sektion.
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Einleitung · Frauke Berndt / Daniel Fulda
Sektion 9: Erzählen in den Wissenschaften – wissenschaftliches Erzählen – Keine der in der Aufklärung emergierenden oder sich ausdifferenzierenden Wissenschaften – naturwissenschaftliche Empirie, Ökonomie, Ökologie, Psychologie, Pädagogik etc. – kommt ohne Erzählen aus. Dabei wird die Hierarchie der Textsorten neu sortiert, und die Zuständigkeiten werden neu distribuiert. Literarische Texte erzählen Wissen von den Menschen und den Dingen; gelehrte Texte funktionalisieren narrative Formen neu: Die Encyclopédie oder schon Bayles Dictionnaire machen ganz neuen Gebrauch vom Erzählen, umgekehrt werden Erzählungen und Romane zum Vehikel aufklärerischer Ideen. Die Sektion fragt mit Blick auf Texte unterschiedlichster generischer Provenienz danach, wie sich die Ordnung des Erzählens mit Blick auf die Wissenschaften der Aufklärung neu konstituiert. Unserer besonderer Dank für die aufwendige Redaktion des Bandes gilt Cornelia Pierstorff, die diese Publikation wissenschaftlich betreut hat, sowie Kathrin Rabe und R oland Spalinger in Zürich. Für die finanzielle Unterstützung der Tagung danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der Dr. Fritz Wiedemann-Stiftung, den Franckeschen Stiftungen zu Halle, dem Universitätsbund Tübingen sowie der Alexander von HumboldtStiftung. Zürich und Halle im Winter 2017/18
TEIL I PRO S PE K T E
Michel Delon
Der Roman vom ersten Menschen Die Aufklärungszeit lässt sich anhand einer empiristischen Philosophie charakterisieren, die sich mit John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand und seinen Übersetzungen in ganz Europa verbreitet. Indem sie auf die eingeborenen Ideen verzichtet und sich vom theologischen Dogma einer – nun wörtlich und ganz unmetaphorisch verstandenen – Schöpfung distanziert, stellt sie vielmehr den allmählichen Erwerb von Kenntnissen in den Vordergrund und begreift den Menschen als ein Werden. Die Sinne vermitteln nur eine flüchtige Momenterfahrung; die Wiederholung, Abspeicherung, der Vergleich und die Umwandlung der Sinneserlebnisse in Ideen dagegen verzeichnen eine Geschichte des Individuums und der Gattung. Der Philosoph macht sich zum Beobachter, um eine Geschichte zu schreiben, aber er interveniert zugleich als Experimentalforscher, um die Annahmen zur Genese des Einzelwesens zu korrigieren und auch die phylogenetische Entwicklung besser verstehen zu können. So nimmt Locke das Kind als Beispiel, um gegen die eingeborenen Ideen zu argumentieren: »Wer aufmerksam den Zustand eines neugeborenen Kindes betrachtet, wird wenig Grund zu der Annahme haben, daß es einen reichen Vorrat an Ideen habe, der das Material seiner künftigen Kenntnisse abgeben könnte.«1 Der Beobachter wird zum Experimentalforscher, sobald er Veränderungen in den Lebensbedingungen des Kindes in Erwägung zieht: »[M]an [könnte] zweifellos ein Kind so erziehen, daß es sich auch von den gewöhnlichen Ideen nur eine ganz geringe Anzahl aneignete, bis es erwachsen wäre.«2 Könnte … erziehen – der Philosoph äußert sich im Konditional des Gedankenexperiments. In der Folge präzisiert er die Versuchsanordnung: [D]och wird man meines Erachtens ohne weiteres zugeben, daß, wenn ein Kind, bis es erwachsen wäre, an einem Orte festgehalten würde, wo es nie etwas anderes sähe als die Farben schwarz und weiß, es als Erwachsener ebenso wenig eine Idee von scharlachrot oder grün haben würde, wie jemand eine Idee von dem eigentümlichen Wohlgeschmack der Auster oder der Ananas besitzt, der von Kindheit her nie dergleichen gekostet hat.3
Dieses Kind, gefangen gehalten an einem Ort, der seine Entwicklung verzögert, kündigt alle weiteren negativen Erziehungen und pädagogischen Fiktionen der Epo1 John
Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. 2 Bde. Bd. 1. Hamburg 41981, S. 110 [Zweites Buch, Kap. 1, § 6]. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 110 f.
Prospekte · Michel Delon
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che an.4 In Abgrenzung dazu kristallisiert sich ein Entwicklungsmodell, das nicht allein das Kind zum Erwachsenen heranwachsen lässt, sondern auch den Europäer zum zivilisierten Menschen macht; nunmehr profitiert er von den Errungenschaften einer Chemie, die Scharlach produziert – »einer der sieben schönen Rottöne«5 laut Enzyklopädie –, wie vom Segen des Fernhandels, der Europa mit Ananas beliefert. Der französische Übersetzer Lockes sah sich bemüßigt, in einer Fußnote zu erläutern, es handele sich um »eine der besten Früchte Indiens, an Gestalt dem Tannenzapfen recht ähnlich« 6, und dabei auf einen Reisebericht zu verweisen.7 In zweifacher Hinsicht, aufgrund ihrer narrativen und fiktionalen Aspekte nämlich, läuft die empiristische Argumentation auf den Roman hinaus. Eine Entwicklung entfaltet eine Erzählung, das Experiment entwirft Hypothesen parallel zur Wirklichkeit. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kennzeichnen drei große Synthesen den Durchbruch dieser Philosophie in Frankreich: die Einleitung zur Enzyklopädie, die Abhandlungen Condillacs, Buffons Naturgeschichte. Auf vergleichbare Weise greifen sie auf Narration und erklärende Spekulation zurück. Die Einleitung, die d’Alembert der Enzyklopädie voranstellt, präsentiert in zwei Schritten eine Ordnung bzw. eine Verknüpfung des Wissens und schließlich eine Geschichte der Aufklärung. Im ersten Teil rekonstruieren »de[r] Stammbau[m] und d[ie] Verkettung unserer Kenntnisse« 8 das gesamte menschliche Wissen, das konkrete wie das abstrakte, ausgehend von Sinneswahrnehmungen; ein solches Wissen umfasse sogar eine Moral, die sich in der Erfahrung von Reziprozität vermittelt. Durch gegenseitige Unterstützung mit ihren einzeln oder in gemeinsamer Anstrengung gewonnenen Einsichten kamen die ersten Menschen vielleicht schon innerhalb kurzer Zeit so weit, einen Teil der Verwendungsmöglichkeiten zu entdecken, welche die einzelnen Dinge ihnen boten.9
4 Vgl.
Christophe Martin: Éducations négatives. Fictions d’expérimentation pédagogique au dix-huitième siècle. Paris 2010. 5 Louis de Jancourt: Art. Rouge, (teint). In: Denis Diderot u. Jean le Rond d’Alembert (Hrsg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des artes et des métiers. 35 Bde. Paris 1751–1780, hier Bd. 14, S. 403 (alle Übersetzungen aus dem Französischen sind von Chris tian Reidenbach). 6 John Locke: Essai philosophique concernant l’entendement humain, ou l’on montre quelle est l’entendu de nos connoissances certaines et la maniere dont nous y parvenons. Übers. v. Pierre Coste. 3., überarb., korr. u. erw. Aufl. Amsterdam 1735, S. 63. 7 François Froger: Relation du voyage de M. de Gennes au détroit de Magellan par le sr Froger. Amsterdam 1699, S. 79: »Die Ananas wächst wie eine Artischocke und ähnelt einem großen Tannenzapfen.« Sie könne als »die beste Frucht ganz Amerikas gelten«. 8 Jean le Rond d’Alembert: Discours préliminaire de l’Encyclopédie – Einleitung zur Enzy klopädie. Hrsg. v. Erich Köhler, übers. v. Annemarie Heins. Hamburg 1955, S. 13 [S. I]. In Klammern geben wir die Seitenzahlen im Bd. 1 der Encyclopédie (Paris 1751) an. 9 Ebd., S. 27 [S. IV].
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Die Kenntnisse entwickeln und vertiefen sich fortwährend – ein Prozess, bei dem d’Alembert Gewicht legt auf das kollektive Handeln und die Rolle der zu überwindenden Hindernisse. Aufklärung definiert sich als Anstrengung [efforts]. Nun bleibt ein solches Wissen noch begrenzt und macht vielleicht eine »Ergänzung unserer natürlichen Einsicht«10 nötig, die der Glaube beisteuert. In jedem Falle fordert es eine Beherrschung der Natur, wie sie einer überschauenden Beobachterposition entspricht und die wiederum den Konditional bemüht: »Das Weltall selbst würde durch die Möglichkeit einer umfassenden Betrachtung von einem einzigen Gesichtspunkt aus, wenn man es so ausdrücken darf, zu einer einzigen Tatsache und einer großen Wahrheit.«11 Doch die Realerfahrung der Kenntnisse knapp über der Erde ist labyrinthischer und der Weg des Wissens ungewiss und verschlungen.12 Auf diesen ersten, »metaphysischen« Teil folgt ein zweiter, historischer, der mit dem beginnt, was d’Alembert die »Renaissance [renaissance des Lettres]«13 nennt. »Bei dem Hervortreten aus einer langen Zwischenstufe geistiger Dämmerung, die auf Jahrhunderte großer Erkenntnisse gefolgt war, mußte jedoch die Wiedergeburt der Gedankenwelt, wenn man so sagen darf, zwangsläufig von ihrem ursprünglichen Stand abweichen.«14 Mag auch die theoretische oder metaphysische Entwicklung kontinuierlich sein, die historische Realität verläuft sprungartig, in Umläufen mit rückläufigen Schleifen. Was dem Aufklärungszeitalter vorausging, trägt noch nicht den Namen »Mittelalter«. Die Gegenwart selbst ist noch nicht frei von Schatten. [Ü]berall treten regelmäßige Umwälzungen [révolutions] auf, und die geistige Dunkelheit wird durch ein neues Zeitalter des Lichtes [siècle des lumières] ihr Ende finden. Nach einiger Zeit der Finsternis wird das Tageslicht dann um so heftiger auf uns einstrahlen. Diese Dunkelheit wird eine Art an sich unheilvoller, aber in ihren Folgen manchmal doch segensreicher Anarchie sein.15
Der historische Prozess weist Momente auf, die zugleich verhängnisvoll und nützlich sind – punktuell verhängnisvoll, aber nutzbringend in dialektischer Hinsicht. Fortschritt stellt sich weder linear noch regelhaft ein. Die Arbeit großer Männer hat in dieser Geschichte die Akzente gesetzt und behutsam der Aufklärung den Weg bereitet. »[F]rei von dem gefährlichen Ehrgeiz, ihren Zeitgenossen die Binde von den Augen zu reißen,« bereiteten sie »aus der Ferne und in aller Stille die Auklärung [vor], von deren Licht die Welt allmählich und in unmerklichem Aufstieg erfaßt werden sollte«16 Die Abstufungen der Ontogenese bei Locke sind hier zu Abstufun10 Ebd.,
S. 47 [S. VIIJ]. S. 53 [S. IX]. 12 Vgl. Ebd., S. 45 [S. VIJ] u. 83 [S. XIV]. 13 Ebd., S. 141 [S. XXV]. 14 Ebd., S. 111 [S. XJX f.]. 15 Ebd., S. 189 [S. XXXIIJ]. 16 Ebd., S. 137 [S. XXIV]. 11 Ebd.,
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gen innerhalb der Phylogenese geworden. D’Alembert beruft sich dabei auf Francis Bacon und Descartes. Dessen Version hinterfragt die Perspektive eines Fortschreitens »in unmerklichem Aufstieg«, indem er Kräfte anführt, die sich diesem entgegenstellen. Aufklärung heißt nicht nur Anstrengung, sondern auch Kampf. Man kann ihn [d. h. Descartes, Anm. d. Verf.] als Anführer einer Verschwörung betrachten, der als erster den Mut zum Aufstand gegen eine despotische und willkürliche Macht aufbrachte und der in der Vorbereitung einer aufsehenerregenden Revolution den Grund zu einer gerechteren und glücklicheren Regierung legte, deren Einsetzung er nicht mehr erleben konnte.17
Wie ein Brennglas bündelt das Wort »Revolution« die Ängste und Hoffnungen des klassischen Zeitalters. Nicht mehr das Prinzip der Wiederkehr, sondern den holprigen Auftakt in eine nie dagewesene Zukunft bezeichnet es nun. Etymologisch verbunden mit der Idee einer zyklischen und in sich geschlossenen Geschichte, die – nach der Formel Jean Marie Goulemots – die »Perfektion des Ursprungs« und die »Wunde der Zeit« wiederholt,18 suggeriert der Begriff nun eine befreiende Gewalt, eine heilsame Entfernung von der Routine. Die Revolutionen des menschlichen Geistes können eine Kultur angesichts politischer Umwälzungen retten. Damit sichert die Aufklärung ihren weiteren Verlauf gegen eine »verlängerte Geschichte der Ursprünge« ab,19 in der alles sich zu verändern scheint, damit sich nichts verändert, wie es bei Lampedusa heißt. Im Artikel »Enzyklopädie« der Enzyklopädie, der mit d’Alemberts Einleitung dialogisiert, verweist Diderot auf den Nutzen aktualisierter Wissensbestände, will man Rückschritte infolge einer sozialen Zäsur abwenden. Der rühmlichste Zeitpunkt für ein derartiges Werk wäre der Moment unmittelbar nach einer großen Umwälzung [révolution], die den Fortschritt der Wissenschaften aufgehalten, die Leistungen der Künste unterbrochen und einen Teil unserer Hemisphäre wieder in Finsternis getaucht hätte. Wie dankbar würde dann die Genera tion, die nach diesen unruhigen Zeiten kommt, den Männern sein, die lange vorher solche Zeiten befürchtet und durch rechtzeitige Rettung der Kenntnisse aus den vergangenen Jahrhunderten die Vernichtung verhütet hätten!20
Wie die Idee der Revolution verweist jene der Enzyklopädie allererst auf ein Zirkularmodell, um erst in der Folge die vorläufigen Abschnitte eines Wissens zu be17 Ebd.,
S. 149 [S. XXVJ]. Marie Goulemot: Le règne de l’histoire. Discours historiques et révolutions (XVIIe – XVIIIe siècle). Paris 1996, S. 348. 19 Ebd., S. 350. 20 Denis Diderot: Art. Enzyklopädie. In: Manfred Naumann (Hrsg.): Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie. Übers. v. Theodor Lücke. Leipzig 1972, S. 396–522, hier: 416. 18 Jean
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stimmen, das immer unvollständig bleibt und unausgewogen hinsichtlich noch ausstehenden Entdeckungen. Die Umwälzungen entbinden von der Pflicht, die Vergangenheit nachzustammeln, und die Enzyklopädie öffnet sich einer permanenten Überarbeitung entlang der kontinuierlich anwachsenden Wissensbestände. Schreiben, Buchdruck und enzyklopädisches Denken bilden allesamt Antworten auf Vergessen und Zerstörung. Die Fortschritte des menschlichen Geistes21 können dem religiösen Verhängnis der Erbsünde und der chaotischen Realität der Geschichte die Tröstungen einer möglichen Zweckbestimmung des Menschen entgegensetzen. Der Term der Abstufung [gradation], der den Bildungsgrad des Individuums bzw. den Entwicklungsgrad der Gattung theoretisch fasst,22 liefert die Gewissheit über einen Intellekt, der stärker ist als die Sinnlosigkeit von Krieg und Vorurteil; er versichert hinsichtlich eines Bezugspunkts, den weder Zufälle noch Risiken erschüttern – eine Abstufung, die unsere Seele bei ihren ersten Erfahrungen wahrnimmt, »gewissermaßen gleichzeitig vorwärtsgetrieben und zurückgehalten […] durch eine Fülle von Wahrnehmungen«,23 ein Aufstieg des Geistes in Richtung Abstraktion und dann, »allmählich von Stufe zu Stufe«, hin zu einer analytischen Wiederherstellung der Dinge,24 »gewisse Abstufungen oder besser gesagt Abtönungen [nuances]« zwischen den verschieden Wissenschaften mit mehr oder weniger Fundamentalstatus,25 eine Abstufung schließlich, die den aktuellen Stand einer jeden Disziplin erklärt.26 Dem Unvorhergesehenen enthoben, ist die Menschheitsgeschichte nicht mehr zum Unglück verdammt. Der philosophische Roman von einem Menschen, der in einer förderlichen Umgebung erwacht und schrittweise erschließt, was ihn umgibt, ist geeignet, mit der biblischen Erzählung von Sündenfall und Erlösung zu konkurrieren. »Von nun an erscheinen«, um mit Frédéric Rouvillois zu sprechen, »die Rückschritte und selbst die Pausen grundlegend anormal, weil sie aus externen Störungen resultieren und nicht, wie in zyklischen Systemen, aus der Bewegung selbst hervorgehen.«27 Zumindest auf epistemologischem Gebiet kann der erste Mensch den biblischen Adam ersetzen, auch wenn das Syntagma »erster
21 Vgl.
Jean Dagen: L’Histoire de l’esprit humain dans la pensée française de Fontenelle à Condorcet. Paris 1977. 22 Diesen Diskurs habe ich in zwei Vorträgen zu skizzieren versucht: Les Lumières ou le sens des gradations. In: Reinhard Krüger (Hrsg.): Text, Geschichte, Anthropologie. Werner-KrausVorlesungen Stuttgart 2003–2007. Berlin 2008, S. 37–56; Les Lumières ou le sens des gradations. Athen 2004. 23 D’Alembert: Discours préliminaire, S. 19 [S. IJ]. 24 Ebd., S. 37 [S. VJ]. 25 Ebd., S. 49 [S. XIIJ]. 26 Vgl. ebd., S. 111 [S. XJX]. 27 Frédéric Rouvillois: L’Invention du progrès. Aux origines de la pensée totalitaire. 1680– 1730. Paris 1996, S. 161.
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Mensch« in den Artikeln der Enzyklopädie weiterhin in Verbindung zum christlichen Kontext steht. Condillac fügt dieser Fortschrittserzählung eine theoretische Fiktion hinzu. Er nimmt im Traité des sensations eine menschliche Maschine oder eine Marmorstatue an, deren Programm er verändern kann. Eine solche Maschine erlaubt ihm einen nicht unproblematischen Eingriff in die menschliche Realität – nicht unproblematisch selbst dann, wenn man sich von den ethischen Problemen dieses Menschenversuchs wenig berührt zeigt. Um dieser Frage nachzugehen, stellten wir uns eine Statue vor, die im Inneren wie wir selbst organisiert wäre, die belebt wäre von einem Geist, dem jedwede Vorstellung abgeht. Auch nahmen wir an, dass ihr marmornes Äußeres die Tätigkeit keines ihrer Sinne erlauben würde, und wir behielten uns die Freiheit vor, diese ganz nach unserem Ermessen den jeweiligen Eindrücken gegenüber freizugeben, für die sie empfindlich sind. Wir glaubten mit dem Geruchssinn beginnen zu müssen, weil dieser von allen Sinnen am wenigsten für die Kenntnisse des menschlichen Geistes beizutragen scheint. Daraufhin wurden auch die anderen Gegenstand unserer Forschungen, und nachdem wir sie einzeln und im Zusammenspiel betrachtet hatten, entwickelte sich die Statue unter unseren Augen zu einem Lebewesen, das fähig war, für seine Selbsterhaltung Sorge zu tragen.28
Der erste Teil der Abhandlung erzählt daher »die verschiedenen Grade von Lust und Schmerz«29, welche die Statue verspürt, die einzig auf ihren Geruchssinn, dann ihr Gehör, dann den Geschmack, dann schließlich auf die drei Sinne gemeinsam verwiesen ist. Der zweite und der dritte Teil nehmen das Exerzitium wieder auf; sie gehen nun vom Tastsinn aus, der die Statue zur Erschließung der äußeren Wirklichkeit anhält. Diese Hypothese einer Beschränkung nur auf den Tastsinn erlaubt Condillac, das Molyneux-Problem neu zu aufzuwerfen.30 Aus dem Zusammenwirken der Sinne entsteht ein Wesen, das fähig ist zu handeln. Diese Statue wird in den Überschriften der verschiedenen Kapitel als »ein Mensch« bezeichnet. Es handelt sich um einen isolierten Menschen, ohne Sprache noch Erfahrung, der sich von den unmittelbaren Bedürfnissen herleitet, aber immerhin eines ersten Selbstbe28 Étienne
Bonnot de Condillac: Traité des sensations. Traité des animaux. Paris 1984, S. 11. Dieser Passus (»Dessin de cet ouvrage«) ist in der deutschen Übersetzung nicht enthalten, die wir in der Folge zitieren; die Seitenzahlen der französischen Ausgabe werden weiterhin in Klammern angezeigt. 29 Étienne Bonnot de Condillac: Abhandlung über die Empfindungen. Hrsg. v. Lothar Kreimendahl. Hamburg 1983, S. 2 [S. 17] u. 9 [S. 23]. 30 Vgl. Marc Parmentier: Le Problème de Molyneux de Locke à Diderot. In: Recherches sur Diderot et l’Encyclopédie 28 (2000), S. 13–23; Jean-Bernard Mérian: Sur le problème de Molyneux. Paris 1984.
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wusstseins fähig ist. Locke hatte sich damit begnügt, die Ausbildung der menschlichen Kenntnisse nachzuverfolgen, Condillac nun versucht die Entstehung eines Subjekts sowie seine Konstruktion einer äußeren Wirklichkeit zu verstehen.31 Sein Ich ist eine Ansammlung von Sinneserfahrungen, doch das Bewusstsein dieser Außenwelt hilft ihm, seinen Körper und seine Person zu isolieren. Condillac verleiht seiner Statue daraufhin die Sprache und lässt sie das, was sie ist, mit dem, was sie war, vergleichen. Die Erinnerung von Sinneserfahrungen lädt zum Vergleich ein; in der Konfrontation der verschiedenen Sinne differenzieren sich eigener Körper und Außenwelt; all diese Differenzen werfen Fragen auf. Überhaupt entsteht die Intelligenz aus Verwunderung und Selbstbefragung: Was bin ich, würde sie sagen, und was bin ich gewesen? Was sind diese Töne, diese Düfte, diese Geschmäcke, diese Farben, die ich nacheinander für meine Daseinsweisen hielt, und die mir die Dinge jetzt zu nehmen scheinen? Was ist diese Ausdehnung, die ich an mir und um mich entdecke, ohne Grenzen zu finden? Sind es etwa nur verschiedene Arten, wie ich mich empfinde? 32
Während sie diese Fragen präzisiert und zugleich ihren Akzent verschiebt, ruft sich die Statue das Erlebte ins Gedächtnis, um eine Antwort zu skizzieren. Bevor mir der Gesichtssinn gegeben wurde, kannte ich den Himmelsraum nicht; ehe ich den Gebrauch meiner Glieder hatte, wußte ich nicht, daß es außerhalb von mir etwas gebe. Was sage ich da? Ich wußte nicht, daß ich ausgedehnt sei; ich war nur ein Punkt, als ich auf ein einförmiges Gefühl angewiesen war. Was ist das also für eine Reihe von Gefühlen, die mich zu dem gemacht hat, was ich bin, und die vielleicht auch alles das gemacht hat, was mir als meine Umgebung gilt? Ich empfinde nur mich, und in dem, was ich in mir empfinde, sehe ich die Außenwelt. Oder ich sehe vielmehr keine Außenwelt; aber ich habe mir gewisse Urteile angewöhnt, die meine Empfindungen dahin verlegen, wo sie nicht sind.33
So geht die Statue vom je zum moi über, von einer Wahrnehmung zu einer Aufmerksamkeit; das Subjekt seiner Handlung wandelt sich zum Subjekt seines Bewusstseins, in einem gleitenden Übergang, den Maine de Biran Condillac später vorwerfen wird.34 Die Statue ist passiv genug, um wie ein Beobachtungsgegenstand behandelt zu werden, doch aktiv genug, um in der ersten Person zu sprechen. Als Objekt, das dem Willen des Experimentalforschers unterstellt ist, kann der Blindgeborene, dem man den Star gestochen hat, »in eine gläserne Zelle« eingeschlossen 31 Vgl.
Bertrand Baertschi: La Statue de Condillac, image du réel ou fiction logique? In: Revue philosophique de Louvain 82 (1984), S. 335–364. 32 Condillac: Abhandlung über die Empfindungen, S. 205 [S. 257]. 33 Ebd., S. 205 f. [S. 257]. 34 Vgl. dazu Malika Temmar: La Statue de Condillac dans le Traité des sensations. L’inscription de la fiction dans le discours philosophique. In: Alliage 65 (2009), S. 58–72.
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werden. »Denn entweder wird er die draußen befindlichen Dinge sehen und über ihre Form und Größe urteilen, oder er wird nur den durch die Wände seiner Zelle begrenzten Raum wahrnehmen und alle jene Dinge nur für verschieden gefärbte Flächen halten«35. Als Subjekt analysiert die Statue ihre Eindrücke und Gefühle. Sie setzt sich aus einer Abfolge von Sinneserfahrungen zusammen, ganz wie die Kreatur des Doktor Frankenstein aus organischen Elementen zusammenmontiert wird; doch sie lehnt sich nicht gegen ihren Schöpfer auf. Die Abhandlung über die Empfindungen bezieht zwar vom epischen Erzählen die Verlaufsform, in der sie von einem Gedankenexperiment berichtet; doch das Experiment müsste erst einmal misslingen, damit der Roman Oberhand gewinnt und die Ängste der Epoche offenlegt, wie er es unter der Feder Mary Shelleys tun wird.36 Condillac sieht eine Statue vor, die erstaunt, die zaudert, jedoch keine, die gegen ihren Manipulator aufbegehrt. Sicherlich hätte er weder die Geschichte noch die lange Rede dieser Statue in Unkenntnis gewisser Passagen verfasst, die Buffon einige Jahre zuvor veröffentlicht hatte. Im ersten Band der Naturgeschichte definiert eine methodologische Einführung die Art und Weise, wie das Fach zu studieren und zu handhaben sei. Der Gelehrte empfiehlt, sich der Vorurteile zu entledigen und sich hinsichtlich überkommener Vorstellungen zu prüfen. Er setzt sich an die Stelle des ersten Menschen und versucht zu beschreiben, was ihn umgibt. Der Zweifel und, stärker noch, die Prämisse der tabula rasa befreien den Raum von jeglichem unhinterfragten Wissen. Es gilt, um es in unserem informationstechnischen Jargon zu sagen, die menschliche Maschine neuzustarten. Denken wir uns einen Menschen, der in der That Alles vergessen hat oder für die Gegenstände, die ihn umringen, ganz neu erwacht; stellen wir diesen Menschen in ein Gefilde, wo sich die Thiere, Vögel, Fische, Pflanzen, Steine nach einander vor seinen Augen zeigen. In den ersten Augenblicken wird dieser Mensch nichts unterscheiden und Alles vermischen; aber lassen wir seine Vorstellungen sich durch wiederholte Wahrnehmungen derselben Gegenstände befestigen; bald wird er sich eine allgemeine Vorstellung von dem belebten Stoffe bilden, wird ihn leicht von dem unbelebten […] unterscheiden[.]37
Im dritten Band der ersten Ausgabe präsentiert Buffon eine »Naturgeschichte des Menschen«. Ein Kapitel widmet er den Sinnen im Allgemeinen; er beschreibt sie 35 Condillac:
Abhandlung über die Empfindungen, S. 162 f. Mary Shelley sind hier eine ganze Reihe weiterer Romanciers anzudenken, vgl. dazu Joël Castionguay-Bélanger: Les Écarts de l’imagination. Pratiques et représentations de la science dans le roman au tournant des Lumières. Montréal 2008. 37 Buffon: Büffon’s sämmtliche Werke, sammt den Ergänzungen, nach der Klassifikation von G. Cuvier. Übers. v. Heinrich J. Schaltenbrand. 9 Bde. Köln 1837–1847 [im Folgenden: BSW], hier: BSW 1, 97 f. In der Folge verweisen wir in Klammern auf Band und Seitenzahl in der Erstausgabe der Histoire naturelle, hier: BSW 1, 97 f. [1, 31 f.]. 36 Neben
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physiologisch, zeigt die Bedeutung des Tastsinns auf und skizziert einen Roman vom ersten Menschen, um die Wirkungen der Sinneserfahrungen wiederzugeben. Der Entwicklung des Kindes, das, ganz infans, noch unfähig ist zu erzählen, was es erlebt, zieht er die romanhafte Geschichte eines schon erwachsenen Menschen vor, der seine Sinneserfahrungen mitteilen kann. Auf diese Weise separiert er die Bildung des Geistes von der physischen Entwicklung des Organismus. Ich stelle mir also einen solchen Menschen vor, wie man glauben kann, daß der erste Mensch im Augenblicke der Schöpfung war, d. h. einen Menschen, dessen Körper und Organe vollkommen ausgebildet wären, der aber für sich selbst und Alles, was ihn umgibt, ganz Neuling erwache. […] Wenn dieser Mensch uns die Geschichte seiner ersten Gedanken machen wollte, was würde er uns zu sagen haben? (BSW 4, 295 f. [3, 364])
Ein zweitägiges Gedankenexperiment ersetzt hier die zeitaufwändige Beobachtung eines Neugeborenen über mehrere Monate hinweg, dann die eines Kindes über die Jahre, schließlich die unmögliche Beobachtung einer Geschichte der menschlichen Gattung, deren Archäologie nichts als Bruchstücke zutage fördert. Es erlaubt, bei diesem Urmenschen alle stilistischen Fähigkeiten zu entfalten, der doch eigentlich im Außersprachlichen verbleiben müsste und der sich nun, in der Feder Buffons, mit einer Präzision ausdrückt, die der neuen Anmut der Modernen alle Ehre macht – der sogenannten »Metaphysik des Herzens« und der »Seelenanatomie«.38 Als Buffon 1753 in die Académie française aufgenommen wird, hält er dort eine berühmt gewordene Rede, in der er den Stil als den »Mensch[en] selbst ganz und gar«39 defi niert, nicht etwa als einem spezifischen Ich zugehörig, sondern als die Eigenheit des Menschen schlechthin.40 Die wissenschaftliche Beschreibung des Sinnesapparats und die philosophische Analyse der Umwandlung von Sinneswahrnehmungen in Ideen weichen einer Erzählung in der ersten Person. Die ansteckende Emotion springt mehr ins Auge als die reine Beschreibung, der Enthusiasmus des ersten Mals ist mitreißender als eine bloß exakte Analyse. In einer allgemeinen Naturgeschichte tritt das Eigene [propre] des Menschen in diesem Roman vom ersten Tag des ersten Menschen zutage. Der Roman ist weder eine Abschweifung noch die Bebilderung einer Theorie, sondern er erhebt Anspruch auf eine Sonderstellung des Menschen im Hinblick auf die Folgekapitel, die den verschiedenen Tieren gewidmet sind. Der Mensch spricht, denkt und lässt seinen Stil erkennen: »Ich erinnere mich dieses Augenblickes, voller Freude und Verwirrung, worin ich zum erstenmale mein son38 D’Alembert:
Discours préliminaire, S. 179 [S. XXXI]. »Ueber den Styl« [1753]. In: Johann Georg Hamann: Schriften. Hrsg. v. Friedrich Roth. 9 Bde. Bd. 4. Berlin 1823, S. 451–467, hier: 463. 40 Die Formel ist oft missverstanden worden; vgl. dazu Michel Delon: Préface. In: Buffon: Œuvres. Hrsg. v. Stéphane Schmitt. Paris 2007, S. XXXIV f. 39 Buffon:
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derbares Dasein fühlte; ich wußte nicht, was ich, oder wer ich war, wo ich herkam. Ich öffnete meine Augen; welcher Zuwachs von Gefühl!« War das Moment der Aneignung eines jeden Sinnes bei Locke noch abstrakt geblieben, so belebt es sich nun in einem sinnlichen Tableau. »[D]as Licht, das Himmelsgewölbe, das Grüne der Erde, das Krystall der Gewässer, alles beschäftigte, beseelte mich, und gab mir eine unaussprechliche Empfindung von Vergnügen. Ich glaubte Anfangs, alle diese Gegenstände wären in mir, und machten einen Theil meiner selbst aus« (BSW 4, 296 [3, 364]) Eine unaussprechliche Empfindung von Vergnügen: Das Unaussprechliche suggeriert ein Jenseits des objektiven Denkens und der wissenschaftlichen Erkenntnis; lange Zeit markierte es den Bereich des Heiligen, nun wird es in der Romanfiktion wiedergegeben. Der erste Mensch teilt den »Zuwachs von Gefühl« (BSW 4, 296 [3, 364]) in verschiedene Eindrücke auf: das Licht der Sonne, dann der Gesang der Vögel und das Säuseln der Lüfte, die Kühle und die Düfte, schließlich der Kontakt mit seinem eigenen Körper. Eine Frucht, wenig später vom Baum gepflückt, beteiligt den fünften, den Geschmackssinn. Manche der Sinneswahrnehmungen werden dabei zunächst wie Aggressionen empfunden: »[I]ch [wandte] die Augen nach dem Gestirne des Lichts [hin]; sein Glanz verwundete mich; ich schloß unwillkürlich das Augenlied [sic], und empfand einen leichten Schmerz« (BSW 4, 296 [3, 364]). Doch die übrigen Sinneserfahrungen sind euphorisch. Der Gesang der Vögel und das Säuseln der Lüfte rufen einen »süße[n] Eindruck« hervor (BSW 4, 296 [3, 365]). Als er seine Augen wieder öffnet, ist die Rückkehr zum Licht nichts als Vergnügen. Die Kühle und die Düfte vermitteln ihm »ein inniges Aufblühen« (BSW 4, 297 [3, 365]). Auch die taktile Selbstverständigung gehört in den Bereich der Lüste. Der erste Mensch betrachtet sich »mit Vergnügen« (BSW 4, 297 [3, 366]). Die Berührung leitet die Unterscheidung von Selbst und Außenwelt ein, doch ebenso wie der eigene Körper sich euphorisch den Sinneswahrnehmungen hingibt, lassen sich die äußeren Gegenstände nun be- und ergreifen. Eine gepflückte Frucht verströmt »ein[en] köstliche[n] Geruch« (BSW 4, 299 [3, 368]), und ihr Geschmack vermittelt »die Empfindung der Wollust« (BSW 4, 299 [3, 369]). Dieses Evidenzverhältnis mit der Außenwelt erzeugt die Idee von Eigentum [propriété]. Der erste, der isolierte Mensch denkt sich Eigentümer der Welt. Der Wechsel von kurzem Schmerz und gedehnter Lust wiederholt sich in der aufreibenden Arbeit und der Ruhe, in den Schlaf- wie in den Wachzuständen. Der Schlaf kann Ängste hervorrufen: »Diese Vernichtung, die ich eben erfahren hatte, gab mir eine Vorstellung von Furcht, und ließ mich fühlen, daß ich nicht immer da sein müßte« (ebd.). Aber die Locke’sche uneasiness, die inquiétude, die Unruhe sind dynamisch, wie Jean Deprun gezeigt hat,41 und der Mensch reagiert auf jede Schwierigkeit, auf jede Herausforderung der Wirklichkeit mit einem gesteigerten Sein. Die Aussicht auf den Tod führt 41 Vgl.
Jean Deprun: La Philosophie de l’inquiétude en France au XVIIIe siècle. Paris 1979.
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zu einer Verdoppelung, zur Entdeckung eines alter ego und zur Möglichkeit der Zeugung. Aber, während ich mit den Augen die Grenzen meines Körpers durchlief, um mich zu versichern, daß mein Dasein mir vollständig geblieben war, wie groß war meine Ueberraschung, auf meiner Seite eine Gestalt [forme], ähnlich der meinigen zu sehen! ich hielt sie für ein anderes Ich; weit entfernt, etwas verloren zu haben, während ich aufgehört hatte zu sein, glaubte ich verdoppelt zu sein. (BSW 4, 299 f. [3, 370]).
Eine Gestalt – der weibliche Term verspricht eine wundervolle Entdeckung, die Verdoppelung geschieht nicht in Übereinstimmung, sondern in der Abweichung und der Differenz, die unreflektierte Aneignung all dessen, was sich in Griffweite befindet, verwandelt sich in Gegenseitigkeit, aus der Besitznahme kann Zärtlichkeit entstehen. Ich legte meine Hand auf dieses neue Wesen; welche Bestürzung! es war nicht ich, sondern es war mehr, als ich, besser als ich; ich glaubte mein Dasein wechselte den Ort, und ging ganz und gar auf diese zweite Hälfte meiner selbst über. Ich empfand sie sich unter meiner Hand beseelen; ich sah sie in meinen Augen Gedanken annehmen, die ihrigen ließen in meinen Adern eine neue Lebensquelle fließen; ich würde ihr mein ganzes Wesen haben schenken wollen; dieser lebhafte Wille vollendete mein Dasein, ich fühlte meinen sechsten Sinn entstehen. (BSW 4, 300 [3, 370])
Locke hatte von einem sechsten Sinn als einer zusätzlichen Sinnesfähigkeit gesprochen, mit der Gott die Bewohner von Jupiter oder Saturn ausgestattet hatte;42 der Nachfolger Bayles an der Spitze der Nouvelles de la république des lettres brachte ebenfalls einen sechsten, wenn nicht einen siebten, achten oder noch mehr Sinne zur Sprache: »Vielleicht schweigt sich deshalb die Heilige Schrift darüber aus, worin die Wonnen des ewigen Lebens bestehen; wer weiß, ob sie nicht teilweise aus Sinneserfahrungen bestehen, von denen wir keine Vorstellung haben, weil uns die Organe dafür fehlen.«43 Buffon setzt die Formulierung ein, um das sexuelle Verlangen im Hier und Jetzt zu bezeichnen – vom Begehren bis hin zur Erfüllung. Über den sechsten Sinn verfügt kein Schöpfer mehr, der seinen Vorteil den Bewohnern anderer Planeten oder den Erwählten des Paradieses vorbehält. Er verlängert die sinnliche Erfahrung der Menschen durch ein Gefühl, das der Liebesbeziehung eigen ist. Ein funktionierender Körper, der sich unentwegt ausdehnt und selbst affirmiert, trans zendiert sich in einem Fest der Sinnlichkeit. Man kann heute bedauern, dass Buf42 Vgl.
Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Bd. 2, S. 394 [Buch 4, Kap. 18, § 3]. Voltaire wird sich daran erinnern, wenn er den Saturnianer mit 72 Sinnen ausstattet und Micromégas, der vom Sirius kommt, mit mehr als tausend. 43 Jacques Bernard: Article I. In: Nouvelles de la république des lettres. Mois d’Octobre (1710), S. 363–396, hier: 379.
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fons Absage an die biblische Tradition ihn nicht zugleich die Hierarchie der beiden Geschlechter in Frage stellen lässt. »[I]ch sah sie in meinen Augen Gedanken annehmen, die ihrigen ließen in meinen Adern eine neue Lebensquelle fließen« (BSW 4, 300 [3, 370]). – Das Denken ist auf Seiten des Mannes, die Weitergabe des Lebens auf jener der Frau. Immerhin scheint die Fortpflanzungstheorie Buffons dem Dilemma zwischen Ovismus und Animalkulismus zu entgehen, um ein physiologisches Zusammenwirken von Vater und Mutter bei der Bildung des Fötus anzudenken.44 Die folgenden Seiten vertiefen den empiristischen Ansatz; hier reichert er sich mit der Erfahrung des Landmanns von Düften und Farben an, mit einer ländlichen Nähe zu Pflanzen und Tieren, schließlich mit dem unerschütterlichen Optimismus des reich gewordenen und zügig geadelten Bourgeois und Grundbesitzers, der in Hüttenbetriebe investiert. Dieser Zugewinn an Nuancen verdankt sich den Qualitäten des Schriftstellers, der Vergnügen daran findet, ein abstraktes Schema in einen sinnlichen Roman zu verwandeln. Kein Sündenfall erwartet das erste Paar, sondern ein Dasein, das Arbeit und Schlaf, Lust und Zeugung umfasst. Der Tod scheint gebannt, oder zumindest die überlieferte Angst vor dem Tod. »[I]ch hatte zu sehr mein Dasein, um zu fürchten, zu sein aufzuhören, und vergebens rief die Dunkelheit, worin ich mich befand, die Vorstellung meines ersten Schlafes in mein Gedächtnis zurück« (BSW 4, 300 [3, 370]). Und meines letzten, möchte man hinzufügen. Diderot greift diese gelassene Akzeptanz der Menschennatur in seinem Artikel »Délicieux« der Enzyklopädie auf. Das Tal der Tränen hat einem blühenden Landstrich Platz gemacht, im Wechsel von Arbeit und Lust, von Müdigkeit und Ruhe ist die Sünde vergessen: Nur der hat ihren [d. h. einer köstlichen Ruhe] unaussprechlichen Zauber verspürt, dessen Organe feinfühlig und empfindlich waren; dem die Natur eine zärtliche Seele und ein wollüstiges Temperament geschenkt hatte; der sich einer perfekten Gesundheit erfreute; der sich in der Blüte seiner Jahre befand; dessen Geist von keiner Wolke getrübt, dessen Seele von keiner allzu heftigen Emotion bewegt wurde; der aus einer süßen und leichten Erschöpfung erwachte; und der in allen Bereichen seines Körpers ein so gleichmäßig verteiltes Behagen [plaisir] verspürte, dass man es in keinem einzelnen hätte lokalisieren können. […] [D]as Gefühl seines Glücks wurde nur gemeinsam mit jenem seiner Existenz schwächer. Er durchlief ein unmerkliches Intervall zwischen Wach- und Schlafzustand; doch in diesem unmerklichen Übergang, noch im Moment, in dem all seine Kräfte ihn verließen, wachte er genug, um wenn auch nicht etwas Konkretes zu denken, so doch immerhin all die Süße seines Daseins [existence] zu fühlen[.]45 44 Vgl. dazu Jacques Roger: Les Sciences de la vie dans la pensée française au XVIIIe siècle. Paris 1963. 45 Diderot: Art. Délicieux. In: Ders. u. Jean-Baptiste le Rond d’Alembert: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. 35 Bde. Bd. 4. Paris 1754, S. 784.
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Keine Sorge um ein metaphysisches Jenseits – das Unaussprechliche Diderots wie dasjenige Buffons bezeichnen eine einzige Fülle jenes Glücks, von dem man hat sagen können, dass es damals eine in Europa neue Idee war. Wenn der Ablauf des Tages metonymisch auf jenen des menschlichen Lebens verweist, dann hat der Tod seinen Schrecken verloren, und dieses »unmerkliche Intervall zwischen Wach- und Schlafzustand«, vom Leben zum Scheiden, wird begleitet vom Bewusstsein eines erfüllten Daseins. Man versteht, dass die Theologen sich störten an einer derart frohlockenden Menschennatur, die aber sogleich dialektisch wurde unter dem doppelten Vorzeichen von Schmerz und Lust. In seinen Lettres à un Amériquain [sic] sur l’Histoire naturelle, générale et particulière de M. de Buffon, zeigt sich Lelarge de Lignac verwundert und beunruhigt über einen ersten Menschen, der aus einem Nirgendwo herkommt, vielleicht von ein paar lebendigen Teilchen, die Gefallen daran fanden, sich so zu verbinden, dass sie einen menschlichen Körper bildeten[.] […] [D]er erste Mensch, von dem Herr Buffon spricht, ist nicht derjenige, von dem uns die Heilige Schrift berichtet. Er, der unverdorben und gerecht erschaffen wurde, kannte keine Gefahren; die Unsterblichkeit, von der er sich umkleidet fühlte, stellte ihn von den Schrecken des Todes und von den unvorhersehbaren Widrigkeiten [accidents] frei, die ihn herbeiführen können. Er sah sich von den Wohltaten seines Schöpfers umgeben. Weit entfernt davon, ihm Schrecken einzuflößen, hätte das lachende Vollglück des irdischen Paradieses ihn vor Bewunderung hingerissen, wenn nicht Jener, der es ihm bereitet hatte, bereits sein Herz erfüllt hätte. […] [Es] ist die Bibel, die uns diese Wahrheiten lehrt, und man kann Herrn Buffon vorwerfen, sie aus dem Blick verloren zu haben.46
Ohne Zweifel wurde der biblische Bericht ersetzt oder gedoppelt durch die heid nische Fabel von Pygmalion bzw. durch die Erzählungen, die sie abwandeln. In der Tat hat sich das 18. Jahrhundert den Mythos von Pygmalion angeeignet, um über den Übergang von der inerten Materie zum Leben, schließlich hin zum Denken zu spekulieren. Condillac hatte eine Statue imaginiert, die am Ende sprechen konnte. Zehn Jahre zuvor hatte Boureau-Deslandes Pigmalion, oder Die belebte Statüe vorgelegt. Die Handlung erforderte, dass man »die Vorurtheile ein wenig auf die Seite«47 setzte, und der Autor warnte: »[D]iese Stimme wird nicht von jederman Roland Mortier hat auf den rousseauistischen Ton dieser Passage hingewiesen, in: À propos du sentiment de l’existence chez Diderot et Rousseau. Notes sur un article de l’Encyclopédie. In: Diderot Studies 6 (1964), S. 183–196; neu abgedruckt in: Le Cœur et la raison. Recueil d’étude sur le dix-huitième siècle. Oxford/Brüssel/Paris 1990, S. 271–281. 46 Lelarge de Lignac: Lettres à un Amériquain. 9 Bde. Bd. 1. Hamburg 1751, S. 9 ff. Eine andere Kritik an Buffons Naturgeschichte des Menschen findet man im Traité des animaux von Condillac. 47 André François Boureau-Deslandes: Pigmalion, Oder Die belebte Statüe [1741]. Übers.
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gehöret, und darf so gar nicht gehöret werden. Piscis hic non est omnium.«48 Hier hat man das Motto identifiziert, welches Diderot den Pensées philosophiques voranstellt.49 Die mythologische Erzählung hält an Venus als Göttin fest, die die Statue zum Leben erweckt; doch die Belebung des Marmors verläuft in jener Stufenfolge, die wir nun als die allmähliche Ansammlung von Sinneserfahrungen kennen, welche sich schließlich in Ideen verwandeln. Pygmalion lauert auf den Moment, in dem die Statue aufhört, Stein zu sein, und zu denken beginnt. Diese Veränderung ereignet sich keineswegs stu[r]zweise und durch Sprünge: er ereignet sich durch Stuffen, durch eine den Farben ähnliche Steigung [par nuances], durch unmerkbare Bewegungen. Es ist eine unendliche Entfernung von einem Stande bis zum andern; allein dieses unendliche endiget sich in einer Zeit, die sehr endlich ist.50
Das Unendliche wird eine Größe, die sich auf der Basis des Endlichen denken lässt. Diese Auflösung der Opposition zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit vollzieht sich zugleich in der Infinitesimalrechnung der zeitgenössischen Mathematik und in den Spiegeleffekten der Fiktion. In der Folge »durch Stuffen, durch eine den Farben ähnliche Steigung, durch unmerkbare Bewegungen« verweist Stuffen auf eine gegliederte Gradation, Steigung beginnt ihre Abschnitte zu verwischen, unmerkbare Bewegungen schließlich löscht die Differenzierungen vollends aus. Boureau-Deslandes bemerkt ausdrücklich die Parallele zwischen der erwachenden Statue und der Entwicklung des Kindes: »Eben also verhält es sich mit einem Kinde, das neulich zur Welt gekommen ist. Es gleichet einer rohen Sache, und einer Sache, die noch weniger geglättet und noch ungestalteter ist als der Marmor.«51 Der Gründungstext des Empirismus hatte den Übergang von der sensiblen Materie zum Denken ermöglicht; Boureau-Delandes nimmt die Bewegung von der unorganischen zur denkenden Materie vorweg. Die Seele ist soweit, eine subtile Form der Materie zu werden. Die Statue erlangt Sprache und Reflexion. »Was bin ich, und was war ich nur noch vor kurzen? Ich begreiffe mich gar nicht: ich kenne mich im geringsten nicht.«52 v. Johann Jakob Bodmer. Hamburg 1748, S. 4. Für die frz. Originalversion vgl. Henri Coulet (Hrsg.): Pygmalions des Lumières. Paris 1998, S. 49. Die Seitenzahlen der französischen Ausgabe werden weiterhin in Klammern angezeigt. Vgl. auch Annegret Dinter: Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel. Heidelberg 1979. 48 Boureau-Deslandes: Pigmalion, S. 5 f. [S. 50]. 49 Vgl. Denis Diderot: Œuvres philosophiques. Hrsg. v. Michel Delon. Paris 2007, S. 1, sowie die dazugehörige Fußnote 1 (ebd., S. 1037). Das Motto lautet übersetzt: »Dieser Fisch ist nicht für alle.« 50 Boureau-Deslandes: Pigmalion, S. 22 [S. 59]. 51 Ebd., S. 23 [S. 59]. 52 Ebd., S. 24 [S. 60].
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Zwischen Pygmalion und der Statue entspinnt sich nun ein Dialog, dem ein sinnlicher, schließlich sexueller Austausch folgt. »Es schiene, daß die wiederholten heftigen Bewegungen dieser Art der Lust ihre Seele, um also zu reden, vermehrten und vollkommener machten.«53 Die Passage von der quantitativen Steigerung zur qualitativen Vollendung begleitet die Sublimierung des Körpers im Denken. Einen vergleichbaren moralischen Zugewinn kennzeichnet die Verwandlung des körper lichen Triebs in eine »Kunst der Wollüste«.54 Die Zähmung der Statue, die Vertiefung der Liebesbeziehung und die soziale Anerkennung des Paars werden in barockem rocaille gerahmt55 und in einer bildhaften Sprache geschildert, wie sie zeitgleich Marivaux, Crébillon und Bibiena prägen. Die moralische Schlusswendung der Erzählung setzt eine zivile, also reversible Verbindung an die Stelle des Schwurs, der die Ehe zum Sakrament machen würde. »Ueberlasse die Eydschwüre denenjenigen, welche die Kraft derselben nicht kennen, den Thoren und den Schwachen.«56 Nicht mehr, weil sie von der Göttin belebt wurde, kann man die Statue jetzt noch göttlich nennen, sondern weil das Göttliche nun eine Dimension des Menschlichen geworden ist – eine Spannung, die den Menschen ausmacht, die ihn dazu anhält, sich zu überschreiten. Ein Vierteljahrhundert später greift Diderot das Setting ironisch auf: Er stellt es in einer Skulpturengruppe von Falconet – Pygmalion und Galathea – still, um es zu zerstören bzw. um es auf einen Marmorstaub zu reduzieren, der an den großen Kreisläufen der Moleküle teilhat. Der Philosoph vervollständigt den Übergang von der Materie zum Denken und zur Kunst, indem er darüber hinaus die gegenläufige Bewegung nachverfolgt: Die Liebesbeziehung wird auf Mlle de Lespinasse, d’Alembert und den Arzt Bordeu übertragen. Der Dialog ersetzt die Erzählung. Der dritte Teil jener Trilogie, die als D’Alemberts Traum bekannt ist, skizziert ohne jeden 53 Ebd.,
S. 32 [S. 64]. S. 38 [S. 67]. 55 Im Zeitgeschmack für das Kleine ist der Raum in kleine Gehäuse separiert. Die Handlung spielt sich zunächst in einem »freystehenden grossen Saal« am Ende des Gartens ab. »Dieser Saal war grün und mit Golde angemahlet, und Ruhebetten, welche ein wenig von einander entfernet standen, bothen sichere und gemächliche Freystäte dar, welche dem Nachsinnen zu Hülfe kamen. Ein sanftes Licht breitete sich darinn durch vier Fenster aus, welche mit Blättern von Frauenglase versehen waren, und die übrige Stärke des Tageslichtes schwächte man durch Fürhänge von Spanischem Leder, welche mit grünen und goldenen Schnüren auf und niedergezogen würden.« (Ebd., S. 18 f. [S. 57]) Die Dämpfung des Lichts leitet das Erwachen des menschlichen Bewusstseins ein. Das Gastmahl wird in einem ebenerdigen Saal des Hauses auf mehreren kleinen Anrichten gereicht. »Viele Wachslichte erleuchteten ihn, und den Boden hatte man mit wohlriechenden Wassern besprenget, die von den schönsten Blumen waren abgezogen worden. Die Luft war mit dem auserlesensten Rauchwerke gebalsamet. Aus Tyrischem Purpur verfertigte Vorhänge, die man mit einiger Nachlässigkeit vor die Fenster gezogen hatte, wurden von einem lieblichen Westwinde in eine sanfte Bewegung gesetzt« (Ebd., S. 38 [S. 67]). 56 Ebd., S. 43 [S. 69]. 54 Ebd.,
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theologischen Vorbehalt eine Moral des Liebes- und Sexuallebens. Die Liebenden müssen sich von der Forderung Mme de La Carlières lösen, die den Eid am Fuß der Altäre mit einem Bund vor den Augen der Mitmenschen ersetzt.57 Diderots Handhabung von Boureau-Delandes’ Pigmalion, oder Die belebte Statüe ist Teil einer poetischen Wiederverwertung; ihr Muster bildet der Umgang mit der Falconet-Statue, die der Erde zurückgegeben wird. Wie immer bei Diderot bildet die Schreibweise die Metapher für das philosophische Argument, während das Spiel von Kontinuität und Diskontinuität zwischen den drei Dialogen des Traums den kollektiven Entwurf eines theoretischen Denkens vorführt, das von einer Hypothese und unterschiedlichen Erfahrungen ausgeht. Der Philosoph, der Geometer, der Mediziner und die Dame von gesundem Menschenverstand haben Teil an der Entstehung einer Philosophie – eine neue Etappe in der Selbstherstellung des Menschen durch die Menschen selbst. Während Condillacs Abhandlung und die Variationen um Pygmalion den kreativen Akt einer männlichen Figur vorbehalten und die weibliche Figur einer Statue, die zum Leben erwacht, lediglich an zweiter Stelle präsentiert hatten, lässt Diderot d’Alembert seine eigene Entstehung, den Zyklus seiner Entwicklung und seines Alterns imaginieren, ganz wie in den zeitgenössischen Experimenten, in denen der Gelehrte sich selbst zum Beobachtungsgegenstand wählt. Er modelliert eine Repräsentation des Menschen ohne Hierarchie zwischen Mann und Frau; sie stellen jeweils nur die Aberration [monstre] des anderen dar. Es ist Mlle de L’Espinasse, die diesen »tolle[n] Gedanken [idée bien folle]« vorbringt: »Der Mann ist vielleicht nur die Mißgeburt der Frau, oder die Frau die Mißgeburt des Mannes«.58 An dieser Stelle müsste man den Roman heranziehen, den Bibiena 1747 veröffentlicht. La Poupée vertauscht auf paradoxale Weise die Rollen in jenem Paar von Herrchen [petit-maître], der lernen muss, in Sachen des Gefühls und des Lebenswandels erwachsen zu werden, und Puppe, die seine Erzieherin und Partnerin ist. Hier ist es die Puppe, Artverwandte der Statue, die den Charakter ihres Lieb habers modelliert. Sie lehrt ihn, seine Begierden zu zügeln und zu warten, bis sich zwischen ihnen ein sinnliches Einverständnis hergestellt hat. Sie wächst körperlich in dem Maße, wie ihr Gefährte moralisch reift, um ihrer würdig zu werden. Der junge Mann ist zu Beginn der Erzählung wohl sexuell ausentwickelt, doch er hat noch alles zu lernen, um ein liebender Liebhaber zu werden. Das Vokabular, das seine Entwicklung ausdrückt, spielt zugleich auf das physische Wachstum und eine moralische Erneuerung an – auf eine Bekehrung oder gar eine psychologische Revolution, die es erlaubt, sich eine verantwortungs- und respektvolle Sexualität zu erschließen.59 Die Puppe, die Sylphe, das Kind, das seinerseits in einem kindlichen 57 Vgl.
Denis Diderot: Contes et romans. Hrsg. v. Michel Delon. Paris 2004, S. 525 f. Diderot: Erzählungen und Gespräche. Übers. v. Katharina Scheinfuß. Leipzig 1953, S. 409. 59 Vgl. dazu Jean Galli de Bibiena: La Poupée [1747]. Paris 1987: »réforme« (S. 47 u. 70), 58 Denis
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Körper über die seelische Reife des Erwachsenen verfügt hatte, wächst und wird seine Partnerin in einer auf Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung gründenden Beziehung. Die moralische Bildung erfolgt dabei über Emotionen, so wie die geis tige Entwicklung sich über Sinneserfahrungen hergestellt hatte. Vor allem Jean-Jacques Rousseau ist es, der diese Thematik aufgreift und seinen persönlichen Anliegen gemäß adaptiert. Zum einen verfasst er einen eigenen Pygmalion, bei dem Sprache und Musik in einen Dialog gebracht sind, der den Austausch zwischen Bildhauer und Statue begleitet. Zum anderen wird er in der Selbstinszenierung seiner späten Jahre, nachdem er alle sozialen Bindungen gekappt hat, wieder zum ersten Menschen, der in aller Unschuld seine Welt entdeckt. Aufgrund des Vorfalls von Ménilmontant, den er in der zweiten Promenade schildert, findet er zu den Gefühlen dieses ersten Menschen zurück, der die Augen vor der ihn umgebenden Realität aufschlägt. »Die Nacht schritt voran. Ich nahm den Himmel wahr, einige Sterne und ein wenig Grün. Die erste Empfindung war ein köstlicher Augenblick.« 60 Die Geburt entspricht keiner Morgendämmerung mehr, sondern einer Abenddämmerung. Das Lebewesen erwacht zur anbrechenden Nacht, in der sich ausbreitenden Dunkelheit. Der glorreichen Addition von Sinneserfahrungen bei Condillacs Statue oder Buffons erstem Menschen zieht Rousseau die Subtraktion vor, dank derer der Mensch, der er war, sich all dessen entledigt, was für eine Rückkehr zur reinen Natur unnütz oder schädlich ist. Verletzt und bewusstlos, stehen die Erfahrungen von Schmerz und Tod im Raum; doch mit der Begeisterung des ersten Erwachens kommt er wieder zu Bewusstsein. In diesem Moment wurde ich zum Leben geboren, und mich dünkte, ich erfüllte alle Gegenstände um mich her mit meinem leichten Dasein. […] [I]ch wußte weder wer, noch wo ich war, fühlte weder Weh noch Furcht, noch Unruhe. Mein Blut sah ich fließen, ganz wie ich einen Bach hätte fließen sehen, ohne es mir nur einfallen zu lassen, daß dieses Blut mir gehöre. Ich fühlte in meinem ganzen Wesen eine beglückende Stille, mit der, so oft ich mich an sie erinnere, alle Wirkung der mir bekannten Vergnügungen nicht zu vergleichen ist.61
Condillac dachte den ersten Menschen, Buffon imaginierte ihn, Rousseau ist der erste Mensch. Das Initialmoment einer Menschheitsgeschichte gemäß den Enzyklopädisten wird zu einer individuellen und außergewöhnlichen Erfahrung. Eine philosophische Hypothese nimmt die Form eines mystischen Abenteuers an. Die »conversion« (S. 128), »révolution« (S. 111 u. 134). Der Erzähler spricht zudem von einer »progression« (S. 90) und vom »miracle du changement [Wunder der Verwandlung]« (S. 101). 60 Jean-Jacques Rousseau: Schriften. Hrsg. v. Henning Ritter. 2 Bde. Bd. 2. München/Wien 1978, S. 652. Für die frz. Originalversion vgl. ders.: Œuvres complètes. Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. 5 Bde. Bd. 1. Paris 1959, S. 1005. 61 Ebd.
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allmähliche Erfindung des Menschen durch den Menschen stellt sich als ein unmittelbarer Zauber ein, der erkenntnistheoretische Weg verkürzt sich zu einem meta physischen Aufscheinen.62 Der Empirismus erfasst die Entstehung und die Entwicklung des menschlichen Lebewesens, seine allmählich anwachsende Verstandeshelle als einen Prozess, der niemals auf eine klare Linearität reduzierbar wäre. Die Fortschritte des menschlichen Geistes können zwar philosophisch begründet und abstrakt prognostiziert werden; das wird Condorcets Verdienst inmitten der Schrecken der Geschichte sein. Das konkrete Werden des Menschen muss jedoch Irrtum und Zufall in Kauf nehmen, es ist durchsetzt von Unbestimmtem und Unvorhergesehenem, d. h. von Romanhaftem. Die französische Aufklärung hat entschieden, sich von der zweifachen Wortbedeutung von »expérience« her zu definieren: zum einen im Sinne eines Erlebnisses, d. h. einer präsentischen Aufmerksamkeit, einer Vergegenwärtigung oder Neuerfindung des Vergangenen, zum anderen im Sinne eines Experiments, 63 eines Tastvorgang, der die Abfolge einer Entwicklung imaginiert und nachvollzieht. Sie hat entschieden, die Abstraktion der theoretischen Abhandlung und das Zufällige des Romans miteinander zu vermählen. Bilder, Metaphern und romanhafte Episoden statten die theoretische Abhandlung mit zusätzlichen Bedeutungsebenen aus. Sie verkompliziert sich in Quasisynonymen und bisher ungekannten Formulierungen. Die Erzählung dagegen nimmt abstrakte Gedankengänge auf und legt den Figuren theoretische Ausführungen in den Mund; sie verhindert dadurch, dass die Vereinfachung zur Lebensferne erstarrt. Sie verbindet die Entwicklung einer Idee mit Emotionen, jedes abstrakte Prinzip lädt sich mit Sinneserfahrungen auf und verwandelt sich dadurch. Die Statue erwacht zum Leben, während es den Abstraktionen nicht länger gelingt, das Leben einzudampfen. Der Ursprung hat Körper und Stimme, das Denken einen Verlauf und einen Stil. Aufs Schlimmste würden wir der Aufklärung untreu, wenn wir die theoretische Überschau anstrebten oder ohne Ironie noch literarische Würze vortragen würden. Wer hingegen ihre Lektion vernimmt, übt sich in Bescheidenheit vor der Wirklichkeit und in Lebensfreude.64 Übersetzt aus dem Französischen von Christian Reidenbach 62 Vgl.
dazu die kürzlich erschienen Beiträge im Aufsatzband von Anouchka Vasak (Hrsg.): L’Accident de Ménilmontant. Paris 2015, sowie den Essay von Jérome Thélot: Les Avantages de la vieillesse et de l’Adversité. Essais sur Jean-Jacques Rousseau. Paris 2015, S. 112–121. 63 »Erlebnis« und »Experiment« stehen im frz. Original in deutscher Sprache (Anm. d. Übers.). 64 Diese Studie wurde beim Kongress der DGEJ in Halle auf Einladung Daniel Fuldas präsentiert (September 2015) sowie in der Vortragsreihe zur Aufklärung im Institut français zu Bonn, auf Einladung von Paul Geyer (Januar 2016). Zu ihrer abschließenden Gestalt trugen die Fragen und Anregungen der Kollegen während beider Diskussion bei, ebenso die Anmerkungen ihres Übersetzers Christian Reidenbach, dem an dieser Stelle herzlich gedankt sein soll.
Robert E. Norton
Die deutschen Aufklärungen und die Dialektik der Geschichtsphilosophie I. In der Forschung scheinen wir uns nicht immer, oder vielleicht immer noch nicht, vollständig darüber im Klaren zu sein, was wir meinen, wenn wir von ›der Aufklärung‹ reden. Nicht zuletzt hat diese Unsicherheit mit dem Phänomen selbst zu tun, oder besser mit dem komplexen Bündel von Phänomenen, mit dem wir uns unter diesem Schlagwort befassen. Das heißt, ›die Aufklärung‹ als historiographische Sammelbezeichnung für gewisse Entwicklungen im intellektuellen, kulturellen und politischen Leben des späteren 17. und 18. Jahrhunderts, prinzipiell aber nicht ausschließlich im europäischen Raum, entzog sich seiner Natur nach einer einheitlichen Sinngebung und stand deshalb schon von Anfang an unter dem als akut empfundenen Bedürfnis nach einer Definition, oder jedenfalls der Präzision, ihres Wesens. Es ist nur ein Symptom der konstitutiven Unsicherheit, die ihr zugrunde lag, dass diese immense gesellschaftlich-geistige Bewegung, wenn man sie so nennen darf, auch anders hieß oder gar keinen allgemein anerkannten Namen in den verschiedenen Ländern oder Sprachkreisen hatte, in denen sie verfochten oder bekämpft wurde. Dass es so etwas wie ›die Aufklärung‹ gab, war unstrittig; zu artikulieren, worin sie genau bestand, oder wie sie auch nur heißen sollte, war weniger eindeutig. Ein positiver Ertrag dieser Ungewissheit – positiv für uns als Forschende, aber auch nützlich für die zeitgenössischen Beobachter und Mitstreiter – war der Druck sowohl von innen als auch von außen, d. i. von den Befürwortern wie auch von den Kritikern ›der Aufklärung‹, sie begrifflich zu erfassen, damit man sie effektiv propagieren und verteidigen, oder aber gezielt in Frage stellen und ihr Widerstand leisten konnte. Kurz, es gab schon immer den Drang, ja die Notwendigkeit, die bekannte Frage zu beantworten: Was ist Aufklärung? Hier möchte ich aber zunächst unterscheiden zwischen den zeitgenössischen, also den im 18. Jahrhundert unternommenen Bemühungen festzulegen, was ›die Aufklärung‹ an sich oder auch idealiter gewesen sei oder nicht, und späteren Versuchen zu bestimmen, wie man sie rückblickend zu verstehen habe, und mehr noch, wie wir sie bewerten können und sollen. Das mag uns heute gewiss als etwas befremdend oder sogar irrelevant vorkommen, da wir doch versuchen, uns bewusst und explizit unbefangen und vorurteilsfrei mit den Texten und Artefakten zu beschäftigen, die sowohl Ausdruck als auch Verkörperung dieser Epoche sind, um uns Klarheit
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darüber zu verschaffen, wie sie in ihrer Singularität und Komplexität doch auch als repräsentativ für das Zeitalter als solches zu begreifen sind. Da passen Wertfragen schlecht ins Bild. Es geht uns ja um Wissen, nicht um Meinung. In der Tat fällt es auf, wie wir heute mit ziemlicher Sicherheit und mit wenig Aussicht auf vehementen Widerspruch diejenigen Qualitäten auflisten können, die zum Grundstock des aufgeklärten Programms gezählt werden können. Schon Werner Schneiders konnte vor vierzig Jahren mit bemerkenswerter Gelassenheit in seinem inzwischen wohl als Klassiker zu bezeichnenden Werk mit dem ostentativ selbstbewussten Titel Die wahre Aufklärung einige wesentliche Elemente derselben axiomatisch angeben: Aufklärung ist im allgemeinen […] Aufhellung eines unklaren und so Aufdeckung eines verborgenen, verdeckten oder versteckten Sachverhalts. Aufklärung als Denkprogramm meint daher geistige Erhellung, Klärung (Durchleuchtung) von Fakten und von Begriffen, besonders im psychischen und sozialen Bereich […]. Aufklärung ist insofern eine Protestbewegung, eine Änderung der Denkrichtung, Opposition gegen geltende Positionen und als solche Negation wesentlich Programm. […] Aufklärung ist Zerstörung von Tabus und Einsicht in die psychischen und sozialen Mechanismen, die als Zwänge empfunden werden […]. Aufklärung ist so einerseits Selbstbefreiung aus aller Bevormundung, gegebenenfalls Kampf zwecks Aufhebung der Unterdrückung; […] etwa von Gott durch Verweltlichung, von der Natur durch Beherrschung, vom Staat durch individuelle Selbstentfaltung oder kollektive Revolution. Aufklärung ist andererseits auch Pädagogik; sie ist Erziehung zur Mündigkeit, gegebenenfalls auch medizinische Therapie und politische Reform.1
Was an diesen prägnanten Aussagen meines Erachtens vor allem hervorsticht, sind die Nüchternheit und die Sachlichkeit der deklarativen Feststellungen und die scheinbar ruhige Selbstverständlichkeit, mit der Schneiders uns sagt, was ›die Aufklärung‹ »ist«. Dass ein solcher Gleichmut gegenüber der Aufklärung nicht immer gegeben oder auch nur möglich gewesen war, wird von Schneiders selbst anerkannt, indem er in seinem 1974 erschienenen Buch eingangs bemerkt, dass erst »seit der Jahrhundertmitte […] nach langer Anfeindung die mit Aufklärung gemeinte Sache wie die als Aufklärung bezeichnete Epoche mehr und mehr wieder zu Ehren gekommen« sei.2 Und es ist ebendiese besagte und offenbar damals schon als größtenteils für überwunden gehaltene ›Anfeindung‹, mit der ich mich im Folgenden hauptsächlich beschäftigen will. Damit soll aber natürlich nicht gemeint sein, dass es heute überhaupt keinen Streit mehr darüber gibt, was das tatsächliche Wesen oder die Hauptmomente der Aufklärung ausmacht. Das wahrscheinlich hervorragendste 1 Werner
Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg/München 1974, S. 8 f. (Herv. d. Verf.). 2 Ebd., S. 7.
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Beispiel von der Ausnahme, die die Regel bestätigt, sind die streitbaren Thesen von Jonathan Israel zur sogenannten ›radikalen Aufklärung‹. In seinen neuesten Arbeiten definiert Israel aber selbst ›Enlightenment‹ in einer Weise, die sich fast restlos mit den Thesen Schneiders deckt. In seinem 2011 erschienen Buch Democratic Enlightenment heißt es: Enlightenment […] is defined here as a partly unitary phenomenon operative on both sides of the Atlantic, and eventually everywhere, consciously committed to the notion of bettering humanity in this world through a fundamental, revolutionary transformation discarding the ideas, habits, and traditions of the past either wholly or partially […] Enlightenment is, hence, best characterized as the quest for human amelioration occurring between 1680 and 1800, driven principally by ›philosophy‹, that is, what we would term philosophy, science, and political and social science including the new science of economics.3
Doch wie gesagt, und wie wir alle wissen: Diese weitgehende Einmütigkeit darüber, wie wir gegenwärtig ›die Aufklärung‹ zu verstehen haben, und schon gar darüber, ob wir sie positiv oder negativ beurteilen sollen, gab es ja nicht immer, und am allerwenigsten in Deutschland. Warum die Aufklärung in Deutschland, im Gegensatz etwa zu Großbritannien und Frankreich, und auch mit einigen Vorbehalten den Vereinigten Staaten, sich keiner kontinuierlichen Akzeptanz, geschweige denn uneingeschränkter Zustimmung erfreuen konnte, verdient eine eigene Analyse. Im Folgenden wird es mir aber nicht so sehr um das geschichtliche Faktum der Aufklärung gehen als um die Tatsache des nachträglich erarbeiteten geschichts- und kulturphilosophischen Theorems, das in Deutschland während des 19. Jahrhunderts entstanden ist und in verhängnisvoller Weise immer mehr dazu diente, nicht nur den zeitlichen Hintergrund, sondern zunehmend den essenziellen Gegenpol zur als eigentlich ›deutsch‹ erachteten Kultur zu liefern, die sich angeblich um die Mitte des 18. Jahrhunderts herauszubilden begonnen und sich rapide zur eigenständigen Blüte um die sogenannte ›Sattelzeit‹ herum entwickelt habe. Angefangen mit den Romantikern und dann im Verlauf der folgenden Jahrzehnte mit wachsender Viru lenz ist ›die Aufklärung‹ zunehmend zum absolut Anderen mutiert, immer mehr zum Inbegriff all dessen, was als grundsätzlich verschiedenartig und endlich als wesenhaft undeutsch, ja sogar als lebensfeindlich, zu verneinen und zu verwerfen war. In einer der unendlichen Ironien der Geschichte wurde dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dieses selbstkonstruierte Schreckgespenst zur allerschlimmsten Gefahr hochstilisiert, wodurch nicht nur Deutschland, sondern auch die gesamte Menschheit mit völliger Vernichtung durch ein angebliches Übergreifen einer außer Rand und Band geratenen Aufklärung bedroht wurde, die in Wirklichkeit die 3 Jonathan
Israel: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790. Oxford 2011, S. 7.
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Projektion einer geistesgeschichtlichen Fehl- oder zumindest Teilinterpretation war. Mich interessieren also nicht so sehr ›die deutsche Aufklärung‹ als ›die deutschen Aufklärungen‹, d. h. die sukzessiven historiographischen Metanarrative – nennen wir sie kollektiv: den Aufklärungsdiskurs –, die ›die Aufklärung‹ als Kontrastfigur in der Schaffung des deutschen Selbstbewusstseins zwischen dem zweiten und dritten Reich darstellten, um schließlich als dessen Todfeind angeklagt und abgeurteilt zu werden.
II. Natürlich kann ich in diesem Rahmen den komplexen Vorgang der Entstehung dieser metanarrativen Diskursentwürfe nicht im Detail nachzeichnen. Stattdessen werde ich einige bedeutende Stationen auf dem langen Weg dieser Entwicklung als repräsentative Meilensteine kurz beleuchten. Den Urtext, wenn man so will, der neuzeitlichen Auffassung der Aufklärung und deren vermeintlicher Bedeutung für die spätere Entfaltung der besonderen Geisteskultur in Deutschland findet man wohl am ehesten in Wilhelm Diltheys Antrittsrede, die er 1867 in Basel unter folgendem Titel hält: »Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800«.4 Sie stellt obendrein und nicht zufälligerweise gleichsam die Geburtsurkunde der Geistesgeschichte als Disziplin dar, und Diltheys sowohl ausdrückliche als auch verdeckte geschichtsphilosophische Postulate trugen maßgeblich zu der Bildung eines hermeneutischen Paradigmas bei, das die Sicht nicht nur auf das klassische Zeitalter der deutschen Kultur, sondern auch und ebenso entscheidend auf die ihm vorausgegangene Aufklärung lange danach beeinflusste. Es ist bemerkenswert, wie Dilthey in seiner Antrittsrede das Eigentümliche der, wie er sagt, »dichterischen und philosophischen Bewegung« in dem größeren Umfeld des zeitgenössischen sozialen und politischen Geschehens zu verorten versucht. Um das Charakteristische an dieser Entwicklung in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu verdeutlichen, weist er vergleichend auf die anders gestaltete Situation in anderen führenden Ländern Europas hin, vornehmlich in England und Spanien. Dort habe es, schreibt Dilthey, »eine höchst bewegte Gesellschaft, getragen von großer nationaler Machtfülle« gegeben: »Was in dieser Gesellschaft« – in Diltheys Darstellung bilden England und Spanien, zumindest zwecks seiner Argumentation, eine ideelle Einheit – 4 Wilhelm
Dilthey: Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770– 1800. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Georg Misch. 26 Bde. Bd. 5. Stuttgart 1974, S. 12–27.
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von Leidenschaften des Ruhms und der Herrschaft, der Liebe und Ehre gewaltig sich bewegte, das Spiel um die höchste Macht, der blutige Fall ehrgeiziger Großen, das innere und äußere Schicksal der aktiven Leidenschaften: das alles spiegelte sich in der unerschöpflichen glänzenden Imagination der Shakespeare und Calderon, und zwar ward es von ihnen aufgefaßt unter dem Gesichtspunkt eines fertigen Nationalgeistes: dieser sprach aus ihren Werken in seiner Größe wie mit seinen Vorurteilen.5
Bemerkenswert auch, und für den späteren Verlauf der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise von höchster Bedeutsamkeit, dass in Diltheys Auffassung die geistigen Erzeugnisse einer Kultur nicht nur als getreues Abbild, sondern auch als kausal bedingtes Ergebnis der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit stehen. Nicht weniger folgenschwer und natürlich auch damit verbunden ist die Koppelung dieser geistigen Kultur in ihrem Werden und in ihrer Art an die Geschicke der Nation als politischer Instanz insgesamt. Während Shakespeare und Calderon, die von Dilthey nicht nur als unübertreffliche Einzelgestalten, sondern auch als mustergültige Stellvertreter für England und Spanien überhaupt eingesetzt werden, »eine[n] fertigen Nationalgeist[]« vorgefunden hätten, hätten »gänzlich andere Bedingungen«, schreibt Dilthey, »der deutschen Dichtung ihren eigenartigen Charakter« 6 gegeben. Anstatt einer mächtigen Herrscherklasse, die, gestützt auf einen starken und vereinten Staat, das große Schiff der Nation, mit all den damit verbundenen Gefahren und Ehren, lenken durfte und musste, waren es bei den Deutschen nach Dilthey überwiegend die »Mittelklassen«, die den gesellschaftlichen und also kulturellen Ton angaben: »Es gibt für sie«, schreibt Dilthey, »keine großen Ziele, aber auch keinen schweren Kampf um das Dasein. So wird ihr ganzer Lebensdrang, ihre ganze Energie in den besten Jahren ihrer Kraft n a c h i n ne n g e w a ndt : persönliche Bildung, geistige Auszeichnung werden ihre Id e a le «.7 Nicht also äußere Machtentfaltung im Dienst der Nation und ihrer Kultur, sondern Einkehr, Besinnlichkeit, und individuelle Selbstkultivierung wurden den Deutschen beschieden, mit einem Wort: die altbekannte deutsche Innerlichkeit. Und wo Shakespeare und Calderon mit ihrem nach außen gerichteten Blick die große Welt der aufstrebenden und untergehenden Staaten, der siegreichen oder abstürzenden Helden in ihre Werke eingefangen hätten, hätten die deutschen Dichter in umgekehrter Schau ihre Inspiration in der Versenkung ins Gemüt gefunden: »Diese innere Welt«, so Dilthey, »die Welt des empfindenden, beschaulichen Menschen, war also die Welt unserer Dichter«:
5 Ebd.,
S. 14.
7 Ebd.,
S. 15.
6 Ebd.
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[Es] wirft sich die ganze geistige Kraft einer Generation darauf, d ie s Selbst u mzuge sta lten. In dem Problem der Entwicklung unserer Kraft ist alsdann unsere äußere Lage wie eine stet ige Größe, diese Tiefe des Selbst a l lein verä nderlich, allein Quelle von Glück und Leid, von Wer t u nd Unwer t, von Freiheit und Knechtschaft. Nenne ich nun eine Konzeption, in welcher sich dies unser Selbst zu einem wertvollen, in sich befriedigten Ganzen entwickelt vorschwebt, L e b e n s id e a l : so erhob sich also damals nicht nur in einzelnen bedeutend angelegten Menschen, sondern in den gebildeten Klassen der Nation überhaupt, der Dra ng , ein neue s L ebensidea l zu ge sta lten – eine Frage nach der Bestimmung des Menschen – nach dem Gehalt eines wahrhaft wertvollen Lebens, nach echter Bildung.8
Dilthey teilt die dreißig Jahre seiner Untersuchung in drei, wie er sie nennt, »Generationen« ein, die die neue »Bewegung« in Deutschland eingeleitet und progressiv fortgebildet hätten. In der ersten Generation sei es Gotthold Ephraim Lessing gewesen, der dieses »Lebensideal« zum ersten Mal verwirklicht habe, oder wie Dilthey es formuliert, der »der erste Träger dieses Gehaltes«9 wurde. Erst am Ende seiner Laufbahn sei es Lessing gelungen, diesem »Lebensideal« seine endgültige Form in seinem Drama Nathan der Weise zu verleihen: »Lessing selbst mußte einen langen Weg wissenschaftlicher Selbstbesinnung durchlaufen, damit er alsdann den vollendeten dichterischen Ausdruck seines Lebensideals fand. Dieser Ausdruck war Nathan. […] Der Gedanke der Aufklärung ist in dem Helden dieses Schauspiels zu vollendeter sittlicher Schönheit verklärt«.10 Am Schluss des Dramas, der nach Dilthey in der »paradoxen Wendung […] einer Wiedererkennung« gipfelte, sei dann »der verkörperte Zukunftstraum der Aufklärung« endlich realisiert.11 Was genau »der Gedanke der Aufklärung« oder deren »Zukunftstraum« gewesen sein mögen, wird von Dilthey nicht gesagt. Aber man sieht: Obwohl er ›die Aufklärung‹ nicht näher definiert, wird sie durchaus, wenn auch etwas vage, affirmativ eingesetzt wiewohl gleichzeitig beglaubigt durch ihre Apotheose in Lessings Werk. Es ist nicht einmal völlig klar, ob Dilthey die Formel ›Aufklärung‹ überhaupt als Epochenbezeichnung oder vielmehr im engeren aktiven Sinne als Beschreibung des gedanklichen Prozesses der ›Aufhellung‹ gebraucht; andernorts erklärt Dilthey zum Beispiel: »Dem Geiste seiner Epoche gemäß hatte Lessing in der Aufklärung unserer Vorstellungen die hervorragendste Bedingung unserer allgemeinen Entwicklung gesehen.«12 Wichtig aber ist, dass Lessing für Dilthey Höhe- und Schlusspunkt zugleich bildet, dass in ihm, oder durch ihn in Nathan, die Aufklärung sich vollendet und auch damit überwindet. Lessing und also auch die Aufklärung 8 Ebd.,
S. 15 f. S. 16. 10 Ebd., S. 17. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 19. 9 Ebd.,
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waren somit eine notwendige aber eben auch bedingte Stufe in der Entfaltung einer authentischen Kultur in Deutschland. Und zwar kamen von da an die Impulse dafür nicht mehr von außen, sondern, gemäß der von Dilthey postulierten Partikularität der deutschen Lebensform, von innen. »Nun«, erklärt Dilthey, und »[n] un« bedeutet in der auf Lessing folgenden Generation, »[n]un ging man von der Bildung der Begriffe auf die elementarsten Operationen der menschlichen Seele zurück. […] [M]an erblickte in der Form und Stärke dieser elementarsten Operationen die wahre Grundlage der höchsten geistigen Leistungen. […] Und zwar ward diese Grundlage als Genie bezeichnet.«13 Nicht also große, außerpersönliche, vor allem politisch-gesellschaftliche Kräfte speisen die deutsche kreative Imagination; es ist das rein innere Erleben des außergewöhnlichen Individuums, also des Genies, das sich nicht nur in formalen literarischen oder künstlerischen Schöpfungen äußert, sondern in allem, was das Genie tut und sagt, sozusagen in seinem ganzen Sein. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Werk und der Person des Genies: Das Genie ist sein Werk wie auch umgekehrt. Deswegen nennt Dilthey als hervorragendstes Dokument dieser neuen Etappe das Tagebuch, das Johann Gottfried Herder 1769 auf seiner Reise von Riga nach Frankreich verfasste: »[I]ch weiß in der Wirklichkeit des Lebens«, erklärt Dilthey in seiner üblichen lapidaren Weise, »keinen genaueren Ausdruck dieses Lebensideals als das bekannte Reisejournal Herders«.14 Aber auch Herder war wiederum nur eine Übergangsfigur. Zur tatsächlichen Vereinigung des konkreten individuellen Lebens mit dem überpersönlichen Lebensideal, zur vollkommenen Verschmelzung des inneren Geschehens mit seiner stofflichen Äußerung, sei es erst mit keinem anderen als Johann Wolfgang Goethe gekommen. Das ist nach Dilthey der tiefste Grund für Goethes außerordentliche Erscheinung: Er selbst, in der Gesamtheit und Geschlossenheit seines Seins und Wirkens, war im vollsten Sinne die deutsche Kultur. »Wie Goethe voranschritt, erhob sich weit über das Interesse an seinen Dichtungen das Interesse an seiner Person und ihrem Lebensgehalt. Das war keine müßige Neugier. Das Zeitalter sah zu ihm auf als dem Inbegriff alles dessen, was das Leben dem Menschen zu gewähren vermag: das Lebensideal seiner Generation war in ihm verkörpert«.15 Wir können die dritte und also letzte »Generation« schnell übergehen, die »das Werk der spekulativen Denker«16 verrichtet und, so Dilthey, die noch größere Kluft zwischen der Welt der Erscheinungen und der inneren Welt des Geistes endlich überwunden habe. Wichtig für uns sind die Grundtendenzen in der Behandlung der Aufklärung im Verhältnis zu der teleologischen Entwicklungsgeschichte des neuen deutschen Lebensideals auf dem Wege zu seiner Vollendung in Goethe. Die Auf13 Ebd.
14 Ebd.,
S. 20. Ebd., S. 20 f. 16 Ebd., S. 24. 15
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klärung wird nämlich nicht explizit, aber nach der Logik der Darstellung zwingendermaßen als etwas Uneigentliches, Unauthentisches und höchstens Vorbereitendes dem Kommenden vorangestellt, als etwas, was noch äußeren, d. h. fremden Gesetzen oder Regeln verpflichtet gewesen sei, die dann erst vom autochthonen Genie, das nur sich selbst gehorcht, abgeworfen wurden, womit sich das neue Lebensideal in seiner unverfälschten Selbständigkeit voll entfalten konnte. Aber ebenso wichtig wie der Inhalt dieses historiographischen Konstrukts, ja, ich würde behaupten, was es erst ermöglicht, ist der komplette Verzicht auf textuelle Belege oder Beweise, die es stützen oder auch nur veranschaulichen. Denn in der Tat bespricht Dilthey, abgesehen von flüchtigen, fast nur gestischen Hinweisen auf einige wenige Titel, kein einziges Werk eingehend oder zitiert überhaupt aus einem. Vielleicht war dies nicht nur ein Vermächtnis Hegels, sondern auch eine bewusste oder unbewusste Konzeption der Grundeigenschaft deutscher Kultur: Dem Genie gleich schöpft Dilthey sein Bild vollständig und allein aus seinem eigenen inneren Bestand, ungetrübt von äußeren, will sagen: textbezogenen Quellen. Auf jeden Fall hat dieser verallgemeinernde narrative Stil, losgelöst von lästigen Widersprüchen oder gar ungelegenen Fakten, der übrigens auch für die Geistesgeschichte insgesamt typisch wurde, den erheblichen Nachteil, dass die dadurch entwickelten Thesen unbeweisbar sind, aber dafür den vielleicht noch größeren Vorteil, dass sie ebenso unwiderlegbar sind. Wie auch immer ist diese, sagen wir, freigestaltende Behandlung kulturgeschichtlicher Zusammenhänge, die sich als Wissenschaft ausgegeben hat, eines der Hauptkennzeichen des späteren deutschen Aufklärungsdiskurses geworden.
III. Drei Jahre nachdem Dilthey seine Antrittsrede hielt, also 1870, hat Wilhelm Scherer, der bekanntermaßen zum bedeutendsten Germanisten seiner Zeit wurde, das Thema des Verhältnisses zwischen ›der Aufklärung‹ und dem deutschen Geist in einer Rezension eines Buches über Jacob Grimm einschlägig aufgegriffen. Dort werden die mutmaßlichen grundsätzlichen Differenzen noch stärker und pointierter herausgearbeitet als bei Dilthey und mit einer Dringlichkeit formuliert, die durch eine betont schablonenhafte und somit zweckdienliche Darstellungsform noch unterstrichen werden. Der größte Unterschied aber zwischen den Ausführungen Diltheys und Scherers ist die pauschale Gegenüberstellung von Deutschland und ›der Aufklärung‹ überhaupt, als ob sie zwei wesensverschiedene Dinge wären, und gleichzeitig die völlig ablehnende Haltung gegenüber der Aufklärung als solcher im Gegensatz zu der Reaktion darauf in Deutschland, die Scherer nicht wie Dilthey eine »Bewegung« nennt, sondern zugespitzt eine »Revolution«. Scherer erklärt:
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Was man den Geist des achtzehnten Jahrhunderts oder der Aufklärung nennt, setzt sich aus sehr verschiedenen Elementen zusammen, die theils auf den Ideenkreis der Renaissance, theils auf die großen mathematisch-naturwissenschaftlichen Ent deckungen des siebzehnten Jahrhunderts zurückgehen. Das Resultat: Uniformierung, Centralisirung der Bildung und des Staates, Absolutismus mit allmächtiger Bureaukratie, Mechanisirung, äußerliche Regelung des Lebens nach Rücksichten des Verstandes und der Zweckmäßigkeit. Dem gegenüber in Deutschland (abgesehen von älteren Anfängen) seit Möser, Herder, Goethe eine Revolution, welche sich auf die von der Aufklärung zurückgesetzten Elemente stützt. Gegenüber dem Kosmopolitismus die Nationalität, gegenüber der künstlichen Bildung die Kraft der Natur, gegenüber der Centralisation die autonomen Gewalten, gegenüber der Beglückung von oben die Selbstregierung, gegenüber der Allmacht des Staates die individuelle Freiheit, gegenüber dem construirten Ideal die Hoheit der Geschichte, gegenüber der Jagd nach Neuem die Ehrfurcht vor dem Alten, gegenüber dem Gemachten die Entwickelung, gegenüber Verstand und Schlußverfahren Gemüth und Anschauung, gegenüber der mathematischen Form die organische, gegenüber dem Abstracten das Sinnliche, […] gegenüber dem Mechanischen das ›Lebendige‹.17
In einer Art Destillation der Diltheyschen Kategorien werden bei Scherer also alle positiven Attribute ins deutsche Lager gerückt: Natur, Autonomie, Freiheit, Sinnlichkeit, Seele charakterisieren ausschließlich den Deutschen, wobei der Aufklärung, die naturgemäß keiner einzigen Nationalität angehört, also kosmopolitisch im schlechten Sinne ist, alle gegenteiligen Qualitäten zugerechnet werden: Künstlichkeit, Autokratie, Abstraktion, Geschichtsvergessenheit. Mehr noch: Die Reihe der von Scherer aufgeführten Dichotomien gipfelt darin, dass ›der Aufklärung‹ nicht bloß ein ›neues Lebensideal‹ entgegengehalten wird, sondern ›das Lebendige‹ tout court. Die Aufklärung wird somit nicht nur ›undeutsch‹, sie wird, noch schlimmer, ›lebenswidrig‹. Natürlich waren es nicht Dilthey und Scherer allein, die diesen Aufklärungsdiskurs geschaffen und weitergetragen haben, aber sie haben nicht unwesentlich bei ihrer breiten und erfolgreichen Tradierung mitgeholfen, nicht zuletzt durch ihre vielen und einflussreichen Schüler. Herman Nohl zum Beispiel, der bei Dilthey promovierte und später Herausgeber seiner Gesammelten Schriften wurde, veröffentlichte 1911 einen kurzen Aufsatz in der im Jahr zuvor gegründeten Zeitschrift Logos mit dem Titel: »Die Deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme«, dessen einleitender Paragraph sich wie eine programmatische Zusammenfassung von Diltheys Antrittsrede liest: 17 Wilhelm
Scherer: Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie. In: Ders.: Kleine Schriften. Hrsg. v. Konrad Burdach. 2 Bde. Bd. 1. Berlin 1893, S. 389.
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Die neue Epoche gegenüber dem Zeitalter der Aufklärung beginnt überall da, wo der »Reflexion« des Verstandes als der alle Gewißheit begründenden Macht, der Abstraktion und Demonstration des Rationalismus einerseits, der psychologischen und naturwissenschaftlichen Analyse andererseits das »Leben« als ein von Grund aus individuelles, irrationales und als Totalität, die nur der Totalität des Erlebens zugänglich ist, entgegengehalten wird. Die Lage wurde allgemein so empfunden: nicht bloß daß der Verstand in der Erkenntnis mit seinen Trennungen und Gegensätzen das Leben, das ein einheitliches Ganze ist, zerstört: die Herrschaft des Verstandes in der Aufklärung hat auch in Wirklichkeit das einheitliche Leben zerteilt, und die Aufgabe ist, die Einheit – im Menschen zwischen seinen Kräften, in der Gesellschaft zwischen den einzelnen Menschen, endlich zwischen Mensch, Natur und Gott – wieder herzustellen. Die neue Bewegung war keine ursprünglich wissenschaftliche, sie war auf Steigerung des Lebens, Inhaltlichkeit und eine neue Produktivität gerichtet, und die Dichtung wurde ihr erstes Organ. Es war die große und neue Funktion unserer klassischen Poesie von ihrem Beginn an gewesen, gegenüber einer abgelebten und von der Skepsis zermürbten Zeit an der Schöpfung dieser neuen Welt und dieses neuen Ideals zu arbeiten, und dafür erschien jener Generation, als sei das Leben in seiner ganzen Vollendung auch nur dem Dichter erreichbar und der Dichter allein der wahre Mensch, wie man in Goethes Genie ihn verwirklicht sah.18
Wie gesagt, die Wertkategorien sind mehr oder weniger dieselben geblieben, desgleichen das völlige Fehlen von jedwedem Beweismaterial, aber man merkt, dass der Ton entschieden schärfer, polemischer geworden ist. Die anscheinend ›lebensfeindliche‹ Tendenz der Aufklärung tritt bei Nohl eindeutig noch stärker hervor und dieser Zug wird resoluter und pathologischer zugleich: Die Aufklärung »zerstört« und »zerteilt« das Leben auf der einen Seite und ist auf der anderen matt, erschöpft und verbraucht, d. h., die Aufklärung stellte sowohl eine aktive als auch eine passive Gefahr für die Allgemeinheit dar, und so wurde es die dringendste Aufgabe der Dichtung, insbesondere der deutschen Dichtung, dieser schleichenden Weltgefahr entgegenzuwirken. Eine nochmalige Potenzierung dieser Motive finden wir in dem großangelegten Werk von Rudolf Unger, der sich ausdrücklich in der Gefolgschaft von Dilthey versteht, das im selben Jahr, also 1911, erschienen ist, nämlich Hamann und die Aufklärung. In diesem Buch, das epochemachend sowohl für die Auffassung Johann Georg Hamanns als auch seines ganzen Zeitalters wurde, wird Hamann als einsamer Kämpfer gegen die seelenlosen Kräfte des maßlosen, alles Lebendige zermalmenden Rationalismus porträtiert. So wird Hamann bei Unger, gleich der Funktion Goethes bei Dilthey und Nohl, zum repräsentativen Deutschen stilisiert, der in seinem Wesen und seinem Wirken ein Bollwerk gegen die verderblichen Mächte einer schran18 Herman
Nohl: Die Deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme. In: Logos 2 (1911), S. 350–359, hier: 350 f.
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kenlosen, nach Alleinherrschaft strebenden Aufklärung errichtete, die, wie Unger schreibt, zu »d[er] ganze[n] Sonderart der geistigen Entwicklung Deutschlands« im Gegensatz gestanden habe.19 In einer der vielen langen Passagen, in denen er die Charakteristika der Aufklärung unermüdlich aufzählt, resümiert Unger: Das Endziel des aufklärerischen Intellektualismus ist die möglichst vollkommene Rationalisierung von Welt, Leben, Religion und Kunst. Der streng logische, abstrakte Gedanke und die auf ihm ruhende Wissenschaft, exakte Naturkunde, Mathematik und spekulative Begriffsphilosophie, übernehmen die Führung im Geistesleben und suchen alles Dunkle, Irrationale, dem rechnenden, messenden, wägenden, räsonnierenden Verstande Unzugängliche dialektisch zu zersetzen, zu verneinen oder zu beseitigen. Seiner Natur nach strebt der allherrschende Intellekt nach festen Normen, Gesetzen, Regeln, nach unveränderlichen Vernunftwahrheiten, nach abgezogenen Begriffen und Prinzipien, nach abstrahierender Verallgemeinerung und Reglementierung. Für ihn liegt Wahrheit und Wert der Dinge im Allgemeinen, im Verzicht auf alles Eigentümliche, Individuelle, Einzigartige, in reinlicher Scheidung und systematischer Klassifizierung, im Aufrichten bestimmter Grenzen und Richtlinien, in der Zurückführung alles Qualitativen auf Quantitatives und in der Bindung in rationale Formen. Die Natur erscheint als ein Gewebe abstrakter Gesetze und Beziehungen, als die mechanische Verkörperung eines ungeheuren Formelsystems; die Gottheit als die abstrakte Spitze und formale Krönung jenes logischen Gedankengebäudes. Phantasie, Gefühl, Sinnlichkeit, konkrete Realität müssen sich den Satzungen und Formen der begrifflichen Reflexion fügen oder verfallen der Geringschätzung, Ignorierung und Bekämpfung.20
Wie es aber hier schon anklingt, tritt auch etwas Neues in Ungers Darlegung auf: ›Die Aufklärung‹ steht bei ihm nicht mehr oder nicht nur für die geschichtliche Epoche, die wir als solche erkennen und also auf einen gewissen Zeitabschnitt beschränkt ist, sondern für ein metahistorisches Phänomen, das sich also jederzeit und überall äußern kann. Diese Überzeitlichkeit oder Universalität, die Unger durchaus als grassierende Bedrohung auffasst und als solche beharrlich verurteilt, wird noch deutlicher in dem folgenden Zitat, worin den üblichen Komponenten ein weiteres, emphatisch politisches Motiv noch beigemengt wird: Eine quantitative Weltauffassung greift Platz [während der Aufklärung], wie sie jedem Intellektualismus im Blute liegt: die individuellen und insbesondere auch die sittlichen Gegensätze werden zu bloßen Gradunterschieden abgeschwächt und zugunsten eines monistischen und demokratischen Optimismus dem Leben ein gut Teil seiner Spannung und Tiefe genommen. Diese nivellierende, antiindividualisti19 Rudolf
Unger: Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. 2 Bde. Bd. 1. Jena 1911, S. 45. 20 Ebd., S. 235 f.
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sche Tendenz des Rationalismus wird leicht zu einer mechanisierenden, wenn nämlich auf die Dauer das unmittelbare, ursprüngliche und überall gegenwärtige Wirken der Vernunft, auf welches dieses Kultursystem eigentlich angelegt ist, zu träger Routine und äußerlicher Schematisierung verflacht oder in formalistischem Regelwesen und unlebendiger Abstraktion erstarrt. Überhaupt liegt dem rationalistischen Kultus des Allgemeinen, des Begriffs und Gesetzes die Gefahr formalistischer Leere und abstrakter Vergewaltigung des Lebens nahe.21
In diesen langen, und auch langatmigen Auszügen, die man ironischerweise als Arien der Verallgemeinerung gegen die Verallgemeinerung bezeichnen könnte, finden wir in gedrungener, wenn auch schriller Form die wesentlichen Hauptelemente, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland weitgehend mit ›der Aufklärung‹ identifiziert wurden. Natürlich erhoben sich hier und dort vereinzelte Gegenstimmen, allen voran die von Ernst Cassirer, der im denkwürdigen Jahr 1932 seine Philosophie der Aufklärung mit der erklärten Absicht veröffentlichte, der »Fülle von Vorurteilen«, wie er sie nennt, entgegenzuarbeiten, »die noch heute [die] unbefangene geschichtliche Betrachtung und Würdigung [der Aufklärung] hemmen«,22 durch nichts weiter als eine sachliche und quellenbezogene Analyse der Argumente der Aufklärer selbst: Eine solche Erhellung [erklärt Cassirer in der Vorrede, Anm. d. Verf.] bildet die erste und unerläßliche Vorbedingung für die Revision jenes großen Prozesses, den die Romantik gegen die Aufklärung angestrengt hat. Das Urteil, das sie in diesem Prozeß gefällt hat, wird noch heute von Vielen kritiklos übernommen: und die Rede von der »flachen Aufklärung« ist noch immer im Schwange. Ein wesentliches Ziel der vorliegenden Darstellung wäre erreicht, wenn es ihr ge länge, diese Rede endlich zum Schweigen zu bringen.23
IV. Wie wir wissen, haben sich Cassirers Hoffnungen leider nicht erfüllt, oder genauer: Sie gingen erst sehr viel später auf, als er sich gewiss gewünscht oder vorgestellt hätte. Zuerst musste ›die Aufklärung‹ durch ein noch viel schlimmeres Fegefeuer gehen, als sich nur einer relativ harmlosen »Flachheit« bezichtigt zu werden. Ich rede nämlich von dem zwischen 1939 und 1944 entstandenen und 1947 veröffentlichten Buch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, das wahrscheinlich einen größeren Einfluß auf die allgemeine Auffassung ›der Aufklärung‹ ausgeübt hat als 21 Ebd.,
22 Ernst 23 Ebd.
S. 43. Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973, S. XIII.
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irgendein anderes zeitgenössisches Werk. Aber weder der ›wahren Aufklärung‹, wie Werner Schneiders sie nannte, noch der von Horkheimer und Adorno vertretenen Sache kam diese Wirkung wirklich zugute. Ich kann und will hier keine ausführliche Kritik dieses schwierigen, sperrigen Buchs liefern, noch weniger eine Auseinandersetzung mit seiner komplexen Rezeptionsgeschichte, die sehr wohl eine detaillierte Behandlung verdiente. Stattdessen möchte ich lediglich auf einige Aspekte hinweisen, die mit dem Aufklärungsdiskurs zusammenhängen und vielleicht ein erhellendes Licht auf dieses in vielerlei Hinsicht so merkwürdiges, in weiten Teilen sogar bizarres, ja fast skurriles Buch werfen. Und ich bin der Meinung, dass ein Großteil der, ich möchte sagen, Perversität, die das Buch auszeichnet, aufs Engste mit einer fundamentalen Verwechslung zusammenhängt, d. h. auf einer Fehlidentifikation basiert, die in der Grundkonzeption des Werkes wurzelt. Man darf wohl die Hauptthesen der Dialektik der Aufklärung als hinlänglich bekannt voraussetzen: Im Zuge der zunehmenden Rationalisierung der Welt unter dem allgemeinen Banner der Aufklärung habe nämlich die instrumentelle Vernunft im Dienst der Befreiung und Selbstbehauptung des Menschen ihn progressiv genau der Freiheit und Selbstbestimmung beraubt, welche die Aufklärung verheißen hatte, indem die Vernunft selber zur alleinigen Herrschaft als unangefochtene Instanz über Mensch und Natur aufgestiegen sei. Die Aufklärung sei also in ihr Gegenteil umgeschlagen, oder wie Adorno und Horkheimer selbst sagen: Der Gegenstand ihrer Untersuchung sei »die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung«.24 Nun ist es klar, dass das Buch als philosophischer, soziologischer und psychologischer Erklärungsversuch der vor den Augen der Autoren sich abspielenden Katastrophe des Faschismus und Nazismus konzipiert wurde, als eine erste Bemühung, zu verstehen und zu erklären, wie sich die moderne Welt der vernichtenden Maschinerie der organisierten Barbarei scheinbar widerstandslos ausliefern oder gar willig hingeben konnte. Das ist, und bleibt, ein ernstes Anliegen. Aber die fatale Entscheidung, die Aufklärung als den Hauptagenten dieser Entwicklung hinzustellen, ist ebenfalls erklärungsbedürftig und hat, wie ich glaube, nichts mit ›der Aufklärung‹ zu tun, weder im Sinne einer zeitbedingten historischen Ära noch eines abstrakten Vorganges mentaler Prozesse – und die gedrängte Floskel ›Aufklärung‹ agiert in dem Buch in beiden Funktionen, manchmal sogar simultan. Vielmehr hat diese Entscheidung mit eben dem deutschen Aufklärungsdiskurs zu tun, dessen Entstehen wir hier verfolgt haben und der allmählich an die Stelle der eigentlichen Aufklärung gesetzt wurde. Wie bei Dilthey, Nohl und Unger kommen auch bei Adorno und Horkheimer bezeichnenderweise die Aufklärer selber fast gar nicht 24 Max
Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. 20 Bde. Bd. 3. Darmstadt 1998, S. 11.
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zu Wort, und das gleiche Vokabular wie dort wird eingesetzt, um das angebliche Programm und Wesen ›der Aufklärung‹ zu beschreiben. In einem nachdrücklich unsystematischen Buch wie der Dialektik der Aufklärung – die Autoren bezeichnen es mehrmals und schon im Untertitel als eine Ansammlung von Fragmenten, und es besteht tatsächlich aus mehr oder minder losen, auf einander folgenden »Exkursen« und aphoristischen »Aufzeichnungen und Entwürfen« – soll man wahrscheinlich keine ausführliche und zusammenhängende Definition ›der Aufklärung‹ erwarten, und in der Tat sucht man eine solche Definition im Buch vergebens. Doch auch die sporadischen Einwürfe darüber verraten mehr, als sich die Autoren vermutlich völlig bewusst waren. Der antidemokratische Schlag der Auslassungen eines Rudolf Ungers etwa findet einen unheimlichen Widerklang in der Behauptung von Adorno und Horkheimer, dass in der Aufklärung »die Gleichheit selber zum Fetisch« geworden sei25: »Aufklärung zersetzt das Unrecht der alten Ungleichheit, das unvermittelte Herrentum, verewigt es aber zugleich in der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches.«26 Eingebettet in die ihnen eigentümliche Spracha krobatik wird also auch hier die ständig wiederholte Pointe nochmals unterstrichen: Die vermeintlich positive Errungenschaft der Aufklärung, die formale Gleichheit aller, schlägt, zum unbegrenzten Prinzip erhoben, in die gegenteilige funktionale Austauschbarkeit oder Ersetzbarkeit – Adorno würde sagen ›Fungibilität‹ – aller um. Aber diese Erkenntnis – ganz abgesehen von ihrer Validität – wird um den Preis der gänzlichen Aufgabe der Gleichheit als eines achtbaren und erstrebenswerten Ideals erkauft. In ähnlicher Weise schreiben die Autoren: Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen. Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation. Unter der nivellierenden Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht, und der Industrie, für die sie es zurichtet, wurden schließlich die Befreiten selbst zu jenem »Trupp«, den Hegel als das Resultat der Aufklärung bezeichnet hat.27
Dass die Aufklärung, jene vorgeblich lebensfeindliche Potenz, ihre Antipoden »zersetz[e]« und »ausmerz[e]«, wie auch hier beteuert wird, dass die »nivellierend[e]« Abstraktion ihr ureigenstes Merkmal sei, gehörte, wie wir schon mehrmals gesehen haben, längst zum anti-aufklärerischen Arsenal. Hier aber treiben die Autoren 25 Ebd.,
S. 33. S. 28 f. 27 Ebd., S. 29. Horkheimer und Adorno verweisen hier auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Philipp Marheinecke. 19 Bde. Bd. 2. Berlin 1832, S. 424. 26 Ebd.,
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diese Logik bis zu ihrer letzten Konsequenz und benutzen in einer gewiss bewuss ten Provokation das Wort »Liquidation« um das angeblich wesentlich vernichtende Moment der Aufklärung zu benennen, das stellvertretend für die allerschlimmsten Verbrechen der Zeit stehen soll. Die Dialektik der Aufklärung ist, in ihrer eigentlichen Fokussierung nicht auf das Geistesleben des 18. Jahrhunderts gerichtet, sondern auf dessen Selbstzerfleischung im 20. Jahrhundert, eine kaum verhüllte Allegorie der Gegenwart, in der sie verfasst wurde, und auch darin den früheren deutschen Darstellungen der Aufklärung nicht unähnlich. Aber das radikal Neue bei Adorno und Horkheimer ist, dass ›die Aufklärung‹ nicht mehr als das ›Andere‹, das ›Nicht-Deutsche‹, als der fremde und äußere Feind dargestellt wird, gegen den sich der deutsche Geist und die deutsche Kultur absetzen und wehren konnten und sollten, sondern ›die Aufklärung‹ hat sich in ihrer Version unversehens ins Herz derselben eingeschlichen, sie hat die interne Herrschaft an sich gerissen und droht, Deutschland und mit ihm die ganze übrige Welt in den Abgrund zu ziehen. Nicht, was näher gelegen hätte, die jüngste deutsche ökonomische, soziale und politische Entwicklung wird von Adorno und Horkheimer ergründet, sondern eben das, was fast ausnahmslos während der vorangegangenen siebzig Jahre seit der Reichsgründung als wesensfremd, ›undeutsch‹ und schädlich verworfen wurde. Das heißt, die Dialektik der Aufklärung richtet sich nicht gegen ›die Aufklärung‹, sondern gegen deren Verzerrung, gegen die Karikatur, die von Anfang an unter dem ideologischen Zeichen der Anti-Aufklärung stand. In der Dialektik der Aufklärung beobachten wir nicht, wie ›die Aufklärung‹ sich selbst zerstört, sondern wie sich die deutsche geistesgeschichtliche Konstruktion, die diesen Namen trug, gegen sich selbst gekehrt wird. Wir sind Zeugen eines schillernden Schauspiels der dialektischen Aufhebung einer überspannten geschichtsphilosophischen Chimäre, die sich mit dem Namen ›Aufklärung‹ verbrämt hat, die aber in Wirklichkeit so wenig mit der Aufklärung gemeinsam hat wie die Nazis, die uns Adorno und Horkheimer als die Vollstrecker derselben verkaufen wollten. Als Diagnose und Warnung vor den verheerenden Konsequenzen einer zügellosen und nur zweckorientierten Ratio sind die Überlegungen in der Dialektik der Aufklärung gewiss noch gültig und brauchbar. Das Werk ist vielleicht ebenso lehrreich als ein Zeitdokument, als eine beredte, wenngleich in ihrer Richtung unbeabsichtigte Selbstanalyse der damaligen zeitgenössischen deutschen Zustände. Jedoch als verlässliche Anleitung zum Verständnis dessen, was wir heute ›die Aufklärung‹ nennen, ist es weniger als nützlich. Zum Glück aber hat die Selbstzerstörung, die in der Dialektik der Aufklärung vorgeführt wird, nicht ›die Aufklärung‹ sondern nur den deutschen Diskurs darüber getroffen.
Elisabeth Décultot
Vom Ursprung und Werden der Kunst erzählen Narratologische Modelle der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert Seinen Artikel »Narration« eröffnet Edme-François Mallet im 11. Band der Encyclopédie mit folgender Feststellung: NAR R ATION , s., f. (schöne Wissenschaften). Bezeichnet auf dem Gebiet der Bered-
samkeit & der Geschichte eine Erzählung oder einen Bericht über einen Sachverhalt oder ein Ereignis, wie es sich zugetragen hat, bzw. wie man annimmt, dass es sich zugetragen haben könnte. Man kann zwei Narrationsformen unterscheiden: die eine, einfach & historisch, in der der Zuhörer oder Leser hören oder lesen soll, was ihm aus zweiter Hand überliefert wird; die andere, künstlich & fabelhaft, in der die erhitzte Einbildungskraft des Zuhörers an der Erzählung einer Sache teilhat, als ob sich diese Sache in seiner Anwesenheit zutragen würde.1
Interessant ist dieser Artikel vor allem deshalb, weil er durch eine Reihe von begrifflichen Unterscheidungen Klarheit in die vielfältigen Dimensionen eines Terminus zu bringen versucht, der sich letztendlich jeder begrifflichen Sezierung entzieht. So versucht Mallet zwei Narrationsformen zu unterscheiden. Auf der einen Seite steht jene Narration, wie sie in der Kunst und in der Fabel zur Anwendung kommt. Wesentliches Merkmal dieser fiktionalen Narrationsform ist deren Ausrichtung und Einwirkung auf die Einbildungskraft des Zuhörers, die solchermaßen erregt wird oder werden soll, dass dieser den Eindruck gewinnt, als wäre er selbst Zeuge des erzählten Vorgangs gewesen. Davon will Mallet auf der anderen Seite die »einfache« und »historische« Narration unterschieden wissen, in der der Zuhörer oder Leser einen Sachverhalt (»fait«) hören oder lesen soll, der ihm »aus zweiter Hand« (»de la seconde main«) vermittelt wird. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch sofort auf, wie brüchig die Trennungslinie zwischen beiden Bereichen ist. Im Kern bleibt der gewichtige Faktor der Narration gemeinsamer Nenner von Geschichte und Dichtung, eine doppelte Zugehörigkeit, auf die gleich am Anfang des Artikels nachdrücklich hingewiesen wird (ENC 11, 29).
1 Edme-François
Mallet: Art. Narration. In: Denis Diderot u. Jean le Rond d’Alembert (Hrsg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. 35 Bde. Neufchâtel 1751–1780 [im Folgenden: ENC], hier: ENC 11, 29 (alle Übersetzungen aus dem Französischen sind von der Verf.).
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Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, vor dem Hintergrund dieser Definition nach der Beziehung von Narration und Geschichtsschreibung am spezifischen Beispiel der Kunstgeschichtsschreibung im langen 18. Jahrhundert zu fragen. Zwar ist das Thema Geschichtsschreibung in den letzten Jahrzehnten immer wieder Gegenstand ausgiebiger narratologischer Untersuchungen gewesen. Spätestens seit den Arbeiten von Hayden White und Paul Ricœur hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass die Arbeit des Historikers nicht nur in der Deutung eines ausgewählten Forschungsgegenstands, sondern auch in dessen ›mise en récit‹ besteht – einem Verfahren, das ein Erzählen impliziert und dessen Rohmaterial nichts anderes als die Sprache ist.2 Wurden aber an die Geschichte als Wissenschaft Fragen nach der narratologischen Repräsentation ihrer Gegenstände schon längst adressiert, so ist die Kunstgeschichte als Kunstgeschichtsschreibung hiervon bisher auffallend verschont geblieben. Tatsächlich hat die gezielte Inbetrachtnahme des kunsthistorischen Textes als Erzählung, d. h. als das Produkt eines narrativen Darstellungsverfahrens und sich hieran anschließender rhetorischer, poetischer und diegetischer Überlegungen in den Arbeiten zur Kunstgeschichtsschreibung bisher wenig Beachtung gefunden.3 Dabei sind die Fragen, welche die Erzählung der historischen Entwicklung von bildender Kunst aufwirft, vielfältig und für das Problem des Erzählens von zentraler Bedeutung: Ist Erzählung im Sinne von Narration für die Kunstgeschichtsschreibung die adäquateste Form? Wird man mit den Mitteln der Sprache der Spezifität der bildenden Kunst überhaupt gerecht? Wie sollte eine solche Erzählung aussehen? Welche Alternativen gibt es? Die Geschichte der antiken Kunst, deren Verlauf uns nur noch – wenn überhaupt – durch wenige, stark beschädigte, zum Teil verfälschte und oft ergänzte Bruchstücke bekannt ist, ruft in besonderer Weise solche Fragen hervor. Gehört die Erzählung einer derartigen Geschichte noch in den Bereich der historischen Wissenschaft oder muss sie als Fiktion angesehen werden? Um etwas mehr Licht auf diese Fragen zu werfen, sollen exemplarisch einige ausgewählte Akteure der Kunstgeschichtsschreibung einer näheren Betrachtung unter2 Vgl.
Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin/New York 1996; Hayden White: The Content of Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore 1987; Paul Ricœur: Temps et récit. 3 Bde. Paris 1983–1985; Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in NineteenthCentury Europe. Baltimore 1973. 3 Vgl. Ulrich Pfisterer (Hrsg.): Klassiker der Kunstgeschichte. 2 Bde. München 2007; Hubert Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750–1950. München 2001; Gabriele Bickendorf: Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1998; Francis Haskell: History and its Images. Art and the Interpretation of the Past. New Haven/London 1993; Heinrich Dilly: Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin. Frankfurt a. M. 1979; Arnaldo Momigliano: Ancient History and the Antiquarian. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 13 (1950), S. 285–315.
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zogen werden, beginnend um 1700 bei dem Mauriner Montfaucon über Voltaire, Caylus, Winckelmann und Herder bis hin zu Séroux d’Agincourt am Ende des 18. Jahrhunderts. Ein solcher Bogen versteht sich dabei keineswegs als lückenlose Rekonstruktion der Genese der modernen Kunstgeschichte, sondern will nur einige Schlaglichter auf epistemologische und poetologische Probleme bzw. Ambivalenzen der kunstgeschichtlichen Erzählung im 18. Jahrhundert werfen.
1. Zum Status der Erzählung in der Geschichtsschreibung: Voltaire und Mabillon Zur Darlegung seiner Auffassung der Beziehung von Erzählung und Geschichte verweist Mallet bezeichnenderweise auf Voltaires Artikel »Histoire«, der in dem achten Band der Encyclopédie mit folgenden Worten beginnt: »GESCHICHTE , s., f. das ist die Erzählung von als wahr ausgegebenen Tatsachen; im Gegensatz dazu ist die Fabel eine Erzählung von als unwahr ausgegebenen Tatsachen.«4 In Voltaires Vorstellung macht die Erzählung nicht nur die Präsentation des geschichtlichen Diskurses aus, sondern bildet auch dessen erste und im Grunde einzige Quelle: »Grundpfeiler jeder Geschichtsschreibung sind die Erzählungen, die von den Vätern an ihre Kinder weitergegeben werden und die sich anschließend von Generation zu Generation weitertradieren« (ENC 8, 221). Zwar will Voltaire andere Quellen der historischen Erkenntnis nicht ignorieren und verweist dabei auf Monumente der Architektur, wie etwa die ägyptischen Pyramiden. Als nicht-schriftliche Quellen bzw. als Träger einer verloren gegangenen Sprache sind solche Monumente in seinen Augen allerdings nicht imstande, »uns die Geschichte des alten Ägyptens zu lehren« (ENC 8, 222). Selbst Münzen brauchen in Voltaires Augen die Unterstützung schriftlicher Quellen, um als sichere Zeugnisse der historischen Wahrheit dienen zu können (vgl. ENC 8, 225). Auch gegen Quellen, die zwar schriftlich sind, aber außerhalb des Bereichs der überlieferten Narrationen liegen, wie etwa alte Chartas, Kodizes oder Diplome erhebt Voltaire grundsätzliche Einwände: Sie sind zu spärlich, möglicherweise unzuverlässig und in ihren Aussagen zu beschränkt, als dass sie als Grundlage für eine breit angelegte Geschichte fungieren könnten (vgl. ENC 8, 223). Diese Einwände gegen nicht-erzählerische Formen historischer Quellen verknüpft Voltaire bezeichnenderweise mit der Erinnerung daran, dass Geschichte keineswegs eine »mathematische« Wissenschaft sei, genauer gesagt, dass der Begriff der Gewissheit sich für den Historiker anders verstehe als für den Mathematiker: In der Geschichtsschreibung könne es keine Gewissheit geben, sondern allenfalls hohe Wahrscheinlichkeit (vgl. ebd.). Dafür sei die wesentlich literarische Dimen4 Voltaire:
Art. Histoire. In: ENC 8, 220.
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sion der Geschichte als Kunst der Geschichtsschreibung verantwortlich. Nicht von ungefähr schließt der Artikel »Histoire« mit der Bemerkung, dass die Geschichte eine Schreibkunst sei, die einen »ernsthaften, reinen, abwechslungsreichen und angenehmen Stil« erfordere und wie alle »Geisteskünste« (»arts de l’esprit«) nur wenige große Künstler vorweisen könne (ENC 8, 225). Eine solche Definition der Geschichte als Kunst, verbunden mit der Hervorhebung der Narration als Hauptquelle und eigentliches Produkt der historischen Arbeit, war nicht frei von Polemik. Siebzig Jahre zuvor war unter der Leitung des Benediktiners Jean Mabillon im Rahmen der französischen Maurinerkongregation eine grundlegende Reform der historischen Arbeit eingeleitet worden, die für die Arbeit des Historikers gänzlich andere Maßstäbe setzte. Seinem methodischen Hauptwerk, dem De re diplomatica, legte Mabillon eine allgemeine Reflexion über Wesen und Wert der Geschichtsschreibung im Vergleich mit den anderen Wissenschaften zugrunde.5 In diesen Überlegungen spielt das Spannungsverhältnis zwischen Narration und Wahrheit eine grundlegende Rolle. Mabillon zufolge besteht die Aufgabe des Geschichtsschreibers nicht in erster Linie im Erzählen von geschehenen Tatsachen, sondern vielmehr im Unterscheiden des Wahren vom Falschen. Als Vorbild für den Historiker dient in diesem heuristischen Verfahren die Figur des Richters.6 Wie der Richter müsse der Historiker seine Arbeit auf belastbare, sichere Quellen stützen, um wahrhaftige Fakten von bloß überlieferten Sagen zu unterscheiden. Gerade dieser Wahrheitsanspruch nun – so Mabillon – erlaube es, die Geschichte zu den Wissenschaften zu zählen, ein Rang, der ihr in dieser Zeit nicht vorbehaltlos zugestanden wird. Zu betonen ist dabei, dass der Rückgriff auf den französischen Begriff ›histoire‹ zur Bezeichnung von Werken der Geschichtsschreibung bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts nicht selbstverständlich war.7 Geschichtsbücher, die unter dem Titel ›histoire‹ liefen, waren allzu gerne dem Verdacht ausgesetzt, bloße Erdichtung zu sein. Erinnert sei nur daran, dass im Jahre 1693 der Historiker Le Nain de Tillemont als Titel für seine Geschichte der ersten sechs Jahrhunderte der christlichen Ära den Begriff ›mémoires‹ gewählt hatte, weil ihm der Terminus ›histoire‹ allzu sehr auf bloße Erzählkunst hinzudeuten schien.8 Im Gegensatz zu dieser Tradition nun verstand sich Mabillon entschie5 Vgl.
Jean Mabillon: Brèves réflexions sur quelques Règles de l’histoire. Hrsg. v. Blandine Barret-Kriegel. Paris 1990; ders.: De Re diplomatica libri VI […], Lutetiae Parisiorum: sumtibus L. Billaine. Paris 1681. Vgl. dazu Blandine Barret-Kriegel: Les historiens et la monarchie. 4 Bde. Bd. 2. Paris 1988, S. 150. 6 Vgl. Mabillon: Brèves réflexions sur quelques règles de l’histoire, S. 104. Vgl. auch dazu ebd., S. 42–45 und Barret-Kriegel: La défaite de l’érudition, S. 151–152. 7 Vgl. Emmanuèle Lesne-Jaffro: Les Mémoires. Une critique de l’histoire au XVIIe siècle. In: Sabrina Vervacke, Eric Van der Schueren u. Thierry Belleguic (Hrsg): Les songes de Clio. Fiction et Histoire sous l’Ancien Régime. Québec 2006, S. 488–510, bes.: 495–497. 8 Vgl. Louis-Sébastien Le Nain de Tillemont: Mémoires pour servir à l’histoire ecclésiastique
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den als ›historien‹ und trat damit für die Durchsetzung eines ›histoire‹-Begriffs ein, der Anspruch auf höchste Gewissheit erhob und dabei mögliche Gemeinsamkeiten mit der Dichtkunst – etwa über das Erzählen – in den Hintergrund rücken ließ.9
2. Kunstgegenstand und historische Erzählung: Montfaucon Wie steht es nun mit der Kunstgeschichte als Geschichte der bildenden Künste in diesem Zusammenhang? Soll sie, kann sie noch mit den Mitteln der Erzählung geschrieben werden? Welche Darstellungsformen kommen ansonsten in Betracht? Diese Fragen haben umso mehr Berechtigung, als sie in direktem Anschluss an Mabillons Arbeiten von einem späteren Benediktiner der Maurinerkongregation, Bernard de Montfaucon, am Anfang des 18. Jahrhunderts gestellt wurden. 1719 brachte Montfaucon seine zehnbändige Antiquité expliquée et représentée en figures heraus, die er fünf Jahre später durch fünf Supplementbände ergänzte. Damit erweiterte er gleich zweifach das historische Programm der Maurinerschule. Zunächst einmal verließ er die Grenzen von Kirchen- und Ordensgeschichte und wandte sich dezidiert der profanen, vorchristlichen Geschichte der Antike zu, und zwar einer weit gefassten Antike, die über die griechisch-römische Welt hinaus auch die Ägypter, Syrier, Perser usw. einschloss; zweitens machte er das dreidimensionale, greifbare, vorwiegend nicht-schriftliche Erbe der Antike zum Hauptgegenstand seines Werkes. Von diesem zweifachen Wandel zeugt schon die äußere Gestalt der Antiquité expliquée et représentée en figures. Allein die zehn Bände der ersten Auflage enthalten ca. 1.120 Kupferstichtafeln, auf denen – nach Montfaucons eigenen Angaben – etwa 30.000 bis 40.000 Objekte abgebildet sind. Hinzu kommen noch die Illustrationen der fünf Supplementbände, die ähnlich reich bebildert sind.10 Im Durchschnitt folgt nach drei Textseiten je eine Tafelseite mit abgebildeten Gegenständen. Es scheint fast so, als wollten die Abbildungen in Montfaucons Antiquité expliquée mit dem Text dem Umfang nach gleichziehen. Auf Grundlage dieses gewaltigen Bildmaterials sollte die antike Welt in ihrer Gesamtheit – Religion, Sitten, Handwerk der Griechen, Römer, Ägypter, Araber, Skythen, Perser, Gallier usw. – dargestellt werden. In diesem breit angelegten Panorama wird zwar der Kunst als Kollektivsindes six premiers siècles. 16 Bde. Bd. 1. Paris 1693–1712, S. IV–VII. Vgl. Barret-Kriegel: La défaite de l’érudition, S. 151 und Mabillon: Brèves réflexions, S. 42 u. 97. Vgl. auch Lesne-Jaffro: Les Mémoires, S. 495. 9 Vgl. Barret-Kriegel: La défaite de l’érudition, S. 151. 10 Vgl. Bernard de Montfaucon: Supplément au livre L’Antiquité expliquée et représentée en figures. 5 Bde. Paris 1724; ders.: L’Antiquité expliquée et représentée en figures. 5 Bde. Bd. 1.1. Paris 1719, S. XI.
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gular noch kein spezifischer Platz zugewiesen. Allerdings spielen Kunstwerke – und vor allem Skulpturen – im Bildmaterial eine zentrale Rolle. Wie verhalten sich nun diese Abbildungen von Gegenständen zum Begleittext? Lässt sich eine Beziehung von den abgebildeten dreidimensionalen Gegenständen zur erzählten Geschichte herstellen? Zu dieser grundsätzlichen methodologischen Frage äußert sich Montfaucon in der Einleitung zum ersten Supplementband der Antiquité expliquée und weist dabei in einem ersten Schritt auf eine scheinbar reibungslose Komplementarität von Gegenstand und Erzählung hin: [Die Denkmäler der Antike] lassen sich in zwei Klassen aufteilen; jene der Bücher und jene der Statuen, Basreliefs, Inschriften und Münzen; zwei Klassen, so meine ich, die einander Hilfe leisten. Die Bücher lehren uns die Geschichte, & sie unterrichten uns über all die Fortschritte, die in der profanen Antike innerhalb der Philosophie, auf all ihren Gebieten & in der Theorie jedweder Disziplin vollbracht wurden. Die andere Klasse der Denkmäler zeigt uns wie auf einer einzigen Tafel einen Großteil dessen, was die Autoren beschreiben, & sie vervollkommnet unsere Vorstellung von den Dingen, von denen wir kein anderes Bild hatten als dasjenige, was wir uns selbst gemacht hatten auf der Grundlage einer manchmal falsch verstandenen Erzählung – ein oftmals verfälschtes und fast immer unvollkommenes Bild. Doch sie kann noch mehr: Sie unterrichtet uns auch über unzählige Dinge, die die Autoren uns nicht lehren. Diese zweite Klasse wurde schon immer vernachlässigt: Noch vor einigen Jahrhunderten war sie nahezu unbekannt. Beide Klassen sind so wichtig und stehen in so enger Verbindung zueinander, dass wir nicht umhin können, sowohl von der einen als auch von der anderen zu sprechen.11
Montfaucon schreibt also den Bildern zunächst die Funktion zu, die antiken Schriftquellen zu ergänzen, zu berichtigen oder sogar mit neuen Erkenntnissen zu flankieren. Die Bilder können aber noch mehr leisten: sie sind in seinen Augen imstande, eine eigene Geschichte zu erzählen: »Man wird in den Bildern oft stumme Geschichten erblicken, die die antiken Autoren uns nicht lehren.«12 In seinem zweiten monumentalen Werk, den Monumens de la monarchie françoise, die eine Fortsetzung der Antiquité expliquée ab dem französischen Mittelalter bilden sollten, ging Montfaucon noch einen Schritt weiter. Das Bildmaterial, das in der Antquité expliquée noch systematisch nach kulturhistorischen Kategorien (Göttern, Kultformen, Waffen, Werkzeugen usw.) sortiert wurde, wurde hier chronologisch geordnet, was die Darstellung des »einzelnen malerischen oder bildhauerischen Geschmacks jedes Zeitalters in der Bildhauerkunst und in der Malerei« (»different goût de sculpture &
11 Montfaucon:
12 Montfaucon:
Supplément. Bd. 1, S. II f. L’Antiquité expliquée. Bd. 1.1, S. X.
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Abb. 1: Bernard de Montfaucon: Les Monumens de la monarchie françoise, 5 Bde. Paris, J.-M. Gandouin et P.-F. Giffart, 1729–1733, Bd. I (1729), Tf. XVI: Monumens des derniers Roys mérovingiens.
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de peinture en divers siecles«) ermöglichte (Abb. 1, S. 42).13 Damit nahm die kunstgeschichtliche Darstellung einer Entwicklung der Formen festere Konturen an. Allerdings wies Montfaucon selbst auf die Grenzen seines Unterfangens hin. Ursprünglich habe er vorgehabt, so die Vorrede des ersten Bandes der Monumens de la Monarchie françoise, seine Geschichte der französischen Monarchie einzig auf die Abbildungen von Monumenten zu stützen. Es sei ihm aber schnell klar geworden, dass dieses Verfahren keine Geschichte im Sinne eines zusammehängenden Narrativs würde hervorbringen können, sondern nur ein lückenhaftes Aggregat von Einsichten in einzelne Bereiche und Perioden: Der erste Plan sah vor, die Denkmäler losgelöst & wie isoliert voneinander anzubringen. Um von einem zum anderen überzugehen, hätte man riesige Leerstellen überspringen müssen, die sich oft zwischen ihnen auftaten. Es wären darauf Könige, Prinzen, Offiziere der Krone, Handlungen, Kämpfe zu sehen, nicht aber der Gang der Geschichte. Die eingehende Betrachtung dieser Denkmäler hätte sicher mehrere Leser dazu angeregt, mehr darüber zu erfahren, & und sie wären genötigt gewesen, ihre Lektüre zu unterbrechen, um ihr Interesse anderweitig zu stillen. Ich hielt es also für ratsam, den Denkmälern jeweils die komplette Geschichte einer Herrschaftsdynastie an die Seite zu stellen.14
3. Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums – Erzählstruktur und Akteure Mit seiner Beschreibung des spannungsreichen Verhältnisses zwischen der Pluralität materieller Kulturgüter der Vergangenheit und der Einheit geschichtlicher Erzählung hatte Montfaucon ein Problem benannt, mit dem sich die Antiquare und Kunstgeschichtsschreiber folgender Jahrzehnte intensiv auseinandersetzen sollten. Immer wieder wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts die Frage nach der Möglichkeit einer kunstgeschichtlichen Erzählung diskutiert, die sowohl dem Kohärenz stiftenden, genealogischen Anspruch einer Geschichte als auch der disparaten, lü ckenhaften und oft unzuverlässigen Quellenlage zu den Monumenten, insbesondere zu den antiken, gerecht werde. In dieser Diskussion sticht Winckelmann sowohl durch die Komplexität als auch durch die Radikalität seiner Position heraus – eine Sonderposition, die er gerne für sich beanspruchte. Seine Geschichte der Kunst des Alterthums stellte er nachdrücklich als kritische Alternative zur antiquarischen Tradition dar, der er mangelnden Sinn für Schönheit, Unfähigkeit zum umfassenden 13 Montfaucon:
Les Monumens de la Monarchie françoise, qui comprennent l’Histoire de France, avec les figures de chaque règne que l’injure des temps a épargnées. 5 Bde. Bd. 1. Paris 1729–1733, S. II. 14 Ebd., S. I.
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geschichtlichen Panorama und fehlende autoptische Kenntnis der Kunst vorwarf. Ein Paradebeispiel für diese gravierenden Fehler wollte er gerade bei Bernard de Montfaucon gefunden haben, der seine Antiquité expliquée et représentée en figures »entfernet von den Schätzen der alten Kunst zusammengetragen« habe, hauptsächlich auf der Grundlage von Stichen und Zeichnungen aus zweiter Hand.15 »[M]an muß wissen, daß dieser Pater, wie sonst, also auch hier, als ein Franzose flüchtig gegangen ist. Seine Antiquité expliquée strotzet von erschrecklichen Vergehen.«16 Zu den Grundunterschieden zwischen Montfaucons und Winckelmanns Werk gehört zunächst der Umgang mit Abbildungen. Hatte Montfaucon in seiner Antiquité expliquée mehrere zehntausend Stiche veröffentlicht und sie zum Kern seiner Ausführungen gemacht, so geht Winckelmann mit Illustrationen deutlich sparsamer um. In seiner Geschichte der Kunst sind 24 Stiche zu sehen, die als meistens kleinere Vignetten die wichtigsten Sektionen des Buches schmücken. Auffallend ist dabei, dass keine der berühmtesten Skulpturen des antiquarischen Kanons, die er beschreibt (Laokoon, Apollo vom Belvedere, Antinous, Torso vom Belvedere, usw.), dort durch einen Stich abgebildet ist. Diese Bildenthaltsamkeit kann man zwar auf ökonomische Gründe zurückführen, hätte doch die bildliche Reproduktion von Kunstwerken hohe Kosten verursacht. Allerdings ist der mäßige Rückgriff auf Abbildungen mehr als ein bloß kontingentes Zugeständnis an äußere finanzielle Bedingungen: Seinen Ursprung findet er in einer Entscheidung epistemologischer Tragweite, die Winckelmann übrigens schon in einer vorigen Schrift, der bilderlosen Description des pierres gravées du feu baron de Stosch, angedeutet hatte: Nicht durch das Bild, sondern in erster Linie durch die literarische Arbeit am Text – durch die Kunstbeschreibung also – soll das Kunstwerk der Einbildungskraft des Lesers präsent gemacht werden.17 Nun fällt bei den Winckelmannschen Skulpturenbeschreibungen auf, wie häufig sie zu Erzählungen ausgearbeitet werden, in denen die in Stein gemeißelte Figur als Held einer erignisreichen Handlung präsentiert wird. Als Paradebeispiel dafür stehen sowohl der Apollo vom Belvedere, der den Python gerade »erleget« habe, als auch der verstümmelte Torso vom Belvedere, aus dem Winckelmann einen ganzen 15
Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Text: Erste Auf lage Dresden 1764. Zweite Auflage Wien 1776. Hrsg. v. Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaehtgens, Johannes Irmscher u. Max Kunze. Mainz 2002, S. XV (alle Seitenangaben werden nach der Paginierung der ersten Auflage von 1764 angegeben). Dass der französische Mauriner keine so beschränkte autoptische Kenntnis der römischen Antiken hatte, muss Winckelmann gewusst haben, denn Montfaucon weist im Vorwort seiner Antiquité expliquée aus- und nachdrücklich darauf hin, dass er drei Jahre in Rom verbracht hat (1698–1701). Vgl. Montfaucon: L’Antiquité expliquée. Bd. 1.1, S. II. 16 Johann Joachim Winckelmann: Brief an J. M. Francke, [9.] März 1757. In: Ders.: Briefe. Hrsg. v. Walther Rehm unter Mitwirkung v. Hans Diepolder. 4 Bde. Bd. 1. Berlin 1952, S. 275. 17 Vgl. Johann Joachim Winckelmann: Description des pierres gravées du feu baron de Stosch, dédiée à son Eminence Monseigneur le Cardinal Alexandre Albani. Florenz 1760, S. IV.
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Herkules mit Armen und Beinen macht, der sich nach seinen zwölf Arbeiten ausruht.18 Die Skulpturbeschreibung wird hier zu einer breit angelegten Erzählung der Heldentaten des Halbgotts ausgearbeitet. Erzählung setzt Winckelmann jedoch nicht nur bei der Beschreibung von Kunstwerken ein. Er macht sie vielmehr zur strukturellen Grundlage seiner Geschichte. Auf das narratologische Prinzip seiner Geschichtsschreibung geht er in einer Schlüsselpassage der Geschichte der Kunst näher ein. Die Kunst unter den Griechen hat, wie ihre Dichtkunst, nach Scaligers[19] Angeben, vier Hauptzeiten, und wir könnten deren fünf setzen. Denn so wie eine jede Handlung und Begebenheit fünf Theile, und gleichsam Stufen hat, den Anfang, den Fortgang, den Stand, die Abnahme, und das Ende, worinn der Grund lieget von den fünf Auftritten oder Handlungen in Theatralischen Stücken, eben so verhält es sich mit der Zeitfolge derselben: da aber das Ende derselben außer die Gränzen der Kunst gehet, so sind hier eigentlich nur vier Zeiten derselben zu betrachten. Der ältere Stil hat bis auf den Phidias gedauret; durch ihn und durch die Künstler seiner Zeit erreichete die Kunst ihre Größe, und man kann diesen Stil den Großen und Hohen nennen; von dem Praxiteles an bis auf den Lysippus und Apelles erlangete die Kunst mehr Gratie und Gefälligkeit, und dieser Stil würde der Schöne zu benennen seyn. Einige Zeit nach diesen Künstlern und ihrer Schule fing die Kunst an zu sinken in den Nachahmern derselben, und wir könnten einen dritten Stil der Nachahmer setzen, bis sie sich endlich nach und nach gegen ihren Fall neigete.20
Diese Stelle ist insofern zentral, als Winckelmann dort explizit das Vier-PhasenModell seiner Geschichte der griechischen Kunst an das poetologische Schema der vier- bzw. fünfteiligen Handlung anlehnt, wie sie Aristoteles in der Poetik beschrieben hatte.21 Damit verpflichtet er die erzählerische Struktur seines Geschichtswerks auf ein poetisches, insbesondere auf ein dramaturgisches Modell und macht also aus seiner Kunstgeschichte die Repräsentation einer Handlung.22 Hauptträger dieser 18 Vgl.
Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, S. 392–394 u. 368–372. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem – Sieben Bücher über die Dichtkunst. Lat.-dt. Ausgabe. Hrsg., übers., eingel. u. erl. v. Gregor Vogt-Spira (Buch 6) u. Luc Deitz (Buch 7). 6 Bde. Bd. 5. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994−2011, S. 42−47 (Buch 6, Kapitel 1: »Iudicium de aetatibus poeseos Latinae«). Vgl. auch: Wolfram Ax: Quattuor linguae latinae aetates. Neue Forschungen zur Geschichte der Begriffe »Goldene« und »Silberne Latinität«. In: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie 124 (1996), S. 220–240; Reinhard Häussler: Vom Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs. In: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie 92 (1964), S. 313−341. 20 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, S. 213 f. 21 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1984, S. 36–37 [Kap. XII, 1452b 15–25]. 22 Vgl. ebd., S. 18 f. [Kap. VI, 1449b 20–30]. 19 Vgl.
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Handlung ist nun der Stil, der durch die mannigfachen Veränderungen und Erweiterungen, die er erfährt, zur eigentlichen treibenden Kraft der Kunstgeschichte wird. Natürlich ist Winckelmann nicht der erste, der den rhetorisch wurzelnden Stilbegriff auf die visuellen Künste überträgt. Den Weg dazu hatte bereits Vasari bereitet.23 Erst bei Winckelmann wird aber der Stil zum eigentlichen Motor der Handlung innerhalb des geschichtlichen Narrativs.24
4. Sammlung oder Erzählung, Text oder Bild: Caylus, Herder, Séroux d’Agincourt Ein solches Modell blieb von den Zeitgenossen freilich nicht unbemerkt. Bereits zwölf Jahre vor dem Erscheinen der Geschichte der Kunst des Alterthums hatte der Graf von Caylus in seinem Recueil d’antiquités die Grundzüge einer »Geschichte der Künste« (»histoire des arts«) skizziert, die in ihrer vierteiligen Struktur jener von Winckelmann sehr ähnlich war. Auch Caylus sieht die Geschichte der antiken Kunst als von vier Völkern getragen (Ägypter, Etrusker, Griechen und Römer), die jeweils ein Kunstzeitalter geprägt haben. Bei beiden Autoren verläuft die Entwicklungskurve parallel: Aufstieg von den Ägyptern und den Etruriern bis zu den Griechen und prompter Niedergang unter den Römern.25 Ausgesprochen unähnlich sind sich aber beide Autoren in der Form ihrer Werke. Während Caylus auf die kumulative, unsystematische Form des Recueil, der Sammlung also, zurückgreift, um dem fragmentarischen und unsystematischen Charakter des Wissens über die Antike Rechnung zu tragen, entscheidet sich Winckelmann für das Modell einer erschöpfenden, zusammenhängenden und in sich abgeschlossenen historischen Erzählung, die sich nachdrücklich als eine Totalität gibt. Diese formale Diskrepanz beruht auf einem tiefgreifenden epistemologischen Dissens zwischen beiden Autoren. Caylus bekräftigt mehrfach, u. a. im Vorwort zum dritten Band des Recueil, seinen tiefen Widerwillen gegen »jegliche Art von System« (»toutes les espèces de systêmes«):
23 Vgl.
Wolfgang Brückle: II. Stil (kunstwissenschaftlich). In: Ders., Rainer Rosenberg, Hans-Georg Soeffner u. Jürgen Raab: Art. Stil. In: Karlheinz Brack et al. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. 7 Bde. Bd. 5. Stuttgart/Weimar 2003, S. 641–703, hier: 670. 24 Zur narratologischen Funktion des Stils in Winckelmanns Narrativ der Kunstgeschicht, vgl.: Elisabeth Décultot: Kunst als Gegenstand einer historischen Narration. Beobachtungen zur Historisierung bei Winckelmann, Caylus und Herder. In: Moritz Baumstark u. Robert Forkel (Hrsg.): Historisierung. Begriff – Geschichte – Praxisfelder. Stuttgart 2016, S. 129–146, bes.: 134–138. 25 Vgl. Anne Claude Philippe de Tubières, comte de Caylus: Recueil d’antiquités égyptiennes, étrusques, grecques et romaines. 7 Bde. Bd. 1. Paris 1752–1767, S. IX f.
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Ich hätte es schließlich gerne, wenn der Antiquar jegliche Art von System aus seiner Arbeit ausschlösse. Solche Systeme betrachte ich als eine Krankheit des Geistes, die aus einem Überfluss an Selbstgefälligkeit entsteht und sich weiter entwickelt; diese blinde Einstellung steht der leichtesten Änderung im Plan entgegen, den der Antiquar sich selbst gesetzt hat. Um die Teile dieses Plans aufeinander abzustimmen und miteinander zu verbinden, zwingt er die mannigfaltigsten Ideen dazu, auf diejenige aufzubauen, die erfunden zu haben er sich rühmt.26
Damit wird eine grundlegende Verbindung zwischen Systemgebäude und Erzählung hergestellt. Schuld für diese verhängnisvolle Kombination ist der »plan«, ein Terminus, der in der französischen Bedeutung zweierlei bezeichnet: die folgerichtige Entwicklung und das intendierte Ziel des Räsonnements einerseits, die interne Gliederung der Erzählung andererseits. So erscheint die Erzählung als solche – eben aufgrund ihrer notwendigen internen Gliederung – als Ursache und Ausdruck eines systematischen Denkens, das Caylus als »Krankheit des Geistes« (»maladie de l’esprit«) verurteilt. Die von Caylus hier schon in den 1750er-Jahren formulierte Kritik an historischen Systemgebäuden fand mit der Erscheinung von Winckelmanns Geschichte der Kunst ab 1764 eine bevorzugte Zielscheibe. Winckelmann eifere danach, so Caylus’ Vorwurf, »Vergleiche über das Wesen der Antike zu erkünsteln«, er verlasse das sichere Terrain der Erfahrung, um ein historisches Lehrgebäude der Künste fernab jeder Empirie zu errichten.27 Denn eine Regel stehe, so Caylus, gleich an vorderster Stelle: »Es gibt keine allgemeine These über die Antiken und […] ein zufälliger Fußtritt kann die Sätze aller heutigen, früheren und zukünftigen Antiquare über den Haufen werfen.«28 Zu jenen fehlerhaften »Thesen«, die Winckelmann über die Antiken entwickelt habe, gehöre beispielsweise die Prämisse, dass die Griechen »Erfinder« ihrer eigenen Kunst gewesen seien und bei den Nachbarvölkern nichts ausgeliehen hätten. Auf der Grundlage einiger Objekte aus seiner Sammlung will Caylus dagegen zeigen, dass die Griechen lange Zeit nur talentierte Nachahmer gewesen seien, die vor allem bei den Ägyptern die Keime ihrer Kunst geborgt hätten.29 26 Caylus:
Recueil d’antiquités. Bd. 3, S. XI.
27 Caylus: Brief an P.M. Paciaudi, 5. Febr. 1764. In: Ders.: Correspondance inédite du comte
de Caylus avec le Père Paciaudi, théatin (1757–1765). Hrsg. v. Charles Nisard. 2 Bde. Bd. 1. Paris 1877, S. 415. 28 Caylus: Brief an P. M. Paciaudi, 20 Nov. 1763. In: Ders.: Correspondance inédite du comte de Caylus avec le Père Paciaudi. Bd. 1, S. 380. 29 Vgl. dazu: Elisabeth Décultot: Johann Joachim Winckelmann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art. Paris 2000, S. 168–173 (Deutsche Übers.: Elisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Übers. v. Wolfgang von Wangenheim u. Mathias René Hofter. Ruhpolding 2004, S. 101–105.).
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Interessant ist die hier verzeichnete Differenz zwischen Caylus und Winckelmann u. a. deshalb, weil sie von Herder rezipiert worden ist und ihn – vor allem im Rahmen des Älteren und des Ersten kritischen Wäldchens – veranlasst hat, die aristotelische Beziehung zwischen Geschichte und Poesie unter besonderer Berücksichtung der Erzählung zu überdenken: Der bloße Erzähler ist ein Annalist, ein Memoir- ein Zeitungsschreiber: der Vernünftler über die einzelne Erzählung ist ein historischer Raisonneur; aber der Zusammenordner vieler Begebenheiten zu einem Plan, zu einer Absicht: der ist, sagt unsre historische Kunst, der ist der wahre historische Künstler, Maler eines großen Gemäldes von der trefflichsten Komposition: der ist historisches Genie, der ist der wahre Schöpfer einer Geschichte! Und ist das, so ist Geschichte und Lehrgebäude eins! Sehr gerne! Schöpfer, Genie, Maler, und Künstler der Geschichte; aber mein einfältiger Verstand, der vom Sokrates gelernt hat, sich zum Begriffe einer Sache Zeit zu nehmen, ist noch so weit hinten nach, daß ihm die erste Frage wieder einfällt: der historische Schöpfer, der sich eine Welt von Begebenheiten dachte, ihren Zusammenhang verflochte, und nach diesem Plan eine Geschichte schuf: wie weit ist der noch Geschichtsschreiber? Man siehet, ich bin also wieder beim großen A.30
In einer Art argumentativem Rollenspiel, wie er es gerne pflegt, bezieht Herder in dieser Passage zwei veschiedene, ja eigentlich unvereinbare Positionen. Im ersten Abschnitt wird »der Zusammenordner vieler Begebenheiten zu einem Plan, zu einer Absicht«, der »Maler eines großen Gemäldes von der trefflichsten Komposition« kurzerhand zum »wahre[n] Schöpfer einer Geschichte« erklärt – einem »wahre[n] Schöpfer«, hinter dem der Historiker Winckelmann zu erkennen ist. Dabei scheint die scharfe Trennungslinie zwischen Geschichte und Dichtung, oder, wie es in Aristoteles’ Poetik heißt, zwischen Erzählung des tatsächlich Geschehenen und Erzählung von Begebenheiten, wie sie geschehen sein könnten, zu verschwimmen.31 Unversehens kehrt aber Herder im zweiten Abschnitt zum Aristotelischen Standpunkt zurück und postuliert einen Gegensatz zwischen dem Bereich des Dichters und demjenigen des Historikers. Hadert Herder in seinen Wäldern der Jahre 1767–1769 noch damit, das Win ckelmannsche »Lehrgebäude«32, diese unübersehbar narratologischen Regeln gehorchende Konstruktion, in den Rang eines Geschichtswerks zu heben, ist er in seinen 30 Johann Gottfried Herder: Älteres kritisches Wäldchen. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Günter Arnold u. a. 10 Bde. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1993, S. 11–62, hier: 15. Vgl. dazu Hinrich C. Seeba: Geschichte als Dichtung. Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung. In: Storia della storiografia 8 (1985), S. 50–72. 31 Aristoteles: Poetik, S. 28–31 [Kap. IX, 1451b 1–5]. 32 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, S. IX; Herder: Älteres kritisches Wäldchen, u. a. S. 11.
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späteren Texten schon weniger zögerlich. Im Denkmal Johann Winkelmanns von 1777 stützt er sich auf eben dieses historiographische Modell, um einen Geschichtsbegriff jenseits der von Aristoteles aufgemachten Differenz zu skizzieren. Mit Blick auf die Geschichte der Kunst gelangt Herder schließlich zu dem Schluss: Jeder historische Text besitze eine grundlegend poetische Dimension, die sich ganz besonders an der erzählerischen Konstruktion ablesen lasse. Mag Winckelmann auch manche irrige Interpretation oder Fehldatierung vorgeschlagen haben, so bleibe sein Werk dennoch die einzig denkbare Art und Weise, eine Geschichte der Kunst zu schreiben. Unvollständig mag das allerdings sein, es ist mehr als unvollständig, Idealisch: so viel ich aber einsehe, ists bei dem großen Mangel von Namen, Nachrichten und würklicher Geschichte, das einzige Mittel zu einem Ganzen, das den Nutzen oder vielleicht mehr als den Nutzen erreicht, den uns die dürftige Geschichte gäbe.33
Als letzte Etappe in dieser Diskussion sei Jean-Baptiste Séroux d’Agincourts Histoire de l’Art par les Monumens erwähnt, ein Werk, das – wie schon sein Titel deutlich macht – Anspruch darauf erhebt, eine Geschichte der Kunst seit dem römischen Kaiserreich bis zum 16. Jahrhundert mittels der Denkmäler zu liefern, und sich deshalb auf einen ansehnlichen Apparat von Abbildungen stützt.34 Mit seinen 325 Tafeln, die mehr als 14.000 Reproduktionen von Kunstwerken enthalten, scheint das Unternehmen in der direkten Nachfolge von Montfaucons Antiquité expliquée oder von Caylus’ Recueil zu stehen. Nicht auf diese beiden Standardwerke der antiquarischen Tradition der Sammlung beruft sich Séroux jedoch in erster Linie, sondern auf Winckelmanns Geschichtsmodell eines breit angelegten, lückenlosen Narrativs. Das Vorbild einer hoch elaborierten Erzählung Winckelmannscher Art übernimmt er bemerkenswerter Weise nicht nur im Textteil seiner Histoire de l’Art par les Monumens: Er versucht auch, es als Organisationsprinzip auf die Illustrationen anzuwenden und gestaltet dazu beeindruckende synoptische Tafeln, wo kleinformatige Bilder aneinander gereiht werden und damit eine wortlose Geschichte der Formen andeuten (Abb. 2, S. 50). Allerdings muss er offensichtlich Zweifel an der Möglichkeit gehegt haben, eine Geschichte der Kunst nur über Bilder erzählen zu können, und entscheidet sich daher, seinen drei großen Tafelbänden drei Textbände 33 Johann
Gottfried Herder: Denkmal Johann Winkelmanns. Demselben vor der Fürstl. Akademie der Altertümer zu Cassel bei Anlaß der ersten Preisaufgabe im Jahr 1777 errichtet. In: Ders.: Werke. Bd. 2, S. 630–673, hier: 657. 34 Vgl. Jean-Baptiste Séroux d’Agincourt: Histoire de l’art par les Monumens depuis sa décadence au IVe siècle jusqu’à son renouvellement au XVIe. 6 Bde. Paris [1810]–1823. Vgl. u. a.: Daniela Mondini: Mittelalter im Bild. Séroux d’Agincourt und die Kunsthistoriographie um 1800. Zürich 2005; Pascal Griener: La fatale attraction du Moyen Âge. Jean-Baptiste Séroux d’Agincourt et l’Histoire de l’art par les Monumens (1810–1823). In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 54 (1997), S. 225–234; Henri Loyrette: Séroux d’Agincourt et les origines de l’histoire de l’art médiéval. In: Revue de l’Art XLVIII (1980), S. 40–56.
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Abb. 2: Jean-Baptiste Séroux d’Agincourt: Histoire de l’art par les Monumens depuis sa décadence au IVe siècle jusqu’à son renouvellement au XVIe, 6 Bde., Paris, Treuttel et Würtz, [1810]–1823, Bd. IV (1823), Tf. LXIV: Tableau historique et chronologique des frontispices des temples, avant et durant la décadence de l’art.
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an die Seite zu stellen, die – sowohl im Plan als auch im Stil – eine narratologisch hoch elaborierte geschichtliche Erzählung enthalten. Als eine Art Synthese zwischen Montfaucons und Winckelmanns Modell, Bild und Text miteinander harmonisierend, erwies sie sich für eine neue Form des Erzählens in der Kunstgeschichte als durchaus wegweisend.
Franz M. Eybl
Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten als Erzählpoetik zwischen Chronik und Exempel »Überhaupt«, sagte Karl, »scheint mir, daß jedes Phänomen, so wie jedes Faktum an sich eigentlich das Interessante sei. Wer es erklärt oder mit andern Begebenheiten zusammenhängt, macht sich gewöhnlich eigentlich nur einen Spaß und hat uns zum besten, wie zum Beispiel der Naturforscher und Historienschreiber.1
Um den Kontrast auf neue Weise zu schärfen, den man bei Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten zwischen dem Revolutionsgeschehen, dem das Personal entfloh, und dem gesitteten Gespräch im Exil konstatiert hat, seien zwei diskursive Inszenierungsfiguren historischer Wirklichkeit herangezogen, die auf alte Tradition und bewährte Funktionsbestimmung zurückblicken können. Die Gattungsbezeichnungen Chronik und Exempel waren im historiographischen Diskurs seit dem Mittelalter verschwistert und wurden im Jahrhundert der Aufklärung gegeneinander neu justiert. Sie signalisieren einen spezifischen Bezug zum Aufzeichnungsobjekt, einen speziellen Modus der nicht selten auch multimedialen Vertextung sowie einen speziellen Wirkungsimpuls. Zwischen beiden Verfahren stellt sich, deren Poetik diskutierend, Goethes für die Horen geschriebenes Erzählwerk. Es verweist zugleich auf die Umwälzungen im Publikationssystem, das aus Chronisten Zeitschriftsteller macht und aus erzählten Begebenheiten gedruckte Novellen.
I. Die Fachdiskussion um Chronistik, chronikalisches Schreiben und die Metamorphosen dieses Aufzeichnungsmodus vom 19. bis ins 21. Jahrhundert hat neuerdings Fahrt aufgenommen, jüngst durch Detlev Schöttkers weit ausgreifendes Panorama des chronikalischen Erzählens vom Mittelalter bis zu den Darstellungsverfahren der Blogs.2 Chronikalisches Schreiben verfährt seriell und inszeniert Faktionali1 Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Ders.: Goe-
thes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. v. Erich Trunz. 14 Bde. Hamburg 141996, S. 125–241 [im Folgenden: HA], hier: HA 6, 161. 2 Vgl. Detlev Schöttger: Chronistik der Moderne. Zur literarischen Überwindung des Historismus. In: Weimarer Beiträge 62 (2016), S. 57–76. – Eine Poetik des chronikalischen Schreibens steht noch aus und wird das gesamte Aufzeichnungs- und Darstellungssystem des Chronikalischen zu beachten haben, um zu einer detaillierten Darstellung dieser Schreibweise und ihrer Fortwirkung in der Literatur zu gelangen. Dies verfolgt eine internationale Forschungsgruppe in
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tät, es verlangt und fixiert Chronologie als den fundamentalen historiographischen Orientierungspunkt (›Pole Star‹).3 Als Aufzeichnungsverfahren wählt der Chronist das Berichtenswerte aus der Menge des Geschehenen unter der Prämisse eines vorgeordneten Geschichtsverlaufs, der dem paradigmatischen Einzelereignis seine Bedeutsamkeit beilegt. Im Syntagma chronikalischen Schreibens mit breitem Variationsspektrum von tabellarischen Darstellungen bis hin zu dichten narrativen Vertextungen verknüpft, verspricht die Chronik Merk-Würdigkeit des Gebotenen und lebensweltliche Orientierung im Sinne von Handlungsanleitung und Identifikationsangebot. Wird die Geschichte als magistra vitae durch die Bereitstellung von Exempeln verstanden, dann liegt der Akzent auf dem rhetorischen Wirkungsaspekt, also auf der Applizierbarkeit historiographisch verzeichneter Ereignisse, ob faktisch oder fiktional, auf die Lebenswirklichkeit der Rezipienten. Das paradigmatische Exempel adressiert sowohl logos als auch pathos und ermöglicht demnach kognitive wie emotionale Anwendbarkeit – exempla trahunt.4 Die beiden Begriffe stehen in einer komplementären produktions- und rezep tionsä sthetischen Gewichtung und treten im Rahmen der Aufklärung in eine his torische Spannungsrelation, ist damit doch auch jener Grundkonflikt zwischen Geschichten und Geschichte aufgerufen, deren Entkoppelung und wechselseitige Differenzierung Reinhart Koselleck als Konstituens des Aufklärungsprozesses schlechthin bestimmt.5 Die Differenzierung zwischen dem Chronikalischen und dem Exemplarischen konturiert auch die Entwicklung der Aufklärungsgeschichtsschreibung und des neuen historistischen Deutungsrahmens von Geschichte. Weil
Basel (Alexander Honold), Berlin (Detlev Schöttker, Daniel Weidner) und Wien (Annegret Pelz, Stephan Müller, Franz M. Eybl). 3 Vgl. Anthony Grafton u. Urs B. Leu: Chronologia est unica historiae lux. How Glarean Studied and Taught the Chronology of the Ancient World. In: Iain Fenlon u. Inga Mai Groote (Hrsg.): Heinrich Glarean’s Books. The Intellectual World of a Sixteenth-Century Musical Humanist. Cambridge 2013, S. 248–279, hier: 251: »chronology brings order into the sequence of times, the different kinds of warfare, and the names of individuals.« 4 Zum frühneuzeitlichen Exempel vgl. neben den Handbüchern (Enzyklopädie des Märchens, Historisches Wörterbuch der Rhetorik) zahlreiche Forschungen von Wolfgang Brückner (Volkserzählung und Reformation. Berlin 1974) bis Christian Meierhofer (Praeceptum, Exemplum, Eventum. Anmerkungen zur literarischen und rhetorischen Normativität barocker Kurzprosa. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 18 (2014), S. 237–256). – Goethes Einsatz des Exemplarischen ist bisher v. a. für seine Übersetzung Leben des Benvenuto Cellini (1803) ansatzweise erschlossen bei Reinhard Schuler: Das Exemplarische bei Goethe. Die biographische Skizze zwischen 1803 und 1809. München 1973. 5 Vgl. Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987, S. 269–282; ders.: Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 38–66.
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die Chronistik bloß »unvollständige Historien« herstellt,6 hat sie die Historiographie in einem längeren, mit Johann Gustav Droysens Grundriß der Historik (1858) endgültig abgeschlossenen Prozess von einem Darstellungsverfahren in den Rang einer Quellengattung rückgestuft und mit solcher Deutungsentlastung andererseits den Weg für die Literarisierung des chronikalischen Schreibverfahrens eröffnet und begleitet. Die Geschichtsschreibung begreift chronistisches Schreiben als mangelhaftes, nicht leistungsfähiges Modell, es steht gewissermaßen metonymisch für eine (auch stilistische) Simplizität der Geschichtsaufzeichnung und für eine daraus hervorgehende »Sinnbildungsschwäche«,7 die im späten 18. Jahrhundert durch die Ästhetisierung der älteren und die Performativität der moderneren historistischen Geschichtsschreibung überwunden wurde. Neue geschichtsphilosophische Narrative kräftigen das genetische Syntagma gegenüber dem exemplarischen Paradigma: »Ein weiteres Erklärungsmuster dieses Modernisierungsprozesses ist die Verschiebung vom Exemplarischen (der alten noch rhetorischen Geschichtsschreibung) zum Genetischen der modernen Geschichtserzählung.«8 Wenn nun neben dem institutionsgeschichtlich-epistemologischen und dem narratologischen Aspekt auch der dritte Zugang zur Problematik um 1800 in Geltung tritt, »der sich der Frage der Geschichtsschreibung der Sattelzeit über ihre medialen Formen nähert«, dann hat der Problemkreis auch und vor allem die medienhistorische Dimension »eines sich popularisierenden Geschichtsdiskurses«.9 Mit der exemplarischen Evidenz des Geschehenen verliert auch die Beispielgeschichte ihren Einsatzbereich, sie wandert aus der Geschichtsschreibung und der Literatur in die Gattungen der Volksaufklärung, der Didaktik und der Pädagogik. Das Feld ist noch nicht vermessen, immer häufiger aber stellt die jüngere Forschung zwischen Aufklärung und Historismus charakteristische diskursive, mediale und narrative Überlagerungen und Verschiebungen fest. Die Annalistik mausert sich im Sinne universaler Geschichtsbeobachtung zum Zeitschriftenprojekt, indem die früheren Chronisten um 1800 als Kommentatoren der Gegenwart zu »Zeitschriftstellern« werden und die Bezeichnungen ›Chronik‹ 6 Hayden
White: Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung der Wirklichkeit. In: Ders.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M. 1990, S. 11–39, hier: 16. Vgl. auch ebd., S. 29. – Grundlegend Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke. Stuttgart 2000; Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin/New York 1996. 7 Stephan Jaeger: Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel. Berlin/Boston 2011, S. 33. 8 Ebd., S. 34. 9 Iwan-Michelangelo D’Aprile: Verflochtene Sattelzeitgeschichten. Journalistische Zeitgeschichtsschreibung um 1800. In: Elisabeth Découltot u. Daniel Fulda (Hrsg.): Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen. Berlin/Boston 2016, S. 178–197, hier: 179. Zum Konzept des ›Zeitschriftstellers‹ ders.: Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz. Berlin 2013, S. 15–34.
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und ›Annalen‹ zu Zeitschriftentiteln, während die Chronik als Titel, etwa bei Clemens Brentano, literarische Werke mit dem romantischen Flair des Altertümlichen zu bezeichnen beginnt. Für die aufklärerische Literatur war das Exemplarische des Erzählten im Zeichen des utile ein zentrales Merkmal geblieben. Leistung der Literatur sei es, etwa in Gottscheds Tragödienpoetik, zum Allgemeinen den Einzelfall darzustellen, als dessen Beispiel er dient, und rhetorisch gedacht geht es darum, im Prozess der inventio ein systematisches Argument auf ein historisches Beispiel zu applizieren, also dem lehrhaften Paradigma ein narratives Syntagma zu verschaffen. Der Funktions wandel vom aufklärerischen zum klassischen Literatursystem verlagert das Exemplarische aus dem Bereich der (rhetorischen) Applikation in den Bereich der Wirkungsästhetik. Damit ist der historische Gehalt des Exemplarischen gegenüber dem ästhetischen Wirkungsmoment entscheidend geschwächt, und in dem Maße, wie das chronistische Schreiben an wissenschaftlichem Kredit verliert, wächst die erzieherische Macht der Kunst, wie bereits Gottfried August Bürgers ästhetische Vorlesungen postulieren: »Jede wirkliche oder als wirklich angenommene Begebenheit ist ein einzelner Fall, eine einzelne Wahrheit. In so fern in diesem Einzelnen eine allgemeine Wahrheit kann angeschauet werden, in so fern ist es ein Beispiel.«10 Goethe selbst hat das Chronistische im Sinne des historiographischen Defizienzmodells als narrativ beschränktes Schreibverfahren verstanden11 und die entsprechende Haltung mit leisem Spott bedacht: »Und daß du nicht wieder sagst, meine überspannten Ideen verdürben alles, so hast du hier, lieber Herr, eine Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenschreiber das aufzeichnen würde« (HA 6, 67). Komplexitätsreduktion (»plan«) und leichte soziale Anschließbarkeit (»nett«) unterscheiden das Chronikenschreiben von literarischer Aufzeichnung, resultierend aus der Einschränkung durch Standpunkt und Schreibverfahren, denn der Chronist, so heißt es in einem Aphorismus Aus Makariens Archiv, »deutet nur mehr oder weniger auf die Beschränktheit, auf die Eigenheiten seiner Stadt, seines Klosters wie seines Zeitalters.«12 10 Gottfried
August Bürger: Lehrbuch der Ästhetik [Göttinger Vorlesungen 1784–1794]. Hrsg. v. Karl von Reinhard. 2 Bde. Bd. 2. Berlin 1825, S. 216 f. 11 Auch dies bemerkt bereits Bürger: »Es ist hier eben der Unterschied, wie zwischen einer Chronik, die bloß Facta, Begebenheiten chonologisch aufzählt, und einer pragmatischen Geschichte, welche diese Begebenheiten aus ihren Ursachen entwickelt und nach ihren Folgen beobachtet.« Ebd., S. 99. 12 Zum »chronikenschreiber« Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. Bd. 2. Leipzig 1855, Sp. 627 mit Beleg »Göthe 49, 109« = Maximen und Reflexionen, Fünfte Abteilung; Aus Makariens Archiv: »Besieht man es genauer, so findet sich, daß dem Geschichtschreiber selbst die Geschichte nicht leicht historisch wird; denn der jedesmalige Schreiber schreibt immer nur so, als wenn er damals selbst dabei gewesen wäre, nicht aber, was vormals war und damals bewegte. Der Chronikenschreiber selbst deutet nur mehr oder weniger
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Aber ebenso problematisch war Goethe das Exemplarische dort, wo es platt und didaktisch daherkommt, also blank rhetorisch, weil im Bereich der Kunst nur der Weg über die ästhetische Formung das Potenzial nachhaltiger Wirkung ausschöpft. Im Exemplarischen wurzelt, über das Exemplarische jedoch hinaus geht Goethes Symbolbegriff, im Besonderen das Allgemeine zur Anschauung zu bringen. Während die kunstbasierte Erzählweise der Literatur der Geschichtsdarstellung im Sinne Schillers Idealität verleiht, so die historiographische Poetik des Historismus, trage die Chronik und ihr Aufzeichnungssystem als Materialspeicher der Historiographie »bloß das Gemeine« als materielle Grundlage zu.13 Diese historiographische Klassifikation trifft bereits Goethe und legt sie auf jene Gattung um, die den erzählenden Umgang mit den Stoffbereichen des ›Gemeinen‹ erzählt, die Novelle. Die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten verhandeln die Relation von chronistischer Gegenwartsverarbeitung und exemplarischer Wirkung. Unter den poetologischen Aspekten des mimetischen Aussagestatus und der in der erzählten Rezeption thematisierten Glaubwürdigkeit zeigt sich eine deutliche Entwicklung vom ›chronikalischen‹ Erzählen der ›unerhörten Begebenheit‹ zur immer stärker fiktionalisierten und ästhetisch funktionalisierten Beispielerzählung. Am Beispiel der reflektierend gerahmten Diegese erscheint die Spannungsrelation von Chronis tik und Exemplarizität als komplementäre Bewegung zwischen theoretischer Expli kation und narrativer Darstellung. Die spezifische Entwicklungsdynamik des Werks besteht in der Koppelung der narrativen Gestaltung mit der Medialität ihrer peri odischen Erscheinungsweise, wie dem Publikationsrhythmus der insgesamt fünf Teile in Relation zum jeweils Dargestellten abzulesen.
II. Die Ausgangssituation der Unterhaltungen hat Goethe den florentinischen Pestflüchtlingen des Decamerone nachgestellt und ebenso die Zyklizität des Erzählens. Die Errichtung eines freundlichen Erzählrahmens bestand bei Boccaccio im ländlichen locus amoenus im Kontrast zur Katastrophe der pestbefallenen Stadt, bei Goethe mit dem Eintreffen auf dem lieblichen Gut »an dem rechten Ufer des Rheins in der schönsten Lage«, mit »bekannten Mobilien« und »alten Bilder[n]«, und wenn sogleich »alle alten Bekannten, Freunde und Diener« (HA 6, 129) zur Begrüßung auf die Beschränktheit, auf die Eigenheiten seiner Stadt, seines Klosters wie seines Zeitalters« (HA 12, 395). 13 Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 328. »Dem Tatsächlichen allein eignet demnach nur eine geringe Dignität; wie für Schelling ist es für Ranke hingegen die Kunst bzw. Poesie, welche ihm Idealität zu verleihen in der Lage ist.« Ebd. – Zu Leopold von Rankes historiographischem Konzept vgl. ebd., S. 296–343.
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herbeieilen, ist auch die sozialutopische Dimension angetönt – jedenfalls in einer rechtsrheinischen Ausprägung gegenüber den französischen Zuständen, zu denen sich der »hitzige[] Karl«14 zustimmend äußert, der Geheimerat und die Baronesse hingegen ablehnend. Als bloßer »Landhauszyklus«15 wäre der Text, der doch die Revolution und deren Diskursivierung insgesamt verhandelt, arg missverstanden. Der Erzählrahmen fungiert als »Ordnungsgarant« wie auch als »poetologisches Reflexionsmedium« der Welt des im Binnenraum Erzählten.16 Goethe spiegelt in dieser Relation das poetologische Programm der Horen. Perfekt scheint der Eingangssatz der »Ankündigung« der Horen17 die Relation von Zeitgeschehen und Kunstgenuss, von Chronistik und Unterhaltung so zu formulieren, wie Goethe das exakt aufgreift und narrativ inszeniert. Doch ist nach neuestem Diskussionsstand die Relation zwischen den Unterhaltungen und ihren Bezugstexten nicht als programmatische Spiegelung, sondern in einer dynamischen Triade zu fassen, denn es verschränken sich die Auswirkungen der handschriftlich zirkulierenden »Einladung zur Mitarbeit« vom Sommer 1794 mit Goethes unterdessen an Schiller eingereichten Druckmanuskript des Einleitungsteils und der Formulierung der gedruckten Beiträgereinladung, die erst danach in Druck geht. »Nicht Goethe reagierte mit der Rahmenhandlung seiner Unterhaltungen auf Schillers öffentliche Ankündigung. Vielmehr passte Schiller diese an die in den Druck gegangene Fassung des ersten Teils der Unterhaltungen an.«18 Goethe, im brieflichen wie mündlichen Austausch 14 Schiller
an Goethe, 29. 11. 1794. Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Richter. 21 Bde. München 1985– 1998 [im Folgenden: MA], hier: MA 4.1, 1056. Zur von Schiller erwünschten Abschwächung des Geheimrats ebd. 15 Christine Mielke: Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie. Berlin 2006, S. 205. 16 Florentine Biere: Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900. Würzburg 2012, S. 189; vgl. insgesamt die überzeugende Analyse der Goetheschen Erzählkonstruktion. – Als eine Reihe von »Textualitätshinweisen« Goethes liest das Rahmengespräch Christine Lubkoll: Fingierte Mündlichkeit – inszenierte Interaktion. Die Novelle als Erzählmodell. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 36 (2008), S. 381–402, hier: 392–398. 17 Friedrich Schiller: [Ankündigung der Horen]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. PeterAndré Alt, Albert Meier u. Wolfgang Riedel. 5 Bde. Bd. 5. München 2004, S. 870–873. – Zur Spannung zwischen Novellensammlung und Programmatik noch unter dem Aspekt des Antwortcharakters Thorsten Valk: Ästhetische Bildung als politische Propädeutik? Goethes Unterhaltungen als kritische Replik auf Schillers Horen-Ankündigung. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 48 (2007), S. 189–214. 18 Gerrit Brüning: Ungleiche Gleichgesinnte. Die Beziehung zwischen Goethe und Schiller 1794–1798. Göttingen 2015, S. 103. Vgl. insgesamt den Abschnitt »Schiller und das Problem der Politik in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, S. 97–104, im Gegensatz zu den Positionen Valks (Anm. 17) oder auch Lothar Bluhms: »In jenen unglücklichen Tagen …«. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten oder: Die Ambivalenz von Kunst und Gesellschaft. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Köln 2000, S. 27–45.
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mit Schiller, reagiert auf die Einladung mit seinem Text, während Schiller auf Goethes rahmende Exposition der Gesprächssituation im Druckmanuskript zu antworten scheint, wenn »das nahe Geräusch des Kriegs«, »der Kampf politischer Meinungen und Interessen […] beinahe in jedem Zirkel« dominiert, wo keine Rettung »vor diesem allverfolgenden Dämon der Staatskritik« möglich bleibt. Bis in die Wörtlichkeit der »Unterhaltung« reicht Schillers Formulierung, da sich die Horen anbieten, »den so sehr zerstreuten Leser zu einer Unterhaltung von ganz entgegengesetzter Art einzuladen.«19 Gleichzeitig mit allem Verzicht auf Erörterung von »Staatsreligion und politische[r] Verfassung«, wie es im handschriftlichen Einladungszirkular hiess, widmet man sich »der schönen Welt zum Unterricht und zur Bildung und der gelehrten zu einer freien Forschung der Wahrheit und zu einem fruchtbaren Umtausch der Ideen«.20 Diesen programmatischen Ausgangspunkt entwickelt Goethe in Thema und Verfahren mit wachsender Dynamik. Unterricht und Bildung durch das novellis tisch Erzählte sind die Themen der Rahmengespräche, und die »freie Forschung der Wahrheit« betrifft das mögliche Gespensterwesen ebenso wie die Erziehungsmaximen und ihre Umsetzung, was mit Aberglaubenkritik und Pädagogik zwei aufklärerische Kernprojekte aufgreift.21 Erzählt wird das Erzählen, dynamisch vertieft jedoch im Fortgang des Fortsetzungswerks die Relation zwischen seiner Reflexion und seinem Gegenstand. Je mehr sich die Rahmenerzählung mit chronikalischen Elementen der postrevolutionären Historie anfüllt, umso deutlicher rücken die Binnenerzählungen von den noch alltagsgebundenen Unterhaltungsstoffen der res gestae ab, um ins genuin Literarische zu wechseln. Man hat mit gutem Grund die beiden letzten Binnengeschichten mit Goethes Programm der Entsagung gelesen, sodass der Fortgang der Unterhaltungen von der Verwicklung ins Zeitgeschehen zu dessen Absage leitet und zugleich von den chronikalisch und exemplarisch imprägnierten Elementen geselligen Erzählens zur ästhetischen Absolutheit. Das Märchen soll abschließend und endgültig »die Unterhaltungen von der ›Unterhaltung‹ zur ›Kunst‹ führen«.22 Doch ist schon in der 19 Schiller:
[Ankündigung der Horen], S. 870 (Herv. d. Verf.). Schiller: [Einladung zur Mitarbeit an den ›Horen‹]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5, S. 867–869, hier: 867. 21 Als aufklärerische Propaganda rationalen Kommunikationsverhaltens versteht die Unterhaltungen Carl Niekerk: Bildungskrisen. Die Frage nach dem Subjekt in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Tübingen 1995, wenn er die »politische Dimension« des Textes darin erblickt, »daß in ihnen ein Gegenmodell zur französischen Situation artikuliert wird, nämlich indem mit dem Verzicht auf die Handlungsfähigkeit […] eine Freiheit des Denkens, Spekulierens, Diskutierens und vor allem des konsequenzenlosen Ausagierens von Gegensätzen erkauft wird.« Ebd., S. 131. 22 Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950. Göttingen 2015, S. 354. – Andreas Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe – Tieck – E. T. A. Hoff20 Friedrich
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Exposition die ästhetische Distanz zur bloßen Zeitnähe in der kaum merklichen Historisierung der gesamten Gesprächsinszenierung ausgedrückt, weil die Rahmenhandlung im Sommer 1793 spielt, als die ›Blockade‹ von Mainz gerade zur Belagerung wird, deren Aufhebung für die ersten Leser der Horen bereits deutlich mehr als ein Jahr zurücklag.23
III. Zum Stoff der Unterhaltungen gehören im Erzählrahmen und in den Erzählungen die Gegenstände von Chronik und Exempel, die Revolution mit ihren Exilierungsfolgen und die jeder Aufklärung widerstrebenden Wirrnisse des Inneren (Liebe, Charakter) oder eines unentschlüsselbaren Äußeren wie im Einbruch von Gespenstern, Brand, Pest und Krieg. »Gewiß nichts weiter als eine skandalöse Chronik« (HA 6, 142), vermutet die kecke Luise, als der Abbé sein Erzählprogramm entwickelt, wird aber zurechtgewiesen, dass gerade keine chronique scandaleuse aufgeboten sein soll, jene Aufzeichnungsgattung, deren publizistische Konjunktur besonders deutlich auf die frühneuzeitlich einsetzende Differenzierung von Privatsphäre und Öffentlichkeit hinweist. Die Erzählungen gelten in der Charakterisierung des »Alte[n]« den »Empfindungen, wodurch Männer und Frauen verbunden oder entzweiet, glücklich oder unglücklich gemacht, öfter aber verwirrt als aufgeklärt werden« (HA 6, 143), und den dies auslösenden Ereignissen als Elementen von historisch verbürgter chronistischer Referenz. Indem es die Relation von Ereignis und Kausalzusammenhang, von »pragmatischem Kausalsystem und narrativer Kohärenz« erörtert,24 gilt das Rahmengespräch einem Kernproblem der Aufklärungsgeschichtsschreibung. Die Reihe der Erzählungen setzt mit der Antonelli-Geschichte ein, von Goethe gegenüber Schiller als »Gespenstermäßige[ ] Mystifikations Geschichte«25 treffend bezeichnet, und lässt als wichtigsten faktographischen Aspekt des chronikalischen Erzählens dem Gedanken Raum, historische Wahrheit garantierte das Interesse am Berichteten. So antwortet, durch kein Ironiesignal aufgefangen außer den Kontext seiner Distanz zum Erzählten insgesamt, der Abbé der allerersten Frage der mann. Heidelberg 2008 untersucht den literarischen Komplexitätszuwachs, fokussiert aber auf eine Textintention der »poetisch-geselligen Bildungsfähigkeit des Publikums« (S. 237), ohne auf die Brüche und Ironisierungen der Erzählinszenierung genauer einzugehen. 23 »Als die Unterhaltungen erschienen, lag die Eroberung von Mainz schon anderthalb Jahre zurück.« Brüning: Ungleiche Gleichgesinnte, S. 104; vgl. ebd. die Verbindung zu Schillers Verbot der Tagesaktualität in den Horen. 24 Das »Erzählen« als Darstellungsform wurde im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts »vielfach dezidiert abgelehnt«, es sei »nur ein Ereignisbericht«, der die »Kausalzusammenhänge« nicht aufdeckt. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 85. 25 Brief an Schiller, 5. 12. 1794. MA 8.1, 43 f.
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Zuhörerschaft nach Anhörung der Geschichte, »ob sie wahr sei, ob sie auch wahr sein könne«, »sie müsse wahr sein, wenn sie interessant sein solle; denn für eine erfundene Geschichte habe sie wenig Verdienst« (HA 6, 156). Das spiegelt die Eröffnungssequenz der Novelle, deren Erzähler berichtet: »Die einen behaupteten, sie sei völlig ersonnen, die andern, sie sei wahr, aber es stecke ein Betrug dahinter« (HA 6, 146 f.). Zugleich mit der bewährten Authentizitätsbehauptung thematisiert sie vorausdeutend den möglichen anderen »Verdienst« eines nicht an Faktizität orientierten und durch Manipulationsvorwurf nicht korrumpierten Erzählverfahrens. Die erste Position möglicher Antworten auf die Kontingenz von Geschichte ist jene der hermeneutischen Anstrengung, »über die Geschichte zu meinen und zu urteilen« (HA 6, 157). Sogleich folgt mit der die beiden Geschichten verknüpfenden Ankündigung, »daß man sie niemals mit völliger Gewißheit habe erklären können« (HA 6, 157), die zweite Erzählung über das rätselhafte Klopfen. Das folgende Gespräch stellt die Sinnfrage, »läßt sich« das Erzählte doch »auf mehr als eine Weise deuten« (HA 6, 159). Dem plötzlichen Zerknallen der Schreibtischplatte als dem in die Erzählgegenwart eingebrochenen Ereignis rückt die Gesellschaft sogleich mit den avancierten Mitteln aufklärerischer Naturwissenschaft zu Leibe, man misst Luftdruck und Temperatur, man notiert die Minute des Bruchs und benötigte nur mehr ein Hygrometer, als der nächtliche Widerschein des Brandes im verlassenen Gebiet jenseits des Rheins beobachtet wird und ein nun nicht vom Personal erzähltes, sondern als erlebt dargestelltes Gewaltereignis – mithin Stoff des Chronikalischen – die Frage der Bedeutung von Kontingenz sozusagen ›im (erzählten) Leben‹ stellt. Die Ereignishaftigkeit wird sogleich mit der möglichen Zusatzfunktion von Geschichtserzählung belegt, wenn der Erzähler deren Trostfunktion aufgreift, im »Wunsch, seine Schwester zu beruhigen«, und dies mit deutlicher Ironie »nicht entscheiden« will (HA 6, 161). Im zeitgemäßen Paradigma der Sympathie erörtern die Figuren die Möglichkeit, zur gleichen Minute sei das Gegenstück des hier geborstenen Schreibtisches auf dem linksrheinischen Gut der Tante verbrannt. Die erste Bassompiere-Geschichte von der schönen Krämerin als dritte Erzählung rückt von der Auslegungsbedürftigkeit ein wenig weiter ab, sie ist als Anekdote gekennzeichnet und mit der Quelle eines Memoirenwerks beglaubigt, sie werde sich, so Karl als Erzähler, »vielleicht eher erklären und begreifen lasse[n] als die vorigen« (HA 6, 161), was sich freilich nicht bewahrheitet, denn die Gesellschaft kann den Schluss nicht vereindeutigen, wogegen die zweite, äußerst kurze Geschichte vom Schleier darin keine Schwierigkeit bietet und folglich »eher dem Märchen der schönen Melusine und andern dergleichen Feengeschichten« (HA 6, 165) vergleichbar sei. Doch blitzt hier kurz eine andere Tradition von Geschichte und Glaubwürdigkeit auf, indem Friedrich als Analogie zur gehörten Erzählung auf einen »Talisman« verweist, der in der Familie jeweils dem Erstgeborenen als »Kleinod« zukommt
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(HA 6, 166), nämlich die nicht erzählte und damit auslegungsbedürftige, sondern praktizierte Geschichte familialer Generationenfolge, die Goethe hier in knappster Form thematisiert. In der Einleitungspassage zur fünften Erzählung vom Prokurator thematisiert die Baronesse den Darstellungsstil des Erzählens. Eine umständliche Verschachtelung und Verrätselung mache »aus Geschichten, die sich der Einheit des Gedichts nähern sollen, rhapsodische Rätsel« (HA 6, 166). Die vielzitierte folgende Wendung »lassen Sie uns wenigstens an der Form sehen, daß wir in guter Gesellschaft sind« (HA 6, 167) greift auf die Erzählpoetik der Generation Gottscheds und Lessings zurück und fordert die ästhetischen Normen einer gemäßigt belehrenden Darstellung, die das Unterhaltende diesseits des Wunderbaren mit normativer Form und nützlichem Denkimpuls verbinden solle.26 Zu Recht weist der Abbé »diese hohen und strengen Forderungen« (ebd.), denen er nicht genügen könne, mit milder Ironie zurück. Die Baronesse indessen ist mit dem inzwischen gehörten Prokurator sehr einverstanden, sie verleiht ihm mit den Leitbegriffen aufklärerischer Poetik den »Ehrentitel einer moralischen Erzählung« (HA 6, 185), weil diese »zierlich, vernünftig, unterhaltend und unterrichtend« sei (ebd.). Mit der Geschichte Ferdinands bringt die Sammlung ein »einheimische[s] […] Familiengemälde« (HA 6, 187) und verlagert, wie in der Prokuratorerzählung bereits gestaltet, unter Goethes Leitparadigma der Entsagung den Fokus der Narration endgültig von der chronistischen Stofflichkeit Aufsehen oder Furcht erregender Begebnisse in die Innerlichkeit charakterlicher Entwicklung. Die Erzählung versucht demgegenüber, »nur durch eine genaue Darstellung dessen, was in den Gemütern vorging, neu und interessant« zu werden (HA 6, 187 f.). Die Aufklärungsgeschichte über die Differenz zwischen dem innerlichen Aufschwung der tätigen Reue jenseits bloßer Enthaltsamkeit und Kasteiung und dem äußerlichen Aufschwung der ökonomischen Verhältnisse entwickelt anstelle eines Gegensatzes eine Analogie: innere Aufklärung bringt äußeren Wohlstand. Auf den Scheinschluss der Ottilien-Geschichte folgt nach Intervention Luises die Verehelichung mit der redlichen Landbewohnerin, wobei als ironisches Signal des Exemplarischen die Erzählung des Abbé das liebenswerte Mädchen nicht einmal mit einem Eigennamen versieht. Die Wendung, der Held habe dem Berichterstatter, der doch noch eingangs den Akt fiktionalen Erzählens unterstrich (»ein junger Mensch, den ich Ferdinand nennen will«, HA 6, 188), »seine Geschichte selbst erzählt« (HA 6, 207), verwandelt zuletzt in gleicher erzählerischer Ironie die Erzählung aus einem Exempel in eine chronikalische Begebenheit. 26 »Ihre
Geschichte sei unterhaltend, so lange wir sie hören, befriedigend, wenn sie zu Ende ist, und hinterlasse uns einen stillen Reiz, weiter nachzudenken« (HA 6, 167), sie habe »die Aufmerksamkeit […] durch eine vernünftige Folge zu befriedigen« (HA 6, 166).
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Negativ exemplarisch bleibt jedoch nicht die Geschichte Ferdinands, sondern die mit Verwunderung vermerkte »sonderbare Art« (HA 6, 207) väterlicher Erziehung, die Kinder zu Akrobaten des Verzichts zu machen und auf diese Weise das Ideal tugendhafter Verhaltensbändigung durch das Virtuose pädagogischer Dressuren und das Unausgeglichene der dabei waltenden Maximen zu diskreditieren.27 In sehr feiner Weise macht die Baronesse darinnen einen Konflikt ausfindig, der für die Differenz zwischen aufklärerischen Idealen und gesellschaftlicher Umsetzung gelten mag, wenn sie eine vernunftgeleitete Legislatur mit einer umsetzungsstarken Exekutive verbunden wissen will: »[D]enn so komme auch in einem Reiche alles auf die exekutive Gewalt an; die gesetzgebende möge so vernünftig sein, als sie wolle, es helfe dem Staate nichts, wenn die ausführende nicht mächtig sei« (HA 6, 208). Das kann auch als Kommentar der Durchsetzungsschwäche aufgeklärt absolutistischer Positionen in Zentraleuropa gegenüber dem revolutionären Impuls aus Frankreich gelesen werden. Goethe führt auf diese Weise immer weiter weg vom Konkreten des erzählten Anlasses. Zuletzt wirft das Märchen, in diesem Aspekt bewundert bereits von den Zeitgenossen, jeden mimetischen Bezug auf die historische Wirklichkeit ab und erinnert zugleich »an nichts und an alles« (HA 6, 209). Die Einbildungskraft soll nicht das »verarbeiten«, »was wirklich geschehen ist« (HA 6, 208), sondern muss sich »an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen wollen« (HA 6, 209). Innerhalb der Poetik des Erzählrahmens ist dies treffend als Zurücknahme des historischen Denotats formuliert, wenn die so entstehenden Kunstwerke »nur wie eine Musik auf uns selbst spielen« (ebd.), also jegliche Indexik alität ablegen. Befassen sich dagegen die »luftigen Gestalten« der Einbildungskraft mit der »Wahrheit« der historischen Kontingenz (HA 6, 208), dann gebiert die Imagination – sozusagen im Schlaf der Vernunft – Monstren, dann, so Karl, »bringt sie meist nur Ungeheuer hervor und scheint mir alsdann gewöhnlich mit dem Verstand und der Vernunft im Widerspruche zu stehen« (HA 6, 209). Doch muss die Kunst jenseits des Programms stehen, sie muss erlauben, antwortet der alte Geistliche, »daß wir ohne Forderungen genießen«, wird sie doch »von ihren eigenen Flügeln getragen und geführt« und nicht am Gängelband von Abbildung, Wahrheit und Nutzen. Weiter gehende »Anforderungen an ein Produkt der Einbildungskraft« seien zu unterlassen (ebd.). Deutlicher konnte mit der Forderung nach Interesselosigkeit die Abweisung chronikalischer Evidenz in der Kunstperiode nicht formuliert, deutlicher aber auch die Wirkung absolut autonomer Kunst auf die aufgeklärten Menschen nicht postuliert werden.
27 Vgl.
dazu auch Biere: Das andere Erzählen, S. 100–106.
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IV. Die Zweiteilung von Rahmen und Erzählung führt ein narratives Kulissensystem ein, das den Wechsel der Positionen zwischen erzählter Welt und Welt des Erzählens als Konstituens der Darstellung exponiert. Der Übertritt zwischen den Ordnungen der Beobachtungssysteme, zwischen der unmittelbaren Beteiligung und der Erzählung im Modus der zweiten Ordnung,28 vollzieht sich so mühelos wie die Verlagerung der erzählten Verwirrung auf die Verwirrung der Zuhörer. Diese nun darstellungstheoretisch zu untersuchende Wirkung erzielt die Sammlung durch eine Textbewegung zwischen der Beglaubigung des jeweiligen Erzählers und einer mittels Unterbrechung, Abbruch und Entgegnung aufgespannten Ebene der Reflexion.29 Der jeweilige Erzähler betritt die Welt des Erzählten als authentischer Zeuge, als Zuhörer oder als Stellvertreter. »Als ich mich in Neapel aufhielt, begegnete daselbst eine Geschichte«, setzt der Abbé mit der Antonelli-Geschichte ein (HA 6, 146), »[b]ei einem wackern Edelmann, meinem Freunde« der ältere Bruder Fritz (HA 6, 157). Die aus Bassompieres Memoiren erzählte Geschichte der Krämerin beginnt Karl mit dem Ansinnen, »es sei mir erlaubt, in seinem Namen zu reden« (HA 6, 161) und tut dies dann auch in der Ich-Form. Die kurze Geschichte vom Schleier berichtet, was »Bassompierre von einem seiner Vorfahren erzählt« (HA 6, 165). Die Erzählung vom Prokurator konkretisiert die Relation des Erzählers zum Stoff nicht, der hier am deutlichsten mittels »Selbstgespräch« (HA 6, 169) und der Zeugenschaft intimster Dialoge die Fiktionalität seines Berichts signalisiert, jene von Ferdinand wird als »Fall« (HA 6, 188), als exemplarischer casus vorgeführt. Der Erzähler gibt sich hier den Anschein biographischen Wissens, wenn er »mancherlei Szenen, die in seiner Jugend vorfielen«, übergeht und nur eine charakterisierende »Begebenheit« berichtet (ebd.). Er thematisiert damit die Begebenheit als der Novellenform angemessen, wo auch ein Roman zu erzählen wäre. Selbsterlebtes, treuer Bericht des Freundes, niedergeschriebene Augenzeugenberichte und schriftliche Zeugenaussagen aus der glaubhaften Überlieferungstradition rufen jene Grundelemente historiographischer Chronistik ab, deren Revue die Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit von Geschichtsdaten insgesamt thematisiert, 28 Vgl.
Hans-Ulrich Gumbrecht: Historisierung der Beobachtung zweiter Ordnung – eine epistemologische Rahmenerzählung. In: Perla Chinchilla Pawling, Aldo Mazzucchelli u. HansUlrich Gumbrecht (Hrsg.): Beobachtung zweiter Ordnung im historischen Kontext. Niklas Luhmann in Amerika. München 2013, S. 7–22. 29 Mit Walter Benjamins Begriffen Unterbrechen, Abbrechen und Entgegensetzen seien »drei fundamentale formale Bestimmungen der Reflexion aufgerufen, wie sie die klassische deutsche Philosophie im Ausgang von Kant immer wieder und zumeist negativ dem Reflexionsgeschehen angelastet hat.« Jan Urbich: Die Darstellung bei Walter Benjamin. Die »Erkenntniskritische Vorrede« im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Berlin/Boston 2012, S. 1 f.
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und es ist kein Zufall, dass in der Verkleidung des Talismans als ästhetischer Hypotext dieses Fragekomplexes die Ringparabel erscheint. Friedrichs nur angedeutete Erzählung bietet kein blindes Motiv, sondern einen Baustein der Argumentationskette des Umgangs mit Geschichte in der Tradition der Aufklärung, weil Goethe in prägnanter brevitas einen Verweis auf jenes Kleinod anbringt, das der »Mann in Osten« auf ewig »bei seinem Hause zu erhalten« bemüht war:30 »›Und doch hat sich eine solche Tradition‹, versetzte Friedrich, ›und ein ähnlicher Talisman in unserm Hause erhalten‹« (HA 6, 166). Die »Krise von Tradition und Kontinuität« ist nicht nur »Erzählanlass, sondern […] auch […] Erzählgegenstand« der Unterhaltungen.31 Zugleich demonstriert die Intervention Friedrichs den Einsatz von entgegnender Unterbrechung und Abbruch als reflexionsstiftende Elemente auf kleinstem Raum. »Und doch« erwidert er der kurzen Erzählung, um sodann abzutreten: »›Ich habe wohl schon zuviel gesagt,‹ versetzte Friedrich, indem er das Licht anzündete, um sich hinwegzubegeben« (ebd.). Die Prokurator-Erzählung hingegen wird in der darauffolgenden Konversation in ihrer Exempelhaftigkeit als »moralische Erzählung« inszeniert, wobei es dieser Typus nicht auf die res gestae anlegt, sondern eine allgemeine Haltung exemplarisch »zeigt« und »lehrt« (HA 6, 186): »alle gleichen sich dergestalt, daß man immer nur dieselbe zu erzählen scheint« (HA 6, 185). Auch die »Familiengemälde[]« haben die historiographische Schwäche und den ästhetischen Nachteil, dass sie »einander alle so gleich« sehen (HA 6, 187) und nur, wie in der Ferdinand-Geschichte, in der Psychologisierung des Personals als Kontrapunkt der ethischen Norm Interesse erheischen. Zugleich mit dem Weg von der Alltagserzählung des »Gemeinen« zum Märchen verläuft Goethes Narration von der Verwirrung in die Aufklärung, von der Undurchschaubarkeit der Elemente zur Entfaltung ihrer narrativen Stringenz und einer klassischen finalen Auflösung. Die Mimesis des Gesprächs wird zur Einfallspforte poetologischer Reflexion, in der Kulisse des Erzählens spiegeln sich die Zustände der Figuren, im Personal die Elemente der narrativen Gattung. Was Gerhard Neumann im Zusammenhang von Goethes Farbenlehre entfaltet hat, trifft exakt das Verfahren der Unterhaltungen: Im Zusammenhang von Goethes Kulturpoetik erscheinen sie »als ein Organon, in dem Faktum und Theorie sich im Gebilde selbst zeigen«.32 30 Gotthold
Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Ders.: Werke und Briefe. 12 Bde. Bd. 9. Frankfurt a. M. 1993, S. 483–627, hier: 555 f. 31 Cornelia Zumbusch: Poetische Immunität in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Goethe-Jahrbuch 125 (2008), S. 28–37, hier: 33. 32 Gerhard Neumann: Naturwissenschaft und Geschichte als Literatur. Zu Goethes kulturpoetischem Projekt. In: Modern Language Notes 114 (1999), S. 471–502, hier: 482. – Vgl. zum Schreibprogramm der Weimarer Klassik ders.: Die Anfänge deutscher Novellistik. Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre – Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Wilfried Barner, Eberhart Lämmert u. Norbert Oellers (Hrsg.): Unser commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984, S. 433–460.
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V. Das neue Zeitempfinden nach dem epochalen Bruch von 1789 wächst im Gleichklang mit der Entwicklung der Medienlandschaft. Um 1800 herrscht mit den zahlreichen Almanachen, Damenkalendern oder Quartalszeitschriften ein Boom zeitmessender und zeitstrukturierender Periodika. »Damit wurde der Literaturbetrieb selbst zu einem nennenswerten, in Teilen sogar maßgeblichen Akteur der Beförderung einer Lebensordnung nach dem Kalender.«33 Das musste sich auf die Erzählordnung faktionaler Wirklichkeit auswirken, die potentiell durch chronistisches Schreiben darstellbar wäre, aber ins Beispielhafte ausgreifen muss. Ein Rezensent hielt bereits 1796 fest, dass der vermeintlich serielle und additive Erzählreigen der Unterhaltungen eine zielgerichtete Komposition und ihre Umsetzung ein ästhetisches Experiment sei: »Die Sprache, die in den verschiedenen Abteilungen der ›Unterhaltungen‹ einen absichtlich vorgezeichneten Kreis zu durchlaufen scheint und im erzählenden Vortrage Muster verschiedener Art aufstellt, scheint in diesem Aufsatze die höchste Höhe des edeleinfachen prosaischen Ausdrucks erreicht zu haben.«34 Man hat im Erzählzyklus von mehreren Punkten aus beobachtet, wie die Sinneseindrücke sich vom Auditiven zum Visuellen entwickeln35 und was es mit der Verschiebung der »inhaltlichen und funktionalen Stoßrichtungen« des Erzählens zu einem »neuen Begründungszusammenhang« der Novellengattung auf sich hat.36 Dabei ist im Hintergrund geblieben, wie das Muster von Rahmen und Binnenerzählungen, deren Siebenzahl an die magischen Zahlen der großen Novellenzyklen erinnert, allein schon durch die Erscheinungsweise des Textes seine vermeintlich ausgewogene Proportion an eine wachsende Dynamik verliert, und zwar dank deren intertextueller und medienhistorischer Dimension.37 Einerseits simuliert die Erscheinungsweise das klassische Gattungsmuster zyklischen Erzählens: »Ins zweite Stück hoffe ich die Erzählung zu bringen, über33 Alexander
Honold: Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel 2013, S. 19. 34 Johann Friedrich Reichardt: Rezension des Horen-Jahrgangs 1796. In: HA 6, 608. 35 Vgl. Heather I. Sullivan: Ecocriticism, Goethe’s Optics and Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Emergent Forms versus Newtonian »Constructions«. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 101 (2009), S. 151–169, der die Spannung der Erzählsituation übergeht, um sich vielmehr Goethes Newton-Kritik zuzuwenden. 36 Lubkoll: Fingierte Mündlichkeit, S. 396 f. 37 Nicht breit rezipiert wurde die medientheoretische Untersuchung der Novellistik durch Reinhart Meyer: Novelle und Journal. Band 1. Titel und Normen. Untersuchungen zur Terminologie der Journalprosa, zu ihren Tendenzen, Verhältnissen und Bedingungen. Stuttgart 1987. Im Teil über die Autoren durch D’Aprile überholt (vgl. oben Anm. 8), zur Begriffs- und Gattungsgeschichte durch die neuere Forschung insgesamt, bietet die Darstellung dennoch belangreiche Beobachtungen zum Publikationskontext (Kap. »Die Bindung der Prosa-Erzählung an das Journal«, S. 51–104).
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haupt gedenke ich aber wie die Erzählerin in der Tausend und Einen Nacht zu verfahren«.38 Im Kontext des dem Horen-Herausgeber vorgelegten Rechenschaftsberichts verweist das auf den jeweils situations- und termingebundenen Erzählzwang, auf das durchaus freie Gattungskonzept der Erzählungen und auf den jeweiligen cliffhanger 39 beim Anbruch des Morgengrauens, welcher der Erzählerin Scheherazade (Schahrasad) ihr Überleben garantiert: »Wir werden uns denn schon bis morgen gedulden müssen« (HA 6, 146), endigt der erste Publikationsteil, Goethes Einleitung, unter Nachbildung dieser Erzählsituation. Andererseits führen die separierbaren Publikationseinheiten als eigentlicher Rezeptionszusammenhang des Lesepublikums zu neuen Wirkungsakzenten. Das Moment reflexiver Diskontinuität funktioniert auch auf der Ebene der Publikation, indem die periodische Erscheinungsweise ihrerseits ein System von Unterbrechung, Abbruch und Gegensatz bildet. Die Veröffentlichung in den Horen erfolgte in insgesamt sechs Teilen von viermal je 26–28 Druckseiten, d. i. eineinhalb bis knapp zwei Druckbögen, einer kurzen (7 S.) Veröffentlichung im neunten Stück der Horen und dem Märchen im zehnten Stück auf 43 Druckseiten (kaum über zweieinhalb Bögen). Die längliche, Schillers Herausgebergeduld nicht entgegenkommende Exposition im ersten Stück (Teil 1) bietet noch keine Binnengeschichte und lenkt damit das Augenmerk ausschließlich auf die (damit als zentral markierten) Verhandlungen des Erzählrahmens. Erst im zweiten Stück wird das Erzählen erzählt (Teil 2). »Abends nach Tische« setzt mit Goethe diese Ausgabe der Horen ein (HA 6, 146), einer kurzen Einleitung folgen die ersten vier Geschichten über die Geistererscheinungen und aus Bassompiere. Die Erzählsituation endet nachts, und ohne sein Rätsel mit dem Kleinod aufzuklären, verstummt Friedrich. Thematisch gilt diese Fortsetzung den ›klassischen‹ novellistischen Erzählstoffen rätselhafter Überraschung und erotischer Verwicklung innerhalb eines ›klassischen‹ Erzählrahmens abend licher Unterhaltung. Die zweite Fortsetzung (Teil 3) in der vierten Horen-Nummer bietet mit dem Prokurator die längste Erzählung des Zyklus, eingeleitet mit einer kurzen Erzählreflexion, in welcher die Baronesse nicht das Verfahren, aber die Verquickung der Erzählungen nach der »Weise der ›Tausendundeinen Nacht‹« (HA 6, 166) tadelt. Plausibel hat die jüngere Forschung auf die gestaltete »Deutungsgewalt«40 des poe-
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an Schiller, 2. 12. 1794 (MA 4.1, 1056). weitem und detailreichen Blick auf audiovisuelle Serien erarbeitet eine Typologie des cliffhangers, auch für 1001 Nacht und die Fortsetzungsromane des 19. Jahrhunderts, Vincent Fröhlich: Der Cliffhanger und die serielle Narration. Analyse einer transmedialen Erzähltechnik. Bielefeld 2015. 40 Christoph Kleinschmidt: Deutungsgewalt. Normen des Erzählens und Interpretierens in 39 Mit
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tologischen »Domestizierungsprogramm[s] der Baronesse«41 hingewiesen. Die Erwiderung unternimmt der Abbé mit seiner Erzählung, deren Ende mit dem Ende des publizierten Abschnitts zusammenfällt, was nun ein Gegenprogramm zur traditionellen Erzählinszenierung novellistischer Geschichten aufspannt. Eine Erörterung des Gehörten unterbleibt in dieser dritten Publikationseinheit, wird aber im siebten Stück der Horen (Teil 4) sogleich aufgegriffen – hier also der direkte Anschluss der Fortsetzung ohne jeglichen Zeitsprung! Wiederum folgt einer programmatischen Reflexion die Binnenerzählung von der Charakterentwicklung Ferdinands, auch hier bricht in der Publikationseinheit die Fortsetzung zusammen mit der erzählten Geschichte ab, mit einer Prolepse, von der wir ahnen, dass sie keine ist: »die Aussicht, seinen Sohn ohne Kosten ausstatten zu können, war ihm sehr angenehm« (HA 6, 204). Die sehr kurze Fortsetzung in der neunten Horen-Nummer (Teil 5) setzt unmittelbar mit dem Gespräch der Zuhörerschaft über Ferdinand ein, wobei der alte Geistliche jetzt gegenüber der »Entwicklung« der Hauptgeschichte nun ihr »Ende« nachzutragen hat (HA 6, 204), das den Entsagungsgedanken ein zweites Mal exemplifiziert (aber Ferdinands Erziehungsverhalten zuletzt doch als bedenklich kommentiert). Zugleich wird in der Rahmenerzählung der thematische Strang der Kriegswirklichkeit abgeschlossen, da Friedrich mit Nachrichten über das Wohlbefinden von Luisens Bräutigam und über den Zwillingsschreibtisch zurückkehrt, zugleich aber auch in sehr kurzer Vorausdeutung auf das Märchen hingearbeitet, den letzten Teil der Publikation, der sich dann im folgenden zehnten Stück der Horen (Teil 6) aus dem Erzählrahmen vollständig gelöst hat: Nur mehr paratextuelle Hinweise, etwa die Überschrift »Mährchen (zur Fortsezung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.)«,42 stellen den Anschluss her – oder vielmehr, wenn denn eine Fortsetzung ein neues Werk ist, akzentuieren sie gerade die Trennung. Das Inhaltsverzeichnis dieser Horen-Ausgabe benennt ohne Autornamen oder Hinweis auf die Unterhaltungen nur mehr das »Mährchen«. Der cliffhanger dazwischen war die Vorausdeutung des Geistlichen: »Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Märchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen« (HA 6, 209). Und hier, in der Tat, sind die Verbindungen zu chronistischem Erzählen und Exemplarizität nicht direkt gekappt, es ist vielmehr ihre Metamorphose in Erzählkunst demonstriert, die Verbindung unter den Menschen über den trennenden Fluss hinweg, die Wandlungsfähigkeit von Situationen und Geschichten. Nichts und alles, Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Moritz Baßler u. a. (Hrsg.): (Be-)richten und erzählen. Literatur als gewaltfreier Diskurs? München 2011, S. 97–107. 41 Biere: Das andere Erzählen, S. 191. 42 Johann Wolfgang von Goethe: Märchen. (Zur Fortsetzung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.). In: Die Horen. Eine Monatsschrift herausgegeben von Schiller 4, 10 (1795), S. 108–152.
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damit endet die zwölfte Nummer der Horen in einer »Demonstration von poetischer Überstrukturierung in der Erzählung selbst«, die den Text »von allen […] diskursiven Einbettungen abstrahiert«,43 ausbegleitet nur mehr von einem Herderschen Distichon, das sich wie eine positive Kommentierung der Emanzipation autonomer Narration aus den Voraussetzungen des aufklärenden Jahrhunderts liest. Herder allegorisiert jene Meeresnymphe, die den schiffbrüchigen Odysseus mittels ihres Schleiers rettet (Odyssee V, 333–463), als Bild der Überwindung des Überkommenen, sobald das Neue erreicht ist: Leukotheas Binde Lerne die Lehren der Schule; doch, gleich der Leukothea Binde,
Bist du am Ufer, so wirf sie in die Wellen zurück.44
Die Einrede, die der Publikationskontext den Einzelstücken der Unterhaltungen in den Horen entgegensetzt, unterstreicht die Reflexivität von Goethes Gestaltung. Die Erscheinungsweise bettet die Gattung gestaltend in ein Kommunikationssystem, das als Hauptgefäß der novellistischen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts fungieren wird, das Publikationsregime der Journale und Periodika. Die Periodizität, wie Leseforschung und Lesegeschichte des späten 18. Jahrhunderts mit seiner »Lese revolution« erweisen, ist der Garant für Neuigkeit, für deren Erwartbarkeit und für deren reizvolle Rezeption. Bereits der allererste Beitrag der Horen, Goethes Epis tel, antwortet mit der fiktiven Erzählerstimme eines Geldschreibers, »offenbar ein Journalschreiber«,45 auf die Differenzierung des literarischen und publizistischen Markts. Das als Lektüre aufbereitete, jedoch als mündlich vorgefallen inszenierte Erzählen der Gattung Novelle borgt die Neuigkeit vom Umkreis ihres primären Vehikels, der Zeitung und Zeitschrift, und richtet sie literarisch zu. Während die Aufwertung der reflektierenden Rahmenerzählung die »Kunsthaftigkeit« von Goethes Zyklus garantiert, schmiegt sich seine »Gerüsthaftigkeit«, die »Strukturierung der erzählten Handlung durch interne Äquivalenzen«,46 eng an die Publikationsbedingungen an. Insofern konnte bereits mit Goethe die Novelle eine außerordentlich moderne Gattung auf der Höhe medialer Möglichkeiten werden. Im Medium des Drucks erscheint als Präsenzeffekt das Mediensystem der Oralität. Die Novelle 43 Michler:
Kulturen der Gattung, S. 354. Gottfried Herder: Volkslieder – Übertragungen – Dichtungen. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Ulrich Gaier. 10 Bde. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1990, S. 769. 45 Brüning: Ungleiche Gleichgesinnte, S. 96; dort S. 89–97 auch die Einbettung dieser Sprechmaske (Goethe an Schiller, 1. 10. 1794) in den Diskurs um die Lesesucht. 46 »Wenn die ›Gerüsthaftigkeit‹ des Erzählens Indiz für ›Kunsthaftigkeit‹ ist, d. h. die Integration der Prosaerzählung ins entstehende Kunstsystem der Gattungen (wo sie dann ›Novelle‹ heißt), dann ist verständlich, dass mit dieser Integration die Suche nach Strukturtypen für die Erzählung verbunden war.« Michler: Kulturen der Gattung, S. 352 f.; hier auch zum komplementären Verhältnis zwischen der »Gerüsthaftigkeit« der Novelle und ihrer »Kunsthaftigkeit«. 44 Johann
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als Simulation von Mündlichkeit und Gespräch ist demnach eine jener »quasi ursprünglichen ästhetischen Repräsentationen«, die ästhetische Präsenz und philosophische Reflexion unter dem medialen Bedingungsrahmen eines expandierenden Zeitschriftenwesens miteinander in Einklang bringen.47
VI. Wenn sich nach der Beobachtung Walter Benjamins das Trauerspiel des Sturm und Drang »als Emanzipation vom willkürlich beschränkten Kreis der Chronik« beschreiben lässt,48 dann überträgt Goethe eine allgemeinere Entwicklung auf die Novelle und bildet sie als poetologische Entwicklung innerhalb der Unterhaltungen ab. Was der Chronik zufiel, nämlich Kontingenz verzeichnend zu bändigen, ist jetzt der Kunstinszenierung vorbehalten, während ein neuer politischer Zeitschriftentyp die Annalistik beerbt.49 Der damit angedeutete Paradigmenwechsel führt über die mediale Situation hinaus in die Neuorganisation des Wissens um 1800. Wenn die Novelle programmatisch die tatsächlich vorgefallene ›unerhörte Begebenheit‹ aufgreift, dann ist die aristotelische Formel, wonach sich die Dichtung aufs Allgemeine und Wahrscheinliche richtet und die Geschichtsschreibung auf das Einzelne, Besondere und wahrhaft Geschehene, exakt umgekehrt.50 In der hier verfolgten Anti 47 »Im
Begriff der Darstellung im 18. Jh. erfolgt […] der Versuch, beide Bewegungen (Präsenz – Reflexion) in der einheitlichen Präsenz einer quasi ursprünglichen ästhetischen Repräsentation zusammen zu binden«. Urbich: Die Darstellung bei Walter Benjamin, S. 448. 48 »Das unsichre Verhältnis zum geschichtlichen Stoff ist von dieser Problematik der deutlichsten Ansichten eine. Die Freiheit seiner Interpretation wird stets der tendenziösen Genauigkeit tragischer Mythenerneuerung um vieles nachgeben; und andererseits wird diese Art des Dramas im Gegensatz zur rein chronistischen Fixierung an die Quellen, die das barocke Trauerspiel erleidet und die mit dichterischer Bildung wohl vereinbar ist, gefährlich an das ›Wesen‹ der Geschichte selber sich gebunden wissen. Dagegen ist im Grunde gänzliche Freiheit der Fabel dem Trauerspiele gemäß. Die hochbedeutende Entwicklung dieser Form im Sturm und Drang läßt sich, wenn man so will, als Selbsterfahrung der in ihr ruhenden Potenzen und als Emanzipation vom willkürlich beschränkten Kreis der Chronik fassen.« Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. 4 Bde. Bd. 1.1. Frankfurt a. M. 1991, S. 203–430, hier: 299 f. 49 Schiller hatte im Mai 1794 für Cotta zwei Herausgeberverträge unterzeichnet, einen für die später von Ernst Ludwig Posselt herausgegebenen Europäischen Annalen, den zweiten für die Horen. was die journalistische Marktsituation zwischen literarischer und politischer Zeitschrift geradezu personalisiert. Vgl. D’Aprile: Verflochtene Sattelzeitgeschichten, S. 182. 50 Vgl. Rüdiger Campe: Wahrscheinliche Geschichte – poetologische Kategorie und mathematische Funktion. Zum Beispiel der Statistik in Kants Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in Weltbürgerlicher Absicht. In: Joseph Vogl (Hrsg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 209–230. – Zumbusch: Poetische Immunität, S. 31, Anm. 12 zitiert Campe mit dem Hinweis, er habe »den neuartigen Zuschnitt der Novelle als Erzählung des tatsächlich geschehenen Einzelnen auf die Umstellung der aristotelischen Differenzformel bezogen, mit der sich die
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these wird der Gegenstand der Chronistik, das Besondere des aufzuzeichnenden Ereignisses, zum Gattungskriterium der Novelle. Die zweite in Goethes Unterhaltungen ästhetisch dokumentierte Entwicklung scheint ebenso weitreichend, nämlich die Befreiung des chronikalischen Schreibens aus der historiographischen Schreibregel. Wie exakt Goethe seine Auffassung des Chronistischen mit der professionellen Historiographie teilt, zeigt sich am Widerschein seiner Wendung von der »Beschränktheit« des Chronisten in der Formulierung Droysens, der den Stadtchronisten den Vorteil konzediert, »in dem Interessenskreis ihrer Stadt einen geschlossenen Horizont und einen einseitigen Standpunkt in demselben zu haben.«51 Für die Historiographie jedoch ist chronikalisches Schreiben verloren, denn war es für Leopold von Ranke noch ein historiographischer Gestaltungsversuch unter sentimentalischen Vorzeichen, so schloss Droysen dies aus der Historiographie aus, und wie sich zeigen sollte, für die gesamte Geltungsdauer des historistischen Darstellungsparadigmas. Das aber gewinnt der Literatur mit dem chronikalischen Erzählen eine neue Darstellungsform, die von Kleists Michael Kohlhaas »Aus einer alten Chronik« über Brentano, Fontane, Storm und Raabe bis ins 20. Jahrhundert sich fortentwickelt.52 Goethes Unterhaltungen, aber insgesamt seine novellistischen Arbeiten auch im Bereich des Kalenders können als bedeutender Drehpunkt dieser neuen Medialisierung und Literarisierung eines historischen Aufzeichnungsdispositivs verstanden werden.
vormals aufs Allgemeine und Wahrscheinliche gerichtete Dichtung nun auf das eigentlich der Geschichtsschreibung zugewiesene Besondere und Wahre verlegt.« 51 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über die Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. v. Rudolf Hübner. München 31958, S. 79. – Leopold von Ranke stellt der »idealen Historie« die »Chronik« als Darstellungsform gegenüber, die »bloß das Gemeine« erfasse: »Dem Tatsächlichen allein eignet demnach nur eine geringe Dignität; wie für Schelling ist es für Ranke hingegen die Kunst bzw. Poesie, welche ihm Idealität zu verleihen in der Lage ist.« Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 328. 52 Zum Einsatz des Titelwortes im Kohlhaas meint Johannes Süßmann, Kleist konstruiere damit den »Schein des Historischen« (Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 187). Vgl. zu diesem aufklärungsbedürftigen Themenkomplex der Errichtung von Erwartungshorizonten und Gattungszuschreibungen oben Anm. 1.
Fritz Breithaupt
Narrative der Vulnerabilität Die Märchen der Brüder Grimm als serielle Reproduktion In historischer Hinsicht fragt dieser Beitrag, warum gerade das Märchen zu einer Kerngattung der Aufklärung werden kann und findet die Antwort im Narrativ der Verwundbarkeit. Im Volksmärchen wird die Verwundbarkeit des Menschen als Quelle von Narrativierbarkeit freigesetzt. In struktureller oder narratologischer Hinsicht schlägt der Beitrag vor, die Gattung der Grimm’schen Volksmärchen als eine doppelte Form mit zwei Erzählsträngen zu beschreiben, die sich aber durch ein beide Stränge abschließendes und insofern übercodiertes Ende auszeichnet. Der erste Erzählstrang ist derjenige von Verwundbarkeit, großer Gefahr und Rettung; der zweite besteht in den Tests und der Belohnung derjenigen, die es verdient haben. Das beide narrativen Stränge abschließende Ende hat den Effekt, die Verwundbarkeit selbst mit zu belohnen. Die Formel des Märchens, so die These, besteht mithin darin, den Zustand der Verwundbarkeit und Affizierbarkeit zu erhöhen und zum Wert zu erheben. Die Ideologie der Aufklärung, dass der gute Mensch der veränderbare Mensch ist, findet im Märchen seine narrative Bestätigung. Abschließend werden wir erwägen, wie die Erzählbarkeit des Märchens seine Form geprägt hat und inwiefern die Aufklärung im Volksmärchen das Erzählen selbst als Form begreift. Genauer: Es wird argumentiert, dass die Erzählung der Verwundbarkeit durch Prozesse der wiederholten Nacherzählung narrativ optimiert wurde und überhaupt in narrativer Hinsicht hochgradig optimal ist.
1. Übersicht und Fragen Die Epoche der Aufklärung hat zweifellos eine Vielzahl von literarischen Gattungen und darüber hinaus Kommunikationsformen geprägt, doch dabei wird regelmäßig das Volksmärchen vernachlässigt. Volksmärchen werden oft leichthin entweder mit den Brüdern Grimm der Romantik zugeschlagen oder aber einer viel früheren mündlichen Tradition zugeordnet. Insofern scheint es erstaunlich, dass das erste deutsche aufgezeichnete Volksmärchen, so Manfred Grätz,1 das keine direkte Nacherzählung etwa von Perrault oder der 1001 Märchen ist oder unter dem Begriff des Märchen Satirisches oder Erotisches vermarket, just 1777 erscheint und zwar 1 Vgl. Manfred Grätz: Das Märchen in der deutschen Aufklärung. Stuttgart 1988, S. 153–187.
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Prospekte · Fritz Breithaupt
ausgerechnet innerhalb einer anderen neugeordneten aufklärerischen Form, dem Prototyp des autobiographischen Bildungsromans, nämlich dem von Goethe he rausgegeben Werk, Heinrich Stillings Jugend. Eben dort erscheint eingebettet Jorinde und Joringel als Geschichte, die der junge Heinrich hörte und die ihm unheimlich war. Die Grimms übernehmen die Geschichte schlicht. Manfred Grätz stellt die ketzerische Behauptung auf, dass Volksmärchen in der aufgeklärten Mittelschicht keineswegs verbreitet waren. Er vermutet, dass eine Vielzahl von Autoren der Aufklärung zunächst keine kannte, sich dann aber mit um so größerem Interesse auf die Jagd nach Märchen machte. Das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts ist dann die Zeit, in der intensiv über Volksmärchen nachgedacht wurde (man denke nur an Schummel, Bertuch, Campe, Musäus, Herder und Wieland). Doch im Folgenden sollen die Märchen-Texte selbst im Vordergrund stehen und nicht ihre intellektuelle Rezeption und Aufwertung. Die zentrale Frage soll dabei sein, inwiefern das Erzählen im Märchen konzipiert ist und warum diese Konzeption auf die Aufmerksamkeit der Aufklärer stößt. Drei allgemeine Fragen motivieren die Untersuchung: 1. Das Märchen gerät eben dort in den Blick, wo mit dem Kind und der Erziehung eben die Veränderbarkeit des Menschen und die Bildung zum Fokus werden. Das Märchen und der Bildungsroman haben in der Druckgeschichte durchaus eine gewisse Parallelität, angefangen etwa mit Jung-Stillings Autobiographie. Was also ist das Verhältnis von Märchen und Bildung? Kann man den Weg des Protagonisten als Bildung bezeichnen? Wenn ja, inwiefern; wenn nein, worin besteht der Entwicklungsschritt vom Anfang zum Ende des Märchens? 2. Mit dem Kindheits- und Erziehungsdiskurs der Aufklärung gerät nicht nur die Veränderbarkeit des Menschen im Allgemeinen, sondern die Affizierbarkeit im Besonderen in den Blickpunkt. Aus dieser Konstellation ist das Paradigma der Trauma-Narration hervorgegangen, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts prägend für die Darstellung von fiktiven und realen Personen wurde. Die Annahme ist, dass besonders starke Eindrücke vor allem negativer Art, einen Menschen derart prägen, färben, konturieren, Gestalt geben oder einengen (um nur einige der historischen Metaphern der Zeit bis 1800 zu verwenden), dass er oder sie später in seinem Verhalten immer noch auf diese starke Prägung zu reagieren scheint und entsprechend in seinen oder ihren Verhaltensweisen eingeschränkt ist. Dem modernen Blick nun stellen sich die Ereignisse in den Märchen häufig als traumatisch im engeren Sinne des Freud’schen Wiederholungszwangs dar; die Märchen werden dann als eine Art Trauma-Therapie erkannt. Lässt sich aber eben diese Ein- und Zuordnung des Märchens begründen? Anders gefragt, wie verhalten die Märchen sich zu diesem Trauma-Diskurs, der zeitgleich um 1780 einsetzt.
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3. Von hier aus stellt die Frage der Erzählbarkeit und wiederholten Nacherzählung. Wenn es stimmt, dass die Märchen über viele Generationen mündlich überliefert wurden, dann sollte dieses wiederholte Erzählen die Form der Märchen entscheidend geprägt haben. In der experimentellen Psychologie wird das Verfahren der seriellen Reproduktion (geprägt von Frederic Bartlett 2) dazu verwendet, die optimale oder stereotypische Form eines Artefakts zu gewinnen. Die Frage ist, ob die Märchen wurden, was wie sie sind, weil sie so oft erzählt und nacherzählt wurden. Anders gefragt: Inwiefern sind die Märchen mittels ihrer Erzählbarkeit optimiert worden und geben insofern Hinweise zu optimaler Erzählbarkeit? Diese Fragen werden im Einzelnen zwar nicht systematisch abgehandelt, erlauben aber die schrittweise Annäherung an einige zentrale begriffliche Institutionalisierungen der Aufklärung sowie die prinzipielle Frage, was Erzählbarkeit bedeutet.
2. Von Entwicklung und Bildung zu Affizierbarkeit und Trauma Einer der beiden großen Erzählstränge im Märchen besteht in der radikalen Verwundbarkeit der Protagonisten. Vielleicht ist dies das Merkmal des Märchens schlechthin; zumindest in narrativer Hinsicht trifft das zu. Bevor die narrative Form dieses Erzählstranges in den Blick genommen werden soll, hilft es, die historische Konstellation der Affizierbarkeit zu betrachten. Der große Einsatz der Aufklärung als ganzer besteht in der Aufwertung der Erziehung und Bildung. Der Mensch wird als veränderbar erkannt. Weil er veränderbar ist, sind die ererbten Adelsverhältnisse und damit die unterschiedlichen Startbedingungen der Menschen grundsätzlich suspekt. Mithin wird das Projekt der Aufklärung möglich und zugleich gefordert. Für diese Wandelbarkeit werden eine Reihe von verschiedenen Metaphoriken in Anschlag gebracht. Dazu gehört prominent der ›Keim‹ des ›Bildungstriebs‹, der die Biologie (Blumenbach) mit der philosophisch-literarischen Aufklärung verbindet. Johann Bernhard Basedow artikuliert dies einmal so: Wenn ein Kind bey dem, was zur Religion gehört, lesen, schreiben und memoriren lernt, und oft für Nachlässigkeit oder Zerstreuung gezüchtigt wird; so hat man den Samen eines künftigen Widerwillens gegen solche Worte und Sätze in den Gemüthern ausgestreuet. Dieser Saame wächst auf […].3 2 Vgl.
1932.
Frederic C. Bartlett: Remembering. An Experimental and Social Study. Cambridge
3 Johann
Bernhard Basedow: Methodischer Unterricht der Jugend in der Religion und Sittenlehre der Vernunft nach dem in der Philalethie angegebenen Plane. Altona 1764, S. VIII.
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Prospekte · Fritz Breithaupt
Der Pädagoge produziert mithin unbeabsichtigt Keime die lange nach der pädagogischen Handlung nachwirken. Dieses nicht-gewollte, unbeobachtete und nichtbewusste Nachwirken ist Gegenstand auch einer anderen Metaphorik, nämlich derjenigen der Prägung. Diese kommt vor allem in der kind-zentrierten Pädagogik in Nachfolge von Rousseaus Emile ou de L’Education in den Schriften von Basedow, Tiedemann, Salzmann, Campe, Pestalozzi und ihren Weggefährten zum Tragen.4 Joachim Heinrich Campe formuliert 1787: Wen ihr, gute Mütter, euch die junge Seele eures neugebohrnen Kindes, als ein ungemein weiches, jeden auch noch so leisen Eindruk willig annehmendes Wachsklümpchen vorstellt: so seyd ihr […] auf dem Wege, euch eine ziemlich richtige bildliche Vorstellung von ihr zu machen. […] so zeichnet die Seele vor allen andern bekannten Dingen in der Welt sich vornehmlich dadurch aus, daß die Eindrücke, welche sie einmahl angenommen hat, zwar wohl durch andere darauf folgende Eindrücke abgeändert, aber durch nichts in der Welt jemahls ganz wieder ausgeglättet oder zernichtet werden können; […] Setzt demnach, es gebe gewisse Farben von unendlicher Mannigfaltigkeit, welche, einmahl aufgetragen, durch nichts in der Welt völlig wieder ausgelöscht, ausgekratzt, oder dergestalt übertüncht werden könnten, daß nicht noch etwas von ihnen immer von neuem wieder hervorschimmerte. Bildet euch ferner ein, daß alle sinnliche Gegenstände in der Welt […] mit einem, in solche Farben getauchten Pinsel ausgerüstet wären, um jede, ihnen nahe genug kommende Sache ohne Unterlaß damit zu bestreichen. Setzt endlich eine weisse Tafel mitten unter diese mit Pinseln versehenen Gegenstände, und gebt acht, was wohl daraus erfolgen würde? […] Jeder sinnliche Gegenstand, welcher eurem Kinde nahe genug ist, um auf die Empfindungswerkzeuge desselben einen Eindruk machen zu können, erwekt ein Bild, eine Vorstellung in seiner Seele. Dieses Bild ist nun zwar vorübergehend, wird zwar von andern Bildern und Vorstellungen aus dem dunklen Bewußtseyn des Kindes alsobald wieder verdrängt; aber wähnet nicht, dass es für die kleine Seele um deshalb wieder ganz verloren gegangen, oder ohne alle Folgen für sie geblieben sey.5
Campe zeichnet hier also nicht das Bild eines starken und autonomen Menschen, sondern eines Menschen, der durch seine Affizierbarkeit und Wandelbarkeit gekennzeichnet ist. Man kann dies wie folgt zusammenfassen: 1) Identität wird erworben und ist nicht schlicht gegeben. 2) Dieses Erwerben von Identität geschieht im 4 Zur Entdeckung der Kindheit im achtzehnten Jahrhundert, vgl. die grundlegende, wenn auch viel kritisierte Studie von Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit [1960]. Übers. v. Caroline Neubaur u. Karin Kersten. München 1975. Vgl. Anthony Krupp: Reason’s Children. Childhood in Early Modern Philosophy. Lewisburg 2009; Carolyn Steedman: Strange Dislocations. Childhood and the Idea of Human Interiority, 1780–1930. Cambridge 1995. 5 Joachim Heinrich Campe: Über die früheste Bildung junger Kinderseelen. Hrsg. v. Brigitte H. E. Niestroj. Frankfurt/Berlin 1985, S. 81 f.
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Kontakt mit der äußeren Welt. 3) Der Prozess des Kontakts mit der äußeren Welt geschieht mittels von Beobachtung und Wahrnehmung. Diese sind eher passiv als aktiv (die Objekte bemalen die Seele). 4) Weil Wahrnehmung die treibende Kraft ist, verändert sich die Identität fortwährend. Auch die Figur, die Campe als Ziel der Erziehung setzt, verändert fortwährend ihre Form und Oberfläche und kann durch einen einzigen Stoß zerstört werden. 5) Identität ist einzigartig, keine zwei Individuen sind gleich. 6) Identität ist kumulativ, nichts geht verloren, selbst wenn es von einer Schicht von Farbe bedeckt wird.6 In dieser Wachsklumpen-Pädagogik wird Identität erst im Kontakt mit der Außenwelt gewonnen. Ohne diesen Kontakt wäre das Individuum nichts als unbeschriebenes Wachs. Zugleich ist darin angelegt, dass jeder Eindruck von der äuße ren Welt das Potential hat, das Individuum zu zerstören. Anders als später bei Freud werden die früheren Eindrücke der Kindheit zumindest in dieser Metaphorik übertüncht und werden im Verlauf des Lebens später wohl keine große Rolle mehr spielen, auch wenn sie nie ganz verschwinden. Es ist sicher nicht falsch, hier von der Beschreibung proto-traumatischer Prägungen zu sprechen. Zwar wird der Wiederholungszwang als Struktur von Handlungen erst in der deutschen Romantik hinzugedacht, doch die Struktur der gewaltsamen Kennzeichnung von außen bereitet die Spuren vor, die Charakteren ihre Identität geben und ihnen Handlungsmuster aufdrängen. Von hier aus gibt es eine Entwicklungslinie, die über Karl Philipp Moritz zu E. T. A. Hoffmann und Freud führt und Trauma als Gefängnis des Individuums deutet.7 Es muss hier wohl nicht darauf hingewiesen werden, dass das Trauma-Narrativ eines der wichtigsten der letzten hundert Jahre wurde. Es gibt kaum einen Hollywood-Film, der nicht die Wahrheit eines Charakters in dessen Vergangenheit verortet. Im Detektivroman wird das Wesen des Täters regelmäßig über die frühen Einflüsse und Prägungen des Täters erklärt. Das kulturelle Paradigma dieses Modells geht über Fiktion hinaus. Wenn Menschen einander näher kennenlernen, gehört es inzwischen zum Teil des Rituals, dass man sich von seiner Jugend erzählt. Die implizite Annahme dahinter scheint zu sein, dass nichts erklärt soviel über einen 6 Diese
Spezifikationen haben weitreichende Konsequenzen für die moderne kind-zentrierte Pädagogik Campes, Basedows und Pestalozzis. Eine Konsequenz besteht darin, dass es am besten sei, Kinder weitgehend ohne Führung zu erziehen, denn jeder Versuch der Führung wird sich dem Kind vor allem als Kraft oder Gewalt von außen eindrücken. Eine weitere Konsequenz der Wachsklumpen-Pädagogik besteht darin, dass jede Kraft, die auf das Kind einwirkt, auch ungewollte Konsequenzen hat. Im Bild gesprochen: Aus jeder Beule auf der einen Seite des Wachshaufens resultieren Beulen auf der anderen Seite; vgl. hierzu Johann Heinrich Pestalozzi: Tagebuch Pestalozzis über die Erziehung seines Sohnes. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Gertrude Cepl-Kaufmann u. Manfred Windfuhr. 2 Bde. Bd. 2. München 1977, S. 7–18. 7 Zu diesem gesamten Abschnitt siehe ausführlicher Fritz Breithaupt: The Invention of Trauma in German Romanticism. In: Critical Inquiry 32 (2005), S. 77–101.
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Menschen, wie seine Traumata. Das Ritual, sich seine Traumata zu erzählen, könnte die moderne Variante des Öffnens der Krypta sein, also des Einlassens des anderen in einen geheimen und erhabenen Ort.
3. Die Narration der Verwundbarkeit Diese Bildbarkeit und Affizierbarkeit des Kindes erscheint im Märchen als die Verwundbarkeit des Kindes. Und erst durch diese Narrativierung von Affizierbarkeit wird Verwundbarkeit ein starker Antrieb für die Empathie der Zuhörer und Leser. Was heißt es, verwundbar zu sein? Und wie sieht Verwundbarkeit in narrativer Hinsicht aus? a) Zunächst beinhaltet Verwundbarkeit, dass man affizierbar ist und damit im weitesten Sinne veränderbar. Jemand, der verwundbar ist, ist in sich nicht klar gefestigt und irgendwie vor oder außerhalb eines möglichen Endzustands. Seine Identität steht nicht fest. Oder wieder anders gewendet, der Verwundbare bleibt erreichbar für andere.8 (Affizierbarkeit, unabgeschlossene Identität) b) Doch zugleich und vor allem beinhaltet Verwundbarkeit eine Bedrohung. Der verwundbare Mensch steht in Gefahr. (Destruktives Potential) c) Verwundbarkeit heißt auch, auf Verletzungen zu reagieren, diese nicht zu wollen und ihrer Quelle zu entgehen zu versuchen. Der Zustand der Verwundbarkeit, so darf man wohl folgern, legt dem Subjekt nach erfolgter Verwundung das Ziel einer Heilung nahe. (Schutzsuche, Immunisierung) d) Wer verwundbar ist, so darf man weiter annehmen, lernt die Umwelt auf ihr Gefahrenpotential hin zu bewerten. Man registriert einen von außen kommenden Stimulus, erkennt seinen Einfluss. (Wertmaßstab, evaluatives Lernen) Diese Grundfigur der Verwundbarkeit wird narrativ umgesetzt in einer Reihe von Elementen, die skizzenhaft wie folgt beschrieben werden können: 1) Ein radikal oder ›optimal‹ verwundbares Wesen tritt in die Welt oder wird in sie geworfen. Es steht allein als ›Kind im Wald‹. Wir wissen oft nicht mehr von ihm, als dass es allein ist, kennen oft nicht einmal seinen Namen. Es wird auch von allen Eigenschaften ›allein gelassen‹. (Protagonist ist allein, verwundbar)
8 Die
Erreichbarkeit wird Goethe sehr beschäftigen. Faust etwa muss erreichbar bleiben. Würde er sich aufs Faulbette legen, sich mit Täuschung zufriedengeben und die Stimme von Gretchen nicht mehr hören, wäre es um ihn geschehen.
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2) Die Vorgeschichte inszeniert und dramatisiert bisweilen diese Zubereitung des Protagonisten als ›Kind im Wald‹. Das Kind wird ausgesetzt, verläuft sich, der Vater muss reisen und dergleichen. (Vorgeschichte der Aussetzung) 3) Bereits dieses in die Welt gehen oder geworfen werden, birgt den Zustand höchs ter Gefahr. Meist kommt es nun zu tatsächlichen Zuspitzungen der Gefahr, etwa einer Entführung, oder auch zu tatsächlicher Verwandlung, Verwundung oder Ermordung (etwa Schneewittchen). (Gefahr, Zuspitzung) 4) Entsprechend der maximierten Gefahr oder Verwundung tritt dann auch die Rettung maximiert ein und erhöht den rettenden Helden. In den meisten Fällen wird das verwundbare Wesen dabei der Gefahr auf Dauer entrissen beziehungsweise die Quelle der Gefahr zerstört. (Heroische Rettung. Ende der Gefahr) Die Narration der Affizierbarkeit, also die Verwundbarkeit, entwickelt das Volksmärchen. Die Protagonisten der Märchen sind meist junge Menschen, namenlose Jungen und Mädchen, Prinzen und Prinzessinnen oder Tiere. Sie sind ausgesetzt, isoliert, verlieren ihre Eltern, oder sind in anderer Hinsicht schutzlos. Anders gesagt, im Märchen wird der Zustand der Affizierbarkeit als erster Schritt einer Narrativierung erlangt: Das Kind kommt, irgendwie, in den Zustand allein zu sein. Es läuft weg, verliert die Mutter, hat eine böse Stiefmutter oder Ähnliches. Diese Schutzlosigkeit kann auch das Resultat einer selbstverschuldeten TabuÜberschreitung sein wie je verschieden etwa bei Eisenhans, Blaubart oder Jorinde und Joringel, die die Helden in ein gefährliches Terrain führt. In jedem Falle sind die Kinder höchstgradig verwundbar, affizierbar. Für die Form scheint es insofern also nicht erheblich zu sein, ob die Aussetzung selbst- oder fremdverschuldet ist. (Bruno Bettelheim liefert eine psychoanalytische Deutung dieser Trennung, Aussetzung sowie der Figur der bösen Schwiegermutter: Die Trennung des Kindes von den Eltern wird begleitet von der Wahrnehmung, dass die Mutter böse sei, weil sie das Kind von der Mutter trennen will. Diese Zeichnung der Mutter als böse Stiefmutter macht die Trennung einfacher.9 Doch die mögliche Deutung dieses Musters soll hier zunächst vermieden werden). Diese Verwundbarkeit gebiert praktisch die Gefahr, bringt narrativ die Steigerung in der Verwundung hervor. Aus dem Gesicht einer jeden Großmutter kann ein schrecklicher Wolf schauen oder hinter jeder Tür kann sich Blaubarts Kammer öffnen.10 Ein Aspekt der Verwundbarkeit ist dabei auch die Verführbarkeit. Die 9 Vgl. Bruno Bettelheim: The Uses of Enchantment. The Meaning and Importance of Fairy Tales. New York 1989. 10 Blaubart ist möglicherweise das meistdiskutierte Märchen der letzten Jahrzehnte mit starken Lektüren der feministischen und philosophisch orientierten Literaturwissenschaften, vgl. Elisabeth Bronfen: Männliche Sammelwut, weibliche Neugierde. Blaubarts Wunde(r)kammer. In: Fabula 53 (2012), S. 194–204; Winfried Menninghaus: Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart. Frankfurt a. M. 1995.
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Kinder wollen an dem Pfefferkuchenhaus knabbern. Die verschlossene Kammer ist ja auch gar zu spannend. Der verbotene Wald lockt. Besonders wichtig ist, was geschieht, wenn die Verwundbarkeit der tatsächlichen Verwundung weicht. Bleibt die Wunde permanent, führt etwa zum Wiederholungszwang des modernen Traumas? Oder wird sie zwar überwunden, führt aber zum Ausgangszustand zurück? Oder entsteht ein qualitativ anderer Zustand, der einen Rückfall unwahrscheinlich macht, aber auch nicht in die Unverwundbarkeit führt? Das Märchen entscheidet sich für die letzte Variante, wohingegen die meisten literarischen Texte, die dem Märchen-Schema der Verwundbarkeit folgen, wie der Bildungsroman, viele romantische Kurztexte, die neuen Autobiographien,11 oder viele der Fallstudien der empirischen Psychologie eines Karl Phillip Moritz im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, tendenziell von der Permanenz und Unheilbarkeit der Wunde ausgehen. Es ist nun offensichtlich, dass das narrative Muster der Verwundbarkeit für Rezipienten sehr reizvoll ist. In dem ausgesetzten, verwundbaren und dem verwundeten Menschen kann jeder sich selbst erkennen oder einfinden. Mit anderen Worten ist dieses Narrativ auf die Empathie des Rezipienten ausgerichtet.12 Jeder versteht die Gefahr, sie steht dem Hörer oder Leser klar vor Augen. Entsprechend durchlaufen ›wir‹ die Geschichte mit dem Protagonisten, fühlen die Ängste, Freuden und Gefahren mit. Das Narrativ der Verwundbarkeit erinnert in der Wertschätzung des Opfers und des möglichen Opfers an christliche Wertungsmuster. Das ist kein Zufall. Allerdings gilt für die Kerngeschichten des Christentums, dass Verwundbarkeit das Ziel der Helden ist: Christus und die Heiligen müssen sich als verwundbar erweisen. Die Märchen beginnen dagegen mit der Verwundbarkeit, sie ist nur selten ihre Leis tung, sondern stößt ihnen zu.
4. Die Struktur der Belohnung Der zweite Erzählstrang des Märchens besteht in dem Muster der Bewertung der Protagonisten und Charaktere der Erzählung. Eines der zentralen Muster von Fiktion besteht darin, dass jeder am Ende erhält, ›was er verdient‹.13 Wenn man William Flesch folgt, so ist dies die Basisstruktur von literarischen Texten, die noch zentraler ist als Empathie. Flesch argumentiert, dass Fiktionen und narrative Texte 11 Vgl.
Jürgen Fohrmann: Lebensläufe um 1800. Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen 1998, S. 1–10. 12 Vgl. Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie. Frankfurt a. M. 2009. 13 Vgl. William Flesch: Comeuppance. Costly Signaling, Altruistic Punishment, and Other Biological Components of Fiction. Cambridge 2007.
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am Ende nicht nur die Helden belohnen und die Bösewichte bestrafen, sondern zudem auch die Trittbrettfahrer der Moral, also die Nutznießer und diejenigen, die bei moralischen Verletzungen nicht eingreifen, negativ sanktionieren.14 Auf das Märchen gewendet muss der Bogen weiter als der moralische Raum gefasst werden. Am Ende werden in der Tat alle positiv oder negativ bewertet und sanktioniert, so ›wie sie es verdient haben‹ und manchen wird explizit verziehen. Doch dabei geht es nicht allein um Moral, sondern auch um die Belohnung der Schlauheit der Protagonisten, die sich aus Gefahrensituationen hinausmanövrieren können wie Gretel aus dem Hexenhaus. Belohnt werden die, die alle Tests bestehen. Vivasvan Soni hat als einer der beiden Grundstrukturen von Narration die Struktur des Tests benannt. Gemäß Soni besteht die zentrale Eigenschaft der TestNarration darin, dass die Frage nach dem Glück des Protagonisten suspendiert ist, bis der Test entschieden sei. Dies kann in Narrationen der Versuchung geschehen (Jesus in der Wüste), im Ertragen von Unglück (Hiob), im Lösen schwieriger Situationen oder auch in moralischen Herausforderungen.15 Insofern kann man vorschlagen, dass die Märchenhelden Tests zu bestehen haben, um am Ende das zu erhalten, ›was sie verdienen‹. Diese Sanktionen werden im Märchen regelmäßig durch eine Färbung gekennzeichnet. Die positiven Helden, die die Tests bestanden haben, erhalten Gold. Goldmarie in Frau Holle wird mit Gold gefärbt, im Eisenhans oder etwa Goldenen Vogel ist das Gold bereits vorab Leitfigur. In zahlreichen Märchen wird Gold als Belohnung gewonnen. Auch der Ehebund am Ende wird ja durch einen goldenen Ring am Finger besiegelt. Umgekehrt ist Schwarz oder auch das Rot des Blutes die Farbe der Bestrafung derjenigen, die eine solche verdient haben (die Pechmarie, das Blut im Schuh, auch die Charaktere, die sich ›schwarz ärgern‹ und so fort). Die Personen werden am Ende also bemalt. Eben diese Bemalung entspricht dem ›tracking‹, welches William Flesch als Teil der einfachen Moral des Jeder-erhält-was-er-verdient zuordnet. Wer einmal Schlechtes getan hat, muss von anderen als solcher erinnert werden, um ihm aus dem Weg zu gehen. Er ist insofern in den Augen der Gemeinschlaft gefärbt und stigmatisiert.16 Andere Farben als das Gold und das Schwarz sind regelmäßig suspekt wie das Blau des Bartes oder das Rot der Federn am Hut. 14 Von
Albrecht Koschorke stammt der schöne Vorschlag, dass es eben die Geschichten sind, in denen die Gerechtigkeit am Ende nicht siegt, die Wirkung außerhalb der Welt der Fiktion entfalten, die gewissermaßen hungrig bleiben und auf die Welt zugreifen, vgl. Albrecht Koschorke: Entscheiden und Erzählen [in Vorbereitung]. Insofern wären die Märchen ganz ohne Wirkung. 15 Vgl. Vivasvan Soni: Trials and Tragedies. The Literature of Unhappiness (A Model for Reading Narratives of Suffering). In: Comparative Literature 59 (2007), S. 119–139. 16 Zur gesellschaftlichen Stigmatisierung nahe dieser Färbung, vgl. Erving Goffman: Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. Englewood Cliffs 1963.
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Das Schema der Belohnung ist nun in der Tat kein Schema der Empathie, wie Flesch aufzeigt, sondern stellt eine andere Rolle für den Zuhörer bereit: diejenige des Beurteilers. Zufrieden kann der Zuhörer dann sein, wenn die Geschichte narrativ die Sanktion herbeiführt, die sie oder er für die richtige befunden hat. Eben dort kann die Geschichte zu einem Ende kommen. Hier taucht nun also wieder der Pinsel von Campe auf, der das Kind permanent bemalt und zeichnet. Anders als bei Campe zeichnet das Gold und das Schwarz aber nicht zufällig, sondern verdientermaßen (zumindest sehen es die Hörer meist so). Neben der meist passiven Aussetzung (Ausnahme natürlich das Weglaufen) kommt nun ein aktives Verhalten in der Test-Situation der Probe zum Tragen.17 Auffällig ist, dass die Bemalung doppelt codiert ist. Zum einen schließt sie in der Rettung den ersten Erzählstrang der Verwundung ab. Zum anderen fungiert sie im zweiten Erzählstrang der Sanktion als das Moment des Urteils. Diese doppelte Codierung führt damit direkt zur Form des Märchens.
5. Das doppelte Märchen Eben haben wir festgestellt, dass die beiden narrativen Stränge von einerseits Verwundbarkeit (Affizierbarkeit) und andererseits Belohnung (Test) sich auffälligerweise häufig in einem Punkt treffen, nämlich dem Ende. Das Kind wird gerettet (Ende der Verwundbarkeit) und wird zugleich mit Gold belohnt (Ende des Tests). Die erste narrative Entwicklung führt von der radikalen Verwundbarkeit in einen Zustand der Gefahr (oder auch tatsächlichen Verwundung), bis am Ende Rettung kommt. Die Rettung kann dabei durch List selbst erwirkt werden oder auch durch das Eintreffen eines äußeren Retters motiviert werden. In vielen Fällen ist die Rettung eine Rückkehr nach Hause (Frau Holle, Hänsel und Gretel, etc.) oder eine Ankunft in der Ehe als Gründung einer neuen Heimat. Die zweite narrative Entwicklung setzt den Helden einer Probe aus, die er bestehen kann oder an der er scheitern kann. Auf die Probe folgt die Sanktion, die in auffallend vielen Märchen als (Gold-/Schwarz-)Färbung auftritt. Der Held wird belohnt damit, dass er von nun an mit Gold gezeichnet ist; der negative Held wird geschwärzt und ist nun als solcher erkennbar. Weil die Sanktion am Ende regelmäßig beide Narrationsstränge auf einmal abschließt, wird damit nicht nur das Bestehen der Probe belohnt, sondern auch der Zustand der Verwundbarkeit (narrativer Strang 1) als solcher. Dies ist bemerkenswert, insofern der Verwundbare ja eigentlich keine Belohnung verdient. Er hat (zumindest durch seine Verwundbarkeit) niemandem einen Dienst erwiesen und 17 Vgl.
Soni: Trials and Tragedies.
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ist nicht moralisch höherstehend. Die Verwundbarkeit erlangt durch die positive Sanktionierung am Ende den Status einer Als-ob-Moralität. Eine solche Struktur tritt uns in Frau Holle entgegen. Die junge Heldin wird, wie im Märchen typisch, von der Mutter getrennt und ausgesetzt (Verwundbarkeit). Diese erste Aussetzung und Isolation, auch dies ist typisch, findet in mehreren Stufen statt. Erst stirbt die Mutter, dann muss Marie sich in den Brunnen stürzen. Nach dieser ersten Phase der Aussetzung kommt es nun zu einer zweiten Phase der Probe und Bewährung im Wolkenreich der Holle (Test-Belohnung). Marie besteht und wird schließlich zurück in ihre Welt geschickt. Doch auf dem Weg dorthin, beim Durchschreiten des Tores, wird sie im dritten Schritt gezeichnet. In dieser Abfolge erscheint die Färbung, sei es das Gold, sei es das schwarze Pech der Pechmarie als Lohn oder Strafe für die bestandene oder nicht-bestandene Probezeit. Durchlaufen wird also sowohl das Narrativ der Affizierbarkeit als auch das Narrativ des Tests. Beide enden zugleich in der Rückkehr und der Belohnung beziehungsweise Strafe (s. Abbildung).
Von hier können wir schematisch einige verschiedene Varianten der doppelten Struktur aufzeigen. Natürlich gibt es auch eine Vielzahl von Märchen, die statt der Doppelung nur den einen oder anderen Erzählstrang entwickeln.
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Märchen nach Grimm
1. Aussetzung (Affizierbarkeit)
2. Probe, Test
Frau Holle
in den Brunnen stürzen
Brot; Apfelbaum; Frau Holle helfen (moralisch; Goldmarie bestanden, Pechmarie nicht bestanden )
Hänsel und Gretel
von Eltern im Wald ausgesetzt
der Hexe entgehen (bestanden; nicht moralisch)
Eisenhans
1. von Eisenhans entführt 2. von Eisenhans verstoßen
1. Weiher rein halten (nicht bestanden) 2. im neuen Schloss bestehen; helfen (nicht moralisch, bestanden)
Rosmarie und Weißmarie
Kleinfamilie im Wald; Mädchen oft allein; (Bär ist verwandelt)
dem Zwerg helfen; dem Bär helfen (bestanden, prosozial); ermöglicht Treffen von Bär und Zwerg
Blaubart
unheimliche Ehe
nicht das Zimmer öffnen (nicht bestanden)
Froschkönig (Dornröschen)
Frosch: 3. Belohnung erschleichen
Frosch: 2. Einfordern der Belohnung
Jorinde und Joringel
im Wald von Angst erfasst; Erstarren
Joringel muss Zustand der NichtAffizierbarkeit gegenüber der Hexe erreichen (bestanden, nicht moralisch)
Der Zweischritt in Campes Szenario wird nun um einen dritten ergänzt, nämlich denjenigen der Probe oder des Tests. Man könnte auch sagen, das Märchen füllt die Campe’sche Färbung mit einer Narration oder Rationalisierung, welche die Färbung durch das Bestehen oder Nicht-Bestehen der Probe begründet.18 Während der erste Schritt die Helden passiv betrifft, da sie meist (aber nicht immer) ausgesetzt oder entführt werden (oder naiv in die Welt ziehen), ist der zweite Schritt ein aktiver. Nun müssen sich die Helden zu einer schwierigen Situation verhalten. Dabei besteht die Probe keineswegs immer in einer moralischen oder moralisierbaren Situation wie bei Frau Holle, sondern kann, wie am Beispiel von Hänsel und Gretel angedeutet, etwa auch in dem Überstehen einer Gefahr oder dem Überlisten eines Gegenspielers bestehen. 18 Vgl.
Bartlett: Remembering.
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3. Sanktion (Färbung)
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Kommentar
Goldregen bzw. Pechregen; Rückkehr
Grundschema mit moralischer Lösung
reiche Schätze, Rückkehr
Grundschema ohne Moral
1. Goldfärbung; erneute Aussetzung. 2. Heirat;, Goldschatz.
in sich verdoppelte Struktur (Elemente mit verdoppelter Funktion, siehe Abschnitt 6)
Verwandlung des Bärs (goldenes Leuchten); inneres Gold wird glänzender; Reichtum und Ehe
durch Prosozialität Färbung (Sanktion) in anderen bewirken
Blut; gefärbter Schlüssel ist Zeichen der Übertretung (erwartet wird Ermordung, die aber verhindert wird)
Blaubart personifiziert als Täter den Dreischritt der Verwundbarkeit (aussetzend, testend, strafend)
Frosch: 1. Affizierbarkeit; Verwundung im an die Wand werfen
invertiertes Schema: Affizierbarkeit ist Ziel (Frosch)
Paar ist (wieder) vereint
Nicht-Affizierbarkeit ist direktes Ziel der Probe, nicht nur Ergebnis
Hier kommen wir nun zur ersten, überraschenden Schlussfolgerung: Das Märchen sanktioniert in der Doppelstruktur am Ende also nicht nur das Bestehen eines Tests. Vielmehr wird die Verwundbarkeit selbst positiv bewertet. Goldmarie ist schon deshalb gut und wird gold gefärbt, weil sie (anders als Pechmarie) unfreiwillig Opfer wird. Das Märchen belohnt mithin das Ausgesetzt-Sein und den Zustand der Affizierbarkeit selbst und erhebt sie zum Wert. Die Ideologie der Aufklärung, dass der gute Mensch der veränderbare Mensch ist, findet im Märchen seine narrative Bestätigung. Gut ist der Verwundbare. Das Märchen kann hier also zum Mittel im Streit mit anderen Identitätstypen wie demjenigen des Adels ins Feld geführt werden. Das Märchen führt Verwundbarkeit vor und zeigt, auch durch das positive Gefühl des Rezipienten, dass Verwundbarkeit selbst und direkt quasi-moralisch gut ist.
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Ein besonderer Fall der Verknüpfung beider Stränge findet sich in den Märchen von den Sechs Schwänen oder auch den Zwölf Schwänen. Dort muss eine Schwester oder Prinzessin einen Test bestehen, um ihre verzauberten Brüder zu erlösen. Dieser Test besteht dabei genau darin, verwundbar zu bleiben und zu schweigen und die falschen Anschuldigungen, die gegen sie erhoben werden, nicht von sich zu weisen. Sie absolviert die Gewährungsprobe, indem sie sich nicht wehrt.19 Wenn also Verwundbarkeit direkt zum Marker von moralischer Güte aufsteigt (und eben nicht moralisch gute Handlungen oder das Bestehen einer Probe), dann kann es zum Ziel werden, verwundbar zu sein und sich als verwundbar zu präsentieren. Umgesetzt wird dies etwa im Froschkönig. Damit der Frosch aufhört Frosch zu sein, muss er verwundbar werden, muss an die Wand geworfen werden. Lernen kann er nur, wenn er sein Frosch-Sein ablegt. So zumindest deutet Eugen Drewermann dieses Märchen als Weg aus einer Beziehungsfalle, die den schleimigen Jüngling mit Helferkomplex zum Erwachsenwerden bringen will, so dass er aufhört, seine Liebe als Rechtsanspruch zu formulieren. Umgekehrt muss die Prinzessin, die nostalgisch an der nie gehabten glücklichen Kindheit festhält, ihre Stärke und Aggressivität finden.20 Deutlich ist dieses Ziel-Werden von Berührbarkeit natürlich auch in Dornröschen.
6. Der Fall Eisenhans Um diese Doppelstruktur von zwei narrativen Strängen zu dokumentieren, könnte man zahlreiche Märchen heranziehen. Es sei hier nur eines der komplizierteren Märchen angeführt, schlicht deshalb, weil in dessen Lektüre das Potential der Deutung sichtbar wird, nämlich Eisenhans. Zunächst fällt auf, dass die Abfolgen im Eisenhans weiter auseinanderbuchstabiert werden als etwa in Frau Holle. Die Vorgeschichte beginnt mit der Gefangennahme des Eisenhans. Aus dem Schrecken des Waldes wird ein plötzlich erstaunlich isoliertes und verwundbares Wesen im Käfig. Von hier springt die Geschichte auf den zentralen Protagonisten, den Prinzen, der als nächstes isoliert und ausgesetzt wird. Der Junge verhilft dem gefangenen Eisenhans zu dem Schlüsselchen, welches unter dem Kopfkissen der Mutter des Jungen aufbewahrt wurde. Der Junge wird somit zum Verräter. Eisenhans, kaum ist er dem Käfig entronnen, packt den Jungen, behauptet, er wolle dem Jungen schützen, der nun nicht mehr zuhause bleiben könne. So kommt der Junge mit Eisenhans in den tiefen Wald, befindet sich folglich in der Grundsituation der radikalen Verwundbarkeit. Eisenhans, entgegen seinem 19 Ich
danke Christoph Paret für den Hinweis. die Deutung von Eugen Drewermann: Der Froschkönig. Tübingen 2003.
20 Vgl.
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ersten Auftreten als wilder Kerl und gefährlicher Jägerfresser, bietet sich dem Jungen sogleich als neue Familie an, bei der der Junge unterkommen könne. Der zuvor bedrohliche Wald wird zur möglichen Heimat. Nun kommt es zu einer Probe, die der Junge bekanntlich dreimal nicht besteht. Am Teich, den er zu bewachen hat, kann er seine Finger nicht still halten und muss immer in die feuchten Löcher fühlen oder sich narzisstisch bespiegeln. In beiden Fällen werden Haare und Finger von dem dunklen Teich golden gefärbt. Es wird von der ›Verunreinigung‹ des Teiches gesprochen; die Färbung des Jungen scheint die Markierung seines Fehltritts zu sein. Eisenhans verkündet, dass der Junge die Probe, von der bisher nicht die Rede war, nicht bestanden habe und daher den Wald verlassen müsse. Nun wird der Junge erneut ausgesetzt. Wir wollen versuchen, dies zu sortieren: Es gibt zwei aufeinanderfolgende Akte der Aussetzung und Isolierung. Es gibt mindestens zwei Proben (einmal gilt es, die Verunreinigung des Teiches zu verhindern, dann als Aushilfe im Schloss zu bestehen; nicht zu vergessen, die zuvor ebenfalls nicht bestandene Probe, Eisenhans den Schlüssel zu verweigern) und es gibt eine Goldfärbung. Diese Elemente entsprechen, wenn auch mit einigen interessanten Abweichungen, dem oben dargestellten Schema. Was nun aber hinzugekommen ist, sind die Verdoppelungen und Ineinanderschachtelungen eben dieser Verdopplungen. Die erste Serie mündet in der Goldfärbung der Haare und Finger des Jungen und darauf folgender Sanktion. Die Goldfärbung fungiert hier vielmehr als Zeichen und Markierung des Scheiterns als des Gelingens. Es ist ungewiss, was es mit dem Gold eigentlich auf sich hat. Ist es Strafe oder ist es Lohn oder ein Drittes? Der Junge schämt sich für die goldenen Haare. Funktional gesehen führt diese Sanktion nun wieder zu einer Aussetzung, da Eisenhans den Jungen vor die Tür, also vor den Wald setzt. Insofern handelt es sich um eine Strafe. Die zweite Sequenz beginnt erneut mit einer Aussetzung: Der Junge muss Eisenhans, den Entführer und nun Ersatzvater, verlassen. Es gibt eine lange Probezeit in dem neuen Schloss mit vielen Komplikationen, die aber mit der Ehe des Jungen (der vom Küchenjungen zum Gärtnerjungen zum Schwarzen Ritter und endlich wieder Prinz mutiert) und der Prinzessin endet. Eisenhans, der nun von einem Zauber befreit wurde (man darf eine Hintergrundgeschichte vermuten, in der Eisenhans ausgesetzt wurde und nun seine Probe bestanden hat: jeder steht hier auf dem Prüfstand), würdigt die Ehe mit seinem Goldschatz. Erneut führt der Weg von Aussetzung über die Probe zur goldenen Belohnung. Bemerkenswert ist, dass die goldenen Haare von der negativen Rolle als Indiz des Versagens und der Scham zu einer Marke der heroischen Tat des Jungen umgewandelt werden. Zunächst waren die Haare ja golden gefärbt, weil sie in den Teich fielen. Dies führte zur Vertreibung aus dem narzisstischen (vielleicht onanistischen) Paradies, also zur Strafe. Später nun sind es die Goldhaare, die zum Erkennen des Schwarzen Ritter führen und also in der Belohnung münden. Strukturell gespro-
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chen wird hier die erste Sanktion (Goldfärbung und Verbannung aus dem Wald) zur zweiten Aussetzung, die am Ende in positiver Sanktionierung mündet, wobei die Goldfärbung nun zum Zeichen der Erkennung und der zweiten (positiven) Sanktion wird. Jedes Element kann also mehr als eine Funktion haben, wenn neue narrative Abfolgen eröffnet werden. Diese sonderbare Verdoppelung erlaubt nun zwei durchaus widersprüchliche Deutungen. Die erste besteht darin, dass der Junge die anfängliche Probe im Wald nicht bestand und nur, weil er die zweite im Schloss besteht, am Ende positiv sanktioniert wird. Dann wäre in narrativer Hinsicht die Waldepisode eigentlich überflüssig. Die zweite Deutung behauptet im Gegenteil, dass sein Versagen in der ersten Probezeit (Wald) am Ende belohnt oder mitbelohnt wird. Für diese zweite Deutung gäbe es nun wiederum zwei Varianten: a) belohnt wird hier eigentlich Eisenhans, da er den Jungen aus der narzisstischen und verunreinigenden Waldeinsamkeit reißt oder eben b) dass das Versagen selbst am Ende positiv anerkannt wird. Im letzteren Falle dürfte man sagen, dass die Verdopplung das Nicht-Bestehen des Tests (Goldfärbung) als Verwundbarkeit (erneute Aussetzung) umdeutet und am Ende belohnt. Das Scheitern oder Versagen ist hier die Verwundbarkeit, die im Märchen belohnt wird. Der Lebensweg des Menschen, dieser letzten Deutung nach, ist dann am besten, wenn er Scheitern, Aussetzung und Verwundbarkeit narrativ hintereinander zu schalten weiß.
7. Optimale Narrativierbarkeit und die Entdeckung des Narrativen Die These dieses Beitrags lautet nun, in ihrer einfachsten Form, dass die Entdeckung und Aufwertung von Verwundbarkeit ein entscheidendes Paradigma bereitstellt, das Narrativität ermöglicht und damit zugleich dem Erzählen als Praxis zum kulturellen Durchbruch verhilft. Das verwundbare Subjekt verhält sich anders als dasjenige in anderen literarischen Gattungen der Zeit. Weder ist das Subjekt stoisch wie im aufklärerischen Drama,21 so dass die Ereignisse es nicht im Kern betreffen, noch ist es zu biegsam wie im Schelmen- und Picaro-Roman, so dass es wie ein Stehaufmännchen nach jedem Schicksalsschlag wieder aufsteht und sich neu erfindet.22 Das verwundbare Subjekt ist hochgradig beeinflussbar von der Welt und den Ereignissen. Aufgewertet wird dabei vor allem der Wert des Erzählens als solcher, weil die Charaktere in der Erzählung ja von ihrem Verlauf geprägt werden. Es liegt insofern geradezu opti 21 Vgl.
Orsolya Kiss: Reinventing the Plot. J. C. Gottsched’s Sterbender Cato. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84 (2010), S. 507–525. 22 Vgl. Bernhard Malkmus: The German Pícaro and Modernity. Between Underdog and Shape-Shifter. New York 2011.
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male Erzählbarkeit vor, denn das, was passiert, schlägt sich im Protagonisten nieder. Noch einmal anders gesagt: Im Volksmärchen entdeckt das Narrative sich quasi selbst, belegt und legitimiert sich, indem es zeigt, dass es narrativ beschreibbare und vielleicht also auch dem Wesen nach narrative Verläufe sind, die Menschen fundamental betreffen. Umgekehrt kann aber auch das Narrative nur funktionieren, weil die von den narrativen Verläufen geprägten Menschen ihnen Bedeutsamkeit verleihen. Es geht weniger um die tragischen Schicksalsschläge, die die Lebenslänge und das Glück der Menschen je nach Perspektive unter die Obhut der Götter, Schicksalsmächte oder auch der Ästhetik stellen. Vielmehr geht es darum, die Aufwertung des narrativ verwundbaren Menschen zu betreiben. Von hier aus könnte man argumentieren, dass das Bildungsparadigma und die Narrativität sich wechselseitig bedingen, so wie etwa Jerome Bruner es in anderem Kontext vorgeschlagen hat.23 Affizierbarkeit und Bildung werden interessant unter dem Gesichtspunkt der Narrativität. Weil Erzählbarkeit ins Zentrum der Diskurse rückt, wird der Mensch als affizierbar definiert und entdeckt. Dass Erzählbarkeit und Affizierbarkeit sich wechselseitig verstärken, ist offensichtlich. Wir haben uns der Deutung der Märchen hier weitgehend entzogen. Natürlich gibt es interessante und durchaus zutreffende Deutungsmuster der Märchen. (Allegorisch gedeutet werden können etwa die Handlungen als sexuell-entwicklungspsychologischen Praktiken. Und natürlich geht es in den Märchen auch um Sex, so wie jede Disney-Version von Märchen auch eine Sex-Geschichte ist. Genauso richtig ist es aber, nicht von Sex zu sprechen.) Für diese interpretatorische Enthaltsamkeit gibt es einen Grund. Gegen das Paradigma einer direkten oder indirekten Deutung gehen wir hier von Erzählbarkeit aus: Märchen gibt es, weil sie erzählt werden können. Aus Sicht der Erzählbarkeit geht es um die Herausbildung eben der Elemente, die zwei Bedingungen erfüllen: 1. Erzählungen müssen den Fluss von einer Handlung zur nächsten, von einem Ereignis zum nächsten einleiten. (Narrative Abfolge) 2. Zugleich muss eben diese Bewegung von einer Handlung zur nächsten, von einem Ereignis zum nächsten in Bedeutsamkeit gegründet sein. Eine bloße Abfolge an sich würde schnell ermüden, wenn ihr nicht eine Gewichtigkeit zugestanden würde. Um diese Gewichtigkeit oder Bedeutsamkeit zu generieren, muss es etwas geben, für das die verschiedenen Ereignisse eine Differenz implizieren, also etwas, auf dem sich die Ereignisse als Veränderung abzeichnen und für das sie Bedeutung haben. Wir kommen damit zurück zum menschlichen Wachsklumpen oder der tabula rasa von Campe. (Wesen, auf denen die narrativen Abfolgen Spuren hinterlassen) 23 Vgl.
Jerome Bruner: Making Stories. Law, Literature, Life. Cambridge 2003.
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Affizierbarkeit der kindlichen Helden im Märchen erlaubt die Einlösung beider Elemente. Affizierbarkeit im Märchen ist nicht primär eine conditio humana oder eine Grundform menschlichen Daseins (obwohl man sich darin wiedererkennen kann), sondern Element einer Optimalisierung von Erzählbarkeit. Weil das Kind beeinträchtigt wird, sind die wechselnden narrativen Umstände vom Umschlag von Glück und Unglück bedeutsam. Der Fluss der Handlungen, das Springen von einem Ereignis zum nächsten, wird wiederum durch das Auseinanderrechnen eben der Abfolge von Sich-Aussetzen/ Ausgesetzt-Werden (=Zustand der Affizierbarkeit) bis zur Sanktion (Affizierung) erzeugt. Um dieses Fließen zu verstärken, sind die Verschachtelung, das Verweilen auf der Probe, aber auch die Verdoppelungen und Verdreifachungen der Sequenzen, das Muster von Scheitern und Gelingen, und von Umwegen anscheinend gut geeignet. Von diesem Standpunkt der Beobachtung aus wird das Märchen als Produkt serieller Reproduktion erkennbar. Was passiert, so lautet die Frage, wenn man von einem einfachen Muster der Erzählung ausgeht, und dieses immer wieder nacherzählen lässt, bis sich eine stabile oder »stereotype Form«, so Frederic Bartlett herausbildet?24 In solchen ausschmückenden Nacherzählungen kann jedes Element dupliziert werden und durch eine erneute Abfolge ausgetauscht werden. Statt der einfachen Goldfärbung als Belohnung bei Frau Holle haben wir dann etwa eine Auseinanderrechnung der Goldfärbung erst als Anzeichen des Scheiterns bis zur Goldfärbung als Anzeichen des Prinzseins bei Eisenhans. Unter den Bedingungen der seriellen Reproduktion mit Hinblick auf optimale Erzählbarkeit sind die Grenzen des Märchens in dem Erhalt der Affizierbarkeit und dem Fortfahren von Erzählen von einem Ereignis zum nächsten gegeben. Zugleich werden die Narrationen durch Ersetzungen, Verdoppelungen, Auslassungen, Verschachtelungen, Erfindungen, Umdeutungen und Rationalisierungen fortgesponnen. Da diese Verfahren wesentlich zur Narrativierung gehören, seien hier noch drei Bemerkungen gestattet. Unter dem Begriff der Rationalisierung hat Frederic Bartlett die Überführung von scheinbar unverknüpften oder unmotivierten Sequenzen in kausale, begründende Abfolgen gefasst. Aus Sicht des Märchens soll hier ergänzt werden, dass die Überführung in kausale Abfolgen von Ursache und Wirkung aber nicht schlicht einer Logik der Kausalität folgt, sondern diversen Kausalitäten oder Quasi-Kausalitäten. Eisenhans entführt den Jungen mit dem Hinweis, dass er, nun da er Eisenhans den verbotenen Schlüssel überreicht hat, nicht mehr zuhause bleiben könne. Ist das Kausalität? Welche? Oder ist es schlicht eine rückwirkende Legitimierung der Aussetzung in den Zustand der Verwundbarkeit, die aus narrativer Hinsicht notwendig ist, selbst wenn der plot sie kaum legitimiert. Insofern befindet sich die Geschichte hier viel eher auf dem ›Sprung‹ zur Kausalität, als dass sie diese 24 Bartlett:
Remembering, S. 81.
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bereits ausführen würde. Die zweite allgemeine Bemerkung betrifft all die Unterscheidungen, die bisher nicht oder kaum zur Sprache kamen wie die markanten Geschlechterrollen, die krassen sozialen Differenzierungen und die klare Unterteilung von Gut und Böse. Anscheinend sind auch diese im Rahmen der Erzählbarkeit privilegiert, wie bereits Wladimir Propp in seiner Morphologie der Zaubermärchen feststellen konnte. Die dritte allgemeine Bemerkung betrifft den Status des Rätsels. Viele Märchen enthalten Rätsel, die nicht aufgelöst werden. Solche Rätsel können eine Weile stabil beibehalten werden – doch es kann ihnen auch geschehen, dass sie Anlass einer neuen Erzählung werden. Die mittelalterliche Legende vom Rattenfänger zu Hameln, aufgenommen von den Brüdern Grimm, endet mit dem impliziten Rätsel, was aus den Kindern wurde. Eine Fassung aus dem Konvolut von Franz Xaver von Schönwerth von 1855–1857, in der die Vorgeschichte auf wenige Zeilen zusammengeschrumpft ist, liefert eine Antwort und erzählt die Geschichte der Befreiung der Kinder.25 Allgemein gibt es keine auf Dauer gestellte stabile Einheit im Märchen. Den Rahmen der Mutationen, Modifikationen und Metamorphosen geben die beiden oben benannten Größen von Ereignisfluss auf der einen Seite und der bedeutungshaften Verwundbarkeit auf der anderen Seite vor. Im Märchen wertet die Aufklärung eine spezifische Narratologie auf, die sich aus dem Erzählen ergibt. Diese Narratologie verknüpft, wie nun hinreichend dargestellt ist, eine Vorstellung von Ereignis mit der Bedeutung einer Abfolge von radikaler Aussetzung, Probe und Sanktion. Der Protagonist der Erzählung ist nicht schlicht ein Handelnder oder Beobachtender, sondern ein wandelbar Leidender, der belohnt wird, weil er leidet. Man könnte die Volksmärchen mithin als Produkt einer neuen Narratologie beschreiben, die eine autonome Form von Erzählung ins Zentrum stellt. Diese Märchen-Texte brauchen keine externe Referenz, keine explizite Moral mehr wie noch die Märchen-Geschichten eines Perrault, keinen spezifischen Anspruch an das Mitleid der Zuschauer wie die Tragödie, die ihnen extern Bedeutsamkeit verleiht. Entdeckt und freigesetzt wird das Erzählen selbst. Insofern könnte man die Behauptung aufstellen, dass Narration als Errungenschaft der Aufklärung betrachtet werden kann. Kommen wir noch einmal zurück zu Jorinde und Joringel, dem wohl ersten gedruckten deutschen Volksmärchen. Dort erstarrt der junge Held, als das junge Paar zu tief in den Wald gerät. Jorinde wird von der Hexe in einen Vogel verwandelt. Joringel aber kann sich dem Turm der Hexe nicht nähern, um sie zu retten – bis er eine Lösung träumt. Er muss diese Lösung nicht einmal buchstäblich umsetzen, das 25 Vgl.
Franz Xaver von Schönwerth: Die Rübenprinzessin und andere Märchen von Franz Xaver von Schönwerth. Hrsg. v. Johann Baptist Laßleben. Kallmünz [1920].
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Gefühl der Lösung scheint schon fast zu genügen und macht ihn unverwundbar. Diese Unverwundbarkeit ist als Ziel allen Märchen eingeschrieben, doch anders als in dem ersten aller Märchen, bleibt sie das ferne Ziel und die Grenze des Märchens.
TEIL II A S PE K T E 1. se k t ion ›Di e Au f k l ä ru ng ‹: h i s t or i s c h e e r z ä h lu ng e n
Iwan-Michelangelo D’Aprile
›Die Aufklärung‹: Historische Erzählungen Einleitung
I
m Rahmen der übergeordneten Fragestellung dieses Bandes nach dem Verhältnis von erzählter und erzählender Aufklärung thematisieren die Beiträge in dieser Sektion die wechselseitigen Bezüge zwischen historischen Erzählungen des 18. Jahrhunderts und Epochenkonstrukten und Selbstidentifikationen ›der Aufklärung‹. Inwiefern lassen sich aus den Geschichtserzählungen der Aufklärung solche Selbstdeutungen oder Selbstepochalisierungen rekonstruieren? Wie wirken umgekehrt aufklärerische Argumente und Kritik auf die historischen Narrationen des 18. Jahrhunderts zurück? Lassen sich spezifisch aufklärerische historische Erzählmuster ausmachen und welches sind deren Merkmale? Welcher Status kommt historischen Erzählungen sowohl gegenüber anderen Erzählformen als auch gegenüber weiteren Repräsentationsformen von Historischem zu? Historische Erzählungen lassen sich als ein Teilaspekt des umfassenden aufklärerischen »Kulturmusters« des Historisierens verstehen, wie es in den Arbeiten von Daniel Fulda und Elisabeth Décultot herausgearbeitet worden ist: »Zu historisieren, d. h. alles Sein in seinem Gewordensein zu sehen und daraus zu verstehen, gilt seit Troeltsch, Koselleck und Foucault als grundlegendes Denkmuster der kulturellen Moderne, das entscheidend im langen 18. Jahrhundert geprägt wurde.«1 Mit der anthropologischen und historischen Wende des 18. Jahrhunderts rücken die Veränderbarkeit der Geschichte, die Menschen als deren Subjekte (anstelle des göttlichen Schicksals) und die je zeitlich relative Erfahrung (anstelle zeitlos gültiger metaphysischer Wahrheiten) ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dieser grundlegende Wandel manifestiert sich in unterschiedlichen kulturellen, medialen und institutionellen Praktiken. Geschichtserzählungen prägen wesentlich den literarischen Markt und den poli tischen Öffentlichkeitsraum der Aufklärung. Humes History of England z. B. hat sich weitaus besser verkauft, als alle seine philosophischen Werke zusammen. Robertsons History of America, Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire, Raynals und Diderots Histoire des deux Indes waren Bestseller des 18. Jahrhunderts, 1 Daniel
Fulda: Historisieren (http://www.izea.uni-halle.de/forschung/a-ideen-praktikeninstitutionen/1-kulturmuster-der-aufklaerung/historisieren.html, Aufruf 12. 10. 2016); vgl. Elisabeth Décultot u. Daniel Fulda (Hrsg.): Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen. Berlin/Boston 2016.
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gleiches gilt für den deutschen Sprachraum für Friedrich Schillers Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande oder dessen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Historische Zeitschriften, Kalender, Almanache, historische Taschenbücher, Schulbücher und Weltgeschichten für Kinder sind populäre Formate, die für das breite Interesse an historischen Erzählungen zeugen. Hinzu kommen belletristische und fiktionale Formen wie z. B. historische Romane. Auf dem Gebiet der akademischen aufklärerischen Geschichtsschreibung, die an den Universitäten in Göttingen, Halle, Königsberg, Glasgow und Edinburgh sowie an Akademien der Wissenschaften und Gelehrten Gesellschaften ihre institutionellen Orte hatte, werden Grundfragen des wissenschaftlichen historischen Erzählens als rationaler Rekonstruktion von vergangenem und gegenwärtigem Geschehen diskutiert. Dazu zählen die Reflexion des Verhältnisses von Regional- und Spezialhistorien und Gattungsgeschichte/Universalgeschichte, der Beziehung von historischer Faktensammlung (›Aggregat‹) und narrativer Ursache-Wirkung-Struktur und dem Aufzeigen von Zusammenhängen (›System‹), der Quellensammlung und Quellenkritik, der unhintergehbaren Standortgebundenheit und Perspektivität historischen Erzählens, Fragen der Wahrscheinlichkeit und historischen Angemessenheit von Geschichtsdarstellungen, sowie des Verhältnisses von Gegenwartsinteresse und Vergangenheits(re)konstruktion.2 Methodisch werden dazu Einsichten aus anderen Leitwissenschaften des 18. Jahrhunderts auf historische Erzählungen angewendet: Erkenntnisse und Methoden aus den Naturwissenschaften (Topos des ›Newton der Geschichtsschreibung‹), der Anthropologie, der Evolutionsbiologie, der Ethnologie, der Soziologie und politischen Ökonomie, der historischen Bibelkritik, der Sprachwissenschaft oder der Philologie.3 In diesen unterschiedlichen institutionellen Entstehungskontexten, medialen Formaten und vielfältigen Gattungen werden in der Aufklärung neue historische Erzählmuster entwickelt: strukturgeschichtliche Stadienmodelle (Turgot, Montesquieu, Hume, Smith u. v. m.) und verzeitlichte, historische Tableaus (Condorcet u. a.), Darstellungen von Geschichte als Ergebnis unbeabsichtigter Handlungsfolgen, historisch-genealogische Kritik und Dekonstruktion von vermeintlich Gott gegebenem und Unveränderlichem der Ständegesellschaft (Rousseau), geographische und zeitliche Perspektiverweiterungen über die biblische Heilsgeschichte hinaus (Voltaire), hypothetische Geschichtsdarstellungen auf der Basis anthropo2 Exemplarisch für eine lange Forschungstradition zur wissenschaftlichen aufklärerischen Historiographiegeschichte zuletzt: Martin Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012. 3 Für einen Überblick vgl. z. B.: Johnson Kent Wright: Historical Thought in the Era of the Enlightenment. In: Lloyd Kramer u. Sarah Maza (Hrsg.): A Companion to Western Historical Thought. Oxford 2002, S. 123–142.
Einleitung
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logischer Annahmen (›conjectural history‹) sind Beispiele für solche neuen spezifisch aufklärerischen narrativen Muster.4 Daneben werden überlieferte Formen des älteren historia magistra vitae-Paradigmas (Exempla, Anekdoten, Parallelbiografien etc.) im Sinne aufklärerischer Interessen und Zielsetzungen – etwa auf dem Gebiet der Pädagogik – umgedeutet.5 Schließlich lassen sich bestimmte Epochengliederungen in den Geschichtserzählungen des 18. Jahrhunderts als spezifisch für ein aufklärerisches Selbstverständnis ausmachen. Der Untergang des Römischen Reiches durch frühchristlichen Fanatismus, die Geschichte der Kreuzzüge, Inquisition und ›Hexen‹-Verfolgungen, das Zeitalter konfessioneller Bürgerkriege, Vertreibungen und religiöse Homogenisierung im absolutistischen Fürstenstaat von Philipp II. bis zu Ludwig XIV., die Geschichte des militärischen europäischen Kolonialismus und der Sklaverei als Beispiele für historische Katastrophen der Menschheitsgeschichte sind aufklärerische Topoi. Umgekehrt werden die Vor- und Frühgeschichte, 6 die Geschichte Indiens und Chinas, die griechisch-römische Antike oder die Renaissance als historische Gegenmodelle menschlicher Möglichkeitsräume in den Blick genommen. Vor diesem – hier nur ganz grob umrissenen – Hintergrund thematisieren die fünf Beiträge dieser Sektion ausschnitthaft einige Aspekte der oben genannten Fragestellung. John McCarthy liest Christoph Martin Wielands Roman Geschichte des Agathon als »ein Musterbeispiel des neu aufkommenden Historismus«7 der Aufklärung, in dem »[d]ie Spannung zwischen einer universalisierenden anthropologisch bedingten Tiefenstruktur menschenrechtlich-kosmopolitischer Werte einerseits und der Aufgeschlossenheit für lokalbedingte moralisch gefärbte Kultur- und Sprachunterschiede andererseits« 8 narrativ gestaltet werden. Wie McCarthy an den einzelnen topographischen Stationen des Romans nachweist, gelingt Wieland dies durch die zeitliche Überlagerung eines »Tableau philosophique des mœurs de la Grèce«9 (so der Untertitel der französischen Übersetzung des Romans) mit einer »politische[n] Landkarte Europas«10 in Wielands eigener Gegenwart des 18. Jahrhunderts. Dieser im Roman doppelt perspektivierte historische Raum stellt Wielands Experimen4 Grundlegend:
Richard B. Sher (Hrsg.): Conjectural History and Anthropology in the Scottish Enlightenment. 7 Bde. Bristol 1995. 5 Vgl. Pauline Pujo: Transmettre l’histoire pour former les citoyens. Écritures et réécritures des livres d’histoire pour la jeunesse dans l’espace germanophone et en France (1760–1800). Diss. Université Paris IV Sorbonne/Universität Potsdam 2015. 6 Vgl. dazu jetzt Nicholas B. Miller: John Millar and the Scottish Enlightenment. Family Life and World History. Oxford 2017. 7 John McCarthy: »Erzählstrategien und europäische Politik in Wielands Geschichte des Agathon.« Ein Beitrag zum Kontinentalisierungskonzept, S. 98–117. 8 Ebd., S. 100. 9 Ebd., S. 101. 10 Ebd., S. 102.
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tierfeld für eine historisch-empirisch fundierte »›politische[] Chemie‹«11 möglicher Handlungs- und Reaktionsweisen dar. Ebenfalls auf dem Gebiet der aufklärerischen Antike-Rezeption bewegen sich Marlene Meuers essayistische Überlegungen zur Diskussion der klassizistischen Querelles des Anciens et des Modernes im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Am Beispiel von Rousseau, Winckelmann, Voltaire und einigen Antikeadaptionen des Revolu tionszeitalters skizziert Meuer, wie in kritischer Abgrenzung zum Antike-Verständnis unter Ludwig XIV. in der Aufklärung »[d]er Rekurs auf die Antike […] nicht mehr dazu dienen [soll], die bestehende Gegenwart zu verherrlichen, sondern umgekehrt: eine Veränderung der Gesellschaft zu unterstützen.«12 Dieser Impetus wende sich dann am Ende des 18. Jahrhunderts in der revolutionären Selbstkritik bei Volney gegen die »republikanische Antike-Ideologie«13 selbst, wenn Volney in der Direktoratszeit den Republikanern eine »›abergläubische‹, also irrationale und quasireligiöse Verehrung der Antike«14 vorhält. Markus Debertol untersucht am Beispiel der spätaufklärerischen »ZaupserJost-Debatte«15 in Bayern, wie die Inquisitionsnarrative der europäischen Aufklärung in einem katholisch geprägten Raum adaptiert werden. Zwischen einer im deutschen Sprachraum wesentlich protestantisch geprägten Inquisitionskritik und deren Abwehr durch Zensur und Verbote von Seiten der katholischen Orthodoxie zeigt Debertol spezifische Formen der Inquisitionserzählung innerhalb einer »katholische[n] Aufklärung«16 auf. Wesentlich als narrative Erfüllung von Aufklärungsprogrammen deuten Andreas Hütig und Christine Waldschmidt die Kulturgeschichtsschreibung von Johann Christoph Gatterer, Condorcet und Isaak Iselin. Entgegen dem eigenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit werden deren narrative Verfahren funktional im Sinne einer »Indienstnahme der Geschichtsschreibung für kulturelle wie pädagogische Ziele«17 (Gatterer), einer »formalen und damit leeren Folgerichtigkeit«18 durch bloße narrative Reihung zum Zweck einer vorausgesetzten Fortschrittsgeschichte (Condorcet) und als historisches Erzählen als »Betätigungsfeld des sittlichen Vorurteils, 11 Ebd.,
S. 104. Meuer: Historisierung der Antike und geschichtliches Überlegenheitsgefühl nach dem Ende der Querelle des Anciens et des Modernes des späten Französischen Klassizismus?, S. 149–159. 13 Ebd., S. 159. 14 Ebd. 15 Markus Debertol: »Pest der Vernunft und der Religion!« Inquisitionsnarrative der katholischen Spätaufklärung am Beispiel einer bayerischen Kontroverse, S. 118–126. 16 Ebd., S. 119. 17 Andreas Hütig u. Christine Waldschmidt: Erzählen von Ursprung, Entwicklung und Fortschritt. Narrative Strategien in kulturgeschichtlichen Schriften der Aufklärung, S. 136–148. 18 Ebd., S. 144. 12 Marlene
Einleitung
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das sich immer neues Material erschließt, um sich in der Welt anzuschauen und zu bekräftigen«19 (Iselin) ›entlarvt‹. Für eine Ausweitung der Kategorie ›historische Erzählung‹ auch auf die politischphilosophischen Abhandlungen der Aufklärung plädiert Mareike Gebhardt am Beispiel von Immanuel Kants politischer Philosophie. Angesichts derer von der postkolonialen Kritik seit einigen Jahrzehnten thematisierten Ausblendungen (»blind für ethnizistische oder misogyne Machtasymmetrien«)20 müsse man sich »vom wahrheits- und vernunftgenerierenden Anspruch der Aufklärung verabschieden.«21 Statt als systematisch-argumentative Beiträge zur aktuellen Demokratiediskussion seien Kants politische Positionen daher als eine »story«22 unter vielen anderen zu lesen. Neben Fragen zur begrifflichen Eingrenzung der Kategorie ›Erzählung‹ und zur Abgrenzung von »gelungene[n]« oder »gute[n]« stories23 (als die Gebhardt Kants »stories« gelten lässt) gegenüber weniger gelungenen, wird damit die Leitfrage dieser Sektion auf der Ebene von heutigen Erzählungen über die Aufklärung aufgeworfen. Die sich in den Beiträgen von Meuer, Hütig/Waldschmidt und Gebhardt mehr oder weniger explizit äußernde Skepsis gegenüber einer Fortschreibung von Postu laten des 18. Jahrhunderts ließe sich dabei durchaus selbst mit dem HistorisierungsGebot der Aufklärung begründen. Daneben wären aus einer aufklärerischen Perspektive heutige Historisierungen der Epoche der Aufklärung beispielsweise im Hinblick auf Plausibilität, historische Angemessenheit, Standpunkt der Darstellung, Erkenntnisinteresse und Wissensgewinn zu befragen.
19 Ebd.,
S. 148. Gebhardt: Kants kosmopolitischer Traum der befriedenden Demokratie. Ein Motiv der Aufklärung zwischen Philosophie und Erzählkunst, S. 127–135. 21 Ebd., S. 134. 22 Ebd., S. 135. 23 Ebd. 20 Mareike
John A. McCarthy
Erzählstrategien und europäische Politik in Wielands Geschichte des Agathon Ein Beitrag zum Kontinentalisierungskonzept »Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren.« (Goethe, Maximen und Reflexionen, # 99)
1. Kontinentalisierung Seit einigen Jahren befasst sich ein immer größer werdender Kreis von Literaturwissenschaftlern mit der Darstellung einer übergreifenden europäischen Identität in narrativen Werken. Diese Tendenz ist als Antwort auf Anregungen aus den Nachbardisziplinen Politologie, Soziologie, Anthropologie und Geschichte wohl zu verstehen. Konnten der Historiker Anthony Pagden und der Ethnologe Wolfgang Kaschuba Anthropologen, Ökonomen, Historikern, Politologen, Philosophen und Rechtshistoriker für ihre Sammelbände zum Thema Europa gewinnen, so fallen die Literaturwissenschaftler in diesen Unternehmen durch ihre Abwesenheit auf.1 Richtungsweisend unter den Literaturwissenschaftlern war allerdings Paul Michael Lützeler in Quellensammlungen und Interpretationsband mit Blick auf die Idee Europa in der Literatur.2 Mit seinen Publikationen hat Lützeler der Forschung wichtige Impulse geliefert. Wieland findet allerdings dort keine Erwähnung. Das steigende Interesse an das Konzept Europa spiegelt die Erkenntnis, dass die nationale Orientierung auf dem Kontinent ein Produkt historischer Entwicklungen ist und für die Zeit zwischen der Französischen Revolution (1789) und dem Fall 1 Vgl.
Tsypylma Darieva u. Wolfgang Kaschuba (Hrsg.): Representations on the Margins of Europe. Frankfurt a. M. 2007; Anthony Padgen (Hrsg.): The Idea of Europe from Antiquity to the European Union. Cambridge 22007. In der Regel treten Literaturwissenschaftler nur in literaturhistorischen Sammelbänden auf wie in Richard Littlejohns u. Sara Soncini (Hrsg.): Myths of Europe. Amsterdam 2007; Maurizio Ascari u. Adriana Corrado (Hrsg.): Sites of Exchange. European Crossroads and Faultlines. Amsterdam 2006; Konrad Ehlich (Hrsg.): Germanistik in und für Europa. Faszination – Wissen. Texte der Münchener Germanistentages 2004. Bielefeld 2006. 2 Vgl. Paul Michael Lützeler (Hrsg.): Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller. Bielefeld 2007; ders. (Hrsg.): Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Frankfurt a. M. 1994; ders.: Plädoyer für Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915–1949. Frankfurt a. M. 1987.
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der Berliner Mauer (1989) besonders geeignet ist. Die ›Wende‹ schaffte allerdings die Möglichkeit für eine Rückkehr zu einem integrativen multiperspektivisch trans europäischen Blick früherer Zeiten, der im Zeitalter zunächst des Nationalstaates des 19. Jahrhunderts und der späteren Trennung Europas in Ost und West während der Epoche des Kalten Krieges stark verkürzt worden war. Eine transnationale Perspektive trägt insbesondere zur Aufwertung staatsgeschichtlicher Hybridität anlässlich durchlässiger Nationalgrenzen und fließender Kontaktzonen entschieden bei.3 Das Gefühl der Heterogenität im Alltagsleben hatte man also auch noch vor der gegenwärtigen Migrationskrise Europas empfunden. Es sollte also nicht überraschen, dass sowohl (zumindest kulturbedingte) Transnationalität wie auch demographische Umstrukturierung durch Migrationswellen auch frühere Epochen gekennzeichnet haben. Bisherige Studien zur Europäisierung der Literatur favorisieren Werke, die erst nach 1945 entstanden sind. Allerdings verspricht eine längere Zeitlupe, mehr Licht auf die vielschichtigen Wurzeln der Europaidee zu werfen. Sie steht in direkter Verbindung mit dem gegenwärtigen Projekt, das unter dem Namen Europäische Union läuft. Theoretisch untermauern Jan und Aleida Assmann diese Entwicklung, indem sie − im Gegensatz zur synchronischen Perspektive der Historiker − eine langfristige diachronische Zeitlupe in ihrer Analyse einer mythologischen Tiefendimension kultureller Erinnerungskulturen hervorheben.4 Mein Anliegen innerhalb dieser Dynamik ist die Rolle von Literatur als einem Europäisierungsmedium in der Suche nach der besten Regierungsform. Diesbezüglich dürfte Milan Kunderas lakonisches Europakonzept treffend sein: »maximum diversity in minimum space.«5 Im Sinne hatte er die Konturen der ›Weltliteratur‹ und meint genauer eine paneuropäische Schriftkultur vor allem diejenige des 18. Jahrhunderts. Mit seinem literarischen Denkmodus schreitet der tschechische Autor über Nationalgrenzen hinweg. Ähnlich länderüberschreitend ist Kaschubas Verständnis von Europa als einer Kommunikations- und Vermischungs3 Vgl.
David Blackbourn: Germany and the Birth of the Modern World, 1780–1820. In: Bulletin of the German Historical Institute 51 (2012), S. 9–21, hier: 9: »The idea of the nation as ›container‹ misses the movement of people, things, and ideas. It overlooks the porousness of borders, underplays zones of contact and exchange, favors the homogeneous over the hybrid. It also makes it harder to see commonalities – the history a nation shared with other nations.« 4 Vgl. Jan Assmann: Collective Memory and Cultural Identity. In: New German Critique 65 (1995), S. 125–133; ders.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 72013, wo er kulturellen Erinnerungen in einem Vergleich von drei Mittelmeerkulturen des Altertums (Ägypten, Israel, Griechenland) nachgeht. Siehe auch Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 22008; dies.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006. Vgl. ferner Almut-Barbara Renger (Hrsg.): Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller. Leipzig 2003. 5 Milan Kundera: Die Weltliteratur. European Novelists and Modernism. In: The New Yorker (08. 01. 2007), S. 28.
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gesellschaft. Dabei denkt er an Sitten und Kulturbräuche. Die Vorstellung einer Kommunikationsgesellschaft prägte wiederum die im Begriff entstehende bürgerliche mediale Sphäre im 18. Jahrhundert,6 wo es u. a. auch um Sensibilisierungs- und Sozialisierungsimpulse ging. Die Konstituierung einer neuen öffentlichen Sphäre, die anders als jene politische der Höfe und Residenzstädte war, ist für die nachstehenden Überlegungen entscheidend. Freilich fehlt immer noch eine durchgreifende juristische Dimension. Allentfalls entsteht Europäisierung in kulturell-politischer Hinsicht durch ein kontinuierliches Alternieren zwischen Sein und Werden, Sollen und Wollen.7 Was noch nicht ist, was aber werden kann, hängt letztendlich von der Vision einer besseren Zukunft ab, von der Ausbildung des einzelnen Menschen für diese Zukunft und von dessen Integrierung in das Kollektiv. In der Geschichte des Agathon bietet Wieland ein Exemplar dieses Idealzustands, das im Gegenstande selbst spürbar ist und nicht bloß ein Hirngespinst ist.8 Letzteres erklärt den tieferen Sinn von Goethes Maxim: »Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren.«9 Einen eindeutigen Schnittpunkt in der fundamentalen Veränderung aufklärerischer Einschätzung historischer Erzählstrategien wie literarisch-kultureller Werte bildete Johann Gottfried Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). Dort erkennt Herder den Eigenwert und die Vielfalt von Kulturen und Geschichtsphasen emphatisch an. Man darf von einer »Herderischen Revolution« sogar sprechen und hat dieses Umdenken auf Giambattista Vico (1668–1744) zurückgeleitet.10 In der Folgezeit hat die kulturrelativierende Perspektive immer mehr Profil gewonnen. Sie unterliegt Paul Michael Lützelers Verständnis »einer kosmopolitischen europäischen Identität« und Wolfgang Kaschubas Zugeständnis, dass »Europeanization also means […] adopting the models and fashions of others.«11 Die Spannung zwischen einer universalisierenden anthropologisch bedingten Tiefenstruktur menschenrechtlich-kosmopolitischer Werte einerseits und 6 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Old and New Europe. Representations, Imaginations, Stagings.
In: Darieva u. Kaschuba (Hrsg.): Representations on the Margins of Europe, S. 25–42, hier: 28: »Europe [is] a society of exchange, transfer, communication, and commingling.« 7 Vgl. Politologe Ayhan Kaya: European Union, Europeanness, and Euro-Turks. Hyphenated and Multiple Identities (http://www.eurozine.com/articles/2005-10-04-kaya-en.html, Aufruf 28. 01. 2016). 8 Vgl. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon [1766/67]. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert. 5 Bde. München 1964–1968 [im Folgenden: H], hier: H 1, 835–836. 9 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Ders.: Goethes Werke. Hrsg. v. Erich Trunz. 14 Bde. Bd. 12. München 1981, S. 378. 10 Pascale Casanova: The World Republic of Letters. Cambridge 2004, S. 75–81. Siehe auch Isiah Berlin: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas. London 1976. 11 Kaschuba: Old and New Europe, S. 39; vgl. Lützeler: Kontinentalisierung, S. 17.
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der Aufgeschlossenheit für lokalbedingte moralisch gefärbte Kultur- und Sprachunterschiede andererseits liegt meinen gegenwärtigen Ausführungen zu Grunde.
2. Agathon: Eine Art politischer Chemie Wegen seiner innovativ experimentellen Erzählstrategien − persönlicher Erzähler, Polyperspektivität, philosophische Reflexionen, kulanter Umgang mit historischen Tatsachen, unzeitgemäße Zwischenbemerkungen − ist Agathon ein Musterbeispiel des neu aufkommenden Historismus.12 Allgemein gilt der Roman als der erste deutsche Bildungsroman. Die Handlung wird in die Übergangszeit vom 5. zum 4. vorchristlichen Jahrhundert verlegt. Geschildert wird das individuell-psychologische Heranwachsen des schönen athenischen Jünglings Agathon zu einem reifen Mann. Der Untertitel der französischen Übersetzung lässt jedoch eine andere Tiefen dimension deutlich erkennen: Histoire d’Agathon ou Tableau philosophique des mœur de la Grèce.13 Die antikisierende Einkleidung von Handlung und Personen verhüllen kaum die Tatsache, dass Wieland das eigene Zeitalter im Auge hatte. Mehr als ›nur‹ ein literarisch-philosophisches Werk für den denkenden Kopf (Lessing), ist sein Roman genau genommen eine Fundgrube praktischer Erfahrungen im Privatleben wie auch im öffentlichen sozialpolitischen Bereich. Unzeitmäßig-Zeitgemäßes im Roman deuten ferner auf den Begriff ›Kerneuropa‹ lange vor der Debatte um 1989/90.14 Das antike Szenarium kam den eigentlich kosmopolitischen Absichten Wielands entgegen. Deshalb fällt es mir schwer, Inhalt und Absicht von Wielands viel geforschtem Roman im Zeichen der Folgenlosigkeit zu lesen.15 Im Gegensatz zur üblichen Tendenz in der Wieland-Forschung, die das persönliche Bildungselement in diesem literarischen Experiment betont, lese ich Agathon als Zeitdokument
12 Wieland stellt die programmatische Schrift »Über das Historische im Agathon« der zweiten
Fassung seines Romans (1773) voran. Darin erläutert er den Historismus als die Vernetzung von historischer Wahrheit und erdichteter Erzählung. Vgl. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon [1794]. Hrsg. v. Friedrich Beissner. München 1983 [im Folgenden: dtv], hier: dtv, 19–29. Diese Ausgabe der dritten Fassung des Romans wird hauptsächlich zitiert, wenn die Textstellen in der Erstausgabe (1766–1767) fehlen. 13 Christoph Martin Wieland: Histoire d’Agathon ou Tableau philosophique […]. Übers. v. François Grasset. Paris 1768. Die englische Erstübersetzung lautet schlicht The History of Agathon. London 1773. Allerdings verweist der anonyme Übersetzer auf die Schilderungen der athenischen Republik und der syrakusischen Despotie als durchaus lehrreich: »These parts of the work are so excellent that they may be read with pleasure, perhaps with advantage; by statesmen and politicians« (ebd., Translator’s Preface, S. XII). 14 Vgl. Lützeler: Kontinentalisierung, S. 18–21. 15 Vgl. Walter Ehrhart: Geschichte des Agathon. In: Jutta Heinz (Hrsg.): Wieland Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009, S. 259–273, hier: 273.
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im Sinne Friedrich von Blanckenburgs (1774)16 und zwar als eine frühe politische Landkarte Europas. Hier findet man eine Erörterung verschiedener Staatsformen: absolute Demokratie, Monarchie und repräsentative Republik − d. h. Regierung durch Volksabstimmung, Alleinherrschaft, Oligarchie. Hier finden wir ferner eine Kritik an der Konsumgesellschaft wie auch einen Entwurf eines utopischen Groß familienlebens, wo Menschenwürde, Toleranz und Gleichheit für das gesamte Gesellschaftsleben tonangebend sind. Die ersten zwei der genannten Eigenschaften sind Grundsteine des Kosmopolitismus, während alle drei Werte in das Grundgesetz der Europäischen Union eingegangen sind; die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist bekanntlich der erste Satz des deutschen Grundgesetzes. Agathon ist in drei Versionen (1766/67, 1773, 1794) erschienen. Die Entstehungszeit umfasst die dreißig Jahre zwischen dem Siebenjährigen Krieg (1756– 1763) – dem ›ersten Weltkrieg‹ – und der Europa transformierenden Französischen Revolution (1789–1795). Demzufolge hatte Wieland Gelegenheit, seine Ansichten aufgrund historischer Ereignisse (wie auch persönlicher Erfahrungen) zu revidieren. Diesbezüglich ist die 1794 neu hinzugekommene Episode in Tarentum am Ende des Romans als Reaktion auf den französischen Terror von Wichtigkeit. Aus diesen Erfahrungen hat Wieland letztendlich einen kosmopolitischen Standpunkt immer mehr vertreten.17 Er benutzte die Mittelmeergemeinschaft der archaischen Antike mit den griechischen Kolonien (Magna Graecia) als getarnte Darstellung zeitgenössischer europäischer Verhältnisse der eigenen Epoche. Es geht also in diesem sogenannten ›unmodernen‹ Werk um eine Überlagerung verschiedener ›Zeitschichten‹.18 16 Vgl.
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman [1774]. Stuttgart 1965. Er hebt das Element des Zeitgeistes in der neuen bürgerlichen Romanform hervor. 17 Vgl. Jutta Heinz: Kosmopolitismus und Parteigeist. Ästhetische Erziehung zur politischen Urteilskraft in Wielands Essays zur Französischen Revolution. In: Miriam Seidler (Hrsg.): Die Grazie tanzt. Schreibweisen Christoph Martin Wieland. Frankfurt a. M. 2013, S. 237–256, hier: 239–241. Zwei weitere einschlägige Beiträge konnten nicht mehr berücksichtigt werden, weil sie erst nach Abschluss dieser Studie erschienen sind: Johan Lange: Republikaner, aber kein Demokrat. Christoph Martin Wielands Idealstaat in der Geschichte des Agathon (1766/67). In: Wieland Studien 9 (2016), S. 175–202; Sibylle Röth: »Liberal at Heart« – »Conservative by Instinct«. Konservative Tendenzen in Christoph Martin Wielands Stellungnahmen zur Französischen Revolution. In: Wieland Studien 9 (2016), S. 203–236. 18 Vgl. Walter Ehrhart: Wieland ist nie modern gewesen. In: Walter Erhart u. Lothar van Laak (Hrsg.): Wissen – Erzählen – Tradition. Wielands Spätwerk. Berlin 2010, S. 15–35. Ausgehend von mehreren Prognosen – Wieland sei veraltet, unmodern, in Vergessenheit geraten – formuliert Erhart in dieser wichtigen Studie ein neues Argument, basierend auf Wielands philologischen Kenntnissen. Somit darf er schließen: »Viel besser wäre es, den Gewinn der WielandLektüre daraus zu ziehen, dass solche Unterscheidungen – zwischen Tradition und Innovation, modernem Subjekt und widerständiger Welt, Antike und Moderne – an diesem Werk gewissermaßen abgleiten, dass Wieland, wenn er denn nie modern gewesen ist, trotzdem und vielleicht gerade deshalb ein Zeitgenosse bleibt« (ebd., S. 35). Wieland erkannte, dass das moderne Subjektivitätsverständnis ausgewogen werden müsste im Rahmen kollektiver Konstellationen.
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Eigentlich bietet Wieland einen politischen Atlas Europas am Beispiel des griechischen Kulturgebietes, indem er scheinbar nur die Seelengeschichte seines Titelhelden schildert.19 Dies tut er vor dem Hintergrund eines Europakonzepts, das als »la civilization européenne«20 immer mehr an Profil gewann. In den ersten beiden Versionen (1766/67, 1773) spiegelt Wieland deutlich Abbé Saint-Pierre’s Verlangen nach harmonischem Wettbewerb zwischen den Fürsten Europas. Nur durch Kooperation könne das Wohlergehen nicht nur der einzelnen Staaten, sondern auch der individuellen Bürger gesichert werden. Ferner von Wichtigkeit waren Gesetzmäßigkeit (bes. L’esprit de lois, 1748) und die kulturelle Geographie von Montesquieu, Voltaire, und Ferguson. Die Französische Revolution mit ihren Folgen sind Gestaltungsfaktoren in der dritten Fassung von Agathon (1794). In allen drei Versionen vertritt Wieland die Ansicht, Europa sei eine »Republik von Souverains.« Die Interessen der regierenden Dynastien liege in einem Gleichgewicht der Macht (»balance of power«).21 Dennoch betonte er die Rolle von eigentlichen Republiken wegen ihres Potentials, durch Kooperation unter sich ein Gegengewicht zu den Fürstenhäusern zu bieten. Schließlich hebt er die Notwendigkeit eines gebildeten Staatsbürgertums als Voraussetzung eines gut funktionierenden Staats apparats hervor. Sehr früh übrigens schwebte Wieland ein Ideal eines ›Rechtstaates‹ analog der »Republik des Lykurgus« vor, allerdings umgemodelt nach Gesetzen der 19 In
der dritten Fassung nennt Wieland das Werk eine »Seelengeschichte«, »das Archetypon alles dessen was er je gedacht und geschrieben« habe. Siehe Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. 3 Bde. Bd. 2. Sigmaringen 1987, S. 354. 20 Der erste Gebrauch dieses Ausdrucks findet angeblich 1766 statt, also gleichzeitig mit der Ersterscheinung des Romans. Vgl. Pim de Boer: Europe to 1914. The Making of an Idea. In: Kevin Wilson u. Jan van der Dussen (Hrsg.): The History of the Idea of Europe. London 1995, S. 13–82, hier: 64. 21 Vgl. Christoph Martin Wieland: Plan einer Academie, zu Bildung des Verstandes und Herzens junger Leute [1758]. In: Christoph Martin Wieland: Politische Schriften. Hrsg. v. Jan Philipp Reemtsma. 3 Bde. Nördlingen 1988 [im Folgenden: PS], hier: PS 1, 28–31. Also bereits um 1760 betrachtete Wieland Europa als eine »Republik der Souverains« (PS 1, 31), deren gemeinsames Interesse in einem Gleichgewicht der Macht bestünde, zu dem Allianzen von kleinen Republiken auch beitragen könnten. In seinem Züricher Privatissimum, »Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten in Europa. Anno 1758«, hatte er die politische Situation in Europa auch ausführlich kommentiert. Dort wiederholt er Abbé Saint-Pierres Forderung in Abrégé du projet de paix perpétuelle (1729; rev. 1738) nach Kooperation der europäischen Fürsten im friedlichen Wettbewerb mit einander als die Voraussetzung für das Florieren sowohl der einzelnen Staaten als auch der Staatsbürger (PS 1, 25–40). Durch eine solche Konstellation kleinerer und größerer Republiken entstehe eine neue Dynamik mit anders gearteten Anziehungs- und Abstoßungskräften. Ein metaphorischer Vergleich mit der Milchstraße liegt auf der Hand. Der Begriff Republik war Gegenstand mehrerer Beiträge Wielands zur Französischen Revolution in den Jahren 1792–1794. Siehe beispielsweise Christoph Martin Wieland: Die Französische Republik [Okt. 1792]. In: PS 3, 1–36; ders.: Gespräche unter vier Augen VII. Würdigung der Neufränkischen Republik aus zweyerley Gesichtspunkten [1798]. In: PS 3, 483–502.
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moralischen Tugenden christlicher Prägung. Damals meinte Wieland sogar, »eine Republik der Christen« sei zu bewerkstelligen, wenn man Lykurgische Freiheitsund Vaterlandsliebe durch Universalwerte wie Menschenliebe und Nächstendienst ersetzen würde.22 Dennoch ließ er sich bald überzeugen, das Heil der Menschheit im staatlichen Leben sei nur durch die »Allmacht des Gesetzes« möglich, hier vor allem durch die Solonische Gesetzgebung. Diese Überzeugung hat er wiederholt bekundet in viel späteren Skizzen zur innerlichen Verfassung von Athen, Sparta und Rom.23 Allerdings im Gegensatz zu den Exzessen der Französischen Revolution sei eine echte Republik nur unter der Voraussetzung, die Liebe zur Freiheit und zum Vaterland müsste wie ehemals mit »Gerechtigkeit, Edelmuth, Verachtung des Reichtums und äußerst einfachen Sitten gepaart werden« (PS 3, 488–489). Diese Wertkonstellation prägt das narrative Netzwerk in der Geschichte des Agathon. Die Erfahrungen, welche der Protagonist Agathon macht, sind oft so widersprüchlich, dass der Romanerzähler zugeben muss, es bedarf der Hand eines begabten Chemikers, »eine gute Komposition herausbringen zu wollen.« Diese Bemerkung betrifft nicht nur die experimentelle Art der »Seelengeschichte«, sondern auch die Realisierung einer gerechten Staatsverfassung. Letztere sei »aus zu vielerlei Gewichten und Rädern zusammengesetzt,« um ohne weiteres funktionsfähig zu sein. Dazu gehöre »eine Art von politischer Chemie«24 (dtv, 366). Die Romanerzählung ist also als ein Laboratorium der Wirklichkeit zu verstehen, nicht als eine Wunschtraumprojektion. Bestandteil der ›politischen Chemie‹ ist wohl auch das, was Wolfgang Pross meint mit seinem Argument, man könne »schwerlich von einem Roman Wielands« sprechen, »sondern eher von einem ›work in progress‹ in vier unterschiedlichen Stufen«.25 Der transnationale, ja paneuropäische Charakter der Debatten über soziale Gerechtigkeit, individuelle Freiheit und geeignete Regierungsform war Wieland durchaus bewusst.
22 Christoph
Martin Wieland: Platonische Betrachtungen des Menschen [1755]. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. 15 Bde. Bd. 14. Hamburg 1984, S. 65–99, hier: 98–100. 23 Christoph Martin Wieland: Kurze Darstellung der innerlichen Verfassung und äußerlichen Lage von Athen [1794]. In: PS 3, 213–233; ders.: Der Intellektuelle und die Revolution. In: PS 3, 618–620. 24 In einer Anmerkung zu seinen »Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes« (1793) bedauert Wieland, dass die Öffentlichkeit die Neuerscheinung von Adolf Friedrich Randels Annalen der Staatskräfte von Europa (Berlin 1792) nicht beachtet, weil diese Annalen der »neuesten fysischen, gewerbichen, wissenschaftlichen und politischen Verhältisse« der »Staatskräfte Europens« seines Erachtens äußerst wichtig seien (PS 3, 63 f., Anm.). 25 Wolfgang Pross: Nachwort zu Geschichte des Agathon. In: dtv, 595–617, hier: 605. Die ›vierte Stufe‹ ist der im Attischen Museum 1799 erschienene Dialog »Agathon und Hippias, ein Gespräch im Elysium«, der die philosophischen Auseinandersetzungen im Roman zwischen Materialismus und Idealismus fortsetzt.
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3. Vom individuellen Werdegang zur staatlichen Gerechtigkeit Demgemäß gilt als Leitfrage in diesem zyklischen Narrativ: Wie sind die Privatinteressen des Individuums mit dem Gemeinwohl vereinbar?26 Es handelt sich, wie ich meine, auch um die ursprünglichen Ideenlandschaften Europas. Ein Kartenwerk der vergleichenden politischen Geschichte mag die Handlungsräume und Entwicklungsdynamik der ineinander übergehenden Standortgebundenheit erhellen. Zunächst Europa um 1789, dann die Ursprungslandschaft.
Königreich Frankreich Rep. der Vereinigten Niederlande Königreich Polen-Litauen Königreich Schweden Österreich/Habsburg Ghzm. Toskana (österr. Sg.) Schweizer Eidgenossenschaft Königreich Portugal Persisches Reich
Kgr. Dänemark/Norwegen Kgr. Preußen/Brandenburg Königreich Spanien Kgr. Neapel-Sizilen (span. Sg.) Herzogtum Parma (span. Sg.) Kgr. Großbritannien/Irland Kfsm. Hannover (brit. Pers.-U.) Algerien (Algier) Marokko
Kurfürstentum Sachsen Kurfürstentum Bayern Republik Venedig Kirchenstaat/Avignon Königreich Sardinien-Piemont Russisches Reich (Russland) Osmanisches Reich/Vasallen Fsm. Walachei/Moldau (osman.) Sonstige Gebilde
Abb. 1: Europa um 1789 (Quelle: http://cliomaps.de/karten/eu/1789a [Aufruf 28. 01. 2016])
Die Handlungsräume reichen von Delphi zu Athen, Smyrna, Syrakus und Tarentum. Politisch betrachtet handelt es sich um Überlegungen zu theosophischen, republikanischen, kapitalistischen, despotischen und aufgeklärt absolutistischen Lebens26 Dieser
Frage geht Andrea Speltz auch nach: Multiperspectivism in Wieland’s Cyrus. In: Lessing Yearbook/Jahrbuch 42 (2015), S. 25–45.
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Abb. 2: Europäische Ursprungslandschaft Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Peloponnesian_War#/media/File:Pelop_war_en.png (Aufruf 28. 01. 2016)
und Handlungspraktiken. Somit dichtet der Romanerzähler einen transregionalen Erinnerungsraum von heute noch gültigen Wertvorstellungen zusammen.27 Scheinbar knüpft Wieland an die Auffassung Edward Gibbons direkt an, der bezüglich der Vorgeschichte der modernen Europakonstellation im 18. Jahrhundert konstatiert hatte: »The cities of Ancient Greece were cast in the happy mixture of union and interdependence which is repeated on a larger scale, but in a looser form, by the nations of modern Europe.«28 Diese Idee von Interdependenzen greifen heutige Europa-Kommentatoren immer wieder auf.29 27 Vgl.
Hajnalka Nagy u. Werner Wintersteiner (Hrsg.): Erinnern – Erzählen – Europa. Das Gedächtnis der Literatur. Innsbruck 2015; Matgorzata Pakier u. Bo Stråth (Hrsg.): A European Memory. Contested Histories and Politics of Remembrance. New York 2010. Wenn die Autoren dieser Sammelbände den Blick auch nur auf die Zeit nach 1945 richten, ist ihre Befragung der Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen Identität bzw. eines kollektiven Erinnerns für meine Zwecke von Belang. Zum Gegeneinander-Lesen von Literatur und Geographie vgl. Annegret Pelz: Karten als Lesefiguren literarischer Räume. In: German Studies Review 18 (1995), S. 115–129. 28 Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Hrsg. v. David Wormersley. 12 Bde. Bd. 1. London 1995, S. 106. Der Einfluss Gibbons auf deutsche Denker war sofort und breit. Vgl. Cord-Friedrich Berghahn u. Till Kinzel (Hrsg.): Edward Gibbon im deutschen Sprachraum. Bausteine einer Rezeptionsgeschichte. Heidelberg 2015. 29 Vgl. de Boer, der die historisch bedingten Variationen des Europakonzepts aufzeichnet
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Der neuen Aufklärungsanthropologie nach sollten Polis und Moral eine Einheit bilden, denn jede individuelle Handlung wird stets ethisch standortgebunden, ob im imaginären oder in einem realen Kontext. Agathons »philosophische Wanderschaft«, wie der Text seinen Werdegang kennzeichnet (dtv, 575), betrifft »die ganze Ökonomie der Menschheit« (dtv, 577), welche die jeweilige standortgebundene Gestaltung eines einzelnen Menschen transzendiert. Was gemeint ist, erklärt Wieland in einem Essay aus dem Jahr 1785 etwas pointierter, wenn er behauptet: »Im Grunde ist also alle ächte Menschenkenntnis historisch. […] diese Philosophie der Menschen-Geschichte ist nichts anders als Darstellung dessen was sich mit den Menschen zugetragen und immerfort zuträgt.«30 Mit dem Hinweis auf das ›Verbundnetz‹ von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlägt er eine Brücke zwischen individueller Erfahrung und Gemeinsinn. Als soziales Wesen erfüllt der Mensch seine Bestimmung erst im Kollektiv durch »ungesellige Geselligkeit.«31 Einerseits stellt die oben genannte städtische Reihenfolge metaphorisch eine persönliche Seelenentwicklung also dar, andererseits vertreten sie Stationen im Denken eines sozial-politischen Aktivisten. Letzteres ist mir am Wichtigsten. Als erster Bildungsroman machte Die Geschichte des Agathon Schule und schaffte damit neue Erzählräume von anhaltendem Wert. »The oldest literary spaces are also the most endowed«, schlussfolgert Pascale, »which is to say that they exert an uncontested dominion over the whole of the literary world.«32 Ähnlich entwirft Franco Moretti einen Atlas der geographischen Schauplätze tonangebender europäischer Romane 1800–1900. In den Ländern mit einer bedeutenden Hauptstadt (Frankreich, England, Russland, Spanien) peile der Protagonist stets auf die Hauptstadt als Mittelund Endpunkt seines Bestrebens. In Ländern ohne eine nationale Hauptstadt wie etwa Deutschland erscheine der Werdegang des Helden als »irresolute wandering« (allerdings auch als Erzählstrategie, eine neue noch nicht existente transregionale Einheit zu enthülsen).33 Wenn Pascale und Moretti standortgebundene literarische Werte auch meinen, passen ihre Atlas-Metaphern reibungslos zu meiner These vom richtungsweisenden Einfluss bestimmter Hauptorte der Antike mit ihrer jeweiligen Ausstrahlung geopolitischer Wertsetzung. Die geographische Karte der Wander dynamik im Falle von Agathon dürfte so aussehen: (de Boer: Europe to 1914, S. 69–74). Vgl. ferner Bianca Fontana: The Napoleanic Empire and the Europe of Nations. In: Padgen: Idea of Europe, S. 116–128. 30 Christoph Martin Wieland: Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller [1785]. In: PS 1, 251. Vgl. Wielands historisierende »Apologie des griechischen Autors« in der Erstauffassung des Romans (H 1, 827–831). 31 Immanel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Ders.: Werke. Hrsg v. Wilhelm Weischedel. 10 Bde. Darmstadt 1964 [im Folgenden: KW], hier: KW 9, 37. 32 Pascale: The World Republic of Letters, S. 352. 33 Franco Moretti: Atlas of the European Novel 1800–1900. London 1998, S. 66.
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Delphi gnothi seauton exercises spirituelles
Korinth
Tarentum
tyrannis I: öffentliche Meinung + Verdienst
privat-öffentlich
Syrakus
Athen
tyrannis II:
Republik / Föderalismus
Privatinteressen
Smyrna Luxus + Kapitalismus
Abb. 3: Entwicklungsdynamik in realer Zeit (Grafi k: John A. McCarthy)
3.1 Delphi Delphi war eine bekannte Pilger- und Weissagungsstätte am Parnassus. Ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. setzte sich die Verehrung des Apollons durch und das Orakel entwickelte sich. Die berühmte Inschrift am Eingangstor des Apollonischen Tempels lautete: γνῶθι σεαυτόν (gnothi seauton); der Spruch setzt den Ton für Agathons Weg zur Selbsterkenntnis. Bemerkenswert ist ferner die etymologische Ableitung der Name Delphi vom δελφός (delphos), was so viel wie ›Gebärmutter‹ bedeutet. Somit verweist der Name der Kultstätte auf eine ältere Verehrung der Erdgöttin Gaia hin. Die Verbindung von Gaia als Ursache der irdischen Schöpfung und von Apollon als Prinzip der harmonischen Ordnung alles Seienden ist aussagekräftig für die Absicht des Romans. Mythologisch gesehen ist also Delphi der geeignete Schauplatz »des kontemplativen Lebens« (dtv, 254) für die Einweisung Agathons in die Mysterien des Seins sowie die Rückbesinnung auf die Quellen des Glücks in sich selbst. Die Kultstätte gleicht einer mutter- und vaterlosen Seelenlandschaft, bis weibliche wie auch homosexuelle Annäherungsversuche den platonischen Schwärmer aus den höheren Sphären krass zur Erde herabziehen. Auf diesen Ausgangspunkt einer Dialektik zwischen Ideal und Leben, Seele und Leib, verweist der Roman wiederholt in seinem Erzählfluss.
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3.2 Korinth Korinth ist die zweite Station und ein kurzer Zwischenakt in Agathons Wandergeschichte. Korinth war die erste griechische Polis mit der Regierungsform der Alleinherrschaft, Tyrannis genannt. Korinth war Begründer der Stadtkolonien Korfu und Syrakus (ca. 730 v.Chr.) und der Ort, wo Agathon zu seinem Vater Stratonicus zurückfindet. Stratonicus klärt Agathon über seine Herkunft auf und erkennt ihn öffentlich als legitimen Sohn und Erbe seines Reichtums an. Durch die Unterredungen mit seinem Vater und nach wie vor leicht entflammend für idealistische Projekte fühlt sich Agathon berufen, in Athen seine politischen Träume zu verwirklichen (vgl. H 1, 595; dtv, 233). Durch Geburt und Verdienste seiner Vorfahren genießt Agathon ohnehin das athenische Bürgerrecht. Und sein Reichtum ermöglicht es ihm, seinen politischen Projekten unbekümmert nachzugehen.
3.3 Athen Athen mit seiner damaligen Volksherrschaft bzw. direkten Demokratie ist die dritte Lebensstation und Szene erster politischer und diplomatischer Handlungen. Durch seine Tugendhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Redegewandtheit erwirbt sich Agathon die Gunst und das Zutrauen seiner Mitbürger. Sein Plan ist es, Athen in die »Hauptstadt der Welt« zu verwandeln, sie als »die Gesetzgeberin der Nationen, die Mutter der Wissenschaften und Künste« umzugestalten (dtv, 232).34 Als Weg dazu wählt er ein föderatives System. Um »Macht, Ansehen und Einfluß auf die allgemeine Verfassung des politischen Systems der Welt« zu sichern, legt er den größten Wert auf gerechte Bündnisse und Freundschaft mit den Nachbarstaaten (H 1, 605; dtv, 242). Durch Kooperation könne man die abtrünnigen Inseln an die Athener Regierung eher enger anknüpfen als durch Unterdrückung und Ausbeutung, so argumentiert er. Agathon wird zum Haupt einer diplomatischen Delegation ernannt, wird außerdem zum Befehlsinhaber einer Flotte gemacht und segelt ins Meer hinaus. Sein tugendhaftes Benehmen wie diplomatisch klug angelegtes Reformprogramm schaffen Vorteile für alle Verbündete; die Krise wird bewältigt. Nach zwei Jahren kehrt er erfolgreich in die Heimat zurück, wo er als Staatsheld gefeiert wird. Doch scheitert Agathon letztlich am Neid aristokratischer Feinde, die sich beeinträchtigt fühlen. Alles Uneigennützige, Gerechte und Richtige an Agathons Reformprojekt wird von eifersüchtigen Gegnern heimtückisch in Ungerechtigkeiten mit Nachteilen für Athen verwandelt. Glanz wandelt in Elend um, Selbstlosigkeit 34 Ähnlich
8. Buch, 2. Kap. (dtv, 242), wo Agathon »Athen zur Königin des Erdbodens« machen möchte.
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in Eigennutz, Sozialgewinn in persönlichen Verlust, vertraglich abgesicherte Freiheit in heimliche Sklaverei. Demokratie artet in Ochlokratie aus. Wankelmütig wie es ist, lässt sich das Volk schnell genug gegen Agathon umstimmen. Sein Erb- und Bürgerrecht wird sogar angefochten. Schließlich wird er aus Athen verbannt. Die enttäuschende Einsicht in die Fragilität bestgelegter Staatspläne, die zum Vorteil aller Beteiligten hätten gedeihen können, sowie die Erkenntnis, dass die Handlungsmöglichkeiten eines reformgesinnten Einzelgängers ohne die Mitbeteiligung ähnlich gesinnter Mitmenschen begrenzt sind, führen zur persönlichen Krise und Desorientierung. Im Vergleich zur ersten Desillusionierung in Delphi wird sie diesmal um eine politische Dimension erweitert.
3.4 Smyrna Als eine der bedeutendsten Handelsstädte Asiens der Zeit bildet Smyrna die vierte Station und wird zum Schauplatz einer neuen existenziellen Krise des Helden. In ausgedehnten Unterredungen erörtern der Sophist Hippias und der Platoniker Agathon die aktuelle Frage, ob der Mensch ein rein physisches Wesen, eine ›Maschine‹ sei, die von äußeren und internen Mechanismen gesteuert werde, oder ein selbstbestimmendes geistiges Wesen, das sich eigene Gesetze geben könne. Leitfragen der beiden Kontrahenten in der Leib-Seele Debatte sind: Wer bin ich, was will ich, was kann ich? Agathon entpuppt sich als überzeugter Advokat eines aufklärerischen Optimismus unter anachronistischem Einfluss von Leibniz (Fortschrittsoptimismus, bestmögliche Welt, Tugendgläubigkeit), Shaftesbury (inward form, wohl tuender Humor als Schutz gegen Enthusiasmus und Melancholie) und Hutcheson (empfindsame Moralphilosophie) gegen den Materialismus attischer (Lukrez) bzw. europäischer Provenienz (Buffon, d’Holbach), die Hippias vertritt. Diese Gespräche knüpfen an das Bewegungsprinzip, das eingangs konstatiert wurde: »Was ist dieses große Ganze, welches wir die Welt nennen, anders als ein Inbegriff von Wirkungen?« (dtv, 66). Während Hippias die Ursache der vielschichtigen Wirkungen in den Naturprozessen selbst sucht, vermutet Agathon die Ursache in einem teleologischen Zweck (vgl. ebd.), in einer »geistigen Urkraft aus welcher alle Kräfte ihr Wesen ziehen« (dtv, 566). Die existentielle Krise wird durch eine Intrige des Hippias ausgelöst, der die idealisierende Liebe des Helden zur schönen Hetäre Danae zu vereiteln versucht, indem er dem jüngeren Rivalen zu verstehen gibt, Danae sei nicht die sexuell Unerfahrene, für die Agathon sie hält. Paradoxerweise erweist sich letztendlich Agathons Liebe und Überzeugung von ihrer besseren moralischen Natur als ausschlaggebender Faktor in Danaes eigener Entwicklung von Hetäre zur schönen Seele in der dritten Fassung des Romans. Wohl ein kräftiger Beleg für die Wichtigkeit des Glaubens an eine bessere Welt im Allgemeinen.
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3.5 Syrakus Syrakus ist die fünfte Station. Mehrere Jahrhunderte lang galt dieser Tyrannenstaat in Sizilien als die mächtigste Stadt der Spätantike. Cicero bezeichnete sie als »die größte und schönste aller griechischen Städte«.35 Im Roman nennt Wieland Syrakus eine zweite Athen (H 1, 690; dtv, 314). Die mehr als 125.000-Einwohner-Stadt ist Schauplatz zunächst von Platons Versuch, Sizilien in eine platonische Republik zu verwandeln (dtv, 363). Durch die »genaueste Verbindung der Klugheit mit der Rechtschaffenheit« (dtv, 366) sollte der junge Tyrann Dionysus II zum aufgeklärten Monarch erzogen werden. Aus der Tyrannei des Dionysus sollte also eine Epistokratie entstehen. Platon, bekanntester Verteidiger der Epistokratie, war davon überzeugt, dass nur eine Vereinigung von Macht und Einsicht das Elend beenden könne. Ein allgemein fördernder, wohl funktionierender Staat brauche informierte, selbstdenkende Bürger. Letzten Endes misslingt auch Agathons Reformversuch an der Unerziehbarkeit des Dionysus und den Schikanen seiner opportunistischen Gegner am Hofe (Geheimrat Philistus, General Timocrates, Cleonissa Ehefrau des Philistus). Das syrakusische Reformprojekt ist das Gegenstück zu Agathons Reformeifer in der athenischen Volksregierung, wo er seine ersten Erfahrungen »in dem gefahrvollen Ocean des politischen Lebens« gemacht hatte (H 1, 601; dtv, 239). In beiden Fällen gelingt es Agathon zunächst aufrührerische und kriegerische Zustände durch Diplomatie zu beschwichtigen. Wie in Athen ging es um die Gerechtigkeit als Mittel zur Aufhebung des verhassten Unterschieds zwischen den Armen und den Reichen. Denn Gerechtigkeit sei »der einzige Grund der Macht und Dauer eines Staats, so wie das einzige Band der Gesellschaft«; das heißt, zwischen einzelnen Menschen wie ganzen Nationen (H 1, 605; dtv, 242). Die Rechtschaffenheit sollte die Staatsklugheit infiltrieren und so helfen, die ständigen Kabalen und Intrigen im politischen Meer zu umschiffen.
3.6 Tarentum Tarentum (heutiges Taranto in Apulia) bildet die sechste und vorläufige ›Endstation‹ von Agathons Wanderungen (als Bildungsroman bleibt die Fortsetzung ohnehin offen). Historisch fassbar wird die Stadt ab 706 v. Chr., als eine Gruppe von spartanischen Kolonisten (sog. παρθενία [Partheniae], die Söhne unverheirateter Spartanerinnen und περίοικοι [perioeci], das heißt, freie Bewohner Spartas ohne Bür35 Marcus
Tullius Cicero: M. T. Ciceronis Orationes selectae. Cum analysi rhetorica, commentario et adnotationibus. Übers. v. Fridr. Carl Wolff. Bd. 11. Wien/Triest 1826, S. 144: »Urbem Syracusas maximam esse Graecarum urbium pulcherrimamque omnium«.
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gerrechte) eintraf und die Vorgängersiedlung in eine griechische Polis umwandelte, die einzige Ἀποικία (apoikia, Außensiedlung) Spartas. Unter der Führung ihres bekanntesten Bürgers, Staatsmannes, Generals und Oberhaupts Archytas erlebte die Stadt eine kommerzielle, militärische und kulturelle Blütezeit (ca. 380–350). Der Stadtstaat galt lange als wichtiges und reiches Zentrum der Magna Graecia. Als Handelszentrum, vor allem mit Griechenland und Kleinasien, herrschte Tarantum über die größte Flotte und Armee Süditaliens. Nach dem Tode des Archytas verlor die Stadt allerdings langsam aber stetig an Bedeutung.36 Im Roman findet hier ein idyllisches Staatswesen unter der Führung des weisen Archytas statt. Archytas regiert eher unpolitisch, weil er selbstlos handelt und Hochachtung für inhärente Menschenwürde zeigt. Seine ›Untertanen‹ haben große Hochachtung vor ihm wegen seiner moralischen Aufrichtigkeit. Agathon charakterisiert seine Übersiedlung vom intriganten Syrakus in das friedliche Tarentum als vom Wunsch motiviert, »in der ruhigen Dunkelheit des Privatstandes […] dem Nachforschen der Wahrheit und der Verbesserung seines Gemüts« nachzugehen (dtv, 378). Seine Zuflucht zu Tarentum ähnelt der Intervention des Archytas bei der Rettung Platons aus Syrakus im Jahr 361 v. Chr. Hinzu kommt, dass Archytas ein alter Freund von Agathons Vater Stratonicus ist (H 1, 832; dtv, 452). Das Nachforschen der Wahrheit und die Verbesserung des Gemüts hängen wohl mit Archytas’ ethisch-politischer Auffassung von Proportion und Relation als Grundprinzipien zusammen, nicht nur in der physischen Welt, sondern auch in der gerechten Staatsbildung. Sie ist ein Grundstein menschlicher Glückseligkeit. Laut Archytas führt λογισμός (logismos, Kalkulation) zur harmonischen zwischenmenschlichen Interaktionen. Mit seiner Betonung von ἰσότης (isotas, Gleichheit, Gerechtigkeit) als wesentliches Merkmal der mathematischen Berechnung von Proportion und Relation legte Archytas das Fundament für eine eher demokratische Staatsverfassung im Gegensatz zu Platons Epistokratie (d. i., die Führung durch intellektuelle Eliten).37 ›Isotas‹ dürfte als eine Variation der Kantischen »ungeselligen Geselligkeit« gelten.38 Agathons Rückzug in die Idylle ist ein weit verbreitetes Topos im 18. Jahrhundert, Foucault bekannt als »exercises spirituelles«.39 Gerechte Regierungsart und harmonisches Familienleben fallen hier in eins zusammen. Im Kontext des Ro36 Archytas
geboren zwischen 435 und 410, gestorben zwischen 360 und 350 (http://plato. stanford.edu/entries/archytas/#Life, Aufruf 23. 01. 2016). 37 http://plato.stanford.edu/entries/archytas/#Eth, Aufruf 23. 01. 2016. 38 Immanel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: KW 9, 37. 39 Erhart: Wieland ist nie modern gewesen, S. 28–29, weist auf die Wiederentdeckung dieser spätantikischen und frühchristlichen »Formen philosophischer Selbstsorge und Seelenforschung« durch Pierre Hadot und Michel Foucault hin. Allgemein zum utopischen Denken der Antike siehe Andreas Dittrich: Traduire la pensé utopique. Le transfert des paradigmes de L’An 2440 et Der goldene Spiegel. In: Stefanie Stockhorst (Hrsg.): Cultural Transfer Through Trans
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mangeschehens erscheint die tarentinische Oase als Resultat des vorhergehenden ›chemischen‹ Experimentierens mit unterschiedlichen staatstheoretischen Modellen. Diese ›Endphase‹ scheint m. E. dennoch eine Variation der »Republik der Christen« zu sein, die Wieland am Ende seiner Platonischen Betrachtungen über den Menschen (1755) vierzig Jahre früher als Ideal vorgeschwebt hat. Damals wie diesmal dachte er einzig und allein an eine universell gültige Tugendlehre, nicht an eine ausschließende Glaubensgemeinde wie heute so üblich in ultrakonservativen Kreisen.
Smyrna
Delphi/Korinth Religion Platonismus
Sensualismus Hedonismus
persönliches Verdienst
Athen/Syrakus Demokratie Republik Tyrannei Epistokratie
Tarentum Proportionalität + moralischer Sinn = Allgemeinwohl Abb. 4: Staatstheoretisches Resultat einer »chemischen Mischung« (Grafik: John A. McCarthy)
Aufgrund seiner angeführten Kultur- und Handelszentren im Mittelmeerraum bietet der Roman eine Aufzählung antiker Herrschaftsformen: Monarchie, Aristokratie, Demokratie. Jede dieser Regierungsarten hatte eine entartete negative Kehrseite (Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie), die dem Allgemeinwohl stets abträglich wirkte. Die positiven wie negativen Auswirkungen der fundamentalen Regierungsarten lation. The Circulation of Enlightened Thought in Europe by Means of Translation. Amsterdam 2010, S. 121–139.
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sind ein verkappter Beitrag zur Diskussion um die Vor- und Nachteile der Machtverhältnisse im frühen ›Europadiskurs‹ in der Geschichte des Agathon. Allerdings ist das mathematische Prinzip des ›logismos‹ in Tarentum nicht gleichbedeutend mit der ›balance of power‹ zwischen Landeshoheiten.
4. Zusammenfassung und Ausblick Die hier gebotene Kartographierung des Romangeschehens deckt sich allerdings nicht mit der eigentlichen Erzählchronologie im Werk. Zu Beginn des Romans wird der Leser direkt in medias res geführt: die ersten Seiten des Romans schildern einen verzweifelt in der Wildnis herumirrenden Jüngling, der sogleich von Seeräubern gefangen, nach Smyrna als Sklaven verschleppt und dem superreichen fein gebildeten Materialisten Hippias verkauft wird. Während der archaischen Zeit war Smyrna dank ihres Tiefwasserhafens ein führender Stadtstaat in Ionien mit weitreichendem Einfluss. Zu ihren berühmten Einwohnern zählte Homer. Später spielte die Stadt eine wichtige Rolle in der römischen Provinz ›Asia‹. In Smyrna wird rückblickend Agathons Vorgeschichte in Delphi, Korinth und Athen erzählt. Somit bildet Smyrna den moralisch-politischen Mittelpunkt des Romans. Dieser Schauplatz an der ägäischen Küste der heutigen Türkei (jetzt Izmir in Anatolia) dient zur Kontrastierung des bis heute noch aktuellen Widerspruchs zwischen zentralen Vorstellungen von den Innen- und Außengrenzen Europas seit der Antike. Der Polarität Athen-Syrakus ergänzend gegenüber steht die komplementäre Reihenfolge Delphi-Smyrna-Tarentum. Jene Städte repräsentieren Vor- und Nachteile republikanischer bzw. monarchischer Staatsformen, während die drei letztgenannten Orte Privatsphären menschlicher Entfaltung darstellen (abgeschlossene Glaubensgemeinde, hedonistische Lebensweise, harmonisches Großfamilienleben). Diese bieten theosophische, wirtschaftliche und philosophische Argumente für die glückliche Lebensführung im kleinen Kreise. Tarentum kommt eine besondere Bedeutung hinzu, denn es verbindet die Vorzüge der Alleinherrschaft mit jenen der Republik. Die »Macht der Sitten« und »der Geist der Emsigkeit«, teilt uns der Erzähler mit, herrsche im Lande durch das Vorbild des weisen moderaten Archytas, der von der »allgemein[en] Güte« beseelt sei (dtv, 453–455). Somit legen diese Tugenden den Grund zu einer gerechten Regierungsform und tragen zur Auflösung der schweren Aufgabe bei, »welche Gesetzgebung unter gegebenen Bedingungen die beste sei« (dtv, 454–455). Die Annahme liegt auf der Hand, die Moral müsse der Politik vorausgehen. Bemerkenswert bzgl. der biographischen Entwicklung von Agathon ist es, dass Korinth seine ›Vaterstadt‹ ist, während Athen zu seiner Wahlheimat wird. Korinth scheint also eine ›Vorstufe‹ zu sein. Ferner beachtenswert ist der verschachtelte Sinngehalt von Tarentum als einzige Koloniegründung von Sparta, allerdings
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mit nicht vollwertigen Spartanern besiedelt. Gerade hier ist der alte Familienfreund Archytas zu Hause und dient als allgemein leuchtendes Vorbild in der Politik. Um ihn als kosmopolitischen Mittelpunkt bildet sich eine ›Großfamilie‹. Diese Kleingesellschaft in Wielands Roman sollte wie ein Magnet funktionieren, dessen Anziehungskraft andere Menschen in seine Bahn zieht. Diese Bahn wird durch das Proportions- und Relationsgesetz geregelt. Darf man in jener Idee eine Vorstufe des Maastrichter Subsidiaritätsprinzips und den vorausgehenden Verhandlungen dazu zwischen Helmut Kohl und François Mitterand vermuten?40 Bis aber eine Idylle der Gerechtigkeit in die Realität umgesetzt werden kann, wo Politik und Moral nach Vernunftprinzipien und Proportionalität und nicht nach schlichter Egalisierung harmonisiert sind, empfiehlt Wieland die konstitutionelle Monarchie als die beste praktische Zwischenlösung. Das Gesetz soll herrschen und für Regenten wie für Regierte gleich bindend sein. Dabei hat Wieland das Sonnensystem vor Augen, in dem die Sonne die Verhältnismäßigkeit der Planeten zu sich und zu einander durch Naturgesetze mitbestimmt. Angesichts der Gefahren, die die geführte Regierungsform begleiten und schnell Demokratie in Anarchie, Republik in Oligarchie und Alleinherrschaft in Tyrannei umkippen können, schlussfolgerte Wieland, die Regierungsform selbst ist weniger entscheidend als die moralische Verfassung der Menschen. Ihm war durchaus bewusst, dass der Idealstaat ein Wunschtraum ist. Deshalb gab er eine Antwort auf die Frage, welche die beste Regierungsform sei, die als kleine Korrektur zu Goethes Diktum anzusehen wäre. In seinen »Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes« (1793) schrieb er gleichzeitig mit seiner letzten Revision von Agathon: »Das zuträglichste für jedes Volk (wie ich schon mehrmals mit dem weisen Solon behauptet habe) ist, nicht das Ideal der vollkommensten Gesetzgebung, sondern gerade die zu haben, oder zu bekommen, die er dermahlen am besten ertragen kann.«41 Dies scheint die Weisheit des Archytas zu erklären, der eine wohl funktionierende Staatsverfassung orchestriert hat, allerdings als narrative Fiktion. Wiederholt hatte Wieland als Beobachter der Französischen Revolution die Ansicht vertreten: das Volk sei noch nicht reif für eine durchgreifende und erfolgreiche Revolution. Es verstehe – wie wir nun hinzusetzen können – noch nicht das 40 Vgl.
Artikel 5 des Vertrags über die EU. Es wird neben zwei anderen Grundsätzen aufgeführt, die ebenfalls als wesentlich für die europäische Entscheidungsfindung angesehen werden: dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und dem Grundsatz der Verhält nismäßigkeit (http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex:12012M005, Aufruf 01. 02. 2016). Colette Mazzucelli: France and Germany at Maastricht. Politics and Negotiations to Create the European Union. New York/London 1997, bes. S. 135–172 u. 200–202. 41 Christoph Martin Wieland: Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlands. In: PS 3, 63. Vgl. PS 3, 467. Das Ende des Gesprächs unterstreicht die Vorstellung des Idealstaates als bloßen Wunschtraums metaphorisch, wenn es auf Mozarts Zauberflöte hinweist (PS 3, 468).
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mathematische Prinzip der Ausgewogenheit. Wieland formuliert sein langjähriges Argument 1798 gezielt mit den Worten: »Nur das Volk ist leicht zu regieren, das mit Überzeugung, an das sittliche Übergewicht seines (oder seiner) Regenten glaubt«.42 Dies ist eine beachtenswerte Ergänzung zu Goethes Gleichsetzung der besten Regierungsform mit der Selbstregierung (»Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren.«). Warum? Weil Wieland die Befürchtung äußert, das Volk werde erst nach vielen Jahrhunderten und gescheiterten Versuchen mündig werden, erst dann lernen, sich selbst zu regieren. Deshalb seine Zwischenlösung einer aufgeklärten konstitutionellen Monarchie. Freilich mit der entscheidenden Einschränkung: Der Regent müsse ein moralisches Vorbild von Gerechtigkeit, Moderation und Glaubwürdigkeit sein. Er muss das Vertrauen und den Respekt der Regierten verdienen. Die Kehrseite davon ist selbstverständlich, die Regierten müssen selber fähig sein, Gerechtigkeit, Moderation und Toleranz zu erkennen und selber zu schätzen. Das Verhältnis zwischen Regent und Regierten setzt also eine wechselseitige Beschränkung der Rechte voraus, die für das Allgemeinwohl erforderlich ist. Erst »nach manchen Revolutionen der Umbildung« kann man hoffen, das Ziel endlich zu erreichen. Der Weg dazu ist also lang, krumm und unsicher.43 Zwar ist Wielands Die Geschichte des Agathon um 1800 kein ›Kronzeuge‹ einer paneuropäischen Bewegung im Sinne von Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder! (1889) oder Romain Rollands europäischem Bildungsroman Jean-Christophe (1915) etwa ein Jahrhundert später,44 aber das Werk ist immerhin ein früher Beitrag zu theoretischen und praktischen Vorübungen (exercises spirituelles) desselben. Im Soge der gescheiterten Hoffnungen der Französischen Revolution entfachte der Nationalpatriotismus nochmals und lenkte vom tarentinischen Konzept kosmo politischer Gerechtigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit erneut ab. Die EU steht in einer Entwicklungslinie, die ihre Wurzeln hat im gleichen Aufklärungsgut wie Wielands Roman. Angesichts der heutigen Krise, welche das Solidaritätsprojekt der EU und das Prinzip Hoffnung auf Kooperation ins Wanken bringt, stellt sich die Frage, ob man das »Herz für Humanität und Menschenrechte« noch habe (PS 3, 575)? Jedenfalls sei abschließend an Wielands prophetisches Wort in seinen Gedanken von der Freiheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophieren (1788) erinnert: 42 Christoph
Martin Wieland: Betrachtung über einen bekannten politischen Satz [ob ein aufgeklärtes oder weniger aufgeklärtes Volk leichter regierbar sei, Anm. d.Verf.]. In: PS 3, 582. 43 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte. In: KW 9, 47. Vgl. Christoph Martin Wieland: Was ist Volkssouveränität? [1798]. In: PS 3, 569–575. Ähnlich argumentiert Jürgen Kocka bezüglich der Zivilgesellschaft. Siehe Jürgen Kocka: Zivilgesellschaft in historischer Perspektive. In: Ansgar Klein u. Markus Rohde (Hrsg.): Konturen der Zivilgesellschaft – Zur Profilierung eines Begriffs. Themenheft zum Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 16 (2003), S. 29–37. 44 Vgl. Lützeler: Kontinentalisierung, S. 233.
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Das Schicksal kann freilich mit der Zeit große Revolutionen herbeiführen, wodurch der gegenwärtige Zustand der Welt eine gewaltige Veränderung erleiden würde: aber wenn die Weltverbesserer, auf die ein menschenfreundlicher Träumer [L. S. Mercier] unsre Nachkommen ins Jahr 2440 vertröstet, bloß durch Aufklärung bewirkt werden sollte, so ist sehr zu besorgen, daß er ihre Epoke noch um einige Jahrhunderte zu früh gestellt hat.45 (H 3, 512)
Wohl bemerkt: die Prognose formuliert er vor Ausbruch der Französischen Revolution! Tarentum als Endstation 1794 von Agathons Suche nach der besten Regierungsform, die gleichzeitig den Frieden bewahren und menschenrechtliche Umgangsformen fördern könne, bietet uns Anlass zur Besinnung. Gegenwärtige Bedrohungen für die Zivilgesellschaft im Allgemeinen – etwa zunehmender natio nalpolitischer Parteigeist, religiöser Fundamentalismus, harter Kapitalismus, ex treme Reichtumsgefälle, Migrationswellen – sind nichts Neues. Doch um Erfolg in jenem agonistischen Spannungsfeld haben zu können, müsste man den guten Ausgang scheinbar immer neu zuversichtlich erzählen.
45 Ähnlich
(1799) an.
resigniert hörte sich Wieland zehn Jahre später in Gespräche unter vier Augen
Markus Debertol
»Pest der Vernunft und der Religion!« Inquisitionsnarrative der katholischen Spätaufklärung am Beispiel einer bayerischen Kontroverse »Fährt wieder prasselnd auf dein kaum erstorbnes Feuer, Megäre Inquisition, Des Orkus und der Dummheit Tochter, Ungeheuer, Pest der Vernunft, und der Religion!«1
Diese Verse stammen aus einem Gedicht, das erstmals 1777 in München erschienen ist. Sein Autor hieß Andreas Dominikus Zaupser, er war ein bayerischer Jurist, Aufklärer, Mitglied von Adam Weißhaupts Illuminatenorden und sollte später auch noch einer der Pioniere der Erforschung der bairischen Dialekte werden.2 Das Gedicht trug den Titel Ode auf die Inquisition; dieser Titel ist satirisch zu verstehen, denn es ist alles andere als ein Lobgesang, vielmehr ist es eine vernichtende Kritik vor allem an der spanischen Spielart des Kirchentribunals, die damals wegen des spektakulären Prozesses gegen den spanischen Aufklärer und Verwaltungsreformer Pablo de Olavide gerade noch einmal einiges an Aufsehen erregte.3 Zaupsers Kritik allerdings fiel so vernichtend aus, dass konservativ-katholische Kreise sie als Angriff auf die Kirche als Ganze verstanden, allen voran der Lands huter Dominikaner Thomas Aquinas Jost, der 1779 in Freising unter dem Titel Bildniße der Freyheit und Inquisition wider die Freygeister4 eine Streitschrift veröffentlichte, die u. a. eine Replik auf Zaupser darstellt. In diesem kleinen Buch setzt sich Jost ausführlich mit den Philosophen der Aufklärung auseinander, deren Ansichten, v. a. in Bezug auf die menschliche Freiheit, er für vollkommen abwegig hält und die er auch ausführlich zu widerlegen versucht. Ein Kernpunkt in Josts Argumentation gegen die Aufklärer ist dabei der Vorwurf, ihr Gedankengut sei schädlich für die Gesellschaft und untergrabe die Fundamente des Staa1 Andreas
Dominikus Zaupser: Ode auf die Inquisition. München 1777, V. 1–4. Biographie Andreas Zaupsers vgl. Ludwig Zaupser: Des Verfassers Leben. In: Ders. (Hrsg.): Andreas Zaupsers Churpfalzbaierischen Hofkriegsraths-Sekretärs sämmtliche Gedichte mit des Verfassers kurzer Lebens-Beschreibung. München 1818, n. pag. 3 Zum Prozess gegen Olavide vgl. Hans Otto Kleinmann: Art. Olavide, Pablo de. In: Helmut Reinalter (Hrsg.): Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher – Denker – Sachbegriffe. Wien/Köln/Weimar 2005, S. 450–453. 4 Thomas Aquinas Jost: Bildniße der Freyheit und Inquisition wider die Freygeister. Freising 1779. 2 Zur
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tes.5 Aus diesen Überlegungen zieht Jost eine aufsehenerregende Schlussfolgerung: Er fordert die Einführung eines Inquisitionstribunals für Bayern. Zwar spricht er von einer ›sanften‹ Inquisition, die Todesstrafe für Häretiker befürwortet er aber.6 In den folgenden Monaten und Jahren erschien erwartungsgemäß eine ganze Reihe von Entgegnungen, Schmähschriften und Parodien auf Jost. In der publizistischen Debatte, die sich nun ergab, wurden Narrative von der Inquisition verwendet, die in ihren grundlegenden Motiven auf eine lange Entwicklung zurückschauen konnten. Dabei ist zu betonen, dass die meisten der Autoren, angefangen bei Zaupser selbst, keineswegs prinzipiell kirchenfeindlich sind, sondern aus einer reform katholischen Grundüberzeugung heraus argumentieren. Wir wollen diese Narrative in den Inquisitionsdiskurs katholischer Aufklärer und in jenen der gesamten Aufklärung, auch im Verhältnis zu älteren protestantischen Diskursen, einordnen und der Frage nachgehen, welche Funktion das Sprechen über Inquisition im Kontext der gesellschaftlichen und politischen Konflikte der Zeit hatte. Dabei werden auch Publikationen herangezogen, die außerhalb Bayerns erschienen sind und nicht zur Debatte um Zaupser und Jost gehören, aber trotzdem dazu beitragen, diese im Kontext der Zeit zu verorten. Der Terminus ›katholische Aufklärung‹ wird im vollen Bewusstsein seiner Problematik verwendet.7 Die Narrative der behandelten katholischen Aufklärer entsprechen in vielen Punkten jenen von protestantisch, deistisch oder atheistisch geprägten Autoren, wir werden aber sehen, dass die Selbstwahrnehmung als Katholiken, und zwar als bessere Katholiken als die Vertreter konservativklerikaler Positionen, von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Zunächst eine bewusst sehr kurz gehaltene Nachzeichnung der Debatte; für eine ausführlichere Darstellung der Ereignisse verweise ich auf den Aufsatz Der »Fall Zaupser« und die Folgen von Thomas Bremer,8 der sie v. a. auf ihre politischen Implikationen hin untersucht hat. Andreas Zaupser antwortete 1780 auf Josts Streitschrift mit einer weiteren Ausgabe seiner Ode, der er eine Palinodie hinzufügte, in der er Jost vorgeblich in allen Punkten Recht gibt und sich als reuiger Sünder zeigt, 5 Vgl.
ebd., S. 13 f. ebd., S. 26. 7 Vgl. dazu Anton Schindling: Die katholische Aufklärung in der deutschen Geschichte des 18. Jahrhunderts. 12 Thesen. In: Oliver Auge u. Cora Dietl (Hrsg.): Universitas. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Universität im Schnittpunkt wissenschaftlicher Disziplinen. Georg Wieland zum 70. Geburtstag. Tübingen 2007, S. 245–251; Harm Klueting: »Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht«. Zum Thema Katholische Aufklärung – Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. Hamburg 1993, S. 1–35. 8 Thomas Bremer: Spanische Inquisition und bayerische Aufklärung. Der »Fall Zaupser« und die Folgen. In: Titus Heydenreich u. Peter Blumenthal (Hrsg.): Glaubensprozesse – Prozesse des Glaubens? Religiöse Minderheiten zwischen Toleranz und Inquisition. Tübingen 1989, S. 177– 207. 6 Vgl.
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der sich dem ›Großinquisitor‹ Jost unterwirft.9 Bereits 1779 waren anonym zwei weitere Reaktionen auf Josts Broschüre erschienen, ein Schreiben über Josts Vorschlag, die Inquisition in Bayern einzuführen10 sowie eine Meynung über die Schutzschrift der Inquisition, welche von einem Dominicaner in Freysingen, Thomas Aquin Jost, dem Druck übergeben worden.11 Jost reagierte schnell auf diese Angriffe und brachte seinerseits eine Entgegnung heraus.12 Dabei erhielt er Schützenhilfe vom Exjesuiten Johannes Nepomuk Gruber, der zum Rosenkranzfest 1780 in einer Predigt in München Zaupser scharf angriff und ihm vorwarf, unter dem Vorwand, die Inquisition zu kritisieren, die ganze Kirche zu verleumden. Friedrich Nicolai publizierte diese Predigt in den Beilagen zu seiner Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz13 und machte Gruber damit zum Kronzeugen für die angebliche Rückständigkeit Bayerns. Der Benediktiner Thomas Joachim Schuhbauer hingegen veröffentlichte 1782 eine Lob- und Ehrenrede auf die heilige Inquisition,14 die nichts anderes ist als eine Parodie auf Josts Bildniße. Die Debatte hatte allerdings auch ein handfestes politisches Nachspiel. Nachdem die (mehrheitlich mit Illuminaten besetzte) kurfürstlich-bayerische Zensur zunächst Zaupsers Ode ohne große Probleme erscheinen ließ, während Josts Bildniße im reichsunmittelbaren Fürstbistum Freising gedruckt werden mussten und im Kurfürstentum verboten wurden, nahm nach dem Tod des Kurfürsten Maximilian Joseph dessen Nachfolger Karl Theodor die Druckerlaubnis für Zaupser zurück und dieser musste ein öffentliches Glaubensbekenntnis leisten. Zwar wurden auch seine konservativen Gegner dazu aufgefordert, sich nicht mehr zum Thema zu äußern, was aber nichts daran änderte, dass die Affäre v. a. von Friedrich Nicolai und anderen norddeutschen Aufklärern dazu benutzt wurde, Bayern im Sinne bereits vorhandener Stereotype zum Hort der Rückständigkeit in Deutschland zu stilisieren.15 Zwei Topoi fallen immer wieder auf, wenn über die Inquisition gesprochen wird: Sie ist eine spanische Sache und sie ist eine Sache der Mönche, namentlich der Dominikaner. Im Falle Spaniens wird dabei auf hergebrachte Bilder und Vorstellun9 Andreas
Dominikus Zaupser: Ode auf die Inquisition nebst einer Palinodie dem Herrn P. Jost gewidmet. München 1780. 10 Anonym: Schreiben über Josts Vorschlag, die Inquisition in Baiern einzuführen. o. O. 1779. 11 Anonym: Meynung über die Schutzschrift der Inquisition, welche von einem Dominicaner in Freysingen, Thomas Aquin Jost, dem Druck übergeben worden. o. O. 1779. 12 Thomas Aquinas Jost: Antwort auf das Schreiben wider Jost. Freising 1779. 13 Johannes Nepomuk Gruber: Predigt des P. Joh. Nep. Grubers, Exjesuiten, gehalten am Rosenkranzfeste in der St. Michaels Hofkirche im Jahre 1780. In: Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. 12 Bde. Bd. 6. Berlin/Stettin 1785, Beilagen S. 83–89. 14 Thomas Joachim Schuhbauer: Lob- und Ehrenrede auf die heilige Inquisition. Wien 1782. 15 Vgl. Bremer: Spanische Inquisition und bayerische Aufklärung, S. 187–189.
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gen aus der Schwarzen Legende zurückgegriffen, die es als ein rückständiges, von grausamen religiösen Fanatikern bewohntes Land zeichnet, das unter der Knute der Mönche steht.16 Schuld an dieser Rückständigkeit sei in erster Linie die Inquisition. So schreibt Zaupser: »Oed liegt Iberien von deinem Drachenhauche, / Fleiß, Wahrheit, Freundschaft, Künste fliehn, / Des Denkens Freyheit stirbt, im Scheiterhaufen Rauche / Durch dich ersticket, Geistermörderinn!«17 Ganz ähnliche Motive finden sich auch in zeitgenössischen Werken außerhalb des Kurfürstentums Bayern. In der Abenteuererzählung Der Deserteur aus der spanischen Inquisizion, 1783 in Nürnberg gedruckt, berichtet ein Niederländer dem Ich-Erzähler, wie die Inquisition ihn aus Spanien vertrieben und seine dortige Manufaktur, die 300 Familien Arbeit und Brot gab, zerstört habe, nur weil er Unitarier sei.18 Und auch südlich der Alpen gilt die Inquisition als Ursache von wirtschaftlicher und sozialer Rückständigkeit, etwa im 1782 erstmals erschienenen Geschichtswerk über die Inquisition des Florentiners Francesco Becattini: In Deutschland, England, Frankreich und auch in Italien seien zahlreiche Erfindungen und Entdeckungen gemacht worden, während Spanien wegen der Inquisition immer rückständiger geworden sei.19 Interessant bei Becattini und anderen italienischen Autoren ist im Besonderen, dass sie die einheimische Römische Inquisition sehr viel weniger heftig angreifen als die Spanische; zwar wird auch der Römischen Inquisition gelegentlich vorgeworfen, sie habe die Entwicklung Italiens gehemmt,20 aber eben nicht mit derselben Vehemenz wie jene in Spanien. Auch in Italien ist die Inquisition im aufklärerischen Diskurs erstaunlicherweise also etwas Fremdes, das man mit dem Ausland und weniger mit den eigenen Staaten assoziiert, in denen zu dieser Zeit teilweise noch Inquisitionstribunale aktiv sind. Hinzu kommt das Stereotyp von Spanien als südlichem Land mit ungünstigem, heißem Klima und brennender Sonne, das schon aus diesen Gründen keine guten Bedingungen für den Fortschritt menschlicher Kultur bietet. Literarische Topoi in diese Richtung finden sich zwar nicht in unseren bayerischen Broschüren, sehr wohl aber in der süddeutschen Nachbarschaft. Im Deserteur aus der spanischen Inquisizion muss sich der Protagonist bald nach seiner Ankunft in Spanien wegen eines 16 Zur
Bedeutung der Inquisition für das Narrativ der Schwarzen Legende vgl. Edward Peters: Inquisition. Berkeley/Los Angeles 1989, S. 130–134. 17 Zaupser: Ode, V. 13–16. 18 Vgl. Anonym: Der Deserteur aus der spanischen Inquisizion. In zwo Abtheilungen. Nürnberg 1783, S. 4–7. Der Ich-Erzähler weist sich indirekt als Katholik aus, indem er angesichts eines Schiffbruchs gleich zu Beginn der Erzählung »alle Heiligen des Paradieses« um Hilfe anruft (vgl. ebd., S. 3). 19 Vgl. [Francesco Becattini]: Fatti attinenti all’Inquisizione e sua istoria generale e partico lare di Toscana. Florenz 1782, S. 16. 20 Vgl. z. B. Carlo Antonio Pilati: Di una riforma d’Italia ossia dei mezzi di riformare i piu cattivi costumi, e le più perniciose leggi d’Italia. Villafranca [=Chur] ²1770, S. 43–45.
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Sonnenstichs in ärztliche Behandlung begeben.21 Der französische Arzt, der ihn gesund pflegt, wird ihn später auch vor den Häschern der Inquisition retten.22 Damit zieht die Erzählung literarisch eine Parallele zwischen den Bedrohungen durch die exotische Natur und jenen durch die fremdartige Einrichtung der Inquisition und stellt den fanatischen Spaniern zugleich einen aufgeklärten Franzosen gegenüber. Ein ganz ähnliches Motiv findet sich in einem satirischen Werk, das 1783 in Wien zunächst in lateinischer Sprache und noch im selben Jahr auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. In Joannis Physiophili Specimen Monachologiae Methodo Linnaeana Tabulis Tribus Aeneis Illustratum23 werden verschiedene Mönchsorden nach der damals neuen Methodik Carls von Linné beschrieben als seien sie seltene Tierarten. Als Autor gilt gemeinhin Ignaz von Born, Wiener Aufklärer und Meister vom Stuhl der Loge Zur Wahren Eintracht, außerdem wie Zaupser Mitglied der Illuminaten. Seine Autorschaft ist nicht ganz unumstritten, gelegentlich werden andere Wiener Freimaurer wie Alois Blumauer und Joseph Ratschky 24 oder auch der Exjesuit Nikolaus Poda von Neuhaus25 als (Mit-)Verfasser genannt. Unabhängig davon ist die antiklerikale Stoßrichtung klar. Der Dominikaner wird fast ausschließlich über die Tätigkeit als Inquisitor definiert; er wittert Ketzerei schon von weitem und stößt den Ketzer, wenn er ihn gefangen hat, in den Scheiterhaufen, »indessen die nach Blut und Tod schnaubenden Mönche einen Kreis umher gestalten, über das Leiden der unglücklichen Beute Spott treiben […] und unter teuflischem Frolocken den Raub theilen.«26 Zwar seien die Dominikaner in gemäßigten Gefilden nicht so bösartig wie jene in Spanien, Portugal oder Südamerika, aber »auch die unsrigen sind nicht ohne Gift, und werden tödtlich, wenn sie in ein heisseres Klima verpflanzet werden.«27 Die Implikation solcher Aussagen ist eindeutig: Spanien wird zum exotischen Fremden, zum Anderen desjenigen Europa, das dabei ist, die Fesseln von Unvernunft und Aberglauben zu sprengen und in ein neues, aufgeklärtes Zeitalter einzutreten. 21 Vgl.
Anonym: Deserteur, S. 7. ebd., S. 47 f. 23 Joannes Physiophilus: Joannis Physiophili Specimen Monachologiae Methodo Linnae ana Tabulis Tribus Aeneis Illustratum. Augsburg [= Wien] 1783. Die Übersetzung ins Deutsche erscheint unter einem anderen Pseudonym: Ignaz Lojola Kuttenpeitscher: Neueste Naturgeschichte des Mönchthums. In Oesterreich 1783. 24 Vgl. Dolf Lindner: Ignaz von Born, Meister der Wahren Eintracht. Wiener Freimaurerei im 18. Jh. Wien 1986, S. 93. 25 Vgl. Franz Speta: Österreichs Entomologen der ersten Stunde. Nikolaus Poda (1723–1798) und Joannes Antonio Scopoli (1723–1788). In: Denisia 13 (2004), S. 567–618, hier: 578–597, sowie Constant von Wurzbach: Art. Poda von Neuhaus, Nikolaus. In: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 60 Bde. Bd. 22. Wien 1870, S. 452–453, hier: 453. 26 Kuttenpeitscher: Naturgeschichte, S. 11. 27 Ebd. 22 Vgl.
Inquisitionsnarrative der katholischen Spätaufklärung
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In diesem Beispiel wird auch der zweite vorherrschende Topos zur Inquisition deutlich, die Gleichsetzung von (Spanischer) Inquisition und Dominikanerorden. Das beginnt mit der immer wiederkehrenden – historisch nicht zutreffenden – Behauptung, der heilige Dominikus habe die Inquisition als Institution begründet. Zaupser bezeichnet sie in einer satirischen Entgegnung auf Jost, in der er diesem vorgeblich Recht gibt und seine früheren Angriffe widerruft, als »Domingos Tochter«28 – man beachte die spanische Form des Namens – und auch Jost selbst nennt ihn als einen der ersten Inquisitoren;29 bei ihm erfüllt diese Zuschreibung allerdings eine affirmative Funktion.30 Andere Autoren gehen nicht so weit, Dominikus selbst an den Ursprung der Inquisition zu stellen, die enge Verbindung zwischen Prediger orden und Inquisition wird aber nur selten nicht hergestellt. In der bereits erwähnten Erzählung Der Deserteur aus der spanischen Inquisizion sind die Männer, die den Protagonisten zuerst bespitzeln und dann als Inquisitoren verhören, ganz selbstverständlich Dominikaner. In Schuhbauers Lob- und Ehrenrede ist es ein »eiferiger Dominikaner«, der die Ketzer auf einen »irdisch brennenden Holzstoß hinwirft«.31 Die Vorwürfe gegen die Dominikaner sind im ausgehenden 18. Jahrhundert keineswegs neu und haben ihre Ursprünge interessanterweise nicht nur in der protestantischen antikatholischen Polemik, wo eine Identifizierung zwischen Dominikanern und Spanischer Inquisition bereits seit dem 16. Jh. konstruiert wird,32 sondern begegnen auch in innerkatholischen Rivalitäten wie der zwischen Jesuiten und Dominikanern. In Rom hatte bereits 1750 der Jesuit Giambattista Faure in einem Kommentar zur Bulle Licet ab initio, dem Gründungsdokument der Römischen Inquisition, schwere Vorwürfe gegen den Predigerorden erhoben. Papst Paul III. habe die Inquisition ursprünglich Weltpriestern übertragen wollen; als dann doch die Dominikaner mit dieser Aufgabe betraut worden seien, hätten diese Hass und Ineffizienz in die Behörde gebracht, weil sie nun mit Hartherzigkeit (›animi acerbitate‹) statt mit Glaubenseifer (›fidei zelo‹) geführt worden sei. Nachdem die Dominikaner in Gestalt des Ablasspredigers Tetzel bereits den Ausbruch der Reformation verschuldet hätten, hätten sie dann auch noch die Inquisition zum Instrument ihrer Ordensinteressen gemacht.33
28 Zaupser:
Palinodie, V. 20. Jost: Bildniße, S. 28 f. 30 Jost greift damit auf einen Topos inquisitions-apologetischer Literatur seit dem 17. Jhd. zurück. Vgl. Francisco Bethecourt: The Inquisition. A Global History, 1478–1834. Cambridge 1995, S. 388. 31 Thomas Joachim Schuhbauer: Lob- und Ehrenrede auf die heilige Inquisition. Wien 1782, S. 26. 32 Vgl. Peters: Inquisition, S. 129. 33 Vgl. Michaela Valente: Contro l’inquisizione. Il dibattito europeo secc. XVI–XVIII. Turin 2009, S. 143–146. 29 Vgl.
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Eine Besonderheit in der Argumentation katholischer Autoren zeigt sich in der Frage nach religiöser Toleranz. Allgemein ist der Inquisitionsdiskurs der Aufklärung davon geprägt, dass Glaubensgerichte als der größtmögliche Gegensatz zum Ideal von Vernunft und Toleranz begriffen werden. Diese Ansicht ist gerade bei protestantisch geprägten Autoren so vorherrschend, dass der Historiker Ludwig Timotheus von Spittler, selbst Protestant, 1788 kritisierte, man habe den Gegensatz zwischen Inquisition und christlicher Menschenliebe allzu deutlich herausgestellt.34 Zaupser nennt die Duldung zwar ein »Gotteskind«,35 das den Teufel Inquisition niederringen soll, für andere Autoren ist Toleranz aber durchaus verhandelbar. Im anonymen Schreiben über Josts Vorschlag, die Inquisition in Baiern einzuführen etwa wird keinesfalls Religionsfreiheit unter allen Umständen gefordert, sondern eine Unterwerfung der Religion unter die Staatsräson. Dem Fürsten allein komme es zu, zu entscheiden, ob er abweichende religiöse Meinungen in seinem Staat verfolge oder Toleranz übe. Entscheidungskriterium soll dabei das Wohlergehen und die innere Ruhe des Landes sein.36 Sehr stark ausgeprägt ist dieses Argumenta tionsmuster in italienischen Quellen. So kommt der lombardische Aufklärer und Barnabitenpater Paolo Frisi, der Korrespondenzen u. a. mit Kaunitz und Joseph II. pflegte, in seiner Lobrede auf Galilei zu einer überraschenden Schlussfolgerung: Er kritisiert in erster Linie den toskanischen Großherzog Leopold II., der seiner Pflicht als Landesherr nicht nachgekommen sei, weil er zugelassen habe, dass Galilei vor ein fremdes Gericht gestellt wurde. Die prinzipielle Legitimität von Glaubensgerichten stellt Frisi nicht in Frage, sie müssen aber dem Staat unterstehen, dem allein die Gerichtsbarkeit zukommt.37 Ähnliche Argumentationsmuster finden sich bereits ein Jahrhundert früher beim Venezianer Paolo Sarpi und anderen.38 Die Zaupser-Jost-Debatte ist also ein Beispiel dafür, dass die Inquisitionsnarrative der katholischen Spätaufklärung auf Topoi zurückgreifen, die sich bereits seit dem Beginn der Neuzeit herausgebildet haben. Die ideologischen Ziele, für die diese Narrative in Dienst genommen werden, sind aber nicht einheitlich. Während einige Autoren wie Zaupser im Sinne der wichtigsten Vertreter der französischen und norddeutschen Aufklärung die Inquisition als Gegensatz zum Ideal der Toleranz zeichnen, ist sie für andere in erster Linie ein unzulässiger Eingriff kirchlicher Autorität in den Zuständigkeitsbereich der weltlichen Regierung. Eine Konstante 34 Vgl.
Albrecht Burkhardt u. Gerd Schwerhoff: Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit – eine Standortbestimmung. In: Dies. (Hrsg.): Tribunal der Barbaren? Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit. Konstanz/München 2012, S. 9–55, hier: 54. Der Aufsatz erwähnt auch die Debatte um Zaupser und Jost (vgl. ebd., S. 53). 35 Zaupser: Ode, V. 33. 36 Vgl. Anonym: Josts Vorschlag, S. 9. 37 Vgl. Paolo Frisi: Elogio del Galileo. Mailand 1775. 38 Vgl. Bethencourt: Inquisition, S. 395–397.
Inquisitionsnarrative der katholischen Spätaufklärung
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bildet dabei das Motiv der Fremdheit, das grundsätzlich durch die Verortung der Inquisition in Spanien hergestellt wird. Eine Universalisierung des Inquisitionsbildes als Chiffre jeglicher religiöser Verfolgung, wie sie in der Aufklärung sonst oft zu beobachten ist, findet hier kaum statt.39 Gerade weil die Inquisition im Diskurs als etwas Fremdes, weit Entferntes gesetzt ist und, spätestens seit der Beschäftigung der französischen Aufklärung mit ihr, in der Regel nur mehr als archaisches, weit von der eigenen Wirklichkeit entferntes Kuriosum und kaum mehr als reale Bedrohung gesehen wird,40 eignet sie sich für den ganz konkreten Kampf um gesellschaftliche Deutungshoheiten. Zwar richten sich alle reformkatholischen Autoren in Bayern einhellig gegen Jost, der sich als Personifizierung des Fremden, Rückständigen im eigenen Land und in der eigenen Kirche geradezu anbietet, für das Verhältnis zur staatlichen Obrigkeit ergeben sich aus den unterschiedlichen Zugängen zum Thema Toleranz aber weitreichende Konsequenzen. Zaupsers Ode, in der neben Pablo Olavide und König Stanisław II. August von Polen auch Friedrich der Große als Kämpfer für Fortschritt und Toleranz glorifiziert wird,41 konnte angesichts der politischen Konstellation im gerade überstandenen Bayerischen Erbfolgekrieg, in dem der Preußenkönig als Garant der bayerischen Unabhängigkeit auftrat, durchaus als Spitze gegen Karl Theodor gelesen werden, auch wenn das nicht der ursprünglichen Autorintention entsprochen haben kann, erschien das Gedicht doch bereits vor Karl Theodors Herrschaftsantritt. Auch mit der Annäherungspolitik des Kurfürsten an Rom war das Gedicht nur schwer vereinbar.42 Die Forderung anderer Autoren nach mehr staat licher Kontrolle über die Kirche bzw. nach der Unterstellung von Glaubensdelikten unter die staatliche Jurisdiktion wiederum musste Karl Theodors politischen Zielen entgegenkommen. Die grundsätzliche politische Brisanz von inquisitionskritischen Schriften für den Kulturkampf zwischen traditioneller klerikaler Elite und Reformkatholiken auch noch in den 1780er-Jahren zeigt die Reaktion auf die erwähnte Wiener Mönchssatire Monachologia. Dort veröffentlichte der Erzbischof Christoph Anton von Migazzi persönlich eine Broschüre,43 in der Joseph II. aufgefordert wird, das Buch zu verbieten, allerdings ohne Erfolg. 39 Zu
dieser Universalisierung vgl. Peters: Inquisition, S. 186–187. Dieses Phänomen findet sich bei den genannten Autoren nur bei Becattini, der in der erweiterten, 1797 in Mailand erschienenen Auflage seiner Inquisitionsgeschichte auch ausführlich die Verfolgung des Protes tantismus in Frankreich unter Franz I. beschreibt. 40 Vgl. Bethencourt: Inquisition, S. 399. 41 Vgl. Zaupser: Ode, V. 37. 42 Zu dieser Politik vgl. Ludwig Hammermayer: Landesherr und Kirche. In: Andreas Kraus (Hrsg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte. 4 Bde. Bd. 2. München ²1988, S. 1267–1283, hier: 1275–1278. 43 Christoph Anton von Migazzi: Kardinals Migazzi etc. gehorsamste Vorstellung an Seine Röm. Kais. Königl. Majestät Joseph II. in Betreff des Buchs Monachologia. Wien 1784.
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Dabei erfüllt der Rekurs auf die Inquisition bzw. auf ihre Legende die Funktion, moralische Überlegenheit gegenüber der Gegenseite herzustellen und damit sowohl die eigene, aufgeklärte Identität zu stärken als auch die Legitimation der Konservativen in Gestalt der Bettelorden zu untergraben, indem man diese zum eigentlich fremden Element im eigenen Land macht und sie mit der anachronistischen und geographisch weit entfernten Spanischen Inquisition identifiziert, sich selbst aber zu besseren Christen und Katholiken erklärt.
Mareike Gebhardt
Kants kosmopolitischer Traum der befriedenden Demokratie Ein Motiv der Aufklärung zwischen Philosophie und Erzählkunst In Zum Ewigen Frieden beschreibt Immanuel Kant 1793 den paradoxen Umstand, dass die Globalisierung auf der einen Seite den ökonomischen Fortschritt im Modus der Beschleunigung vorantreibt, das kulturpolitische Projekt des demokratischen Kosmopolitismus auf der anderen Seite jedoch weniger leichtfüßig auf internationaler Ebene zu verankern ist. Es kann immer nur als »Annäherung« verstanden werden.1 Mit dem Idealismus des Aufklärers ist Kant dennoch davon überzeugt, dass die normative Dimension kosmopolitischen Denkens die ökonomistische Transnationalisierung einhegen kann. Hier beginnt Kants Erzählung von der pazifizierenden Wirkung der Demokratie, die das kämpferische und konfliktuale Moment des Ökonomismus unterlaufen und zähmen soll. Die Demokratie, die Kant – ganz Kind seiner Zeit – noch »Republik« nennt, steht im Mittelpunkt seines narrativen Motivs des ewigen Friedens.2 Erzählungen sind dann lebensweltlich anschlussfähig, wenn die in ihnen formulierten und symbolisierten Hoffnungen, Wünsche und Aspirationen auf soziokulturelle Resonanz stoßen. Kant hat es in seiner Friedensschrift und in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten vermocht, die Hoffnungen und Wünsche angesichts der historischen Umstände am Ende des 18. Jahrhunderts prägnant zusammenzufassen und sie in eine – so scheint es – zeitlose Sprache zu übersetzen: Demokratie wird nicht nur Konflikte und Kriege, sondern den Krieg überhaupt beenden. Hier nimmt eine Erzählung der Politischen Philosophie Gestalt an, die immer wieder reformuliert und reiteriert werden wird – so wirkmächtig ist ihr Auftreten. Kant erzählt angesichts des expansiven Kolonialismus von friedfertigen Reisen in andere Gegenden, die von Neugier und Exotik geprägt sind statt von der Gier nach Reichtum und Unterdrückung. Er erzählt von der gleichberechtigten 1 Vgl.
Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 22 Bde. Berlin 1900 ff. [im Folgenden: AA], hier: AA 8, 360. 2 Im Folgenden werde ich von ›Demokratie‹ sprechen, da sich der Sprachgebrauch hier seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geändert hat. Die wichtigsten Grundpfeiler der politischen Ordnung, die Kant mit dem Begriff der Republik umschreibt, sind Gewaltenteilung und Repräsentation. Mit zeitgenössischem politischem Vokabular ist Kants ›Republik‹ als liberale Demokratie zu umschreiben. Vgl. ebd., S. 352 f.
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Aspekte · 1. Sektion · Mareike Gebhardt
Nutzung der kugelförmigen Erdoberfläche anstatt von Ausbeutung und Entfremdung, er erzählt von den ethischen Normierungen geopolitischer Strategeme, und natürlich von der Vernunft, deren Wirkmacht selbst ein »Volk von Teufeln« dazu bringt, rational und überlegt zu handeln.3 Und schließlich erzählt er von der Herrlichkeit der Französischen Revolution und der aus ihr entstandenen Republik. In seiner Begeisterung transformiert Kant die Revolution in eine Reform, um nicht mit seinen rechtsphilosophischen Standards, die gewalttätigen Widerstand gegen das Oberhaupt untersagen, brechen zu müssen: In § 52 der Rechtslehre argumentiert Kant, dass in der Einberufung der Generalstände durch Ludwig XVI. der Monarch selbst die Bürger aufrief, aktiv in den Raum des Politischen zurückzukehren.4 Die Französische ›Reform‹ wird für Kant deshalb zu einem narrativen Dispositiv5 innerhalb der Metaerzählung der Aufklärung: Ihre Werte werden durch die Parole der Französischen Revolution als Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit expliziert. Kant wertet die Französische Revolution als phänomenale Manifestation seiner noumenalen Konzeption der Weltrepublik. Die weltumspannende Demokratie dagegen bleibt für Kant ein regulatives Ideal, von dem man träumen soll und dessen utopisches Potential Staatsoberhäupter und Bürger_innen anregt, bessere – gerechtere, freiere, egalitäre – soziopolitische Strukturen zu etablieren. Deshalb erachtet Kant die Französische Revolution als eines der wichtigsten lebensweltlichen Phänomene seiner Zeit, denn sie verweist auf die reellen Möglichkeiten, das utopische Potential der Weltrepublik in realpolitische und gesellschaftliche Reformen zu übersetzen. Das historische Erscheinen der Französischen Revolution legitimiert Kants ideale Theorie. Kants Erzählung vom demokratischen Frieden beginnt mit der Konstituierung einer Republik, die realiter die neu gegründete Erste Französische Republik ist. Diese wirft den Stein des Demokratischen in das tiefe Wasser der absoluten Monarchie. Ihre Wirkung wird sich in konzentrischen Kreisen über den Erdball ausbreiten. Die Wellenbewegung der Demokratie wird bis an die entferntesten Gegenden des Globus gelangen. Ihre Werte, Normen und Rechtsvorschriften werden so weite Wellen schlagen, bis die Welt demokratisch geworden ist. Ihrer unaufhaltsamen, heilbringenden Teleologie folgend wird die Demokratisierung der Welt Frieden bringen. Doch diese spannende Geschichte wird von Kant selbst nicht als story erzählt. Der demokratische Frieden ist keine wohlklinge Geschichte aus Tausend 3 Vgl.
ebd., S. 366. AA 6, 339–343. 5 Foucault versteht unter »Dispositiv eine Art […] Gebilde […], das zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt vor allem die Funktion hat, auf einen Notstand […] zu antworten. Das Dispositiv hat also eine dominante strategische Funktion […].« Zit. nach Jürgen Link: Art. Dispositiv. In: Clemens Kammler, Rolf Pfarr u. Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014, S. 237–242, hier: 239. 4 Vgl.
Kants kosmopolitischer Traum der befriedenden Demokratie
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und einer Nacht, kein Grimmsches Märchen, sondern ein kategorischer Imperativ. Seine Befolgung ist oberstes Gebot. Seine Geburtsstunde fällt mit der Französischen Revolution in eins. Die Geschichte als history kann gar nicht anders als sich in der Eschatologie des demokratischen Friedens zu entfalten. Dieser orthodoxen Lesart möchte ich eine spielerische Lektüre des demokratischen Friedens entgegenstellen. Was passiert mit dem politikphilosophischen Motiv des demokratischen Friedens, wenn man es nicht als reine Lehre liest, sondern als eine Geschichte (story) des Gelingens und Scheiterns interpretiert? Um demnach ihre argumentative Schlagkraft zu behalten, sollte die These vom demokratischen Frieden als gute story verstanden werden. Damit verlöre der Gedanke des demokratischen Friedens zwar seinen objektiven und universalen Anspruch, gewönne jedoch als Erzählung an Qualität. Diese narrative Qualität verabschiedet sich angesichts ausdifferenzierter Lebenswelten und diversifizierter normativer Ordnungen von ihrem imperialen Impetus. Der demokratische Frieden ist dann weder eine universalistische und eurozentrische Programmatik noch ein soziopolitisches Projekt, sondern ein narratives Motiv, das Demokratie und Pazifizierung spielerisch und kritisch in Dialog bringt. Unter den zeitgenössischen Bedingungen des Spätkapitalismus sollte Politische Philosophie zugunsten eines narrativen Ansatzes auf Wahrheitssuche, historische Richtigkeit und soziopolitische Wahrhaftigkeit verzichten.6 Im Anschluss an Lyotards These vom Glaubwürdigkeitsverlust der großen Erzählung 7 würde ich reformulieren, dass ein narrativer Ansatz – im Gegensatz zu einem philosophischen – verschiedene stories gleichwertig neben-, mit- oder auch gegeneinander gruppiert und damit der Pluralität und Kulturspezifik8 zeitgenössischer Lebenswelten Rechnung trägt. Im Folgenden werde ich das Motiv des demokratischen Friedens deshalb als ein erzählerisches Dispositiv verstehen, das im Zentrum der Diskursformation ›Aufklärung‹ steht. Kants kosmopolitischer Traum von der befriedenden Wirkung der Demokratie bildet in diesem Sinne innerhalb der Politischen Philosophie eine Meta erzählung, die die argumentativen Netze und Denkgewebe des Politischen, insbesondere des Demokratischen, seit dem 18. Jahrhundert durchwirkt. Kants politisches Denken zum ewigen Frieden ist daher Ausgangs- und Fixpunkt zahlreicher 6 Vgl.
Mareike Gebhardt: Politische Pluralität und philosophischer Wahrheitsanspruch. Hannah Arendt, Jürgen Habermas und Richard Rorty zwischen Kommunikation und Narrativität. In: Wilhelm Hofmann, Judith Renner u. Katja Teich (Hrsg.): Narrative Formen der Politik. Wiesbaden 2014, S. 227–244. 7 Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Wien 2012, S. 99. 8 Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M. 2006, S. 110: »Die Mängel einer bloßen Multikulturalität werden nur scheinbar überwunden, wenn man versucht, die Grenzen der jeweiligen Kultur auszuschalten, sei es, dass man die Einzelkulturen als Teile einer Gesamtkultur begreift, sei es, dass man sie transkulturellen Maßstäben unterwirft.«
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zeitgenössischer Reformulierungen sowie kritischer Re- und Dekonstruktionen. Hierbei sind insbesondere zwei dominante Interpretationslinien zu identifizieren: Die erste Interpretationslinie möchte ich als modern bezeichnen, insofern sie Kants Versöhnungsversuche zwischen Liberalismus und Republikanismus fortführt. Hierunter fallen die neo-kantianischen Demokratietheorien von Seyla Benhabib, David Held und Jürgen Habermas, die paradigmatisch für diese rekonstruktive Lesart stehen.9 Im Gegensatz hierzu analysieren postmoderne Ansätze über dekonstruktive Lesarten die theorieimmanenten Fallstricke und Machtmechanismen des Kantischen Kosmopolitismus. In diesem Aufsatz widme ich mich dieser dekonstruktiven Interpretationslinie, die auf eine kritische Relektüre des Kantischen Kosmopolitismus und seines Begriffes der Hospitalität fokussiert und von dieser Kritik aus eigene Konzepte entwickelt.10 Trotz der Differenzen innerhalb dieser Lesart beginnt sie meist mit einer kritischen Distanzierung zum Logozentrismus der Aufklärung, weshalb sie auf das Scheitern vernunftorientierter Sprachpraktiken im zeitgenössischen Raum des Soziopolitischen verweist. Darüber hinaus stellen Arendts Ausführungen zu einem »Recht, Rechte zu haben« in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft einen wichtigen Ausgangspunkt für die dekonstruktive Interpretationslinie dar. Arendt untersucht die »Aporien der Menschenrechte« vor dem Hintergrund ihres Versagens während des Zweiten Weltkrieges. Sie identifiziert die Verbindung von Staatlichkeit, Staatsbürgerschaft und Menschenrechten als den grundlegenden Webfehler der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die sich auf Kants kosmopolitische Konzeption stützt: Sobald Personen durch das staatsbürgerliche Raster fallen – wie sans papiers, Staatenlose, Flüchtlinge –, versagt der vermeintlich universelle Anspruch der Menschenrechtserklärung.11 Diese radikale Kritik wurde für viele poststrukturalistische Autor_innen zum Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem universalistischen und kosmopolitischen Denken in der Tradition Kants.12 9 Vgl.
Seyla Benhabib: Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger. Bonn 2009; Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur Politischen Theorie. Frankfurt a. M. 1998; David Held: Democracy and the Global Order. From the Modern State to Cosmopolitan Governance. Stanford 1995; Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992. 10 Vgl. Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Bonn 2010; Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft. Wien 2001. 11 Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München 132009, S. 559–625. 12 Die argumentative und thematische Nähe zwischen Arendts politischer Theorie und verschiedenen sog. postmodernen Theorien des Politischen (insbesondere Rancière, Honig, Mouffe) habe ich an anderer Stelle stark gemacht. Vgl. Mareike Gebhardt: Politisches Handeln in der postmodernen Konstellation. Kritische Demokratietheorie nach Hannah Arendt und Jürgen Habermas. Baden-Baden 2014, S. 257–263.
Kants kosmopolitischer Traum der befriedenden Demokratie
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Angesichts der gebotenen Kürze des Aufsatzes nehme ich lediglich einen kleinen Faden der dekonstruktiven Interpretationslinie auf und gehe an dieser Stelle insbesondere auf den Eurozentrismus bzw. den Universalismus des Kantischen Konzepts und seines Primats der Wahrheit und Rationalität ein.13 Trotz der Warnung Kants vor illegitimer Infiltrierung anderer Länder und eines klaren Monitums gegenüber expansiver Kolonialpolitik ist seine Philosophie von der Überzeugung durchdrungen, dass die aufklärerische Entwicklung des europäischen Kontinents als die his torische Errungenschaft par excellence verstanden werden muss. In seinem unerschütterlichen Optimismus in Bezug auf die befriedende Wirkung der Aufklärung im Allgemeinen und der Demokratie im Besonderen entwickelt Kant einen überbordenden Universalismus, der weder kulturelle Besonderheiten, soziale Differenzen noch lebensweltliche Umstände in den Blick nimmt. Seine Philosophie bleibt blind für ethnizistische oder misogyne Machtasymmetrien. Sie gerät »auf die Bahnen einer Universalisierung, die ihre Fragwürdigkeit auch dann nicht verliert, wenn sie sich auf große Parolen wie Weltvernunft, Weltkultur, Weltbürgertum, Weltethos oder Menschheit beruft.«14 Für Kant steht fest, dass die aufgeklärte und aufklärende Demokratie bis in die letzten Winkel und »entfernten Welttheile«15 – das ist immer schon eine geopolitische Wertung – gelangen muss. Nur auf diese Weise kann die Welt gesittet werden, und diese Zivilisierung vollzieht sich nach europäischen Maßstäben. Die Überlegenheit der europäischen Demokratie soll sich gerade in ihrer transkulturellen Durchschlagskraft beweisen. Die willkürlichen Grenzziehungen, die oktroyierten Wirtschaftsimperative und juridico-politischen Normen, die Euro päer und Europäerinnen außerhalb des europäischen Kulturraums vorgenommen und installiert haben, zeitigten allerdings verheerende Konsequenzen. Kant hat es wohl kommen sehen, hat jedoch seinen zuversichtlichen Idealismus stets argumentativ Oberhand gewinnen lassen – wie dies für einen guten Geschichtenerzähler typisch ist. Kant erzählt zwar von den Gefahren und Irrtümern, doch am Ende siegt das vermeintlich ›Gute‹ über das sogenannte ›Böse‹. Diese Binarität reproduziert auch Kants gut erzählte Geschichte. Bis zu den zeitgenössischen Flüchtlingsbewegungen und den aktuellen Kriegen gegen den (islamistischen) Terror kann man diese binäre Logik nachzeichnen: das gelobte Land, Europa – der Hort der friedfertigen Demokratie – gegen die Barbaren und Unvernünftigen. Diese story ist inzwischen Legende: Ihr Ruhm und ihre Persistenz speisen sich aus dem possessiven Glauben der Aufklärung an ihre Wahrheit, an ihre Richtigkeit, an ihre Wahrhaf13 Auf
die paternalistische und alteritätsgefährdende Imprägnierung des Kantischen Kosmopolitismus bin ich an anderer Stelle eingegangen. Vgl. Mareike Gebhardt: Alterität und Menschenrechte. Webfehler in der juridico-politischen Matrix. 2015. (http://voelkerrechtsblog.org/ alteritat-und-menschenrechte/, Aufruf 10. 05. 2016). 14 Waldenfels: Grundmotive, S. 128. 15 Kant: Zum Ewigen Frieden. In: AA 8, 358.
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Aspekte · 1. Sektion · Mareike Gebhardt
tigkeit. Kants gelungen vorgetragene Geschichte wurde zu einem Märchen, dessen Verführungskraft Millionen Menschen in seinen Bann zieht und für das viele Menschen ihr Leben riskieren. Wenn die Flüchtenden und Gestrandeten die Lüge erkennen, ist es oftmals zu spät: Sie sind tot – in ›unserem Meer‹ ertrunken; oder sie sind desillusioniert und ohne Heimat: ausgestoßen aus der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Angesichts dieser Situation erscheinen Kants Worte aus dem dritten Definitivartikel der Friedensschrift nicht mehr vorhersehend und mahnend, sondern zynisch: Es ist hier, wie in den vorigen Artikeln, nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirthbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden.16
Dieses Zitat steht natürlich nicht in einer kausalen Linie zwischen den kosmopolitischen Phantasien des demokratischen Friedens und der zeitgenössischen soziopolitischen Konstellation. Aber dieses Zitat vermag es, Leser_innen noch einmal grundlegend über Gastfreundschaft, Asyl und Alterität nachdenken zu lassen. Das ist sicher die Stärke einer abstrakten Theorie – und Kant beherrschte sie virtuos: dass sie es über die Zeit hinweg vermag, zum Denken anzuregen; dass ihre A-Historizität jeder Situation gewachsen scheint. Dies muss keine blinde Affirmation der idealen Theorie sein, sondern kann den Beginn einer kritischen Auseinandersetzung markieren. Nach diesen Spuren sucht Derrida: Ich zitiere diesen Titel […], um darauf aufmerksam zu machen, dass Kant für das Wort ›Gastfreundschaft‹ ein lateinisches Wort verwendet, Hospitalität, ein Wort, dessen Ursprung Lateinisch ist, […], ein Wort, das seinen eigenen Widerspruch in sich verkörpert, ein lateinisches Wort, das seinen Gegensatz, die Feindschaft nämlich, den unerwünschten Gast, parasitär in sich trägt, ihn als Widerspruch in seinem eigenen Körper beherbergt.17
Derrida identifiziert hier also eine ambivalente Verbindung zwischen Hospitalität und Hostilität, die sich zunächst sprachlich andeutet: Host(pital)ilität. Allerdings ist diese Ambivalenz auch praktisch spürbar: Wem soll man Gastfreundschaft gewähren? Nach welchen Kriterien? Ist eine Einladung aus Hospitalität nicht auch eine Form von generösem Paternalismus? Ist Gastfreundschaft nur möglich, wenn sich der Asylsuchende vor dem Gastgeber entblößt? Ihm genau erzählt, wer er ist? Muss der Gastgeber nicht erst den Anderen kennen, um ihm Gastfreundschaft ge16 Ebd.,
S. 357 f. Derrida: Die Gesetze der Gastfreundschaft. Rede zur Eröffnung des Heinrichvon-Kleist-Instituts für Literatur und Politik an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt a. d. O. am 20. Juni 1996. Übers. v. Barbara Vinken. 17 Jacques
Kants kosmopolitischer Traum der befriedenden Demokratie
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währen zu können – und: Ist der Andere dann noch der Andere? Wenn Gastfreundschaft scheitert, wird der an ›meine‹ Türe Anklopfende zu einem Feind, den ›ich‹ nicht in mein Heim lassen möchte: Ist er eine Bedrohung ›meiner‹ Eigenheit? Diese Fragen entfalten sich an Kants Ausführungen zur Hospitalität und zeigen den denkerischen Reichtum seiner idealen Demokratietheorie auf; doch sie verdeutlichen auch deren Grenzen, die durch Alterität und Subjektivität markiert werden. Während die kosmopolitische Theorie davon träumt, alle einzubeziehen18, um Konflikt und Dissens aus dem Raum des Demokratischen zu eliminieren, löscht sie Alterität aus. Schließlich stehen in ihrem Mittelpunkt (intersubjektiv generierte) Objektivität und Universalität eines rechtlichen Egalitarismus. Gerade die Verschwisterung von objektivem Anspruch und universeller Erklärungskraft hat die hegemoniale Stellung des Theorems vom demokratischen Frieden lange Zeit getragen. Doch in zeitgenössischen Lebenswelten erschöpft sich die Deutungskraft idealistischen Denkens, das in seinem Anspruch auf Objektivität fragwürdig geworden ist. Von einer bereits vorhandenen Wahrheit auszugehen, die man nur »finden« muss,19 bedarf es weniger »Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen [Herv. d. Verf.]«20, als die ›richtigen‹ Fertigkeiten. Mut braucht es jedoch, um sich der Verantwortung zu stellen, politische und soziale Räume demokratisch zu gestalten: sich eine Welt zu bauen, die nach Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit strebt – ohne das Wissen um ihre Bedeutung. In einer Situation, in der Werte und Normen stets neu verhandelt, austariert, festgelegt und hinterfragt werden (müssen), sollte sich Politische Philosophie von ihrem idealistischen Credo einer auffindbaren Wahrheit ab- und einem konstruktivistischen Paradigma zuwenden, das von soziokulturell »gemachten« ›Wahrheiten‹ ausgeht.21 Wenn ›Wahrheit‹ Frage von soziokultureller Interpretation und historischer Kontingenz ist, ist es nicht mehr Aufgabe der Poli tischen Philosophie, Wahrheit zu finden. Vielmehr geht es darum, Reproduktionstechniken von Macht zu identifizieren und deren Mechanismen zu analysieren. Es geht darum, eine Erzählung zu beginnen, die genauso fesselnd, spannend und durchschlagskräftig ist wie das hegemoniale Narrativ. Diese neue story sollte die Konstruktionsfehler und versteckten plot holes der good old story identifiziert haben und eine Erzählung anheben lassen, die sich von deren Webfehlern emanzipiert. Vielleicht ist die vielgestaltige Erzählung der Postmoderne diese Gegenerzählung? Denn während der Idealismus und die klassische Moderne von Vernunft und Rationalität berichten, verknüpft die Postmoderne vielschichtige narrative Fäden und Gewebe, die von Macht, Differenz, Affekt und Ironie erzählen. Während die Moderne die Verschränkung von Legalität und Legitimität im demokratischen Rechtsstaat 18 Vgl.
Habermas: Die Einbeziehung, S. 166 f. Rorty: Philosophy and Social Hope. London 1999, S. XVI ff. 20 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: AA 8, 35. 21 Rorty: Philosophy, S. XVI ff. 19 Richard
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Aspekte · 1. Sektion · Mareike Gebhardt
feiert, mahnt die Postmoderne vor einseitigen Machtproduktionen und reproduktiver Repression. Während die Moderne das Ideal der Humanität in den Fokus ihrer Erzählung stellt, befindet sich im Herzen der Postmoderne die Auseinandersetzung mit Alterität. Kants Traum von der Weltrepublik bleibt regulatives Ideal, da er ihr einen noumenalen Charakter verleiht.22 Es lassen sich daraus jedoch zwei wichtige Erkenntnisse für eine zeitgenössische Lesart gewinnen: Zum einen webt das Weltbürgerrecht – im Gegensatz zum Völkerrecht – keine Verbindung zwischen Staaten untereinander. Vielmehr produziert es ein Machtvakuum, das zwischen dem »Recht des Erdbürgers […], die Gemeinschaft mit allen zu versuchen, und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen«23, und dem Recht der Staaten zur Regulierung von Einwanderung entsteht.24 Dieses Vakuum wird mit rechtlichen Regelungen und Reglementierungen ›aufgefüllt‹, die angesichts konkreter sozialer und politischer Schieflagen immer wieder versagen. Die Auseinandersetzung mit dieser Leerstelle kann Beginn einer kritischen Demokratietheorie in transnationaler Perspektive sein. Zum anderen erkannte Kant, dass Globalisierung ein vor allem ökonomisches, kein kulturpolitisches Projekt ist: dass die Globalisierung des Geldes immer schon schneller ist als die Globalisierung der Gemeinwesen.25 Diese Entwicklung zeichnet sich seit Mitte der 1990er-Jahre ab und evoziert(e) zahlreiche transnationale Proteste – vom Battle of Seattle bis zu den Protesten von Occupy, Indignad@s und nuit debout. Diese Protestbewegungen markieren Situationen, in denen die Globalisierung des Geldes ungeachtet lebensweltlicher und klimatischer Bedrohungslagen brutal vorangetrieben wurde und wird. Kant erneut und kritisch zu lesen, ist ein Unterfangen, das gerade angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrisen lohnt. Im Mittelpunkt der kritischen Relektüre steht jedoch die Analyse der Webfehler und blinden Flecken seiner Politischen Philosophie. Im besonderen Fokus der kritischen Auseinandersetzung stehen dabei die Erzählungen von der Vernünftigkeit des politischen Entscheidungsprozesses, von der Gastfreundschaft des aufgeklärten Menschen und schließlich von der Fähigkeit der demokratischen Weltföderation, Alterität zu denken. Obwohl die Aufklärung als idealistisch-historisches Vorhaben stets zu Allgemeingültigkeit und Universalismus neigt, macht sie dies nicht untauglich für die Analyse zeitgenössischer Lebenswelten. Doch eine zeitgenössische Kritik muss sich vom wahrheits- und vernunft generierenden Anspruch der Aufklärung verabschieden. Deshalb votiere ich für eine 22 Vgl.
Kant: Zum Ewigen Frieden. In: AA 8, 357. Metaphysik der Sitten. In: AA 6, 353. 24 Vgl. Kant: Zum Ewigen Frieden. In: AA 8, 358 f. 25 Vgl. Kant: Metaphysik der Sitten. In: AA 6, 352 f.; ders.: Zum Ewigen Frieden. In: AA 8, 357 ff. 23 Kant:
Kants kosmopolitischer Traum der befriedenden Demokratie
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Lesart des aufklärerischen Kosmopolitismus als story, die unter anderem von den befriedenden Wirkungen demokratischer Strukturen erzählt. Er ist keine history – kein Erklärungssystem der historischen Globalisierung – im engen Sinne. Er ist sicherlich eine große und gute Erzählung, er sollte jedoch nicht singulär, sondern plural verstanden werden. Indem der Kosmopolitismus Europas als eine historische und soziokulturelle Erzählung der Aufklärung verstanden wird, geht er nicht als die eine große Erzählung der Moderne in die Geschichte ein. Vielmehr etabliert er sich als eine gelungene Erzählung unter vielen. Dann kann Kosmopolitismus nicht mehr nur durch die ethnozentrische Brille des Westens betrachtet werden, sondern lässt es zu, die anderen Erzählungen synchron und diachron, harmonisch und dissonant anschließen oder sich distanzieren zu lassen. Wenn die philosophische Tradition des Westens ihr eurozentrisches Aufklärungsdispositiv kritisch reflektiert, können inter- und transkulturelle Perspektiven in den Fokus rücken. Dadurch erhält das ›Andere‹ der Aufklärung einen gleichberechtigten Status innerhalb verschiedener philosophisch-kultureller Erzähltraditionen. Die Aufklärung gibt damit ihren paternalistischen Anstrich, zumindest in Teilen, auf und eröffnet Räume eines gleichberechtigten Streits, der nicht immer konsensuell, sondern oft dissensuell ausgetragen wird.26 Die fragwürdig gewordenen Werte der Aufklärung – moralische und ökonomische Autonomie, rechtliche Gleichheit und heteronormative Brüderlichkeit – können vom Jargon des 18. in das Vokabular des 21. Jahrhunderts übersetzt werden: Es öffnet sich ein narrativer, aber dissonanter Strang, der von politischer Freiheit, sozioökologischer Verantwortung, der Gleichwertigkeit pluraler Lebenswelten und transnationaler Solidarität erzählt.
26 Vgl.
S. 110 ff.
Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M. 2002,
Andreas Hütig / Christine Waldschmidt
Erzählen von Ursprung, Entwicklung und Fortschritt Narrative Strategien in kulturgeschichtlichen Schriften der Aufklärung 1. Einleitung Wer einen Blick auf die regelrechte Konjunktur kulturgeschichtlicher Schriften im 18. Jahrhundert wirft, dem drängen sich zwei Befunde auf: Erstens entstehen diese Beiträge in einer Zeit, in der sich die unterschiedlichsten Anliegen und Anstrengungen unter dem Etikett ›Geschichte der Menschheit‹, später auch ›Kulturgeschichte‹1 versammeln, in der noch nicht ausgemacht oder entschieden ist, was darunter zu verstehen sein soll. Vielmehr handelt diese Geschichtsschreibung im Vorfeld disziplinärer Ausdifferenzierungen und im Beginn ihrer akademischen Institutionalisierung 2 ihre Geltungsansprüche und Inhalte erst noch aus. Zweitens haben die in diesem weiten Sinne kulturgeschichtlichen Schriften in unterschiedlichen Varianten teil an einer spezifischen geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Konstellation: Der historische Blick wird über die politischen und dynastischen Aspekte bisheriger Historiographie hinaus ausgeweitet und auf die Entwicklung sozialer, rechtlicher und ökonomischer Verhältnisse sowie auf vergangene und fremde Kulturen gerichtet.3 Neben diesem quantitativen Zuwachs auf Seiten des empirischen Materials und dem Interesse an seiner Erfassung halten die Kulturgeschichten des 18. Jahrhunderts durchgängig an einer allgemeinen Ordnungsidee über die Zeitläufte fest, die sich nicht selten als geschichtsphilosophischer bzw. teleologischer Entwurf manifestiert, in dem die Intelligibilität historischer Zusammenhänge behauptet wird. In diesem Ineinander von Empirieorientierung und geschichtsphilosophischen Ansätzen sind die Kulturgeschichten zum einen durchaus ein Produkt aufkläreri1 Vgl.
Helmut Zedelmaier: Zur Idee einer ›Geschichte der Menschheit‹ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine Skizze. In: Winfried Müller et al. (Hrsg.): Universität und Bildung. Festschrift Laetitia Boehm zum 60. Geburtstag. München 1991, S. 277–299; vgl. auch ders.: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003. 2 Vgl. dazu u. a. Hans Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung. Bd. 1.1. Waltrop 2003, S. 42. 3 So betont schon Gatterer, dass die gegenwärtige Arbeit des Historikers schwieriger wird, »da der Erdboden viel bekanter, und folglich die Anzahl der Nationen, deren Geschichte und Verfassung erzählet zu werden verdient, ungleich grösser ist, als in den Tagen eines Herodots«, Johann Christoph Gatterer: Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen. In: Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767), S. 15–89, hier: 17.
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schen Welt- und Selbstverständnisses, genauer: des aufklärerischen Anspruchs auf universelle (und damit alle gegebenen Wissenssphären einbeziehende) Zuständigkeit des vernünftigen Urteils.4 Dies impliziert die Vorstellung, dass die Welt einem solchen Urteil ebenso wie der dabei maßgebenden Instanz, dem vernünftigen und sittlichen Subjekt, auch entspricht.5 Zum anderen artikuliert sich in dieser Konstellation eine Verschiebung dessen, was als Gültigkeitsausweis des theoretischen Urteils über den Gang der Weltgeschichte fürderhin tauglich sein soll: Dem theoretischen Urteil ist aufgetragen, sich über die Entsprechung zu seinen Gegenständen abzusichern. So sollen Geschichtsentwürfe sich nicht allein über logische Stimmigkeit oder Einklang mit einem schon anerkannten Wertesystem bestätigen. Vielmehr unterstehen sie nun der Anforderung, andere Gültigkeitsausweise als die Spekulation zu erbringen, nämlich den Beleg, dass das von ihnen behauptete allgemeine Prinzip kultureller Entwicklung als eine die Zeitläufte tatsächlich prägende, in ihnen wirksame Kraft auftritt. An die Behauptung von Sinnideen über die Geschichte ergeht damit die Forderung, kein ›metaphysischer‹ Zusatz zu den erfassten Daten zu sein, sondern als zu allen Zeiten wirksame Gesetzmäßigkeit auch am historischen Material selbst plausibel zu werden. Ein solcher Plausibilisierungsbedarf für den theoretischen Gedanken, eine solche Beauftragung des empirischen Materials mit dem Substanzausweis der philosophischen Annahmen formuliert ein Bedürfnis, das sich an die Darstellungsseite der Geschichtsentwürfe, an die Organisation des Materials richtet. Diesem Bedürfnis begegnen die kulturgeschichtlichen Schriften mit unterschiedlichen Mitteln – eines davon, aber keineswegs das einzige, ist die narrative Ausgestaltung. Alternativen sind etwa die statistische Erfassung bei Crome,6 bei Flögel7 die Materialsammlung unter der Suggestion, alle Aspekte würden einen Beitrag zu einem theoretisch noch nicht erfassten Ganzen liefern, oder bei Reitemeier8 die praktische 4 Vgl.
hierzu schon Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung [1932]. In: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Birgit Recki. 26 Bde. Bd. 15. Hamburg 2003, S. 208. 5 Diese Vorstellung findet hier ihren Niederschlag im theoretischen Entwurf eines allgemeinen Gesetzes, das die Geschichte »zur wirklichen Einheit zusammenfaßt und zugleich diese Einheit der Einsicht zugänglich macht«, Bernhard Spies: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. Die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität im Roman des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 214. 6 Vgl. August Friedrich Wilhelm Crome: Über die Kulturverhältnisse der Europäischen Staaten. Leipzig 1792. Anders als bei Gatterer, wo die quantitative Erhebung und Aufbereitung von geographischen und historischen Daten im Kontext der Herstellung umfassender kulturgeschichtlicher Bezüge erfolgt, dient sie bei Crome der Reduktion aller Entwicklung auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit, in deren Zentrum die Bevölkerungszahl steht. 7 Vgl. Karl Friedrich Flögel: Geschichte des menschlichen Verstandes. Breslau 1765. 8 Vgl. Johann Friedrich Reitemeier: Ueber die höhere Cultur, deren Erhaltung, Vervollkommnung und Verbreitung im Staat; oder Grundsätze von der zweckmäßigen Einrichtung der Volksschulen, Gymnasien, Universitäten und Gelehrten Gesellschaften. Frankfurt a. d. O. 1799.
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Aspekte · 1. Sektion · Andreas Hütig / Christine Waldschmidt
Relevanz für das Bildungssystem. Narrative Aufbereitungen des kulturgeschicht lichen Materials jedoch, so unsere These, erlauben den Autoren in unterschiedlicher und je spezifischer Weise, eine Geschichtsdeutung als Movens eines Geschehens oder eines Entwicklungszusammenhanges zu entfalten und die Sinnidee damit zu belegen. Zugleich ist aber zu betonen, dass angesichts der Pluralität der narrativen Verfahren und der Anliegen die pauschale Diagnose nicht zu halten ist, das 18. Jahrhundert folge der Idee einer linear erzählenden Kulturgeschichtsschreibung. Unser Beitrag versucht, anhand der Rekonstruktion theoretischer Skizzen wie der Analyse historiographischer Praxis die Vielfältigkeit des Narrativen und seiner Funktionen herauszuarbeiten.
2. Theoretische Beauftragung: Gatterer Dass das Erzählen dem gegebenen Bedürfnis auf spezifische Weise entgegenkommt, haben schon zeitgenössisch die Zuschreibungen und Beauftragungen von geschichtstheoretischer und philosophischer Seite behauptet. Selbst Kant, recht eigentlich weniger als Historiker denn als deduzierender Systematiker bekannt, benutzt den Terminus Erzählung: »Die Geschichte, welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen beschäftigt, […]«9 heißt es direkt im zweiten Satz der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht – jener Schrift, die Recht und Ziel der Forderung diskutiert, die bekannten historischen Fakten gerade nach dem Wegfall aller Heilsgewissheiten und aller Hoffnung auf eine ursprünglich gute Natur des Menschen im Sinne moralisch-politischen Fortschritts zu deuten und dadurch für die Selbstaufklärung des Menschen in Geschichte wirksam zu machen.10 Die theoretische Beauftragung der Kulturgeschichtsschreibung lässt sich exemplarisch an einem methodologisch-programmatischen Text verdeutlichen, der direkter zum untersuchten diskursiven Feld gehört. 1767 veröffentlicht Johann Christoph Gatterer im ersten Band seiner neuen Reihe Allgemeine historische Bibliothek als erste theoretische Abhandlung des ersten Forschungsinstituts der Geschichtswissenschaft in Deutschland einen Text unter dem Titel Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen. Auch wenn Gatterers Schaffen mehr und anderes umfasst als Kulturgeschichte, so ist seine Vorstellung 9 Immanuel
Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [1784]. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 22 Bde. Bd. 8. Berlin 1923, S. 15–32, hier: 17. 10 Vgl. hierzu Andreas Hütig: Selbstaufklärung in Geschichte. Kultur der Vernunft und historischer Sinn bei Kant und Nietzsche. In: Renate Reschke (Hrsg.): Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Berlin 2004, S. 269–277.
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von Geschichtsschreibung und -forschung doch ebenso methodisch wie institutionell einflussreich und für die Aufklärungshistoriographie paradigmatisch gewesen. Dies hat zuletzt Martin Gierl in seiner Studie zu Gatterer betont, zugleich jedoch herausgestellt, dass Geschichtsschreibung seinerzeit auch bei Gatterer eher »serielle, kompilatorische Konstruktion« und weniger »quellengestützte Erzählung«11 bedeutet: »Die Geschichtsschreibung fabulierte nicht, sie konstruierte.«12 Wenn Gatterers Konzept hier dennoch unter einem narratologischen Blickwinkel betrachtet werden soll, so deshalb, weil die »Zusammenfügung der Erzählungen«13 für ihn explizit die eigentliche (und angesichts der Zunahme des faktischen Wissens auch die schwerste) Arbeit des Geschichtsschreibers darstellt und sogar in der Programmschrift implizit narrative Praktiken eingefordert werden. Gatterers Abhandlung steht im Kontext seiner Bemühungen um die Entwicklung einer deutschen und deutschsprachigen Geschichtsschreibung. In einer selbst eher narrativ als streng deduktiv gehaltenen Genealogie der Historiographie aus der poetischen Sprache arbeitet er heraus, dass erstere zur Verbesserung des Geschmacks der Nation dem Beispiel folgen solle, das »ihre Schwester, die Dichtkunst«14 gegeben hat. In der Muttersprache Geschichtsbücher zu besitzen, bedeute einen höheren »Grad der Vollkommenheit«15 und wäre bei aller Orientierung an den Mustern der Alten eine erhebliche Verbesserung des sittlichen und kulturellen Standes einer Nation. Gatterers Anliegen ist daher sowohl mit einem wissenschaftsinternen, methodologischen Impuls wie auch mit einem nationalkulturellen, perfektibilitätsorientierten Ziel verbunden. Was heißt in diesem Kontext ›Zusammenfügung der Erzählungen‹? Gatterer beschreibt die Arbeit des Historikers als eine dreischrittige: Sammlung, Plan, Zusammenfügung.16 Zunächst werden die Materialien ausgewählt, anschließend deren Ordnung bestimmt, die zugleich natürlich wie leicht fasslich, im Grunde alternativlos sein soll; man soll »nach der Vollendung des Werks, ohne Mühe begreifen [können], warum ein Stück der Materialien eben hieher, und nicht an einen anderen
11 Martin
Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang. Stuttgart/Bad Cannstatt 2012, S. 3. 12 Martin Gier: Johann Christoph Gatterer und die Grenzen historiographischer Wissenschaftlichkeit im 18. Jahrhundert. In: Martin Mulsow u. Frank Rexroth (Hrsg.): Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. Frankfurt/New York 2014, S. 387–412, hier: 394. 13 Gatterer: Vom historischen Plan, S. 17 u. ö. Auch Gierl gesteht Gatterer zu, dass dieser die »Bedingung der Möglichkeit« dafür entwickelt hat, »Geschichte Erzählung werden zu lassen« (Gierl: Geschichte, S. 3). 14 Gatterer: Vom historischen Plan, S. 16. 15 Ebd. 16 Vgl. ebd., S. 22 f.
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Ort gesetzt worden ist.«17 Hernach gilt es, die einzelnen, selbst narrativ verfassten Elemente zu strukturieren und zu synthetisieren. Geschichte muss insbesondere Gleichzeitiges und Fernes in den jeweiligen Bezügen repräsentieren und so nachvollziehbar und überschaubar halten – das Ideal eines Malers, der Möglichkeiten des Nebeneinanders hat, wird angesprochen, aber als dem Geschichtsschreiber unmöglich bezeichnet. Dabei gilt zudem: »Blosse Uebergänge, wenn sie auch noch so sorgfältig ausgedacht werden, thun hier keine Wirkung. Alles komt auf die Stellung und Anlage der Erzählungen an.«18 Die narrative Synthese des ausgewählten und in eine Ordnung gebrachten Materials dient hier primär der Lesefreundlichkeit. Was eine bloß externe, nur die Form und die Rezipientenorientierung betreffende Anforderung an gelingende Geschichtsschreibung zu sein scheint, erfährt aber mit dem Verweis auf die in den Begebenheiten liegenden Zusammenhänge eine Umdeutung aus dem Wesen der Geschichte heraus. Die Zusammenstellung hat daher später die Aufgabe, den systematischen Zusammenhang des Geschichtsganges zu repräsentieren: Es geht also die Hauptsorge eines Geschichtsschreibers, der sich bis zur höchsten Geschichtsschreiber-Classe, der pragmatischen, aufschwingen will, dahin, die Veranlassungen und Ursachen einer merkwürdigen Begebenheit aufzusuchen, und das ganze System von Ursachen und Wirkungen, von Mitteln und Absichten, so verwirt auch alles im Anfange durch und neben einander zu laufen scheint, aufs möglichste entwickelt darzustellen.19
Als Bezugspunkt dieses systematischen Zusammenhanges fungiert bei Gatterer die Nation; nationale Geschichte ist aber nicht ohne die zugehörige »Religions-LitterärNatur- und Kunstgeschichte«20 zu denken – »Es giebt also, eigentlich zu reden, nur eine Historie, die Völkergeschichte […].«21 Indes: Die wahre und nur vom Genie zu erbringende ideale Geschichte greift noch weiter: »Der höchste Grad des Pragmatischen in der Geschichte wäre die Vorstellung des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge in der Welt (Nexus rerum vniuersalis). Denn keine Begebenheit in der Welt ist, so zu sagen, insularisch.«22 Hier zeigt sich ein anders begründetes, intensiveres Verhältnis von narrativer Synthese und realer Geschichte: Nicht nur die Lesefreundlichkeit, sondern auch die Sachangemessenheit hängt an der systematischen Zusammenstellung narrativ präsentierter Episoden und der Darstellung der Bezüge 17 Ebd.,
S. 23. S. 40. 19 Ebd., S. 80. Ausführlich zur Relevanz der Darstellungsseite bei Gatterer vgl. Daniel F ulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760– 1860. Berlin 1996, S. 157–170. 20 Gatterer: Vom historischen Plan, S. 25. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 85. 18 Ebd.,
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mithilfe narrativer Übergänge. Das pragmatische Ziel, die Bildung der Nation zu verbessern und jedem einzelnen Leser zu nutzen, motiviert und legitimiert dabei beide Aspekte. Die Schwierigkeiten und der ideale Status einer solchen Historie werden von Gatterer selbst gesehen. Seine eigenen, mehrfach ansetzenden Versuche einer Universalhistorie lösen wohl selbst den Anspruch nicht ein. Für die Frage der Rolle von Narrationen in den kulturhistorischen Schriften der Aufklärung ist aber herauszustellen, dass diese durch einen der einflussreichsten Theoretiker der Zeit sowohl für die Darstellungsseite und die Rezipientenorientierung als auch für das Ausweisen der systematischen Zusammenhänge in der Empirie selbst gefordert werden und in enger Verbindung zum pragmatischen Ziel stehen, das hier die Verbesserung des individuellen wie nationalen Kulturniveaus ist. Nur die Narration sichert in Gatterers Programmschrift die Zugänglichkeit der Darstellung ebenso wie deren Funktion der Wiedergabe eines systematischen Zusammenhangs und ermöglicht so die intendierte Indienstnahme der Geschichtsschreibung für kulturelle wie pädagogische Ziele.
3. Narrative Praxis in der Kulturgeschichtsschreibung: Condorcet und Iselin Condorcets Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, 1795 (in der für diesen Beitrag verwendeten Übersetzung Posselts: Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen Geistes, 1796), bietet den exemplarischen Fall der Umsetzung eines kulturhistorischen Abrisses in eine lineare Fortschrittsgeschichte, die am Ende des Jahrhunderts noch einmal den Stand aufklärerischen Geschichtsdenkens dokumentiert: In seiner Vorrede ordnet Condorcet der Entwicklung der menschlichen Kräfte explizit eine Gesetzmäßigkeit zu, nach der sie erfolgt, und der Betrachtung der historisch-gesellschaftlichen Zustände die Aufgabe, von diesem Gesetz eines »Fortschritte[s] des menschlichen Geistes«23 Zeugnis abzulegen. Geschichte ist damit erstens nicht mehr verstanden als Heilsgeschichte oder (wie bei Leibniz) Manifestation eines göttlichen Willens,24 aber weiterhin als sinnhafter Ablauf, als Annäherung an ein Telos der Geschichte, das nun ihrem Gang immanent gedacht ist. Zweitens ist darin der Inhalt dieses Telos vom Subjekt der Geschichte nicht mehr unterschieden, geht es doch um eine geistige, d. h. vor allem der Rationalität und Humanität im Sinne einer moralischen Verpflichtung sich immer mehr annähernde Vervollkommnung des Menschen.25 Dass ein solcher 23 Marie
Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet: Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen Geistes. Nachlaß von Condorcet in’s Teutsche übersezt durch D. Ernst Ludwig Posselt. Tübingen 1796, S. 2. 24 Vgl. Spies: Politische Kritik, S. 212. 25 Vgl. u. a. Zedelmaier: Anfang der Geschichte, S. 256.
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Gedanke an den empirischen Daten der Historie ein eher widriges Material vorfindet, ist Condorcet (nicht zuletzt in der biographisch prekären Situation, in der die Esquisse entsteht) wohl bewusst; dieses Bewusstsein macht sich freilich nicht als Einwand gegen den Fortschrittsoptimismus geltend, vielmehr entdeckt Condorcet die Kulturgeschichte als Antwort auf die Frage, wie man sich der Durchsetzung des Fortschritts gewiss sein kann, wenn doch alle Erfahrungen dem gerade zu widersprechen scheinen – also als Strategie, die Hoffnung auf Verwirklichung des Ideals in der Welt noch abzusichern. Diese Strategie besteht darin, im geschichtlichen Verlauf der Einlösung des Ideals eine eigene Notwendigkeit zu verschaffen. Condorcet bedient sich für die Einrichtung solcher notwendigen Abläufe im historischen Prozess fast durchgängig narrativer Mittel: Der Gedanke, die auf der Jagd gefangenen Thiere zu erhalten, bot sich sehr natürlich an, wenn die Sanftheit dieser Thiere deren Aufbewahren erleichterte; wenn der Boden um die Wohnungen her ihnen reichliche Nahrung gab; wenn die Familie einen Uiberfluß hatte, und befürchten konnte, durch den schlechten Erfolg einer andern Jagd, oder durch das Ungestümm der Jahrszeiten, in Mangel zu gerathen. Nachdem man diese Thiere anfangs nur wie einen blosen Vorrath aufbewahrt hatte, bemerkte man, daß sie sich vermehren, und dadurch eine dauerndere Nahrungsquelle öfnen konnten. […] […] Man sah nun, daß die Arbeit eines jungen, gesunden Menschen mehr betrage, als dessen Unterhalt, streng berechnet, koste, und der Gebrauch kam auf, die Kriegsgefangenen als Sclaven aufzubehalten, statt sie zu morden. Die Gastfreundschaft, die auch unter den Wilden geübt wird, nimmt bei den Hirten-Völkern, selbst bei denen, die auf Wagen oder unter Zelten herumirren, einen entschiedenern, feierlichern Charakter an. Es äussern sich hier öftere Gelegenheiten, sie gegenseitig, von Mensch zu Mensch, von Familie zu Familie, von Volk zu Volk zu üben. Diese Handlung der Menschheit wird Gesellschaftspflicht, und man bindet sie an gewisse Regeln fest. […] Mehr Manchfaltigkeit in den Gegenständen, die man zur Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse gebrauchte, in den Werkzeugen, die zu deren Zubereitung dienten, mehr Ungleichheit in ihrer Vertheilung, musten den Tausch vervielfältigen, und einen wahren Handel erzeugen. Dieser konnte sich nicht erweitern, ohne die Nothwendigkeit eines gemeinschaftlichen Maases, einer Art von Münze, fühlen zu machen.26
Erzählen bedeutet hier offensichtlich nicht die Ausgestaltung eines von agierenden Subjekten getragenen Handlungszusammenhangs, sondern ein Rückgriff auf den narrativen Minimalbestand der ›und dann‹-Verbindung. Anders gesagt, könnte man hier (nicht nur in Anlehnung an Condorcets Titel) von einer Art ›tableaua rtigem‹ 26 Condorcet:
Entwurf, S. 27 u. 29 f.
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Erzählen sprechen, das sich auf die Konstruktion eines Nacheinanders von Gegebenheiten und ein Darbieten der jeweiligen Umstände beschränkt.27 Der Text setzt darin auf die Suggestion jeden Erzählens, dem im zeitlichen Nacheinander hergestellten Zusammenhang entspreche auch eine logische oder sachliche Abhängigkeit. Er unterhält diese Suggestion, indem er einen nicht geringen Aufwand betreibt, die Ereigniskette auch als Folgerichtigkeit auszuweisen: Die Verbindung der zeitlichen Abfolge mit Übergängen zu einem explizit benannten quantitativen oder qualitativen Plus gegenüber den zuvor beschriebenen Zuständen ist dabei nur ein Vorgehen; insgesamt tendiert das Erzählen dazu, alle einzelnen ökonomischen oder gesellschaftlichen Erscheinungsformen in ganz abstrakter Weise immer als Relation zu anderem vorkommen zu lassen – sei es als Resultat eines sie bedingenden Umstandes, als Realisierung eines vorher gefassten Interesses oder bemerkten Bedürfnisses etc. –, und damit lauter Zusammenhänge zu behaupten, ohne sie näher zu bestimmen. So wird der Übergang von der Jagd zur Viehhaltung aus seiner praktischen Möglichkeit (»wenn die Sanftheit der Thiere deren Aufbewahren erleichterte«) abgeleitet, danach aus einem ohne den Übergang gegebenen Mangel; die Entwicklung der Gastfreundschaft und ihre Etablierung als »Gesellschaftspflicht« sollen verursacht sein durch die vermehrte Gelegenheit, sie zu üben. Ähnlich verfährt der Text bei der Entstehung von Handel und Geldwesen, wenn die ungleiche Verteilung wichtiger Güter den Tausch und dieser den Handel begründen, für diesen wiederum ein einheitliches Maß (das Geld) notwendig hervorgebracht werden soll. Im narrativen Nacheinander werden Gesten der Begründung generiert, die alles andere als tatsächlich zwingende Übergänge beschreiben (warum sollte die ungleiche Güterverteilung zum Tausch nötigen, weshalb die bloße Möglichkeit das Eintreten von etwas notwendig hervorbringen?). Die Narration bietet also keine inhaltlichen Plausibilisierungen der Abfolgen wie des in ihnen enthaltenen Fortschritts, sie leistet stattdessen eine Kennzeichnung der 27 ›Tableauartiges‹
Erzählen zeichnet sich dann dadurch aus, dass keine handelnden Individuen die Träger des narrativen Geschehens sind, sondern Gemeinschaften, Sozialstrukturen und Institutionen. Als Narration verwandelt es in ein zeitliches Nacheinander, was eigentlich einzelne Teile eines Gesamtbildes darstellt. Ein solches narratives Muster historischer Darstellung ist – nicht nur bei Condorcet – nicht neu, sondern u. a. an Voltaires Essai sur le mœurs et l’esprit des nations geschult. Johannes Rohbeck: Die narrative Funktion der Geschichtsteleologie. In: Veit Elm (Hrsg.): Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert. Geschichte, Enzyklopädik, Literatur. Berlin 2010, S. 21–37, hier: 25 u. 27, sieht ein Kennzeichen der Erzählstruktur in den Universalgeschichten des 18. Jahrhunderts in der Darstellung technisch-ökonomischer Stadien, die nicht von »singulären Handlungen«, sondern »institutionalisierte[n] Handlungszusammenhänge[n]« konstituiert werden, sowie einen Zusammenhang zur Entstehung der politischen Ökonomie (ebd., S. 31). Zur Tendenz zum abstrakten Erzählen und zu topischen Konjekturen, die der ökonomischen Theorie entnommen werden, vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die Gewalt der Erwartungen. Einige theoretische Bemerkungen zur Geschichtsschreibung am Beispiel Condorcets. In: Elm (Hrsg.): Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert, S. 39–51, hier: 46 f.
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kulturellen ›Errungenschaften‹ als bedingt durch ihre Umstände und selbst wieder Beitrag zu weiteren Übergängen,28 also die Einführung einer ganz formalen und damit leeren Folgerichtigkeit.29 Dieses Prinzip erlaubt es, jedes Ereignis darin einzuordnen, auch all das, was nicht nach (moralischem) Fortschritt aussieht – so die Ungleichheit der Rechte oder Aberglaube und Priestertum.30 Das Erzählen hilft hier dem Gültigkeitsausweis des Fortschrittsgedankens aus einer Verlegenheit: Indem dieses erlaubt, auch die Abweichungen von der Vernunft als Resultat des geschichtlichen Fortschreitens einzuordnen, erscheinen sie nicht als Verstoß gegen dieses Prinzip, sondern als »nothwendige Krise«31. Indem sie als Teil der historischen Notwendigkeit aber das Gesetz des Ablaufs bekräftigen, wird Kulturgeschichte bei Condorcet zwar auch eine »Geschichte der allgemeinen Irthümer […], welche den Gang der Vernunft mehr oder minder verzögert oder aufgeschoben […] haben«32 , zugleich aber zu einer Art faktischem Garant für die letztliche Durchsetzung des Ideals. Im Grunde ermöglicht das Erzählen damit, eine paradoxe Konstellation aufrechtzuerhalten: eine im aufklärerischen Sinne kritische Geschichte,33 die das Bewusstsein der (vor allem historisch akut werdenden) Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit schärfen will, und zugleich die Absicherung, dass man sich mit diesem Ideal nicht im Gegensatz zur Wirklichkeit sehen muss. Isaak Iselins Über die Geschichte der Menschheit (1764, überarbeitete Auflagen 1767–1791)34 findet sich in jener Reihe aufklärerischer Fortschrittsgeschich28 Rohbeck:
Geschichtsteleologie, S. 28, spricht von einem Wechsel des kausalen in ein finales Verhältnis, eine »funktionale[-] Erklärung«. Darüber hinaus gehen die Übergänge meist in die sittliche Sphäre und stellen damit eine Verbindung her von ökonomischen, sozialen und moralischen Aspekten. 29 Zum Entwurf von Geschichte als universales Kontinuum, das Geschichte nicht erklärt, sondern Historisches und räumlich Gleichzeitiges zusammenschließt, vgl. Matthias Arning: Die Idee des Fortschritts. Der sozialphilosophische Entwurf des Marquis de Condorcet als alternative Synthesis-Vorstellung zum Konzept der politischen Tugend. Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 147 ff. 30 Vgl. Condorcet: Entwurf, S. 31 f. zur ebenfalls im Kapitel „HirtenVölker“ beschriebenen Entstehung des Priestertums: »Aber zu gleicher Zeit [d. h. mit der Erfindung der Astronomie] vervollkommnete sich die Kunst, die Menschen zu täuschen, um sie zu plündern, und über ihre Meinungen sich ein auf chimärische Besorgnisse oder Hofnungen gegründetes Ansehen anzumasen.« Das Verhältnis von Perfektibilitätsidee und rhetorischer Eloquenz im Kontext der Spannung von Fortschritt und politischer Gewalt thematisiert auch Marc André Benier: La rhétorique du Tableau historique. In: Bertrand Binoche (Hrsg.): Nouvelles lectures du Tableau historique de Condorcet. Paris 2013, S. 79–94. 31 Condorcet: Entwurf, S. 36. 32 Ebd., S. 13. 33 Dass teleologische Geschichtsdeutungen, sofern sie die Fortschrittsidee als Bewertungsmaßstab einführen, ein durchaus kritisches Potential entfalten, betont Rohbeck: Geschichtsteleologie, S. 34 f. 34 Zitiert wird im Folgenden nach der 5. Aufl. von 1786. Zu den Überarbeitungen und den Unterschieden zwischen der Erstveröffentlichung und den späteren Fassungen vgl. Ulrich Im
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ten35, als deren Endpunkt Condorcet gelten kann; auch Iselin schreibt »weniger Ereignis-, sondern Kulturgeschichte« bzw. »Moralgeschichte in umfassendem Sinne«,36 auch er strengt dazu den Gedanken einer Perfektibilität des Menschen an, allerdings mit einer anderen Ausrichtung und einer anderen narrativen Plausibilisierungsstrategie. Iselin beginnt mit einer psychologischen Betrachtung des individuellen Subjekts, die mit der Bestimmung des Menschen als Synthese von Leib und vernünftiger Seele37 ansetzt und im Folgenden zwar ein Stufenmodell geistiger Entwicklung erkennen lässt – von der Sinnlichkeit über die Einbildungskraft bis zur Vernunft –, dann aber dazu übergeht, alle geistigen Vermögen des Menschen als Verhältnis der verschiedenen Seelenkräfte zueinander auszudifferenzieren; die ausführlichen Unterscheidungen und Bestimmungen der einzelnen Seelenvermögen (sei es Trieb, Begierde, sei es Einbildungskraft, Urteil oder Verstand) leisten dabei keine sachliche Differenzierung oder Klärung,38 sondern stellen ein Verfahren dar, in allen Sphären menschlichen Handelns und Fühlens eine geistige Dimension einzuführen. Wenn Iselin alle Seelenvermögen nach einem Mehr oder Weniger geistiger Betätigung unterteilt und diese danach gleich noch einmal, nun aber als Gelingensvorstellung und damit Maßstab zur Bewertung jener Fertigkeiten erscheint, wird die Vorstellung generiert, der Mensch sei vor und in allem konkreten Wollen und Urteilen ein Selbstbezug des Geistes auf sich bzw. sein Sollen und damit ein im Kern sittliches Wesen.39 Hof: Isaak Iselin und die Spätaufklärung. Bern/München 1967, S. 91–98; Lucas Marco Gisi: Die anthropologische Basis von Iselins Geschichtsphilosophie. In: Ders. u. Wolfgang Rother (Hrsg.): Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung. Basel 2011, S. 124–152, hier: 131 ff. 35 Das schließt den Impuls zur sittlichen oder politischen Erziehung ein: »Iselins Geschichte der Menschheit will selber keine bloße Bestandsaufnahme von Geschichtsverläufen sein, sondern stellt sich in den praktischen Dienst einer Aufklärung, die moralisch belehren und bessern soll«, Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006, S. 250. Der Durchgang durch die Geschichte sei Aufforderung, »an jenem Fortschritt, den er in der Geschichte meint ausmachen zu können, tatkräftig mitzuarbeiten« (ebd.). 36 Ebd., S. 248. 37 Vgl. Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. 5., mit dem Leben des Verfassers vermehrte Aufl. 2 Bde. Bd. 1. Basel 1786, S. 3. 38 Die Betonung des Systematischen bei Im Hof: Iselin, S. 91, 98 u. 207 f. ist deshalb kaum zu teilen. 39 Hier zeigt sich die Leistung einer Abstraktion, in der von allen konkreten Bezugnahmen, praktischen Bedürfnissen und Tätigkeiten abgesehen und der Mensch gar nicht mehr in seinem Tun und Lassen erfasst ist, sondern ganz jenseits aller Inhalte der Anerkennung und Berechtigung als werthaftes und berechtigtes Wesen gedacht wird. Darin liegt auch der Übergang von der erkenntnistheoretischen zur moralischen Hinsicht, vgl. Gideon Stiening: Facetten des Fortschritts. Iselin und Kant. In: Gisi u. Rother (Hrsg.): Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung, S. 177–200, hier: 181.
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Iselins Geschichte der Menschheit leistet sich theoretisch diesen einen Gedanken, der sich im Ausbuchstabieren von lauter Tautologien ergeht: So verdoppeln die folgenden Bücher der Geschichte der Menschheit die Annahme von der sittlichen Qualität aller emotionalen und praktischen Bezüge, aller kulturellen und sozialen Verhältnisse, sofern sie das, was als Anlage und wesentliches Potential des Menschen entworfen wurde, nun als dessen Einlösung, als Realisierung seiner Vermögen in der historischen Entwicklung zeigen.40 Für die Darstellung bedeutet dies, alle Momente der Entwicklung als Aspekte jener Sittlichkeit erscheinen zu lassen. Am Resultat einer damit beauftragten narrativen Entfaltung fällt zunächst auf, wie wenig sie auf die logische Stimmigkeit der Ableitung bedacht ist: Die mannigfaltigen Schönheiten der Natur machten, bey einer sich täglich verbessernden Organisation, immer sanftere Eindrücke in fühlbarere Seelen und gossen lebhaftere und menschlichere Empfindungen in wohlbeschaffnere Herzen. Die Einbildungskraft erhöhete und verfeinerte sich immer mehr. […] Die Jagd und die Viehzucht gaben weder dem Leibe noch der Seele mehr, einen genugsamen Stoff zur Beschäftigung. Die immer mehr auflebende Emsigkeit wurde täglich geschickter, der weisen Natur die Mittel abzulernen, durch welche die Annehmlichkeiten des Lebens erhöhet, und dessen Unkommlichkeiten vermindert werden konnten.41
Die Darstellung sieht ab von allen Gedanken darüber, wie die Sachen in der Welt (v. a. in ökonomischer oder materieller Hinsicht) zusammengehören; stattdessen wird ein Nacheinander von Elementen präsentiert, die sich als Ergänzungsverhältnis ausgebreitet finden und jeweils mit einer Wirkung auf Geist und Gemüt sowie auf die sozialen Beziehungen verbunden werden; so sind dann »Jagd« und »Viehzucht« nicht als Mittel der Existenzsicherung, sondern als »Stoff zur Beschäftigung« für Leib und Seele angeführt, und es ist gleich eine moralisch aufgefasste Betriebsamkeit, die sich in der Milderung von Widrigkeiten des Daseins betätigt. Iselins Erzählen von der Verfeinerung der Künste und Sitten wiederholt mehrfach dieselbe tautologische Bewegung, die das Produkt der Entwicklung, die sittliche Qualität, zugleich als deren Mittel und Voraussetzung auftreten lässt. Die Vorstellung, der Mensch stelle ein notwendig sittliches Wesen dar, wird auf diese Weise in immer neuen Einzelszenen lediglich beteuert. Darin tritt verstärkt die schon bei Condorcet konstatierte Tendenz zum tableauartigen Erzählen auf, worin jedes ›und dann‹ nur mehr das Erschließen einer weiteren Sphäre für den nämlichen Gedan40 Diese
Verdoppelung des Gedankens in die Tautologie von anthropologischer Begründung und kulturhistorischer Entfaltung wird meist über das Ausbuchstabieren der Analogie von Ontound Phylogenese erfasst, vgl. Gisi: Die anthropologische Basis; dabei regiere in Iselins philosophischer Geschichtsschreibung der theoretisch gesetzte Ausgangspunkt über die Entfaltung des historischen Materials, vgl. Im Hof: Iselin, S. 85; Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte?, S. 249. 41 Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. Bd. 2, S. 5.
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ken leistet. Besonders deutlich wird diese Konstruktion u. a. in den Abschnitten zur Entstehung des Eigentums:42 Hergeleitet wird das Eigentum in zwei Stufen, zuerst indem die Aneignung vorausgesetzt ist, um sie mit einer sittlichen Dimension der Verbindlichkeit und des Werthaften – zusammengefasst in einem Heimatgedanken43 – zu verknüpfen; die Pointe findet sich am Ende des Absatzes: Das Eigentum habe nicht länger bestanden, »als so lange die Besitzer wirklich bey dem Lande gegenwärtig waren, zu dem sie sich ein Recht erworben hatten.«44 Es ist dem Text nicht darum zu tun, das Eigentum als ökonomische Form zu erklären, sondern als berechtigte Einrichtung. Im nächsten Kapitel wird diese Berechtigung wieder weggedacht, um sie erneut herzuleiten: So kommt der bei den Naturrechtsdenkern so verbreitete Übergang, dass demjenigen das Land gehöre, der es nutzt bzw. bearbeitet, oder die Bestimmung, dass Eigentum andere von dieser Nutzung ausschließt, durchaus vor, allerdings gleich als Rechtsanspruch (»[das Land] konnte von keinem andern eingenommen werden, […] ohne ihm Unrecht zuzufügen«) und als dessen sittliche Legitimation (ohne ihn »der Furcht[sic] seines Fleisses zu berauben«).45 Bekannte Ideen werden einem anderen Darlegungsziel unterstellt: Die gesellschaftlich-ökonomische Tatsache, dass es Eigentum gibt, wird hier nicht begründet, sondern als Beleg herangezogen, dass eine sittliche Höherentwicklung der Menschheit vonstattenging, und dadurch ihrerseits sittlich legitimiert. Deutlich ist aber auch, dass der Gültigkeitsausweis der Vorstellung von der sittlichen Qualität kultureller Entwicklung sich nicht von der Plausibilität einer einzelnen Einordnung abhängig macht, an der es – wie zu sehen war – in der Mehrzahl der Fälle eher mangelt,46 sondern die Plausibilität durch die Summe solcher Einordnungen herzustellen intendiert. Es geht darum – gleichsam in einem Gestus des Deutens auf historisch-faktisch Verbürgtes –, alles in der Wirklichkeit mit einer sittlichen Regung oder Betätigung in Verbindung bringen zu können und allein die Fülle des dafür verwendeten Materials als materiellen Existenzausweis des Gedankens zu nehmen.47 Der historische Gegenstand kommt darin anders als bei Condorcet nicht als (zu überwindender) Gegensatz, sondern gleich als reines Bebil 42 Ebd.,
S. 10–15. S. 11: »Ein Geschlecht, das lang eine Gegend bewohnet hatte, faßte natürlicher Weise eine vorzügliche Neigung dazu.« Denn in diesem Land finden sich »[d]ie Gräber seiner Väter, die Denkmäler seiner Freunde und seiner Geliebten […]«. 44 Ebd., S. 14. 45 Ebd., S. 15. 46 »Die von der Popularphilosophie, namentlich von Iselin zur Salonfähigkeit erhobene Geschichtsphilosophie verzichtet auf den Anspruch, strenge Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte nachweisen zu wollen, stellt dafür jedoch allgemeine Tendenzen fest, die sich unter den Namen ›Fortschritt‹ rubrizieren lassen« (Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte?, S. 267). 47 Zu Iselins Verwendung von Geschichte als Material, um einer theoretischen Einsicht Evidenz zu verleihen, vgl. Zedelmaier: Anfang der Geschichte, S. 255. 43 Ebd.,
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derungswesen vor. Vorausgesetzt ist hier freilich ein anderer Plausibilitätsbedarf, zumal ein solches Verfahren offenkundig nicht den skeptischen, sondern den geneigten Leser bedient.48 Wer hier für den Gedanken eingenommen wird, der muss schon glauben, dass die Welt eigentlich durch die Entfaltung eines sittlichen Prinzips in ihr bestimmt wird. Insofern ist Iselins Werk nicht nur aufklärerische Kulturgeschichte, sondern Kulturgeschichte für Aufklärer – und das Erzählen ein Betätigungsfeld des sittlichen Vorurteils, das sich immer neues Material erschließt, um sich in der Welt anzuschauen und zu bekräftigen. 4. Fazit Ausgehend von der Konjunktur kulturgeschichtlicher Texte im 18. Jahrhundert und einer darin sich dokumentierenden Verschiebung der Pflicht zum Ausweisen von Geltungsansprüchen hat sich gezeigt, wie Formen der Narrativität das Bedürfnis nach Verschränkung von Sinnidee und Darstellung in theoretischer Beauftragung wie historiographischer Praxis aufnehmen und umsetzen. Dabei ist deutlich geworden, dass in den narrativen Verfahren nicht gleichsam automatisch eine Sinnordnung gelingt, sondern dass die Texte die Verfahren nach den Inhalten der Sinnvorstellungen oder dem Plausibilisierungsbedarf dieser Inhalte erst einrichten (müssen) und das Erzählen unterschiedliche Funktionen erfüllen soll: Bei Gatterer ist formuliert, dass die Narration sowohl der Rezipientenorientierung dienen wie auch den systematischen Zusammenhang der historischen Tatsachen repräsentieren soll; bei Condorcet und Iselin sind die narrativen Strategien Antworten auf die jeweiligen methodischen oder persuasiven Schwierigkeiten der theoretischen Seite, sei es in der formalen Überwindung des Gegensatzes von Material und Gedanken (Condorcet), sei es in der Bestätigung qua Bebilderung der Grundannahme einer sittlichen Verfasstheit der Menschennatur (Iselin).49 Das Erzählen in den Kulturgeschichten der Aufklärung wird, so ließe sich bilanzieren, dort eingesetzt, wo die durchaus differenten Inhalte und Ziele der Autoren im Zusammenfügen von Sinnidee und historischem Material ihren spezifischen Einfluss geltend machen sollen. 48 Hier
wäre die Annahme von Sommer, es handle sich um das Produkt einer angesichts der Wirklichkeit in Legitimationsnot geratenen Aufklärung, zu problematisieren (Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte?, S. 258). 49 Eine Fortsetzung oder weitere Variante solcher Strategien findet sich auch bei den Kulturgeschichten, die sich gerade gegen den Fortschrittsoptimismus der Aufklärer wenden, z. B. in Herders kulturgeschichtlichen Schriften, die einen theoretisch paradoxen Sinngedanken in ein zeitliches Nacheinander auflösen und nicht weniger als eine emphatische Notwendigkeitsbehauptung zu allem Faktischen generieren sowie den Übergang von einem Gültigkeitsausweis zu einer ›Vorstellbarkeit‹ der erzählten Epochen vollziehen. Vgl. zu Herder: Christine Waldschmidt: Funktionalisierungen des Narrativen am Beispiel kulturgeschichtlicher Schriften des 18. Jahrhunderts. In: Literatur für Leser 37 (2014), S. 191–202.
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Historisierung der Antike und geschichtliches Überlegenheitsgefühl nach dem Ende der Querelle des Anciens et des Modernes ? Ist zu der französisch-klassizistischen Querelle und ihrer Bedeutung für die Aufklärung seit den einflussreichen Arbeiten von Hans Robert Jauß nicht längst alles gesagt? – Nicht darum soll es hier gehen, denn nicht die französische Querelle an und für sich ist hier von Interesse, vielmehr sollen die nachfolgenden Überlegungen ein direkter Beitrag zu der These sein, dass für die Aufklärungsbewegung ein »historical narrative« konstitutiv sei, »das die eigene Gegenwart in einer für die europäische Geistesgeschichte ganz neuen Weise als Fortschritt gegenüber aller Vergangenheit definierte«, wie es der Call for Papers zu dieser Jahrestagung unter Berufung auf Dan Edelstein formuliert. Der Call for Papers führt weiter aus: Edelstein hat mit seiner These vor allem die querelle des anciens et des modernes im Auge; sie lässt sich ohne weiteres aber auch für das Fortschrittsbewusstsein der sog. wissenschaftlichen Revolution, die Traditions- und Autoritätskritik eines Thomasius oder die geschichtsphilosophischen Entwürfe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Turgot, Lessing, Schiller, Condorcet) geltend machen.
Nicht das Fortschrittsbewusstsein an und für sich, sehr wohl aber das Selbstverständnis der Aufklärung als »Fortschritt gegenüber aller Vergangenheit« möchte ich nachfolgend diskutieren. Besondere Beachtung findet dabei die Omnipräsenz der Antike im 18. Jahrhundert und die Vorbildfunktion, welche viele Autoren der Aufklärungszeit ihr einräumten. Für die deutschsprachige Kultur sei vorab nur an das berühmte klassizistische Nachahmungsgebot von Winckelmann erinnert: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.«1 Um 1800 spitzen die Frühromantiker die literarische Verehrung der Griechen in einem Athenäums-Fragment schließlich zu folgender Sentenz zu: »An die Griechen zu glauben, ist eben auch eine Mode des Zeitalters.«2 Ich nehme die Querelle des Anciens et des Modernes zum Ausgangspunkt meiner 1 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Sendschreiben. Erläuterung. Hrsg. v. Ludwig Uhlig. Stuttgart 2003, S. 4. 2 Athenäums-Fragment Nr. 277. Zit. nach: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Hans Eichner. 35 Bde. Bd. 2. Paderborn/München/Wien 1964, S. 212. Die genaue Verfasserschaft dieses Fragments ist gemäß der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, die keine eindeutige Zuordnung vollzieht, nicht geklärt.
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Überlegungen, um entgegen einiger verbreiteter Forschungsmeinungen etwas zu behaupten, was doch eigentlich bereits nach diesen beiden berühmten Zitaten recht offensichtlich sein dürfte, dass nämlich die Antike auch nach dem Ende der Querelle des späten Französischen Klassizismus keineswegs ihren kulturellen Maßstabscharakter verlor und dass in der Aufklärungsepoche über die geschichtliche Überlegenheit der Gegenwart unter den Zeitgenossen keineswegs Konsens herrschte. Dies ist zumindest der Eindruck, den ein Blick in einige wichtige geschichtsphilosophische Schriften jener Zeit vermittelt. Ich möchte an dieser Stelle einige methodologische Vorüberlegungen einschieben und mich dabei nochmal auf den Call for Papers beziehen: Bis heute ist das Wieder- und Weitererzählen von Narrativen, die sich die Akteure der Aufklärung selbst zurechtgelegt haben, ein weit verbreitetes Phänomen, das wissenschaftlich aber nicht unproblematisch ist. Es scheint daher dringend geboten, dass sich die Aufklärungsforschung Rechenschaft über ihre Art und Weise ablegt, vom 18. Jahrhundert zu erzählen. Dabei sind sowohl die in der Forschung […] verbreiteten Narrative kritisch in den Blick zu nehmen als auch die Erzählungen, mit deren Hilfe die Aufklärer sich definierten, ihr Unternehmen begründeten und gegen ihre Widersacher durchzusetzen versuchten.
Was ich im Folgenden also versuchen werde, ist einerseits, zwei eng miteinander verbundene, in der Forschung verbreitete Aufklärungsnarrative zu relativieren: Die Historisierung der Antike nach dem Ende der Querelle und das historische Über legenheitsgefühl der Aufklärung. Andererseits wende ich mich mit dem zeitgenössischen Antikediskurs zugleich auch einer zentralen Selbsterzählung der Aufklärung zu, um auf diese neues Licht zu werfen. Doch bleibt meine Darstellung der subjektiven Perspektivbildung und der narrativen Versprachlichung freilich verhaftet und es bleibt zu fragen, ob es (kultur-) historische Reflexionen geben kann, die nicht den Gesetzen von selected und constructed unterworfen sind. Die immer schon sprachliche Verfasstheit des menschlichen Weltbezugs und der erzählerische Zugang des ›Homo narrans‹ zu ihr3 sind keine spezifischen Probleme der Aufklärungsforschung und es würde wohl in die Irre führen, Konzepte entwickeln zu wollen, die den Kulturhistoriker als ›allwissenden Erzähler‹ prämieren. Denn nicht das Ringen um Omniszienz, sondern die Einsicht in die Relativität jeglicher Erkenntnis machen eine (geistes-)wissenschaftliche Darstellung glaubwürdig. Nicht also auf absolute Aussagen zielen die nachfolgenden Überlegungen, sondern auf historische Referentialität: Die historische Perspektivbildung hat plausibel belegt zu sein, lässt sich jedoch von subjektiver Hypothesenbildung nicht befreien. – Erzählende oder erzählte Aufklärung? Diese Vorüberlegungen beziehen sich natürlich auf die 3 Zum
Begriff des ›homo narrans‹ siehe Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 22012, S. 9–12.
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›erzählte Aufklärung‹, das Erzählen über Aufklärung so wie ich nachfolgend ein Beispiel dafür biete. Mit der aufklärerischen Antikerezeption wende ich mich bis zu einem gewissen Grad aber auch der ›erzählenden Aufklärung‹ zu, dem Sujet des historischen Erzählens im 18. Jahrhundert. Ich schränke das deswegen ein, weil ich behaupten möchte, dass man auch historisch erzählen kann ohne im engeren Sinne zu erzählen. »Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen«,4 dies stellte schon Roland Barthes über narrative Medien fest. Nicht also um Historiographie nach heutigen Maßstäben geht es, sondern um Geschichtsphilosophie und um Geschichtsbilder, zuweilen gar um Geschichtspolitik und -propaganda. Die Verständigung über derartige Narrative kann verschiedenartig erfolgen und muss nicht zwingend explizit argumentativ sein. Doch wie definiere ich in diesem Zusammenhang den Begriff des Narrativs? Wie wir bereits gehört haben, geht es bei Narrativen um Formen, die Welt zu ordnen und zu deuten. Demgemäß bewegt sich mein Verständnis des Narrativs nahe an dem, was Luhmann als ›gepflegte Semantik‹ bezeichnet. Ich werde darauf später noch zurückkommen. Die Diskussion der beiden für mich leitenden Fragen, ob man denn von einer Historisierung der Antike nach dem Ende der Querelle so pauschal sprechen kann (was ich schon vorwegnehmend verneint habe) und wie sich das aufklärerische Fortschrittsbewusstsein zur zeitgenössischen Verklärung der Antike verhält, gliedert sich in zwei Teile: Zuerst stelle ich die beiden Antikediskurse im Sinne einer vereinfachenden Epochentypologie einander gegenüber (I.), anschließend biete ich einige prägnante Beispiele für Formierungen der Antike zu einem Leitmodell während der Aufklärungszeit (II.). Hinter »vereinfachende Epochentypologie« dürfen Sie sich ein kleines Ausrufungszeichen merken. Denn wie ich an dieser Stelle schon anmerken möchte: Zum Denken im Allgemeinen und zum wissenschaftlichen Arbeiten im Besonderen zählen zwei komplementäre Operationen: erstens differenzieren, zweitens vereinfachen. Die zweite Operation, vereinfachen, ist bekanntlich konstitutiv für jegliche Begriffsbildung, abstrahieren und vereinfachen gehen in diesem Zuge Hand in Hand. Und insofern ist mir auch die Rede von ›den Aufklärungen‹ im Plural suspekt. Diese Wendung hat sich bekanntlich in jüngster Zeit verbreitet, um die Heterogenität der aufklärerischen Strömungen zu betonen. Doch dass es auch ›die Antike‹ nicht gab, werde ich wohl gar nicht erst zu diskutieren brauchen, immerhin umfasst dieser Epochenbegriff einen Zeitraum von mindestens 1400 Jahren, je nach Definition sind es sogar noch mehr. Was ich zugrunde lege, das ist ein weiter Aufklärungsbegriff, der die verschiedenen philosophischen Strömungen und lite4 Roland
Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143, hier: 102.
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rarischen Stile des 18. Jahrhunderts unter der Gesamtperspektive der Aufklärung subsumiert. Ein solcher – weiter – Aufklärungsbegriff ist bereits über 50 Jahre alt und wurde von verschiedenen Wissenschaftlern ausgeprägt, in der Germanistik mitunter von Gerhard Sauder, der die Empfindsamkeit als bedeutende Variante der Hochaufklärung darstellte. Zahlreiche weitere Differenzierungen folgten; an diesen Perspektivenreichtum schließe ich an, wenn ich von der Aufklärung im Singular spreche.
I. Nach diesen Vorüberlegungen komme ich nun zu der vereinfachenden Epochen typologie: Wie einige Schriftsteller des Französischen Klassizismus, so erhoben auch Autoren der Aufklärungsepoche die Antike zum Paradigma, doch dimensionierten sie deren Vorbildfunktion neu. Aus der übergeordneten Perspektive antik-zeitgenössischer Konkurrenzmodelle weisen der absolutistisch-klassizistische und der aufklärerische Antikediskurs zwei signifikante strukturelle Gemeinsamkeiten auf: Beide Kulturperioden prägten antik-zeitgenössische Vergleichsstrategien aus und in beiden Epochen vollzog sich eine interessegeleitete Formierung der Antike zu einem Leitmodell. Hans Robert Jauß nennt in seinen einflussreichen Abhandlungen5 eine Reihe an Ergebnissen, die er mit dem Ende der Querelle erreicht sieht und die ihm zufolge den Boden der Aufklärung bereiteten. Zu diesen von Jauß konstatierten Ergebnissen zählt mitunter die Einsicht in den historischen Differenzcharakter von Antike und Moderne. Diese Einsicht habe am Ende der Querelle die Vorbildfunktion der Antike relativiert und im folgenden Jahrhundert den Vergleich von Antike und zeitgenössischer Gegenwart obsolet werden lassen.6 Demgegenüber soll dieser Beitrag 5 Vgl.
Hans Robert Jauß: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewusstsein der Modernität. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 11–66; ders.: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹. Einleitung zum Faksimiledruck der vierbändigen Originalausgabe Paris 1688–1697 v. Charles Perrault: Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences. München 1964, S. 8–64. 6 Jauß stellte mitunter die These auf, dass der Streit zwischen Anciens und Modernes »mit der Literaturrevolution des 18. Jahrhunderts in Frankreich ein nicht zufälliges, geschichtliches Ende« gefunden habe (Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion, S. 8). Bei der Einsicht in den historischen Charakter der Antike (die sich Jauß zufolge am Ende der Querelle ausgeprägt habe) handele es sich um das neue Geschichtsverständnis, welches der Aufklärung den Boden bereitet habe (die Prämissen des aufklärerischen Geschichtsverständnisses erörtert Jauß insbesondere in der Abhandlung Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewusstsein der Modernität; vgl. hierzu bes. S. 32 f.). Denn mit der Historisierung der Antike sei auch eine Relativierung ihrer Vorbildfunktion einhergegangen. Unter Berufung auf ein Zitat von D’Alembert erläutert Jauß
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in einigen Konturen sichtbar machen, dass sich der Antikediskurs der Aufklärungsbewegung keineswegs derart konsequent auf dem Debattenausgang der Querelle des Anciens et des Modernes des Französischen Klassizismus gründet. Doch kann ich den Antikediskurs des Französischen Klassizismus an dieser Stelle gar nicht in seiner Vielstimmigkeit würdigen. Im Sinne einer Typologie möchte ich drei Eigenheiten herausstellen, die zwar nicht für Parteigänger der Anciens wie der Modernes gleichermaßen gelten,7 die aber den Diskurs im Umfeld von Ludwig XIV. charakterisieren und ihn von der Antikerezeption in anderen historischen Epochen unterscheiden: Charakteristische Züge des Antikediskurses im Umkreis von Ludwig XIV. sind, erstens, dass er absolutistisch funktionalisiert ist, dass er, zweitens, von der Überlegenheit des Christlichen in der zeitgenössischen Kultur ausgeht, und dass er, drittens, zur Verherrlichung der Gegenwart dient. Seit der Renaissance wurde die Berufung auf antike Herrschaftsformen nicht nur von den Republiken, sondern auch von vielen Alleinherrschern zur Emanzipation vom politischen Geltungsanspruch der Kirche genutzt. Mit diesem Impetus stilisierte sich auch Ludwig XIV. nach dem Vorbild der römischen Kaiser. Er förderte und instrumentalisierte Kunst und Kultur der Französischen Klassik, um seinen absolutistischen Herrschaftsanspruch auf römisch-kaiserzeitlicher Traditionsgrundlage zu legitimieren. In seinem Gedicht Le siècle de Louis le Grand strebt Perrault den direkten Vergleich zwischen »[l]e Siecle de LOUIS« 8 und dem »beau Siecle d’Auguste«9 an. seine These vom Ende der Querelle durch die »Literaturrevolution des 18. Jahrhunderts« wie folgt: »Der Streit über die Vorbildlichkeit der Antike und die Fortschrittlichkeit der mündig gewordenen Moderne ist für den aufgeklärten Kopf hinfort abgetan, nicht etwa – wie oft zu lesen – weil ihn ein Sieg der Partei des Fortschritts schließlich einseitig für sich entschieden hätte, sondern weil sich das eigentliche Dilemma des Streites von einem bestimmten Punkte an von selbst aufgelöst hat. Dieser Punkt war eingetreten, als mit der Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des Antiken und des Modernen die Voraussetzung eines Denkens in nicht abschließbaren Vergleichen und ›Parallelen‹ entfielen, die den Streit jahrzehntelang unentscheidbar hatten erscheinen lassen. / Die Querelle erübrigte sich in ihrem Kernpunkt: der Frage, ob das Vollkommene nur auf dem Wege einer Nachahmung des antiken Vorbilds zu erreichen sei, seit es für selbstverständlich galt, die Werke der Alten wie die der Neueren als Hervorbringung verschiedener Epochen, also nach einem relativen Maß des Schönen, und nicht mehr nach einem absoluten Begriff des Vollkommenen zu beurteilen.« Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion, S. 9. – Zu diesem Themenkomplex mit einigen anderen Akzentsetzungen siehe auch Élisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Übers. v. Wolfgang von Wangenheim u. René Mathias Hofter. Ruhpolding 2005, S. 60. 7 Auf eine Gegenüberstellung der beiden Positionen wird hier verzichtet; viele Abhandlungen fächern das Thema anhand eines kontrastiven Vergleichs auf, doch nicht auf diese Binnendifferenzierung kommt es mir hier an. 8 Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. [Faksimiledruck der vierbändigen OA Paris 1688–1697]. München 1964, S. 165. 9 Ebd.
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Perrault trug dieses Gedicht anlässlich der Genesung von Ludwig XIV. am 27. Januar 1687 in der Académie française vor und bekanntlich war es dieses Gedicht gewesen, an welchem sich die Querelle zwischen Anciens und Modernes entzündete. Es handelt sich bei diesem Gedicht zunächst bloß um ein Herrscherlob und um ein patriotisches Bekenntnis zur Vorrangposition Frankreichs: Der eine Herrscher sei dem anderen nicht unterlegen. Erst später arbeitete Perrault in seinen Parallèles des anciens et des modernes (1688–1697) die Überlegenheit des modernen Frankreichs systematisch aus und erweiterte sie auf alle übrigen kulturellen Gebiete. Seit dem 30. August 1694 galt der Streit über den Vorbildcharakter der Antike als formell beigelegt. Es handelt sich um jenen Tag, an dem es zu einer öffentlichen Umarmung der beiden Hauptkontrahenten Perrault und Boileau in der Académie française gekommen war. Die französisch-klassizistische Debatte konnte zu diesem Zeitpunkt in der Tat als beendet gelten. Das Thema des Kulturvergleichs blieb jedoch länger als hundert Jahre für die neuzeitliche Selbstvergewisserung relevant. In den folgenden Generationen wird das Verhältnis von Antike und Moderne unter neuen Gesichtspunkten der Differenz betrachtet: Im Vordergrund des Aufklärungsdiskurses steht nicht die Frage nach der Gleichwertigkeit der Kulturkreise, sondern diejenige nach ihrer Verschiedenheit. Dieser Perspektivwechsel bildet die Voraussetzung dafür, dass im 18. Jahrhundert das aufkommende Bildungsbürgertum die Antike verstärkt dazu einsetzt, seine Interessen zu artikulieren. Der Rekurs auf die Antike soll fortan nicht mehr dazu dienen, die bestehende Gegenwart zu verherrlichen, sondern umgekehrt: eine Veränderung der Gesellschaft zu unterstützen. Hatte im Französischen Klassizismus die Antikerezeption im Umfeld von Ludwig XIV. im Zeichen des Absolutismus gestanden, da dieser durch die Affirmation römisch-kaiserzeitlicher Legitimationsmechanismen gegen den politischen Geltungsanspruch der Kirche immunisiert werden sollte, so spielten Schriftsteller der Aufklärungszeit die demokratischen und republikanischen Staatsformen der griechisch-römischen Antike sowohl gegen den Geltungsanspruch der Kirche als auch gegen das römisch-kaiserzeitliche Legitimationsmodell des Absolutismus aus. Rousseau etwa greift in seinen geschichtsphilosophischen und staatstheoretischen Schriften gezielt die Querelle des Französischen Klassizismus wieder auf, um die Antike erneut in den Rang eines der Moderne übergeordneten Paradigmas zu heben. Doch besitzt der Vergleich zwischen Anciens und Modernes in seinen politischen Hauptwerken, im Discours sur l’ inégalité (1755) und im Contrat social (1762), eine entschieden antiabsolutistische Stoßrichtung: Rousseau deutet die Menschheitsgeschichte als einen herrschaftspolitischen Verfallsprozess. In diesem Rahmen nimmt die Antike einen höheren Rang ein als die Moderne und soll als Richtschnur für die Rekonstitution eines legitimen politischen Ordnungssystems dienen. Nicht den antik-zeitgenössischen Kulturvergleich an sich, sehr wohl aber die antik-zeitgenössischen Vergleichstechniken des absolutistisch geprägten Französischen Klassizismus
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verabschiedet Rousseau energisch: Die Leitfunktion der Antike perspektiviert er auf deren demokratisch-republikanische Tradition hin und mit seiner Geschichtsphilosophie schafft er dem Streit darüber, ob den ›Alten‹ oder den ›Modernen‹ der Vorzug zu geben sei, eine neue Bewertungsgrundlage. Zahlreiche weitere Schriftsteller der Aufklärungsbewegung stilisieren die Antike zu einem idealen Gegenmodell, welches dazu dient, Kritik an der zeitgenössischen Glaubenskultur, an der Gesellschaftsstruktur und am Herrschaftssystem zu üben. Die aufklärerischen Leitbilder sind zwar zuerst Sparta und das republikanische Rom, später das Athen im Zeitalter des Perikles. Doch die realen Geschichtsepochen der Antike sind für die aufklärerische Antike-Ideologie von untergeordneter Bedeutung: Die Paradigmenbildungen begünstigen Imaginationen der Antike. Die Antike der Aufklärungsbewegung ist eine Fiktion mit Interessencharakter.10 – Und die zeitgenössischen Schriftsteller reflektieren diesen Fiktionscharakter und das imaginative Potential der Antike: Wilhelm von Humboldt klagt 1804 in einem Brief, den er aus Latium an Goethe schreibt, über das Einsetzen der Ausgrabungen des Forum Romanum in Rom, weil er einen Verlust an Einbildungskraft befürchtet: »Es kann höchstens ein Gewinn für die Gelehrsamkeit auf Kosten der Phantasie sein.«11 Goethes Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer berichtet, dass Goethe im Jahr 1811 in einer seiner Tischreden über das Griechendrama Iphigenie auf Tauris rückblickend festgestellt habe, dass es »ungeschrieben geblieben« wäre, hätte er zuvor ein »erschöpfend[es]« »Studium der griechischen Sachen« betrieben.12 Friedrich Schlegel pointiert diese affirmativen Imaginationen der Antike in einem berühmten Athenäums-Fragment: »Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte; vorzüglich sich selbst.«13 Weil die zeitgenössische Antikerezeption interessegeleitet und funktionalisiert ist, lässt sie sich als Beitrag zu jener kulturellen Semantik betrachten, in der sich der gesellschaftliche Transformationsprozess nicht nur niederschlägt, sondern die auch daran beteiligt ist, ihm den Weg zu bereiten. Ich komme nun zu Luhmanns Begriff der Semantik zurück: 10 Zum
Themenkomplex der Geschichtsdeutung als ›Machtkampf‹ im Allgemeinen siehe Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 224–229. 11 Wilhelm von Humboldt: An Goethe am 23. August 1804. In: Ders.: Briefe. Auswahl v. Wilhelm Rößle. München 1952, S. 263. 12 Goethes Tischrede vom 20. Juli 1811. In: Friedrich Wilhelm Riemer: Mittheilungen über Goethe. Aus mündlichen und schriftlichen, gedruckten und ungedruckten Quellen. 2 Bde. Bd. 2. Berlin 1841, S. 716. – Zur Konstitution und Korrektur von Goethes Antike-Bild durch die Begegnung mit ihrer historischen Realität in Italien siehe Ernst Osterkamp: Goethes Kunsterlebnis in Italien und das klassizistische Kunstprogramm. In: Konrad Scheurmann u. Ursula Bongaerts-Schomer (Hrsg.): »… endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!« Goethe in Rom. 2 Bde. Bd. 1. Mainz 1997, S. 140–147. 13 Athenäums-Fragment Nr. 151. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2, S. 189.
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Bei evolutionären Transformationen dieser Art mögen Wortkleider, Floskeln, Weisheiten und Erfahrungssätze durchtradiert werden; aber sie ändern ihren Sinn, ihre Selektivität, ihre Fähigkeit, Erfahrungen zu packen und neue Perspektiven zu eröffnen. Es verlagert sich der Schwerpunkt, von dem aus Sinnkomplexe Operationen steuern; und in dieser Weise kann Ideengut, wenn es nur reich genug ist, tiefgreifende Veränderungen in den Sozialstrukturen vorbereiten, begleiten und hinreichend rasch plausibilisieren.14
II. Es ließen sich noch weitere prägnante Zitate und Hinweise auf Werke und Schriftsteller der französischen und deutschen Aufklärungszeit anführen. Im Folgenden möchte ich nur noch zwei wichtige Hinweise platzieren: den Hinweis auf die zeitgenössische Anknüpfung an die Renaissancetradition (1.) und denjenigen auf den zeitgenössischen Revolutionsbegriff (2.). 1.) In seinem epochemachenden Werk Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst von 1755 verbindet Winckelmann das frühaufklärerische Gedankengut mit einer neuen griechisch-klassizistischen Paradigmenbildung und stiftet damit ein Anschauungsmuster, auf dessen Variation unzählige philosophische, literarische und bildkünstlerische Werke beruhen, die in Deutschland und Europa in den folgenden fünfzig Jahren geschaffen werden: Das Paradigma klassizistischer Kunstvollendung avanciert zum Sinnbild der Freiheit. – Hervorheben möchte ich: Sinnbild. Es handelt sich also um ein Geschichtsnarrativ, das zum Identifikationssymbol verdichtet wurde. An die italienische Renaissancetradition knüpft Winckelmann an, indem er die Vorzüglichkeit der Alten auf die autonome und sinnliche Entfaltung des Individuums in seiner diesseitigen Lebenswelt zurückführt. Wiederholt erhebt er die Renaissancekünstler, insbesondere Raffael,15 aber auch Michelangelo,16 zu Erben der antiken Schönheitsidee. Die zeitgenössische Vereinnahmung der Renaissancetradition verbindet sich also mit der emanzipatorischen Neuformierung der Antikerezeption. Etwa zur gleichen Zeit, zu der Winckelmann sie im Genre der Ästhetik und Kunstgeschichte gezielt wieder aufnimmt, transformiert Voltaire sie im Rahmen seiner aufklärerisch-antichristlichen Geschichtsideologie. In seinem monumentalen Geschichtswerk Essai sur les moeurs et l’esprit des nations,17 projiziert auch Voltaire das Ethos der Aufklärungszeit in die italienische Renaissanceepoche. Indem er das Italien des Quat14 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1994, S. 9. 15
Vgl. Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung, S. 10, 15, 22 u. ö. ebd., S. 16. 17 Das Werk wurde in den frühen 1740er-Jahren begonnen und 1756 publiziert. 16 Vgl.
Historisierung der Antike und geschichtliches Überlegenheitsgefühl …?
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trocento und Cinquecento zum Ursprung der Moderne stilisiert, gewinnt er eine Makroepoche, die sogenannte Neuzeit, die er in einen polemischen Gegensatz zum christlichen Mittelalter treten lässt. Die aufklärerische Identifikation mit der Renaissance kulminiert darin, dass einige Gelehrte der Spätaufklärung die Renaissance dem eigenen Selbstverständnis entsprechend als ›Aufklärung‹ bezeichnen.18 Dan Edelstein bietet in seiner Aufklärungs-Monographie Beispiele dafür, dass die Aufklärer sogar die Antike begrifflich als ›Aufklärung‹ vereinnahmten.19 Win ckelmanns klassizistische Ästhetik und Voltaires aufklärerische Geschichtsideologie führt der alte Goethe in seinem Faust II zusammen. In diesem Alterswerk rückt er retrospektiv die Neuzeit insgesamt in die Perspektive einer Renaissance antiker Kultur.20 Die italienische Renaissance und die selbst erlebte Kunstperiode gleichen sich mit Blick auf die hohe Verehrung der Antike, deren Aneignungsprozesse den kulturellen, gedanklichen und wissenschaftlichen Aufbruch förderten. 2.) Die Revolutionsbegeisterung der späten 80er- und frühen 90er-Jahre des 18. Jahrhunderts ist naturrechtlich und geschichtsphilosophisch begründet und findet im Antikekult ihren symbolischen Ausdruck. Aus der Optik der Revolutionstheorien erscheint die Orientierung an der Antike deswegen naheliegend, weil das seit den 1770er-Jahren verbreitete Bild von ihr als einer Epoche ursprünglicher Naturharmonie mühelos mit der politischen Fiktion eines Naturzustandes in Einklang zu bringen ist, welches das zentrale Denkmodell in der Revolutionsliteratur dieser Zeit bildet. Umgekehrt erhält auch die literarische Antikerezeption gerade durch die zeitgenössischen Revolutionstheorien einen verstärkt progressiven Charakter. Denn korrespondierend mit der Naturrechtslehre und dem auflebenden Naturkult, dem rousseauistischen ›Zurück-zur-Natur‹, bezeichnet der ursprünglich aus der Astronomie entlehnte Revolutionsbegriff, »die Wiederkehr der Zeiten, […] die Wiederherstellung des alten Rechts, die Restauration eines durch Despotismus gestörten Rechtszustandes«.21 Zwar unterscheidet die Forschung seit Karl Griewank 22 einen ›traditionellen‹ und einen ›neuzeitlichen‹ Revolutionsbegriff, eine Unterscheidung, derzufolge die Französische Revolution gerade nicht auf ein ›Zurück‹ angelegt gewesen sei, wie es der Terminus der ›Revolution‹ eigentlich impliziert, sondern auf
18 Siehe
hierzu Elisabeth Körner: Das Renaissancebild der Aufklärung. In: Richard Toellner (Hrsg.): Aufklärung und Humanismus. Heidelberg 1980, S. 23–33. 19 Dan Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy. Chicago 2010, S. 43. 20 Zu diesem Gesichtspunkt von Goethes Faust siehe Jochen Schmidt: Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. München 22001. 21 Dieter Borchmeyer: Altes Recht und Revolution. – Schillers ›Wilhelm Tell‹. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Tübingen 1982, S. 69–111, hier: 72. 22 Karl Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Geschichte. Aus dem Nachlass hrsg. v. Ingeborg Horn-Staiger. Frankfurt a. M. 1973.
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»einen Neuanfang unter entschiedenem Bruch mit der Vergangenheit«.23 Doch zum Ersten bleiben bis zum Ende der Revolutionsepoche beide Deutungsschemata bestehen. So schreibt etwa der Revolutionsapologet Saul Ascher noch im Jahre 1802: »Eine politische Revolution ist die Rückkehr eines Zustandes der menschlichen Natur, der ihrem gesellschaftlichen vorgegangen«.24 Zum Zweiten findet die Antike in beide Deutungsmuster Eingang, da sie als Denkmodell eines ›Neuanfangs‹ dient. Damit wird zum Dritten auch die strenge Unterscheidung zwischen den beiden Revolutionsbegriffen hinfällig. So deutet Schiller 1793 in einem seiner Briefe an den Herzog von Augustenburg die Französische Revolution zwar als Rückkehr zu einem ursprünglichen Naturzustand;25 doch sein geschichtsphilosophisches Triadenmodell, das sich unter anderen auch Hölderlin produktiv aneignet, ist weder dem einen noch dem anderen Revolutionsbegriff im engeren Sinne zuzuordnen, sondern vielmehr durch eine charakteristische Spannung zwischen beiden geprägt: Weil sich gerade durch die Orientierung an der antiken Naturharmonie eine neue Menschheitsepoche herausbilden soll, sind auch der Niedergang der Antike und die moderne Entfremdung im geschichtlichen Fortschritt aufgehoben. Die idealistische Geschichtsphilosophie Schillers und Hölderlins synthetisiert somit das ›Zurück‹ des einen mit dem ›Vorwärts‹ des anderen Revolutionsbegriffs. Um hier zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurückzukehren: Das aufklärerische Fortschrittsbewusstsein an und für sich steht außer Frage, denn mindestens auf den geschichtlichen Fortschritt hinzuwirken, ist das erklärte Ziel zahlreicher Aufklärer. Doch liegt der geschichtliche Fortschritt im Rahmen der idealistischen Geschichtstriade in einer utopischen Zukunft. Die Gegenwart wird in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) oder in Hölderlins Hype rion (1797/99) bekanntlich als eine Zeit der Disharmonie und der Entfremdung diagnostiziert. Doch wie bereits einleitend eingeräumt, dienen die hier diskutierten Texte nicht der Historiographie nach heutigen Maßstäben, sondern sind ihrerseits funktionalisiert. Das pädagogische Moment ist nicht nur charakteristisch für die idealistische Geschichtsphilosophie Schillers und Hölderlins, sondern für zahlreiche Schriften der Aufklärungs- und Revolutionszeit. Und weil sich die Revolutionäre die Antike so plakativ und breitenwirksam auf ihre republikanischen Fahnen 23 Borchmeyer:
Altes Recht und Revolution, S. 72. Ascher: Die Revolution in geschichtsphilosophischer Perspektive [1802]. In: Jörn Garber (Hrsg.): Revolutionäre Vernunft. Texte zur jakobinischen und liberalen Revolutions rezeption in Deutschland 1789–1810. Kronberg Taunus 1974, S. 10–21, hier: 14. 25 Vgl. Schiller an von Augustenburg am 13. Juli 1793. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. v. Edith Nahler u. Horst Nahler. 50 Bde. Bd. 26. Weimar 1992, S. 260: »Eine geistreiche, muthvolle, lange Zeit als Muster betrachtete Nation hat angefangen, ihren positiven Gesellschaftszustand gewaltsam zu verlassen, und sich in den Naturzustand zurückzuversetzen, für den die Vernunft die alleinige und absolute Gesetzgeberin ist«. 24 Saul
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geschrieben hatten, artikulierte sich in Frankreich der Angriff auf die jakobinische Republik wenige Monate vor dem Sturz und der Hinrichtung Robespierres (am 28. Juli 1794) auch als Angriff auf die republikanische Antike-Ideologie. Ein Beispiel bieten die berühmten Leçons d’ histoires, die der Aufklärer und Geschichtsphilosoph Constantin François Volney (1757–1820) im Jahr III der Revolution, zwischen dem 20. Januar und dem 23. März 1795,26 an der frisch gegründeten École normale Supérieure hält. Seine sechste und letzte Vorlesung am 23. März 1795 beendet er mit einem gehörigen Seitenhieb auf das Antike-Ideal der Revolutionäre. Er wirft ihnen ihre ›abergläubische‹, also irrationale und quasi-religiöse Verehrung der Antike vor: Nous leur [les ancêtres] reprochons l’adoration superstitieuse des Juifs, et nous sommes tombés dans une adoration non moins superstitieuse des Romains et des Grecs; nos ancêtres juraient par Jérusalem et la Bible, et une secte nouvelle [les Jacobins] a juré par Sparte, Athène et Tite-Live.27
26 Die
genauen Daten sind der zweibändigen Werkausgabe (vgl. die folgende Anm.) nicht zu entnehmen, ich übernehme sie von Mouza Raskolnikoff: Des Anciens et des Modernes. Paris 1990, S. 113. 27 Constantin-François Volney: Œuvres. Textes réunis et revus par Anne et Henry Deneys. 2 Bde. Bd. 1. Paris 1989, S. 602. – »Wir werfen ihnen [unseren Vorfahren] die abergläubische Verehrung der Juden vor, doch wir selbst sind in eine nicht weniger abergläubische Verehrung der Griechen und Römer abgeglitten. Unsere Vorfahren schwuren auf Jerusalem und die Bibel und eine neue Sekte [die Jakobiner] schwor auf Sparta, Athen und Titus Livius«.
2. se k t ion S t i m m e ( n ) de r V e r n u n f t : Ph i l o s oph i s c h e E r z ä h lu ng e n
Heiner F. Klemme
Stimme(n) der Vernunft: Philosophische Erzählungen Einleitung
D
ass das deutsche Wort ›Vernunft‹ nicht pluralfähig ist, sagt leider nichts über ihren Begriff aus. Ob es die eine Vernunft gibt, ist im Zeitalter der Aufklärung ebenso umstritten wie ihre Natur und ihre diversen Äußerungsformen. Steht der Begriff der Vernunft für einige Philosophen für das streng Allgemeine und Notwendige, für das Gesetz und das diesem Gesetz Gemäße, plädieren die anderen Philosophen für einen Vernunftbegriff, der wohl in Logik, Mathematik und Naturwissenschaft Notwendigkeit zu begründen vermag, in den Bereichen des Rechts und der Politik, der Ethik und der Ästhetik aber keine Anwendung zu finden vermag. Diese Bereiche qualifizieren sich schlicht nicht für Formen der Rechtfertigung und Begründung, so sind diese Philosophen überzeugt, die im Namen der einen Vernunft geführt werden könnten. Und das aus zwei Gründen: Erstens setzt jede Begründung etwas voraus, auf das als Begründendes verwiesen werden kann. Eine letzte Einsicht in erste Gründe vermag uns die Vernunft aber nicht zu geben. Und zweitens zeigt der faktische Gebrauch, den wir von unserer Vernunft machen, dass unsere Überzeugungen auf kontingenten Voraussetzungen beruhen und von besonderen Umständen abhängen, die es probat erscheinen lassen, den Begriff der gewissermaßen in Großbuchstaben geschriebenen einen Vernunft ad acta zu legen. Die Stimme der Vernunft äußert sich als Stimmung, als Gefühl, als ein Glaube, der uns ergreift oder sich unserer ermächtigt. Aus der Stimme der einen Vernunft werden die Stimmen einer Vernunft, die zwar als Wort, aber nicht mehr als Begriff im Singular auftritt. Aus Rechtfertigung und Begründung als genuinen Artikulationsformen der einen Vernunft werden Erzählungen, sprachliche Äußerungsformen der Vernunft und über die Vernunft. Doch keine Erzählung ist alternativlos. Jede Erzählung denkt ihre eigene Relativität bereits mit, sonst würde sie ihr Genus verfehlen. Wird die Vernunft aus der Perspektive der Erzählung thematisiert, ist es um ihre Einheit geschehen. Wir bewegen uns nun auf einer Metaebene. Die These, dass sich die Vernunft nur als Erzählung manifestieren kann, ist selbst eine Erzählung, die wir, um sie von der ersten Stufe der erzählenden Vernunft zu unterscheiden, ein Narrativ nennen könnten. Dieses Narrativ der Erzählung ist der natürliche Feind einer Philosophie, die mit dem Anspruch auftritt, in einem günstigen Augenblick hinter dem Schleier des Historismus hervortreten zu können. Das Narrativ der Erzählung ersetzt die Macht der Argumente durch die Macht der Bilder. Ob die-
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ses seinerseits im Modus postfaktischer Gewissheit auftretende Narrativ plausibel erscheint, können wir hier nicht entscheiden. In jedem Fall bedenkenswert und wegweisend sind die Beiträge der Sektion »Stimme(n) der Vernunft – Philosophische Erzählungen«, in denen unterschiedliche Aspekte und Dimensionen dessen erörtert werden, was entweder als Alternative zum vernunftbestimmten Denken oder aber als spezielle Ausdrucksweise dessen begriffen zu werden vermag, was Vernunft immer auch ist oder sein sollte: pluralfähig. Die Beiträge beschäftigen sich mit Johann Georg Hamanns Einwände gegen eine um die Begriffe der Vernunft und der Autonomie kreisenden Philosophie (Hans Graubner), thematisieren die ästhetisch-poetische Reflexion auf die Aufklärung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Leonhard Herrmann) und erörtern »Rezeptionsmuster der Dialektik der Aufklärung im deutschsprachigen Roman seit 1985« (Elisabeth Johanna Koehn). Sie untersuchen die Begriffe der Mimesis und Mimikry bei Anthony Ashley-Cooper, dem Earl of Shaftesbury (Manuel Mühlbacher), diskutieren die Bedeutung von Johann Gottfried Herder, Karl Philipp Moritz und Immanuel Kant für die Sprachursprungsdebatte der deutschen Spätaufklärung (Wolfert von Rahden), greifen die gegenüber Christian Wolff vorgenommene Neubestimmung philosophischer Aufklärungserzählung bei Georg Friedrich Meier auf (Paola Rumore) und widmen sich schließlich den »Erzählungen des Verfalls bei Montesquieu und Rousseau« (Martin Urmann).
Hans Graubner
Erzählen statt Beweisen Johann Georg Hamanns Einwände gegen Vernunftkonstruktionen Wenn man das Denken Hamanns vom Tagungsthema her skizziert, so zeigt sich, dass er das Erzählen weit umfassender versteht als seine Zeitgenossen. Hamann lebt und denkt im Rahmen der großen christlichen Erzählung der Heilsgeschichte, die aus der Schöpfungsgeschichte erwächst. Als Erzähler dieser Universalgeschichte denkt er sich Gott selbst. Seine Biblische[n] Betrachtungen eines Christen beginnt er mit dem Ausruf: »Gott ein Schriftsteller!«1 Und in der Aesthetica in nuce versteht er die Erschaffung der Welt und die Erschaffung des Menschen als zwei Gattungen dieser göttlichen Großerzählung: »Die Schöpfung des Schauplatzes verhält sich aber zur Schöpfung des Menschen: wie die epische zur dramatischen Dichtkunst.«2 Durch diesen Ansatz rückt die Sprache ins Zentrum von Hamanns Denken. Kernpunkt ist dabei die Verknüpfung seines Sprachdenkens mit der Inkarnation. Gott hat sich mit seiner Schöpfungserzählung zum Menschen herabgelassen, hat sie der sinnlichen, endlichen Fassungskraft des Menschen angepasst und gleichsam in seiner Sprache gesprochen. Denn menschliche »Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit« (N 2, 197). Dieser Satz versteht mit David Hume alles, was der Mensch mit seinen Sinnen aufnehmen kann, als »sensible image[s]«.3 Wegen dieser Begrenztheit aller Erkenntnismöglichkeiten des Menschen auf das ihm sinnlich Zugängliche, kommt Gott ihm als Erzähler entgegen. Hamann deutet die Schöpfungsrede Gottes deshalb als Bilderrede. Gott redet in Metaphern. Nach einem glücklichen Ausdruck von Konersmann sind Metaphern »Erzählungen, die sich als Einzelwort maskieren.«4 Gottes Schöpfungsepik und Schöpfungsdramatik ist für Hamann urpoetische metaphorische Erzählung. Und da der Mensch aus dieser Schaffensepik und in ihr lebt, also nur als Erzählung Gottes existiert, bleibt auch sein eigenes Sprechen immer ein Erzählen. 1 Johann Georg Hamann: Londoner Schriften. Hrsg. v. Oswald Bayer u. Bernd Weißenborn.
München 1993, S. 59. 2 Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Josef Nadler. 6 Bde. Wien 1949–1957 [im Folgenden: N], hier: N 2, 200. 3 David Hume: Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals. Hrsg. v. L. A. Selby-Bigge u. P. H. Nidditch. Oxford 31975, S. 154. 4 Ralf Konersmann: Vorwort. Figuratives Wissen. In: Ders. (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Darmstadt ³2011, S. 17.
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Aspekte · 2. Sektion · Hans Graubner
Die dramatische Geschichte von der Erschaffung des Menschen gipfelt für Hamann in der Erzählung vom Sündenfall. Mit Nachdruck bekämpft er die von seinen Zeitgenossen ausgearbeitete Gegenerzählung von der Autonomie des Menschen, in welcher der Sündenfall als Glücksfall in der Menschengeschichte erscheint. Kant erzählt dieses Ereignis als Ausstieg »aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft«,5 Herder als das »Risquo, das der Mensch auf sich nahm, außer seinen Schranken, sich zu erweitern, […] zu seyn wie Gott«.6 Das ist der Punkt, der Hamann umtreibt. Der Kern aller Sünde, das Seinwollen wie Gott, der Ursprung aller menschlichen Eitelkeit, wird in diesem Aufklärungsprojekt zur Triebfeder menschlichen Handelns erhoben. Da diese Eitelkeit aber seit dem Sündenfall als anthropologische Befindlichkeit alle Handlungen des Menschen grundiert, muss die Autonomie-Erzählung schiefgehen. Sie beruht auf dem Missverständnis, der Mensch könne aus seiner Schöpfungsgeschichte aussteigen. Sprachlich gesehen bedeutet dieser Ausstieg den Versuch, alle Sinnlichkeitsbindung, alle Metaphern aus der Schöpfungsrede, welche der Mensch ist, herauszukürzen, sie auf Vernunftkonstruktionen aufzubauen und auf diese Weise zeitlos, geschichts- und geschichtenlos zu machen. Gegen dieses Missverständnis setzt Hamann seine eigene Deutung des Sündenfalls. Danach ist der Mensch durch dieses Ereignis im Sinne des Paulus in eine Ich-Spaltung gefallen: »Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich«.7 Wegen dieses Zugleichseins von Gut und Böse muss der Mensch in allen hochgemuten Geschichten von seiner Autonomie zugleich die Geschichte seiner Eitelkeit und widergöttlichen Selbstüberhebung erzählen, die ihn in seiner irdischen Begrenztheit festhält. Auf diese Gegengeschichte unter den Erzählungen seiner Zeitgenossen legt Hamann den philologischen Finger, um an die menschliche Grundbefindlichkeit des Endlichseins zu mahnen, aus der es keinen Ausstieg gibt. Nach dieser Kurzfassung von Hamanns narrativem Denken will ich an vier Beispielen zeigen, wie er die jeweiligen Gegengeschichten herauspräpariert. Das erste Beispiel bezieht sich auf Descartes, das zweite auf die Theodizee, das dritte auf die Physik Newtons bei Kant und das vierte auf Kants Definition der Aufklärung. 1. In einem frühen Fragment setzt Hamann sich mit »Descartes Schrift von der Methode« 8 (N 4, 221) auseinander. Er unterscheidet in ihr zwei Erzählungen. Die 5 Immanuel Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte [1786]. In: Ders.: Kants Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 29 Bde. Berlin 1900 ff. [im Folgenden: AA], hier: AA 8, 115. 6 Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hrsg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. 7 Bde. Wiesbaden, ab Bd. 5 Frankfurt a. M. 1955–1979 [im Folgenden: ZH], hier: ZH 2, 410. 7 Röm 7,19. 8 Gemeint ist der Discours de la méthode von 1637.
Johann Georg Hamanns Einwände gegen Vernunftkonstruktionen
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eine ziele auf radikale Wahrheitsfindung durch Abstraktion, die andere biete die persönlichen Motive des Philosophen zur Abfassung dieser Schrift. In der ersten erzähle Descartes »eine Geschichte seiner Vernunft« und erlaube dem Leser sogar, sie als einen »Roman derselben anzusehen« (N 4, 221). Darin versuche Descartes, »seine Seele von allen Begriffen bloß zu machen, weil sie […] zu einer deutlichen Erkenntnis hinderlich« (N 4, 222). seien. Diesen paradoxen »Einfall«, alle Zugänge zur Erkenntnis um der Reinheit der Erkenntnis willen abzuschneiden, vergleicht Hamann mit einem Knaben, »der seine beiden Augen zuhielt, [um] damit nach den Sternen zu sehen« (ebd.).9 Wichtiger ist ihm jedoch die von Descartes miterzählte Geschichte seiner Motivation. Um die von ihm erweckte Erwartung nach einer gänzlich neuen Philosophie zu erfüllen, rühme Descartes seinen Einfall als »etwas Heldenmäßiges und außerordentliches«, das »nicht jedermann so gut als ihm glücken würde« (ebd.). In dieser Neigung zu eitler Selbsterhöhung wittert Hamann die eigentliche Motivation zu Descartes’ Methodenschrift, die deshalb seiner »Eitelkeit […] mehr als seiner Methode […] zu danken« (ebd.) sei. Und das heißt in Hamanns Sündenfallanthropologie, dass sie der Auflehnung gegen Gott entspringe. 2. Mein nächstes Beispiel zeigt, wie der junge Hamann bei seiner Beschäftigung mit der Theodizee darauf gestoßen wird, dem Erzählen einen höheren Erkenntniswert beizumessen als dem Beweisen.10 Ausgangspunkt ist David Humes Zerstörung der klassischen Argumente für die Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt. Hamann las Humes Enquiry Concerning Human Understanding in der deutschen Übersetzung, die Johann Georg Sulzer herausgegeben und kommentiert hatte. Weder der Wolffianer Sulzer noch der christliche Eklektiker Hamann waren damals mit der Verabschiedung der Theodizee einverstanden und versuchen, sie gegen Hume zu behaupten. Hume hatte zwei Argumentationslinien der Theodizee referiert: 1. die spekulative, dass Gott als oberste Ursache allen Geschehens bei der Erschaffung der besten aller Welten einige Übel habe zulassen müssen, um schlimmere zu verhüten; 2. die existentielle, nach der Gott die Welt so gütig eingerichtet 9 Später
wird Hamann deutlicher: »… ich für mein Theil habe mich an Cartesii Epistel de methodo in meinen Schuljahren zum halben Sir Hudibras gelacht.« (N 3, 23). Sir Hudibras ist der komische Held in dem gleichnamigen satirischen Versepos von Samuel Butler (Elfriede Büchsel: Johann Georg Hamann. Über den Ursprung der Sprache. Gütersloh 1963, S. 159.) Büchsel zitiert auch eine Stelle aus dem Epos, die einschlägig ist für Hamanns Spott über Decartes’ Methodenschrift: »He’d run in Dept bei Reputation, And pay with Ratiocination, All this by Syllogisme, true, In Mood and Figure, he would do…« (ebd., S. 145). 10 Vgl. zu diesem Abschnitt Hans Graubner: »Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse«. Der Theodizee-Entwurf des jungen Hamann in der Auseinandersetzung mit Hume, Sulzer, Shuckford und Hervey. In: Manfred Beetz u. Andre Rudolph (Hrsg.): Johann Georg Hamann. Reli gion und Gesellschaft. Berlin 2012, S. 255–291.
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habe, dass trotz der notwendigen Übel jedem »erschaffenen Wesen« am Ende seine »äußerstmögliche Glückseligkeit […] zufließen werde«.11 Gegen beide Linien wendet Hume seine Erkenntnistheorie. Die spekulative Linie beruhe nur auf Begriffen. Diese seien aber bloße Kopien der unmittelbaren sinnlichen Eindrücke und könnten höchstens solange überzeugen, als der Mensch ohne sinnliche Behelligung »in Gemächlichkeit, Ruhe und Sicherheit sitzet«.12 Die existentielle Linie aber habe überhaupt keine Überzeugungskraft. Denn niemand, der unter heftigen Schmerzen oder bedrückendem Unrecht leide, werde diese Übel als Güte Gottes empfinden können. Sulzer ist halb, Hamann ganz von Humes Argumentation überzeugt. Einen begrifflichen Beweis für die Rechtfertigung Gottes versuchen deshalb beide nicht mehr. Aber sie erfinden ein Mittel, wenigstens die existentielle Theodizee zu retten. Dies Mittel ist die Erzählung. Eine Erzählung kann man so einrichten, dass auch dem Leidenden sein Übel als Gottes Güte erscheint. Sulzer erfindet eine Geschichte, in der ein Vater seine Familie den Gefahren einer Seefahrt aussetzt, weil Not und Bedrängnis in der Heimat nur noch diesen Weg zum Glück lassen. Ungerecht wäre also der Vater gewesen, »wenn er die Schiffahrt gehindert hätte«.13 Hamanns Theodizee-Erzählung folgt Sulzers Vorgabe nach Intention und Struktur, gibt ihr aber das Gesicht der christlichen Heilsgeschichte, wie er sie damals sah. Ein unschuldiges Kind geht den kürzesten Weg zu seinem Glück, wird aber von den Feinden seines Vaters sein ganzes Leben lang verfolgt. Immer wenn die Gefahr überhandnimmt und das Kind aus Unachtsamkeit verloren zu gehen droht, tritt ein Freund und Retter auf, in dem unschwer Christus zu erkennen ist. Die Rechtfertigung Gottes besteht in dieser Version der Heilsgeschichte darin, dass Gott das Böse nur erschaffen habe, um den Menschen in seiner Obhut zu halten und ihn von seinem Glücksweg nicht abweichen zu lassen. Hamann baut deshalb Sündenfall und Erlösung als anthropologische Begleiter des Menschen in seine Erzählung ein. Diese selbst ist aber als Erzählung misslungen und im Detail zu kompliziert, um sie hier auszubreiten. Festzuhalten bleibt, der frühe Hamann denkt noch in den Bahnen der philosophischen Theodizee, versucht aber, sie theologisch zu unterwandern. Dabei wird ihm in der Auseinandersetzung mit Hume und in Anlehnung an Sulzer klar, dass dies nicht begrifflich beweisend, sondern nur noch sinnlich erzählend geschehen könne, weil die existentielle Befindlichkeit des Menschen, eingebunden in die Heilserzählung Gottes, anders nicht zu erfassen ist.
11 David Hume: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Hrsg. v. Johann
Georg Sulzer. Hamburg/Leipzig 1755, S. 228. 12 Ebd., S. 229. 13 Ebd., S. 238.
Johann Georg Hamanns Einwände gegen Vernunftkonstruktionen
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3. Beispiel:14 Nach seiner Bekehrungswende in London 1758 hat Hamann den, wie er nun sagt, »Tand der Theodiceen« (N 2, 358) ganz hinter sich gelassen, weil er Vernunftkonstruktionen nur noch als Ausblendungen aus der Geschichtlichkeit des Menschen ansehen kann, in die er doch samt seiner Vernunft eingelassen ist. Mit dieser grundlegenden Einsicht in die Historizität der Vernunft gerät er nach seiner Rückkehr nach Königsberg mit Kant aneinander und begreift sich fortan als dessen »Ankläger und Wiedersprecher« (ZH 1, 453). Im Zusammenhang mit den Versuchen der Freunde Hamanns, ihn von seinen christlichen Überzeugungen zur Aufklärung zurückzubekehren, steht Kants Vorschlag, mit Hamann eine Kinderphysik zu schreiben. Wie ernst das auch immer gemeint war, gelingen konnte das Unternehmen nicht. Zu verschieden waren ihre Auffassungen von der Naturlehre. Den Entwurf zu einer Kinderphysik gab es bereits in der physikotheologischen Tradition des Jahrhunderts, aber der empfahl, Kindern die Physik am Leitfaden des biblischen Schöpfungsberichts nahezubringen. Selbstverständlich war das für Kant keine Option mehr, vertrat doch der Schöpfungsbericht eine falsche Kosmologie. Kant hatte gerade seine Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels nach den Grundsätzen Newtons geschrieben. Eine moderne Kinderphysik konnte er sich deshalb nur als Aufbereitung der Physik Newtons für Kinder vorstellen. Gegen diese Auffassung entwirft Hamann in Briefen an Kant seine theologische Sprachanthropologie, die den Ausgang einer Kinderphysik von der mosaischen Schöpfungserzählung mit Nachdruck verteidigt. Zuerst macht er Kants Glauben an die Physik Newtons fragwürdig. Kant gehe davon aus, dass Newtons Mathematische Prinzipien der Naturlehre die endgültige Physik liefere. Nach diesen Prinzipien habe Gott den Mechanismus des Kosmos erschaffen. Um diese Haltung anzuzweifeln, erinnert Hamann Kant an den sternkundigen König Alphons von Kastilien. Der hatte gegen die Ungenauigkeit des damals als göttlich geltenden ptolemäischen Weltbilds eingewandt, er hätte Gott bei der Erschaffung der Welt gute Ratschläge zur Verbesserung geben können. Hamann schreibt: »Ein Weltweiser [wie Kant] lieset aber die drey Kapitel des Anfanges [also den biblischen Schöpfungsbericht] mit eben solchen Augen, wie jener gekrönter [sic!] Sterngucker den Himmel […]; er meistert also lieber den heiligen Moses, ehe er an seinen Schulgrillen und systematischem Geist zweifeln sollte« (ZH 1, 447). Wie recht Hamann mit dieser Vermutung hatte, zeigt eine spätere Notiz Kants: »Vordem galt noch der Einwurf des Alphonsus […]. Nach Newton […] ist Gott gerechtfertigt« (AA 20, 59). Newtons Vernunft ist also Gottes Vernunft. Damit ist wieder der Punkt erreicht, an dem sich nach Hamanns Sündenfallanthropologie anstelle der Wahrheit die menschliche Eitelkeit des Gott14 Vgl.
zu diesem Abschnitt Hans Graubner: Physikotheologie und Kinderphysik. Kants und Hamanns gemeinsamer Plan einer Physik für Kinder in der physikotheologischen Tradition des 18. Jahrhunderts. In: Bernhard Gajek u. Albert Meier (Hrsg.): Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 117–145.
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gleichseins offenbart. In Hamanns damals gefestigter Überzeugung von der unhintergehbaren Geschichtlichkeit und Endlichkeit des Menschen ist auch das Newtonsche System der Physik nur ein »Einfall«, der wie alle menschlichen Entwürfe der Vergänglichkeit unterworfen ist. Gottes Schöpfungsgedanken in einen solchen vergänglichen Einfall einzusperren, treibe die menschliche Eitelkeit auf die Spitze. Hamann formuliert diesen Widersinn später so: »Sind aber die Impromtüs eines Galilei und Newtons einmal zu ewigen Gesetzen der Natur verklärt: so muthen wir ihrem Schöpfer Selbst zu, sich in den Schranken dieses Sandufers zu halten« (N 3, 240). Wenn sich aber Newtons System nicht anders als Descartes’ Abstraktionen in dieser Weise als Produkt widergöttlicher Eitelkeit des Menschen erweist, dann wäre eine Kinderphysik nach Newtons Entwurf geradezu eine Wiederholung des Sündenfalls und verführte, wie einst Adam und Eva, jetzt unschuldige Kinder zum Abfall von Gott, »würde«, wie Hamann an Kant schreibt, »die Majestät ihrer Unschuld beleidigen« (ZH 1, 445). Um das zu vermeiden, müsse sich eine Kinderphysik statt an Newton an den Leitfaden der mosaischen Urkunde halten. Hamann stellt diesen Gegenentwurf in seinem Brief an Kant in den Horizont seiner Sprachanthropologie. Die Natur ist Schöpfungsrede Gottes. Sie ist »ein Buch, ein Brief, eine Fabel« (ZH 1, 450), von Gott für unser Verständnis erzählt. Physik kann aus dieser Erzählung bestenfalls die Buchstaben, das ABC, erfassen, verstehen kann sie sie nicht. »Es gehört […] mehr dazu als Physik um die Natur auszulegen. Physik ist nichts als das Abc. Die Natur ist eine Aequation einer unbekannten Größe« (ebd.). Der Begriff der Aequation gehört in Hamanns Sprachdenken zur Übersetzung und bedeutet Angleichung, Gleichnis. Gottes Gedanken sind dem Menschen eine »unbekannte Größe«. Deshalb hat Gott seine Gedanken in die sinnliche Gleichnis-Rede, in die Metaphern seiner Erschaffung der Natur übersetzt. Menschenrede, auch die der Naturforschung, vermag nichts anderes, als diese Schöpfungsrede Gottes weiter zu übersetzen. Je mehr Metaphern dabei verschwinden, desto mehr wird Gottes Erst übersetzung in Menschenmeinung aufgelöst und verliert ihre Leben gebende Kraft. Der Extremfall solchen Verlusts ist mit der Auflösung der Schöpfungsnatur in die Naturgesetze der Newtonphysik erreicht. Diese als Originalgedanken Gottes ausgeben, heißt, die Übersetzung der Übersetzung mit einer Verfügung über den Autor verwechseln, »deßen Denkungsart« aber, wie Hamann Kant entgegenhält, »sich nur ein eitler Mensch zu erkennen zutraut« (ZH 1, 452). Weil aber nach Hamanns Sündenfallanthropologie alle menschliche Rede in diese Eitelkeit getaucht bleibt, sollte die Naturlehre am Leitfaden des mosaischen Schöpfungsberichts erzählt werden. Denn dieser bewahrt die notwendigen Gleichnisse, um an die Überholbarkeit aller menschlichen Physik durch den Ursprung der Natur zu mahnen.
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4. Ich komme zum letzten, vierten Beispiel.15 Hamann setzt sich 1784 in einem Brief an Christian Jacob Kraus mit Kants berühmtem Aufklärungsnarrativ vom »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« auseinander. Er greift Kants Definitionskette zunächst philologisch an. »Unmündigkeit«, sagt Kant, »ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«, und: »Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen« (AA 8, 35). Hamann legt den Finger auf zwei Merkwürdigkeiten. Kant verwende mit der »Unmündigkeit« eine Metapher. Metaphern haben es aber in sich, d. h. sie erzählen eine eigene Geschichte. Diese verweist auf eine von Kant miterzählte Gegengeschichte unter dem hochgemuten Aufklärungsnarrativ. Die Metapher der Unmündigkeit verträgt sich nicht mit dem Beiwort »selbst verschuldet«. Der Unmündige ist per definitionem nicht schuldfähig, denn »Unvermögen ist […] keine Schuld« (ZH 5, 289), wie Kant selbst einräume. Also muss die Selbstverschuldung in Kants Definitionskette einen anderen Adressaten haben. Die Metapher der Unmündigkeit zeigt auf ihn. Nicht der Unmündige, sondern allein der Vormund ist in diesem Gegensatzpaar schuldfähig. Und dieser schuldfähige Vormund ist in Kants Text auch anwesend, werde aber nicht ausdrücklich genannt. Hamann entdeckt ihn in Kants Formulierung »Leitung eines anderen« und fragt: »Wer ist aber der unbestimmte andere, der zweymal anonymisch vorkommt«. Und er fährt maliziös fort: hier sehe man, »wie ungern die Metaphysiker ihre Personen [d. h. sich selbst] bey ihrem rechten Namen nennen« (ZH 5, 289 f.). Kant halte sich bedeckt, weil er, wie Hamann sagt, »sich selbst zu der Claße der Vormünder zählt, und sich gegen unmündige Leser dadurch ein Ansehen geben will« (ZH 5, 290). Hier scheine auch bei Kant die Ursünde der Eitelkeit hervor. Und seine Überheblichkeit gipfele in dem Vorwurf der »Faulheit und Feigheit« (AA 8, 35) an die Unmündigen, zu denen er den »bei weitem größte[n] Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht)« (ebd.) zähle. Hamann bemerkt dazu nur knapp, dass »das meine 3 Töchter nicht auf sich sitzen laßen werden« (ZH 5, 292). Im weiteren Verlauf des Briefes zerpflückt er Kants Selbstsicherheit und ironisiert dessen Trennung von öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft, wonach die Vernunft des Philosophen auf dem Katheder frei, im privaten Lebenszusammenhang aber den despotischen Setzungen seines Obervormunds, des preußischen Königs, gehorchen müsse. Ja selbst die öffentliche Freiheit der Vernunft sei nicht Verdienst des Philosophen, sondern, wie Kant selbst zugebe, nur garantiert durch »ein wohldisciplinirtes zahlreiches Heer« (ZH 5, 290) des Königs. Hamann fasst diesen Aspekt der fraglichen Autonomie von Kants Vernunft mit dem Satz zusammen: »Was hilft mir das Feyerkleid 15 Vgl.
zu diesem Abschnitt Hans Graubner: Unmündige Vormünder. Hamann über Kants »Aufklärung«. In: Schwarzes Quadrat 2 (1993), S. 22–24; Oswald Bayer: Selbstverschuldete Vormundschaft. Hamanns Kontroverse mit Kant um wahre Aufklärung. In: Ders.: Umstrittene Freiheit. Theologisch-philosophische Kontroversen. Tübingen 1981, S. 66–96.
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der Freyheit, wenn ich daheim im Sclavenkittel« (ZH 5, 291). Hamann führt in diesem Brief die Erzählung von der allgemeinen, bei allen Menschen angeblich gleichen, autonomen Vernunft auf ihre Geschichtlichkeit zurück, indem er zeigt, dass Kant selbst sie gar nicht aus seiner subjektiven Befindlichkeit lösen könne. Er nimmt Kants Imperativ »Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (AA 8, 35) wörtlich. Es ist immer nur die Geschichte des jeweils »eigenen« Verstandes, die wir erzählen können und die wir, das ist die Gegengeschichte der Eitelkeit, anderen als allgemeingültig aufdrängen. Der dem Sündenfall folgende Turmbau zu Babel hatte die Zerstreuung der Sprachen verursacht. Das gelte auch für den »Thurm der Vernunft, dessen Spitze bis an den Himmel reicht« und durch den »wir uns einen Namen zu machen gedenken«.16 Denn auch für dessen Konstruktion trifft zu: »Jeder hat seine Sprache verstanden und keiner des anderen; Cartes hat seine Vernunft, Leibnitz seine; Newton seine, eigene verstanden, verstehen sie sich daher besser unter einander selbst[?]«17 Hamann will mit der Nacherzählung der von Kant mitgelieferten Eitelkeitsgeschichte zeigen, dass sich gemäß seinem biblisch-realistischen Menschenbild Vormundschaft und Unmündigkeit ebenso wenig anthropologisch trennen und auf verschiedene Menschengruppen verteilen lassen wie Schuld und Unschuld, Gut und Böse. Deshalb könne die Perfektibilitätsgeschichte des Menschen von der Unmündigkeit zur Mündigkeit, die Kant mit seinem »kosmopolitischplatonischen Chiliasmus« (ZH 5, 289) »weißagt« (ZH 5, 290), nicht gelingen. Sie werde immer in eine Geschichte von der Unmündigkeit zur Vormundschaft umschlagen, die einzelne über andere usurpieren. Die »wahre Aufklärung« bestehe daher in der Umkehrung der Kantischen: nicht die Unmündigkeit, sondern die Vormundschaft ist ›selbstverschuldet‹. Es gebe nur eine »selbstverschuldete Vormundschaft« (ebd.). Deshalb müsse der Mensch in allen seinen Autonomieentwürfen auch gegen seinen Willen seine Lüsternheit, Gott zu gleichen, miterzählen. Dieser Auffassung Hamanns kommt Kant am nächsten mit seinem Diktum: »aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden« (AA 8, 23). Denn, so begründet Kant diese Ansicht, der Mensch »mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer Seinesgleichen«. Obwohl seine Vernunft die Gleichheit aller wünscht, »verleitet ihn doch seine selbstsüchtige […] Neigung […], sich selbst auszunehmen« (ebd., Herv. d. Verf.). Nichts anderes als dass auch Kant dieser »selbstsüchtigen Neigung« erliege und sich »selbst« vom Missbrauch der Freiheit anderer »ausnehme«, wirft Hamann seiner Aufklärungserzählung vor, die sich dadurch als Fortspinnen der sündigen Eitelkeitsgeschichte des Menschen offenbare.
16 Hamann: 17 Ebd.
Londoner Schriften, S. 89.
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Damit kehre ich zu Hamanns Ausgangspunkt zurück. Der Mensch hat in der Schöpfungserzählung Gottes seinen Ursprung und seine Existenz und muss deshalb bei all seinen Versuchen, sich aus dieser Geschichte zu lösen den Ort dieser Los lösung, den Sündenfall, miterzählen. Seine Geschichte ist deshalb nach dem Fall ein immer zweideutiges, gottnahes oder gottfernes Weitererzählen der Gotteserzählung, die er durch das Schöpfungswort geworden ist. Diese narrative Anthropologie Hamanns lässt sich treffend mit der Metapher Wilhelm Schapps wiedergeben, dass das »Sein« des Menschen darin bestehe, »in Geschichten verstrickt«18 zu sein.
18 Wilhelm
Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding [1953]. Frankfurt a. M. 42005.
Leonhard Herrmann
Erzählen von der Aufklärung als Aufklärung vom Erzählen Aufklärungs- und Vernunftdiskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Das Verhältnis von Kunst zu Vernunft und Moral steht im Zentrum der ästhetischpoetischen Reflexion der Aufklärung.1 Im Sinne einer philosophischen Disziplin ist die Ästhetik geradezu eine Erfindung der Aufklärung, die der Grenzziehung und Beziehungsstiftung zwischen Kunst und Vernunft dient. Grundlage dazu ist eine Anthropologie,2 die den Menschen als zugleich sinnliches und geistiges Wesen begreift. Auf dieser Basis erweist sich die ästhetische Reflexion für die Aufklärung insbesondere hinsichtlich der eigenen Ziele als notwendig: Sie ist auch deshalb um das Wahrnehmungsvermögen des Menschen bemüht, weil sie auf ihn einwirken will und daher möglichst umfassend Klarheit über mögliche Lernkanäle gewinnen möchte. In diesem Sinne bedeutet Aufklärung nicht allein die Dominanz der Vernunft über die Sinnlichkeit und Körperlichkeit des Menschen, sondern kann geradezu umgekehrt als »Rehabilitation der Sinnlichkeit«3 begriffen werden: Das sinnlichperzeptive Vermögen des Menschen wird nicht etwa als unergründlich, irrelevant oder gar hinderlich aus der Reflexion ausgeblendet, sondern zu deren Gegenstand erklärt, der auch in pragmatischer Hinsicht notwendig ist. Kunst erhält dabei eine (unterschiedlich akzentuierte) Funktion: Indem sie intuitiv auf das moralisch Gute verweist, kommt sie als Medium der Aufklärung in Frage. In der Folge wird Kunst als eigenständiger Gegenstandsbereich anerkannt, der nach eigenen Regeln funktioniert und, indem er auf unmittelbare Weise moralisch wirksam werden kann, potenziell der Sache der Aufklärung dienlich ist. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur setzt sich intensiv mit der Epoche der Aufklärung auseinander4 – dies insbesondere dadurch, dass historische Persön1 Vgl.
dazu jüngst Reinhard Brandt: Art. Ästhetik. In: Heinz Thoma (Hrsg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung. Stuttgart 2015, S. 41–52, hier insbes.: 41 f. 2 Vgl. dazu etwa Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 410–439. 3 Vgl. dazu Panayotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002, S. 20 u. ö. 4 Vgl. dazu Elisabeth Johanna Koehn: Aufklärung erzählen – Raconter les Lumières. Akteure des langen 18. Jahrhunderts im deutschen und französischen Gegenwartsromans. Heidelberg
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lichkeiten der Zeit zu Protagonisten von Romanen werden. Philosophische, epistemologische, ästhetische und pädagogische Programme der Aufklärung werden auf diese Weise explizit zu Gegenständen von Gegenwartsromanen. Diese Aufklärungs bezüge, so soll im Folgenden deutlich werden, sind für die Gegenwartsliteratur kein historisch beliebiges decorum, das potenziell durch jeden anderen historischen Zeitraum zu ersetzen wäre. Von der historischen Epoche der Aufklärung zu erzählen bedeutet für Autorinnen und Autoren der Gegenwart vielmehr, Aufklärung über die Rolle des fiktionalen Erzählens in der eigenen Zeit zu erlangen. Im Mittelpunkt dieses selbstreflexiven Bemühens von Gegenwartsliteratur stehen die Rolle der Vernunft, ihre Beziehungen zum sinnlichen Vermögen des Menschen und die Möglichkeiten des eigenen, erzählerischen Verfahrens, mit beiden Ebenen zu interagieren. Dieses Zentrum teilt die dezidiert aufklärungsbezogene Gegenwartsliteratur mit vielen weiteren Romanen der Gegenwart: Ein weit ausgedehntes Spektrum unterschiedlichster Romane seit den ausgehenden 1990er-Jahren lässt sich dem Paradigma einer literarischen Vernunftkritik zuordnen.5 Dieses poetologische Programm, das sich etwa in Texten von Daniel Kehlmann, Sibylle Lewitscharoff, Thomas Lehr, Thomas Glavinic oder Terézia Mora nachweisen lässt, greift die vernunftkritischen Diskurse, die die Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte, 6 in Form spezifischer Erzählweisen auf. Insbesondere das unzuverlässige,7 das fantastische, 8 das unnatürliche und das metaleptische9 Erzählen dienen in diesem Zusammenhang dazu, instrumentelle Vernunft und formale Logik als reduktiv, redundant und selbstbezüglich auszuweisen. In unterschied licher Akzentuierung soll den als begrenzt kritisierten Erkenntnisweisen der Vernunft ein ästhetisches Anschauungsverfahren entgegengehalten werden, das der Komplexität der Erkenntnisgegenstände angemessener ist. Fünf Genres lassen sich 2015. Koehn stellt fest, dass deutschsprachige Texte die Aufklärung im Sinne der Dialektik der Aufklärung eher als kritische Größe behandeln, französische Gegenwartsliteratur dagegen tendenziell ein identitätsstiftendes Verhältnis zu den »philosophes als geistigen Begründern der Republik« (S. 252) aufbauen. 5 Vgl. dazu Leonhard Herrmann: Literarische Vernunftkritik im Roman der Gegenwart. Stuttgart 2017. 6 Zur Vernunftkritik in der Philosophie vgl. insbesondere Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M. 42007; Christoph Jamme (Hrsg.): Grundlinien der Vernunftkritik. Frankfurt a. M. 1997; Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. Frankfurt a. M. 41990. 7 Hier verstanden als »mimetische Unzuverlässigkeit« im Sinne Tom Kindts, vgl. Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Tübingen 2008, S. 51. 8 Vgl. dazu Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur. Berlin/Münster 22010, S. 92. 9 Vgl. dazu Werner Wolf: ›Unnatural‹ Metalepsis and Immersion. Necessarily Incompatible? In: Brian Richardson, Henrik Skov Nielsen u. Jan Alber (Hrsg.): A Poetics of Unnatural Narrative. Columbus 2013, S. 113–141.
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innerhalb der vernunftkritischen Poetik der Gegenwart erkennen, die sich durch jeweils ähnliche Plotstrukturen voneinander unterscheiden: der Gelehrtenroman, der postapokalyptische Roman, neuere Formen des Gesellschaftsromans, der Erinnerungsroman und der Reiseroman. Dass gerade literarische Verfahren als Medien der Vernunftkritik in Frage kommen, liegt an einer dem philosophischen Vernunftdiskurs inhärenten Selbstwidersprüchlichkeit: Die radikale philosophische Vernunftkritik, wie sie sich etwa in Konstruktivismus, Sprachphilosophie und Postmoderne zeigt, versucht, die Vernunft als Erkenntnisinstrument zu überwinden, bleibt jedoch ihrerseits an rationale Reflexions- und Darstellungsverfahren gebunden. Literarische Vernunftkritik dagegen will eine spezifische ästhetische Rationalität nutzen, um die Begrenztheit von instrumenteller Vernunft und formaler Logik aufzuzeigen. Ihrem eigenen Anspruch nach ist literarische Vernunftkritik daher nicht von demjenigen Medium abhängig, dem die Kritik gilt; doch zeigt sich in der Performanz literarischer Vernunftkritik, dass diese Unabhängigkeit kaum durchgängig realisierbar ist. Das Erzählen von der Aufklärung ist Bestandteil dieses vernunftkritischen Erzählens und folgt überwiegend – wenngleich nicht durchgehend – dem Muster des Gelehrtenromans: Anhand eines als ›rational‹ markierten Protagonisten der Aufklärung wird die Begrenztheit des von ihm vertretenen Rationalitätsprogramms exemplifiziert – indem dieses mit Erfahrungen, Ereignissen oder Begegnungen konfrontiert wird, die sich innerhalb dieses Paradigmas nicht erklären lassen. Prima vista setzt Gegenwartsliteratur damit die Linie der Aufklärungskritik fort, die der Epoche und ihren maßgeblichen Akteuren eine Dominanz von Vernunft und die Unterdrückung des sinnlichen und imaginativen Potenzials des Menschen vorwarf. Doch wenn Aufklärung im oben skizzierten Sinn als Versuch einer Grenzziehung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit betrachtet wird, die das Ziel einer Integration von Kunst und sinnlichem Erkennen in die Prozesse und Ziele der Vernunft verfolgt, dann lässt sich die literarische Vernunftkritik der Gegenwart – auch dort, wo sie die Begrenztheit von Vernunft mit der Offenheit der Kunst kontrastiert – noch innerhalb jenes Diskursfeldes verorten, das in den ästhetischen Reflexionen der Aufklärung aufgespannt wird. Begreift man die Epoche der Aufklärung ihrerseits als eine ›erzählende‹, die um die Fiktionalitäts- und Poetizitätsbedürfnisse der Menschen weiß, diese ihrerseits zum Gegenstand von Reflexion erhebt und in ihre eigene Programmatik integriert, dann steht die erzählte Aufklärung der Gegenwart durchaus in einem Kontinuitätsverhältnis zu ihrem Gegenstand. Dies gilt auch dann, wenn die geschilderten Programme und Paradigmen überwiegend kritisch betrachtet werden: Auch die Epoche selbst pflegt der schieren Vernunft und ihrer Praxis gegenüber ein zuweilen kritisches Verhältnis.10 An drei 10 Zu
»Modelle[n] von Vernunftkritik in der Aufklärung« vgl. Oliver R. Scholz: Art. Vernunft. In: Thoma (Hrsg.): Handbuch Europäische Aufklärung, S. 536–547, hier: 541–543.
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Romanen der vergangenen Jahre soll dieses Verhältnis von erzählter und erzählender Aufklärung kurz deutlich werden: an Karl-Heinz Otts Rousseau-Satire Wintzenried (2011), an Alois Brandstetters Kant-Persiflage Cant läßt grüßen (2010) und Wilhelm Bartschs Meckels Messerzüge (2011).
1. Karl-Heinz Ott: Wintzenried »Er liegt im Bett, onaniert und stellt sich Mama dabei vor.«11 Mit diesem wenig respektvollen ersten Satz stellt Karl-Heinz Otts Roman Wintzenried seinen Protagonisten Jean-Jacques Rousseau vor. Anders als von Leserinnen und Lesern vielleicht erwartet, ist jene »Mama« jedoch nicht Rousseaus natürliche Mutter, sondern jene vom historischen Rousseau als »maman« bezeichnete Mme. de Warens, die im Auftrag des Bischofs von Evian eine Herberge für mittelose Konvertiten betreibt. Sie ist Rousseaus Herbergsmutter und seine Geliebte – bis sie die Beziehung beendet und sich mit einem Perückenmacher namens Wintzenried einlässt. Nicht allein Rousseaus Jugend und das Aufwachsen in gesundheitlichen und finanziellen Nöten werden in diesem ironischen Gestus geschildert. Letztlich die gesamte französische Aufklärung trifft den Spott des Erzählers. So wird das Entstehen der Encyclopédie im Roman zu einer am Wirtshaustisch beschlossenen Verzweiflungstat von zum Scheitern verurteilten Größenwahnsinnigen. D’Alembert wird deshalb als Herausgeber initiiert, weil man ihm »als Einzigem nachsagen kann, dass er durch seine wissenschaftlichen Entdeckungen bereits berühmt geworden ist« (W, 80). Alle anderen dagegen – »Söhne von reichen Winzern, Pastoren und Steuereintreibern« – sind zwar überzeugt davon, »dass die Zukunft der Wissenschaft und dem Glück gehört« und dass »das Ende jener Finsternis nah ist, die seit Jahrtausenden die Erde verdunkelt« (W, 73). Doch eigene Beiträge dazu nehmen sich schmal aus. Rousseau gilt als Hochstapler, den seine Umwelt – in dieser Hinsicht ganz nach dem historischen Vorbild gezeichnet – weitestgehend als Versager erlebt: Nachdem er in Lausanne einen Kompositionsauftrag erhalten hat, ohne jemals eine Note geschrieben zu haben, gerät die Uraufführung zum (erwartbaren) Fiasko. Gleiches gilt im Roman, der die Misserfolge des historischen Rousseau hier überzeichnet, für eine geplante Revolution des musikalischen Notatsystems mit den Mitteln der Mathematik: Jeder Musiker, so kritisiert Rameau, müsse »zuvor Mathematik studiert haben […], bevor er dazu kommt, auch nur eine einzige Note zu spielen« (W, 60). Rousseaus »letzte Gelegenheit, berühmt zu werden« (W, 84), ist eine Antwort auf jene Preisfrage der Académie in Dijon, die lautet: »Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste unsere Sitten verfeinert oder verdorben?« (ebd.). Rousseaus 11 Karl-Heinz
Ott: Wintzenried. Roman. Hamburg 2011, S. 7 [im Folgenden: W].
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revolutionäre Verneinung dieser Frage im 1. Discours wird im Roman zu einem Produkt des Zufalls und des Opportunismus. Der fiktive Rousseau besucht seinen inzwischen inhaftierten Freund Diderot, um sich mit diesem über eine mögliche Antwort zu beraten. Rousseau plant zunächst ein leidenschaftliches Plädoyer für die Künste und Wissenschaften. Es ist Diderot, der zur fundamentalen Skepsis rät: »Lass es. Die Spatzen pfeifen’s längst von den Dächern, und jeder Esel behauptet inzwischen, dass die Vernunft das Größte ist, dass die Menschheit dem Glück entgegenrennt, dass Wissenschaft Fortschritt bringt und die Künste die Sitten verfeinern« (W, 85). Im Gestus eines Privatdozenten zu Zeiten der Postmoderne glaubt der fiktive Diderot: »Wenn Du nicht behauptest, dass das alles grauenhaft ist, hast Du keine Chance« (W, 86). Zunächst reagiert Rousseau entsetzt auf den praktischen Rat des Freundes. Er kann nicht glauben, dass der Herausgeber der Encyclopédie, die »die Vernunft auch noch in die letzten Winkel der Erde tragen will, derart leichtfertig mit der Wahrheit umgehen kann« (W, 86). Doch Diderot entgegnet: »Man muss den Wahnsinn zur Methode machen, damit am Schluss die Vernunft übrig bleibt« (ebd.) und setzt sich schließlich durch. Die ersten Sätze des ersten Discours geraten im Roman zu einem Diktat Diderots, dessen Worte Rousseau folgsam aufnimmt. Auf dem Heimweg hat dieser dann selbst die entscheidenden Gedanken: »Die Sache ist sonnenklar. Vernunft ist Selbstbetrug. Ist reine Lüge. Ist das Übel selbst. Ist die Krankheit, die sie zu heilen vorgibt. Ist mit Blindheit geschlagen« (W, 87). Otts Roman meint es aber auch mit dieser Vernunftkritik nicht ernst. Nicht allein die anfängliche Vernunftemphase, sondern auch die Vernunft-, Kultur- und Zivilisationskritik Rousseaus wird zum Gegenstand satirischer Darstellung, indem ihr performativer Selbstwiderspruch deutlich wird. Als Folge seines großen Erfolgs wird der fiktive Rousseau zum Kulturkritiker in der Kultur: In einem brandneuen Kaftan begibt er sich in die »wöchentliche[-] Tafelrunde« (W, 103) zu Forellensuppe mit Pimpernelle-Gebäck, um »der Pariser Welt zu zeigen, dass er nicht mehr zu ihr gehört« (W, 92). Ein ›Außerhalb‹ der als hohl, leer und falsch kritisierten Kultur ist für Rousseaus Vernunftkritik nicht möglich, weil sie qua der eigenen Form an Vernunft, Kultur und Zivilisation gebunden ist: Sie benötigt nicht allein Schriftlichkeit und argumentative Rationalität, um sich selbst zu entfalten, sondern auch die Salonkultur als Mittel ihrer Verbreitung und gar die Preisfrage einer Akademie als ihren Anlass. Rousseaus »Retour à la nature« wird als Konstruktion einer zweiten Kultur ausgewiesen, die sich von der ersten nicht grundsätzlich unterscheidet. Selbst nach dem Ausscheiden aus der Pariser Salonkultur vermag es der fiktive Rousseau in seiner Eremitage in Môtiers nicht, ein Leben zu führen, das im Einklang mit seiner Kulturkritik steht. Der ländlichen Bevölkerung gilt er als ein rätselhafter Kautz und wird schließlich vertrieben, als er beginnt, den jungen Mädchen nachzustellen.
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Der Roman endet mit der Darstellung eines Rousseau, der im Garten des Marquis von Giradin lebt, den dieser mit aller Akribie nach den Ideallandschaften in Jean-Jacques’ Büchern entwerfen ließ. Aus Schottland hatte er dazu einen Gartenarchitekten kommen lassen, der über zweihundert Arbeiter befehligte, die weit ums Schloss herum alle Wiesen und Wälder, Äcker und Felder in ursprüngliche Natur verwandeln mussten. Jeder Baum und jeder Strauch, jeder Tümpel und Teich wurde nach präzisen Plänen in eine schöne Wildnis verwandelt, mit Grotten, Hainen, Sümpfen und Fontänen, Wasserfällen, Seen, Eremitagen und antiken Ruinen. (W, 195)
Was hier mit aller Macht geschaffen wird, ist ein »Paradies«, dessen »bedeutendster Teil« nun »der Autor des Emile« ist (W, 197). Der Rousseau des Romans wird damit durch und durch zum Bestandteil jener hypertrophen Kulturalität, die der fiktive wie der historische Rousseau so einflussreich kritisierte. Dass Otts Roman diese Kritik als inhärent selbstwidersprüchlich aufweist, bedeutet nicht, dass er sie seinerseits nicht teilt – im Gegenteil. Doch er kritisiert ihre Artikulationsweise, die ihrerseits nicht mit der Substanz der Kritik in Einklang zu bringen ist und widersprüchlich ist, solange sie selbst vernunftgeleiteter Diskurs bleibt. Die eigene, literarische Kritik soll sich davon unterscheiden. Als Medium dafür nutzt Otts Wintzenried – anders als andere Romane in der Gegenwart – keine hoch komplexen narrativen Modelle, sondern etwas vielleicht nur scheinbar ganz Einfaches: die Satire. Karl-Heinz Ott selbst bezeichnet sein poetologisches Projekt als »andächtige Aufklärung« und bezieht sich dabei auf Johann Peter Hebel als großes Vorbild: Dessen Verfahren, Aufklärung mit der Empfindung von Schönheit und Geborgenheit zu vereinen, will er für seine eigene Gegenwart re-aktualisieren. Auch in einer Zeit, die »dem Ästhetischen […] keine wirkliche Wichtigkeit«12 zuspricht, würden »alle zu Dichtern« werden, sobald es um die großen, durch die Vernunft nicht zu beantwortenden Fragen geht: »Wir spielen dann mit Antworten, die mehr als ein bloßes Spiel sein wollen, zumal es sich um Dinge handelt, die uns deshalb umtreiben, weil es dabei um Alles geht.«13 Um diese großen Fragen nach Erkenntnis, Vernunft und Kulturalität soll es wohl auch in Otts nur vermeintlich so leichtfüßigen Roman gehen, dessen Form Leserinnen und Leser sensibilisieren will für die Vernunft, ihre Grenzen und die Möglichkeit fiktionalen Erzählens. Der Sache nach ist die Vernunftkritik Otts dabei durch und durch an die Ursprünge der Kulturkritik Rousseaus gebunden. Doch wählt sie mit dem satirischen Roman eine Form, die ohne die Selbstwidersprüche auskommen will, die Rousseaus Diskurs inhärent sind. Mit der Gelehrtensatire 12 Ott,
Karl-Heinz: Andächtige Aufklärung. Schönheit als Sinngebung bei Johann Peter Hebel. Lörrach 2009, S. 16. 13 Ebd., S. 17.
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greift Otts Roman dabei ein literarisches Genre auf, dessen historische Wurzeln wiederum in der Aufklärung ruhen: Es entsteht just zu einem Zeitpunkt, als sich literarisches Schreiben als eigene, spezifisch ästhetische Darstellungsweise vom Gelehrtentum zu lösen beginnt und sich dabei als Medium zu dessen Kritik begreift.14
2. Alois Brandstetter: Cant lässt grüßen Anlass für Alois Brandstetters Roman über die »dunklen Seiten«15 der Aufklärung ist ein Schreiben einer gewissen Maria von Herbert aus Klagenfurt, die sich in Liebesdingen einen Rat von Kant einholen möchte: Sie hatte ihren Verlobten hintergangen. Der überlieferte Antwortentwurf Kants enthält eine moralphilosophische Behandlung des Problems, ist jedoch nie abgeschickt worden.16 Da sich Maria von Herbert jedoch ein zweites Mal brieflich an Kant wendet, steht die Vermutung im Raum, es habe einen nicht überlieferten Antwortbrief Kants gegeben, der nicht mit dem überlieferten Entwurf übereinstimmt. In diese Leerstelle will nun Alois Brandstetters Roman stoßen. Der gesamte Roman ist die Fiktion eines Antwortschreibens, das ein Briefsteller im Auftrag Kants an die junge Klagenfurterin richtet. Der fiktive Brief lässt Kant als grantelnden Alten in Erscheinung treten, der zu seinem gesamten Zeitalter im Namen der Vernunft auf Abstand geht. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis von Literatur und Philosophie, die der fiktive Kant, hierin seinem historischen Vorbild allein der Sache nach nicht unähnlich, sauber zu trennen wünscht. So wettert der Philosoph, der nur in der Schilderung seines Adlatus präsent ist, gegen das »Göthe-Fieber«, das, wie er aus von Herberts Brief entnehmen muss, auch » [i]n Clagenfurth grassiere«,17 und wehrt sich dagegen, mit Goethe in einem Atemzug genannt zu werden. Die »Copulation« von »Cant und Göthe, von Philosophie und Poesie« sei ein Widerspruch (Clg, 36). Kant, so der Briefsteller, müsse Goethe jede »Rationalisirung« absprechen. Jene Gründe, die Goethe aufführe, seien lediglich »scheinbar gute«, doch »in Wahrheit ein Betrug« (Clg, 57). Er selbst, so Kant, sei dagegen derjenige, der »dem so genannten Schönen auf den Zahn« fühle und darin »die Fäulnis entdecke« (Clg, 58). 14 Vgl.
dazu Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 721. 15 Samuel Moser: Der Philosoph und das Märchen. In: Neue Züricher Zeitung (03. 04. 2010), S. 53. 16 Immanuel Kant: Briefwechsel, Brief 510 (https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/ kant/briefe/510.html, Aufruf: 11. 03. 2016). 17 Alois Brandstetter: Cant lässt grüßen. Roman. St. Pölden/Salzburg 2009, S. 36 [im Folgenden: Clg].
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Doch nicht allein die überzeichnete Darstellung Kants ist Medium der Vernunftkritik. Der Briefschreiber selbst steht der durch seinen Dienstherren verkörperten Vernunft äußerst kritisch gegenüber. Es seien, so lässt er selbst Maria von Herbert wissen, »erst 5 Jahre vergangen, seit wir in Frankreich ansehen mußten, wie schrecklich, herzlos und grausam die Tugend wüthen kann« und sich die »Göttin der Vernunft« als »seelenlose Hure« erwiesen habe (Clg, 93). Nicht allein die Erzählperspektive eines Briefstellers, der sich derart offen gegen seinen Dienstherrn wendet, ist kaum glaubhaft – erhebliche Freiheiten nimmt der Roman auch in Bezug auf die Chronologie in Anspruch. Hauptgegenstand der vermeintlichen Ablehnung Goethes durch Kant sind die Wahlverwandtschaften – ein Text, der fünf Jahre nach dem Tode Kants erscheint. Gleichermaßen kritikwürdig findet Kant die in Klagenfurt beginnende Schiller-Verehrung, von der 1794 – dem zu unterstellendem Jahr der Niederschrift des Briefes – wohl keine Rede sein konnte. Auch dem als ›österreichischem Nationaldichter‹ bezeichneten Franz Grillparzer gilt die Kritik des fiktiven Kant; Grillparzers erstes Bühnenstück ist 1817 uraufgeführt worden.
3. Wilhelm Bartsch: Meckels Messerzüge Wihelm Bartschs Meckels Messerzüge (2011) – der fiktive Lebensbericht des historischen Anatomen Albrecht August Meckel von Hemsbach, Abkömmling einer in Halle ansässigen Anatomenfamilie, – kritisiert die Vernunft weniger deutlich vor dem Hintergrund einer ästhetischen Erkenntnis als vielmehr auf der Basis von moralischen Normen: Im Namen der Vernunft begibt sich der autobiografisch berichtende Meckel in wissenschaftliche wie kriegerische ›Messerzüge‹, die gegenüber Leserinnen und Lesern der Gegenwart fragwürdig scheinen müssen. Der Roman setzt mit Meckels Schilderung ein, wie von der ganzen Familie – nach dessen eigener testamentarischer Verfügung – die Leiche des eigenen Vaters seziert wird. Was für Leserinnen und Leser eine kaum erträgliche Vorstellung ist, gilt dem Ich-Erzähler Meckel als Triumph der Vernunft über fortschrittsfeindliche Skrupel, als »Geburtsstunde des Menschen aus dem Grab Gottes«.18 Vernünftig ist für den Ich-Erzähler Meckel nicht allein die Indienstnahme des menschlichen Körpers für die Wissenschaft, sondern auch der Krieg gegen die Armee Napoleons; auch sie sind Teil der titelgebenden ›Messerzüge‹ des Protagonisten Meckel. Aus der Sicht des Anatomen werden sie zu einem nicht allein nationalpolitisch, sondern wissenschaftlich lohnenden Unterfangen – die entsprechenden Erkenntnisse, gewonnen an den Körpern von Kriegstoten, werden in irritierender 18 Wilhelm
Bartsch: Meckels Messerzüge. Roman. Berlin 2011, S. 23 [im Folgenden: MM].
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Plastizität geschildert. Leserinnen und Leser merken auf diese Weise sehr deutlich, dass die naive Schilderung durch den zuweilen unbeholfen plappernden Anatomen auch als Kritik an derlei im Namen der Vernunft unternommenen Messerzügen ist. In selbstreflexiven Passagen distanziert sich der Protagonist selbst von der Vernunft. Deutlich wird dies etwa an der Beschreibung der Heimatstadt Halle, die als Geburtsort der Vernunft immer wieder zur Radikalität neigt. Halle ist »ziemlich aufbrausend, ja zuweilen ätzend und sogar hinwegfegend veranlagt und zuweilen heroisch«; sie ist ein »Freiheitsort«, sie »lebt alle Kantischen Aporien ohne Aufgeregtheit«, sie ist »zutiefst gläubig und atheistisch« (MM, 35). Ein weiteres Beispiel für die literarische Wiederkehr medizinischer Diskurse der Aufklärung ist Alissa Walsers Im Anfang war die Nacht Musik (2011). Hier ist es der Wiener Magnetiseur Franz Anton Mesmer, der zur gesamten Schulmedizin seiner Zeit Opposition steht, indem er eine sanfte, magnetische Heilmethode entwickelt, um Blindheit zu kurieren. Seine Methode geht einher mit einer musikalischen Begabung – er spielt die Glasharfe – und einer ganzheitlichen Heilmethode, die auch das nicht-professionelle Interesse für seine Patientin umfasst. Beide – Arzt wie Patientin – stehen mit ihrer sinnlich-künstlerischen Perspektive auf die Welt dem rationalistischen Credo ihrer Epoche entgegen. Von der Aufklärung zu erzählen, bedeutet für die Gegenwartsliteratur nicht allein, von der dialektischen Wirkung der Vernunft zu erzählen; es bedeutet zugleich, mit dem Erzählen, mit Kunst und Musik ein Medium ins Spiel zu bringen, das als Korrektiv zur bloßen Vernunft agiert – eine Funktion, die das Ästhetische nicht erst gegen, sondern bereits in der Aufklärung erhält. Dass sich Literatur in diesem Sinne mit Vernunft auseinandersetzt, ihre Möglichkeiten und Grenzen mit je eigenen Mitteln und Möglichkeiten auslotet, sich selbst zu ihr in Beziehung setzt und sich kritisch abgrenzen möchte, ist eine kaum zu ignorierende Strömung in der Gegenwartsliteratur, die weitaus mehr Aufklärung ist, als sie vielleicht selbst zu sein glaubt.
Elisabeth Johanna Koehn
Das Rezeptionsmuster der Dialektik der Aufklärung im deutschsprachigen Roman seit 1985 1. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur und das Aufklärungszeitalter Die Aufklärungsepoche ist im deutschsprachigen Gegenwartsroman ein beliebter Handlungszeitraum. Seit der historische Roman allgemein in den 1980er-Jahren einen Aufschwung und eine Aufwertung erfuhr, sind unzählige Romane erschienen,1 die das Aufklärungszeitalter anhand seiner Akteure und Akteurinnen (lezteres aber sehr viel seltener) als Transformationsepoche mit Nachwirkungen bis in die Gegenwart hinein inszenieren.2 Ziel dieses Beitrags ist es, anhand vier exemplarischer Romane eine dominante Rezeptionslinie von Aufklärung in der deutschsprachigen Literatur nachzuweisen und ihre spezifisch literarischen Ausgestaltungen aufzuzeigen. So spüren nämlich viele Romane einem Deutungsmuster nach, dem zufolge das Umschlagen von Aufklärung in ihr Gegenteil in ihren Prämissen selbst angelegt ist – idealtypisch vertreten von Horkheimer und Adorno in ihrem Werk Dialektik der Aufklärung. Ich möchte die These ausführen, dass eine solche Lesart von Aufklärung in den historischen Aufklärungsromanen der Gegenwart bis in die jüngste Zeit präsent ist, dass die Art, wie sie in Erscheinung tritt, sich jedoch seit den 1980er-Jahren gewandelt hat. Im Folgenden werden vier Romane untersucht, die jeweils paarweise zwei verschiedene Zeitpunkte der literarischen Auseinandersetzung mit der Aufklärungsepoche repräsentieren: Zunächst Peter Sloterdijks Zauberbaum und Patrick Süskinds Parfum, die beide im Jahre 1985 erschienen sind; anschließend Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt von 2005 und Alissa Walsers Am Anfang war die Nacht Musik aus dem Jahre 2010. In allen vieren wird das Verhältnis zwischen dem aufklärerischen Anspruch, einen Fortschritt gegenüber der Vergangenheit herbeizuführen, und seiner Umsetzung in der einen oder anderen 1 Vgl.
zum historischen Aufklärungsroman der Gegenwart in Deutschland und Frankreich: Elisabeth Johanna Koehn: Aufklärung erzählen – raconter les Lumières. Akteure des langen 18. Jahrhunderts im deutschen und französischen Gegenwartsroman. Heidelberg 2015. Hier findet sich auch eine Übersicht über französische und deutsche historische Aufklärungsromane von 1980 bis 2012. Die hier vorgestellten Überlegungen beruhen auf dieser Arbeit. 2 Zum Verhältnis von Roman und Geschichte sei hier nur auf den sehr instruktiven Aufsatz von Daniel Fulda und Stefan Matuschek verwiesen: Literarische Formen in anderen Diskursformationen. Philosophie und Geschichtsschreibung. In: Simone Winko, Fotis Jannidis u. Gerhard Lauer (Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York 2009, S. 188–219.
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Weise als problematisch dargestellt und dabei das Rezeptionsmuster der Dialektik der Aufklärung in unterschiedlicher Weise aktualisiert.
2. Das Rezeptionsmuster der Dialektik der Aufklärung Die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno wird in den analysierten Romanen selten wörtlich zitiert oder eindeutig markiert in die Texte eingespielt. Trotzdem ist sie in allen vieren präsent, nämlich als Interpreta tionsmuster von Aufklärung. Als solches hat sie in (West-)Deutschland im wissenschaftlichen Diskurs große Wirkmächtigkeit entfaltet, wo ihre Aktualität seit der ersten Rezeptionswelle in den 1960er-Jahren immer wieder diskutiert wurde und wird. Wie diese Lesart im Gegenwartsroman aktualisiert wird, lässt sich besonders eindrücklich am Beispiel des Motivs von Aufklärung als Naturbeherrschung und Angstbekämpfung zeigen; das gleich im berühmten ersten Absatz der Dialektik formuliert wird: »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.«3 Daraus folge, so Horkheimer und Adorno, das Streben der Aufklärung nach »Beherrschung der Natur drinnen und draußen«.4 Im Folgenden wird anhand exemplarischer Textstellen herausgearbeitet, wie dieses Interpretationsmuster in den genannten Romanen mit literarischen Verfahren neu gestaltet, reflektiert und mit der Gegenwart in Verbindung gesetzt wird.
3. Literarische Aufklärungsrezeption 1985 Süskinds Parfum und Sloterdijks Zauberbaum – beide erschienen im Jahr 1985 – weisen auf mehreren Ebenen – sowohl bei den Erzähltechniken als auch in ihrer Lesart von Aufklärung – auffällige Ähnlichkeiten auf und können als paradigmatisch für eine dominante Linie literarischer Aufklärungsrezeption der 1980erJahre in West-Deutschland gelten. Beide entwerfen einen fiktiven Protagonisten, der bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen des Aufklärungszeitalters verkörpert. Beide lassen heterodiegetische Erzählinstanzen sprechen, die sich in großem zeitlichen Abstand zum Erzählten befinden und die mit teilweise zur Schau gestellter (und dadurch fragwürdig erscheinender) Überlegenheit auf die Vergangenheit zurückblicken. Beide arbeiten intensiv mit Intertextualität5, Anspielungen und 3 Max
S. 9.
4 Ebd., 5 Zu
Horkheimer u. Theodor Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 2002,
S. 38. den intertextuellen Verweisen bei Süskind vgl. Angelika Buß: Intertextualität als
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Anachronismen und lassen so im fiktionalen Modus eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erfahrbar werden bzw. die Aufklärungsepoche und die Gegenwart zu einem Zeitraum verschmelzen. Sie führen Mechanismen einer Dialektik der Aufklärung vor und postulieren deren Fortwirken und Steigerung bis in die Gegenwart hinein. Das 18. Jahrhundert erscheint als Epoche, in der problematische Denkmuster und Sichtweisen eine Zuspitzung erreichten, die die Moderne dann immer weiter verschleppte. Patrick Süskinds Geschichte des fiktiven Protagonisten Grenouille gilt als Meilenstein einer »Wiederkehr des Erzählens« 6 im Gegenwartsroman seit den 1980erJahren im Allgemeinen und des historischen Erzählens im Besonderen.7 In den mittlerweile zahlreich vorliegenden Forschungsarbeiten wird er häufig auch explizit als Aufklärungsroman rezipiert und in eine aufklärungskritische Rezeptionslinie eingeordnet. Süskind, so etwa Richard Grays einleuchtende These, »dramatizes the consequences of enlightened reason’s destructive dialectic«8. Dabei scheint die Figur des Grenouille zunächst dem aufklärerischen Denken entgegengesetzt zu sein, indem sie sich nur für den vermeintlich niedersten Sinn, den Geruch,9 interessiert, sich sprachlichen Kategorisierungen verweigert und keinerlei Verbesserung auf individueller oder kollektiver Ebene anstrebt. Aufklärung als Transformationsepoche wird zunächst durch die Figuren verkörpert und reflektiert, denen Grenouille begegnet: die Beschleunigung und Entwicklung zur vereinheitlichenden Kulturindustrie durch die Parfümeure Baldini und Pelletier, die neue Vormachtstellung der instrumentellen Vernunft durch den Gegenspieler Richi. Grenouille jedoch saugt diese neuen Entwicklungen und Denkweisen auf und spitzt sie – losgelöst von moralischen Werten – zu. Er lernt, »sich der Gerüche dinglich zu bemächtigen«10, und »das Wunder auf eine Formel«11 zu bringen. Und auch die abstrahierende Vernunft Herausforderung. Frankfurt a. M. 2006, bei Sloterdijk vgl. Ludger Lütkehaus: Vom Zauberberg zum Zauberbaum. Peter Sloterdijks Entdeckung der Psychoanalyse im Jahre 1985. In: Neue Rundschau 104 (1993), S. 155–170. 6 Nikolaus Förster: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre. Darmstadt 1999, S. 18–28. 7 Vgl. Martin Neubauer: Frühere Verhältnisse. Geschichte und Geschichtsbewusstsein im Roman der Jahrtausendwende. Wien 2007, S. 199. 8 Richard T. Gray: The Dialectic of »Enscentment«. Patrick Süskind’s Das Parfum as Critical History. In: Publications of the Modern Language Association 108 (1993), S. 497; vgl. ebd., S. 491. 9 Horkheimer und Adorno sehen im Geruch den Sinn, der der modernen Zivilisation am meisten zuwider ist, weil er der unberechenbarste, tierhafteste und am wenigsten mit dem Intellekt verbundene ist. In der Dialektik sprechen sie vom »immer mehr unterdrückten und verdrängten Sinn, der wie dem Geschlecht, so dem Eingedenken der Vorzeit am nächsten ist«. Horkheimer u. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 65. 10 Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 21994, S. 122. 11 Ebd., S. 118.
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als Angstbekämpfung hat ihren Platz: »Die Rezeptur, mit denen er sie [die Parfumkreationen, Anm. d. Verf.] nun versah, nahmen ihnen den Schrecken.«12 So wird er, mit einer Formulierung von Nikolaus Förster zur »Allegorie auf die zerstörerische Dialektik aufklärerischer Vernunft.«13 Die Kontinuität bis in die Gegenwart wird, neben teilweise anachronistischem Vokabular, über den heterodiegetischen Erzähler hergestellt: Dieser grenzt sich scheinbar überlegen und den Leser miteinschließend von der erzählten Welt ab: »Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Städten ein für uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank.«14 Später spricht er mit der gleichen Überlegenheit von »[u]ns heutigen Menschen, die wir physikalisch ausgebildet sind«15. Der Gestank konnte mittlerweile eingedämmt und so Kontrolle über »das flüchtige Reich der Gerüche«16 suggeriert werden. Jedoch ist die Erzählstimme selbst mit solchen Aussagen ein Beispiel dafür, dass solche falsche Sicherheit und Überlegenheit auch noch ihre eigene Zeit prägen und in ihr Denken eingeschrieben sind. Sie offenbart, dass sie selbst der vermeintlichen Souveränität und Naturbeherrschung des modernen Menschen verfallen ist, die in der von ihr erzählten Geschichte als Illusion entlarvt wird. Auch in Sloterdijks Zauberbaum begegnen wir einem Protagonisten, der die Tendenzen der Transformationsepoche der Aufklärung in sich aufsaugt. Der junge Arzt Jan van Leyden macht sich im Jahre 1785 auf die Reise von Wien nach Paris und begegnet dabei vielen – historischen und fiktiven17 – Personen und Auffassungen. Es geht Sloterdijk nicht darum, authentische Debatten des 18. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Durchweg werden Texte, Argumentationsmuster, Vokabulare und Themen eingespielt, die anderen, meist späteren Epochen zuzuordnen sind. In der »Ankündigung«, die der eigentlichen Erzählung vorangestellt ist, wird die Funktion dieses Vorgehens überdeutlich expliziert: »Doch handelt es sich hier nicht um einen historischen Roman. Es wird von der Gegenwart die Rede sein, der reinen Gegenwart und nichts als der Gegenwart. Das Buch unternimmt eine Expedition in eine unvergangene Vergangenheit, die in den Bestand der heutigen Verhältnisse eingebrannt ist.«18
12 Ebd.,
S. 120. Die Wiederkehr des Erzählens, S. 24. 14 Süskind: Das Parfum, S. 5. 15 Ebd., S. 129. 16 Ebd., S. 5. 17 Die fiktiven Figuren haben oft ein erkennbares literarisches Vorbild. Vgl. Lütkehaus’ Ausführungen zur Übernahme von Figuren aus Thomas Manns Zauberberg im Zauberbaum: Vom Zauberberg zum Zauberbaum, S. 158–161. 18 Peter Sloterdijk: Der Zauberbaum. Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785. Ein epischer Versuch zur Philosophie der Psychologie. Frankfurt a. M. 21987, S. 15. 13 Förster:
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Das Aufklärungszeitalter wird am Beispiel der Medizin als Transformations epoche gezeigt, in der zwei Tendenzen angelegt sind: Das ist zum einen der übertrieben zugespitzte aufklärerische Anspruch, geprägt vom »Zeitgeist, der damals der ärztlichen Kunst die größten politischen und anthropologischen Perspektiven vorzeichnete und die Medizin an die Spitze einer revolutionären Kampagne gegen die Weltübel setzte.«19 Vertreter dieser Richtung, so der Erzähler, begründeten ihren Optimismus in der Möglichkeit »die Konstruktionspläne der Natur aufzude cken und ihre verborgensten Elemente und Kräfte durchsichtig und verfügbar zu machen.«20 Sehr plakativ wird also auch hier Aufklärung mit dem Anspruch, vormals Unberechenbare zu beherrschen, identifiziert. Auf der anderen Seite gibt es im Zauberbaum die Kritiker einer solchen Linie, die von den Anhängern des Mesmerismus verkörpert werden und die eine andere medizinische Schule vertreten und bereits eine verhängnisvolle Dialektik der Aufklärung diagnostizieren. Diese Seite wird bei Sloterdijk vor allem verkörpert durch den radikaleren Mesmer-Schüler Puységur und den Mesmeristen und Arzt Le Brasseur, den van Leyden bei einer Zwischenstation in Straßburg trifft. Le Brasseur sieht in der Erhebung des Menschen über die Natur »die Krankheit schlechthin«, von der das »moderne Ich«21 betroffen sei. Das moderne Ich ist durch das Streben, Natur zu beherrschen und zu erklären, von seiner eigenen Natur entfremdet – und wieder begegnet uns das Motiv der Angst, die durch Aufklärung bekämpft werden soll: »Es schaudert ihm vor allem, was aus der alten Natur heraufquillt und an animalische Herkunft denken lässt«.22 Als Vordenker des Unbewussten avant la lettre stellen sich die Mesmeristen gegen die neuzeitliche Vorstellung einer absolut gedachten Vernunft. Einen besonders wichtigen Bezugspunkt im Roman stellt dabei das Denken Michel Foucaults dar. In der Diskussion um die Methoden des Hospitals La Salpêtrière zur Bekämpfung des Abweichenden in der Gesellschaft werden offenkundig dessen Schriften Les mots et les choses (1966) – davon etwa der deutsche Titel Die Ordnung der Dinge 23 – und Histoire de la folie (1964) evoziert; insbesondere deren Auseinandersetzung mit der zunehmenden Exklusion des Wahnsinns im 18. Jahrhundert. Auch Foucault beschäftigt sich in Histoire de la folie mit der gesellschaftlichen Funktion der Salpêtrière: Er analysiert die mit dem Hôpital Général verbundenen Erwartungen: »On se prend à rêver d’un asile qui, tout en conservant ses fonctions essentielles, serait aménagé de telle sorte que le mal pourrait y végéter sans se diffuser 19 Ebd., 20 Ebd.
21 Ebd.,
S. 25.
S. 54. S. 55. 23 Ebd., S. 142. 22 Ebd.,
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jamais; un asile où la déraison serait entièrement contenue«24. Sehr ähnlich lässt Sloterdijk den Subintendanten Merri sprechen. Als Vertreter und Verteidiger der Institution der Salpêtrière spricht er der Vernunft die Aufgabe zu, »Elemente der Unordnung zu benennen und zu kontrollieren.«25 Unvernunft und Krankheit verortet er dabei in der Körperlichkeit des Menschen. Die Körper »stecken voll von unberechenbaren Ausfällen gegen Vernunft und Ordnung, sie quellen über von Fehlwüchsen und unsinnigen Übergriffen auf ihre Mitwelt und gegen sich selbst.«26 Ordnungsanstalten wie die Salpêtrière sind dazu da, »Schädlinge des Gesellschaftskörpers«27 aufzunehmen, zu kategorisieren und sicher zu verwahren. Als Gegenpol erweist sich bei Sloterdijk der Mesmerismus in der Variante des Schülers Puységurs, weil er sich, im Gegensatz zu Psychologie und Psychoanalyse, gänzlich von der Vorstellung einer objektiven Vernunft – oder, mit Foucault gesprochen, von den Kategorien von Repräsentation und Ordnung – löst.
4. Literarische Aufklärungsrezeption im 21. Jahrhundert Auch in den Romanen des 21. Jahrhunderts, Am Anfang war die Nacht Musik und die Vermessung der Welt, bleibt die Rezeptionslinie im Sinne einer Dialektik der Aufklärung präsent, aber sie wird mit mehr Distanz, in spielerischerer und ironischerer Weise aufgegriffen. Wie in Sloterdijks Zauberbaum steht auch in Alissa Walsers 25 Jahre später erschienenem Roman Am Anfang war die Nacht Musik (2010) der Mesmerismus im Kontext aufklärerischer Medizindiskurse und Rationalitätsideale im Mittelpunkt. Walser greift den historischen Fall der blinden Pianistin Maria Theresia Paradis auf, der schon zu seiner Zeit großes Aufsehen erregte und bereits mehrmals in unterschiedlichen Medien fiktionalisiert wurde.28 Paradis war seit dem dritten Lebensjahr erblindet und nach verschiedenen erfolglosen Heilungsversuchen 1775 zu Mesmer in Behandlung gegeben worden. Die beiden sind die Hauptfiguren des Werks, in deren Sicht wir durch interne Fokalisierung einer heterodiegetischen Erzählinstanz Einblick erhalten.
24 Michel
Foucault: Histoire de la folie à l’âge classique. Paris 1972, S. 379. Zauberbaum, S. 194. 26 Ebd., S. 197. 27 Ebd., S. 194. 28 Brian O’Doherty veröffentlichte 1992 seine Annäherung an die Figur Mesmers mit dem Roman The Strange Case of Mademoiselle P.; der Film Mesmer von 1994 (Regie: Roger Spottiswoode) verwandelt die Begegnung des Heilers mit der Pianistin in eine Liebesgeschichte. Der dänische Komponist Bo Holten widmete der Pianistin 1998 eine Oper mit dem Titel Maria Paradis, die 1999 in Kopenhagen uraufgeführt wurde. Per Olov Enquist inszeniert ihr Aufeinandertreffen mit Mesmer in seinem Roman Der fünfte Winter des Magnetiseurs (München 2002). 25 Sloterdijk:
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Auch bei Walser wird der Mesmerismus als Gegenbild zu einer der instrumentellen Vernunft verpflichteten Medizin inszeniert, die in der Epoche der Aufklärung sich angeblich entwickelte.29 Dieser zeitgenössische Medizindiskurs wird hier in erster Linie durch die Wiener Ärzteschaft repräsentiert, die Mesmer und seine thera peutischen Erfolge kritisch beäugt. Ihre Vorstellungen von aufgeklärt-rationaler Wissenschaft werden großenteils aus der Perspektive Mesmers geschildert, der sich deren Ansprüchen ausgesetzt sieht und sich an ihnen messen lassen will. Es geht ihnen, so weiß er, »[u]m das Beherrschen. Und zur Sprache bringen. Um das Zähmen. Das Zeichnen. Das Anschaulichmachen. Das Wiederholbar machen.«30 Diese Medizin wird bei Walser dargestellt als eine verdinglichende, vom Menschen abstrahierende. Das macht sie deutlich, indem sie die Sicht der Patientin imaginiert. Maria berichtet von ihrer Behandlung durch Dr. Barths Hände, denen »Ideen [überge] stülpt«31 werden, die also nicht der tastenden Intuition folgen, sondern abstrakten Vorgaben. Aus ihrer Perspektive erfährt der Leser von den quälenden Behandlungen durch Dr. Störck, die sie in die Normalität der Sehenden überführen sollten. Erst durch die Behandlung Mesmers wird Autonomie möglich, da er Unkontrollierbares zulässt und den individuellen Menschen statt der abstrakten Idee in den Mittelpunkt des medizinischen Interesses stellt. Die Verdinglichung wird so weniger abstrakt-essayistisch verhandelt als bei Sloterdijk und weniger parabelhaft als bei Süskind, sondern mehr als individuelle Leiderfahrung, die durch die Behandlung Mesmers überwunden werden kann. Mit der Entdeckung des Bereichs des Unbewussten im Kontext des Mesmerismus ist in beiden Romanen, bei Walser und Sloterdijk eine Befreiung von einem zu eng gefassten Aufklärungsverständnis verbunden. Bei Sloterdijk wird das ›moderne Ich‹ von seiner Selbstentfremdung erlöst, in Walsers Roman wird die Patien tin von einer in all ihrem Rationalismus menschenvergessenen Medizin befreit. Indem Franz Anton Mesmer dies leistet, wird er bei Walser zur Symbolfigur einer antirationalistischen Haltung, die jedoch nicht auf einen radikalen Irrationalismus setzt, sondern für einen erweiterten Rationalitätsbegriff plädiert, der den Menschen nicht auf ein Vernunftwesen reduziert, sondern ihn im komplexen Zusammenspiel von Leiblichkeit, Psyche und Intellekt begreift. Anders als bei Sloterdijk wird der Mesmerismus hier also nicht zur verpassten Chance der Moderne, sondern zum Vor29 Diese
Darstellung der aufklärerischen Medizin stellt wohl auf die von Hermann Boerhaave vertretene mechanistische Vorstellung des menschlichen Körpers ab, die auf die Wiener Medizin-Schule, die vom Boerhaave-Schüler Gerhart van Swieten geprägt wurde, starken Einfluss hatte. Boerhaave knüpfte an den Cartesianischen Dualismus an und behauptete, der Körper funktioniere unabhängig von Geist oder Seele. Vgl. dazu Philip K. Wilson: Art. Medicine. In: Alan Charles Kors (Hrsg.): Encyclopedia of the Enlightenment. Oxford 2003, S. 42–52. 30 Alissa Walser: Am Anfang war die Nacht Musik. München 2010, S. 217. 31 Ebd., S. 63.
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denker einer modernen Psychosomatik. Der Roman endet mit einem Generations wechsel, bei dem die Schüler Mesmers seine Ideen weiterdenken. Daniel Kehlmann bezeichnet seinen Roman Die Vermessung der Welt in einem Interview als »eine satirische, spielerische Auseinandersetzung mit dem, was es heißt deutsch zu sein – auch natürlich mit dem, was man, ganz unironisch, die große deutsche Kultur nennen kann.«32 Ebenso, könnte man weiter sagen, handelt es sich um eine satirische, spielerische Auseinandersetzung mit der Erzählung einer Dialektik der Aufklärung. Wie Heinz Peter Preußer angemerkt, dann allerdings nur teilweise überzeugend ausgeführt hat, kann man Die Vermessung der Welt als »Entdramatisierung« der Dialektik der Aufklärung oder als ihren Transfer vom »Tragischen ins Komische und Heitere«33 lesen. Kehlmann greift einige einschlägige Topoi auf, so etwa Humboldts Willen zur Totalkontrolle der eigenen Natur, die ihn seinen Körper als »Ding unter Dingen«34 behandeln lässt und sein damit zusammenhängendes Streben, »die Unterwerfung der Natur [zu] beschleunigen.«35 Ein weiteres Beispiel ist das von seinem Lehrer empfohlene Messen als Praxis gegen die Angst nach dem Prinzip »[w]ann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu messen.«36 Das Messen der Dinge und des Raums ist auch eine Strategie der Naturbeherrschung und so kann Humboldt als Exempel für Horkheimer und Adornos oben zitierte These gelesen werden, Aufklärung habe das Ziel, »von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.«37 Dies gilt umso mehr, wenn die Angst vor dem Unbegreiflichen der Welt und der Versuch ihrer Beherrschung mit einer deutschen Wesensart verknüpft werden: »[D]ie Begegnung mit dem Dunkel sei Teil des Heranwachsens, wer metaphysische Angst nicht kenne, werde nie ein deutscher Mann«,38 lässt Kehlmann Humboldts Erzieher und Hauslehrer Kunth erklären.
32 Daniel
Kehlmann: Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker. Ein Gespräch mit Daniel Kehlmann über unseren Nationalcharakter, das Altern, den Erfolg und das zunehmende Chaos in der modernen Welt. In: Gunther Nickel (Hrsg.): Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen. Reinbek ³2009, S. 26. 33 Preußer führt die These in einigen Punkten unzureichend aus. Er unterlässt es, die eigentlich eindrücklichste Parallele – die Denkfigur von Aufklärung als Angstbekämpfung – zu erwähnen und konzentriert sich ganz auf den Aspekt der Beherrschung der eignen Natur und beschreibt Humboldt als »Mann der Tatsachen« ohne »Zugang zur Musik« und zur »dichterischen Fiktion«. Vgl. Heinz-Peter Preußer: Zur Typologie der Zivilisationskritik. Was aus Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt einen Bestseller werden ließ. In: Heinz-Ludwig Arnold (Hrsg.): Text und Kritik. Daniel Kehlmann. München 2008, S. 73–85, hier: 77. 34 Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Reinbek 112005, S. 33. 35 Ebd., S. 196. 36 Ebd., S. 22. 37 Horkheimer u. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 10. 38 Kehlmann: Vermessung, S. 21.
Das Rezeptionsmuster der Dialektik der Aufklärung im Roman seit 1985
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Jedoch werden die Elemente aus der Dialektik der Aufklärung ironisch gebrochen oder ins Komische gewendet. »Der Furcht wähnt er ledig zu sein, wenn es nichts Unbekanntes mehr gibt«39, heißt es bei Horkheimer und Adorno über den Menschen. Dies trifft auf Kehlmanns Humboldt zweifellos zu, doch konzentriert sich der Autor in seiner Darstellung nicht auf die Entlarvung der daraus resultierenden Grausamkeit, sondern zeigt vor allem die verzweifelte Hilflosigkeit dieser Strategie. So etwa, wenn Humboldt eine Nacht hindurch Ortsvermessungen nach verschiedenen Methoden durchführt, um der »Unordnung« der Welt Herr zu werden. »Nichts sei zuverlässig […]. Die Tabellen nicht, nicht die Geräte, nicht einmal der Himmel. Man müsse selbst so genau sein, daß einem die Unordnung nichts anhaben könne.«40 Selbst die Adorno-Horkheimersche Frage danach, wie Zivilisation in unvorstellbare Barbarei umschlagen kann, erhält bei Kehlmann eine Wendung ins – wenn auch bittere – Komische. Als Humboldt von der Opferung von Tausenden von Menschen hört, die bei der Einweihung des Aztekentempels in Mexiko-Stadt ihr Leben gelassen hätten, gerät sein Weltbild ins Wanken. Zu dem Arbeiter, der ihm von diesem Ereignis berichtet hat, sagt er: »Wenn so etwas wirklich geschähe, würde das Universum enden. Dem Universum, sagte der Arbeiter, sei das scheißegal.«41 Wenig später bemerkt Humboldt dazu: »So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit […] Was für eine Paarung! Gleichsam der Gegensatz zu allem, wofür Deutschland stehe.«42 Diese Passage erzielt ihre Wirkung aus der Spannung zwischen der Bedeutung des Gesagten in der Diegese und den Assoziationen, die sie beim Leser auslösen soll. Für die Romanfigur Humboldt ist es möglich, den sinnlosen Tod tausender Menschen als unmöglichen Verstoß gegen die Weltordnung zu sehen, während der Gegenwartsleser seine Aussage nicht ohne den Gedanken an die Schoah lesen kann. Er weiß, dass der Arbeiter mit seiner trockenen und im anachronistischen Stilbruch formulierten Einschätzung, der Weltordnung sei das »scheißegal«, Recht hat. So wird einerseits Humboldts Annahme eines vernünftigen Universums einmal mehr aufs Schmerzlichste als Illusion entlarvt; andererseits zeigt sie ihn als Menschen einer vom Leser weit entfernten Zeit, für den Derartiges denk- und sagbar ist.
39 Horkheimer
u. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 22. Vermessung, S. 129. 41 Ebd., S. 202. 42 Ebd., S. 208. 40 Kehlmann:
Manuel Mühlbacher
Narratives Gegengift Mimesis und Mimikry bei Shaftesbury 1. Ambivalentes Erzählen Ein aufklärerisches Narrativ, das klassischer kaum sein könnte, findet sich im Werk des Third Earl of Shaftesbury und lässt sich dort anhand von zwei Kupferstichen illustrieren. Das Titelkupfer zum dritten Band der Characteristicks (Abb. 1) zeigt eine Genealogie des Aberglaubens, die vom alten Ägypten bis zur katholischen Kirche reicht.1 Da Shaftesbury religiöse Verfolgung als spezifisch christliches Phänomen einstuft, steigen parallel zu dieser Linie auch Mord und Gewalt. Einen Einschnitt im Katastrophen-Narrativ der Intoleranz markiert das Titelkupfer zum ersten Band (Abb. 2). Statt einer geschichtlichen Entwicklung wird hier ein gesellschaftlicher Zustand abgebildet, der den Fanatismus unschädlich macht. Die Fanatiker sind im Bild weiterhin vertreten, nämlich in der linken Hälfte des Stichs in Gestalt einer Sybille, eines Bacchanten und zweier Betender. Ein heilsames Gegengewicht zu den religiösen Enthusiasten bildet eine Gruppe von Philosophen und Dichtern rechts im Bild. Hier wird Aufklärung betrieben, wie auch der Kontrast zwischen dem sturm erfüllten Himmel links und dem klaren Horizont rechts verdeutlicht. Gerade dadurch, dass der Gesetzgeber – im Zentrum des Stichs – die Fanatiker nicht gewaltsam verfolgt, verhindert er eine erneute Spirale des Blutvergießens. Religionsfreiheit bei gleichzeitiger Freiheit des kritischen Denkens – so stellt Shaftesbury sich einen aufklärerischen Umgang mit dem Enthusiasmus vor. So wurde er im alten Athen betrieben und so soll er im modernen Großbritannien wieder aufleben. Bei näherem Hinsehen verdoppelt sich die Frage des Erzählens innerhalb der Stiche, denn in Form von religiösem Fanatismus und kritischem Denken stehen sich bereits zwei Arten des Erzählens gegenüber. Wie Shaftesbury selbst anmerkt, verbreitet sich Aberglaube durch Erzählungen: »’Tis certain there is a great Affinity between the Passion of Superstition, and that of Tales«.2 Auch in der Gruppe der Aufklärer erscheint eine Figur, die sofort als Erzähler erkennbar ist, nämlich der 1 Die Stiche wurden von Shaftesbury für die zweite, 1714 publizierte Ausgabe der Characteristicks konzipiert. Zu Entstehung und Bedeutung der Stiche vgl. Felix Paknadel: Shaftesbury’s Illustrations of Characteristics. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 37 (1974), S. 290–312. 2 Shaftesbury: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Hrsg. v. Douglas Den Uyl. 3 Bde. Indianapolis 2001 [im Folgenden: Ch], hier: Ch 1, 349. Zitatangaben im Text mit Band und Seitenzahlen nach der Ausgabe von 1732, die in der Ausgabe von Den Uyl am Rand
Mimesis und Mimikry bei Shaftesbury
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Abb. 1: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Bd. 3. Nach der Ausgabe von 1723. Gestochen von Simon Gribelin. – The Bodleian Library, University of Oxford. Godw. 8∞ 434 (v.3), sig. Title page.
Dichter, der seinen Blick zum Olymp erhoben hat. Und selbst die Philosophen sind »Prose-Poets«, wie Shaftesbury schreibt (Ch 1, 162). Die Erzählung von der Aufklärung impliziert bei Shaftesbury einen Antagonismus des Erzählens, einen Kampf um die narrativen Prozesse, von denen Erfolg und Scheitern des aufklärerischen Projekts abhängen. Das Erzählen ist sowohl Gegenstand als auch Instrument der Kritik, Gift und Gegengift in einem. Den konzeptuellen Rahmen, innerhalb dessen Shaftesbury das Erzählen thematisiert, bilden die antiken Theorien der Mimesis. Das Erzählen ist eine Spielart der dichterischen Nachahmung und steht als solche neben anderen Gattungen der Mimesis. Bevor die autoreflexive Struktur des Erzählens genauer erfasst werden kann, muss deshalb der poetologische und anthropoloabgedruckt sind und das Auffinden der Zitate sowohl in der modernen Standard Edition als auch in den Ausgaben von 1711 und 1714 ermöglichen.
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Aspekte · 2. Sektion · Manuel Mühlbacher
Abb. 2: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Bd. 1. Nach der Ausgabe von 1723. Gestochen von Simon Gribelin. – The Bodleian Library, University of Oxford. Godw. 8∞ 432 (v.1), sig. A3 Rect.
gische Hintergrund geklärt werden, den Shaftesbury durch den Bezug auf Platons Politeia und die Poetik des Aristoteles herstellt, denn hinter der Ambivalenz des Erzählens verbirgt sich eine fundamentale Doppelheit der Mimesis, die ihrerseits Dienerin oder auch Gegenspielerin aufklärerischer Bemühungen sein kann. Obwohl sich die Forschung ausführlich mit Shaftesburys Dichtungstheorie beschäftigt hat, wurde der Zweischneidigkeit der Mimesis kaum Rechnung getragen.3 Das proble3 Die einzige mir bekannte Ausnahme stellt Michael Prince dar, der die ethische Ambivalenz
des Nachahmens hervorhebt, ohne dabei auf das Konzept der Mimikry einzugehen, das im Folgenden zentral sein wird: »The good affection may frequently be controlled and overcome. How? By the same power that produces good affection: imitation made habitual« (Mimetic Virtue. On Shaftesbury’s Moral Sense. In: Aufklärung 22 (2010), S. 59–76, hier: 69). Zu Shaftesburys Poetik sei stellvertretend für eine längere Bibliographie auf einen älteren und einen aktuellen Titel hingewiesen: Patrick Müller: »The Able Designer, who Feigns in Behalf of Truth«. Shaftesbury’s Philosophical Poetics. In: Ders. (Hrsg.): New Ages, New Opinions. Shaftesbury in His World
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matische Verhältnis zweier Spielarten der Nachahmung soll deshalb hier zunächst in den Fokus rücken.
2. Shaftesburys mimetischer Platonismus Schon Shaftesburys berühmte Technik des Selbstgesprächs in Soliloquy: or, Advice to an Author bedient sich mimetischer Verfahren, um die Aporien aufklärerischen Sprechens zu lösen. Die Mission des Autors besteht darin, das Publikum zur Selbsterkenntnis zu führen – doch wer klärt den Autor auf, wenn dieser unfähig ist, sich selbst zu erkennen? Tatsächlich leiden zahlreiche Autoren, so Shaftesbury, unter einer obsessiven Fixierung auf das Publikum, die jedem Versuch der Introspektion abträglich ist. So wie die Aufmerksamkeit des Liebenden stets auf das geliebte Objekt gerichtet ist, so wird auch die Imagination des Autors vom Gedanken an den zukünftigen Leser vereinnahmt. Shaftesburys Kunst des Selbstgesprächs löst dieses Dilemma und überwindet die Fremdbestimmung des Autors durch eine reflexive Wendung der Imagination.4 Die hypnotische Beziehung zum Publikum soll durch ein imaginäres Szenario abgelöst werden, in dem das Subjekt seine Vorstellungen (»fancies«) personifiziert und apostrophiert. Das Selbstgespräch vervielfacht das Ich, produziert eine Fülle imaginärer Figuren und entwirft die Fiktion eines inneren Dialogs. Da die Dichter, als Experten der fiktiven Selbstverdoppelung, wahre Meis ter des Soliloquiums sind, avanciert die Dichtung bei Shaftesbury zum Paradigma der Selbsterkenntnis überhaupt. Schon die sokratischen Dialoge gehen daher einen Pakt mit der Dichtung ein. Als Nachahmung von Menschen und Sitten ist der Dialog ein »Looking-Glass to the Age« (Ch 1, 199) und ermöglicht den Lesern, sich im Spiegel des Texts wiederzuerkennen – wie das Selbstgespräch erfüllt auch der geschriebene Dialog eine reflexive Funktion. Spiegelung der Wirklichkeit und Selbsterkenntnis des Lesers bedingen sich wechselseitig, und genau deshalb kann die Dichtung zur Triebfeder der Aufklärung werden. Zwar zeichnet sich der Dialog gerade dadurch aus, dass er ohne eine übergeordnete Erzählerstimme auskommt, doch spricht Shaftesbury auch den homerischen Epen, einem narrativen Genre, reflexives Potential zu (vgl. Ch 1, 196 f. u. 201). Mit der Personifikation der eigenen »fancies« ist die Keimzelle einer Fiktion geschaffen, die sich zu immer größeren and Today. Frankfurt a. M. 2014, S. 239–258; Robert Marsh: Shaftesbury’s Theory of Poetry. The Importance of the »Inward Colloquy«. In: ELH 28 (1961), S. 54–69. 4 Zur autoreflexiven Komponente der Imaginationskritik im Soliloquy vgl. Laurent Jaffro: Éthique de la communication et art d’écrire. Shaftesbury et les Lumières anglaises. Paris 1998, S. 160. Allgemein zum Selbstgesprächs, das ich hier sehr summarisch vorstelle, vgl. Barbara Schmidt-Haberkamp: »Go to the Poets«. Die Kunst des Selbstgesprächs bei Shaftesbury. In: Aufklärung 22 (2010), S. 17–40.
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Erzählungen auswachsen kann. Trotz der jeweils unterschiedlichen Textpragmatik kann daher auch das Erzählen an der aufklärerischen Funktion des philosophischen Dialogs partizipieren. Shaftesburys Poetik des Dialogs bedient sich nicht nur bei den antiken MimesisTheorien – im Begriff des »Mirrour-Writing« klingt Platons Politeia an, in Wendungen wie »Action and Imitation« die aristotelische Definition der Tragödie (Ch 1, 199 u. 194) –, sondern korrigiert diese auch bei Bedarf. So entwickelt Shaftesbury eine Filiation philosophischer Gattungen, die sich eng an die von Aristoteles behauptete Entstehung der Tragödie und der Komödie aus den homerischen Epen anlehnt (vgl. Ch 1, 242 f. u. 254 f.).5 Schenkt man dieser Genealogie Glauben, dann realisieren die antiken Philosophen sukzessive all die Genres, die bereits im Stil ihres Urvaters Sokrates angelegt sind. Im Rahmen dieses philosophiegeschichtlichen Modells klassifiziert Shaftesbury auch die platonischen Dialoge als eine mimetische Gattung – genau genommen als Umsetzung des erhabenen Stils (vgl. Ch 1, 254) –, allerdings steht diese Einordnung in Spannung zu Platons eigener Theorie der Mimesis in der Politeia, wo Sokrates die Dichter bekanntlich seines Idealstaats verweist. Diesen Widerspruch zwischen Form und Inhalt bringt Shaftesbury mit einem Zitat aus Athenaeus Gelehrtenmahl auf den Punkt: His Dialogues were real POEMS […] This may easily be collected from the Poeticks of the grand Master. We may add what is cited by Athenaeus from another Treatise of that Author. ὁ τοὺς ἄλλους ἁπαξ ἁπλῶς κακολογήσας, ἐν μὲν τῇ πολιτείᾳ Ὅμηρον ἐκβάλλων, καὶ τὴν μιμητικὴν ποίησιν, αὐτὸς δὲ [Πλáτων] τοὺς διαλόγους μιμητικῶς γράψας (Ch 1, 254).6
Während er die platonische Mimesis-Kritik als performativen Widerspruch qualifiziert, begrüßt Shaftesbury die mimetische Form von Platons Dialogen. Der Fall des Aristoteles verhält sich genau umgekehrt: Die Poetik stellt Mimesis als philosophische Tätigkeit dar, ist aber selbst in einem methodischen Stil verfasst, den Shaftesbury als »dry and rigid« ablehnt (Ch 1, 256). Aus der Form der platonischen Dialoge und dem aristotelischen Begriff der Mimesis konstruiert Shaftesbury sein eigenes Ideal des Schreibens – einen Text, der die Nachahmung sowohl formal als auch inhaltlich bejaht. Shaftesburys Soliloquy nähert sich dieser idealen Einheit von Inhalt und Form, indem es die theoretische Diskussion der Mimesis mit einer ganzen Reihe von umgesetzten Dialogen und Erzählungen ergänzt. Wie der Letter concerning Enthusiasm selbst enthusiastisch ist, so beinhaltet auch die Auseinander5 Vgl.
Aristoteles: Poetik. Übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2006, 1448b–1449a. »[Platon], der die anderen bei jeder Gelegenheit schlecht gemacht hat, der im ›Staat‹ den Homeros und die [mimetische] Dichtung hinaustrieb, selbst aber seine Dialoge in [mimetischer] Form verfasste« (Athenaios: Das Gelehrtenmahl. Übers. v. Claus Friedrich. Stuttgart 2000, XI.112; Übersetzung leicht bearbeitet). 6 Übersetzung:
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setzung mit der Mimesis im Soliloquy eine mimetische »Performance« (Ch 1, 329). Shaftesburys Texte praktizieren immer schon, was sie in der Theorie affirmieren. Auf diese »affinities between what is said in his writings and how it is said« hat zuletzt auch Patrick Müller hingewiesen.7 Shaftesburys Umgang mit der Mimesis ist jedoch vielschichtiger als die bedingungslose Affirmation der Dichtung im ersten Teil des Soliloquy suggeriert. Trotz der Zurückweisung der platonischen Position wird die Nachahmung nicht von aller Kritik freigesprochen, und gerade die kritische Bewertung der Mimesis gewinnt im Laufe des Texts immer weiter an Bedeutung. Die Dichtung dient der Selbsterkenntnis, doch daneben existiert eine problematische Form der Mimesis, die Shaftesbury als »mimickry« bezeichnet und die sich nur graduell von der dichterischen Nachahmung unterscheidet: »For Poetry it-self was defin’d an Imitation chiefly of Men and Manners: and was in an exalted and noble degree, which in a low one we call Mimickry« (Ch 1, 196). Während die Characteristicks sich beim Thema Mimikry weitgehend bedeckt halten, geben Shaftesburys stoische Notizbücher, die Askêmata, nähere Auskunft über diese Form der Nachahmung.8 In den Askêmata schreibt Shaftesbury seine eigenen Selbstgespräche nieder – und zwar, ganz dem Ratschlag an den Autor entsprechend, bevor er zu publizieren beginnt.9 Neben zahlreichen Zitaten von Epiktet und Marc Aurel enthält der Abschnitt »’Aνθρώποις ἐντυγχάνων« einige Überlegungen zur Mimesis. In Gesellschaft muss der Mensch entweder nachahmen oder nachgeahmt werden, er muss wie die anderen werden oder die anderen dazu bringen, sich ihm anzugleichen. Äußere Imitation ist zudem stets von einer geistigen Verwandlung begleitet: »And first as to Coutenance: y t this be suitable. And remember how much depends on it; how instantly a Chang here is followd by an absolute Chang of the Mind. And hence it is y t Mimickry & Imitation in speech is at all times so very dangerouse« (SE II,6, 63). Durch die menschliche Neigung zum Nachahmen wird gesellschaftlicher Umgang für den stoischen Philosophen zur Gefahr. Unter der Wirkung der Mimikry verliert er seine stabile Persönlichkeit und wechselt unablässig die Gestalt. Einerseits knüpfen die Askêmata hier an eine Diskussion zur metamorphen Identität im Soliloquy an (vgl. Ch 1, 283 f.), andererseits kommuniziert die Einheit von äußerer »countenance« und innerem Geisteszustand 7 Vgl.
Müller: Shaftesbury’s Philosophical Poetics, S. 240. Zum performativen Charakter des Selbstgesprächs vgl. Thomas Fries: Dialog der Aufklärung. Shaftesbury, Rousseau, Solger. Tübingen/Basel 1993, S. 54 f. 8 Der Begriff ›mimickry‹ taucht in den Characteristicks nur ein weiteres Mal auf, allerdings in der Bedeutung ›parodistische Nachahmung‹ (vgl. Ch 1, 71). Auch Shaftesburys Index führt unter dem Lemma »Mimickery« nur die soeben zitierte Stelle an. 9 Vgl. dazu die Einleitung zur 2011 erschienenen Neuausgabe der Askêmata in der Standard Edition. Hrsg. v. Wolfram Benda et al. 20 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 ff. [im Folgenden: SE], hier: SE II,6, 34 f. Die Arbeit an den Askêmata endet im Wesentlichen 1704; Shaftesbury veröffentlicht den Letter concerning Enthusiasm 1708.
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mit einem anderen Phänomen unfreiwilliger Nachahmung, der Panik, die Shaftesbury als eine »Passion […] rais’d in a Multitude, and convey’d by Aspect, or as it were by Contact or Sympathy« definiert (Ch 1, 15). Die Mimikry bewirkt in kleinerem sozialen Rahmen dasselbe wie die Panik in einer Menschenmenge: Die äußere Erscheinung zieht die Leidenschaften nach sich. In Rückgriff auf eine lange Tradition benutzt Shaftesbury den Begriff ›mimickry‹, um eine Form der Nacha hmung ins Auge zu fassen, die soziale Beziehungen auf einer alltäglichen Ebene determiniert. In erster Linie führt die Angst vor den individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Mimesis wieder zu Platon, der die Verbannung der Dichter mit dem Hinweis auf die anthropologische Tendenz zur mimetischen Einverleibung rechtfertigt. Die Wächter sollen nichts nachahmend darstellen, wenn aber darstellen, dann mögen sie nur, was dahin gehört, gleich von Kindheit an nachahmen, tapfere Männer, besonnene, fromme, edelmütige und anderes der Art, Unedles aber weder verrichten noch auch nachzuahmen geschickt sein, noch sonst etwas Schändliches, damit sie nicht von der Nachahmung das Sein davontragen.10
In seinem Kommentar zu dieser Passage weist auch Stephen Halliwell darauf hin, dass Mimesis für Platon »›self-likening‹ or psychological assimilation« impliziert – eine Vorstellung, die sich mit der Mimikry in den Askêmata auf frappierende Weise deckt.11 Diese Affinität wirft ein neues Licht auf Shaftesburys Verhältnis zu Platon. Selbst wenn die Dichtung grundsätzlich von den Vorwürfen des Sokrates ausgenommen wird, richtet sich die platonische Mimesis-Kritik jetzt gegen die Mimikry und verwandte Phänomene. So wie die Wächter multiple mimetische Identitäten zu vermeiden haben, so soll auch der Philosoph in Shaftesburys Notizbüchern seiner gewählten Identität treu bleiben. Indem er die Dichtung als philosophische Methode der Selbsterkenntnis nobilitiert, sich aber gleichzeitig gegen die Wirkungen unwillkürlicher Nachahmungsprozesse einschwört, spielt Shaftesbury zwei Varianten der Mimesis gegeneinander aus: Nur die dichterische Mimesis kann die Gefahren der Mimikry bannen. Die edle Variante des Vermögens muss ihr gefährliches Doppel überwinden. Obwohl er die Nachahmung nicht uneingeschränkt rehabilitiert, zieht Shaftesbury eine neue Grenze, die Mimesis und Mimikry voneinander scheidet. Da er die dichterische Mimesis aufwertet, sie aber weiterhin im Namen platonischer Ängste einsetzt, könnte man seine Strategie als einen mimetischen Platonismus bezeichnen.
10 Platon:
Politeia. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Darmstadt 2011, 395c–d. Halliwell: The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems. Princeton 2002, S. 51. 11 Stephen
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3. Monströse Nachahmungen: Erzählungen und Leser Im dritten Teil des Soliloquy gibt der Autor den Maßstab aus, mit dessen Hilfe gute von schlechten Vorstellungen unterschieden werden können. Das Maß des Moralischen liegt in der Harmonie der Affekte, die Shaftesbury in An Inquiry Concerning Virtue, or Merit näher definiert (vgl. Ch 2, 14–23 u. 29–40); folglich zielt die Kunst des Selbstgesprächs darauf ab, eben diese Harmonie im Subjekt herzustellen. Da Ethik und Ästhetik für Shaftesbury eine Einheit bilden, lehrt das Selbstgespräch »Poetical and Moral Truth« (Ch 1, 336).12 Die Harmonie dichterischer Verse ist eine unmittelbare Wirkung der affektiven Harmonie, die im Geist des Autors herrscht, aber umgekehrt schult auch der Leser seinen moralischen Geschmack, wenn er beispielsweise die Meisterwerke der Antike rezipiert. Sobald dieser universelle moralische und ästhetische Standard etabliert ist, setzt Shaftesbury zu einer scharfen Kritik an der zeitgenössischen Literatur an. Jede Form des Schreibens, die vom Maß der Natur abweicht, wird als monströs bezeichnet: »We care not how Gothick or Barbarous our Models are; what ill-design’d or monstrous Figures we view; or what false Proportions we trace, or see describ’d in History, Romance, or Fiction« (Ch 1, 344). Shaftesburys polemische Kunstkritik gilt einem Großteil der literarischen Produktion seiner Zeit und verweist den Leser auf die Werke der Antike sowie der italienischen Renaissance. Nur die wenigsten Werke wären dazu geeignet, die negativen Effekte der Mimikry aufzufangen. Dass monströse Fiktionen eine ähnliche Wirkung haben wie die Mimikry, demonstriert Shaftesbury anhand von Shakespeares Othello, den er als eine Allegorie des modernen Lesens auslegt (vgl. Ch 1, 347–349).13 In ihrer Faszination für Othellos abenteuerliche Geschichten verlässt Desdemona Vater und Vaterland; die monströsen Erzählungen des Othello verleiten seine junge Zuhörerin zu einer unmoralischen Entscheidung. Desdemona wird so zum Exempel für die katastrophalen Folgen abergläubischer Erzählungen, ja zur Personifikation des Aberglaubens schlechthin. Die Beziehung zwischen Othello und Desdemona bringt damit eine weitere Form der Nachahmung ins Spiel, nämlich die mimetische Beziehung zwischen Leser und Text, zwischen Betrachter und Kunstwerk. Im Entwurf der Plas ticks, einem Teil der unvollendet gebliebenen Second Characters, fasst Shaftesbury diesen Aspekt seiner Ästhetik zusammen: »insist as before […] that Beautiful Forms beautify; polite polish. […] On ye Contrary Gothick gothicize Barbarouse barbarize &c:« (SE I,5, 247). Angesichts der monströsen Formen zeitgenössischen Er12 Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury vgl. Angelica Baum: Selbstgefühl
und reflektierte Neigung. Ästhetik und Ethik bei Shaftesbury. Stuttgart 2001; Barbara SchmidtHaberkamp: Die Kunst der Kritik. Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. München 2000. 13 Shaftesbury bezieht sich auf den ersten Akt des Stücks, Szene 3, V. 127–169.
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zählens bestehen die gefährlichen Effekte der Mimikry selbst in der Dichtung fort. Spricht der Anfang des Soliloquy die Dichtung von der platonischen Anklage frei, so behauptet der letzte Abschnitt, ein Großteil der aktuellen Literatur gefährde die moralische Identität des Lesers bzw. der Leserin. Umgekehrt strebt Shaftesburys eigener Text danach, die mimetische Aktivität der Leser von den monströsen Modellen seiner Zeit abzuziehen. Wie Alexandra Kleihues passend schreibt, »[dient die] Performanz des Dialogs […] einer ansteckenden Übertragung, schlägt ein unmittelbares ›Mitspielen‹ und Imitieren des Lesers vor«.14 Einmal mehr wird die gute Nachahmung gegen ihren schlechten Doppelgänger ausgespielt. Das Soliloquy ist selbst eine der schönen Formen, die Schönheit verleihen. Diese Dichotomie von schöner und monströser Dichtung lässt sich lückenlos auf das eingangs diskutierte Titelkupfer zum ersten Band der Characteristicks beziehen. Othello und seine modernen Adepten, die »Race of black Enchanters« (Ch 1, 348), gehören zur Gruppe der Fanatiker und erzählen unter dunklem Himmel von monströsen Gottheiten, während die schöne Dichtung ein narratives Gegengift darstellt, mit dessen Hilfe die Aufklärer die mimetischen Grundlagen des Aberglaubens bändigen. Der Dichter im Titelkupfer ist als ideale Figur aufzufassen und zeigt, was die Dichtung leisten sollte – faktisch tendieren viele Dichter zur fanatischen Partei. Dass die fundamentale Ambivalenz der Nachahmung in dieser dichotomischen Teilung restlos eingefangen werden kann, scheint jedoch zweifelhaft, wenn man erneut einen Blick auf die Selbstgespräche in den Askêmata wirft. Um seine »fancies« anzusprechen, muss Shaftesbury sie in einer Form imaginieren, die ihren Charakter angemessen repräsentiert. Monströse »fancies« erscheinen folglich als Monster: »The Aparitions, Specters, compound-Visa, Monsters of monstrouse Copulation, Species mixd. Dragons, Mules. Publick & Private: the Hors & Ass. Amphibiouse Animals: dubiouse Ones. Batts: Centaurs: Chimeras: Sphinxes« (SE II,6, 183). Das Verhältnis zwischen dem Ich und diesen Monstern ist antagonistisch: »Against these, fight, as against Chimæra’s, Centaurs, Monsters« (SE II,6, 290). Dieses Monster-Kabinett besitzt eine ästhetische Dimension und versammelt einige jener Gestalten, die Horaz in den Eingangsversen der Ars poetica als Metaphern des ungestalten Kunstwerks verwendet.15 Sie bezeichnen eine monströse Art der Dichtung, die Shaftesbury textuell umsetzt, indem er einen ganzen Zoo von Mischwesen auftreten lässt und mit dem ›barbarischen‹ Klang der Worte spielt. Der schwerfällige Rhythmus der Wortfolgen, mit denen Shaftesbury das Monströse beschreibt, hat bei einem Autor mit derart ausgeprägtem Stil- und Sprachbewusstsein eine tiefere, mimetische Bedeu14 Alexandra
Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame d’Épinay und Voltaire. Würzburg 2002, S. 58. Auch Michael Prince spricht von einem »mimetic reenactment of virtue« auf Seiten des Lesers (Mimetic Virtue, S. 73). 15 Vgl. Horaz: Sämtliche Werke. Übers. v. Wilhelm Schöne. München/Zürich 1985, S. 538, V. 1–13.
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tung.16 Wir haben es hier mit einer Nachahmung des Monströsen zu tun, mit einer Variante der »monstrous Tales« (Ch 1, 348), denen die Literaturkritik des Soliloquy gilt. Bevor die »fancies« überhaupt kritisiert werden können, muss man sie in der Gestalt von Monstern heraufbeschwören; man muss monströse Geschichten vom Kampf zwischen dem Subjekt und einer ganzen Reihe furchterregender Kreaturen entwerfen – ganz wie in den Geschichten, die Othello seiner Desdemona erzählt. Die »Counter-Necromancy« (Ch 1, 318) des Selbstgesprächs produziert nicht nur schöne Formen, denn im Szenario des inneren Dialogs geht der Auftritt des Mons ters dem Erscheinen der Muse stets voraus. Wenn der Autor schöne Formen hervorbringen will, muss er damit beginnen, sich selbst monströse Geschichten von seinen eigenen »fancies« zu erzählen. Jede Mimesis ist also ursprünglich ›barbarisch‹. In seiner monströsen Form ist das Erzählen ein Symptom der Krise, und gleichzeitig kann nur das Erzählen aus dieser Krise herausführen. Shaftesbury nimmt diesen narrativen Januskopf ernst, wenn er immer neue Differenzierungen vornimmt: das abergläubische steht dem aufklärerischen Erzählen gegenüber, die dichterische Mimesis der unwillkürlichen Mimikry, die schöne der monströsen Dichtung. Der faktische Bereich guten Nachahmens schrumpft dabei zusehends, doch bleibt Shaftesbury der autoreflexiven Struktur aufklärerischen Erzählens treu. Gegenüber dieser Polarisierung im Inneren der Mimesis scheint aber eine tiefer liegende Einheit auf. Die Geschichten, die Shaftesbury sich selbst in seinen privaten Notizbüchern erzählt, stehen den exotischen Erzählungen des Othello oft näher als den sokratischen Dialogen. Die monströsen Fiktionen sind nicht nur das Gegenteil, sondern auch der Ursprung der moralischen Dichtung. Nicht die schöne Dichtung wird hier gegen barbarische Fiktionen ins Feld geführt, vielmehr wird das Monströse in der Nachahmung gegen sich selbst gewendet. Diese Teilhabe am Anderen der Aufklärung lassen die zur Veröffentlichung bestimmten Schriften nur erahnen. Die Askêmata hingegen erlauben einen Blick in die Vorgeschichte aufklärerischen Erzählens: Nur wer das Monströse nachahmt, kann es auch beherrschen.
16 Zu
Shaftesburys stilistisch-rhythmischen Korrekturen in den Characteristicks, die bis auf die Ebene der Silben und Buchstaben reichen, vgl. Horst Meyer: Limae labor. Untersuchungen zur Textgenese und Druckgeschichte von Shaftesburys »The Moralists«. Frankfurt a. M. 1978, S. 525–530 u. 541–549.
Wolfert von Rahden
»Ein gewagtes Abenteuer der Vernunft« Fußnotar Kant, Gedankendränger Herder und Sprachpsychonaut Moritz: Narrative vom Sprachursprung1
1. Diskurs oder Narrativ? Den klassischen Aufklärungstext begreift die herrschende Überlieferung nicht als Narrativ, sondern vor allen Dingen als logisch-systematische diskursive Abhandlung wie bei Kant oder den meisten Beiträgen, wie sie für die Encyclopédie verfasst wurden. Übersehen wird dabei zumeist die Vielfalt anderer Textformate, die im weites ten Sinn als Erzählformen charakterisiert werden können. Im Folgenden soll das Augenmerk auf einige Beispiele von Aufklärungsliteratur gelenkt werden, in denen nicht allein eine diskursiv-argumentative Struktur vorherrscht. Thematisch im Fokus stehen Beiträge zur Sprachursprungsdebatte der deutschen Spätaufklärung. In diesem Kontext sollen exemplarisch drei Autoren näher betrachtet werden, darunter Johann Gottfried Herder, der sich am Wettbewerb zur Preisfrage der Königlichen Preußischen Akademie zur Sprachursprungsfrage von 1769 beteiligt hat und dessen Antwort bekanntlich 1771 preisgekrönt wurde2 (Publikation Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772).3 Als zweiter Autor wird Karl Philipp Moritz betrachtet, 1 Die
Kapitel 2 sowie 4 bis 6 nehmen Überlegungen aus zwei früheren Arbeiten von mir auf: Sprachursprungsentwürfe im Schatten von Kant und Herder. In: Joachim Gessinger u. Wolfert von Rahden (Hrsg.): Theorien vom Ursprung der Sprache. 2 Bde. Bd. 1. Berlin/New York 1989, S. 421–467, sowie: Sprachpsychonauten. Einige nicht-institutionelle Aspekte der Entstehung einer »Sprachbetrachtung in psychologischer Rücksicht« im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Diskurskonkurrenz zwischen Immanuel Kant und Karl Philipp Moritz. In: Klaus D. Dutz (Hrsg.): Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert. Fallstudien und Überblicke. Münster 1993, S. 111–141. 2 Die Frage der Académie Royale de Science et des Belles Lettres zu Berlin lautete: »En supposant les hommes abandonnés à leurs facultés naturelles, sont-ils en état d’inventer le langage? Et par quels moyens parviendront-ils d’eux-mêmes à cette invention?«. Von welch beachtlichem öffentlichem Interesse diese Frage war, belegt die stattliche Anzahl von 31 Bewerbungen, die zur Preisaufgabe eingingen, unter ihnen die von Abbé Alexis de Copineau, L.P.G. Happach, Johann David Michaelis, Francesco Soave, Georg Christian Füchsel, Etienne Mayet und Johann Nicolaus Tetens. Herder gewann am 6. Juni 1771 den Preis, und Anfang des Jahres 1772 wurde seine Arbeit »auf Befehl« der Akademie publiziert. Zur Akademie-Debatte vgl. Cordula Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin/New York 2003 sowie Avi Lifschitz: Language and Enlightenment: The Berlin Debates of the Eighteenth Century. Oxford 2012. 3 Johann Gottfried von Herder wird zitiert nach: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. 33. Bde. Berlin 1877–1913 [im Folgenden: SWS].
Fußnotar Kant, Gedankendränger Herder und Sprachpsychonaut Moritz
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der seine Ideen zum Thema sowohl in einer eigenständigen Publikation veröffentlicht hat (Deutsche Sprachlehre für die Damen. In Briefen, 1782) wie auch als Artikelserie in seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793).4 Und last not least wird Immanuel Kant näher ins Blickfeld genommen, der zwar die Sprachursprungsfrage nicht gänzlich ignoriert, wohl aber nur marginal verstreut in zwei Schriften gestreift hat (Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 1786; Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798–1800).5 Die Gewichtung der Sprachursprungsfrage zeigt sich also bei den Autoren als höchst different, und sie korrespondiert zu großen Teilen auch mit der Mikrostruktur der Texte. Die Zeichensätze und Satzzeichen markieren nicht nur den Stil, sondern tendenziell ebenso die jeweiligen Positionen der Autoren zum Thema.
2. »Schnarren, Schreien, Pfeifen, Singen und andere lärmende Unterhaltungen« – Kants Mikronarrative in den Fußnoten Kant, dem es in erster Linie um die Vernunft und um Logik geht, etwa um die »transcendentale Deduction der Kategorien« 6 und um die »logische Pünktlichkeit« des wissenschaftlichen Begriffs7, erachtet Fragen des Ursprungs und der Evolution, durch welche der Absolutheitsanspruch der menschlichen Vernunft relativiert werden könnte, als waghalsiges, als »gewagtes Abenteuer der Vernunft«8. Mehr noch: Die Vernunft müsse vor derartigen Spekulationen »zurückbeben«, da sie einen »Horror vacui« auslösten.9 Aus diesem Grunde finden sie keinen systematischen Platz im 4 Vgl.
Karl Philipp Moritz: Deutsche Sprachlehre für die Damen. In Briefen. Berlin 1782; ders.: Deutsche Sprachlehre in Briefen. Zweite verbesserte Auflage. Berlin 1791; ders.: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde hrsg. v. Karl Philipp Moritz. Berlin 1783– 1793. 5 Immanuel Kant wird zitiert nach: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaft. 8 Bde. Berlin 1968 [im Folgenden: AA]. 6 Kant: Kritik der reinen Vernunft [1781]. In: AA 4, hier bes.: Zweiter Theil: Die transcendentale Logik, S. 47–252. 7 In seiner Rezension des ersten Teils der Herder’schen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784] mahnt Kant bei Herder die „logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe“ an. Zwar war die Besprechung anonym erschienen, aber den Insidern blieb die Autorschaft nicht verborgen, und auch Herder erkannte unschwer die Handschrift seines Lehrers. Siehe Kant: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menscheit von Joh. Gottfr. Herder. Recension des 1. Theils [1785]. In: AA 8, 45–55, hier: 45. 8 Kant: Kritik der Urtheilskraft. In: AA 5, 419, *Fußnote. 9 Kant: Erinnerungen des Recensenten der Herderschen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit über ein im Februar des Teutschen Merkur gegen diese Recension gerichtetes Schreiben [1785]. In: AA 8, 56–58, hier: 57. Alle Hervorhebungen in den Zitaten hier und im Folgenden jeweils im Original.
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Haupttext seiner Schriften und Kant grenzt sie aus; er gesteht ihnen allenfalls ein Schattendasein im Kellergewölbe seiner Text-Architektur zu: als Narrativ in den *Asteriskus-Fußnoten. Er erweist sich als ein akribischer ›Fußnotar‹ (um es leicht ironisch zu sagen) der von ihm klein gehaltenen Frage, die ihn gleichwohl beun ruhigt, ja bedrängt und die er deshalb in die Anmerkungen verdrängt, also ›unterm Strich‹ abhandelt. Hier spekuliert der Autor selbst, wagt riskante Denkabenteuer, lässt Anekdoten sprechen und ironisiert sogar bisweilen: Das Fußnoten-Narrativ als Mikro-Narrativ erlaubt dem Autor, sich auch einer größeren Palette von stilis tischen Möglichkeiten zu bedienen, als es das strikt konzipierte und starre System im Haupttext beim »Chinesen von Königsberg«10 (wie Nietzsche ihn genannt hat) zugelassen hätte. Das Drängen des Gedankens wird bei Kant in die *Fußnote verdrängt, damit es sich ›unterm Strich‹ ausagiere. Dem ungebändigten, durch die Vernunft nicht kontrollierten Gedankenkatarakt eignet nicht die Dignität der in sich stimmigen und logischen Systemarchitektur. Kant verweist die nicht systematisierbaren, die sperrigen und vieldeutigen Gedankenfragmente allenfalls in den Entsorgungs- und Stauraum einer Gerümpelkammer im Keller des Textgebäudes. Was sich dem System nicht unterordnen lässt (wie das Problem des Sprachursprungs), wird ausgegrenzt. Die Frage des Sprachursprungs, welche die deutschsprachige Spätaufklärungsdebatte immerhin intensiv beschäftigt hat, wird von Kant folglich denn auch im Souterrain seines Textgebäudes marginal-narrativ und nicht systematisch-diskursiv abgehandelt, und zwar in einer *Fußnote in Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte von 1786: Der Trieb, sich mitzutheilen, muß den Menschen, der noch allein ist, gegen lebende Wesen außer ihm, vornehmlich diejenigen, die einen Laut geben, welchen er nachahmen und der nachher zum Namen dienen kann, zuerst zur Kundmachung seiner Existenz bewogen haben. Eine ähnliche Wirkung dieses Triebes sieht man auch noch an Kindern und an gedankenlosen Leuten, die durch Schnarren, Schreien, Pfeifen, Singen, und andere lärmende Unterhaltungen (oft auch dergleichen Andachten) den denkenden Theil des gemeinen Wesens stören. Denn ich sehe keinen andern Bewegungsgrund hiezu, als daß sie ihre Existenz weit und breit um sich kund machen wollen.11
Als entscheidendes erstes Äußerungsmotiv für den »Trieb, sich mitzutheilen«, erachtet Kant die »Kundmachung« der eigenen »Existenz«. Dieses ›Existenzverkündigungsmotiv‹ – wie ich es nennen möchte – wird verknüpft mit der auch seinerzeit gängigen Imitationsannahme und dem funktionalistischen Hinweis auf die 10 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse 210. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische
Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 15 Bde. München u. a. 1980 [im Folgenden: KSA], hier: KSA 5, 144. 11 Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. In: AA 8, 110 f., *Fußnote.
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der Nachahmung folgende ›dienliche‹ Namensgebung. Man könnte diese Passage vielleicht in der Perspektive einer These der ›Fülle‹ des Lebendigen deuten, etwa im Sinne eines Notats von Nietzsche: »[D]as Lebendige [will] seine Kraft auslassen«.12 Gleichwohl: Diese wenig prominente Textstelle, an der Kant seine eigene Vorstellung zum Sprachursprung eher persifliert denn expliziert, erhärtet die These, dass er das Sprach(ursprungs)problem systematisch ignoriert, da es ihm hier, so scheint’s, als bloßer Anlass dazu dient, einige – ihm immer wieder den Alltag vergällende – Vorfälle illustrativ kundzutun.13 Einen zweiten, gleichermaßen verdeckten Hinweis gibt eine Anmerkung ca. 12 Jahre später in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die Kants Sprach ursprungsmutmaßungen in *Fußnoten ›unterm Strich‹ komplettiert: Das Geschrei, welches ein kaum gebornes Kind hören läßt, hat nicht den Ton des Jammerns, sondern der Entrüstung und aufgebrachten Zorns an sich; nicht weil ihm was schmerzt, sondern weil ihm etwas verdrießt: vermuthlich darum, weil es sich bewegen will und sein Unvermögen dazu gleich als eine Fesselung fühlt, wodurch ihm die Freiheit genommen wird.14
An dieser Stelle macht Kant ein anderes Argument als zuvor geltend: Nicht die Verkündigung der eigenen Existenz, nicht das Gefühl der Fülle, sondern der ›Mangel‹ wird als erstes Motiv der Äußerung – eines unartikulierten Geschreis – ins Feld geführt. Die Theorie des Mangels (an Bewegungsfreiheit), welche die erste Äußerung als eine negativ motivierte, das heißt als eine der Unlust erachtet, steht auf den ersten Blick in Opposition zur Annahme einer ersten Äußerung als einer ›bejahenden‹, also positiven der eigenen Existenzverkündigung. Das Gewicht einer Auffassung der ontogenetischen Sprachentstehung aus dem Mangel an Freiheit muss für den Kantischen Argumentationsgang indes ungleich höher veranschlagt werden als sein früheres Notat. Zum einen gewinnt dieses Diktum seine Relevanz durch seine Platzierung innerhalb einer phylogenetischen Begründungsstrategie der moralischen Erziehung des Menschen als Gattung, für die Freiheit als moralisches Postulat vorausgesetzt wird, zum andern wird das erste Schreien nicht als bloße Äußerung »im rohen Naturzustande«15 – also nur als reflexartige Interjektion – interpretiert, sondern selbst schon als »kulturelle« Leistung, die sogar dem instinktgeleiteten Verhalten zuwiderläuft: 12 Nietzsche:
Nachlass Sommer-Herbst 1884. In: KSA 11, 222. konnte bei Lärm nicht arbeiten. Im Haus mußte Totenstille herrschen. 1775 wechselte er die Wohnung, weil der Hahn des Nachbarn ihn störte. Ein andermal forderte er die Königsberger Behörden auf, die Fenster des benachbarten Gefängnisses geschlossen zu halten: Die Häftlinge sangen aus vollem Hals, so daß der Philosoph sich nicht konzentrieren konnte.« (Frédéric Pagès: Frühstück bei Sokrates. Philosophen ganz privat. München 1997, S. 73). 14 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: A A 7, 327, *Fußnote. 15 Ebd., S. 327. 13 »Kant
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Was mag doch die Natur hiemit für eine Absicht haben, daß sie das Kind mit lautem Geschrei auf die Welt kommen läßt, welches doch für dasselbe und die Mutter im rohen Naturzustande von äußerster Gefahr ist? Denn ein Wolf, ein Schwein sogar würde ja dadurch angelockt, in Abwesenheit oder bei der Entkräftung derselben durch die Niederkunft es zu fressen. Kein Thier aber außer dem Menschen (wie er jetzt ist) wird beim Geboren werden seine Existenz laut ankündigen; welches von der Weisheit der Natur so angeordnet zu sein scheint, um die Art zu erhalten. Man muß also annehmen: daß in der frühen Epoche der Natur in Ansehung dieser Thierklasse (nämlich des Zeitlaufs der Rohigkeit) dieses Lautwerden des Kindes bei seiner Geburt noch nicht war; mithin nur späterhin eine zweite Epoche, wie beide Ältern schon zu derjenigen Cultur, die zum häuslichen Leben nothwendig ist, gelangt waren, eingetreten ist; ohne daß wir wissen: wie die Natur und durch welche mitwirkende Ursachen sie eine solche Entwickelung veranstaltete.16
Um Bilanz zu ziehen: Das ›Existenzankündigungsverkündigungsmotiv‹ wird von Kant nunmehr eingebettet in eine anthropologische Konzeption, innerhalb deren er bereits die erste lautliche Äußerung des Kindes als ein kulturelles Produkt im Kontext der Entwicklungslogik der menschlichen Gattung begreift. Und auch diese Differenzierung bleibt topographisch im Raume der *Fußnoten. Festzuhalten bleibt: Die gesamte Thematisierung der Sprachursprungsfrage erfolgt innerhalb von *Fußnoten, und diese bilden einen eigenen Text-Typ, der im Unterschied zum Haupt-Text inhaltlich und zumeist auch stilistisch gewissermaßen einem Parallel- oder Subtext gleichkommt.
3. »Ha! du bist das Blöckende!« Herders sensualistisches Sprachursprungsnarrativ Der frühe Herder hingegen entfaltet das Sprachursprungsproblem in seiner Preisschrift in mitreißender Emphase: Das Stürmen und Drängen des Gedankens findet seinen Ausdruck in einer Vielzahl von doppelten und dreifachen Gedankenstrichen und in der Fülle der verwendeten Ausrufezeichen und gipfelt in jenem bekannten Ausruf: »Ha! du bist das Blöckende!« (SWS 5, S. 36).17 Und »die Seele hat […] wiedergeblöckt« (ebd., S. 37). Die »Seele« sucht ein »Merkmal«, sie »sieht, tastet, be16 Ebd.,
S.327–328, *Fußnote. der Zweitpublikation der Abhandlung von 1789 fehlt allerdings bezeichnenderweise diese bei Herder wohl berühmteste Interjektion »ha!« – Herders Stil war inzwischen, also 17 Jahre später, insgesamt moderater und wohltemperierter geworden und zeigte nicht mehr jene starke Impulsivität und Spontaneität der frühen Sturm- und Drangphase. In der Abhandlung wiederholt er die expressive Partikel, als er nochmals auf die Begegnung mit dem Schaf im Kontext der Cheselden’schen Blinden-Diskussion zurückkommt: »Ha! sagt der lernende Ünmündige, wie jener Blindgewesene Cheseldens: nun werde ich dich wieder kennen – du blöckst!« (SWS 5, S. 49). 17 In
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sinnet sich« (ebd., S. 36), und auf diese Weise generieren verschiedenste Sinneseindrücke und reflexive Besinnung gemeinsam die erste sprachliche Äußerung. Wir sehen hier in der ersten Begegnung des Menschen mit dem Schaf eine UrSzene der Sprachentstehung anschaulich vor uns. Das Erkennen und fortan das Wiedererkennen des »Blöckenden«, des Weichen, »Weißen, Wollichten und Sanften« (ebd.) als inneres und äußeres Merkwort, als »Merkmal der Besinnung« (ebd. S. 37), als Merkwort der »Besonnenheit«18 und als Erkennungszeichen für das »Schaaf« verdichten sich im Ausruf »ha!« (ebd., S. 36). Die expressive identifizierende Emphase der Interjektionspartikel steht gleichsam selbst repräsentativ für des jungen Herders Sprachursprungstheorie. In diesem (im Gedankenexperiment vorgestellten) ursprünglichen Benennungsakt, diesem ›Ursprungsakt des Erkennens‹ wird der Name nicht beliebig als bloßer »Schall und Rauch« (wie in der berühmten Formulierung Fausts in Goethes Faust I, V. 3457) abgetan, sondern gewissermaßen sensualistisch-semantisch konstitutiv mit ›Schall und Hauch‹ besetzt, einem kreativen und schaffenden Odem, sodass über das Benennen mit Namen das (Wieder-) Erkennen des Benannten (»Benamsten«) erst möglich wird. Herder forciert die Frage in seiner Sprachursprungsabhandlung emphatisch und zeigt sich hier als ein emotionaler ›Gedankendränger‹, wie man den Autor dieses Textes mit einem Wort charakterisieren könnte. Zwischen anthropologischer Zuversicht und beobachtender Skepsis beantwortet er, wie man weiß, die AkademieFrage positiv: Der Mensch habe Sprache aus »eigner Kraft« erfinden können, und der Zauberstab (das »innere Wort« als »Stab der Seele«)19 für die Spracherfindung heißt »Besonnenheit«. In seiner Abhandlung, in der er diesen Gedanken entfaltet, zieht er den Leser in den synästhetischen Sograum des Textes hinein, insbesondere durch den dynamischen Stil und durch die Anschaulichkeit der vorgeführten Beispiele. Herder lässt dem Drängen und Fühlen der Gedanken freien Lauf, und dieses Vorwärtsdrängen findet auch stilistisch seinen augenfälligen Ausdruck. Den Sprachstil vor allem des frühen Herder prägen Interjektionen, Interrogative und Anakoluthe: Expressiv und emotional entwickelt sich der Gedankengang – nicht wie bei Kant (im Haupttext über dem Strich) streng systematisch, begrifflich diskursiv, entsubjektiviert und distanziert, sondern assoziativ, anschaulich und metaphernreich lässt Herder seinen Ideen fast freien Lauf. Der Leser wird mitgenommen auf die Forschungs- und Entdeckungsreise: Der Prozess der Verfertigung der Gedanken beim Schreiben wird abgebildet, Gedankenabbrüche gehören ebenso dazu wie Gefühlseindrücke. Man vermag sich oftmals kaum des Eindrucks zu erwehren, als könne das geschriebene Wort mit der Beschleunigung des Gedan18 SWS
5, S. 31; der Begriff wird hier eingeführt und seine Bedeutsamkeit für des Autors Sprachursprungsentwurf im Anschluss anschaulich entfaltet (ebd., S. 31–39). 19 Herder: Vom Erkennen und Empfinden [1775]. In: SWS 8, 291.
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kens nicht länger Schritt halten und der Autor sei kaum noch imstande, die forteilenden Überlegungen einzufangen und aufs Papier zu bannen. Und die strikte Trennung von Forschungs- und Darstellungsprozess ebenso wie die Trennung von Forschungsobjekt und Forschungssubjekt, wie sie später für wissenschaftliche Arbeiten grundlegend werden sollen, werden von Herder durch die Expressivität und Emphase der Darstellung unterlaufen. Stilistisch findet Herders (mit Condillac gegen Descartes und gegen dessen deduktiven puren Rationalismus des »Cogito ergo sum« gewendetes) frühes Diktum – »Ich fühle mich! Ich bin!« – einen prägnanten sprachlichen Ausdruck für diese Haltung.20 Der Herder’sche Sensualismus, der sich hier ebenso pointiert narrativ-stilistisch ausdrückt, zeigt sich besonders prägnant in den zwei soeben zitierten Empfindungsausrufen »Ha! du bist das Blöckende!« und »Ich fühle mich! Ich bin!« – wobei die erste Doppelinterjektion eher triumphierend anmutet, die zweite hingegen eher jubilierend; beide sind zwar subjekt-zentriert, jedoch entweder nur auf die äußere oder aber auf die innere und äußere Wahrnehmung gleichermaßen gerichtet. Im Fall der Identifizierung des Schafs (»Ha! du bist das Blöckende!«) ›triumphiert‹ das erkennende Subjekt darüber, dass ihm das Erkennen und Wiedererkennen gelingt, also die Identifikation eines äußeren Objekts durch eine komplexe sinnliche Wahrnehmung. Im zweiten Fall (»Ich fühle mich! Ich bin!«) ›jubiliert‹ das erkennende Subjekt darüber, dass es die selbstreferentielle sinnliche Wahrnehmung des eigenen Körpers, als Objekt und Subjekt, fühlend erfährt. Die Figur der Sprachursprungsbegründung bei Herder im Ausruf »Ha! du bist das Blöckende!« (in der ersten Fassung der Abhandlung) weist eine ähnliche Struktur auf wie der frühere Ausruf »Ich fühle mich! Ich bin!«: Auch hier haben wir eine zweifache Interjektion als Expression einer unmittelbaren sinnlichen (hier: akustischen) Impression, das Merkmal des »Blöckens«; diese Wahrnehmung vom Schaf wird aber im weiteren Verlauf der sensualistischen Argumentation auch als tastende, gefühlte (»sanft«, »wollicht«) und visuelle (»weiß«) Empfindung erfahren.21 So nimmte es auch nicht wunder, dass Herder in diesem Kontext zentral einen sensualistisch motivierten Terminus einführt: Er prägt den Ausdruck »Besonnenheit« als Schlüsselbegriff zur Spracherfindung und verdeutlicht damit den Bezug sowohl zum ›Sinn‹ (im doppelten Sinn) wie zur ›Sinnlichkeit‹, die er als entschei20 So in Herders Fragment [1769] Zum Sinn des Gefühls (SWS 8, 96). Vgl. auch: »[A]llen Sinnen liegt Gefühl zum Grunde« (SWS 5, S. 61). Zur Deutung von Analogie und Synästhesie bei Herder siehe auch Emil Staiger: Der neue Geist in Herders Frühwerk. In: Ders.: Stilwandel. Zürich/Freiburg i. Br. 1963, S. 121–174, hier bes.: 137–139. 21 Hier wird die tragende Rolle der Synästhesie in Herders Narrativ deutlich; siehe dazu auch das Hamann’sche Motto, das Herder seiner Abhandlung vorangestellt hat: »Rede, daß ich dich sehe!«.
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denden Ausgangspunkt für seine Spachentstehungsthese unterstellt. »Besonnenheit« umgreift mithin sowohl Reflexion wie Sinneseindrücke (aller Sinne). Und er zeigt: Besinnung und Sprache gehören untrennbar zusammen. »Ohne Sprache hat der Mensch keine Vernunft, und ohne Vernunft keine Sprache« (SWS 5, S. 40). Diese anthropologische Ur-Szene des Sprachursprungs – die erste ›Kommunikation‹ des Menschen mit dem Schaf, die im Grunde einen inneren Dialog des Menschen mit sich selbst darstellt – entwirft Herder als Gedankenexperiment, ähnlich wie der frühere Kant für den menschlichen ›Urschrei‹ gedankenexperimentell das Existenzverkündigungsmotiv vermutet hatte. Auch wenn der emphatisch narrative Stil in der Abhandlung dominiert, gilt jedoch ebenso: In vielen Passagen zeigt sich durchaus der ›nüchtern-sachliche‹ Herder, etwa wenn er vier »Naturgesetze« formuliert.22 Bei allen Differenzen zwischen Kant und Herder bleibt jedoch festzuhalten, dass beide ein Kerngedanke der Aufklärung eint: Der Mensch möge den eigenen Kräften vertrauen! Allerdings wird die entscheidende Kraft verschieden interpretiert: Bei Kant ist es die Selbstgebärung der Vernunft (die sich der stumm waltenden Logik der Kategorien als Instrument bedient), bei Herder bedarf die rational und emotional fundierte Vernunft der Geburtshilfe durch die Sprache, die er gleich ursprünglich, also untrennbar und nicht bloß instrumentell mit der Vernunft verbunden sieht.
4. »Erkenne dich selbst!« Sprache als »Abdruck der menschlichen Seele« im psychologischen Narrativ bei Moritz Moritz richtet seine Aufmerksamkeit weniger auf die äußere als vielmehr auf die innere Natur des Menschen: »Erkenne dich selbst!« – Der Haupttitel seines Magazins zur Erfahrungsseelenkunde wird über die altehrwürdige bloß philosophische Maxime hinaus als psychologisches Forschungsprogramm ernstgenommen. Dieses Projekt umgreift nicht nur den Menschen als Vernunftwesen, sondern in seiner Ganzheit, es schließt nicht nur die helle Tagseite ein, sondern auch die dunkle Nachtseite des Lebens, wie Verbrechen, Wahnsinn oder zerstörerische Leidenschaft. Als ›Sprachpsychonaut‹ – wie ich ihn genannt habe23 – glaubt er in einer zu rekonstruierenden »einfacheren, wahreren Ursprache« den »Spiegel der Seele« zu erkennen, die Tiefen der Psyche ausloten zu können.24 Und er begreift eine jede 22 Vgl. den zweiten Teil der Abhandlung, in der Herder diese »Naturgesetze« erläutert (SWS 5,
93–147). 23 Rahden: Sprachpsychonauten, bes. S. 127–133. 24 Moritz: Sprachlehre, S. 291.
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Sprache als »Abdruck der menschlichen Seele«25. Mit seinem Aufklärungsprojekt blickt Moritz weiter als Kant oder Herder. Ihm geht es um den ganzen Menschen, und dazu gehört für ihn sowohl über das Rationale (Kant) wie auch über die positiven Gefühlsausdrücke und -eindrücke (Herder) hinaus auch das emotional Abgründige, dem er in gesammelten Erzählungen, ›denkwürdigen‹ Geschichten, Erfahrungsberichten und Protokollen, in anschaulichen Fallbeispielen, Briefen, Traum- und Tagebuchnotizen von Zeitgenossen in seinem Magazin auf die Spur kommen möchte. Aber zum ganzen Menschen gehört auch die ästhetische und poetische Seite. Begreiflicherweise steht er dem Ansatz Herders weitaus näher als dem von Kant. Er sucht seine Thesen zum Thema in der Sprachlehre pädagogisch-poetisch zu vermitteln und wählt den Texttyp Brief, um einen gebildeten, aber auch möglichst breiten Adressatenkreis anzusprechen, und einen Teil dieser Briefe hat er ebenfalls im Magazin publiziert. Wie wir wissen, schätzte auch Herder den Brief als Darstellungsform (Briefe zur Beförderung der Humanität) ebenso wie etwa Schiller (Briefe zur ästhetischen Erziehung), während dieses Textformat bei Kant bezeichnenderweise gänzlich fehlt. Es waren also vorrangig (aber beileibe nicht ausschließlich) Literaten, die sich dieser Form bedienten, weil sie ganz offensichtlich von vornherein mehr Freiheit ließ in der Wahl der Stilmittel und der subjektiv-emotionalen Gestaltung und weil sie durch das fingiert Dialogische persönlich-intimer wirkte. Die von Moritz gewählte Textgattung Briefe für die Damen26 zeugt allerdings vom pädagogischen Wirkungswillen des Autors und veranschaulicht sein Konzept aufs Allerdeutlichste. Ihm geht es stets darum, Wissenschaft, Kunst und Leben nicht auseinanderzureißen, und – so könnte man mutmaßen – offensichtlich scheint ihm das weibliche Geschlecht in dieser Hinsicht befähigter und rezeptionsbereiter als das männliche und womöglich poetischer gestimmt und wohl auch pädagogisch bedeutsamer (es handelte sich ja um eine Sprachlehre). Für die Erklärung des Sprachursprungs geht Moritz grundlegend von der Fähigkeit des Menschen zur Nachahmung aus und entfaltet diesen Gedanken in einer ›These der dreifachen Imitation‹, wie man sie nennen könnte: Die drei Modi der Imitation bestehen für Moritz in der lautmalerischen Nachbildung äußerer und innerer Natur mittels der Sprachwerkzeuge, und zwar als Imitation 1. des Lautes (i. e. von »Schall« und »Ton«) im Bereich der äußeren auditiven Wahrnehmung;
25 Ebd.,
S. 12. der Titel der Erstauflage von 1782, der Zusatz »für die Damen« fehlt in der Zweitauf lage von 1791. 26 So
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2. des Bildes, und zwar in Form einerseits der »Gestalt der Dinge außer uns« und andrerseits der »Bewegung der Dinge außer uns« im Bereich der äußeren visuellen Wahrnehmung; 3. der Bewegung der »Empfindungen in uns« im Bereich der inneren Empfindungswahrnehmung.27 Moritz imaginiert in seiner narrativen Ur-Szene der Kommunikation zwischen Mensch und Natur einen locus amoenus, und dem Menschen ist es aufgegeben, dieses innere ›kommunikative‹ Verbindungsband zwischen beiden zu entdecken. Um zu resümieren: Der ›Zauberstab‹ zur Erweckung der Sprache ist bei Moritz die dreifache Imitation der Natur, bei Kant hingegen übernimmt zunächst das expressive Existenzverkündigungsmotiv, dann das Defizit-Motiv der Erfahrung des Mangels die Rolle des Zauberstabs, und bei Herder heißt das Zauberwort »Besonnenheit« (Moses Mendelssohn hatte als Schlüsselbegriff für den Sprachursprung bereits einige Jahre zuvor den Terminus »Sagacität« gewählt).28
5. Eine zwiespältige wissenschaftshistorische Pointe Die Sprachursprungsdiskussion und ihre Narrative bergen eine gegenstrebige wissenschaftsgeschichtliche Pointe: Die eine Seite jener ambivalenten ›Denkwürdigkeit‹ liegt darin, dass die drei ausgewählten Autoren als herausragende Pioniere dieser Epoche gesehen werden können, die neue Wissenskontinente betreten haben. Oder wem das zu geographiemetaphernlastig klingt: Die hier vorgestellten Protagonisten wirkten entscheidend daran mit, neue Wissensfelder theoretisch zu konzipieren und/oder praktisch-empirisch zu erforschen; sie trugen einen nicht geringen Anteil daran, dass die Voraussetzungen für eine Entwicklung geschaffen wurden, die dann im folgenden Jahrhundert zur Etablierung eigenständiger Wissenschaftsdisziplinen führte. Im Vergleich ihrer Entwürfe und im Kontext unterschiedlicher Wissenskulturen zeigt sich, wie die Autoren richtungsweisende Vorarbeiten geleistet haben für die sich ausdifferenzierenden Wissensgebiete von Anthropologie (Herder und Kant) und Psychologie (Moritz) avant la lettre. Auf der anderen Seite erweist sich im Rückblick, dass gerade der bekannteste unter den drei Autoren, der als denkerisch furchtlos wahrgenommene »alles zermalmende« Kant (Mendelssohn)29, sich in einigen Fragen nicht so sehr als mutiger aufklärerischer Avantgardist, als ein Grenz27 Moritz:
Sprachlehre, S. 537–542. zwischen 1756 und 1766 in seinem unveröffentlichten Fragment Über die Sprache. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. 38 Bde. Bd. VI,2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 5–23. Vgl. dazu genauer: Joachim Gessinger u. Wolfert von Rahden: Theorien vom Ursprung der Sprache. In: Dies. (Hrsg.): Theorien. Bd. 1, S. 1–41, hier: 15–18. 29 Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes. Vorbe28 Vermutlich
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überschreiter des Alten, sondern vielmehr als ein risikoscheuer Grenzposten, als eher bänglicher Wächter einer ›ausgrenzenden‹ Vernunft erweist, der neue Ideen – die sich am Horizont abzeichnen – ablehnt und als »ungereimt« abkanzelt. Warum aber »bebt die Vernunft zurück«? Genauer: Warum bebt Kants Vernunft vor einigen Fragen zurück? Im Streit um das Problem der Wissenschaftlichkeit von einigen Fragestellungen, die sich heute vornehmlich in den Disziplinen von Psychologie und Biologie sehr wohl als wissenschaftliche etabliert haben, meldet er Zweifel an, weil er nur das als wissenschaftlich gelten lässt, was mit den Methoden der Naturwissenschaft und Mathematik an Erkenntnissen gewonnen werden kann. Die Newton’sche Physik, die empirisch und ›more geometrico‹ arbeitet, ist ihm Leitdisziplin und Vorbild für Wissenschaft überhaupt. Die Beobachtung und Selbstbeobachtung der Gefühlswelt des Subjekts und die Erforschung von Sprachursprungsund Entwicklungsfragen, jene der Entwicklung von Mensch als Individuum und Gattung, ja von Lebendigem überhaupt, schienen ihm wissenschaftlich nicht zugänglich zu sein. Bei diesen Themen seien nur haltlose Spekulationen möglich, die den Geist allenfalls verwirren würden, wenn man sich damit beschäftige.
6. Kant vs. Biologie als Wissenschaft Ebenso wie die Psychologie30 hielt Kant eine Biologie als Wissenschaft von vorn hinein für ein »ungereimtes« Unterfangen und fasste dies bekanntlich in der griffigen Formel von der Unmöglichkeit eines »Newton des Grashalms«.31 In seinem geschichtsphilosophischen Entwurf Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit hatte Herder umfassend geogonische (also geologische), biologische und anthropologische Fragen abgehandelt.32 Die Sprachursprungsfrage war jetzt eingebettet in einen weit ausgespannten Rahmen, der unter der Perspektive richt. In: Ders.: Schriften über Religion und Aufklärung. Hrsg. v. Martina Thom. Darmstadt 1989, S. 469. 30 Zur genaueren Argumentation Kants gegen die Möglichkeit, Psychologie überhaupt als Wissenschaft zu betreiben, vgl. Rahden: Sprachpsychonauten, hier bes.: S. 122–127. 31 Kant: Urtheilskraft, S. 400. 32 Zur bedeutsamen Rolle der Geologie und der Idee der Evolution bei Herder vgl. Wolfert von Rahden: Revolution und Evolution. In: Ernst Müller (Hrsg.): Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte (E-Journal) 1/1 (2012), S. 1–20; ders.: Der anamorphotische Blick. Die Konstitutionsphase neuer Wissenskulturen gegen Ende des 18. Jahrhunderts im epistemologischen Perspektivenwechsel sub specie evolutionis am Beispiel der Geologie und Johann Gottfried Herders. In: Iwan-Michelangelo D’Aprile u. Ricardo K. S. Mak (Hrsg.): Aufklärung – Evolution – Globalgeschichte. Hannover 2010, S. 31–75; ders.: »Ich bin ein Thier gewesen«. Herder’s Concept of Evolution in the Context of His Time. In: Daniel Droixhe/Chantal Grell (éds.): La linguistique entre mythe et histoire. Actes des journées d’étude organisées les 4 et 5 juin 1991 à la Sorbonne en l’honneur de Hans Aarsleff. Münster 1993, S. 187–210.
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des »Progreß der Menschheit« entwicklungslogische und geschichtsphilosophische Ideen zusammenführte. Und er sah durchaus die provokative Brisanz seiner Fragestellung: »Welche Frage z. B. hat mehr Streit erreget, als die über das Alter der Welt, über die Zeitdauer unsrer Erde und des Menschengeschlechts?«.33 Seine Betrachtungen führten von der Bildung der Planeten über die geologische Geschichte der Erde zur Entwicklung von Flora und Fauna. Er thematisierte die natürliche Entstehung des Lebens, das aus dem Wasser hervorgehe; er spekulierte über die kontinuierliche Entwicklung der Tierarten und kam zu dem Schluss: »Der Menschen ältere Brüder sind die Thiere«.34 Kant verfasste zum ersten Teil von Herders Ideen eine Rezension und kritisierte das Werk aufs Allerschärfste.35 Nach einer im Teutschen Merkur veröffentlichten Gegenkritik an seiner Herder-Rezension (sie erschien anonym, Autor war Karl Leonhard Reinhold) sah Kant sich genötigt, noch einmal Stellung zu beziehen, um seine Position zu verteidigen, dass die Vernunft vor etwas »zurückbeben«36 könne. Abermals erteilte er Herders »speculativer Philosophie«37 über die Denkbarkeit einer Evolution, welche die Konstanz der Arten in Frage stelle, eine eindeutige Abfuhr: »Es ist blos der Horror vacui der allgemeinen Menschenvernunft, nämlich da zurück zu beben, wo man auf eine Idee stößt, bei der sich gar nichts denken läßt […].«38 Es ist diese Idee einer Phylogenese, die aus der Ähnlichkeit im Bau der organischen Wesen auf ihre Verwandtschaft und einen gemeinsamen Ursprung schließt, die dem Rezensenten einen »Horror vacui« einjagt, der die Vernunft selber zu bedrohen imstande ist. Herder seinerseits, verärgert über die Kantische Kritik, kontert in einem Brief an Hamann hämisch gegen Kant: »[…] es soll mir herzlich lieb sein, wenn ich sein Idol der Vernunft zurückschauern mache oder verwüste«.39 Offenbar ahnt Kant und schaudert davor zurück, welche Konsequenzen es für die Vernunft selbst haben könnte, ließe man die Möglichkeit einer entwicklungsgeschichtlichen Relativierung derselben zu: Der Absolutheitsanspruch der Vernunft geriete in Gefahr, die Autonomie, das heißt, die Zeitlosigkeit und Universalität der Vernunft stünden zur Disposition. Die Kantische Lektüre der Herder’schen Ideen birgt indes augenscheinlich eine verblüffende Pointe: Sie besaß offenbar eine Langzeitwirkung beim kritischen Rezensenten. Denn nach der anfänglichen heftigsten Ablehnung der Idee einer or33 Herder:
Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: SWS 13, 427. S. 60. 35 Siehe Anm. 7. 36 Kant: Recension, S. 54; ders.: Erinnerungen, S. 57. 37 Kant: Recension, S. 54. 38 Kant: Erinnerungen, S. 57. 39 Johann Gottfried von Herder: Herders Briefe. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Wilhelm Dobbek. Weimar 1959, S. 248. 34 Ebd.,
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ganischen Evolution macht sich Kant immer mehr mit dem zuvor verworfenen Gedanken vertraut, um schließlich selber einige Jahre später in diesem Sinne zu »speculieren«. In einer *Fußnote der Kritik der teleologischen Urtheilskraft von 1790 nimmt er die Hypothese »einer durchgängig zusammenhängenden Verwandtschaft« aller Geschöpfe wieder auf: Eine Hypothese von solcher Art kann man ein gewagtes Abenteuer der Vernunft nennen; […] z. B. wenn gewisse Wasserthiere sich nach und nach zu Sumpfthieren und aus diesen nach einigen Zeugungen, zu Landthieren ausbildeten. A priori, im Urtheile der bloßen Vernunft, widerstreitet sich das nicht. Allein die Erfahrung zeigt davon kein Beispiel […].40
In der Anthropologie schließlich nochmals acht Jahre später wagt Kant nun selbst – wiederum im ›Schutz einer *Fußnote‹ – ein noch riskanteres »Abenteuer der Vernunft«: Hier spekuliert er, erstaunlich genug, gar über Entwicklungsmöglichkeiten nicht-humaner Primaten: Diese Bemerkung führt weit, z. B. auf den Gedanken: ob nicht auf dieselbe zweite Epoche bei großen Naturrevolutionen noch eine dritte folgen dürfte; da ein OrangUtang oder ein Schimpanse die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Cultur sich allmählig entwickelte.41
Aber solch einschneidende Veränderungen vermag sich Kant eben nur unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlich-kultureller Entwicklung, nicht aber in Ansehung »des Zeitlaufs der Rohigkeit« der Natur vorzustellen. Zwischen Kant und Herder war diese Auseinandersetzung zum Abschluss gekommen, für die sich um ca. 1800 konstituierende Biologie indes hatte sie gerade erst in größerem Ausmaße begonnen. Mit ihrer Kontroverse setzten Herder und Kant Signaturen zu einer ›Genealogie von unten‹, wie ich diese Idee bezeichne – als Vorboten des Deszendenz- und Evolutionsgedankens im Darwin’schen Sinne.42 Aber die Kontroverse zeigt auch: Der narrative *Fußnoten-Text dringt zunehmend ›von unten‹ in den Kantischen diskursiven Haupt-Text ein. Die Grenzen werden durchlässig und beginnen sich zu verschieben – das »gewagte Abenteuer der Vernunft« findet fortan auch bei Kant nicht mehr nur in den *Fußnoten statt. In diesem Sinne plädiere ich dafür, im Œuvre des Philosophen auch und gerade die *Fußnoten ernst zu nehmen und sie bei der Interpretation der Kantischen Philosophie angemessen zu berücksichtigen, oder zugespitzter formuliert: Der ›ganze 40 Kant:
Urtheilskraft, S. 419, *Fußnote. Anthropologie, S. 328, *Fußnote. 42 Rahden: Sprachursprungsentwürfe, S. 443–448, 454–460. 41 Kant:
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Kant‹ erschließt sich dem Interpreten erst, wenn er des Philosophen Werk unter Einschluss der *Fußnoten deutet. Die Narrative zum Sprachursprung – so könnte der Chronist der Debatte bilanzieren – haben sich eher als Mikro-Narrative oder als Erzähl-Bruchstücke erwiesen, bei Kant vor allem in den *Fußnoten, bei Herder und Moritz im anschaulichen Entwurf von Ur-Szenen der Kommunikation. Was die Makro-Narrative betrifft, könnte man, zugeschärft formuliert, den Anton Reiser als eine ›psychologische Meis tererzählung‹ der Aufklärung und Selbstaufklärung deuten, in der Moritz für die Geschichte eines Individuums das zu leisten versucht hat, was Herder in seiner ›philosophischen Meistererzählung‹ der Aufklärung, den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, für die Geschichte des Menschen als Gattung insgesamt im Blick hatte.
7. ›Beschluss‹: Die Ausdifferenzierung neuer Wissensformationen Herder und Moritz entwerfen ›Theaterszenen‹, die auf der Ur-Bühne der Menschheitsgeschichte spielen, und letzten Endes macht das auch Kant, wenngleich eher widerstrebend. Narrative erfüllen offensichtlich auch eine wichtige Funktion für die Erschließung neuer Wissensräume und innovativer Sehweisen. Weil die Autoren bekannte Phänomene mit einem ›anamorphotischen Blick‹ betrachteten, nahmen sie überraschende Strukturen wahr, die den allermeisten ihrer Zeitgenossen bis dahin verborgen geblieben waren.43 Das Autoren-Terzett hat damit nicht nur für die deutschsprachige Spätaufklärung, sondern auch für das Selbstverständnis der Aufklärung insgesamt einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet. Kant und Herder ebenso wie Moritz vermochten die Grenzen zu den neuen Wissenskontinenten der Anthropologie (Herder und Kant) und der Psychologie (Moritz) vor allem auch deswegen zu überschreiten, weil sie Altbekanntes neu (an)sahen und dadurch anders als ihre Vorgänger interpretieren konnten. In diesem Sinne waren alle drei ›Abenteurer der Vernunft‹.
43 Zum
epistemologischen Terminus »anamorphotischer Blick« vgl. Rahden: Der anamorphotische Blick, S. 31–45.
Paola Rumore
Eine fortgeschrittene Stimme in der deutschen Aufklärung Georg Friedrich Meiers Erzählungen einer aufklärerischen Weltweisheit Das Selbstverständnis einer Epoche entwickelt sich des Öfteren durch die Verbreitung jener Bilder, die von ihren Vertretern präsentiert werden. Unter solchen Bildern befinden sich am häufigsten – insbesondere im Gebiet der Philosophie und der Geisteswissenschaften – ›Erzählungen‹ einer Epoche, in denen man sowohl die Funktion als auch die Intention der jeweiligen zeitgenössischen Reflexion darlegt. Das gilt insbesondere für die Aufklärung, eine der selbstbewusstesten Epochen der Philosophie; nicht zufällig ist sie eine der ersten Epochen – wenn nicht sogar die erste – die sich durch die berühmte Fragestellung »Was ist Aufklärung?« ausdrücklich nach ihrem eigenen Wesen befragt. Die Gründe hierfür liegen zweifelsohne am sozialpädagogischen Selbstverständnis der Aufklärung, die bekanntermaßen der Öffentlichkeit eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, weshalb sie eine Popularisierung der Weisheit anstrebt. Einerseits kommt dem Gelehrten in der Aufklärung eine neue Rolle zu, andererseits werden neue Modelle der Verbreitung und Überlieferung der Weisheit entwickelt. Im Allgemeinen stellt sich die Aufklärung als eine Kulturform dar, die ihre Ideale und Zwecke erzählend propagiert. Meines Erachtens gilt es nicht nur für die allgemein bekannten Manifestationen der Französischen Aufklärung, deren literarischer Charakter außer Zweifel steht (man denke zum Beispiel an Diderot, an Voltaire, an den Marquis de Sade usw.), sondern auch für andere ›Nationalaufklärungen‹, die ihre ›erzählende‹ Dimension jedoch nicht unbedingt in Romanen, Erzählungen oder Geschichten äußern. In diesen Fällen drückt sich die erzählende Dimension in den mannigfaltigen neuen, nicht immer akademischen Formen philosophischer Tätigkeit aus, wie z. B. in Pamphleten, Gelegenheitsschriften, Journalen und Wochenschriften, die an ein breites Publikum adressiert sind. Ein eindrucksvolles Beispiel einer solchen ›Erzähltätigkeit‹ der deutschen Aufklärung liefert ein bedeutender preußischer Philosoph, der sein ganzes Leben an der Universität zu Halle tätig war. Es handelt sich um Georg Friedrich Meier (1718– 1777), den die Forschung erst in den letzten Jahrzehnten als einen der wichtigsten Protagonisten der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt hat. Vorher, wenn nicht ganz unbekannt, war Meier entweder als der Verfasser von Kants Logik-Handbuch – dem erfolgreichen Auszug aus der Vernunftlehre (1752) – bekannt, oder – gemeinsam mit Alexander Gottlieb Baumgarten – als einer der Mit-
Georg Friedrich Meiers Erzählungen einer aufklärerischen Weltweisheit
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begründer der philosophischen Ästhetik und Hermeneutik. Doch selbst nach der jüngsten Anerkennung seiner philosophischen Bedeutung wird Meier auch heutzutage noch als ein mehr oder minder treuer Anhänger der Schule Wolffs verstanden. Das gilt auch für jene Interpretationen, die seine Philosophie vorsichtig als eine ›avantgardistische Form‹ von Wolffianismus kennzeichnen. In seinen Schriften – die sowohl hinsichtlich der thematischen Fächerung als auch der Anzahl nach äußerst umfangreich sind – schildert Meier umfassend sein Verständnis der Aufklärung, indem er die Hauptmerkmale dieser Epoche erläutert. Zu diesem Verständnis gelangt Meier einerseits durch den damals üblichen Widerstand gegen die sogenannten Freigeister, les esprits forts, die er mit den ›neumodischen Weltweisen‹ identifiziert, andererseits aber durch die Distanzierung gegenüber dem Geist der rationalistischen Philosophie (d. h. – in Deutschland – dem Wolffianismus) und ihrer optimistischen und vertrauensvollen Auffassung der Vernunft. In dieser Gegenüberstellung wird die erzählende Natur seiner philosophischen Tätigkeit am deutlichsten, die er als ein wirksames Gegenmittel gegen den ›fanatischen Demonstriergeist‹ seiner Epoche versteht. Im Folgenden gehe ich auf die Auseinandersetzung Meiers mit eben diesen beiden philosophischen ›Antagonisten‹ ein, den Freigeistern und dem dogmatischen Rationalismus. Zunächst sollte man sich fragen, was Meier eigentlich unter ›neumodischer Weltweisheit‹ versteht. Was sind die Verfälschungen und Missverständnisse der Ideale und Zwecke der Philosophie, die seiner Meinung nach die sogenannten ›neumodischen Weltweisen‹ hervorbringen? Der Beantwortung dieser Fragen widmet Meier explizit zumindest zwei Schriften, die er Mitte der 1740er-Jahre verfasst. Die erste – die Gründliche Anweisung, wie jemand ein neumodischer Weltweiser werden könne – ist in der Form eines Sendschreibens an einen jungen Mann verfasst, der aus sich selbst »ohne sonderliche Geschicklichkeit und Mühe«1 einen Weltweisen machen will. In diesem »satyrischen«2 Aufsatz skizziert Meier mit bissiger Ironie die Beschaffenheit der Scharlatane der Philosophie, denen er – nach dem Titel einer zweiten zeitgenössischen Schrift3 – den wahren Weltweisen gegenüberstellt. In diesen ›Erzählungen‹ fasst Meier die Vorschriften der neumodischen Weltweisen (die er nach Phaedrus’ Formulierung als Asini ad Lyram‚ als Esel beim Lyraspielen darstellt) in 14 Regeln zusammen, die insgesamt die Laster der Philosophie aufzeigen. Dank ihrer aussagekräftigen Bezeichnungen verdienen zumindest einige von ihnen, hier erwähnt zu werden. Man trifft zum Beispiel die sogenannte »Antipriscianische Regel« 1 Georg
Friedrich Meier: Gründliche Anweisung, wie jemand ein neumodischer Weltweiser werden könne in einem Sendschreiben an einem jungen Mann [1745]. Hildesheim 2007, S. 5. 2 Mit dieser Formel wurde Meiers Schrift in einer Besprechung in den Pommerischen Nachrichten von gelehrten Sachen beschrieben (Bd. 8, 1745, S. 654 f.). 3 Vgl. Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen [1745, 2. verm. u. verb. Auflage: 1762]. Nachdr. der Ausgabe von 1745 Hildesheim 2007.
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(die Regel des latinorum, d. h. der oberflächlichen, nur scheinbaren Kenntnis der lateinischen Sprache), die »Regel des Klopffechters« (d. h. des animal disputax, der mit unendlichen und fruchtlosen Wortstreitigkeiten beschäftigt ist), die »Regel der petits maitres und der Marktsschreier« (die dem vernünftigen Zuhören das törichte Schreien bevorzugen), die »Regel der Orthodoxie« (d. h. die alte vertraute Regel des ipse dixit), die »Regel der Freidenker und der Zeitungsschreiber« (die ihre Meinungen ständig in einem hochmütigen, provokativen, unverschämten und kritischen Ton aussprechen), und noch die »Regel der Kinder« (die niemals zugeben, unrecht zu haben) – insgesamt drücken diese Regeln ein Verständnis der Weltweisheit aus, das ihre wesentlichen Pflichten und Nutzen verkennt.4 »Unwissenheit, Übereilung, Unverschämtheit, Leichtsinnigkeit, Stolz machen das Rezept zu einem starken Geist aus, und es ist unmöglich, daß derselbe ein großer Weltweiser seyn könne«.5 Die Pflichten und Nutzen der wahren Weltweisheit, die Meier im Anklang an die Tradition der Thomasischen Frühaufklärung konzipiert, wurden teilweise auch von Wolff vertreten. Auch nach Wolff soll zum Beispiel die Weltweisheit an erster Stelle klar, eindeutig, gründlich, nützlich, öffentlich und nicht selbstbezogen sein; sie soll den praktischen Zwecken des Lebens dienen und die allgemeine (nicht nur intellektuelle) Verbesserung des Menschen fördern. Nebst diesen Zwecken – die kanonisch nach Max Wundt als die allgemeinen wesentlichen Kennzeichen des Menschenalters der deutschen Aufklärung verstanden wurden6 – entwickelt aber Meier eine eigene Weltanschauung, die ihn viel näher zu den Idealen der frühen und späten Aufklärung bringt, als zu denen der aetas wolffiana, zu der er eigentlich gehörte. Das führt uns direkt zum zweiten Schritt dieser schematischen Darstellung von Meiers philosophischer Auseinandersetzung, nämlich jener mit dem dogmatischen Rationalismus der Wolffianer. In der europäischen Aufklärungsforschung unumstritten beginnt die Verbreitung der ›europäischen aufklärerischen Ideen‹ in Deutschland erst relativ spät. Umstrittener ist jedoch, dass die Aufklärung in Deutschland sich linear entwickelt. Christian Wolff – der aufklärerische Melanch thon, der neue praeceptor Germaniae – hatte eigentlich für ein philosophisches Ideal plädiert, das noch weit entfernt war von jenem, das sich zu dieser Zeit in Europa gerade durchsetzte. Durch Wolffs zahlreiche vernünftige Gedanken, die er sowohl in seinen deutschen Schriften, als auch in den späteren lateinischen Werken auf jedes Gebiet des menschlichen Wissens und Handelns richtet, setzt sich ein Verständnis der Philosophie durch, das in seinen allgemeinen Zügen noch auf die rationalistischen Modelle des 17. Jahrhunderts verweist. Wolffs unbegrenztes Vertrauen in die menschliche Vernunft, die prinzipiell mithilfe einer strengen Methode eine 4 Alle
Zitate sind in Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen, S. 46.
5 Ebd. 6 Vgl.
Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung [1945]. Hildesheim 1992.
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eindeutige und begründete bzw. wissenschaftliche Erkenntnis in allen Wissensgebieten erlangen könne, schließt jede Überlegung hinsichtlich einer Begrenzung des menschlichen Erkenntnisvermögens aus. Aufklärung heißt bei Wolff die Gedanken und Vernunftvorgänge transparent zu machen, d. h. eine Form von Klarheit zu gewinnen, durch die sowohl die Missverständnisse unter den Philosophen, als auch die Fehler in den Schlüssen des gemeinen Verstandes vermieden werden können. Auch wenn sich bei Wolff eine eindeutige Bewertung der Hauptzüge der aufklärerischen Strömung findet (z. B. des Primats des Praktischen, der Unabhängigkeit der Philosophie von der Religion, der Erweiterung der Weltweisheit zu den konkreten und sogar technischen Gebieten des menschlichen Lebens), zeugt seine Haltung bezüglich der Beschaffenheit und der unendlichen Potenzialität der menschlichen Vernunft von einer gewissen Rückständigkeit im Spektrum der Europäischen Aufklärung. Über dieses Verständnis hinaus zeigt Wolff kaum Interesse an einer bloßen deskriptiven Betrachtung der menschlichen Natur, der er immer wieder eine präskriptive Analyse vorzieht. Selbst seine erfolgreichste und fruchtbarste Erfindung, nämlich die empirische Psychologie, versteht er als Teil der Metaphysik, der bloß den empirischen Ansatzpunkt und die konkrete Bestätigung einer rationalen bzw. a priori gewonnenen Erkenntnis der menschlichen Natur liefert. Aus diesen Gründen und zumindest in dieser Hinsicht scheint Wolffs Verständnis der Philosophie einen Schritt hinter Christian Thomasius’ Ideal einer philosophia aulica zurückzutreten. Das früh- und spätaufklärerische Thema der ›Schranken der Vernunft‹ bleibt zum Beispiel bei Wolff praktisch unberührt. Sowohl die frühaufklärerische misstrauische Haltung gegenüber den Erkenntnismöglichkeiten der menschlichen Vernunft als auch die Bereitschaft, die gesamte menschliche Natur einschließlich ihrer wesentlichen Schranken und minderwertigen Aspekte zu berücksichtigen, wird in Deutschland erst seit der Mitte der 1 740er-Jahre wieder populär. In diesem Vorgang spielt Meier eine bedeutsame Rolle. Sowohl in den schon erwähnten Beiträgen gegen die neuen Weltweisen seit der Mitte der 40er-Jahre als auch in einigen späteren Schriften, die er außerhalb seiner akademischen Veröffentlichungstätigkeit verfasst, stellt Meier das Thema der Schranken der menschlichen Vernunft ins Zentrum seiner Betrachtungen. Seine Untersuchungen konzentrieren sich auf die folgenden zwei miteinander verbundenen Schwerpunkte: 1. eine starke Kritik an Wolffs Optimismus der Vernunft; 2. eine revidierte Auffassung des Charakters und der Zwecke der Philosophen. 1. Die Schranken der Vernunft werden bei Meier in Auseinandersetzung mit Wolff unter zwei Aspekten beleuchtet. Der erste betrifft die ›objektiven‹ Schranken der Vernunft, d. h. das System der Wahrheiten, das sowohl für Meier als auch für Wolff unveränderlich, ewig und immer gültig ist. Während aber aus Wolffs Sicht der
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Weltweise seine eigene Vernunft stufenweise verbessern sollte, um demzufolge zum vollkommensten Grad der Erkenntnis (was ihm prinzipiell möglich ist) zu gelangen, befindet sich Meiers Gelehrter in einem ganz anderen Zustand. »[E]in rechtschaffener Weltweiser […] hütet sich für [sic] der rasenden Bemühung, alle philosophische Wahrheiten zu erlernen, und die ganze Weltweisheit zu erobern. Das hiesse den Himmel stürmen, und mit den Titanen den Thron Jupiters einnehmen wollen.«7 Der Weg zur Erkenntnis der ganzen Weltweisheit ist ihm naturaliter versperrt. Im Gegensatz zum titanischen Optimismus Wolffs glaubt Meier, dass das riesige Feld der Erkenntnis nicht in seiner Ganzheit den Weltweisen zur Verfügung steht. Der wahre Weltweise weiß wohl, dass die Menge der unbekannten Länder in der Weltweisheit unendliche mal die Zahl derjenigen übersteige, die er als ein Mensch erkannt hat, oder erkennen kan; und daß er nicht die geringste Hoffnung habe jene insgesamt einmal zu entdecken. Ja, ein wahrer Weltweiser ist überzeugt, daß es unendlich viele Wahrheiten gebe, die er zwar erkennen und sich davon überzeugen könne, aber nicht als ein Weltweiser. Es giebt viele Wahrheiten, die schlechterdings von uns Menschen nicht philosophisch erkannt werden können.8
In diesem unendlichen Feld erkennt der Weltweise eine Hierarchie der Erkenntnisse an, nach der er seine philosophische bzw. vernünftige Untersuchung orientiert: Am ehesten soll er die Kenntnisse gewinnen, die die Tugend, die Glückseligkeit und die Vollkommenheit der Welt befördern. Der Weltweise soll aber wissen, dass in diesem System der objektiven Wahrheiten nur einige ihm in ihrer vernünftigen Klarheit erschlossen werden. Der zweite Aspekt der Schranken der Vernunft betrifft dagegen die ›subjektiven‹ Beschränkungen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Diesbezüglich sei hier nur am Rande erwähnt, dass Meier im Jahr 1754 als erster, nach einem Befehl von Friedrich dem Großen, in Preußen ein Kolleg über Lockes Essay hält. Ganz konsequent mit Lockes Aussagen schreibt er: »[das] ernstliches Bemühen [des Weltweisen], viele philosophische Wahrheiten zu erkennen, bleibt in den Schranken, womit die Notwendigkeit seines Wesens seinen Verstand umgeben hat«.9 Im Gegensatz zu Wolff ist Meier davon überzeugt, dass die menschliche Natur notwendig beschränkt ist und dass die Kenntnis solcher Schranken die erste Pflicht und Aufgabe des Philosophen darstellt. Das drückt sich im Anspruch aus, seine Kräfte zu messen und seine Mühe nur auf solche Untersuchungen anzuwenden, die den genannten Hauptzwecken der Weltweisheit entsprechen (d. h. – in Meiers Worten – »Frucht7 Meier:
Abbildung eines wahren Weltweisen, S. 25. S. 26. 9 Ebd., S. 26 f. 8 Ebd.,
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barkeit, Nützlichkeit und Brauchbarkeit«10). »Ein Weltweiser macht alles was zum philosophieren gehört, dem Grade der Wichtigkeit seines jedesmaligen Gegenstandes proportioniert«.11 Die spekulativen Wahrheiten der rationalen Psychologie (die Unsterblichkeit der Seele, den Status post mortem usw.) zählt Meier beispielsweise zu diesen unnützen Gedanken, die sich supra horizontem humanae cognitionis stellen. Wie Kant im wörtlichen Sinne Meiers behaupten wird: Wer daran denkt, »der denkt nicht proportioniert genug. Ars longa, vita brevis«.12 2. Diese radikale Kritik von Wolffs Optimismus der Vernunft führt direkt zum zweiten Punkt dieser Untersuchung, d. h. zu Meiers revidierter Auffassung des Charakters und der Zwecke der echten Philosophen. In seinen Schriften stellt er den Weltweisen nicht mehr als denjenigen dar, der durch die Fertigkeit seines demons trierenden Geistes alle Gebiete des Wissens erforschen kann. Der Philosoph ist vielmehr ein wahrer Selbstdenker, d. h. jemand, der sich erlaubt, mit Hilfe seiner eigenen Vernunft an den gegebenen Wahrheiten zu zweifeln, und der die Fähigkeit besitzt zu verstehen, dass die gemeinsamen Wahrheiten (sowohl a priori, als auch a posteriori) oftmals lediglich auf Vorurteilen beruhen und eben deswegen nicht als gewisse bzw. bewiesene Wahrheiten anzusehen sind. Den Weltweisen versteht Meier demzufolge als einen »particulären Zweifler«, d. h. als jemanden, der im Stande ist, »auf eine unparteysche und gründliche Art dasjenige zu prüfen«, was die Vernunft uns in den verschiedenen Erkenntnisgebieten sagen kann.13 Das heißt nicht, sich als einen Freund des Skeptizismus (als einen »allgemeinen Zweifler«) zu begreifen, sondern »um der Schrancken seiner Vernunft willen, in vielen Stücken [der Erkenntnis] ein Zweifler [zu] seyn«.14 Die zentrale Rolle des Zweifelns sowie das anthropologisch begründete Nachdenken über die Schranken der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und über die verschiedenen nicht-rationalen Beweggründe des menschlichen Handelns sind regelmäßig wiederkehrende Leitmotive in Meiers Schriften, die sich noch in seinen späten Betrachtungen in Form einer pragmatischen Aufwertung der Vorurteile für das menschliche Leben wiederfinden.15 Im alltäglichen Leben tauchen oft wichtige 10 Ebd., 11 Ebd.
S. 64.
12 Immanuel
Kant: Refl. 2085. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 22 Bde. Bd. 16. Berlin 1924, S. 227. 13 Georg Friedrich Meier: Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister [1747]. Eingel. v. Björn Spiekermann. Hildesheim 2012, S. 6* (n. pag.). 14 Ebd., S. 7* (n. pag.). 15 Vgl. Paola Rumore: Un wolffiano diffidente. Georg Friedrich Meier e la sua dottrina dei pregiudizi. In: Georg Friedrich Meier: Contributi alla dottrina die pregiudizi del genere umano/ Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts [1766]. Hrsg. v. Norbert Hinske, Heinrich P. Delfosse u. Paola Rumore. Pisa 2005, S. V–XXXVI; vgl. auch Wer-
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Wahrheiten auf, die vom Standpunkt der Vernunft lediglich aus Vorurteilen bestehen, nichtsdestotrotz aber nützlich und im Allgemeinen ›gut‹ sind. Der wahre Werth einer jeden Erkenntniß, und der mannigfaltigen Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten derselben, beruhet auf den Nutzen oder Schaden, den sie in Absicht unserer gesamten Glückseligkeit verursachen. Es ist demnach kein Zweifel, daß wir diejenigen vermeidlichen Vorurtheile in der That verhüten müssen, über deren Vermeidung wir keine nöthigere und nützlichere Erkenntniß versäumen, und die uns einen solchen Irrthum oder eine solche Scheingewißheit verursachen, welche uns vielen Schaden thun, welche uns zu Lastern verleiten, welche uns in grosse Thorheiten stürzen, und wie man sich den Schaden vorstellen will, der daher entsteht.16 Im Gegentheil, wenn wir Urtheile fällen sollen, die in unsere gesamte Glück seligkeit oder Unglückseligkeit keinen merklichen Einfluß haben; solche Urtheile, deren Gegenstände unerhebliche Kleinigkeiten sind, und durch welche Handlungen entstehen, auf welche beynahe Nichts ankommt, wir mögen sie thun oder lassen, sie auf diese oder eine andere Art verrichten: so ist es nicht der Mühe werth, sie ohne Uebereilung zu fällen. Alsdenn ist es vernünftig, nach Vorurtheilen zu urtheilen, wenn wir auch Kräfte genug haben solten, das Vorurtheil zu verhüten.17 Freylich, wann ich in einem andern ein Vorurtheil entdecke, welches nicht nur an sich falsch ist, sondern welches ihm noch dazu lauter Schaden, oder mehr Schaden als Nutzen bringt, und wenn ich im Stande bin, ihn von diesem Vorurtheile zu befreyen: so handele ich der redlichen Menschenliebe zuwider, wenn ich ihm nicht die Augen zu öfnen suche. Allein, wenn ich in einem andern Menschen ein richtiges Vorurtheil entdecke; oder wenn ich zwar in einer Erkenntniß ein falsches Vorurtheil entdecke, so ihm aber mehr nutzt als schadet; wenn ich erkenne, daß der andere entweder gar nicht im Stande ist, die Uebereilung zu verhüten, oder daß er doch, wenn er sie verhüten wolte, darüber nöthigere und nützlichere Untersuchungen und Beschäftigungen versäumen würde: so ist es der redlichen Menschenliebe vollkommen gemäß, den andern in seiner Verblendung zu lassen, und ihn nicht von seinen Vorurtheilen zu befreyen. Wir dulden alsdenn in unserm Nebenmenschen ein kleineres Uebel; um ein grösseres zu verhüten; wir würden das Uebel nur ärger machen, wenn wir ihn in diesem Falle von seinem Vorurtheile befreyen wolten.18
In einer solchen entzauberten Sichtweise, welche die Vernunft in ihren wesentlichen Schranken und Schwächen betrachtet, verbirgt sich die Modernität Meiers, sein originär aufklärerischer Geist, der es ihm ermöglicht, zu einem tiefen und eingehenden ner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 208–231. 16 Meier: Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, § 49. 17 Ebd., § 50. 18 Ebd., § 51.
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Verständnis der menschlichen Natur zu gelangen. In seinen Untersuchungen bringt Meier seine Fähigkeit zum Ausdruck, die menschliche Natur und ihre Neigungen zu beobachten und rein beschreibend zu analysieren. Doch geht diese Beschreibung einen Schritt weiter als die natürliche Logik und die empirische Psychologie Wolffs und richtet sich auf eine anthropologische Betrachtung im engeren Sinn. Meiers Blick auf die menschliche Natur setzt eine übergeordnete Perspektive an, in der den scheinbar ›unwürdigen‹ ›armseligen‹ Äußerungen der menschlichen Natur (z. B. der natürlichen Neigung zur Neuheit, zum Vorurteil, zur Herrschaft der Sinne usw.) Raum gewährt wird: Solche menschlichen Neigungen sollten nicht unbedingt korrigiert werden, insofern sie eine Funktion in der allgemeinen Lebensökonomie des Einzelnen haben. Die Komplexität der menschlichen Natur erschließt sich Meier in ihrer ganzen Tragweite. So fühlt er sich am Ende seiner unermüdlichen Untersuchung dazu gezwungen zuzugeben, dass »wir Menschen selbst eine unerforschliche Sache sind«19 – zweifelsohne im Kontext seiner Zeit eine unverständliche wie unerhörte Feststellung. Das Verständnis des Philosophen als eines »particulären Zweifler[s]«,20 das Akzeptieren der Schranken der menschlichen Vernunft, die Betrachtung der konkreten menschlichen Natur in allen ihren Äußerungen, die Rehabilitierung (ante litteram) der Vorurteile, die Aufwertung der pragmatischen Dimension der Erkenntnis – das alles kennzeichnet Meiers philosophische Wirkung innerhalb des Panoramas der deutschen Hochaufklärung und seinen Beitrag, die deutsche Philosophie der Zeit an die Ideen eines Lockes, eines Humes, eines Voltaires und eines Rousseaus anzunähern.
19 Georg
Friedrich Meier: Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode. Halle
1746, § 168. 20 Meier: Rettung der Ehre, S. 6* (n. pag.).
Martin Urmann
Narration und Kontingenz Erzählungen des Verfalls bei Montesquieu und Rousseau zwischen akademischem Diskurs und literarischem Entwurf1
1. Zwei Diagnosen des Verfalls »La plupart des peuples d’Europe sont encore gouvernés par les mœurs. Mais, si, par un long abus du pouvoir; si, par une grande conquête, le despotisme s’établissait à un certain point, il n’y aurait pas de mœurs ni de climat qui tinssent; et […] la nature humaine souffrirait«.2 Was Charles-Louis de Secondat, der Baron von Montesquieu, im VIII. Kapitel des VIII. Buches von De l’esprit des lois verheißt, ist nichts weniger als die imminente Möglichkeit eines Verfalls der politischen und moralischen Grundlagen der europäischen Zivilisation. Diese Verfallsperspektive macht Montesquieu nicht einfach zu einem »Propheten des Untergangs«, wie Hannah Arendt, seine luzideste Kommentatorin unter den Modernen, betont hat. Es ist gerade der »kalte und nüchterne Mut«,3 den man nicht mit Zynismus oder der distanzierten Unparteilichkeit des Wissenschaftlers verwechseln sollte, der dieser politischen Konstellationsanalyse abseits tradierter zyklischer Vorstellungen von Aufstieg und Niedergang ihre so verunsichernde Kraft gibt; heute vielleicht noch mehr als zu ihrem ursprünglichen historischen Zeitpunkt. Das Bemerkenswerte der Analyse Montesquieus ist dabei der Fokus auf die sukzessive Aushöhlung der politischen Kultur, ja der Natur des Menschen selbst. Dieser Aushöhlung leisten für den Autor des Esprit des lois nur noch »les mœurs«, das heißt soziale Konventionen, nicht mehr jedoch politische Institutionen und eine aktive politische Praxis, Vorschub. Insofern markiert die eingangs zitierte Stelle einen symptomatischen Punkt im Denken Montesquieus, und dies sowohl in thematischer als auch in epistemologischer Hinsicht. Sie führt uns zu jenem Ort im montesquieuschen Werk, wo Inhalt und Form ineinander übergehen: Im Lichte 1 Die
dieser Arbeit zugrundeliegenden Forschungen sind in dem an der Freien Universität Berlin angesiedelten DFG-Sonderforschungsbereich 980 »Episteme in Bewegung« entstanden und dort im Teilprojekt A07 »Erotema. Die Frage als epistemische Gattung im Kontext der französischen Sozietätsbewegung des 17. und frühen 18. Jahrhunderts« verortet. 2 Montesquieu: De l’esprit des lois. In: Ders.: Œuvres complètes. Hrsg. v. Roger Caillois. 2 Bde. Bd. 2. Paris 1951, S. 227–996, hier: 356. 3 So Arendt in ihrer Kommentierung der zitierten Stelle des Esprit des Lois. Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München/Zürich 1994, S. 118.
Erzählungen des Verfalls bei Montesquieu und Rousseau
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der Verfallstendenzen der Ordnung des Ancien Régime wie im Angesicht des von Montesquieu früher analysierten Untergangs des römischen Reichs offenbart sich eine politische Prozessdynamik, mehr noch eine kontingente Geschichtserfahrung, die nicht länger in ein deduktives System, aber auch nicht durch bloße empirische Detailarbeit zu fassen ist. Von diesem gedanklichen Ausgangspunkt her setzt die Geschichtserzählung in Montesquieus Werk mit den Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence ein. Im Zeichen der ihr eigenen Verfallsperspektive gelangt sie zu neuen Formen philosophischer Erkenntnis. Ein Jahr nach dem Erscheinen der Erstausgabe des von ihm wenig geschätzten Esprit des lois in Genf macht sich der Bürger dieser Stadt Rousseau im Herbst 1749 an die Beantwortung der Preisfrage der Akademie von Dijon Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les mœurs. Rousseaus skandalträchtige Negativantwort auf diese Frage hat ihm bekanntlich den Preis der Akademie eingebracht. Weniger bekannt ist, wie diese, alsbald für die Entscheidung unter Druck geraten, ihre Wahl gerechtfertigt hat. Denn anders als von der Forschung lange dargestellt,4 handelt es sich nicht um das ergebene Votum einer von Rousseaus Rhetorik überwältigten Jury. Vielmehr wird in der Erklärung der Akademie ein distinktes Urteilskriterium angeführt, das mit Bezug auf die Eingabe des Abbé Talbert, des Autors, der hinter dem Laureaten Rousseau und einem weiteren Konkurrenten mit seiner wohlgemerkt affirmativen Antwort ebenfalls lobend erwähnt wurde, wie folgt erläutert wird: »M. Talbert a fait valoir l’utilité des Sciences et leur nécessité; la question de droit a été épuisée et mise dans le plus beau jour; mais [… ] il a négligé la ques tion de fait, la seule dont il s’agissait dans le problème«.5 Die Akademie, so heißt es weiter, »ne demandait pas si les Sciences pouvaient épurer les mœurs, [… ] mais si elles les avaient réellement épurées«. Talbert hingegen habe »toujours argumenté du fait par le droit«,6 wo doch exakt das Gegenteil gefragt gewesen sei. Dieser von der Akademie stark gemachten kategorialen Unterscheidung zwischen der theoretischen und der am konkreten Fall (weniger den ›Fakten‹) orientierten Argumentation wird im Zusammenhang mit der ausgeschriebenen Preisfrage folglich auch eine geschichtliche Dimension zu eigen.7 Die Tatsache, dass selbst in einem stark von der Schulrhetorik geprägten Genre wie dem prix académique 8 eine 4 Siehe
dazu Jeremy L. Caradonna: The Enlightenment in Practice. Academic Prize Contests and Intellectual Culture in France, 1670–1794. Ithaca/London 2012, S. 118–142, hier: 123 f. 5 Diesen Text publizierte die Akademie als Teil des Sitzungsberichts zu ihrer »Assemblée publique« im Mercure de France, November (1750), S. 82–97, hier: 95. 6 Ebd. 7 Darauf deutet noch vor der ausführlichen Erklärung der Akademie mit dem auffälligen Plusquamperfekt in der Formulierung: »si elles les avaient réellement épurées« schon die Fragestellung selbst hin: »Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les mœurs?« [Herv. d. Verf.]. 8 Siehe dazu den Aufsatz des Verfassers: Zwischen ›prix de dévotion‹, Wissensreflexion und
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Aspekte · 2. Sektion · Martin Urmann
Frage zur Moralphilosophie in historischer Perspektive beantwortet werden sollte, ist ein deutliches Indiz für die Ausbreitung eines Wissensmodus, der nicht deduktiv oder in isolierbaren Propositionen verfasst ist, sondern auf die Sequenzialisierung seiner an eine bestimmte Perspektive und Form der Darstellung gebundenen Aspekte in der Zeit setzt.9 Die Narration begann, ihre historische Wirkung in der Aufklärung zu entfalten. An den Werken Montesquieus und Rousseaus zeigt sich in eminenter Weise, dass die Erzählung nicht nur äußeres Gestaltungsmittel, sondern Ausdruck eines eigenen philosophischen Ansatzes ist, der die Aporien etablierter philosophischer Systeme gerade als Paradoxien fruchtbar macht und sie in der Zeit und über geschichtliche Narrative entfaltet. Daher vermag die Philosophie Montesquieus und Rousseaus – von unterschiedlichen Ausgangspunkten und mit divergierenden Zielen –, sich in so ungeahnter Weise zu öffnen für die Kontingenzen des Geschichtsprozesses. Im Folgenden möchte ich in einem stark selektiven Zugriff bestimmte Funktionen und Facetten der Narration im Discours sur les sciences et les arts (1750) und den Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) beleuchten als zwei besonders wirkmächtige Erzählungen des Verfalls.
2. Die Geschichte als Verfall im Discours sur les sciences et les arts Man muss sich die Radikalität der These Rousseaus im Premier Discours und die Art ihrer ästhetisch-narrativen Präsentation klar vor Augen führen. Auf wenigen Seiten entfaltet der Autor scheinbar gemäß den formalen rhetorischen Vorgaben des akademischen Genres der Preisfrage eine fundamentale Kulturkritik als Verfallsgeschichte seiner Epoche. Diese meint, den Fortschritt zu realisieren, befindet sich in Wahrheit jedoch in einem Prozess der totalen Entfremdung. Nun gibt es zwar spätestens seit der Querelle des Anciens et des Modernes zahlreiche Vorläufer für die zugespitzte Kritik des eigenen Zeitalters. So bezieht sich Rousseau im Premier Discours in impliziter Form auch auf La Bruyère und Bossuet, mehr aber noch auf Montaigne.10 Ferner hatte auch die ideologiekritische Hinterfragung und Entlarvung sozialer Konventionen bei Pascal einen frühen Höhepunkt erreicht. Was Rousseaus Reformdiskurs. Die Preisfragen der französischen Akademien als literarische und epistemische Gattung und die Frage nach dem ›Jugement du Public‹ an der Akademie von Besançon aus dem Jahr 1756. In: Aufklärung 28 (2016), S. 105–133. 9 Der Begriff der Narration, der den folgenden Überlegungen theoretisch zugrunde liegt, ist dem Ansatz von Paul Ricœur verpflichtet. Siehe ders.: Temps et récit. 3 Bde. Bd. 3. Le temps raconté. Paris 1985. 10 Siehe dazu die einschlägigen Kommentare der Editoren in der Pléiade-Ausgabe: JeanJacques Rousseau: Œuvres complètes. Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. 5 Bde. Bd. 3. Paris 1964, S. 1237–1256.
Erzählungen des Verfalls bei Montesquieu und Rousseau
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Kritik ihre Singularität verleiht, ist die Kombination dreier Elemente, von denen uns hier das historisch-narrative am meisten zu interessieren hat. Zunächst ist die Vehemenz der Kritik zu nennen. Die bedingungslose Radikalität, mit der die Wissenschaften und Künste als die ideologische Zementierung, gar als die verklärende Akklamation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse entlarvt werden,11 muss man kategorial, wie ein systematisch vorgebrachtes Argument ernst nehmen – samt ihrem systematisch uneinholbaren rhetorischen Überschuss. Auf derselben Linie liegt die Intensität der Kritik am historisch eingetretenen Grad der Entfremdung und des Verfalls. Grenzenlos ist das Ausmaß der »corruption« und der »dépravation«, universell die »dégénération«, die in allen gesellschaftlichen Feldern um sich gegriffen und insbesondere die Grundlagen von Bildung und Erziehung pervertiert hat.12 Sämtliche Errungenschaften der Zivilisation gelten Rousseau letztlich als Formen sublimierter und dadurch gesteigerter Unterdrückung des seiner eigenen Identität verlustig gehenden Menschen.13 Entscheidend sind schließlich die Qualität von Rousseaus Verfallserzählung als philosophische Fundamentalreflexion und der dieser Erzählung zugrunde liegende Geschichtsbegriff. Rousseau übt im Premier Discours keine partielle Kritik an bestimmten Entwicklungsstufen der abendländischen Kultur, sondern er argumentiert vor dem – impliziten – Hintergrund einer philosophischen Anthropologie und genetischen Theorie kultureller Ordnung, die letztlich in einem ästhetischen Entwurf von autonomer Subjektivität wurzeln.14 Dies macht die Grundsätzlichkeit seiner Kritik aus, die die historisch-kulturelle Entwicklung von ihren konstitutiven Bedingungen selbst her als in die Selbstentfremdung des Menschen mündend betrachtet. Rousseaus philosophische Reflexion setzt so tief an, dass sie die herkömmlichen moralischen und intellektuellen Kategorien zur Beurteilung dieser Entwicklung nicht gelten lassen kann. Diese sind, das ist eine der bleibend aktuellen Implikationen seines praxeologischen Ansatzes, von der Materialität des herrschenden Kulturprozesses selbst bestimmt und müssen daher fundamental verschoben werden. Dieser Verschiebung dienen insbesondere auch die rhetorischen Übertreibungsformen, die durch den gesamten Premier Discours präsent sind und mitunter in reine Ironie umschlagen. Diese kalkulierten Maßlosigkeiten, gipfelnd in der Verkehrung des sokratischen ›scio me nihil scire‹,15 sollen keine plausiblen Aussa11 Siehe
dazu nur den Vorwurf der ästhetisch-intellektuellen Verschleierung der »esclavage«, gleich zu Beginn des Premier Discours, ebd., S. 1–30, hier: 7. 12 Siehe dazu ebd., S. 24 f.; für die einschlägigen Begriffe insb.: S. 9 f u. S. 21 f. 13 Siehe dazu insb. Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Paris 1957, S. 13 ff. 14 Siehe dazu kritisch Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. München/ Zürich 122001, S. 47 ff. 15 Siehe Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 13 f.
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gen treffen, sondern in ihrer Intensität irritieren und damit kulturelle Gewissheiten aufbrechen. Das haben fast alle zeitgenössischen Kritiker übersehen, die mehr oder weniger sachlich gegen diese Dimension von Rousseaus Entwicklungsgeschichte des Verfalls vorgegangen sind.16 Fundamental verschoben wird im Premier Discours nun vor allem auch das rhetorische Historia-Verständnis, und dies in einem Text, der sich an der Oberfläche so täuschend perfekt an die rhetorischen Leitmuster der Preisfragengattung hält. Lob und Tadel verteilend, speist sich Rousseaus im hohen Stil gehaltene und mit reichem Ornatus ausgestattete Verfallserzählung maßgeblich aus beispielhaften historischen Begebenheiten. Diese werden vordergründig nach der tradierten Methode rhetorischer exempla dargestellt und verleihen dem Text seine enorme erzählerische Anschaulichkeit. Trotz der zahlreichen Beispiele aus der Geschichte der Alten und der gemimten klassischen Rednerpose Rousseaus sind wir freilich weit entfernt von einem Geschichtsbegriff, der den Bericht der ›res gestae‹ zum Zwecke der Belehrung heranzieht.17 Rousseaus philosophisch gewendeter Rhetorik bzw. seiner rhetorischnarrativen Philosophie geht es nicht um die Präsentation partikularer Fallbeispiele auf finalisierbare Maximen hin. An ihnen soll sich vielmehr etwas zeigen unter Rückbezug auf das Ganze des Verfallsnarrativs, das neue philosophisch-anthropologische Fundamente besitzt, über die tradierten rhetorischen Vorstellungen hinaus. Von diesem Verfallsnarrativ her erhalten die vermeintlichen exempla ihre eigene, nicht von ihrem philosophischen Kontext ablösbare Bedeutung. Deshalb waren die zahlreichen Versuche, Rousseau über seine Beispiele aus der Geschichte zu widerlegen, von vornherein zum Scheitern verurteilt, sowohl in dem Bestreben, diese anders zu werten als auch sie von ihrer sachlichen Grundlage her zu korrigieren. Solche Einwände wurden bald nach dem Erscheinen des Premier Discours gerade von Mitgliedern der Akademien vorgebracht. Sie ergaben nur, dass Rousseau mit dieser Art von Kritik auf dem narrativen Terrain nicht beizukommen war, auch wenn die Entgegnungen noch so vehement vorgetragen wurden. Dies zeigen insbesondere Rousseaus Repliken auf Charles Bordes, Joseph Gautier und Claude-Nicolas Le Cat, der in einer Art kommentierten Neuedition von Rousseaus Text sogar eine »réfutation« Satz für Satz unternommen hatte.18 Wenn Rousseau im Lettre à l’Abbé Raynal im Juni 1751 auf einen Kritiker antwortet, er habe mehr als nur eine isolierte Epoche der Dekadenz beschrieben: »j’ai rendu ma proposition générale: j’ai assigné ce premier degré de la décadence des mœurs au premier moment de la culture des Lettres […], et j’ai trouvé le progrès de 16 Siehe
dazu unten. dazu Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 42000, S. 38–66, hier: 40 f. 18 Siehe dazu ausführlich Caradonna: The Enlightenment in Practice, S. 131 ff. 17 Vgl.
Erzählungen des Verfalls bei Montesquieu und Rousseau
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ces deux choses toujours en proportion«,19 dann kündigt sich der neue Prozessbegriff von ›der Geschichte‹ an,20 der im Premier Discours bereits implizit als gedankliche Konzeption aktiv ist. Rousseaus Verfallsnarrativ begreift das Kontinuum der Geschichte,21 über die Partikularität der res gestae hinaus, als einen umfassenden Wirkungszusammenhang, in den alle Betrachter immer schon eingelassen sind. Daher kann Rousseau der von ihm diagnostizierten Verblendung durch ›les sciences et les arts‹ auch solch universelle Geltung beimessen. Von diesem neuen Begriff der Geschichte bezieht Rousseaus Verfallserzählung ihre ungemeine, nicht nur philosophische Brisanz.
3. Der Untergang Roms Mit Montesquieus Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence kommen wir zum anderen großen Verfallsnarrativ in der Philosophie der Lumières, das eine elementare Kontingenzerfahrung mit ästhetisch-literarischen Mitteln theoretisch fassbar macht, wenn auch freilich ganz anders als bei Rousseau. Als Beschreibung der historischen Entwicklung Roms sind die Considérations von Montesquieu als Beitrag zur Historiographie seiner Zeit intendiert. Dabei greift der Autor mit der Geschichte des römischen Reichs bewusst zu einem Thema, das über den historiographischen Diskurs hinaus zentralen Stellenwert für das kulturelle und politische Selbstverständnis der Epoche besaß, auch nach der Querelle des Anciens et des Modernes. Just zu diesem will Montesquieu in den Considérations einen Beitrag liefern.22 Zunächst aber brachten die Considérations eine richtungweisende Leistung für die zeitgenössische Geschichtswissenschaft sowohl auf der thematisch-inhaltlichen Ebene – Beaufort und Gibbon haben den Einfluss Montesquieus auf ihr Schaffen ausdrücklich bekundet –, aber auch in methodologischer, das heißt quellenkritischer Hinsicht.23 Ohne Rücksichtnahme auf ihre Stellung im traditionellen Kanon unterzieht Montesquieu die überlieferten Texte griechischer und römischer Autoren, als deren umfassender Kenner er sich erweist, einer vergleichenden quellenkritischen Lektüre. Er setzt diese literarischen Zeugnisse zu rechts-, militär- und wirtschafts19 Rousseau:
Œuvres complètes. Bd. 3, S. 32. Koselleck: Historia Magistra Vitae, S. 47 ff. sowie Koselleck et al.: Art. Geschichte. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 5 Bde. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 593–717, hier: 647 ff. 21 Siehe auch Kosellecks Ausführungen zu Rousseau in: ebd., S. 638–640 u. 669 f. 22 Siehe Vanessa de Senarclens: Montesquieu, historien de Rome. Un tournant pour la réflexion sur le statut de l’histoire au XVIIIème siècle. Genf 2003. 23 Siehe ebd., S. 209 ff. 20 Siehe
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geschichtlichen Befunden parallel, um zum konkreten Boden der historischen Tatsachen vorzustoßen, abseits nicht nur von Fabeln und Mythen, sondern auch von tendenziöser Historiographie.24 Mit diesem Teil seiner Geschichtsschreibung steht Montesquieu jedoch weniger in der originären Tradition der Aufklärung, sondern vielmehr auf den Schultern der historischen Gelehrsamkeit des 17. Jahrhunderts. Der Ansatz der dort aufkommenden historischen Hilfswissenschaften, die die Regeln und den Gegenstandsbereich der herkömmlichen rhetorischen Geschichtsschreibung aufbrachen, war freilich ein dezidiert antinarrativer, insofern es ihren Vertretern prinzipiell um die Sammlung und Ordnung konkreter Fakten ging.25 Diese Form der positiven Gelehrsamkeit hatte in Frankreich mit der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres seit 1713 eines ihrer großen institutionellen Zentren bekommen und mit den Arbeiten von Nicolas Fréret ein neues Niveau an methodischer Schärfe erreicht.26 Die Option Montesquieus für die narrative Form der Geschichtsdarstellung muss man vor diesem Hintergrund als bewusste methodische Entscheidung sehen, unabhängig von und vor Voltaires Essai sur les mœurs. Dieser Entscheidung liegt die Einsicht zugrunde, dass der erzählerischen Geschichtsschreibung ein Erkenntnisgewinn möglich ist, der mit der reinen Ermittlung positiver Fakten und ihrer systematischen Anordnung nicht zu erreichen ist. Hier aber kommt die Ästhetik ins Spiel, das heißt der literarische Entwurf, der Montesquieus Konzeption vom Aufstieg und Fall Roms im Hintergrund auf so unkonventionelle Weise organisiert. Mit Blick auf Daniel Fuldas These zur Genese des Historismus haben wir es hier also mit einem weiteren Fall von wissenschaftlicher Erkenntnissteigerung durch eine genuin ästhetische Einsicht zu tun.27 Bei Montesquieu speist sich diese jedoch gerade nicht aus der holistischen Figur von Teil und Ganzem wie bei Herder, sondern aus einer fragmentarischen, eher dis sonanten Geschichtspoetik. Die ästhetische Fundierung wiegt umso schwerer bei einem Autor wie Montes quieu, der, großer Bewunderer Newtons und selbst als Mitglied der Akademie von Bordeaux vielseitig naturwissenschaftlich interessiert, die historische Analyse in den Considérations bis zur Identifizierung der »causes générales« und der »causes particulières« treibt.28 Zugleich weiß Montesquieu um die Grenzen der kausalanalytischen Methode und den Punkt, an dem sie wissenschaftlich unproduktiv wird. In den 24 Zur
historiographischen Methode Montesquieus siehe auch das Vorwort von Catherine Volpilhac-Auger in der von ihr besorgten (und im Folgenden zitierten) Ausgabe: Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence. Paris 2008, S. 7–60, hier: 46 ff. 25 Siehe dazu den klassischen Aufsatz von Arnaldo Momigliano: Ancient History and the Antiquarian. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 13 (1950), S. 285–315. 26 Siehe Senarclens: Montesquieu, S. 200 ff. 27 Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung (1760–1860). Berlin/New York 1996. 28 Montesquieu: Considérations sur les Romains, S. 199.
Erzählungen des Verfalls bei Montesquieu und Rousseau
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Considérations unternimmt er eine politisch-historische Konstellationsanalyse, die abseits des zyklischen Musters von Aufstieg und Niedergang oder deterministischer Erklärungsansätze nach dem Zusammenspiel von pluralen Kräften in kontingenten geschichtlichen Situationen fragt. Der quellenkritische und kausalanalytische Blick ist dabei nur eine Facette von Montesquieus Stil der Entidealisierung und Dynamisierung,29 gleichsam die lösende Säure, mit der der Autor die Patina über dem glühenden Kern der Entwicklung Roms abtragen will. So steht schon der erste Satz der Considérations paradigmatisch für dieses fast ›desillusionsromantische‹ und zugleich auf Re-Affizierung zielende Unterfangen: »Il ne faut pas prendre de la ville de Rome, dans ses commencements, l’idée que nous donnent les villes que nous voyons aujourd’hui […]. Mais la grandeur de Rome parut bientôt dans ses édifices publics«.30 Wie Elena Russo gezeigt hat, ist Montes quieus Geschichtspoetik elementar auf eine fragmentarische Erzählung angelegt, deren literarische Mittel im Zeichen von Beschleunigung, Simultaneität und der Verdichtung durch prägnante Symbole und Bilder stehen. Ihre leitende Metaphorik ist die des Fließens dynamischer Kräfte.31 Diese Formsprache befördert zugleich die materiale These von Montesquieus so innovativer institutionengeschichtlicher und anthropologisch ausgerichteter Analyse der Entwicklung Roms. Letztere erkennt in der römischen Virtus, die bar aller moralischen Konnotationen als ein auf Machtsteigerung abzielendes Handlungsprinzip gefasst wird, einen der Hauptgründe für die Größe Roms – und seiner décadence.32 Denn diese sich entgrenzende Kraft musste von innen heraus zum Kollaps des Reichs führen, als sie nicht mehr im Gegenspiel der Bewegungen durch die Institutionen der Republik austariert wurde. Damit ist die politiktheoretische Stoßrichtung der Considérations vorgegeben, die ganz neue Schwerpunkte in der Interpretation der römischen Geschichte setzte und spektakuläre, viel kritisierte Lücken riss, wo einst das Christentum und die Blüte des Zeitalters des Augustus waren.33 Am stärksten waren die Zeitgenossen jedoch über den extraordinären Stil des – skandalös kurzen – Buches irritiert, das mit den herrschenden klassischen Grundsätzen der stringenten Geschichtsdarstellung entlang klarer Ideen scheinbar so eklatant brach. Auch für die Historiographie der philosophes, allen voran für Voltaire, war dieser dynamisch-diskontinuierliche Stil nicht anschlussfähig.34 Er ist jedoch 29 Zu Montesquieus »poetry of history« siehe die brillante Analyse von Elena Russo: Styles of
Enlightenment. Taste, Politics, and Authorship in Eighteenth-Century France. Baltimore 2007, S. 167–193. 30 Montesquieu: Considérations sur les Romains, S. 63 mit Anm. 1. 31 Siehe Russo: Styles of Enlightenment, insb. S. 182 ff. 32 Siehe Montesquieu: Considérations sur les Romains, insb. S. 67 ff. u. 74–76. 33 Siehe dazu Russo: Styles of Enlightenment, S. 170 f. 34 Siehe ebd., S. 167–169.
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Aspekte · 2. Sektion · Martin Urmann
der gleichsam logische Ausdruck der montesquieuschen Anthropologie und der ihr korrespondierenden Institutionentheorie. Letztere lässt sich über die Figur des dynamischen Fließgleichgewichts beschreiben, das sich jedweder stabilen Fixierung entzieht. So heißt es im Kapitel IX der Considérations: Ce qu’on appelle union dans un corps politique est une chose très équivoque; la vraie est une union d’harmonie qui fait que toutes les parties, quelque opposées qu’elles nous paraissent, concourent au bien général de la société, comme des dissonances dans la musique concourent à l’accord total. Il peut y avoir de l’union dans un État où l’on ne croit voir que du trouble.35
Was Montesquieu hier formuliert, ist eine Differenztheorie politischer Ordnung, wie er sie später im Esprit des lois weiter entfalten wird und deren Unterschied zur rousseauschen volonté générale prononcierter kaum sein könnte.36 Die montesquieusche Institutionentheorie antwortet zugleich auf die anthropologische Verfasstheit des Menschen und den ihm eigenen Drang zur Entgrenzung des Spiels der Kräfte in seinem Innern. Hierzu heißt es in Mes Pensées: »Comme le monde physique ne subsiste que parce que chaque partie de la matière tend à s’éloigner du centre, aussi le monde politique se soutient-il par ce désir intérieur et inquiet que chacun a de sortir du lieu où il est placé«.37 Eben die ästhetische Figur des nicht stillstellbaren Spiels fließender Kräfte liegt am Grunde der narrativen Vermittlung von Antike und Gegenwart, die die Considérations leisten, im Wissen um die unüberbrückbare Differenz zwischen den Zeitaltern. In Montesquieus und Rousseaus Verfallserzählungen zeigen sich somit zwei auseinanderstrebende Entwürfe kontingenter Ordnungen, die ein besonderes Licht auch auf die politischen Optionen der Aufklärung werfen.
35 Montesquieu:
Considérations sur les Romains, S. 129. dazu Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 117 ff. 37 Montesquieu: Pensées. Le spicilège. Hrsg. v. Louis Desgraves. Paris 1991, S. 187 f. 36 Siehe
3.
se k t ion
( a be r ) g l au be n:
r e l ig iö se e r z ä h lu ng e n
Sabine Volk-Birke
(Aber) Glauben: Religiöse Erzählungen Einleitung
W
illiam Warner und Clifford Siskin haben in This is Enlightenment 1 das Vermitteln (›mediation‹) als eine der zentralen Ausdrucksformen der Aufklärung definiert. Dieser Begriff erfasst, neben allen Formen der Publikation und Nachrichtenübermittlung, der Gruppenbildung, der Geselligkeit und der Rhetorik natürlich auch die Rolle des Erzählens. In der englischen Literaturgeschichte gilt der Roman als die zentrale Gattung der Epoche, die eng mit der Suche nach belegbaren und überprüfbaren Fakten in einer durch den Verstand erschließbaren Welt verknüpft ist. Für die deutsche Literatur stellt sich die Situation ähnlich dar. Aber das Erzählen als eine Form der Sinnkonstruktion und -rezeption ist nicht auf diese oder ähnliche Gattungen beschränkt. In der modernen Narratologie wird der Begriff auch auf andere Künste und Medien, wie z. B. Bilder oder Musik, erweitert,2 während Albrecht Koschorke darauf hinweist, dass Erzählen nicht nur fiktionale Sonderwelten hervorbringt, sondern ein bestimmendes Element gesellschaftlicher Praxis ist.3 Andererseits greifen Frömmigkeit und Glaube, die das 18. Jahrhundert mindestens ebenso prägen wie Skepsis, Religionskritik und Agnostizismus, mehrheitlich nicht auf den Roman, sondern auf andere literarische Formen zurück, vor allem die Dichtung und das Lied,4 aber auch die Katechese (u. a. in der Predigt), die Anleitung zu geistlichen Übungen, und Bilder. Die weit verbreitete These einer umfassenden Säkularisation des 18. Jahrhunderts, die ihren Ausdruck in der Dominanz des realistischen, auf zeitgenössische Stoffe konzentrierten Romans als Leitgattung findet,5 wird von den Aufsätzen, die in der Sektion (Aber)Glauben versammelt sind, modifiziert. Einerseits bestätigen sie den Einfluss einer rationalistischen und religionsskeptischen Haltung auf einige Formen des Erzählens, die sich die Kritik am Wunderglauben zu eigen machen, andererseits widerlegen die Beiträge die These vom gravierenden Bedeutungsverlust des Religiösen und einer radikalen Absage an das (unerklärliche) Wunderbare. 1 Vgl.
William Warner u. Clifford Siskin: This is Enlightenment. Chicago 2010.
2 Vgl. James Phelan u. Peter Rabinowitz (Hrsg.): A Companion to Narrative Theory. Malden
2005.
3 Vgl.
Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Frankfurt a. M. 32013, S. 25. Peter-André Alt: Aufklärung. Stuttgart 32007, S. 164. 5 Vgl. ebd., S. 276 u. 308. 4 Vgl.
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Aspekte · 3. Sektion · Sabine Volk-Birke
Florian Bock (Predigt), Ute Poetzsch (Kirchenkantate) und Clare Haynes (Altarbild) konzentrieren sich auf Erzählungen, die für den Raum der Kirche bzw. die Verwendung im Gottesdienst konzipiert waren und damit eine religiös bestimmte Rahmung erhielten, die eine Auswirkung sowohl auf die Produktion als auch auf die Rezeption der jeweiligen Erzählungen hatte. Im Gegensatz dazu untersuchen Andreas Keller (Heiligenlegenden), Astrid Dröse und Laura Stevens (Romane) Erzählformen, deren Rezeption im weltlichen Raum stattfand, was sie, auch wenn sie religiöse Themen aufgriffen, mit einer eher säkularen Erwartungshaltung konfrontierte. Der Roman des 18. Jahrhunderts diente primär der Unterhaltung, erst in zweiter Linie spielte moralische Belehrung eine Rolle, und auch die Heiligenlegende konnte neben der Erbauung und moralischen Belehrung als Zeitvertreib dienen. Florian Bock widmet sich einem umfangreichen Korpus von katholischen Predigten, die als Vorbilder für den Gebrauch in Gemeinden, aber auch als Material sammlungen genutzt wurden. Er vergleicht exemplarisch zwei sehr verschiedene Prediger, Albert Melchior (Einfaches Bauren-Concept, 1722) und Johann Maria Mika (Warnung vor Fehlern, 1793), und zeigt auf, wie sich der Stil der Predigt allmählich wandelt, indem sich die Gattung mehr und mehr dem aufklärerischen Bedürfnis nach logisch aufgebauten, nachvollziehbaren Strukturen und auf die konkrete Lebenswelt anwendbaren Lehren öffnete. Am Beispiel des Umgangs mit fremden Kulturen und deren Gebräuchen weist Bock nach, wie Melchior einen unvoreingenommenen Umgang mit dem Anderen empfiehlt, und wie Mika seinen Stil von barockem verbalem Gepränge frei hält, während er gleichzeitig auf Detailreichtum nicht verzichtet. Im Beitrag von Ute Poetzsch wird die lutherische Predigt in Bezug zur Kirchenkantate Telemanns gesetzt, so dass ausgewählte Kompositionen in diesem theologischen Kontext in ihrer künstlerischen Ausprägung und in ihrer Funktion für den Gottesdienst analysiert werden können. Erhard Neumeisters Predigtsammlung (Geistliche Bibliothek, 1719) war eine von Telemanns wichtigsten Quellen für seine Texte. Während der Predigt die lebensweltlich ausgerichtete Glaubenslehre (auf der Grundlage des Evangeliums) zufiel, war es die Aufgabe des Komponisten, sowohl die affektive Komponente der jeweiligen Perikope, also auch den von der Predigt in den Vordergrund gestellten Glaubenssatz im Kontext des aktuellen Feiertags bzw. des Sonntags im Jahreskreis, zu illustrieren und zu unterstreichen. Auf der Grundlage differenzierter musikalischer Untersuchungen kann Poetzsch exemplarisch anhand von drei Kantaten nachweisen, dass nicht nur der Predigt und dem Bibeltext ein Narrativ zugrunde liegt, das auf eine Pointe oder Sentenz ausgerichtet ist, sondern auch der Musik, die durch verschiedene Gemütszustände führt und immer in Freude und Zuversicht, d. h. in der Gewissheit des Glaubens, schließt. Auf diese Weise regt auch die Musik zur Auseinandersetzung mit den Glaubensinhalten an
Einleitung
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und ermöglicht eine Vergegenwärtigung der biblischen Erzählung in jedem Gläubigen im Kirchenraum. Clare Haynes eröffnet in ihrem Beitrag den Blick auf eine weitere wichtige Kunstform im Kirchenraum, das Altarbild. Die drei Tafeln von William Hogarth in der Kirche St. Mary Redcliffe in Bristol erzählen die zentralen Ereignisse des christlichen Glaubens, von der Grablegung (Versiegelung des Grabs) über die Auferstehung (das leere Grab) bis zur Himmelfahrt. An diesem Wunder scheiden sich die Geister: Gläubigen gilt es als unverzichtbarer Teil des Erlösungsnarrativs, Agnostikern oder Deisten als Täuschung, da es dem gesunden Menschenverstand bzw. den Naturgesetzen widerspricht. Haynes setzt sich ausführlich mit dem theologischen Kontext des Auftraggebers wie dem skeptizistischen Diskurs der Zeit, der Entstehung des Bildes, sowie seiner Positionierung im Altarraum auseinander. So kann sie nachweisen, dass die bisherige Interpretation durch den Hogarth-Experten Ronald Paulson fragwürdig ist. Während Paulson fast selbstverständlich davon ausgeht, dass Ho garth ein Ende von Jesu Biographie erzählt, in dem die Auferstehung und die Himmelfahrt nur als von Menschen geschaffener Mythos verstanden werden kann, zeigt Haynes überzeugend, dass Hogarth im Gegenteil dem Glauben an die Himmelfahrt mit verschiedenen malerischen und kompositorischen Mitteln Nachdruck verleiht, und so in affirmativer Weise die biblische Geschichte vergegenwärtigt und für die Gemeinde in der Kirche die Hoffnung auf Erlösung bekräftigt. Andreas Keller untersucht in seinem Beitrag über die Heiligenlegenden die Frage, warum diese ob ihrer Unvernunft so geschmähte Gattung dennoch fortgeschrieben und von Autoren wie Goethe, Bürger, Schubart und Herder genutzt wurde. Keller weist auf die Akzentverlagerung von der Heiligenvita zur Heroenund Königsbiographie hin, die den christlichen Glauben durch säkulare Motive für den Opfermut und Altruismus ihrer Protagonisten ersetzte und auf diese Weise Grundzüge einer nützlichen, belehrenden Gattung erhalten konnte. Darüber hinaus kann Keller aber auch zeigen, wie die beinahe hagiographische Verehrung von königlichen Heldentaten in scheinbar säkularisierten Erzählungen wichtige Elemente der Legende wieder in ihr Recht setzt, wie z. B. den Topos der imitatio (statt des Heiligen soll der Opfertod des Königs als Vorbild dienen), den Sinn der Heldentat im Rahmen eines göttlichen Heilsplans, den Topos der Unversehrtheit des Leichnams trotz eines gewaltsamen Tods, oder das durch ein Denkmal unterstützte fortwährende Gedenken am Sterbetag. Andererseits bewahren Geschichten über heidnische Traditionsfiguren das Element des Wunderbaren, das Erzählmuster vom Unglauben, auf den eine Bekehrung folgt, sowie das Motiv des Schutzpatrons, während der Weg in die Natur (über ein Wunder, vgl. die Legende in der Predigt von Kosegarten) zu einem Weg hin zu Gott führen kann. Letztlich schien die Legende als eine Erzählform, die Tugend und Wahrheit auf sinnliche Weise anschaulich vermitteln konnte, selbst im Rahmen der Aufklärung nicht gänzlich verzichtbar, und sei es
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Aspekte · 3. Sektion · Sabine Volk-Birke
nur mit Rücksicht auf die Bedürfnisse einer Leserschaft, die durch die logischen Operationen der Philosophie nicht erreichbar war. Die beiden Beiträge, die sich einem deutschen bzw. zwei angloamerikanischen Romanen widmen, bewegen sich in säkularen Produktions- und Rezeptionsfeldern. Ihnen gemeinsam ist der Bezug auf theologische und dogmatische Positionen, ihr Umgang mit der Religion ist aber sehr unterschiedlich. Astrid Dröse greift die in der Spätaufklärung wichtige Frage der ewigen Höllenstrafen (im Gegensatz zur Erlösung aller) auf, die in Nicolais Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker eine zentrale Rolle spielt. Der Roman steht in seinem aufklärerischen Impuls neben Nicolais orthodoxiekritischer Zeitschrift Allgemeine Deutsche Bibliothek und ist in seiner Komik und Satire dem Tristram Shandy Laurence Sternes ähnlich. Dröse zeigt, welche Funktionen die Diskussion über die Höllenstrafen sowohl strukturell als auch inhaltlich übernimmt. Einerseits entlarvt sie den Machthunger der religiösen Instanzen, die diese theologische Position aus opportunistischen Gründen vertreten. Andererseits karikiert Nicolai im Haupttext die Höllenstrafen durch das Lied Zu spät ist’s zu erfahren aus dem evangelischen Gesangbuch, das er einem fanatischen Pietisten in den Mund legt, während der Roman dieser Satire gleichzeitig im Paratext der Fußnoten eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der ewigen Höllenqual gegenüberstellt. Nicolais Satire, so zeigt Dröse, markiert den Punkt in der (Literatur-)Geschichte, an dem das Narrativ der Höllenqualen aus dem theologischen Raum heraustritt, um im säkularen Raum als wirkmächtiges Bild das kulturelle Gedächtnis nachhaltig zu prägen. Die angloamerikanischen Romane, die Laura Stevens untersucht, greifen das Thema der Missionierung in Amerika auf. Sie können als anglikanische Propaganda in einem der englischen Staatskirche gegenüber kritischen, nonkonformistischen Umfeld gelesen werden. Von der Erweckungsbewegung geprägte Religionsgemeinschaften missionierten erfolgreich in einigen Staaten Amerikas, so dass sich die traditionelle anglikanische Mission an den Rand gedrängt sah. Sowohl The New Pilgrim’s Progress or the Pious Indian Convert (1748) als auch The Female American (1767) nutzen Protagonisten, die unterschiedlichen Ethnien angehören: der Konvertit und Missionar Gelashmin wird mit chinesisch-indianischen Zügen beschrieben, die Missionarin Unca Eliza Winkfield hat eine indianische Mutter und einen englischen Vater. Aufgrund dieser Prägung durch sehr unterschiedliche Kulturkreise sind sie besonders als Mittlerfiguren geeignet und missionieren sehr erfolgreich für die anglikanische Kirche. Beide Romane thematisieren die dogmatischen und liturgischen Unterschiede zwischen dem Anglikanismus, den ihre Missionare verkünden, einerseits, und verschiedenen Ausprägungen des Nonkonformismus bzw. der Erweckungsbewegungen andererseits. Dabei greifen die Texte aber erstaunlicherweise auf Erzählformen zurück, die als literarische Ausprägungen nicht-orthodoxer Formen des Protestantismus berühmt geworden waren, John Bunyans The Pilgrim’s
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Progress und Daniel Defoes Robinson Crusoe. Die anonym veröffentlichten Adapta tionen machen sich Motive und Strukturen ihrer Vorbilder so zu Nutze, dass sie durch Veränderungen gegenüber ihrem Modell dessen spezifische Theologie widerlegen konnten. Insgesamt ergibt sich aus den Beiträgen ein breites Spektrum von erzählerischen Formen, die sich affirmativ oder kritisch mit religiösen Themen auseinandersetzen. Auch wenn einzelne Elemente der Verkündigung, wie z. B. die Höllenstrafen oder Wunder, ebenso kritisiert werden wie Fanatismus oder Schwärmertum, kann man nicht davon ausgehen, dass aufklärerischer Skeptizismus oder Antiklerikalismus das affirmative Erzählen des Glaubens durch das satirische Erzählen des Aberglaubens ersetzt hätten.
Florian Bock
Gegen die »Bezauberung der Welt« Katholische Predigten erzählen Aufklärung (1720–1803) In seiner Geschichte der Schriftpredigt aus dem Jahr 1920 hält der Linzer Domprediger Franz Stingeder (1863–1936) über die aufgeklärte Predigt abwertend fest: Sie »beleuchtete […] das Evangelium Christi mit dem Flämmlein der menschlichen Vernunft und verdolmetschte die biblischen Gedanken im Sinne […] der dogmen losen, ungetauften Moral.« Man finde nichts in diesen Predigten außer »seichten Naturbetrachtungen« und »mißliebigen« Staatsgesetzen; kurzum alles »Gegenstände«, die nichts auf einer Kanzel zu suchen hätten.1 Stingeder war ein Kind seiner Zeit, wie schon nach diesen wenigen zitierten Zeilen deutlich geworden sein dürfte. Greifbar wird hier, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine ultramontan 2 und antimodern aufgeladene Atmosphäre, die eine geschlossene, scholastische Konzeption katholischer Lehre reüssieren ließ. Als Predigtideal stand ihm eine dogmatische Auslegung der Heiligen Schrift vor Augen, die Homiletik hatte statische, unhinterfragbare Verbindlichkeiten, man denke an den Syllabus Errorum3 (1864), zu untermauern; nicht mehr, nicht weniger. In einem solchen Theologie- und Weltbild hatte ein aufgeklärter Katholizismus, wie er in der Forschung für den Zeitraum von circa 1740 bis zur Säkularisation von 1803 diskutiert wird,4 keinen Platz. 1 Franz
Stingeder: Geschichte der Schriftpredigt. Ein Beitrag zur Geschichte der Predigt. Paderborn 1920, S. 174. 2 Ursprünglich im geografischen Sinne verwendet (»jenseits der Alpen«), wird der Begriff heute für jene historische Sozialform des Katholizismus gebraucht, die sich im 19. Jahrhundert, vor allem auf dem Ersten Vatikanum, durchsetzen konnte. Der Ultramontanismus ist gekennzeichnet durch eine strenge, neuscholastische und antiaufklärerische Orientierung an Rom, was sich u. a. in einer Ablehnung des Staatskirchentums ausdrückte. Vgl. Klaus Schatz: Art. Ultramontanismus. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 11 Bde. Bd. 10. Freiburg i.Br. 2001, Sp. 360–362. 3 Der Syllabus Errorum wurde als Anhang zur zeitgleich publizierten Enzyklika Quanta Cura veröffentlicht. Darin verurteilte Papst Pius IX. (1846–1878) offen die Trennung von Kirche und Staat sowie die Religionsfreiheit. Die katholische Kirche positionierte sich so auf dem Höhepunkt des Antimodernismus deutlich gegen die säkulare Entwicklung vieler Staaten. 4 Vgl. Harm Klueting: »Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht«. Zum Thema Katholische Aufklärung – Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. Hrsg. in Zusammenarbeit mit Norbert Hinske u. Karl Hengst. Hamburg 1993, S. 1–35.
Katholische Predigten erzählen Aufklärung (1720–1803)
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Die Aufklärung im katholischen Deutschland erzählte den Gläubigen von einer intellektuellen Begründung ihres Glaubens und vermaß damit die religiöse Lebenswelt neu. Ein aufgeklärter Katholizismus fand seinen Ausdruck in einer Rück besinnung auf die Heilige Schrift und die Kirchenväter anstelle von Dogmatik und Kasuistik; liturgisch trat an die Stelle von barocken Mess-Inszenierungen nun die Ablehnung einer nach dem Urteil der Zeitgenossen nur den Aberglauben befördernden »Bezauberung der Welt«5. Liturgie habe vielmehr der Belehrung und Erbauung zu dienen, angestrebt wurde insgesamt eine vernunftgemäße Durchdringung des katholischen Glaubens im Sinne einer Besserung des Herzens.6 Dabei gerierte sich die katholische Aufklärung als eine genuin auf Vermittlung ausgerichtete, pastorale Reformbewegung. Wenn dieser Sammelband also nach reli giösen Erzählungen und Erzählweisen fragt, mittels derer Katholiken das Metanarrativ der Aufklärung weitergegeben wurde, bietet sich eine Untersuchung des Mediums Predigt in besonderer Weise an. Und dies nicht nur, weil in keiner anderen Nation solche Mengen von Predigten gedruckt wurden wie in der deutschen.7 In der Predigt, dem Verbindungselement zwischen Klerus und Laien, finden vielmehr zentrale Kommunikationsleistungen statt, die sich, anders als theologische Dispute in der Wissenschaft, an ihren Zuhörern orientieren. Predigten beanspruchen keine logische Vollständigkeit, sondern verfolgen eine Breitenwirkung; sie berücksichtigen, dass die Gemeinde aus dem Gehörten Sinnfiguren ableiten wird. Dafür konzentrieren sie sich auf die Lebenswelten ihres Publikums: Predigten ordnen und deuten erzählend dessen Welt. Ausgehend vom Predigtbestand der Bayerischen Kapuzinerprovinz, der in der Universitätsbibliothek Eichstätt lagert, möchte der Beitrag einige theologische Argumentationsmuster und Imaginationsräume anhand eines ausgesuchten Quellen5 Neuville:
Vom ehrerbietigen Verhalten in den Gotteshäusern. In: Georg Wedel (Hrsg.): Sammlung auserlesener Kanzelreden auf alle Sonn- und Festtage der christkatholischen Kirche aus den Werken der besten deutschen und französischen Redner gezogen. Bamberg/Würzburg 1787, S. 404–461, hier: 439. 6 Neben dieser »gereinigten« Seelsorge im Rekurs auf ein proto-aufgeklärtes Urchristentum hat Andreas Holzem auf die machtpolitischen Verhältnisse im Reichsverband (Österreich – Preußen) aufmerksam gemacht, die ein Signum der katholischen Aufklärung darstellen: Als eine Art Überhang aus dem konfessionellen Zeitalter hatte der Katholizismus als landeskirchliche Religion und reichskirchlicher Herrschaftsträger in Konkurrenz zu den weltlichen Territorien Probleme von hoher Komplexität zu bewältigen. Das »Verhältnis von Reichsverfassung und Staatsbildung, herrschaftlicher Verdichtung und kirchlicher Autonomie, klerikal-laikaler Differenz und Reform der Bildung und des religiösen Lebens« musste in eine Passung gebracht werden. Vgl. Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung, Aufklärung, Pluralisierung. 2 Bde. Bd. 2. Paderborn u. a. 2015, S. 1197. 7 Vgl. Friedrich Bouterwerk: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. 12 Bde. Bd. 9. Göttingen 1812, S. 520, zit. nach Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde. Bd. 2. Stuttgart 1972, S. 188.
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korpus offenlegen. Anspruch der vorliegenden Untersuchung ist es dabei nicht, gehaltene Predigten zu rekonstruieren. Vielmehr sei dezidiert auf die methodische Tücke hingewiesen, dass Predigten nicht als authentisches gesprochenes Wort, sondern nur in schriftlicher Überlieferung, möglicherweise ohne je gesprochen worden zu sein, greifbar sind.8 Im großen Stil gedruckt und gesammelt, sollen sie schließlich wieder – zumindest auszugsweise – von Priestern vor einer Gemeinde vorgetragen werden.
1. Das Andere im Eigenen – das Eigene im Anderen Welches sind nun jene »Gegenstände«, von denen Stingeder behauptet, dass sie eigentlich auf einer Kanzel nichts zu suchen hätten? Ausgehend von den allein bis zum Jahr 1800 über 33.000 Predigtbänden, die in Eichstätt lagern, möchte ich für den vorliegenden Beitrag zwei thematische Tiefenbohrungen vornehmen, die jenseits der ohnehin erwartbaren Signaturen der katholischen Aufklärung liegen. Als weithin erwartbar zu deklarieren wäre sicherlich die Differenzierung zwischen einer »wahren«, genuin christlichen und einer »falschen« Aufklärung voller bloßer philosophischer »Vernünftelei« oder die schon vielerorts beschriebene Transformation Mariens von der barocken Darstellung der Jungfrau und unbefleckt-empfangenen Gottesmutter hin zur aufgeklärten, sittsam-tüchtigen Tugendgestalt, Erzieherin und Hauswalterin.9 Vielmehr soll es im Folgenden zunächst um die Darstellung anderer Kulturen und Völker in deutschen katholischen Predigten der Aufklärung gehen. Der Topos des Anderen – von Stingeder als überflüssige »Naturbetrachtung« abqualifiziert – begegnet dem Leser von Predigten zwischen Konfessionalisierung und Aufklärung immer wieder.10 Dies ist z. B. im Einfachen Bauren-Concept des Benediktiners Albert Melchior (1662–1727) der Fall, das 101 »Kurtze und Einfältige Predigen« für die ländliche Bevölkerung enthält.11 8 Vgl.
Anne Conrad: Der Katholizismus. In: Peter Dinzelbacher (Hrsg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. 6 Bde. Bd. 4. Paderborn u. a. 2012, S. 17–101, hier: 27. 9 Vgl. Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis in die Gegenwart. München 1994, S. 267. 10 Katholische Predigten, verstanden nicht als Moraldidaxe oder Folkloreliteratur, sondern als Praxeologie religiösen Wissens, sind noch kaum erforscht. Dieses Desiderat soll für die Epoche der Frühen Neuzeit durch das DFG-Forschungsprojekt »Pastorale Strategien zwischen Konfessionalisierung und Aufklärung (1650–1730). Katholische Predigten und ihre impliziten Hörer«, angesiedelt an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen (Projektleitung: Florian Bock), geschlossen werden. 11 Albert Melchior: Einfaches Bauren-Concept, Das ist: Kurtze und Einfältige Predigen, Auff jeden Sonntag und Feyertag mit einer Predig ausgetheilt. Würzburg 1722.
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Abb. 1: Albert Melchior: Einfaches Bauren-Concept, Das ist: Kurtze und Einfältige Predigen, Auff jeden Sonntag und Feyertag mit einer Predig a usgetheilt. Würzburg 1722, Titelblatt. Signatur 04/1 AÖ 4828.
Bereits aus dem Titelkupfer (S. 244) lässt sich ein Grundtyp von Gemeinde identifizieren, der als Zielgruppe fungierte und so Einfluss auf die Ausgestaltung der Predigten nahm: Wir sehen einen belehrend auftretenden Kleriker einer Gruppe von Mitgliedern der Landbevölkerung gegenüberstehen. Im Sinne einer kategorialen, also zielgruppenorientierten Seelsorge besucht der Priester seine Gemeinde auf dem Ackerfeld und wartet nicht, bis sie zu ihm in die Kirche kommt. Melchiors Postillensammlung ist für eine bäuerliche Klientel geschrieben, der die liturgisch gele-
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senen Bibeltexte des jeweiligen Sonn- oder Festtags vermittelt werden soll. Dabei möchte der Autor laut Untertitel das Landvolk von »grassierenden Lastern« abmahnen und stattdessen zu »noethigen Tugenden« verhelfen; Vokabeln also, die man gemeinhin der Aufklärung zuschreibt. In diesem Fall freilich besonders früh: Die Predigtsammlung stammt von 1722. Viele der Predigten im Bauren-Concept sind gleichzeitig emblematisch aufgebaut. Bei einer solchen emblematischen Predigt han-
Abb. 2: Albert Melchior: Einfaches Bauren-Concept, Das ist: Kurtze und Einfältige Predigen, Auff jeden Sonntag und Feyertag mit einer Predig ausgetheilt. Würzburg 1722, Titelkupfer. Signatur 04/1 AÖ 4828.
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delt es sich um eine pastorale Strategie noch aus dem Barock, die durch Lebensnähe, Bilderreichtum und Verknüpfung von Schriftzitaten mit naturkundlichem Wissen (hier der Landwirtschaft) ihr Ziel erreicht.12 Schauen wir in das Bauren-Concept hinein, das offensichtlich in einer Zwischenphase von Konfessionalisierung und Aufklärung, gemeinhin ein blinder Fleck der Katholizismusforschung,13 publiziert wurde. In einem ersten Annäherungsprozess an den Umgang mit ›den Anderen‹ konnte ich folgende drei Argumentationsfiguren ausmachen. a) Zunächst zu nennen sind ›primitive‹ Völker aus nahezu allen Erdteilen, deren falsches, »unsittliches«, tugendloses Verhalten als Folie diente, vor der sich das untadelige Leben der Christenmenschen abheben konnte. Melchior führt hier die ›Wilden‹ des mexikanischen Reichs an, die, bevor sie von den Spaniern »überwältigt«, d. h. – aus deren Sicht – zivilisiert wurden, dem Teufel Menschenopfer dargebracht und ein Götzenbild aus Menschenblut angebetet hätten. Um wieviel »dienstlicher und nützlicher« sei demgegenüber Christus, der – aus dem Blut Marias geformt –, am Crucifix zur Erbauung unserer Herzen verstorben sei.14 Dann wendet sich Melchior von Übersee weg dem Norden zu und kommt auf die Lappländer zu sprechen, die auf eine andere Art und Weise gottlos sind. Dieses Volk, das in großer Kälte lebt, schöpft Trost, indem es sich an Festivitäten, »Essen und Trinken / Tanzen und Springen« ergötze. Gleich danach aber passiere es, dass sich die Menschen in Lappland mit Heulen und Zähneknirschen15 auf die Erde werfen. Sie seufzen und beten, dass sich der Himmel ihrer erbarmen möge. Melchior vergleicht dieses nordische Volk mit den christlichen Sündern hierzulande, die ein Leben »in Wollusten« führen, welches sich früher oder später in ewiges Leiden verkehre.16 Teuflisch sind für ihn schließlich auch die Sitten eines Ostvolkes. Die Tartaren nämlich lassen ihre Kinder von Hunden säugen, so dass diese »streitig / wild und zänkisch / grimmig und bissig« werden. Es ist dieselbe Milch, mit der der Höllenhund, der leibhaftige Teufel, diejenigen unter den Christen tränkt, die Zwietracht, Streit und Zank unter ihren Mitmenschen nähren.17 Verfallen umgekehrt Menschen in bereits christianisierten Regionen, wie etwa die Sizilianer, solchen Todsünden wie Stolz und Hoffart, 12 Vgl.
Gottfried Bitter (unter Mitarbeit von Martina Splonkowski): Art. Predigt VII. Katholische Predigt der Neuzeit. In: Gerhard Müller (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie. 36 Bde. Bd. 27. Berlin 1997, S. 262–296, hier: 271. 13 Vgl. Andreas Holzem: Bauernkrieg – Bildstock – Bibel. Religiöses Wissen und religiöse Praxis in Landgemeinden zwischen Reformation und Aufklärung (1530–1800). Tübingen 2013 [Vortragsmanuskript]. 14 Melchior: Einfaches Bauren-Concept, S. 124. 15 Diese sprichwörtlich gewordene Formel findet sich sechsmal im Matthäusevangelium (Mt 8,12; 13,42; 13,50; 22,13; 24,51; 25,30) sowie einmal im Lukasevangelium (Lk 13,28). 16 Melchior: Einfaches Bauren-Concept, S. 158 f. 17 Ebd., S. 455.
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so rächt sich dies umgehend. Religiöse Abweichung wird prompt von Gott vergolten: Melchior verweist u. a. auf das Erdbeben von 1693, bei dem die Stadt Syrakus gänzlich zu Grunde gegangen sei.18 Anklänge an die biblischen Erzählungen der Sintflut (Gen 6,1–9), vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9) oder von Sodom und Gomorra (Gen 18 und 19) werden hier offenkundig. b) Eine zweite Gruppe bilden die altorientalischen, muslimischen und protestantischen Länder, die anders als die ›primitiven‹ Völker, die noch nie von Christus gehört haben, sich trotz besseren Wissens bewusst gegen den Gott des Alten Testa ments und das Christentum entschieden haben. Zu nennen sind hier die Perser, die im Alten Testament verantwortlich für viele kriegerische Auseinandersetzungen mit dem erwählten Volk Israel waren und nun ein »hartes«, sehr mühseliges Leben in rauem Gebirge führen. Gott verordnete den Persern, laut Melchior, – beizeiten aber auch den Christen –, Arbeit und Joch, denn ohne Trübsal könne der Mensch, wohl aufgrund der Ursünde, nicht leben.19 In der Forschungsliteratur wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, wie sehr katholische Aufklärer die Weltgeschichte seit der Auflösung der christlichen Urgemeinde als Verfallsgeschichte beschrieben haben.20 So auch bei Melchior. Als »böse Buben« gelten bei ihm nicht nur die tyrannischen Kaiser der Antike, die das Christentum, ehe es zur römischen Staatsreligion wurde, bekämpften, sondern auch die Türken, die als »Mahumetanischer Feind« die weitere Ausbreitung des Christentums verhinderten, indem sie fremde Länder besetzten, insbesondere das gelobte Land, das schon seit tausenden Jahren unter einem türkischen Blutschwamm leide.21 Die katholische Kirche sei schließlich ebenso bestohlen worden von den protestantischen Sekten, die sich bedeutende Städte wie Augsburg ebenso einverleibt hätten wie Fürsten- und Königtümer wie Sachsen und Brandenburg.22 Die Technik dieses Analogieschlusses folgt den Vorgaben des Konzils von Trient, neue Häresien mit den bereits bekannten zu identifizieren.23 c) Gibt es eigentlich auch den »guten Anderen«?, so kann man sich nach diesen Schilderungen fragen. Den gibt es – zum einen, sobald er sich christianisiert. Geradezu euphorisch wird etwa die Konversion eines jungen Türken geschildert, der sich an Weihnachten 1641 in Neapel spontan taufen ließ, nachdem er einen deutlichen 18 Vgl.
ebd., S. 17 f. ebd., S. 383 f. 20 Vgl. Christian Handschuh: Die wahre Aufklärung durch Jesum Christum. Religiöse Welt- und Gegenwartskonstruktion in der Katholischen Spätaufklärung. Stuttgart 2014, S. 103. 21 Melchior: Einfaches Bauren-Concept, S. 408. 22 Vgl. ebd., S. 409. 23 Vgl. Klaus Ganzer: Das Konzil von Trient und die theologische Dimension der katholischen Konfessionalisierung. In: Wolfgang Reinhart u. Heinz Schilling (Hrsg.): Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993. Münster 1995, S. 50–69, hier: 53. 19 Vgl.
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Ruf durch das in einer Krippe liegende hölzerne Jesu-Kind vernommen habe und bald darauf selig in den Himmel gefahren sei.24 In all diesen hinter der Erzähloberfläche erkennbar werdenden rhetorischen Figuren, die theologisch stets von einem Tun-Ergehens-Zusammenhang künden, kann man zweifellos Elemente der barocken Predigt erkennen: Der aus dem unterfränkischen Haßfurt stammende Melchior knüpft an polyhistorische Wissensbestände (Reiseberichte, Naturforschung) an; er will durch Anschaulichkeit und Metaphern sein Publikum überzeugen. Seine Predigten sind verziert mit »weitgesuchten Allusionen, gedrechselten Antithesen, kindischen Wortspielen«.25 Und gleichzeitig ist auf eine letzte Sichtweise aufmerksam zu machen, den »guten Anderen« darzustellen. Sie weist meines Erachtens bereits deutlich auf die katholische Aufklärung und ihre Vorstellung des vereinten »Menschengeschlechts« hin.26 In einer Predigt zum Fest der Kreuzerhöhung am 14. September wird z. B. auf die weit entfernt lebenden »Japonier« rekuriert, die, um es mit Karl Rahner zu sagen, gewissermaßen als anonyme Christen avant la lettre leben.27 Die Japaner, so schreibt Melchior, hätten auch vor der Missionstätigkeit des Jesuiten Franziskus Xaverius (1506–1552) in Asien während des 16. Jahrhunderts bereits auf »sonderbahrliche« Weise das Kreuz verehrt und solches an die Thür und Thor ihrer Wohnungen gesetzet / alle teuflischen Gespenster und Nachstellungen dardurch zu vertreiben / welches sie gesehen und gelernet haben von denen Portugesern; dann als diese in Japonien kommen / und ihnen von selbigen wilden Leuthen solche Wohnungen und Zimmer angewiesen wurden / welche von grausamen Gespenstern bewohnet waren / vertrieben sie solche allein durch das H. Creutz-Zeichen / mit welche sie sich verwahrten / welches dann die Japoneser beweget solchem Exempl nachzufolgen / wie sie dann in der That erfahren / daß wieder solche Ungeheuer nichts kräfftigers seye als sich bezeichnen mit dem H. Creutz.28 24 Vgl.
Melchior: Einfaches Bauren-Concept, S. 605. Rudolph Graser OSB im Jahr 1768, zit. nach Frank Büttner: Abschied von Pracht und Rhetorik. Überlegungen zu den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Stilwandels in der Sakraldekoration des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Süddeutschland. In: Andreas Tacke (Hrsg.): Herbst des Barock. Begleitbuch zu den Ausstellungen im Museum der Stadt Füssen (Deutschland) 10. Juli bis 25. Oktober 1998 und im Museum in der Burg Zug (Schweiz) 15. November 1998 bis 28. Februar 1999. Berlin 1998, S. 165–173, hier: 167. 26 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. Berlin 1780. 27 Der Begriff ist von Karl Rahner entwickelt worden, um Aussagen zur Heilsmöglichkeit auch von Nichtchristen machen zu können. Ein Mensch kann von Gott gerechtfertigt bzw. geheiligt sein, auch wenn er schuldlos nicht zur Kirche gehört oder gar Atheist ist. Ausgangspunkt dabei ist der allgemeine Heilswille Gottes, der sich im Gnadenangebot für alle Menschen ausdrückt. Vgl. Nikolaus Schwerdtfeger: Gnade und Welt. Zum Grundgefüge von Karl Rahners Theorie des anonymen Christen. Freiburg i. Br. 1982. 28 Melchior: Einfaches Bauren-Concept, S. 525. 25 So
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Melchior verlässt hier deutlich sein aus den Episoden zuvor bekanntes ethnozentrisches Schema: Die Anderen, das waren bei ihm bislang die Barbaren, die Ungläubigen oder Sünder. Anders stellt er die Kultur der Japaner dar, vor der er offenbar Respekt empfindet. Es ist ihre intuitive Vernunft, die sie das heilige Kreuzzeichen im Kampf gegen böse Geister verwenden lässt – ohne freilich zum Christentum, wie in dem Fall des jungen Türken, überzutreten. Japan gilt Melchior – vielleicht hatte er die Missionsberichte, die Jesuiten wie Franz Xaver u. a. immer wieder nach Europa schickten,29 gelesen – nicht als primitives, raues Land, sondern als eine auf ihre Art zivilisierte, »vernünftige« Naturgesellschaft, die christliche Elemente in sich trägt, ohne es zu wissen. Die Entscheidung der Japaner für das Kreuzzeichen sei rational zu erklären, sie sei logisch begründbar und füge sich in die darstellbaren Gesetzmäßigkeiten des Christentums ein. So erscheinen die Einwohner »Japoniens« nicht wie andere als unzivilisierte, bemitleidenswerte Barbaren auf einer niederen Stufe menschlicher Vervollkommnung.30 Deutlich wird, wie Melchior darum bemüht ist, »das Ideal eines mündigen, […] wahrheitssuchenden […] Bürgers«,31 welches er den Japanern zuspricht, mit der göttlichen Heilsgeschichte zu verknüpfen. Diese Kombination wird soweit reichen, dass der württembergische Hofprediger Eulogius Schneider (1756–1794) in einer 60 Jahre späteren Predigt über die christliche Toleranz fragen wird: »können wir glauben, über so manche rechtschaffene, gutdenkende, obgleich unkatholische Mitmenschen sei das Urtheil der Verdammnis schon ausgesprochen?« Vielmehr sei »der aufrichtige, mit gutem Herzen über seine angeerbte Religion haltende, nach seiner Überzeugung handelnde Lutheraner, oder Reformierte« oder Orientale »oder wer er immer sei« nicht zu verdammen. Der gute und gerechte Gott strafe nicht die unüberwindliche Unwissenheit, nicht den Irrtum des Verstandes, sondern einzig »die Nachlässigkeit in Prüfung seiner Religion, und die Bosheit des Herzens«.32 So explizit wurde Melchior freilich noch nicht. Bei der Vermittlung aufgeklärter Theologie ließ er sich von pastoraler Klugheit leiten und wollte keine konfliktive Eskalation herbeiführen, indem er unsensibel barocke, überholte Frömmigkeitsfor-
29 Vgl.
Hans Haas: Geschichte des Christentums in Japan. Supplement der »Mitteilungen« der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens. 2 Bde. Bd. 1. Tokyo 1902. 30 Von der Hochschätzung der asiatischen Kultur zeugt auch die Radierung Zweite MenschenVarietät von Daniel Chodowiecki aus dem Jahr 1782. Vgl. Menschen-Varietäten. Radierungen von Daniel Chodowiecki für Johann Friedrich Blumenbachs »Beyträge zur Naturgeschichte«. 1. Teil. Göttingen 1790 (entst. 1782). 31 Barbara Gant: Art. Bildung, Bildungsreformen. In: Helmut Reinalter (Hrsg.): Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher – Denker – Sachbegriffe. Wien u. a. 2005, S. 163–165, hier: 163. 32 Eulogius Schneider: Predigt über die christliche Toleranz. Augsburg 1786, S. 36 f.
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men verdammte.33 Eher sollte demgegenüber langsame, kommunikativ vermittelte Überzeugungsarbeit geleistet werden. Intendiert war ein Ineinanderübergehen der alten konfessionalisierten Frömmigkeit in die neue, aufgeklärt-katholische.34 Die Lehre von einer guten Predigt war dabei nicht göttlich gegeben und unabänderlich, sondern nach und nach auf neue Erkenntnisse hin zu verändern. Diese Relecture war nie beendet, es handelte sich um eine fortwirkende Revision.35 Bindende Prinzipien der Predigt blieben aber ihre Schriftgemäßheit, ihre Irrtumslosigkeit und Angemessenheit angesichts der Würde Gottes.36 Und gleichzeitig war der Predigtdialog hier nicht mehr nur ein fingierter, als Gesellschaftsspiel verstandener wie zu Zeiten der Konfessionalisierung. Predigten sollten nicht mehr durch allzu sinnliche, wohlmöglich noch der Vernunft widersprechende Affekthascherei – als »Bezauberung der Welt«37 ihre Zuhörer beeindrucken, sondern im Stil der Apostel das Schriftwort verkünden.38 Differenzen und Analogien zwischen dem Leben fremder Völker als etwas Kuriosem, Wunderbaren einerseits und der christlichen Heilsgeschichte andererseits wurden dabei über einen Tun-Ergehens-Zusammenhang immer wieder neu konstruiert, und so realsymbolisch der Beweis für die Wirksamkeit Gottes in der Welt erbracht.39
33 Fälle,
in denen dies doch geschah, sind aus der Literatur hinlänglich bekannt: Während uns Christian Handschuh auf das allzu forsche Entfernen von vier Kirchenstatuen durch einen Dorfpfarrer im württembergischen Horb aufmerksam gemacht hat, der sich daraufhin unverhofft in einem handfesten Konflikt mit seiner Gemeinde wiederfand, berichtet Gabriele Dischinger von der vorzeitigen Resignation eines Abtes der Benediktinerabtei Ottobeuren. Als Grund für letzteres wird angegeben, Abt Benedictus Hornstein sei ein »sonderlicher Liebhaber der Neüerungen in allen Sachen gewesen« und habe u. a. Änderungen im Kirchenraum vorgenommen. Vgl. Gabriele Dischinger (Bearb.): Ottobeuren. Bau- und Ausstattungsgeschichte der Klosteranlage 1672–1802. 3 Bde. Bd. 3. St. Ottilien 2011, S. 635; Christian Handschuh: »Musterbilder für den Kirchengebrauch«. Katholische Aufklärung, Kunst und Kunstgebrauch. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 30 (2011), S. 141–159. 34 Vgl. Handschuh: »Musterbilder für den Kirchengebrauch«, S. 158. 35 Vgl. Benedikt Kranemann: Die Liturgie der Aufklärung zwischen Verehrung Gottes und sittlicher Besserung des Menschen. In: Steffen Patzold u. Florian Bock (Hrsg.): Gott handhaben. Religiöses Wissen im Konflikt um Mythisierung und Rationalisierung, Berlin u. a. 2016, S. 365– 385, hier: 384. 36 Vgl. ebd., S. 374. 37 Neuville: Vom ehrerbietigen Verhalten in den Gotteshäusern, S. 439. 38 Vgl. Büttner: Abschied von Pracht und Rhetorik, S. 168. 39 Vgl. Andreas Holzem: »Wie falsch Luthers vnnd seines anhangs Meynung sei …«. Devianzproduktion in der katholischen Predigt über Martin Luther. In: Eric Piltz u. Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter. Berlin 2015, S. 83–119, hier: 90.
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2. Vom »Skelet« einer Predigt – die Ordnung der Aufklärung Nach dieser Darstellung der Erzählungen sollen im zweiten, kürzeren Teil dieses Beitrags die Erzählweisen katholischer Predigten im Mittelpunkt stehen, also mehr das »Wie« als das »Was« von Predigten akzentuiert werden. Wenden wir uns dazu anstelle der so genannten Frühaufklärung- der Spätaufklärung zu. Im Mittelpunkt wird eine Predigt des Prager Pastoraltheologen Johann Marian Mika (1754–1816) stehen, die in vielerlei Hinsicht als charakteristisch für diese Epoche gelten kann. Mika veröffentlichte 1793 eine Predigt mit dem Titel Warnung vor Fehlern, welche Unglück und Verderben über das ganze Land, wie über Frankreich, verbreiten könnten.40 Schon allein optisch fällt der Wechsel von der großen, wuchtigen Postillensammlung eines Albert Melchior hin zu der schlichter gehaltenen, anlassbezogenen Predigt Mikas auf. Die Frage, worum es Mika geht, ist schnell beantwortet: Die Unruhen der Französischen Revolution, die sich aus der Vergötterung der Philosophie ergäben und auch auf die europäischen Länder außerhalb Frankreichs überzutreten drohen, sind für ihn nichts anderes als Anzeichen eines »unordentlichen« Lebenswandels: Der Einzelne ist mit seinem gesellschaftlichen Stande unzufrieden und begehrt gegen die Obrigkeit auf. Mika ist hier konservativ und progressiv zugleich. Während die »wahre« Aufklärung Religiosität und Wohlfahrt befördere, gab es (nicht nur) für diesen katholischen Kirchenmann auch eine »falsche« Variante, die vor allem mit 1789 und den Folgen der Revolution die gottgegebene Ordnung von Welt und Kirche bedrohte und nur Gewalt und Blutvergießen mit sich brachte.41 Im Hintergrund steht für ihn offenbar der Römerbrief (Röm 13,1–7),42 in dem Paulus eine klare Unterordnung der Christen unter den weltlichen Herrscher postuliert, da dieser und überhaupt die gesellschaftliche Ordnung göttlich eingesetzt und somit unveränderlich sei. Das lasterhafte Verhalten der Revolutionäre will Mika in populärer, allgemeinverständlicher Sprache, nicht im Tone eines bitteren Verweises, sondern unter schonender, von Nächstenliebe getragener Darstellung der Franzosen, seinen »vernünftigen« Lesern beschreiben und ihnen eine biblisch legitimierte Monarchietreue entgegensetzen. Als ideale Staatsform stand Mika dabei, wie in seiner Predigt hinreichend deutlich wird, die vom staatskirchlich ausgerichteten Josephinismus43 propagierte absolutistische Monarchie vor Augen. Seine Predigt ist dezidiert nicht an die breite Öffentlichkeit gerichtet, welche durch die genaue Beschreibung der revolutionären Laster mutmaßlich nur zu solchen angestiftet werde. 40 Vgl.
Johann Marian Mika: Warnung vor Fehlern, welche Unglück und Verderben über das ganze Land, wie über Frankreich, verbreiten könnten. Prag 1793. 41 Vgl. Holzem: Christentum in Deutschland. Bd. 2, S. 1199. 42 Oder Mt 22,21. 43 Vgl. Helmut Reinalter (Hrsg.): Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus. Wien u. a. 2008.
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Abb. 3 u. 4: Johann Marian Mika: Warnung vor Fehlern, welche Unglück und Verderben über das ganze Land, wie über Frankreich, verbreiten könnten. Prag 1793, Titelblatt (links) und Inhaltsverzeichnis (rechts). Signatur 041/1 AÖ 4380.
Der Wunsch nach Wahrung der inneren Ordnung der Gesellschaft korrespondiert bei Mika – und damit sind wir bei der Erzählweise – auf besondere Art mit der äußeren Einrichtung seiner Predigt, die er als ganz pragmatische, schlichte moralische Unterweisung versteht. Barocke Allegorese, additive Bauprinzipien, lustund phantasievolle Kommunikation zwischen ingeniösem Prediger und erregtem Publikum44 sind Mikas Sache nicht mehr. Er beschreibt die »äußere Einrichtung« seiner Predigt selbst als »systematisch«, denn die pastorale Erfahrung lehre es, dass nur eine regelmäßig eingerichtete Predigt zum Erfolg führe. Es folgt – ähnlich einer rhetorischen dispositio – das »Skelet der ganzen Predigt«, das zusammen mit der Vorrede 22 von insgesamt 150 Seiten der gesamten Darstellung einnimmt und teilweise bis in die neunte Ebene (III.A.3.δ.3.d.β.c.1) untergliedert ist. 44 Vgl.
Dieter Breuer: Der Prediger und die Macht der Phantasie. Besonderheiten der Barockpredigt. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 (1997), S. 61–70.
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In der Predigt selbst wird mit einem exakten Fußnotenapparat nicht gespart, so dass sich der Eindruck einer geradezu verwissenschaftlichten Ordnung noch vertieft. Wirft man einen Blick in den im ausgehenden 18. Jahrhundert allerorts kursierenden Tabellarischen Grundriß der in deutscher Sprache vorzutragender Pastoraltheologie (1777) Franz Stephan Rautenstrauchs (1734–1785),45 so wird klar, woher Mika augenscheinlich die Idee für einen so fein ziselierten Aufbau bekam. Die aufgeklärt-katholische Linzer Monathsschrift wird Mikas Predigten 1802 mit folgenden Worten rezensieren: »Gut und erschöpfend; nur bisweilen etwas zu ausführlich.«46 Bereits die »churfürstlich-baierische gelehrte Gesellschaft zur Beförderung der geistlichen Beredsamkeit und Katechetik« hatte in ihrer mehrbändigen Reihe »Predigten über wichtige Gegenstände der Religion und Sitten« ein paar Jahre zuvor eine dezidierte Abgrenzung zur konfessionalisierten Predigt vorgenommen und eigens eine Karfreitags-Predigt ihres Direktors Heinrich Braun mit abgedruckt, und zwar nicht als vorbildliches Exempel, sondern – jedermann zur »sichtbarsten Probe« – zur Abschreckung. Diese ältere, konfessionalisierte Predigt sei »mehr Betrachtung als Rede«, versehen mit allzu vielen verschiedenen Schriftstellen, »im Begriffe« und in der Schreibart der wahren Kanzelsprache noch weit zurück, da in Unordnung, ohne gute Anleitung und Muster verfasst.47 Im Gegensatz zum langsamen und allmählichen Übergang des konfessionalisierten in den aufgeklärten Frömmigkeitsstil im Bauren-Concept Melchiors findet sich hier ein Narrativ der strengen ästhetischen Geschlossenheit, das die gegenwärtige Art zu Theologisieren als Fortschritt gegenüber aller Vergangenheit charakterisierte.48
3. Fazit: Aufklärungen vor Ort Der Frühneuzeit-Historiker Peter Hersche kann mit Predigten wenig anfangen. Für ihn sind sie normative Quellen, die »in der bisherigen Geschichtsschreibung überbewertet worden« sind. Sie »haben überreichen Eingang in verschiedene Darstellungen gefunden«, daher sei es Zeit, »sie erst einmal im Bibliotheksregal zu lassen.«49 45 Abgedruckt in: Anton Zottl u. Werner Schneider (Hrsg.): Wege der Pastoraltheologie. Texte
einer Bewusstwerdung. 18. Jahrhundert. Grundlegung und Entfaltung. Eichstätt 1987, S. 27–34. 46 Theologisch-praktische Linzer Monathsschrift zunächst für Seelsorger. Fünfter Jahrgang. 2 Bde. Bd. 2. Linz 21811, S. 368. 47 Heinrich Braun u. Die churfürstlich-baierische gelehrte Gesellschaft zur Beförderung der geistlichen Beredsamkeit und Katechetik: Predigten über wichtige Gegenstände der Religion und Sitten. 5 Bde. Bd. 3. Augsburg 1779, S. VI f. 48 Der kalifornische Romanist Dan Edelstein sieht ein solches Narrativ als stilprägend für die Aufklärung an. Vgl. ders.: The Enlightenment. A Genealogy. Chicago 2010. 49 Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. 2 Bde. Bd. 1. Freiburg i. Br. 2006, S. 89.
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In der Tat: Nach dem Trienter Konzilsdekret Super Lectione et Praedicatione soll eine Predigt – im leicht verständlichen, kurzen Sprachduktus – belehrenden und ermahnenden Charakter haben. Laster sind zu meiden, nach Tugenden ist hingegen zu streben.50 Doch die vorangegangenen Zeilen dürften demgegenüber den Blick geweitet haben. Predigten scheinen vielmehr als in hohem Maße konstruierte pas torale Strategien begreifbar. Narrative Formen wurden etabliert, die von einer die konfessionelle Identität prägenden »induktiven« Ausschmückung der Heils- und Kirchengeschichte künden, angepasst an die zeitgenössischen Intentionen vor Ort und teilweise weit entfernt von der systematischen Deduktion Roms mit ihren kate chetischen Vorgaben. Mit Blick auf die vorgestellten Predigten war in dem Call for Papers der diesem Sammelband zugrundeliegenden Tagung völlig zutreffend von vielen »kleinen« Erzählungen die Rede, in denen Aufklärungen (im Plural!) vorgestellt wurden.51 Wenn katholische Predigten Aufklärung erzählten, taten sie dies selten in einem Gesamtprogramm, sozusagen als »religiöse Systemkritik«, sondern griffen in dieser narrativen Wissensform vereinzelt Diskurse der Zeit auf; hier am Diskurs über Alterität und »innere« wie »äußere« Ordnung dargestellt. Die Prediger selbst verstanden sich als Dolmetscher52 mit der Zuständigkeit, zentrale Glaubenswahrheiten »aufzuklaren«.53 In der Vermittlung von überzeit lichem christlichem Wahrheitsanspruch und zeitbedingtem Wahrheitsbewusstsein stellten sie Bausteine zu einer Narratologie der Aufklärung bereit. Als Leser waren wiederum »vernünftige« Seelsorger avisiert, die vor der Gemeinde Versatzstücke jener Predigtdrucke verwenden sollten. Dabei durfte eklektisch vorgegangen werden: Albert Melchior, aber auch Johann Marian Mika u. a.54 forderten ihre Leser auf, die von ihnen geschriebenen Texte nach eigenem Gutdünken und Empfinden zu gebrauchen und in andere Predigten zu integrieren. Das Narrativ dessen, was uns seit dem 19. Jahrhundert als die große Erzählung der Aufklärung bekannt ist, wurde so weiterentwickelt. 50 Vgl.
Concilium Tridentinum: Decretum secundum. Super lectione et praedicatione. In: Josef Wohlmuth (Hrsg.): Dekrete der Ökumenischen Konzilien. 3 Bde. Bd. 3. Paderborn u. a. 2002, S. 667–670. 51 Vgl. Frauke Berndt u. Daniel Fulda: Erzählende und erzählte Aufklärung. DGEJJahres tagung 2015. Ankündigung (http://dgej.hab.de/content/erz%C3%A4hlende-und-erz%C3%A4hlte-auf kl%C3%A4rung-narrating-enlightenment-and-enlightenment-narrative, Aufruf: 11. 04. 2017). 52 Vgl. Reinhard Krause: Die Predigt der späten deutschen Aufklärung (1770–1805). Stuttgart 1965, S. 36. 53 Edgar Baumgartl: Martin Knoller 1725–1804. Malerei zwischen Spätbarock und Klassizismus in Österreich, Italien und Süddeutschland. München u. a. 2004, S. 54 (mit Quellennachweis). 54 Vgl. »An den gelehrten Leser« (Melchior: Einfaches Bauren-Concept, Vorwort o. S.) bzw. »Vorerinnerung an die Prediger« (Mika: Warnung vor Fehlern, S. 7).
Astrid Dröse
Friedrich Nicolais satirischer Roman Sebaldus Nothanker und der Höllen-Diskurs der Spätaufklärung I. Sie sollen, noch diese Ostermesse, de ma façon den ersten Band eines Buchs bekommen, worin viel von der Ewigkeit der Höllenstrafen vorkommt. Raten Sie was das ist? Und wenn Sie es dann wissen, so widerlegen Sie mich auch, wenn Sie Herz haben.1
Diese Zeilen schreibt Friedrich Nicolai Ende Februar 1773 an seinen Freund Lessing nach Wolfenbüttel. Ein Buch aus der Feder des streitbaren Berliner Kritikers und Verlegers, womöglich ein Roman über die Höllenstrafen, der Lessing provozieren könnte? Sehen wir uns den Brief genauer an: Zu Beginn des Schreibens berichtet Nicolai von einem heftigen Schlagabtausch, den er sich mit dem französischen Gelehrten François Cacault über die Hamburgische Dramaturgie geliefert habe, wobei er Lessing gegen die Kritik des Franzosen energisch in Schutz genommen haben will. Darauf folgt eine kurze Passage, die uns die eingangs zitierte Briefstelle erhellt: Wegen Ihres unbefugten Angriffs auf mein privilegiertes Verlagsbuch, Eberhards Apologie des Sokrates, sollte ich Ihnen billig den Text lesen, wenn ich heute nur Zeit hätte. Aber wie Ihr Leute seid! Zuletzt wird ein Ketzer, der nach Ihrer Art ewig verdammt, und nach Eberhards Art nicht ewig verdammt wird, gleich gut wegkommen. (LWB 11.2, 532)
Mit dem Hinweis auf die Abhandlung Johann August Eberhards wird der Zusammenhang von Nicolais Ankündigung klar. Er sei in aller Kürze nachgezeichnet: Lessing hatte Anfang des Jahres 1773 in den Beiträgen zur Geschichte der Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel einen Traktat mit dem Titel Leibniz von den ewigen Strafen publiziert.2 Lessings Text kommentiert und gibt hier ein Vorwort wieder, das Leibniz zur geplanten Edition einer frühneuzeitlichen, heterodoxen Schrift verfasst (aber wohl nicht publiziert) hatte. Diese stammt aus der 1 Gotthold
Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner unter Mitwirkung von Georg Braungart, Klaus Fischer u. Ute Wahl. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1988–2003 [im Folgenden: LWB], hier: LWB 11.2, 532. 2 Vgl. dazu auch Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Weimar 32010, S. 439.
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Feder des Sozinianers Ernst Soner (1572-1612).3 Soners These:4 Es wäre paradox, wenn Gott über zeitliche Vergehen ewige Strafen verhängen würde. Dies widerspräche seiner Güte. Die Vorstellung einer unbegrenzten, ewigen Strafe wird daher von Soner ad absurdum geführt; zugleich wird die althergebrachte Vorstellung von dem Ort des Strafvollzugs kassiert: Die Hölle verliert bei Soner ihren Schrecken. Daher hebt Leibniz zur Widerlegung des sozinianischen Strafparadox-Arguments an. Die heikle Problematik ist dabei augenfällig: Wie kann ausgerechnet der Propagator der ›besten aller Welten‹ für die Ewigkeit der Höllenstrafen argumentieren? Hier setzt Johann August Eberhard mit seiner 1772 in Nicolais Verlag erschienenen Schrift Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung von der Seligkeit der Heiden5 an, in der er den Allerlösungs-Gedanken propagiert und Leibniz den Schulterschluss mit der Orthodoxie vorwirft.6 Das wiederum rief den Leibniz-Verehrer Lessing auf den Plan, dessen genannte Schrift Leibniz von den ewigen Strafen ihrerseits eine Apologie Leibnizens und zugleich ein Pamphlet gegen Eberhard darstellt.7 Auf die theologischen Aspekte der Debatte, die dogmen- und kirchenhistorisch als Höhe- und Wendepunkt im Streit um die Frage nach der Ewigkeit der Höllenstrafen bzw. der Allerlösung (Apokatasis panton)8 gilt, kann im Einzelnen hier nicht 3 Bei
dieser Schrift handelt es sich um die Demonstratio Theologica & Philosophica, quod aeterna impiorum supplicia non arguant Dei Justitiam, sed injustitiam. In: Fausti et Laeli Socini item Ernesti Sonneri tractatus aliquot theologici nunquam antehac in lucem editi. Eleutheropolis [Amsterdam] 1654, S. 36–69. 4 Der Zusammenhang wird nachgezeichnet bei Friedrich Vollhardt: Ausblicke ins Jenseits. Imaginationen der Hölle und deren Revisionen in der Literatur der Frühen Neuzeit. In: Tobias Pfeifer-Helke (Hrsg.): Hieronymus Boschs Erbe. Dresden 2015, S. 29–39, hier S. 36 f. 5 Johann August Eberhard: Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden. 2 Bde. Berlin/Stettin 1771–1778. 6 In seiner Gedächtnisschrift gibt Nicolai an, Eberhard durch die Übersendung der holländischen Übersetzung des heterodoxen Traktats Bélisar des Franzosen Mammortel auf das Thema aufmerksam gemacht zu haben. Vgl. Albrecht Beutel: Aufklärung und Pietismus auf dem Weg nach Berlin. Die Figur des ›Frömmlings‹ in Friedrich Nicolais Roman Sebaldus Nothanker (1773–1776). In: ZThK 99 (2002), S. 262–277, hier: 269, Anm. 29. Zu Eberhard liegen mehrere neuere Studien und Sammelbände vor: Hans-Joachim Kertscher u. Ernst Stöckmann (Hrsg.): Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie. Berlin 2012; Gerda Haßler: Johann August Eberhard (1739–1809). Ein streitbarer Geist an den Grenzen der Aufklärung. Mit einer Auswahl von Texten Eberhards. Halle/Saale 2000. 7 Lessing akzentuiert in seiner Interpretation Leibnizens die Vorstellung einer Gesetzmäßigkeit der Welt, eines universellen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs. Die Ewigkeit der Höllenstrafen sei sozusagen ein »Bild für den gesetzlichen Zusammenhang des Universums« (Fick: Lessing-Handbuch, S. 439). Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Lessings origenistische Eschatologie. In: Christoph Bultmann u. Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin/ New York 2011, S. 138–154, hier: 150 f., der die Argumentation nachzeichnet. 8 Zur literarischen Verarbeitung dieses theologischen Problems am Beispiel von Goethe vgl. Jörg Robert: Affenangst und Allerlösung. Goethes skeptische Anthropologie. In: Bernd Zegowitz
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eingegangen werden.9 Festzuhalten bleibt, und das ist die These der folgenden Ausführungen, dass Nicolai im Medium des Romans den Schlusspunkt unter diese Debatte zu setzen sucht. Diese steht dabei im Kontext eines Säkularisierungsvorgangs, den die angloamerikanische Forschung als The Decline of Hell bezeichnet hat.10 Das »bedeutendste Prosabuch der deutschen Aufklärungsliteratur«11, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, verhandelt als zentrales Thema die Lehre von den Höllenstrafen.12 So diskutieren die Romanakteure nicht nur immer wieder dieses überkommene Dogma, vielmehr motiviert Sebaldus’ heterodoxe Position in dieser Frage maßgeblich die Entwicklung des plots. Die literarische Verhandlung der Höllendebatte ist im Kontext der Gattungszugehörigkeit des Romans zu betrachten. Bereits im Titel markiert Nicolai durch den Bezug auf Lawrence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759–1767) die Sys temreferenz: Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker ist ein satirischer Roman mit humoristischen Elementen.13
II. Friedrich Nicolai ist in den letzten Jahren vor allem als »Gründer unseres literarischen Lebens«14 (Marcel Reich-Ranicki), also in seiner Eigenschaft als Literaturorganisator, Kritiker und Meinungsbildner ins Interesse der Aufklärungsforschung u. Frank Fürbeth (Hrsg.): Vorausdeutungen und Rückblicke. Goethe und Goethe-Rezeption zwischen Klassik und Moderne. Heidelberg 2013, S. 1–25. 9 Vgl. hierzu Schmidt-Biggemann: Lessings origenistische Eschatologie. 10 Das ist der Titel des Standardwerks von Daniel Pickering Walker: The Decline of Hell. Seventeenth-Century Discussions of Eternal Torment. London 1964. Vgl. auch Georges Minois: Die Hölle. Zur Geschichte einer Fiktion. München 1994. 11 Bernd Witte: Nachwort. In: Friedrich Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Bernd Witte. Stuttgart 1991, S. 604– 613, hier: 604. 12 Die Vorstellung von der Ewigkeit der Hölle und ihrer Strafen war bereits zu Beginn des 18. Jhd.s abgemildert. In Klopstocks Messias wird sogar der einsichtige Teufel zum Präzedenzfall für die Apokatastasis panton, die Rettung aller. Vgl. Vollhardt: Ausblicke ins Jenseits, S. 38. 13 Zur Bestimmung des Satirischen schließe ich mich dem von Jörg Schönert (Satirische Aufklärung. Konstellationen und Krise des satirischen Erzählens in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (www.goethezeitportal.de/db/wiss/aufklaerung/schoenert_ satirische_aufklaerung.pdf, S. 57–70, Aufruf 23. 05. 2016)) entwickelten Modell der »satirischen Situation«, in dem das gängige Kommunikationsmodell (Objekt – Empfänger / Leser – Sender/ Erzähler) um die Kategorie »Norm« als »Fluchtpunkt« dieser Konstellation erweitert wird. Vgl. die konzise Zusammenfassung bei Phöbe Annabel Häcker: Geistliche Gestalten – gestaltete Geistliche. Zur literarischen Funktionalisierung einer religiösen Sprecherposition im Kontext der Neologie. Würzburg 2009, S. 195 ff. 14 Marcel Reich-Ranicki: Der Gründer unseres literarischen Lebens. In: Ders.: Die Anwälte der Literatur. Stuttgart 1994, S. 32–52.
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gerückt.15 Gezeigt werden konnte v. a., wie es Nicolai gelang, »sich selbst als neue Instanz der deutschen Literaturkritik, als Nachfolger Gottscheds neben Lessing« und dabei »Berlin als neuen Kampfplatz der Literatur«16 zu etablieren. Durch die Beiträge seiner Rezensionszeitschrift Allgemeine Deutsche Bibliothek (ADB), des führenden »Integrationsmedium[s] der Gelehrtenrepublik«17 war Nicolai nicht nur an literarischen Debatten zentral beteiligt, sondern er mischte sich auch offensiv in die theologischen Diskussionen der Spätaufklärung ein. Sein Romanprojekt flankierte diese Bemühungen, es ist als literarisches Seitenstück oder »Komplement«18 zu den orthodoxiekritischen Rezensionen in der ADB zu betrachten. 1773 erscheint der erste Band des Sebaldus anonym in Nicolais Verlag, der Roman wird sofort ein sensationeller Erfolg; 1775 und 1776 folgen Band zwei und drei.19 Die Handlungsstruktur sei kurz skizziert: Protagonist ist ein naiv-weltfremder, philanthroper Landpfarrer, dessen Lebensgeschichte – beginnend mit seiner Hochzeit – erzählt wird. Dabei ist Sebaldus ein Romanheld, der den Zeitgenossen bestens bekannt war: nämlich aus Moritz August von Thümmels etwa 10 Jahre zuvor publiziertem Bestseller Wilhelmine oder der vermählte Pedant.20 Nicolai nutzt die Folie dieses »prosaisc[h] comische[n] Gedicht[es]« (so der Untertitel) dabei nicht nur verkaufsstrategisch, sondern auch, um eine satirische Romanpoetik zu entwickeln, die den Sebaldus-Roman als ›Anti-Wilhelmine‹ erscheinen lässt. So verspricht Nicolai in der Vorrede gegenüber der ›chaotischen‹ Zeitstruktur dieses Romans eine an der Geschichtsschreibung orientierte Chronologie und quellenbasierte Tatsachendarstellung.21 Im Zentrum soll die »unwunderbare« Geschichte »ganz gemeine[r], 15
Siehe Stefanie Stockhorst (Hrsg.): Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Göttingen 2013; Rainer Falk u. Alexander Košenina (Hrsg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008; Pamela E. Selwyn (Hrsg): Everyday Life in the German Book Trade. Friedrich Nicolai as Bookseller and Publisher in the Age of Enlightenment. 1750–1810. Princeton 2000. Vgl. auch Bernhard Fabian (Hrsg.): Friedrich Nicolai. Essays zum 250. Geburtstag. Berlin 1983. 16 Frieder von Ammon: Kampfplätze der Literatur. Nicolai und die Streitkultur des 18. Jahrhunderts. In: Stockhorst (Hrsg.): Friedrich Nicolai, S. 23–49, hier: 35. 17 Ursula Schneider: Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrations medium der Gelehrtenrepublik. Wiesbaden 1995. 18 Beutel: Aufklärung und Pietismus, S. 285. 19 Zum programmatischen Charakter des Romans, seinen Entstehungskontexten im Zeichen der Berliner Aufklärung sowie zu seiner Rezeption vgl. Knut Kiesant: Sebaldus Nothaker – ›ein Manifest‹ der deutschen Aufklärung. In: Stockhorst (Hrsg.): Friedrich Nicolai, S. 75–94. Zur komplexen Druckgeschichte (es folgten mehrere Neuauflagen und Nachdrucke) vgl. Reinhard Wittmann: Noch ein Brosämlein zur Druckgeschichte des »Sebaldus Nothanker«. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 3 (1978), S. 195–196; ders.: Ein Doppeldruck des »Sebaldus Nothanker«. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 2 (1977), S. 127–128. 20 Moritz August von Thümmel: Wilhelmine, oder der vermählte Pedant. [E]in prosaisch comisches Gedicht. o. O. 1764. 21 »Freilich ist dieser Verfasser [d. i. Thümmel, Anm. d. Verf.] ein Poet, und ist daher nicht,
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schlechte[r] und gerechte[r] Leute stehen« (Vorrede). Entsprechend nüchtern beginnt der Roman: Der Pastor Sebaldus und die schöne Wilhelmine brachten die ersten Monate nach ihrer Verheirathung, welche sonst andern neuverehlichten Paaren die Zeit einer girrenden Zärtlichkeit zu seyn pflegen, vielmehr in einer Art von Kälte und Verlegenheit zu. (SN, 11)
Wilhelmine – bereits die Titelheldin von Thümmels Roman – ist eine kultivierte Hofdame, Abonnentin der von Nicolai und Lessing herausgegebenen Briefe die neueste Litteratur betreffend, und geradezu fanatische Wolffianerin. Sebaldus ist zwar ein aufgeklärter Vertreter der Vernunftreligion, zugleich aber ist er mit einem besonders kauzigen, ja esoterischen Steckenpferd befasst: Er kommentiert mit feurigem Eifer die Apokalypse des Johannes. Durch heterodoxe Äußerungen in seinen Predigten – er leugnet mehrfach die Ewigkeit der Höllenstrafen – gerät Sebaldus jedoch in das Visier der kirchlichen Obrigkeit und wird von seinem Amt suspendiert. Wilhelmine stirbt vor Gram, der Sohn geht zum Militär, die kleine Tochter erliegt einer schweren Krankheit. Sebaldus und seine tugendhafte Tochter Marianne stehen am Ende der Exposition vor dem Nichts. An dieser Stelle teilt sich die Romanhandlung in zwei Stränge, die parallel geführt werden und sich bis zum Ende nur einmal kurz berühren. Dabei werden in der erzählten Welt zwei soziale Kontrasträume eröffnet: die Sebaldus-Handlung bewegt sich im bürgerlich-urbanen Milieu, die MariannenHandlung in der höfischen Welt. Seine Irrfahrten führen Sebaldus im Folgenden zu ›hotspots‹ der Aufklärung im Reich und über dessen Grenzen hinaus, zu Regionen und in Städte, in denen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der dogmatischen Orthodoxie und der aufgeklärten Vernunftreligion, zwischen Pietisten, radikalen Häretikern und Atheisten auch in der Realität besondere Brisanz entfalteten – nämlich in Leipzig, Berlin, in der holsteinischen Provinz, im Einzugsgebiet Hamburgs sowie in den Niederlanden. wie es einem gründlichen Geschichtskundigen gebühret, beflissen gewesen, eine richtige Chronologie zu beobachten und seine Erzählungen von allen Erdichtungen rein zu erhalten. Es sind daher manche Umstände sehr verdächtig, und er scheint nicht im Stande zu seyn, eine einzige von seinen Erzählungen, mit ungedruckten Urkunden zu belegen. […] Er ist hierinn eben so unachtsam, wie sein Mitbruder, der nachlässige Virgil, in dessen Aeneide die verpfuschte Chronologie, von den gelehrtesten Commentatoren, mit vieler Mühe kaum hat in Ordnung gebracht werden können. In dieser wahrhaften Lebensbeschreibung hingegen, hat man die Zeitrechnung so genau beobachtet, daß man nicht allein das Jahr, sondern auch den Monath und den Tag angeben kann, wenn eine jede Begebenheit vorgegangen ist, und an vollständigen diplomatischen Beweisen wird diese Geschichte keiner andern nachzusetzen seyn« (Friedrich Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Bernd Witte. Stuttgart 1991 [im Folgenden: SN], hier: SN, 5–6). Vgl. zu dieser Passage auch Peter Mollenhauer: Friedrich Nicolais Satiren. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Amsterdam 1977, S. 103 f.
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Zwischen den ›dynamisch‹ inszenierten Ortswechseln ereignen sich die – im Umfang dominierenden – ›aktionsarmen‹ und diskurslastigen Religionsgespräche, die Sebaldus mit Vertretern der verschiedenen theologischen Positionen führt. Dabei verleiht Nicolai den Romanfiguren unverkennbare Züge realer Protagonisten der deutschen Aufklärungsszene bzw. ihrer Antipoden. Der unnachgiebige Superintendent, der Sebaldus’ Amtsenthebung erwirkt, erscheint beispielsweise als Karikatur von Lessings späterem Widersacher im Fragmentenstreit, Johann Melichior Goeze,22 hinter dem vernünftigen Berliner Prediger verbirgt sich ganz offenbar Johann August Eberhard. In Gestalt des klugen Buchhändlers Hieronymus hat Nicolai selbst einen ›cameo‹-Auftritt. Sebaldus Nothanker kann also auch als ein zentraler Schlüsselroman der deutschen Aufklärung bezeichnet werden. Der zweite Handlungsstrang behandelt den Lebensweg von Marianne, die als Hofdame eine Anstellung findet. Durch die Zentrierung der Liebesthematik verbunden mit dem Nachvollzug traditioneller Erzählschemata mit z. T. trivialen Verwicklungs- und Lösungselementen (der verschollene Bruder taucht plötzlich wieder auf, ein Lottogewinn bringt Vater und Tochter wieder zusammen), kann Nicolai hier den Bedürfnissen des Publikums nach ›Romanhaftem‹ gerecht werden.
III. Kommen wir an dieser Stelle zurück zur eingangs formulierten These von der Bedeutung der Hölle bzw. der ewigen Strafen für diesen Roman. Diese zeigt sich bereits auf struktureller Ebene: Die entscheidenden Wendepunkte der SebaldusHandlung sind mit dem Höllen-Diskurs verknüpft. Zwei zentrale Szenen möchte ich exemplarisch vorstellen. Gleich zu Beginn wird die heterodoxe Einstellung des Protagonisten exponiert: Zu beklagen war es freilich, daß dieser sonst gutmütige Mann […] im Herzen nichts weniger als orthodox war. […] Am meisten aber ging er in der Lehre vom Tausendjährigen Reiche und von der Ewigkeit der Höllenstrafen von der Dogmatik ab. Er glaubte das erstere steif und fest, von der letztern hingegen hatte er sich nie überzeugen können. Er glaubte, im himmlischen Jerusalem würden alle Gottlosen fromm werden. (SN, 13 f.)
Diese heikle Position wird jedoch keinesfalls heroisiert, sondern ins Ambivalente hinübergespielt: Zwar wird Selbaldus’ theologische Haltung gleich als Aspekt einer 22 Aufgrund
der Rezensionen kirchenkritischer Schriften in seiner ADB war Nicolai bereits mehrfach mit Goeze in Konflikt geraten. Vgl. Marcus Twellmann: Klerikalmoden. Historische Dogmenkritik in Friedrich Nicolais ›Sebaldus Nothanker‹. In: Das achtzehnte Jahrhundert 33 (2009), S. 60–87, hier: 69–71.
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vernünftigen Denkweise gezeigt, mit der Nicolai zweifelsohne sympathisiert. Andererseits kontrastiert dieser aufgeklärt-moderne Standpunkt mit Sebaldus’ schrullig-esoterischem Steckenpferd.23 Der Landpfarrer ist kein strahlender Romanheld, eher ein theologischer Don Quijotte, der keineswegs durchgehend die textinterne, normkonforme Instanz der Satire repräsentiert. Schließlich erregt Sebaldus durch diverse Auffälligkeiten in der Amtsausübung die Aufmerksamkeit der kirchlichen Obrigkeit: »Schon als D. Stauzius noch Dorfpfarrer war, hatte er sich mit Sebaldus oft über die Ewigkeit der Hölle gestritten, die er mit großem Eifer behauptete, und von der Sebaldus, wie wir dem Leser schon haben merken lasen, Begriffe hatte, die zwar ganz menschenfreundlich, aber gar nicht orthodox waren« (SN, 32). Dabei wird deutlich, dass Superintendent Stauzius als Verfechter der Höllenstrafen nicht nur theologische Intentionen verfolgt. Der Erzähler hebt deutlich die sozialdisziplinierende Funktion der Höllen-Vorstellung hervor. Die protestantische Kirche wirkt im Machtbereich des Superintendenten organisiert und diszipliniert wie die friderizianische Armee: »Er erhielt im Lande eine solche Einförmigkeit in der Lehre, wie ein Hauptmann bey einer wohleingerichteten Compagnie Soldaten, bey der jeder Rock so lang als der andere, […] und die sich nie nach ihrem eigenen Willen, sondern blos nach dem Wink ihrer Obern beweget« (SN, 32). Die Gültigkeit der dogmatischen Lehrsätze in Frage zu stellen, »untergräbt damit auch das Fundament, auf dem die traditionsgebundene Feudalherrschaft beruht«24. Um nicht nur die Bauern, sondern auch die Hofgesellschaft »in kirchlicher Zucht zu halten«, malt ihnen Stauzius die Hölle »recht schrecklich« und »gräßlich«, nämlich als phantasmagorisches Gebilde, als »höllischen Schwefelpfuhl« mit den entsprechenden »Martern der Verdammten« aus, »wobei er denn mit einem holen klagenden Tone das Wort ewig! ewig! ewig! sehr oft erschallen ließ« (SN, 33). Stauzius wird dabei als Karikatur eines Vertreters der protestantischen Orthodoxie gezeichnet, wie sie beispielsweise Eberhard in der (eingangs erwähnten) Neuen Apologie des Sokrates anprangert. Eberhard rückt die Idee »endloser Qualen« in die Nähe eines »Aberglauben[s]«, der lediglich dem Erhalt von Machtstrukturen diene.25 Die gedanklichen Parallelen sind erkennbar: 23 »Nachdem
er also bei sich über den Wert aller dogmatischen und moralischen Wahrheiten einig war, indem er keine dogmatische Wahrheiten für nötig und nützlich hielt, als die auf das Verhalten der Menschen einen Einfluß haben, und sich mehr angelegen sein ließ, alle moralischen Gesetze Gottes auszuüben, als sie zu zergliedern oder zu umschreiben, so hatte er sich ganz dem Studium der prophetischen Schriften gewidmet. Jeder Mensch hat sein Steckenpferd, und Sebaldus hatte die Apokalypse dazu erwählt, welches er auch, seine ganze Lebenszeit durch, vom Montage bis zum Freitage fleißig ritt« (SN, 14). Vgl. Burkhard Moenninghof: Intertextualität im scherzhaften Epos des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1991, S. 26. 24 Witte: Nachwort, S. 609. 25 Vgl. dazu auch die Äußerung Nicolais zu Lessing: »Der denkenden Leute sind so wenige,
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Die Hierarchie, die gefürchtet sein will, die kriechende Andächtler, nicht edel mütige Andächtige haben will, bedient sich des Bildes Ewiggequälter mit Nutzen, das Grausen der religiösen Dunkelheit, worin ein blutgieriger Despot herrscht, in den zitternden Gemütern zu erhalten: […] Lauter Bedencklichkeiten, lauter Furcht und Angst zerreissen die gepeinigte Seele; denn sie sieht nicht angemessene Strafen, sondern Qualen ohne Ende,26
heißt es in der Schrift des Neologen. Die satirische Pointe besteht bei Nicolai an dieser Stelle darin, dass die Maßnahmen gegen Sebaldus als persönliche Eitelkeit der Ankläger entlarvt werden. Hinter Stauzius’ Schikanen steckt ein Minderwertigkeitskomplex: Seine Ehefrau war die Ex-Geliebte des Sebaldus, die dieser für die jüngere und hübschere Wilhelmine verlassen hat.27 Der Präsident des Con sistoriums fühlt sich hingegen durch Wilhelmines öffentliche Kritik an seinen geschmacklosen Casualcarmina provoziert.28 Im Hinblick auf die Lehre von den Höllenstrafen wird deutlich: Die religiösen Instanzen vertreten die überkommene, furchteinflößende Lehre nicht in erster Linie aus theologischen Gründen. Vielmehr fungieren diese Dogmen im Pufendorfschen Sinne als vinculum societatis, als Instrument der staatskirchlichen Sozialdisziplinierung und Hierarchiestabilisierung.29 Die Ereignisse um das Disziplinarverfahren sie haben in den meisten Ländern so viel zu riskieren, und sind daher so furchtsam; die Orthodoxen sind durch Gesetze und Besitz so mächtig geschützt, daß, wenn sie den geringsten Beystand bekommen, sich die denkenden Leute gar nicht merken lassen werden, daß sie freier denken, als andere« (8. 3. 1771) (LWB 2.2, 173). 26 Eberhard: Neue Apologie des Sokrates. Bd. 1, S. 433. Zu Eberhards Abhandlung vgl. Beutel: Aufklärung und Pietismus, S. 396 f. Im Zentrum steht – angeregt durch Marmontels didaktischen Roman Bélisaire, in dem die Hoffnung der Erlösung ›guter‹ Heiden artikuliert wird – die Bestreitung der augustinischen Erbsündenlehre. Der Gedanke der ewigen Strafen sei weder vernünftig noch christlich. Göttliche Strafen können aus Vernunftgründen nur befristet sein; sie dienen der moralischen Besserung und führen zur ewigen Glückseligkeit. 27 »Unglücklicherweise aber für Sebaldus war sie auf denselben und seine Frau auch sehr übel zu sprechen. Sie konnte es ihm noch nicht vergeben, daß er ihre Hand und mit ihr das einträgliche Amt ausgeschlagen hatte, bloß um eine jüngere und schönere Person zu heirathen. Wenn also D. Stauzius gegen Sebaldus nur ein verdriesliches Wort sagte, so setzte sie noch zwey oder drey hinzu […] und brachte […] ihren itzigen Mann […] wider ihn auf. Welch Wunder also, daß Sebaldus sehr oft, auch bei den geringfügigsten Vorfällen nachdrückliche Verweise aus dem Consistorium bekam« (SN, 33). 28 Der Präsident nimmt »[a]lle am fürstlichen Hofe vorfallende Galatagen, alle Landplagen, als Heuschreken […] alle Promotionen der ihm untergebenen Konrektoren, und Landprediger« (SN, 31) zum Anlass nimmt, um mit schwärmerischem Enthusiasmus den Pegasus zu reiten. Wilhelmines Kritik empfindet er als »unerhörten Eingriff in die Landesverfassung und gute Subordination« (SN, 31 f.). 29 Mit diesen Fragen beschäftigte sich Nicolai in den frühen 1770er-Jahren besonders intensiv. In der brieflichen Auseinandersetzung mit August Ludwig Schlözer zeigt sich, dass seine Dogmenkritik »weniger eine intellektuell-theologische, als vielmehr eine gesellschaftlich-soziale« war. So wandte er sich gegen Schlözers Auffassung hinsichtlich der Frage, »ob die geoffenbarte Religion einem Staate notwendig sey«. Dieser hatte betont, dass die »Ruhe des Welt« davon
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erscheinen somit als »Äußerungen einer zeittypischen Machtkonstellation«.30 Nicolai greift die polizeirechtliche Funktion der kirchlichen Lehrsätze an31 und trägt damit auch dem satirischen Erzählprinzip Rechnung, die Regularitäten des kritisierten Diskurses offenzulegen und den Leser in die Position des Diskursbeobachters zu erheben.32 Die zweite zentrale Höllen-Passage findet sich im vierten Buch des ersten Teils. Sebaldus trifft auf dem Weg nach Berlin einen Pietisten. Es entwickelt sich ein Religionsgespräch, ›Meinungen‹ werden gegeneinandergestellt, der Erzähler tritt hinter den Dialog zurück. Auf dem Höhepunkt des Disputs werden die Ewigen Strafen diskutiert. Dieser Passus hat bei den Zeitgenossen für erhebliches Aufsehen gesorgt und löste hitzige Debatten aus.33 »[In] Religionssachen Satyre zu brauchen ist unmenschlich«, befand Johann Heinrich Jung-Stilling auf diese Romanpassage bezugnehmend.34 Worin besteht aber das Skandalon der Passage? Zum einen gestaltet Nicolai den Pietisten als »Personifikation von sehr disparaten Erscheinungsformen einer regelrecht pseudoreligiösen Bigotterie«,35 v. a. unter Verwendung topischer Elemente der Pietismussatire.36 Auffällig und bemerkenswert ist jedoch v. a., wie die Dogmenkriabhinge, dass »der Pöbel einen Rächer u. ein künftiges Leben glaube.« Daher sei es unabdingbar, den Offenbarungscharakter der Bibel zu betonen. Nicolai plädiert im Gegensatz dazu für eine vernünftige Religion. Es geht ihm dabei weniger »um den Inhalt der Dogmen, sondern [um] ihre Wirkung auf die Gläubigen«, wobei er »einen Widerspruch zwischen orthodoxem Glauben und ›sittlicher Indifferenz‹ seiner Vertreter« feststellt. (Ingrid Habersaat: Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. Würzburg 2001, S. 10 f. Vgl. Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981, S. 297). 30 Schönert: Satirische Aufklärung, S. 286. Die satirische Brechung durch das triviale Eitelkeitsverhalten der kirchlichen Amtsträger wird hier nicht beachtet. 31 Vgl. Twellmann: Klerikalmoden, S. 68. 32 Vgl. Häcker: Geistliche Gestalten, S. 194. 33 Vgl. dazu Kristine Hannak: »Heilige Thorheiten« – Pietismus und Satire in Nicolais Sebaldus Nothanker (1773–76). In: Stockhorst (Hrsg.): Friedrich Nicolai, S. 253–273. 34 Johann Heinrich Jung-Stilling: Die Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnsprechenden Philister, den Verfasser des Sebaldus Nothanker. In: Ders.: Sämmtliche Schriften. Hrsg. v. J. N. Grollmann. 14 Bde. Bd. 14. Stuttgart 1838, S. 706–780, hier: 748. 35 Beutel: Aufklärung und Pietismus, S. 273. Vgl. auch Jan Rohls: »Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker«. Friedrich Nicolais aufgeklärtes Christentum. In: Ders. u. Gunther Wenz (Hrsg.): Protestantismus und deutsche Literatur. Göttingen 2004, S. 81–106, hier: 92. 36 Vgl. Hannak: »Heilige Thorheiten«, S. 252. Vor diesem Hintergrund ist Jung-Stillings Kritik, Nicolai vermenge in der Figur des Pietisten unvereinbare Lehren wie Halleschen Pietismus und Herrnhutertum berechtigt. Vgl. Beutel: Aufklärung und Pietismus, S. 268–270. Hintergrund ist eine mehrfache Umarbeitung der Figurendarstellung. Der Vorschlag, den religiösen Fanatiker als Pietisten zu porträtieren, kam schließlich von Eberhard. Vgl. ebd.
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tik hier auf Ebene der formalen Textgestaltung präsentiert wird: So sticht die Passage durch umfangreiche Paratexte, genauer gesagt Anmerkungen, hervor. Die Annotationen markieren einen Moduswechsel: Auf dieser Ebene tritt die Satire zurück. Stattdessen werden Referenzen auf bibliographische Daten mit der theologischen Position einer Metainstanz, die offensichtlich mit dem Autor identifiziert werden soll, präsentiert. Während im Haupttext die Normposition des Erzählers nur mittelbar, v. a. durch die satirischen Elemente erkennbar wird, wird in den Paratexten somit explizit dogmenkritisch Stellung bezogen. Eine dieser Anmerkungen ist hervorzuheben. Sie bezieht sich auf ein Lied, das der Pietist singt, da er sich »von je her auf inneres Gefühl, nie aber auf Gründe eingelassen hatte« (SN, 165). Das Lied suspendiert also die rationale Argumentation zugunsten lyrischer Imagination. Es handelt sich natürlich um ein Höllenlied: Zu spät ists zu erfahren, was Höll und Ewigkeit, ach! willst du’s darauf sparen, thu’s nicht, heut ists noch Zeit, bekehre dich von Herzen, daß du der Quaal entgehst, denk, dann giebt es nicht Scherzen, wenn du vorm Richter stehst. Der dir das Urtheil fället, das Leben rund abspricht, zum Teufel dich gesellet, des ewgen Todsgericht, o Zeter! Ach! Weh! Jammer! Welch Heulen wird da seyn, wenn in die Marterkammer, der Henker schleppt hinein. Dahin, wo keine Reue, kein Klagen helfen kann die Marter geht aufs neue nach tausend Jahren an! Da ist kein Glied so kleine, das nicht sein Leiden hat, der Leib der fühlt das seine, die Seel’ auch früh und spat. In großer Furcht und Schrecken, in finstrer Dunkelheit, wird die Verdammten decken, Angst, Grauen, Traurigkeit, die Zähne werden klappen für Frost und großer Hitz, und werden blindlings tappen, nach einem frischen Sitz. Sie werden ewig fallen ins Loch, das keinen Grund, und auf einander prallen zusammen in den Schlund, sich beißen, fressen, nagen, sich fluchen, lästern stets, der Tod wird sie recht plagen, ohn Ende: Seht, so gehts. So geht es den Verfluchten in ihrem Höllenloch, den Schlemmern und Verruchten, ach gläubets, gläubets doch, wollt ihr daran noch zweifeln? so wahr ists, so wahr Gott, ihr fahret zu den Teufeln, wo ihr das halt’t für Spott!37 37 Ebd.,
S. 165 f.
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In aller Drastik führt das Lied die zu erwartenden Qualen und Schmerzen des angesprochenen, verurteilten Sünders vor Augen.38 Mit sinnlichen Details und surreal anmutenden Bildern, die Entsetzen auslösen und Abscheu erregen sollen, wird dabei nicht gespart. »In großer Furcht und Schrecken« irren die Verdammten zähneklappernd vor Kälte und Hitze orientierungslos im Dunklen umher, um schließlich direkt in ein tiefes Loch – den Höllenschlund – zu stürzen. Im herrenlosen Durcheinander gebärden sich die verzweifelten Verdammten kannibalisch, sie »beißen, fressen, nagen, […] fluchen«. Doch Rettung ist nicht zu erwarten, den ewigen Qualen kann man nicht entkommen. Das Liedzitat endet mit einem besonders eindringlichen Ruf zur Umkehr. Mit bekannten Wendungen und Topoi evoziert der Text also die seit dem Mittelalter und auch in der Frühen Neuzeit »vielfach verbreiteten Vorstellungen von einem dunklen Höllenrachen, der die Sünder verschlingt, um sie in der Anderwelt von Teufeln und Ungeheuern auf jede erdenkliche Art unter Einsatz von monströsen Instrumenten quälen zu lassen.«39 Die ›Ästhetik des Schre ckens‹, wie sie zum Beispiel aus der Bilderwelt von Hieronymus Bosch bekannt ist, wird hier im Lied des Pietisten in Sprachbildern realisiert.40 Worin besteht nun aber die Funktion dieses intermedialen Kunstgriffs, also der Integration eines Liedes in den Romantext? Das textuelle Umfeld gibt Aufschluss: Das Lied wird nämlich auf zwei Ebenen kommentiert, implizit auf der Ebene des Haupttextes (dazu gleich) sowie explizit auf der Ebene des Paratextes, in einer der Anmerkungen. Hier, auf der paratextuellen Ebene artikuliert sich die Stimme eines außerhalb der Textwelt stehenden Kommentators, vielleicht die des Autors. Regelrechtes Entsetzen wird zum Ausdruck gebracht: Der Leser müsse dieses Lied wohl für eine eigens für diesen Roman geschaffene literarische Erfindung oder für das Werk eines »unbedeutende[n] Schwärmer[s] für den Winkel eines fanatischen Conventikels« (SN, 165) halten. Dem sei aber ganz und gar nicht so. Es folgt die Pointe: Dieses Lied stehe auf S. 792 des in den evangelischen Gemeinden der Kurmark verbreiteten und sogar »unter öffentlicher Autorität«, also mit Unterstützung der Landesfürsten, eingeführten Gesangbuchs, nämlich der »Geistliche[n] und liebliche[n] Lieder, welche der Geist des Glaubens durch D. M. Luther, Joh. Hermann, Paul Gerhard […] gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen Der Königl. Preuß. und Churf. Brandenb. Lande bekannt« (ebd.). Prüft man die Angabe,41 stößt man 38 Wort-
und Bildwahl erinnern an mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Visionsliteratur, die beispielsweise auch Johann Matthäus Meyfarth in seiner Schrift Das hellische Sodoma auß Gottes Wortt und Schrifften beides alter und Newer Vätter und Manner In zweyen büchern beschrieben (Coburg 1630) aufgreift. Siehe dazu Vollhardt: Ausblicke ins Jenseits, S. 33 ff., dessen Analyse der Meyfarth-Schrift auf das hier vorliegende Höllenlied übertragen werden kann. 39 Ebd., S. 34. 40 Vgl. ebd., S. 33 ff. die Analyse zur Bildlichkeit bei Meyfarth. 41 Überprüft wurde eine 1794 in Berlin bei B. Chr. Schatz gedruckte Ausgabe.
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tatsächlich auf das seit 1709 bis ins 20. Jahrhundert in den preußischen Provinzen stark verbreitete pietistisch gefärbte Gesangbuch des Spener-Schülers Johann Porst42 (1668–1728), oft kurz nur der ›Porst‹ genannt. Im Anhang findet sich das (anonyme) Lied, das der Pietist bei Nicolai intoniert.43 Der Kommentar entspricht an dieser Stelle also zum einen dem versprochenen dokumentarisch-historiographischen Charakter des Textes:44 Der Roman präsentiert sich als Archiv theologischen Wissens. Andererseits ist der Kommentar des Autors alles andere als neutral gehalten. Er bringt vielmehr Entsetzen über die Rückständigkeit und anachronistische Praxis im preußischen Kirchenwesen zum Ausdruck. Das im Höllenlied ausgestaltete, Bosch-artige Szenario wird als Ausdruck absurder, antiquierter und fanatischer Ideologie gebrandmarkt. Auf der Ebene des Haupttextes wird unter Rückgriff auf Topoi der Pietismussatire der frömmelnde Eiferer karikiert, indem z. B. Gestik und Mimik beim Absingen des Liedes beschrieben werden: Er schlägt »die Hände über sein Haupt zusammen, hob die Augen gen Himmel, und fieng an, so laut er konnte, nachfolgendes Lied zu singen« (SN, 165). Durch diese ausdrücklichen ›Regieanweisungen‹ verliert auch das Höllenlied seinen Schrecken; aus dem Mund des lächerlichen Fanatikers mutiert der Höllenschlund zum bizarren Anachronismus.45 Sebaldus selbst hebt im Folgenden zu einer Kritik des Dogmas an, überzeugen kann er den Pietisten, für den die augustinische Gnadenlehre ein nicht verhandelbares Dogma ist, freilich nicht. Überhaupt bleibt eine Kommunikation kaum möglich, der Pietist lobpreist unaufhörlich und »sanft lächelnd« die Verdammung seiner Mitmenschen als Willen Gottes. Ein erzähltechnischer Trick, ein deus ex machina, rettet die Situation: Sebaldus und sein Begleiter werden mitten im Gespräch von einer Räuberbande überfallen. Es kann an dieser Stelle nur noch darauf verwiesen werden, dass das HöllenThema ein zentraler Aspekt des Romans bleibt: Sei es in Berlin, in Hamburg und 42 Siehe
Art. Porst, Johann In: Allgemeine Deutsche Biographie 26 (1888), S. 444 f. [Onlinefassung]; Christian Bunners: Die Gesangbücher von Johann Anastasius Freylinghausen und von Johann Porst. Versuch eines Vergleichs. In: Wolfgang Miersemann u. Gudrun Busch (Hrsg.): »Singt dem Herrn nah und fern«. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. Tübingen/Halle 2008, S. 263–280. 43 Das metrische Schema ist an Paul Gerhardts O Haupt voll Blut und Wunden angelegt; das Lied wurde entsprechend auf die verbreitete Melodie Johann Crügers gesungen. Der Autor des Textes wird nicht genannt, die Vorrede weist – neben den bekannten Luther-Liedern – auf gebräuchliche Lieder hin, die auch jüngeren Datums seien. 44 Vgl. Hannak: »Heilige Thorheiten«, S. 263. 45 An anderer Stelle schreibt Nicolai dem »Lächerlichen […] eine Funktion zu, die beinahe Offenbarungscharakter hat« (Häcker: Geistliche Gestalten, S. 199): »[…]; so kann das Lächerliche, mit gesundem Verstande und Wohlwollen angewendet, einen Nutzen schaffen, der durch die subtilsten Vernunftschlüsse, selbst aus reinen Vernunftwahrheiten gezogen, nicht zu erlangen ist« (Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Vorrede zum Eilften Band, zit. nach Häcker: Geistliche Gestalten, ebd.).
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v. a. in Holland, wohin Sebaldus’ Weg führt, trifft er auf weitere frömmelnde Pietisten, heuchlerische Prediger und bizarre Häretiker. Sobald es um die Frage nach der Ewigkeit der Höllenstrafen geht – und diese wird stets thematisiert – eskalieren die Diskussionen und es kommt zu immer neuen dramatischen Wendungen im Handlungsverlauf. Der Höllendiskurs stellt also kein punktuelles Motiv des Romans dar, sondern bildet das zentrale Narrativ, d. h. den entscheidenden Aspekt der Gesamtstruktur des Textes, so dass man an ihm exemplarisch die aufklärerische Ausrichtung des Romans festmachen kann.
IV. Im Hinblick auf die Hölle als Ort ewiger Strafen sind seit der Frühen Neuzeit »Abnutzungs- und Säkularisierungseffekte« unübersehbar.46 Schon in Texten wie der Historia von D. Fausten (1589) verliert die Hölle ihren Status als theologischer bzw. religiöser Chronotopos.47 Die Unterweltsfahrt erweist sich vielmehr als Wahntraum, den Mephistopheles dem Faust vorgaukelt. Andererseits »ist die Frühe Neuzeit jene Epoche, in der das Wirken von Hölle und Teufel in der Welt immer realer, immer gegenwärtiger empfunden wird.«48 Ihr Status bleibt ambivalent, und zwar bis ins späte 18. Jahrhundert hinein, wie die Auseinandersetzungen um Leibniz’ Schrift und die durch Eberhard ausgelöste Debatte um die Allerlösung demonstrieren. Genau diese Auseinandersetzung gilt »in der deutschen Aufklärungstheologie als eine Art Zäsur […], von der aus die Höllenthematik in der weiteren theologischen Entwicklung ihre Brisanz verloren hat und an den Rand des theologischen Nachdenkens gerückt ist.«49 Das Thema wird exakt an diesem historischen Punkt, an dem es noch einen hohen Aktualitätsbezug hat,50 aber zugleich angreifbar wird, satirefähig. Friedrich Nicolai hat diesen Moment treffend analysiert. Rückblickend spricht er von einem 46 Jörg
Robert: Topos und Archetyp. Die Höllenfahrten der Moderne. Eine Skizze. In: Ders. u. Joachim Hamm (Hrsg.): Unterwelten. Modelle und Transformationen. Würzburg 2014, S. 211–226, hier: 220. 47 Ebd., S. 223. 48 Ebd., S. 220. 49 Wolfgang Sommer: Der Untergang der Hölle. Zu den Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der lutherischen Theologie des 17. Und 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1999, S. 177–205, hier: 204. Vgl. auch Rohls: »Das Leben und die Meinungen«, S. 92, der das Erscheinen der Neuen Apologie Eberhards als den »Höhepunkt« des Streits um die Ewigkeit der Höllenstrafen betrachtet. 50 »Bemühen um Transparenz der intertextuellen Bezüge verrät das Selbstverständnis des Aufklärers, Kritik durch Nachprüfbarkeit zu fundieren« (Hannak: »Heilige Thorheiten«, S. 263).
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»Wendepunkt«, der sich in den frühen 1770er-Jahren in dieser Frage bemerkbar gemacht habe.51 Entstehungszeugnisse des Romans dokumentieren, dass Nicolai den Schwerpunkt seines satirischen Angriffs im Zuge der Niederschrift veränderte, von der Literatur- zur Theologie-Satire, die ihm eine größere Aktualitätsrelevanz zu besitzen schien. Die empörten Reaktionen zeigen, dass er ins Schwarze traf; andererseits wurde das Buch begeistert aufgenommen: Schubart sprach vom »besten deutschen Roman«, laut Boie handelt es sich um den »ersten deutschen Roman« überhaupt.52 Zudem entwickelte sich eine regelrechte Sebaldus-›fan-fiction‹: Eine bereits nach dem ersten Band anonym publizierte Schrift setzt an einer Leerstelle des Romans an, indem sie Sebaldus’ Predigten gegen die Höllenstrafen wiedergibt.53 Natürlich ist mit Nicolais Roman bzw. den Debatten um Eberhard, Lessing usw. die Hölle nicht abgeschafft: »Die furchteinflößenden Bilder aus dem Schattenreich haben ihre dogmatische Bedeutung verloren, nicht jedoch ihre suggestive Wirkung. Im kollektiven Gedächtnis sind sie bewahrt geblieben, in unsere Lebenswelt eingedrungen und dort fest verankert.«54 Die Hölle bleibt ein Raum der Imagination, aus dem religiösen Deutungsmuster ist ein kulturelles geworden.55 Nicolais Satire situiert sich am historischen Umschlagszeitpunkt dieser Entwicklung.
51 Friedrich
S. 15.
52 Zit.
Nicolai: Gedächtnisschrift auf Johann August Eberhard. Berlin/Stettin 1810,
nach Beutel: Aufklärung und Pietismus, S. 262. Friedrich Nicolai: Fragment der Predigt von den Höllenstrafen. In: Ders.: Predigten des Herrn Magister Sebaldus Nothanker aus seinen Papieren gezogen. Leipzig 1774, S. 153–164. Vgl. dazu Häcker: Geistliche Gestalten, S. 224–233. 54 Vollhardt: Ausblicke ins Jenseits, S. 29. 55 Ebd. 53 Vgl.
Clare Haynes
Aufgeklärte Nach-Erzählung der Auferstehung und Himmelfahrt Christi William Hogarths Altarbilder1
William Hogarth wurde 1755 beauftragt, drei Gemälde für den Altar der gotischen Kirche St. Mary Redcliffe in Bristol anzufertigen: ›Versiegelung des Grabs‹, ›Das leere Grab‹ und ›Himmelfahrt‹ (Abb. 1, S. 269). Dies war sowohl für Hogarth als auch für die britische Malerei ein wichtiges Ereignis, denn seitdem Hogarths Schwiegervater, Sir James Thornhill, um 1710 die Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale ausgemalt hatte, war kein solcher Auftrag von einer Gemeinde oder einer Kathedrale mehr vergeben worden. Trotz der Bedeutsamkeit des Werks taten sich Kunsthistoriker bisher sehr schwer, die Altarbilder innerhalb von Hogarths Œuvre zu verorten; sie wurden vor allem als Beleg für seinen (unerfüllten) Wunsch nach Anerkennung als epochemachender Historienmaler gesehen.2 Darüber hinaus sind bisher vor allem zwei Lesarten einschlägig: zum einen Michael Liversedges Aufsatz, der eine überzeugende Darstellung der Gemälde als religiöse Kunst liefert, jedoch ihren unmittelbaren theologischen Kontext übersieht, und zum anderen Ronald Paulsons bedenkenswerte Interpretation in Hogarth’s Harlot, die auf den Überlegungen aufbaut, die er in seiner früheren, äußerst einflussreichen Monographie über den Künstler dargelegt hat.3 Im Anschluss an die Veröffentlichung seines richtungsweisenden Werks Hogarth’s Graphic Works (1965) etablierte sich Ronald Paulson für ein halbes Jahrhundert als führender Hogarth-Experte. Er zeigte den Grafiker als Anhänger einer radikalen Aufklärung, sowie als Künstler, der sich zeitlebens dem deistischen Projekt der ›Entmystifizierung‹ der Religion widmete, um sich einer neuen Natur ästhetik anzunähern.4 Paulson lenkte ebenfalls die Aufmerksamkeit auf Hogarths immer wiederkehrenden Antiklerikalismus in den Kupferstichen, beispielsweise in ›The Sleeping Congregation‹ (›Die schlafende Gemeinde‹) oder einigen Bildtafeln von ›The Harlot’s Progress‹ (›Die Karriere einer Prostituierten‹). Zudem erkannte 1 Dieser
Artikel basiert auf einem Kapitel aus meinem in Kürze erscheinenden Buch In the Idol’s Shadow. Art in the Church of England, 1660–1839. Für die deutsche Übersetzung danke ich Christoph Richter und Sabine Volk-Birke. 2 Der Begriff ›Historienmalerei‹ wird im weiteren Verlauf erläutert. 3 Vgl. Ronald Paulson: Hogarth’s Harlot. Sacred Parody in Enlightenment England. Baltimore 2003; ders.: Hogarth. 3 Bde. Cambridge 1993; Michael J. H. Liversedge: William Hogarth’s Bristol Altar-Piece. Bristol 1980. 4 Vgl. Paulson: Hogarth. Bd. 2, S. XVII f.; ebd. Bd. 3, S. XIII f.
William Hogarths Altarbilder
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Abb. 1: William Hogarth, Paintings for the chancel of St Mary Redcliff e Bristol, 1755–56 (© Bristol Museums, Galleries & Archives)
Paulson, wie Hogarth auf vielfältige Art und Weise die Vorbilder europäischer Kunst adaptierte, um seine eigenen, satirischen Ziele zu verfolgen. In Hogarth’s Harlot argumentiert er, dass ein großer Teil von Hogarths künstlerischer Tätigkeit im Zeichen der ›sacred parody‹ steht und dementsprechend die englische Staatskirche und die Traditionen der katholisch-europäischen Kunst verspottet. Paulsons Ansicht nach sollte Hogarths ›Resurrection Altarpiece‹ als »climax [of] the phases of his religious demystification«5 charakterisiert werden. Dieser Aufsatz möchte nun eine alternative, gar Paulson entgegengesetzte Lesart der Altarbilder von Bristol vorstellen. Es soll gezeigt werden, wie die Gemälde die Ereignisse der Auferstehung und der Himmelfahrt nicht aus einer deistischen, sondern aus einer vollkommen orthodoxen, wenn nicht spekulativen, anglikanischen Perspektive erzählen. Die drei für St. Mary Redcliffe angefertigten Bilder waren ursprünglich nicht als Triptychon gedacht. ›Versiegelung des Grabs‹ und ›Das leere Grab‹, die beiden kleineren Gemälde, wurden direkt an den Seitenwänden des Altarraums aufgehängt, wohingegen die größere Tafel ›Himmelfahrt‹ ihren Platz zwischen ihnen hoch oben an der Ostwand fand. Aus Sicht der narrative art kann jedes der Bilder als Historienmalerei beschrieben werden – das prestigeträchtigste Genre der Bildenden Kunst in der Frühen Neuzeit. Es verlangte vom Künstler, auf großer Leinwand eine sorgfältig aus der Literatur, der Geschichte oder der Bibel ausgewählte, eindringliche Szene mit zahlreichen Darstellern zu schaffen, die geeignet war, eine moralische Lehre auf 5
Paulson: Sacred Parody, S. 274. Paulson hat den Titel für das Altarbild selbst vergeben.
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Aspekte · 3. Sektion · Clare Haynes
Abb. 2: William Hogarth, The Battle of the Pictures, 1745 (© Trustees of the British Museum)
den Punkt zu bringen und auf bewegende Weise zu vermitteln. Von der Historienmalerei wurde folglich erwartet, Tugend zu lehren. Allerdings gab es in England kaum Möglichkeiten, in dieser Gattung zu arbeiten, vor allem, weil Malerei in der Kirche als verdächtig galt, da sie in den Augen vieler Puritaner fast gleichbedeutend mit Götzendienst war. Sammler bevorzugten daher für ihre Privaträume keine englischen Maler, sondern die als wertvoller geltenden Werke französischen oder italienischen Ursprungs. Hogarth kritisierte diese Zustände regelmäßig in Wort und Bild: so stellte er zum Beispiel in ›The Battle of Pictures‹ (›Die Schlacht der Bilder‹) dar, wie seine eigenen Bilder dem Angriff eines in Reih und Glied aufgestellten Heers von importierten Kopien ausländischer Gemälde ausgesetzt sind (Abb. 2).6 6 Zur
Einführung siehe Art. History Painting. Grove Art Online. In: Oxford Art Online (http://www.oxfordartonline.com/subscriber/article/grove/art/T038306, Aufruf 15. 01. 2016).
William Hogarths Altarbilder
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Auf den ersten Blick erschien es eher ungewöhnlich, dass Hogarth 1755 mit einem solchen Auftrag betraut wurde. Als bedeutender Satiriker und Grafiker bekannt, stellte er in Bezug auf seine Serie ›The Four Stages of Cruelty‹ (›Die vier Stufen der Grausamkeit‹) fest: »I had rather if cruelty has been prevented by the four print[s] be maker of them than of the cartoons unless I lived in a roman Catholic country«.7 Mit ›cartoons‹ bezieht sich Hogarth auf die berühmten ›Raphael Cartoons‹ (die Teppichentwürfe für die Sixtinische Kapelle), die in England als absoluter Maßstab für Kunstfertigkeit galten und deren moralische Wirkung als Historienmalerei für unübertroffen gehalten wurde. Wenn Hogarth feststellte: »[O] ur Religion forbids nay doth not require Images for worship or pictures to work up enthusiasm«,8 dann nahm er für sich in Anspruch, dass er eine Form der moralischen Kunst entwickelt hatte, deren Einfluss ebenso ernstzunehmen und tiefgreifend wie die Wirkung der Historienmalerei sein sollte. Dennoch gab Hogarth niemals seine Ambitionen auf, in der ›grand manner‹ zu malen, und so fertigte er auch weiterhin immer wieder Porträts sowie Historienbilder an, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab.9 Für das Altarbild in Bristol orientierte Hogarth sich daher an der ›grand manner‹ als dem Stil, der sowohl dem Gehalt des Sujets als auch der öffentlichen Sichtbarkeit des Werks angemessen war. Dabei nahm er für die Bildkomposition kanonische Werke, u. a. Gemälde von Raffael, als Vorbild.10 Hogarths Zeitgenossen haben sicher erkennen können, wie ich weiter unten zeigen werde, dass er diese Malweise erfolgreich nachzuahmen, ja sie zu verbessern vermochte, wo andere vor ihm gescheitert waren. Der Entschluss, Hogarth mit den Altarbildern zu beauftragen, ging höchstwahrscheinlich auf den Gemeindepfarrer Thomas Broughton zurück, der den Maler noch aus der Zeit gekannt haben dürfte, als er an der Temple Church in London angestellt war. Der Theologe Broughton, ein gebildeter Mann, der das Libretto zu Händels Hercules (1744) geschrieben hatte,11 scheint auch seine Hand bei der Wahl der Themen im Spiel gehabt zu haben, denn Broughtons Gönner, der Bischof Thomas Sherlock, war um 1755 maßgeblich an einem erneut aufgeflammten und erbittert ausgetragenen theologischen Disput um die Auferstehung Christi beteiligt. Broughton war in dem Jahr als Pfarrer zur Temple Church gekommen, als Thomas Woolston die erste seiner Aufsehen und Empörung erregenden Abhandlungen (Dis7 Michael
Kitson (Hrsg.): Hogarth’s Apology for Painters. In: Walpole Society 41 (1966– 1968), S. 46–111, hier: 81. 8 Ebd., S. 89. 9 Vgl. David Mannings: Art. Grand Manner. Grove Art Online. In: Oxford Art Online (http://www.oxfordartonline.com/subscriber/article/grove/art/T034044, Aufruf 16. 01. 2016). 10 Vgl. Clare Haynes: Pictures and Popery. Art and Religion in England, 1660–1760. Aldershot 2006, S. 46–73. 11 Vgl. Ruth Smith: Art. Broughton, Thomas (1704–1774). In: Oxford Dictionary of Natio nal Biography (http://www.oxforddnb.com/view/article/3589, Aufruf 13. 10. 2013).
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course) herausbrachte. Nach der Veröffentlichung des Sixth Discourse (1729), der einen Angriff auf die biblische Erzählung von der Auferstehung darstellte, wurde er wegen Blasphemie verurteilt. Als Reaktion darauf legte Sherlock die höchst erfolgreiche Schrift Tryal of the Witnesses of the Resurrection of Jesus (1729) vor.12 Broughton war also fast zwei Jahrzehnte lang in einem apologetischen Milieu tätig, das radikale und deistische Positionen zu widerlegen suchte; er brachte sich mit zwei eigenen Essays sowie mit einer Schrift zur Eucharistie ein. Die Diskussion über die Auferstehung des Erlösers entflammte erneut, als Thomas Sherlock 1755 zwei sehr erfolgreiche Predigtsammlungen verlegen ließ und der Tryal seine dreizehnte Auflage erreichte. Unter den zahlreichen Reaktionen darauf stechen insbesondere die drei Essays des für seine radikalen Ansichten bekannten Druckers Jacob Ilive hervor. Ilive verkündete ungeschminkt, dass er nicht an das Narrativ der Auferstehung und Himmelfahrt glaube und leugnete ausdrücklich die göttliche Natur Christi.13 Er provozierte Sherlock dazu, ihn anzuklagen, was dieser auch tat, und Ilive wurde 1756 wegen Blasphemie verurteilt. Es ist durchaus möglich, dass Hogarth gerade die Aufhängung der Altarbilder in Bristol überwachte, als Ilive im Sommer 1756 am Pranger stand, bevor seine dreijährige Haftstrafe mit Zwangsarbeit begann. So sah der unmittelbare Kontext des Auftrags aus Bristol aus, der bisher gänzlich übersehen wurde. Es hätte nicht mehr auf dem Spiel stehen können: die biblische Erzählung des zentralen Wunders zu bezweifeln, das die Menschennatur Christi und das Geheimnis seiner göttlichen Natur gleichzeitig vor Augen führt, hieß, das Christentum in seinen Grundfesten zu erschüttern. Wir wissen nicht, welche Rolle Broughton für die Konzeption der Bilder spielte. Allerdings wäre es in dieser Zeit höchst ungewöhnlich gewesen, wenn ein Künstler völlig freie Hand in der Wahl seines Sujets oder auch in der Art und Weise der Darstellung gehabt hätte, denn wenn es um sakrale Kunst ging, war man äußerst vorsichtig.14 Für Hogarths Bilder stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie sie zu lesen sind und welche Version des biblischen Narrativs sie präsentieren. Auf dem ersten der beiden Flügel zeigt Hogarth eine Szene aus Matthäus 27,64– 66, nämlich das Verschließen des Grabmals und die Bestellung einer römischen Wache (Abb. 3, S. 273). Grabplatte, Felsen und Erdboden nehmen wuchtig den größten Raum ein, während ein finsterer Himmel die Szene noch klaustrophober 12 In
diesen Kreisen bewegte sich auch Charles Moss, Sherlocks Kaplan, der sich später mit Peter Annet auseinandersetzt: Vgl. William Gibson: Art. Moss, Charles (1711–1802). In: Oxford Dictionary of National Biography (http://www.oxforddnb.com/view/article/19400, Aufruf 26. 01. 2016). 13 Vgl. James A. Herrick: Art. Ilive, Jacob (bap. 1705, d. 1763). In: Oxford Dictionary of National Biography (http://www.oxforddnb.com/view/article/14361, Aufruf 23. 01. 2016). 14 Hogarth ließ seiner Kirchengemeinde zumindest eine Skizze zukommen; vgl. Liversedge: Hogarth’s Bristol Altar-Piece, S. 16 u. 20.
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erscheinen lässt. Die überdimensionale Figur des Priesters, offensichtlich ein hoher Würdenträger, steht elegant im Kontrapost und überwacht das Werk der vier Soldaten. Während zwei von ihnen einen Felsbrocken vor die behauene Grabplatte hebeln, beginnen die beiden anderen mit dem Versiegeln. Im Hintergrund sammeln sich die Wachsoldaten. Auf dem anderen Flügel zeigt Hogarth das leere Grab (Abb. 4, S. 274). Am ursprünglich beabsichtigten Ausstellungsort hätten sich die Kirchgänger um 180 Grad drehen müssen, um diese Szene zu sehen, sodass es folgerichtig erscheint, wenn Hogarth hier den Garten aus einem anderen Blickwinkel
Abb. 3: William Hogarth, The Sealing of the Tomb, 1755–56 (© Bristol Museums, Galleries & Archives)
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Aspekte · 3. Sektion · Clare Haynes
Abb. 4: William Hogarth, The Empty Tomb, 1755–56 (© Bristol Museums, Galleries & Archives)
zeigt. Die Morgendämmerung erhellt die Szenerie des dritten Tages, ganz im Gegensatz zur Finsternis seines Pendants gegenüber. Auch hier beherrscht eine große Gestalt in Weiß das Bild: es ist ein Engel, der auf dem Stein sitzt, den er weggerollt hat (Matthäus 28,2), und der sich an die drei Frauen wendet, die den Leib Christi salben wollten.15 Der Engel, dessen weiche Konturen seine Güte andeuten sollen, 15 Nach
Matthäus 28 werden nur zwei Marias erwähnt, allerdings geben die Evangelisten das Geschehen leicht unterschiedlich wieder.
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verkündet mit seiner gen Himmel gerichteten linken Hand die Botschaft vom auferstandenen Christus. Im Hintergrund ist der Kalvarienberg zu sehen, dessen drei Kreuze von der Morgensonne beschienen werden. Paulson hatte bereits auf einen Zusammenhang zwischen Woolstons Abhandlungen (1729) und ›The Harlot’s Progress‹ hingewiesen (Abb. 2). Er glaubt, dass sich Hogarth auf den Altarbildern der Auffassung von Woolston und Annet zur Auferstehung anschließt, weil er sowohl das versiegelte als auch das leere Grab abgebildet hat, das beide Autoren als problematisch betrachteten. Für Paulson veranschaulicht der Maler »the problem of the empty tomb (was it a hoax?)«.16 Dieser Interpretation nach thematisieren die Gemälde das aufgebrochene Siegel, was Woolston als »manifest and indisputable Mark and Indication of Fraud« bezeichnet hatte.17 Paulson versteht die Darstellung des Priesters zudem als antiklerikalen Gestus, wenngleich unter dem Deckmantel eines Angriffs auf das jüdische Priestertum. Wenn man aber Sherlocks Reaktion auf Woolston bedenkt, ist es möglich, das Bildpaar als völlig orthodox zu lesen. Sherlock verlangte beispielsweise von Woolston zu erfahren, ob er glaube, dass das Siegel Gott dazu verpflichte, es nicht zu brechen, oder ob es ihm eine »Method of performing this great Work?«18 vorschreibe. Sherlock hielt das Siegel für ein Scheinproblem, weshalb Hogarths Darstellung durchaus als bibeltreu hätte betrachtet werden können, da die Gemälde letztlich auf die Vergeblichkeit der Bemühungen des Priesters sowie der Soldaten angesichts der Macht Gottes hinweisen. Auch andere Details unterstützen diese Lesart. Da sind zunächst die dünne Oberlippe und der ausladende Unterkiefer des Priesters; sie unterlaufen die zur Schau gestellte Selbstsicherheit seiner Körperhaltung. Hogarth beherrscht eben diese Physiognomie, die in satirischen Darstellungen üblich war, als Erzähltechnik souverän.19 Außerdem sieht man, daß der Maler bei der Darstellung der römischen Soldaten keine Mühe gescheut hat: er zeigt sie ohne Hemden bzw. mit aufgekrempelten Ärmeln und legt so den Fokus auf deren Arbeit. Das tritt besonders deutlich zutage durch das Dreieck, das am unteren rechten Bildrand durch den Hebel gebildet wird, wo das vor Anstrengung verzerrte Gesicht des einen und die hervortretende Muskulatur des anderen Soldaten auf den gewaltigen Gesteinsbrocken hinweisen, der an Ort und Stelle gehievt werden soll. Dies erinnert stark an eine Schlüsselstelle aus Sherlocks Tryal, der sich gegen die Annahme verwehrt, dass die Jünger den Leichnam Christi gestohlen hätten: 16 Paulson:
Sacred Parody, S. 275. Thomas Woolston: A Sixth Discourse on the Miracles of our Saviour. London 1729, S. 15. 18 [Thomas Sherlock]: The Tryal of the Witnesses of the Resurrection of Jesus. London 1755, S. 46. 19 Dies erinnert z. B. an den Sänger auf der vierten Tafel von ›Marriage à-la-mode‹ oder an den Küster aus ›A Sleeping Congregation‹. 17
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[I]s it likely that such Men should engage in so desperate a Design, as to steal away the Body in Opposition to the combin’d Power of the Jews and the Romans? […] A dead Body is not to be removed by sleight of Hand, it requires many Hands to move it: besides, the great Stone at the Mouth of the Sepulchre was to be remov’d; which could not be done silently, or by Men walking on tip-toes to prevent Dis covery.20
Geprägt von den gemeinsamen Anstrengungen der jüdischen Priesterschaft und der römischen Armee, scheint Hogarths Gemälde auch wenig Raum für solche Ausflüchte zu bieten. Eine weitere wichtige christliche Vorstellung kann aus dem Vergleich des Pries ters und des Engels, die beide in ähnlich lichten Gewändern darstellt sind, gewonnen werden. Wie zahlreiche Katechismen betonen, offenbart jene Gegenüberstellung, dass die alte Gesetzesordnung aufgehoben und ein neuer Bund zwischen Gott und seinem Volk geschlossen wurde, besiegelt durch den Tod und die Auferstehung Christi.21 Kurzum: Es spricht nichts gegen eine orthodoxe Lesart der Bildtafeln. Für Broughton und die Gläubigen in seiner Gemeinde konnten die Gemälde eindeutig die Realität der Auferstehung Christi repräsentieren und damit unmissverständlich für die Gewissheit bürgen, dass alle am Ende der Tage auferstehen werden. Wendet man sich nun der Tafel zur Auferstehung zu, lässt sich Broughtons eigenes theologisches Verständnis wohl in zweierlei Hinsicht ausmachen. Hoch über dem Altartisch hätte die mittlere Tafel den Kirchenraum völlig beherrscht (Abb. 5, S. 277). Hogarth wählte den Moment, als Christus aus dem Gesichtsfeld seiner Jünger hinter den Wolken verschwindet und sie sich gerade denen zuwenden, die ihnen die Rückkehr des Gottessohns zusichern. Hier manifestieren sich gleich zwei Momente: Christus, der in den Himmel auffährt, und die Geburtsstunde der Kirche Christi auf Erden. Auch wenn Christus für die Jünger verborgen bleibt, so ist er für die Gemeinde als weiß-leuchtende und gold-glänzende Figur sichtbar, deren Kopf von einem Strahlenkranz eingefasst wird. Dieser Bildausschnitt hätte durch das Fenster des südlichen Obergadens reichlich Licht erhalten und die Christusfigur viel heller erscheinen lassen als das übrige Gemälde. Christus blickt nach links zum knieenden Petrus hin, dessen ausgestreckte Arme seine eigene Körperhaltung spiegeln. Maria Magdalena eilt zu Petrus, offensichtlich um ihn über die Anwesenheit der beiden Engel zu unterrichten, so wie sie bereits die Nachricht von der Auferstehung überbracht hatte. Auf der rechten Seite zeigen sich zwei Engel, um die sich fünf der Jünger gruppieren. Darunter ist auch, im roten Gewand, der Evangelist Johannes zu finden, der in andächtiger Haltung seinen Glauben bezeugt. Ganz ähnlich hatte ihn Raffael bei der Übergabe der Schlüsselgewalt an 20
Sherlock: Tryal, S. 43 f. Beispiel John Lewis: The Church Catechism Explained. London 1753, S. XII.
21 Zum
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Abb. 5: William Hogarth, The Ascension, 1755–56 (© Bristol Museums, Galleries & Archives)
Petrus dargestellt. Die anderen Jünger bilden zwei Gruppen, von denen jede den Weggang Christi beobachtet und individuell darauf reagiert. Im Hintergrund ist in weiter Ferne – lediglich von der Morgendämmerung und einem Blitzschlag erleuchtet – die heilige Stadt Jerusalem zu erkennen. Hogarth nutzte offensichtlich Raffaels ›Verklärung‹ als Modell. In der Mitte des 18. Jahrhunderts galt dieses Gemälde als Höhepunkt der Malerei, weshalb es oft kopiert und reproduziert wurde. Indem sich Hogarth dieses Kunstwerks bediente, verlieh er nicht nur seinem eigenen Gemälde eine Autorität, die der Raffaels entsprach,
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sondern trat auch in Konkurrenz zu diesem.22 Hogarth hatte sicherlich auch die Besprechung des Bildes durch Jonathan Richardson in seinem Essay on the Theory of Painting von 1715 vor Augen. Zwar schätzte dieser das Gemälde sehr, befand allerdings die Komposition für mangelhaft, da sich das Bild in die Erzählung vom verklärten Christus einerseits und vom besessenen Jungen andererseits aufspalte und damit in zwei Szenen zerfalle.23 Raffael sei es nicht gelungen, die für ein großes Historiengemälde unabdingbare bildliche Einheit herzustellen. Eine vergleichbare Herausforderung an den Künstler Hogarth ergab sich im Wesentlichen durch die Wahl des narrativen Moments für das Gemälde in St. Mary Redcliffe. Solange das Hauptaugenmerk auf den Sohn Gottes gerichtet ist, während er für die Jünger noch sichtbar bleibt, gibt es nur ein Zentrum des Geschehens. Wenn Hogarth aber auch die Reaktion der Jünger darstellt, nachdem Christus ihren Blicken entschwunden ist, muss er gleich zwei Handlungsstränge abdecken und zwei Räume – Himmel und Erde – darstellen. Wir können beobachten, wie sich Hogarth bemüht, ein Problem zu lösen, an dem Raffael – dem Verständnis Richardsons nach – gescheitert sein sollte. Im unteren Bildbereich wird der Blick von zwei weißen Figuren angezogen, jedoch gleich durch Maria Magdalenas dynamische Bewegung zu Petrus hin gelenkt. Dessen Blick nach oben zu Christus wird durch seine ausgestreckte rechte Hand unterstützt. Sie lenkt das Auge über einen Baum und dessen abgebrochenen Stamm direkt zu Christus im Himmel. Strahlenbündel sowie rote und schwarze Wolken dirigieren das Blickfeld umgekehrt zurück zu den Engeln am Boden und komplettieren damit eine Kreisbewegung, die das gesamte Bild erfasst. Aus dieser unverblümten Kampfansage an Raffael kann man ableiten, dass das Altargemälde wohl als das ehrgeizigste von Hogarths Werken in der ›grand manner‹ zu gelten hat. Für Paulson repräsentiert insbesondere ein Aspekt von Hogarths Gemälde die religionsskeptische Auffassung des Malers. Seiner Meinung nach ist die zentrale Figur des Gemäldes keineswegs die »distant, levitating, figure of Christ«, sondern Maria Magdalena als »chief mourner«. Er sieht in ihr eine »recapitulation […] [of Hogarth’s, Anm. d. Verf.] Harlot« (in Anlehnung an ›The Harlot’s Progress‹), was einem Austausch gleichkommt, den er bereits früher als »outrageously appropriate« beschrieben hatte.24 Das ist nach Ansicht der Verfasserin dieses Aufsatzes eine Fehlinterpretation, die sich sowohl über die Gestaltung des Gemäldes, wie es für den Altarraum konzipiert war, als auch über die theologischen Deutungsmuster, die hier Anwendung finden können, hinwegsetzt. Zugegebenermaßen untermauern Maria 22
Zur Konvention des Zitierens im 18. Jahrhundert vgl. Robert Wark (Hrsg.): Sir Joshua Reynolds. Discourses on Art. New Haven/London 1997; David Solkin: Great Pictures or Great Men? Reynolds, Male Portraiture, and the Power of Art. In: Oxford Art Journal 9 (1986), S. 42–49; Frederick Antal: Hogarth and His Borrowings. In: The Art Bulletin 29 (1947), S. 36–48. 23 Jonathan Richardson: An Essay on the Theory of Painting. London 1715, S. 60 f. 24 Paulson: Sacred Parody, S. 275 und ders.: Hogarth. Bd. 3, S. 208.
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Magdalenas zentrale Stellung im Bild, ihre Bewegung sowie das hellblaue Kleid ihre maßgebliche Rolle in der Bildkomposition. Allerdings lässt sich nichts Skandalöses daran festmachen. Im Gegenteil kann diese Darstellung geradezu als völlig angemessen erachtet werden, wenn man die allgegenwärtige Präsenz der Magdalena im Verlauf von Christi Passion und Auferstehung berücksichtigt. Von allen Jüngern ist sie diejenige, die am entschiedensten ihre Hingabe an Christus bezeugt. Es ist wahrscheinlich auch kein Zufall, dass Maria Magdalena von Teufeln besessen war und durch Christus geheilt wurde (Lukas 8,2), genauso wie er einen besessenen Knaben rettete, nachdem er vom Berg der Verklärung zurückkehrte. Die Worte, die der Vater des Jungen spricht, scheinen sich als eine bevorzugte Bibelstelle Broughtons zu erweisen, immerhin führte er sie zweifach in Sermons an: »Lord, I believe; help thou mine Unbelief«.25 Zudem wusste Broughton, dass Maria Magdalena nicht die Prostituierte (›harlot‹) oder Sünderin aus Lukas 7,36–50 war.26 Der Mythos der Magdalena, der seine Wirksamkeit bis heute nicht verloren hat, entstand aus einem allegorischen Verständnis der Teufel, die Christus ihr ausgetrieben hatte, als ›Sünden‹. Auch wenn beide Lesarten von Maria Magdalena in dieser Epoche gängig waren, so standen die von den Zeitgenossen gezogenen Schlussfolgerungen im deutlichen Kontrast zu Paulsons Argumentation. Maria Magdalena spielt beispielsweise in Charles Wesleys Hymns for Our Lord’s Resurrection eine zentrale Rolle. Diese Sammlung dürfte Broughton wohlbekannt gewesen sein, denn Wesley war ein namhafter Bürger der Stadt Bristol. Das zweite Kirchenlied, ›Sinners, dismiss your Fear‹, endet mit den Zeilen: See Him there to Life restor’d! Mary – know thy Saviour’s Voice, Hear it, and reply, My Lord!27
›Happy Magdalene‹, das dritte Kirchenlied, preist die Wahl Magdalenas durch Christus als geläuterte Sünderin, der er sich als Erster zeigt. Der dritte Vers schwingt insbesondere auch bei Hogarths Darstellung mit: Highly favour’d Soul! To Her Farther still His Grace extends, Raises the glad Messenger, Sends her to His drooping Friends 25
Markus 9,24; Thomas Broughton: Fifteen Sermons on Select Subjects…by the Late Revd. Thomas Broughton. London/Bristol 1778, S. 25 u. 37. 26 Thomas Broughton: An Historical Dictionary of All Religions from the Creation of the World to the Present Time. 2 Bde. Bd. 2. London 1742, S. 68. 27 [Charles Wesley]: Hymns for Our Lord’s Resurrection. London 1746, S. 6.
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Tidings of their living Lord First in her Report they find: She must spread the Gospel-Word, Teach the Teachers of Mankind.28
Maria Magdalena übernimmt hier eine Schlüsselfunktion unter den Jüngern in der Erzählung von der Auferstehung Christi und der Gründung der Kirche. Ihre herausragende Stellung für die Christen der Zeit wird in der Fortsetzung des Lieds gefeiert, das vor allem ihre Treue, ihren Wunsch, Christus zu sehen, und den Auftrag zur Evangelisierung betont, damit auch andere Menschen zum Glauben finden: »their Rising God may know […] [and, Anm. d. Verf.] the Life of Christ may feel«.29 Broughtons eigene Predigten deuten an, dass er diese Auffassung der Magdalena teilt. Von den fünfzehn Predigten, die uns von ihm überliefert sind, leitet sich sein Standpunkt am ehesten aus ›The Repentance of a Sinner Matter of Joy in Heaven‹ nach Lukas 15,7 ab. Hier erläutert er die Lehre von der Erlösung durch Christus und kommt zu folgendem Schluss: [T]he very best of Christians are but Sinners in the lowest Degree; and we know full well, that without Repentance, there is no Remission of Sins. Repent ye therefore, O Sinners, and be converted, that your Sins may be blotted out, and those glorious Spirits, who now rejoice over your Repentance, may congratulate you on your Admittance into the Kingdom of God in Heaven.30
Damit ermöglicht die markante und lebendige Darstellung von Maria Magdalena einen Zugriff auf die erhabenen Ereignisse der Himmelfahrt. Magdalenas Position auf der gleichen vertikalen Achse wie Christus betont ihre Rolle als Jüngerin und Zeugin der Auferstehung, und erinnert den Betrachter zugleich an das Versprechen einer innigen Beziehung zu Christus, das jedem reumütigen Sünder zuteil wird. Allerdings hätte die Figur des Christus’, durch den halbmondförmigen Rahmen des Bildes ebenso hervorgehoben wie durch den Lichteinfall aus dem Obergadenfenster, die Blicke eines Betrachters vom Kirchenschiff aus unweigerlich auf sich gezogen (Abb. 6, S. 281). Christus wird von den anderen Figuren durch dunkle Wolkenberge getrennt; eben diese gesonderte Stellung gehört zu den besonderen Merkmalen des Bildes, wie auch bereits Paulson feststellte. Wir können allerdings zu einer ganz anderen Interpretation kommen, wenn wir uns an Broughtons Schriften orientieren. Seine Predigt ›Hope in Christ‹ thematisiert mit 1. Korinther 15,19 eine der mehrdeutigeren Stellen aus den Paulusbriefen: »[I]f in this Life only we have Hope in Christ, we are of all Men most miserable«. Broughton geht davon aus, dass 28 Ebd. 29 Ebd.
30 Broughton:
Fifteen Sermons, S. 277.
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Abb. 6: James Johnson, Interior of St Mary Redcliffe, Bristol, looking east, c.1820 (© Bristol Museums, Galleries & Archives)
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hier nur gemeint sei, die Apostel und die frühen Christen hätten in ihren Leidenszeiten Trost durch die Auferstehung Christi und das Versprechen eines zukünftigen Lebens in der ewigen Seligkeit gefunden. Die Botschaft an die Gläubigen war eindeutig: Wenn sie sich auch glücklich schätzen konnten, nicht wegen ihres Glaubens verfolgt zu werden, war ihr Leben trotzdem voller Schwierigkeiten. So besaßen also alle, die ein Leben nach dem Evangelium führten, wie bereits die Apostel, dieses inestimable Viaticum, Hope in Christ, or a well-grounded Assurance and Expectation of a blessed Immortality: That so, when every other Comfort fails us, when natural Patience is exhausted, and natural Courage sinks in our Breasts, this Cordial may revive our drooping Spirits; and the Prospect of our Reward in Heaven, by inspiring us with Resignation to the Divine Will, and a truly Christian Fortitude, render us, under the sorest Evils of Life, of all Men most happy.31
Wenn Broughtons Gemeinde ihren Blick gen Osten erhob, hätte sie eine Darstellung Christi gesehen, die ihnen Paulus’ Botschaft nachdrücklich bestätigt hätte. Tatsächlich gewährt seine von strahlendem Licht umringte, transzendente Gestalt eine sichtbare Bestätigung für Broughtons Worte: »[He] brought Life and Immortality to Light«.32 Ein weiterer Aspekt von Hogarths Christusdarstellung darf nicht unerwähnt bleiben, weil er besonders deutlich an die Beschreibung der Himmelfahrt in Broughtons späterem, wichtigen eschatologischen Werk A Prospect of Futurity (1768) erinnert. Im Abschnitt zur allgemeinen Auferstehung am Jüngsten Tag untersucht Broughton einige Zeilen, die weiter unten im 1. Korintherbrief zu lesen sind. Die Verse 35 bis 50 setzen sich mit den Fragen »How are the dead raised up? And with what Body do they come?« auseinander.33 Broughton schlussfolgerte, dass der menschliche Körper wie der Gottes erscheinen würde, so wie Paulus bereits an anderer Stelle darlegte, Gott werde »unseren bösen Leib verwandeln […], dass er wie sein verklärter Leib gestaltet sei«.34 Weiter heißt es: [O]ur Idea of Glory, as predicated of Body, and an Object of Sight, can be no other than That of Light or Shining, Brightness or Radiancy. And, that in This consists the Glory of our Saviour’s divine Body, may reasonably be inferred from the History of his Transfiguration.35
Wie der Ausdruck ›divine body‹ nahelegt, war Broughton davon überzeugt, dass der menschliche Körper Christi bei der Auffahrt in den Himmel verwandelt wurde: 31
Ebd., S. 230. Ebd., S. 224. 33 Thomas Broughton: Prospect of Futurity. London o. J., S. 204; 1 Korinther 15,35. 34 Broughton: Prospect of Futurity, S. 213; Philipper 3,21. 35 Broughton: Prospect of Futurity, S. 213. 32
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»[O]ur Saviour shook off his natural and assumed his heavenly Body, during the very Act of his Ascension into Heaven, and at the Instant of the Cloud’s receiving him out of the Sight (Acts i. 9) of his astonished Disciples«.36 Dies findet bei Hogarth in zwei Details Ausdruck: zum einen in dem ausgeprägten Heiligenschein um Christi Haupt, der auf eine substantielle Verwandlung hinweist, und zum zweiten in der Darstellung seines Gewands, das durchsichtig zu werden scheint. Broughton argumentiert, dass die Herrlichkeit Christi durch die »Transparency of his Vesture« hindurch scheinen würde – »if, in Reality, he had any at that Time, and not rather the Phantom or Appearance of Raiment only«.37 Hogarths Darstellung von Christus als von den Jüngern losgelöste Figur ist auch in anderer Hinsicht theologisch gesehen höchst bedeutsam. An der Vorstellung, dass der Herr noch immer einen menschlichen Körper habe, hielten nach Broughtons Überzeugung lediglich die Katholiken erbittert fest, galt dies doch als »necessary Support of their Doctrine of Transubstantiation; according to which, the very Body and Blood of Christ are really and essentially present in the Eucharist«.38 Broughton teilte hingegen die Auffassung der Eucharistie, die vom ›low church‹ Spektrum der anglikanischen Kirche vertreten wurde. Der Empfang des Abendmahls war für ihn nichts als eine Gelegenheit, sich als »Christ’s Disciples« zu bekennen, was zu einem tugendhaften Leben führe: »[a] serious consideration of the Duties of a Christian Life; and this consideration to the practice of them«.39 Die Gemeinde, die sich zur Kommunion im Altarraum versammelte, hätte die Jünger im Altarbild viel deutlicher sehen können als Christus, und wäre dadurch – und durch Broughtons Lehren – ermutigt worden, sich mit den Jüngern zu identifizieren. In Gemeinschaft mit ihnen hätten sie so ihren eigenen Bund mit Gott erneuern können. Schließlich soll ein letztes Detail von Hogarths Gemälde Beachtung finden. Der Blitz, der im Hintergrund des Bildes, zwischen Petrus und Maria Magdalena, in Jerusalem einschlägt, ist nicht Teil der Erzählung von der Himmelfahrt. Es handelt sich wahrscheinlich um einen Verweis auf die Wiederkunft Christi, die er seinen Jüngern in Matthäus 24 ankündigt und die unmittelbar auf die Zerstörung des Tempels in Jerusalem folgt: »[A]s the lightning cometh out of the east, and shineth even unto the west: so shall also the coming of the Son of man be«.40 Da Hogarth sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft in sein Gemälde einbettet, scheint er zumindest geringfügig mit den Regeln akademischer Malerei und des konventio36
Ebd., S. 218. Ebd., S. 214. 38 Ebd., S. 216. 39 [Thomas Broughton]: The Sacrament of the Lord’s Supper Considered. London 1736, S. 25. 40 Matthäus 24,27. Paulson erkennt diesen Verweis, interpretiert ihn allerdings als ein weiteres antiklerikales Element: Paulson: Hogarth. Bd. 3, S. 207. 37
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Aspekte · 3. Sektion · Clare Haynes
nellen Erzählens gebrochen zu haben. Aber genau dieser Regelverstoß ermöglicht es ihm, dem Betrachter eine subtile, aber sichtbare Zusicherung eben jenes »Prospect of Futurity« zu vermitteln, den die Engel den Jüngern verheißen. Hogarths Altarbild, das haben diese Ausführungen gezeigt, ist höchstwahrscheinlich aus einer Partnerschaft zwischen dem Künstler Hogarth und dem Priester Broughton hervorgegangen. Auf der Grundlage einer regelkonformen Gestaltungsweise biblischen Geschehens, Broughtons eschatologischen Theorien, Hogarths innovativen Methoden und den Traditionen akademischer Malerei haben die beiden ein Werk geschaffen, das von anglikanischer Apologetik durchdrungen ist. Mit dem Auftrag an Hogarth, der immerhin zu den führenden Malern seiner Zeit zählte, holte sich die Pfarrgemeinde St. Mary Redcliffe keineswegs ein trojanisches Pferd ins Haus, wie es von anderen Kritikern behauptet wurde. Tatsächlich gaben sie die modernste und beeindruckendste Widerlegung des zeitgenössischen Skeptizismus in Auftrag. Damit soll keineswegs der Status der Gemälde als aufgeklärte Kunst bestritten werden. Sie waren Erzeugnisse einer ebenso rationalen und spekulativen Auseinandersetzung mit der Bibel, wie sie von den radikalen Kritikern genutzt wurde, auf die sie reagierten. Wenn Gemeindemitglieder, in Anlehnung an den Vater des besessenen Jungen, beteten: »Lord, I believe; help thou mine Unbelief«, gab Hogarths Gemälde eine Antwort. Es sollte indes nicht vergessen werden, dass Hogarth seine Nach-Erzählung der Bibel so subtil gestaltet hat, dass Sherlock und Ilive ohne weiteres über die Gemälde genau so gestritten haben könnten wie über den ihnen zugrunde liegenden biblischen Text. Übersetzt aus dem Englischen von Christoph Richter und Sabine Volk-Birke
Andreas Keller
Heiligenlegenden Aufklären mit den Mitteln des Aberglaubens oder Rettung des Christentums mit seinen erzählerischen Frühformen? Aufklärung kann sehr radikal sein, auch und gerade in Fragen der Narratologie − im Namen der Vernunft gilt es nämlich die Vernichtung einer der ältesten und populärsten Erzählformen überhaupt. Es geht gegen die Darstellung von Wundern, Selbstopfern und Martyrien bzw. anderen unwahrscheinlichen Formen der exemplarischen Glaubensstärke. In den Viten der Heiligen will man daher den »höchste[n] Triumph verkrüppelter Mönchsphantasie« und verderbliche Wucherungen »des bodenlosesten Aberwitzes« erkennen, nichts als »ungeheure Ausschweifungen eines religiösen Wahnsinnes« – wie es noch 1804 in Friedrich Nicolais NDB heißt.1 Hier gilt es selbstverständlich die Axt des Fortschritts anzulegen, ja man beabsichtigt offenbar mit einer einzelnen epischen Kleingattung gleich das ganze Übel bei der Wurzel zu packen: mit der Heiligenlegende ist nichts weniger als der Hort der »Verstandesverwirrung« und der »baare[n] Unvernunft«2 aus dem gesellschaftlichen Diskurs zu entfernen, ja aus dem Gedächtnis der Menschheit überhaupt. Jedes Anzeichen einer erneuten »Hervorziehung dieser mittelalterlichen Wundergeschichten« aus dem »Schoße einer glücklichen Vergessenheit« sei vom Standpunkt des » gesunden Menschenverstandes« aufs schärfste zu verurteilen.3 Mit Begriffen wie ›Ausschweifung‹ und ›Wahnsinn‹ ist die größtmögliche Entfernung von der Vernunft bereits schroff gekennzeichnet, ebenso wörtlich der kontradiktorische ›Aberwitz‹, der in Analogie zum oft beschworenen ›Aberglauben‹ gelesen werden darf. Medial gesprochen soll das ›Vorzulesende‹ verstummen, die Oralität im separierten geistlichen Kollektiv muß mit den Klöstern zugleich aufgehoben werden zugunsten einer stillen oder geselligen Lektüre vernünftiger Unterweisungsformen im bürgerlichen Rahmen. Man setzt Irrationalismus, Unwahrheit und katholische Kirche kurzerhand gleich mit der obskuren Gattung, die Martin Luther ja schon 1537 als »Lügende« verhöhnt hatte.4 Mit Johann Gottfried Herder agitiert dann eine 1
So »Wr.« [= Schink, Johan Friedrich] in seiner Besprechung der Legenden Kosegartens, auf die wir noch kommen werden: Wr.: Legenden von Ludewig Theobul Kosegarten […] In: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 92 (1804), S. 18–28, hier: 18. 2 Ebd. S. 20. 3 Ebd. S. 24. 4 Martin Luther: Die Lügend von S. Johanne Chrysostomo, an die Väter des Concilii zu Mantua [1537]. In: Ders.: D. Martin Luthers Werke. Hrsg. v. Rudolf Hermann et al. 127 Bde. Bd. 50. Weimar 1914, S. 48–64. Vgl. dazu, vor allem zu Luthers Verständnis der Heiligen:
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Aspekte · 3. Sektion · Andreas Keller
weitere prominente Persönlichkeit gegen den verderblichen »Legendengeschmack«, gegen die »Legenden-Ascetik« oder gar schlechte »Legendenbücher«. Es sei vielmehr »sehr gut und heilsam«, dass deren Gebrauch jetzt »selbst von geistlichen Obrigkeiten eingeschränkt und von guten Köpfen hie und da wenigstens unschädlich gemacht ist: denn von einem großen Theil derselben kann man nicht Uebles gnug sagen. Sie verkehren den Sinn und sind Zeugen von verkehrtem Sinne.«5 Sogar die katholische Seite stößt in dasselbe Horn: der Wiener Theologe Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860) sieht in »Legenden und deren Erzählstil« allenfalls noch »trübe Quellen«.6 Im Jahre 1777 publiziert Gottfried Schwarz, ein protestantischer Pfarrer im ungarischen Raum, eine deutschsprachige Schrift, deren Titel umstandslos auf die Absichten ihres Verfassers zu sprechen kommt: es geht um die Entlarvte Bulle Pabsts Sylvester des II. die er an den heiligen Stephanus König in Ungarn abgeschickt haben soll. Samt ihren widergelegten Behelfen aus der Legende Chartuitii und Pabst Gregorii des VII. Briefen ans Licht gestellet. In seiner Vorrede wird Schwarz noch deutlicher und bezieht sich dabei auf einen ersten Versuch in der Angelegenheit bereits aus dem Jahre 1740, seinerzeit in lateinischer Sprache: Nach meiner damaligen Einsicht, die ich durch das Lesen so vieler Legenden, und Schriftsteller der mittleren Zeiten, eingezogen hatte, nahm ich wahr, daß die vor Alters ganz unbekante Sylvestrinische Bulle aus lauter solchen alten Lappen zusammen geflicket worden. Ich gerieth dadurch auf den kritischen Entschluß zu behaupten, daß das ganze Gewebe von der Sylvestrinischen Bulle nur, als eine leichtfertig untergeschobene Antike, anzusehen sey.7
Es gilt demnach, die Fingierung eines historischen Dokuments mit den Methoden der historischen Kritik nachzuweisen. Die besagte Urkunde des Papstes aus dem 11. Jahrhundert existiert nämlich nicht, ihr dennoch überlieferter ›Wortlaut‹ basiert allein auf den Angaben einer Legende etwa aus derselben Zeit. Deren erster nachweislicher Überlieferungsträger stammt auch erst aus dem 17. Jahrhundert und erweist sich als Produkt des Jesuiten Melchior Inchofer aus dem Jahre 1644, der Marina Münkler: Legende/Lügende. Die protestantische Polemik gegen die katholische Legende und Luthers ›Lügend von St. Johanne Chrysostomo‹. In: Gerd Schwerhoff u. Eric Piltz (Hrsg.): Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter. Berlin 2015, S. 121– 147. 5 Johann Gottfried Herder: Vorrede zur sechsten Sammlung. In: Ders.: Zerstreute Blätter. Sechste Sammlung. Gotha 1797, S. I–XIV, hier: VIII. 6 Ignaz Heinrich von Wessenberg: Die Christlichen Bilder. 2 Bde. Bd. 2. Konstanz 1827, S. 94 f. 7 Gottfried Schwarz: Entlarvte Bulle Pabsts Sylvester des II. die er an den heiligen Stephanus König in Ungarn abgeschickt haben soll. Samt ihren widergelegten Behelfen aus der Legende Chartuitii und Pabst Gregorii des VII. Briefen ans Licht gestellet. Lemgo 1777, S. 7.
Heiligenlegenden
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dies »der ungarischen Welt arglistig hinterbracht« 8 habe. Der Tatbestand liegt also darin, dass eine vorgeblich faktenbasierte Urkunde allein aus einer faktenfremden Legende generiert und als authentisch weitergereicht wurde. Die Legende selbst ist unwahr, die zeitfern (re)formulierte Urkunde damit auch.9 Worum geht es? Dass der »heilige christliche König Stephanus in Ungarn« den Königstitel, die Krone und zehn Bistümer allein vom Papst zu Rom erhalten habe, »ist eine alte Sage bei den Ungarn gewesen; gegründet auf die Legende vom heil. König Stephanus eines apokryphischen Bischofs, Hartwig genannt.«10 Die von Schwarz vollständig zitierte Legende basiert auf der Erscheinung eines Engels, der dem Papst im Traum mitteilt, dass am nächsten Tag eine Kommission kommen und ihm ein Königreich übereignen wolle, das ihn im Kampf gegen die Heiden in Osteuropa bzw. gegen die oströmische Kirche unterstützen würde. Er solle dem Herzog des soeben zum christlichen Glauben gelangten Pannonien eine prächtige Krone übersenden und ihm damit das Königreich Ungarn übereignen, das er wiederum als Geschenk zurückerhalten würde. Der Heilige Vater möge die besagte Krone aber nicht, wie ursprünglich geplant, dem um die Königswürde konkurrierenden Herzog Mieska von Polen übergeben. Im vorgeblichen Wortlaut des Engels: »und trage keinen Zweifel, daß [die Krone] ihm [dem Herzog] seiner Verdienste halber im Leben, und um seiner löblichen Regierung willen, gebühre.«11 Als die Gesandtschaft dann tatsächlich kommt, handelt der Papst weisungs gemäß: er gab dem Ansuchen ein geneigtes Gehör, er setzte hinzu, daß der König das Kreuz, als ein Zeichen des Apostelamts, vor sich tragen ließe, indem er sagte, Ich bin wol der Apostolicus, Er aber kan, nach Verdiensten, Christi Apostel genennt werden, durch dessen Bemühung sich Christus ein so großes Volk erworben hat. Und um dieser Ursach willen haben wir auch Ihm die Regierung des von Ihm bekehrten Volks, so als Ihn die Gnade GOttes belehren wird, zusamt den Kirchen GOttes und den Unterthanen an unserer Statt, rechtskräftig zu verwalten überlassen.12
Damit aber wäre nicht nur die Lehnsherrschaft der Römischen Kirche über das Königreich Stephans begründet, sondern der König selbst avancierte als der ›Apostel Ungarns‹ von päpstlichen Gnaden auch zum Kirchenoberhaupt des Reiches. Wie 8
Gottfried Schwarz: Entlarvte Bulle Pabsts Sylvester des II., S. 8. »Urkunde« orientiert sich an der Bearbeitung der »legenda maior« der »Vita St. Stephani regis« durch Bischof Hartwig (Hartvic) von Raab, und wurde wohl um 1100 verfasst. Vgl. Thomas von Bogyay: Grundzüge der Geschichte Ungarns. Darmstadt 41990; zur Krönung und den umstrittenen Umständen: Josef Deér: Die heilige Krone Ungarns. Wien 1966, S. 195–201. 10 Vgl. Gottfried Schwarz: Entlarvte Bulle Pabsts Sylvester des II., S. 54–56. 11 Ebd., S. 56. 12 Ebd., S. 57. 9 Die
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Aspekte · 3. Sektion · Andreas Keller
die Bulle weiter ausführt13, besteht damit fraglos für alle Nachfahren die Verpflichtung zum absoluten Gehorsam gegenüber Rom! Ohne das nun im einzelnen verfolgen zu können, sei festgestellt: Es handelt sich hier um eine mehrteilige intertextuelle Konstellation aus einem inexistenten Doku ment mit vorgeblicher Beweisfunktion und einer, letzteres angeblich stützenden Legende als panegyrischer Fiktion aus dem 11. Jahrhundert. Hinzu tritt ein vorgeblicher Nachweis der Richtigkeit aus dem 17. Jahrhundert und schließlich eine dies alles entkräftende kritische Abhandlung aus dem 18. Jahrhundert. Damit entsteht in expliziter Kontradiktion ein Gegen-Narrativ, das im Sinne eines forensischen Plädoyers und unter zitierendem Einschluss der Vorgaben eine tatkräftige Dekonstruktion betreibt. Die Verderblichkeit der aufgezeigten Unwahrheit soll somit entkräftet, die fremde Weltdeutung, die fremde Geschichtserzählung und ihre suggestive Ereigniskette aufgelöst werden. Die Legende als Textsorte wird damit nicht ignoriert, getilgt oder überschrieben, sondern exemplarisch als unwahres Konstrukt vorgeführt und unschädlich gemacht.14 Die Funktion der Heiligenlegende stellt der Autor damit an einem ganz bestimmten Punkt in Frage. Wenn es um mehr geht als die Erbauung eines gläubigen Ordensangehörigen, nämlich um Machtdiskurs und Rechtsakte, ja um faktische Herrschaftsübertragung,15 gilt es mit den Mitteln der Vernunft einzuschreiten und die auf Lügen basierende Herrschaftsanmaßung zu defunktionalisieren: eine Bulle existierte nie, sie wurde künstlich nachproduziert auf der Basis einer Legendenaussage, also aus narrativen Komponenten, die allenfalls den Prämissen der Theologie bzw. einer heilsgeschichtlichen Wahrheit, nicht aber denen der faktischen Geschichtswahrheit genügen. Der zweite Fall führt nach Wien. Hier erscheint 1784 die Neue Legende der Heiligen, laut Untertitel nach einem hinterlassenen Manuscript des Voltairs. Selbiger be-
13 Vgl.
ebd., S. 18. den Hintergründen: Gottfried Schwarz war Pfarrer in Leuschau in der Zips, also in einem Komitat der ungarischen Krone, das jedoch von 1412 bis 1769 an Polen verpfändet gewesen war. Offenbar reagierte Schwarz acht Jahre nach der Wiedererlangung des Gebietes durch die Habsburger nun mit der Befürchtung, dass sich eine kirchenrechtliche Verschlechterung der protestantischen Situation ergeben könnte. Es geht um den römischen bzw. kaiserlichen Machtanspruch in Europa, aktuell eben um das regionale Selbstbestimmungsrecht in konfessionellen Angelegenheiten. 15 Demnach ein durchaus mit der ›Konstantinischen Schenkung‹ vergleichbarer Fall: eine massive Geschichtsfälschung mit der Hilfe von Legendenbildung, die den faktischen Nachweis ersetzen durch einen »Schwalm hochtrabender Worte« (Gottfried Schwarz: Entlarvte Bulle Pabsts Sylvester des II., S. 10). Hartwig, der seinerseits als Diplomat und Bischof von Raab in der 2. Hälfte 11. Jahrhunderts wirkte, ist laut dem kritischen Kirchenhistoriker Schwarz, der an verschiedenen Universitäten des Reichs lehrte, nichts als ein »[l]egendenschöpferische[r] Kopf, nach Art der Mode Romanen seiner Zeit« (ebd., S. 50). 14 Zu
Heiligenlegenden
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gründet im Vorwort vorgeblich seine Absichten: Er glaube an Gott, »dieses ewige unendliche Wesen«, aber eben deshalb konnte ich um so weniger auf Roms fabricirte Heilige halten. Die Habsucht dieses christlichen Raubnestes reizte meinen Eifer. Es verdroß mich, daß Menschen, die doch in ihren übrigen Handlungen etwas mehr Verstand, als Affen zeigen, sich von einem wälschen Pfaffe so lang am Narrenseile führen liessen, und vor Heilige hinknien, die, nach der Legende selbst, größtentheils Schurken oder Narren gewesen.16
Hier geht es also gegen die Integrität und Authentizität der vorgeblichen Heiligen, die nun in satirischen Legendenimitaten als krank, debil und affektbestimmt überzeichnet und damit als Vorbilder dekonstruiert werden.17 Das Unternehmen zielt ebenso auf den Nachweis der Lüge, die in ihrem unfasslichen Ausmaß etwa am Beispiel der Hl. Ursula dargestellt wird.18 Mit vergleichbarem forensischem Impetus bedient sich der Verfasser nunmehr eines zweigliedrigen Verfahrens: zunächst referiert er in unterhaltsamer Diktion die behaupteten Fakten einer Heiligenvita, um sie dann aber in einem mit »Moral« überschriebenen Passus haarklein und messerscharf ad absurdum zu führen. Die erste Widerlegung vollzieht sich bereits auf der Faktenebene: da die Biographen jeden Beweis für eine reale Existenz ihrer Protagonisten schuldig bleiben, indem sie weder Lebensort noch Geburtsdatum nennen, ist das Gezeigte reine Fiktion – »eine Geburt der Imagination« und damit irrelevant. Selbst aber wenn es zuträfe, würden die Schilderungen nach entsprechender Prüfung kaum für ›Heiligkeit‹ ausreichen, deren Anforderungen der Autor entsprechend eindeutig definiert: Ein Heiliger muß mit außerordentlichen und zwar praktischen Tugenden des Christenthums glänzen. Sein frommer Lebenswandel muß so beschaffen seyn, daß er den übrigen Christen zum Muster dienen könne: er muß aber nicht Narrenstreiche begehen, die das Tollhaus verdienen.19
Unter diesem Maßstab erfolgt dann eine ›vortheilhafte‹ Prüfung der jeweils geschilderten Vita im Sinne des Betroffenen. Das Urteil jedoch lautet stets: ›Entzauberung‹, denn »wir mögen ihn noch so schön aufputzen«, man fände doch nichts »als einen 16
[Joseph Richter]: Neue Legende der Heiligen. Nach einem hinterlassenen Manuscript des Voltairs. Salzburg [i. e. Wien] 1784, n. pag. [S. 6 f.]. 17 Das Frontispiz zeigt einen runden Kuppelraum mit Statuen verschiedener Heiliger. Als die personifizierte Wahrheit, eine idealisierte weibliche Gestalt in antiker Gewandung, den Raum betritt, verlieren die Heiligen plötzlich ihren Heiligenschein oder fallen von ihrem Sockel. Über eine Heilige Theresia heißt es bspw.: »Ihre Lieblingslektüre war die Legende der heiligen Gottes. Es darf uns also nicht Wunder nehmen, wenn sie darüber verrückt wurde. Theresie hatte eine weiche Seele, ein feuriges Blut, und war eine Spanierinn« (ebd., S. 46). 18 Vgl. ebd., S. 243. 19 Ebd., S. 41.
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unnützen Mitbürger des Staates, und, wenn wir ihn recht gelinde beurtheilen, einen Schwärmer, und bedaurungswürdigen Narren.«20 Die wahren Schuldigen aber sind andere: Ob aber auch diejenigen, die ihn heilig sprachen, diesen gelinden Namen verdienen, wäre eine andre Frage, wenn es nicht schon weltkündig wäre, daß Rom sogar den Teufel heilig spricht, wenn er gut bezahlt.21
In seiner Schlussrede konstatiert der Autor: »Ich habe bei diesem kleinen Werk blos die Absicht, die katholischen Menschen überhaupt aufmerksam auf die Legende ihrer Heiligen zu machen – Wenn ihnen dann ihr Herz und Verstand sagt, daß die meisten Narren oder Schurken waren, und sie doch fortfahren, vor ihre Altäre hinzuknien, so müssen sie selbst eines von beyden seyn.«22 Auch wenn etwa Wielands humoristische Übersetzungen von Jesuitenlegenden prominenter sein dürften, so spricht doch hier mit dem zwischenzeitlich ermittelten Verfasser Joseph Richter (1749–1813) bezeichnenderweise ein Repräsentant der radikalen katholischen Aufklärung in Wien, der mit den Mitteln Voltaires seine so antiklerikale wie antimonas tische Haltung umsetzt. Bei so viel Ablehnung, Widerstand und Stigmatisierung müsste die Legendenproduktion eigentlich abbrechen und versiegen. Stattdessen aber schreiben nicht nur Goethe, Bürger, Schubart und schließlich sogar Herder selbst Legenden.23 Auch das Studium, die Pflege und Sammlung der tradierten Formen setzt sich bekanntlich weit über das 19. Jahrhundert bis in unsere Tage fort. Legenden als Narrative bleiben anerkannt bis in die Reihen der Agnostiker und Atheisten, von Gottfried
20
Ebd., S. 42.
21 Ebd. 22
Ebd., S. 249 f. auch Herders historisch positive Würdigung der Gattung: Johann Gottfried Herder: Ueber die Legende. In: Ders.: Zerstreute Blätter, S. 247–274. Vgl. später dann auch: Theodor Heinsius: Der Redner und Dichter oder Anleitung zur Rede und Dichtkunst. Berlin 1810 (mit eigenem Legendenabschnitt, S. 182–186). Die erneute Legendenproduktion und damit eben auch seine eigene legitimiert Herder damit, dass es auch in den dunklen Jahrhunderten »Geistesgestalten mit Zügen so edler Einfalt« gegeben habe, die »mit sanfter Gewalt dem menschlichen Herzen« zusprechen konnten, und somit »Glaube[], Liebe, Geduld, strengen Gehorsam« gefördert hätten. Kurzum: »Kein Mann von einiger Gelehrsamkeit wird aber auch abläugnen mögen, daß nicht in diesem Staube reine Goldkörner zu finden seyn, und daß die Vorstellungsart dieser Legenden alle Aufmerksamkeit verdiene. Mit der Einrichtung des Christenthums und der Cultur Europa’s hängt sie genau zusammen« (Herder: Vorrede, S. VIII–X). Mit ›Christentum‹ und ›Europa‹ wäre dann wohl der prominenteste Text aufgerufen, der für einen definitiven Neuansatz in konfessionellen Fragen plädiert. Vgl. ferner: Wolfgang Stellmacher: Herders Fabeln, Parabeln, Legenden als Versuche einer »abgerissenen« und »verstummenden« Poesie. In: Herder-Jahrbuch 6 (2002), S. 115–127; Fritz Wagner: Die mittellateinische Legende und Lyrik aus der Sicht J.G. Herders. In: Mittellateinisches Jahrbuch 10 (1975), S. 282–292. 23 Vgl.
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Keller bis zu Kurt Flasch.24 Zu fragen bliebe also: was sind die Faktoren, die eine Erzählform wie die Legende gerade in ihrer kritischen Phase zwischen 1750 und 1800 überleben lassen? Der Katholik Joseph Richter expliziert in seiner Satire einerseits die Kritikpunkte an der verfehlten Legendenproduktion, formuliert damit aber nun implizit gerade auch Bedingungen für ihre mögliche Fortexistenz. Denn – als literarische Gattung ist die Legende ja genau betrachtet eher aufklärungsaffin: Sie transportiert schlichte lehrhafte Bilder und Sentenzen, initiiert exemplarisch und personenzentriert ein vorbildhaftes Verhalten und appelliert zur Nachahmung. Sie ist volkstümlich, anschaulich und effektvoll, durch ihre genuine Oralität zudem leicht memorierbar. Man könnte also geradezu evolutionsbiologisch denken und fragen, ob die Legende nicht nur leicht mutieren und sich anpassen müsse, um dann etwa im Zuge einer allgemeinen ›Säkularisierung‹ zu überleben: bereinigt von den vernunftfernen Aspekten wie Wunder, Dogma, blindem Glauben und Fanatismus, stünde dann neben Fabel, Märchen, Sage oder Novelle ein weiteres nützliches Vehikel für vernünftige Morallehren zur Verfügung.25 Und in der Tat: findige Autoren generieren ein neues, nur leicht bereinigtes Narrativ und reduzieren die Inhalte einfach auf Immanenz und Praktikabilität. So entsteht die Erzählung vom findigen Überwinder lebensweltlicher Tücken, die Legende mutiert in die weltliche Form der Biographie oder gar Autobiographie. Über die Individualisierung bzw. Psychologisierung erhält der Einzelfall seine spezifische und glaubhafte Größe,26 so dass historische Referenzfiguren für die eigene moralische Orientierung im Raum stehen und den Weg zur (immanenten) Glückseligkeit weisen. In verkleinerter Form mutiert die Legende als säkularisierte Miniatur dann zur Anekdote.27 Knapp und heiter, aber auch belehrend: so ist aus der wahren Historie (verbürgt etwa durch exakte Quellenangaben) unterhaltsam zu lernen. Andererseits aber lässt sich dann auch wieder eine besondere Annäherung an die Legende in ihrer Urform beobachten – das Todesereignis, wiederum mit Opfer und Martyrium verbunden, kehrt nämlich zurück: nun jedoch in Gestalt des weltlichen 24
Vgl. auch: Hans Ulrich Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstypologie. In: Christoph Cormeau (Hrsg.): Deutsche Literatur im Mittel alter. Kontakte und Perspektiven. Stuttgart 1979, S. 37–84. 25 Zu vergleichen wäre der Parallelfall der Balladendichtung (Gleim, Löwen, Hölty). Vgl. hierzu: Ulrike Trumpke: Balladendichtung um 1770. Ihre soziale und religiöse Thematik. Stuttgart 1975, hier zur religiösen Ballade (S. 95 ff.) und zur »Pervertierung sakraler Muster« (S. 115 ff.). 26 Annette Wilke: Säkularisierung oder Individualisierung von Religion? Theorien und empirische Befunde. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 21 (2013), S. 29–76. 27 Vgl. Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1997.
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Heldentods in der weltlichen Heldenerzählung. Hier gilt strikt: das Tugendverhalten steht über der bzw. ersetzt jegliche Wunderwirkung. In der wachsenden Fülle entsprechender Texte zwischen 1740 und 1790, die den Heiligen durch den Helden substituieren, unterbleibt natürlich tunlichst auch das Etikett ›Legende‹. Unter dem Titel Wohlgeboren, Wohlgelebet und Wohlgestorben setzt Fabian Wilhelm von Hohndorff 1738 ein rechtes Denck und Ehren-Mahl sterbender Helden,28 während Johann Georg Purmann 1758 den Sieg über den Tod in dem Bewustseyn der Verdienste gegen das Vaterland beschwört.29 Eine Predigt von Johann Ludwig Cassius (1793) über den »Tod des Helden fürs Vaterland«, klassifiziert genau diesen als eine »dem Christen eigne Bürghertugend«,30 womit eine folgenreiche sozio-ethische Kategorie integriert wäre: der ›Märtyrertod‹ ist nämlich jetzt für jedermann freigegeben, nicht mehr elitär den heilsgeschichtlich Berufenen vorbehalten. Damit unterwerfen sich alle diese Texte implizit der exemplarischen Verklärung des »Tode[s] fürs Vaterland«,31 wie sie Thomas Abbt auf der Basis der Horaz-Rezeption 1761 propagiert.32 Ein besonderer Fall für die evangelische Seite läge in der Legendenbildung um den Schwedenkönig Gustav Adolf als den Retter der Protestanten im vorangegangenen Jahrhundert. Dass gerade die Predigt hier Legendenzüge annehmen kann, zeigt etwa das Neue Magazin für Prediger, wo sich unter den Entwürfen zu Predigen auch eine musterhafte Predigt zum Andenken an den Todestag Gustav Adolfs findet, welcher in der Schlacht bey Lützen den Heldentod starb.33 Biographie, Lebenswan28 Fabian
Wilhelm von Hohndorff: Wohlgeboren, Wohlgelebet und Wohlgestorben als ein rechtes Denck- und Ehren-Mahl sterbender Helden […] bey dem seligen Tode des […] Herrn Andreas Joachim von Kleist […]. Königsberg 1738. 29 Johann Georg Purmann: Der Sieg über den Tod in dem Bewustseyn der Verdienste gegen das Vaterland: wurde bey der Grufft des ReichsFrey-HochWohlgebohrnen Herrn Herrn Wilhelm Moritz Ernst von Löwenstein, […] In der Ev. Lutherischen Stadtkirche zu Hanau in einer Trauerrede vorgestellt. Hanau 1758. 30 Johann Ludwig Cassius: Der Tod des Helden fürs Vaterland als eine aus dem Christen eigne Bürghertugend […] Lissa in Südpreußen 1793. Vgl. auch: Friedrich Ludwig Textor: Leben Abentheuer und Heldentod Paul Roderichs des Democraten. Eine Geschichte aus dem gegenwärtigen Kriege/ von seinem aristocratischen Vetter [d. i. Friedrich Ludwig Textor] beschrieben. Frankfurt/Leipzig 1794. 31 Thomas Abbt: Vom Tode fürs Vaterland. Berlin 1761. Vgl. mit weiterführenden Hinweisen zum Patriotismus im 18. Jahrhundert: Johannes Kunisch (Hrsg.): Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg. Frankfurt a. M. 1996; Christoph Prignitz: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850. Wiesbaden 1981. 32 Vgl. ferner etwa: René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a. M. 41994; Michael Rakl: Ist der Tod fürs Vaterland ein Martyrium? Eichstätt 1917. 33 H. ch.: Predigt zum Andenken an den Todestag Gustav Adolfs: Spr. Sal. 10,7. Das pflichtmäßige und lehrreiche Andenken an Gustav Adolf, König von Schweden, welcher in der Schlacht bey Lützen den Heldentod starb. In: Neues Magazin für Prediger 7.2 (1798), S. 136–144, hier: 141.
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del und Tugenden werden in einem detaillierten narrativen Verfahren vorgestellt, das einen vorbildlichen Regenten lebendig abzeichnet, der in einem grausamen Krieg auf einen grausamen Tyrannen stößt – den Kaiser des Deutschen Reichs. Der schwedische König, im Felde so milde mit den Unterlegenen wie tapfer gegen den wütenden Feind, kämpft als »Retter der Rechte und Freyheiten der Protestanten«, ja siegt für sie und ihre Sache, aber gibt letztendlich dafür sein eigenes Leben. Dies aber zeige nichts als »unverkennbare Proben der göttlichen Vorsehung«34, womit die exemplarische Heldenbiographie wieder in den göttlichen Heilsplan eingefügt wäre, so dass der Kampf gegen den kriegslüsternen, ungerechten und fanatischen, also den mit allen Lastern behafteten Gegenregenten eine eschatologische Dimension annimmt. Die Predigt zielt auf den Wunsch: »Möchte doch dieß, von Vernunft und Religion einmüthig verdammte Ungeheuer des falschen Religionseifers von dem Erdboden vertilgt und unter Christen vergebens gesucht werden!!«35 Angesichts wachsender aktueller militärischer Bedrohung sollen im Andenken an den Schwedenkönig nun Mut, Zuversicht und Entschlossenheit erstarken: »Auch hier können Männer aufstehen, die, mit Gustav Adolfs Geiste beseelt, für das Vater land wirken!«36 Der »bedachtsame Rückblick, auf den Gang der Schicksale ganzer Nationen, in den verflossenen Zeiten« sei für jeden »lehrreich und tröstend«37, Nachfolge – imitatio und Beseelung aber signalisieren eindeutig die restituierenden Bezüge zur sakralen Textsorte. Das Selbstopfer für das Wohl einer diesseitigen menschlichen Gemeinschaft – sei es eine konfessionelle oder eine nationale – trägt deutlich säkulare Züge und kann somit problemlos an die Stelle des heilsgeschichtlichen Martyriums treten. Dies sollte sich natürlich in den bevorstehenden antinapoleonischen Kriegen in zahllosen Theodor Körner-, aber auch Königin Luisen-Legenden ausprägen – wobei die Katholiken bspw. mit Andreas Hofer-Legenden natürlich nicht zurückstehen würden. Hier wäre durchaus eine Symbiose der erstarkenden Volksaufklärung mit der durchgängigen Volksfrömmigkeit zu beobachten. Auf die Position der theologischen Jenseitskonzepte rücken dann die politischen Theorien zur Funktion des Einzelnen für das Gemeinwohl, vor allem im Blick auf die Ausprägung einer ›eigenen‹ wie ›allgemeinen‹ Glückseligkeit. Ein ganz anderer Opfertod, der sich nun völlig außerhalb jeder Kriegshandlung ereignet, nimmt jedoch in seiner narrativen Umsetzung ebenso legendarische Züge an: am 27. April 1785 ertrinkt Herzog Maximilian Julius Leopold von Braunschweig bei dem Versuch, im Oder-Hochwasser Menschenleben zu retten. Umgehend er34
Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. 36 Ebd., S. 144. 37 Ebd. 35
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scheint eine ausführliche Darstellung seines Lebens wie seines »Helden=Tod[es]«.38 Im Ergebnis zeigt sich hier die exemplarische Vita eines jungen Generalmajors, der sowohl »Kriegsheld als Menschenfreund«39 gewesen sei, letzteres aber wird mit zahllosen Beispielen untermauert: »Seine einzige Leidenschaft war Menschenliebe.«40 Auf die Gefahren hingewiesen, in die er sich für andere begebe, entgegnete er lediglich: »›Ich vertraue der göttlichen Vorsehung. Ich bin ein Mensch. Ich muß meinen Brüdern helfen.‹ Und wie dieser Prinz lebte, so starb er auch. Er wurde mitten in der Ausübung der höchsten Menschenliebe hinweggerissen.«41 Auch in der extremen Gefahrenlage der Oderflut handelt er ohne Zögern und mit höchstem Risiko – selbst als zwei Soldaten seines Regiments »vor ihm auf die Knie nieder[fielen]« und ihn »mit Tränen« baten, doch »von seinem Vorhaben abzustehen«.42 An dieser Stelle schaltet der Erzähler auf direkte Rede um und lässt nun den Helden (äußerst wirkungsvoll) selbst zu Wort kommen. Nachdem er sich mit dem Degen und gegen den Willen des Eigentümers ein Boot freigemacht hat, rief er, »voll Gefühl über den Jammer der Nothleidenden aus: Was, bin ich mehr als ihr? Ich bin ein Mensch wie ihr, und hier kommt es aufs Menschenleben an.«43 Was dann folgt, ist eine dramatisch gesteigerte Schilderung der Geschehnisse. Zu lesen ist das ergreifende Szenario von einer sich unversehens zuspitzenden Bedrohung durch die Naturgewalt, das erzählerisch schließlich auf die chancenlose Unterlegenheit des edlen Adligen zuläuft. Diesem aber ward dann im Tode noch ein Zeichen der Gnade zuteil, indem er wohl sehr schnell und ohne Leid einem Herzschlag erlag. Somit blieb ihm das qualvolle Ertrinken erspart. Ein konstitutiver Legendtopos folgt: »Der Körper war nicht im Geringsten verunstaltet worden, sondern er zeigt noch jene liebevolle Miene, die er stets im Leben gehabt hatte«.44 Man schneidet ihm das Herz heraus, für das ein Behälter aus Wachs und Silber gefertigt werden soll, und die Anwohner der Stadt bitten darum, dass der Leichnam doch hier »in ihren Mauern«, an der Stätte seines Todes bestattet würde, um »ihm ein Denkmal zu errichten.«45 Man will dann auch ein aktives Gedenken mit einer Aufforderung zur imitatio schaffen, indem der Sterbetag »auch für künftige Zeitalter« zum Feiertag, »zum jährlich wiederkehrenden Fest öffentlicher Wohltätigkeit« erklärt würde: eine »Ermunterung zum Fleis und zur Sittlichkeit.«46 38 [anonym]:
Sr. Durchlaucht des Herzogs von Braunschweig Maximilian Julius Leopold […] Leben und am 27. April 1785 erfolgter Helden=Tod […]. o. O. 1785. [SLUB Dresden] 39 Ebd., S. 2. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 3. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 4. 44 Ebd., S. 6. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 7. Vgl. hierzu: Anton Pumpe: Heldenhafter Opfertod des Herzogs Leopold zu
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Hier zeigen sich bereits unterschwellige Ambitionen, die Legende wieder in ihre alten Rechte zu setzen. Ein starker Akzent liegt auf diesseitiger Vorbildlichkeit, weniger auf der Offenbarung eines göttlichen Willens. Der Mensch muss in der von Gott hinterlassenen Schöpfung aus eigener Kraft zurechtkommen. Allerdings zeigt der besprochene Fall, dass sich die gattungskonstitutive Katastrophe, das Martyrium nicht auf immanente menschliche Hybris wie Unglauben, Tyrannei oder Krieg bezieht. Vielmehr kommt mit der Flutkatastrophe nun die Natur ins Spiel: eine gewaltsame und dämonische Natur, die den guten Absichten der humanen Akteure zuwiderläuft. Ohne hier die Linie vom Erdbeben zu Lissabon und die TheodizeeProblematik verfolgen zu wollen, stellt sich doch die Frage, ob in Gestalt der unberechenbaren Natur nicht auch wieder stärker metaphysische Aspekte bzw. ihre theologische Fundierung stärker hervortreten. Dass im katholischen Bereich eine ungebrochene Sammlung und Pflege der Urform stattfindet, dürfte kaum erstaunen. Tatsächlich aber gibt es gerade auch bei den Protestanten intensive Kollektions- und Editionsbestrebungen. Zu denken wäre an Amalie von Helvig, eine Hofdame in Weimar, die zusammen mit dem Baron de la Motte-Fouqué 1812 und 1817 das Taschenbuch der Sagen und Legenden herausgibt. Ähnliches veranstalten Ludwig Bazcko oder C.F. Solbrig (beide 1817). Als ein eigentümliches Beispiel zeigen sich die Legenden von Rübezahl, die Johann Karl August Musäus 1783 bereits im Rahmen seiner Volksmärchen der Deutschen erzählt. Unter Umgehung der christlichen Fragen und mit der Übertragung des Legendenproblems auf eine heidnische Traditionsfigur betreibt der Verfasser eine geistreiche Wiedereinführung des Wunderbaren, das er rationalistisch als die »Spiele der Phantasie […] zur Unterhaltung des Geistes« legitimiert.47 Stilistisch im ›Märchenton‹ gehalten, aber bisweilen auch ironisch durchwirkt, spielt Musäus etwa auf Zeitgenossen oder den aktuellen Literaturbetrieb an.48 Die 5. Legende macht in dieser Absicht mit einer Voltaire-Anhängerin bekannt, die nicht an den Berggeist glaubt, bis sie dann im Wald überfallen und von ihm gerettet wird. Ein traditionsgemäßes Motiv von Unglauben und Bekehrung, das den heidnischen Berggeist erzählerisch durchaus in die Position eines christlichen Schutzpatrons rückt.49 Es ist aber der protestantische Theologe und Historiker Ludwig Gotthard Kose garten, der großes Aufsehen erregt, als er 1804 zwei Bände mit Legenden veröffentlicht, zumeist eigene Formulierungen überlieferter Vorlagen unterschiedlicher Braunschweig 1785 in der Oder. Wolfenbüttel 2008 (mit Überlegungen zur Legende: S. 174– 180). 47 Vgl. Vorwort. In: Johann Karl August Musäus: Legenden von Rübezahl [1783]. In: Ders.: Volksmärchen der Deutschen. 5 Bde. Bd. 2. München 21976, S. 8. 48 Das Nachwort (Musäus: Legenden, S. 903) betont hier eine »gespielte Selbstaufhebung der aufklärerischen Vernunft«. 49 Tatsächlich galt Rübezahl als ›Schutzheiliger‹ der Wurzelmänner, der Apotheker.
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Provenienz.50 Damit löst er nun u. a. die eingangs zitierten Verdammungen der Gattung als »höchste[n] Triumph verkrüppelter Mönchsphantasie«51 aus. Kosegarten kann es kaum verstehen, dass seine Legendensammlung in Wien sofort als ›abergläubisch‹ verboten wird. Wenn es der erfolgreichen Verkündigung des Evangeliums dient, ist für ihn auch die mediale Adaption altkirchlicher Vorgaben durchaus diskutabel,52 sei es doch der Auftrag der Predigt, verstockte Menschen sehend zu machen.53 Kosegarten wirkte von 1792 bis 1808 auf der Insel Rügen, als Pastor von Altenkirchen. Hier kann er als Pfarrer der ungewöhnlichen Maßnahmen gelten, wenn es um die Verbreitung der Heilswahrheiten geht: weil die Heringsfischer während der Fangsaison nicht in die Kirche kommen konnten, hielt er seit 1792 sogenannte »Uferpredigten« auf den Klippen – eine Freiluftveranstaltung mit großem Zulauf.54 Die Geschichte und Magie des Ortes seiner Tätigkeit begeisterten Kosegarten, u. a. sammelte er auch Quellen der kirchlichen Vorzeit, heidnische Überlieferungen wie rügische und baltische Sagen, die ethnische Zusammenhänge mit Finnland oder Altpolen herstellen. Die Ostseeinsel und ihre geheimnisvolle Natur als Zeichen ungreifbarer vorhistorischer Existenz nährte sein Selbstverständnis als Wissenschaftler und Dichter. Der Weg in die Natur ist für ihn der Weg in die Geschichte und zu Gott, auch der Vermittlungsvorgang über die Predigt vollzieht sich eben nicht allein im menschlich gemauerten Raum. Sein pantheistisches Predigerideal formuliert Kosegarten schließlich in einer eigenen Legende und greift darin sogar auf das Wunder zurück: Unter dem Titel Das Amen der Steine schildert er, wie ein blinder Prediger von seinem spitzbübischen Helfer auf eine einsame Wiese mit Steinen geführt wurde, im Glauben, er habe es hier mit tausenden heilsuchenden Pilgern zu 50 Ludwig
Gotthard Kosegarten: Legenden. Berlin 1804. [= Schink, Johan Friedrich], In: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 92 (1804), S. 18 (vgl. Anm. 1). 52 Kosegarten vertritt eine liberale Position: »Ohne eben alle Dogmen der römischen Kirche zu unterschreiben, hege ich gleichwohl die höchste Ehrerbietung für die wahre Katholizität und könnte wünschen, daß manche ihrer Grundsätze, z. B. Pietät für das Altertum, die religiöse Verehrung der Heroen des Urchristentums, die Würdigung strenger aszetischer Tugenden u. a., auch in unsre Kirche übergegangen wären.« Zit. nach: Albert Leitzmann: Die Quellen zu Gottfried Kellers Legenden. Nebst einem kritischen Text der »Sieben Legenden« und einem Anhang herausgegeben. Halle a. S. 1919, S. 56 f. 53 Die Zensoren argwöhnen, dass »derartige Werke« mit ihren vorgetragenen »Visionen und die außerordentlichsten Wunder« geeignet sein könnten, »sich dem Aberglauben zu ergeben, Träumereien nachzuhängen und in gefährliche Schwärmerei zu verfallen«. Vgl. Leitzmann: Quellen, S. 56 f. 54 So agiert der Prediger als Volksaufklärer. Schon vor 1800 verfasst Benedikt Peuger ein Anekdotenbuch für meine lieben Amtsbrüder (Leipzig 1785) und gibt entsprechende Winke. Vgl. Thomas K. Kuhn: Praktische Religion. Der vernünftige Dorfpfarrer als Volksaufklärer. In: Holger Böning (Hrsg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007, S. 89–108. 51 »Wr.«
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tun. Nach seiner ergreifenden Ansprache ertönt nach dem Vaterunser plötzlich ein tausendfaches Amen. Als der beschämte und erschrockene Knabe dem Alten sein Vergehen beichtet, bekommt er zur Antwort: Sohn, […] hast du denn nicht gelesen? | ›Wenn Menschen schweigen, werden Steine schrei‘n‹. | Nicht spotte künftig, Sohn, mit Gottes Wort; | Lebendig ist es, kräftig, schneidet scharf, | wie kein zweyschneidig Schwert. Und sollte gleich | das Menschenherz sich ihm zu Trotz versteinen, |so wird im Stein ein Menschenherz sich regen.55
Neben der medialen Rückkehr der Legende im mündlichen Vortrag rehabilitiert Kosegarten nun also auch noch das Wunder, mit dem er Wesen und Wirkung der Predigt schlechthin versinnbildlicht. In dieser Weise ließe sich die Entwicklung einer Erzählform in der Zeit ihrer wohl größten Krise skizzieren.56 Die Aufklärung hat die Legende also nicht einfach getilgt, sondern eher einer aktiven Umnutzung unterzogen und neue narrative Formate entwickelt, um der Romantik dann schließlich die volle Rehabilitierung der Gattung zu überlassen.57 Dahinter erhebt sich aber kein geringeres als das ewige Problem, ob die Poesie mit ihren ›falschen‹ Darstellungen, also auch Einbildungen, Phantasien oder eben ›Verstandesverwirrungen‹, doch auch zu ›richtigen‹ Erkenntnissen führen könnte, etwa zu Wahrheiten metaphysischer Art, die ansonsten vielleicht gar nicht zugänglich wären. In der jahrhundertelangen Konkurrenz mit der Theologie (bzw. Philosophie) bleibt es strittig, ob die Dichtkunst nun als Offen barungsmedium taugt oder den Glaubenswahrheiten lediglich assistierend (ancilla), eben als Illustration bzw. Exempel beigeordnet bleibt.58 Das Mittelalter sah diesbezüglich keine Probleme: die Heilswahrheit stand immer höher als jede Faktenlogik. Deshalb galt eine Gattung wie die Legende auch als ein probates Narrativ, das Unerklärliche so zu verbalisieren, dass es zu heilsgeschichtlicher Wahrheit führt. Bodmer und Breitinger verteidigten dann zwar noch das ›Wunderbare‹, was Klopstock noch bestärken sollte. Das Vermögen der Einbildungskraft im Sinne der Aufklärung59 aber blieb weitgehend an menschliche Defizite geknüpft bzw. an deren Überwin55
Kosegarten: Legenden, S. 134 f. Marina Münkler: Sündhaftigkeit als Generator von Individualität. Zu den Transformationen legendarischen Erzählens in den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Peter Strohschneider (Hrsg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York 2009, S. 25–61. 57 1810 verfasst Heinrich von Kleist Die Heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (Eine Legende). 58 Vgl. zu dieser Frage seit den Florentiner Streitigkeiten im 15. Jahrhundert: Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin/New York 2009, hier: S. 11–32; zum 17. Jahrhundert: Andreas Keller: Art. Barock. In: Daniel Weidner (Hrsg.): Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart 2016, S. 139–146. 59 Vgl. Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, 56 Vgl.
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dung durch die Hinführung zur Vernunft:60 da »der größte Haufen der Menschen zu den abgezogenen Untersuchungen des reinen Verstandes nicht aufgelegt« ist, so Breitinger 1740 in seiner Critischen Dichtkunst, müssen »Tugend und Wahrheit« eben auch auf sinnlichem Wege vermittelt werden.61 Nach Baumgarten und Meier und ihrer Aufwertung der Ästhetik als philosophischer Disziplin bzw. als Vermögen der ›sinnlichen Erkenntnis‹ versucht dann Herder mit dem sprechenden Begriff der ›Andacht‹ eine Trennung der Bereiche ›Philosophie‹ (Vernunft) und ›Poesie‹ (Einbildungskraft) wieder mit theologischen Angeboten zu überbrücken. Der radikale antiklerikale Rationalismus aber geriet an diesem Punkt deutlich in einen Konflikt, den er wohl auf dem eher abseitigen Feld der Gattungsdiskussion zu lösen gedachte. Ganz offenbar gibt es Schwierigkeiten mit den Wahrheiten, die den Horizont der Vernunft überschreiten und für die eine verpönte Gattung wie die Legende dann doch sukzessive wieder einzuführen war.
Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, hier bes. S. 256–316 bzw. »Aberglauben bei Laien und Gelehrten« (ebd., S. 156–176). 60 Nicht zuletzt beschäftigte dies auch den pragmatischen Monarchen in der Aufklärung: der Preußische König stellt im Jahre 1780 öffentlich die neuralgische Frage, ob es ›dem Volke‹ vielleicht nütze, ›betrogen‹ zu werden? Vgl. Hans Adler: Volksaufklärung als Herausforderung der Aufklärung oder: nützt es dem Volke, betrogen zu werden? In: Böning (Hrsg.): Volksaufklärung, S. 51–72. 61 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst Worinnen die poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung Im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aud sen berühmtesten Alten und Neueren erläutert wird. Zürich 1740, S. 6 f.
Ute Poetzsch
Über Erzählungen in der Kirchenmusik Telemanns Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage, in welcher Weise grund legende Glaubenserzählungen lebendig gehalten wurden. Diesem Versuch einer Annäherung an ein komplexes und mehrschichtiges Thema liegt der Gedanke zugrunde, dass in jeder Zeit und damit auch im 18. Jahrhundert, das hier als ›Zeitalter der Aufklärung‹ verstanden sein soll, nicht nur neue Narrative entstehen, sondern alte Erzählungen weiterleben und zum mentalen Bestand gehören. Dabei dürfte sich der Umgang mit kanonisierten Erzählungen und Texten, ihre Aufbereitung, ihre schöpferische Verlebendigung und Aneignung, angeschlossen an allgemeine künstlerische und kulturelle Entwicklungen, gegenüber früheren Zeiten verändert haben. Dies trifft auch auf die Erzählungen zu, auf denen die christliche Religion (in ihren unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen) beruht. Bei aller Konstanz und Stabilität der Tradition und theologischer Vorgaben können durch die Anpassung an zeitgemäße Formen der Vermittlung neue Ebenen entstehen. An Beispielen aus Telemanns kirchenmusikalischem Werk kann stichprobenartig gezeigt werden, wie solche Ergänzung sich vollzieht, wobei der Seitenblick auf die Predigt hilfreich erscheint.1 Zur lutherischen Kultur gehört immanent die aufbereitende und auslegende Vergegenwärtigung der klassischen biblischen Erzählungen.2 In der öffentlichen wie der nichtöffentlichen religiösen Praxis waren sie die Basis für eine vielfältige Beschäftigung. Im öffentlichen Gottesdienst hat die Vergegenwärtigung der in den Erzählungen niedergelegten Glaubenswahrheiten ihren Höhepunkt. Doch wurde diese Predigt zunehmend flankiert von ebenfalls auf die Lesung bezogener vokalinstrumentaler Figuralmusik, die ihren Höhepunkt in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts mit der Kirchenkantate fand. Diese Musik schöpft inhaltlich aus den kanonischen biblischen Texten, andererseits verarbeitet sie zum Zweck der Vertonung ganz gezielt poetisch zusammengestellte und auf die Bewegung der Affekte gerichtete Vorlagen, in die prominent auch Bibelsprüche und Choralstrophen einbezogen sind.
1
Zur Widerspiegelung lutherischer Auslegungstraditionen in Kirchenmusiktexten exemplarisch Martin Petzoldt: Bach-Kommentar. 2 Bde. Kassel 2004–2007. 2 Christian Albrecht u. Martin Weeber: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Klassiker der protes tantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange. Tübingen 2002, S. 1–8, hier: 2.
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Georg Philipp Telemann (1681–1767), einer der prägendsten Komponisten in der Epoche der Aufklärung, entstammte einer Familie, in der es seit Generationen lutherische Geistliche gab.3 Dass Telemann selbst in Harmonie mit der lutherischen Tradition lebte, bezeugen nicht nur sein immenses kirchenmusikalisches Werk, sondern auch Äußerungen wie die auf das Eisenacher Herzogshaus bezogene über die »ungeheuchelte« Gottesfurcht, die er hier beobachtete und in ihm den Wunsch hervorrief, »auch hierinne stärcker zu werden«.4 Zudem gehörte er einer Generation an, die Religion und ihre Institutionen im allgemeinen wenig hinterfragte. Andererseits ist Kirchenmusik nur innerhalb der Institution möglich, und Telemann verstand sich als Kirchenkomponist. Für ihn war die Kirchenmusik der »alleredelste Teil der Klinge Kunst«,5 weshalb ein Komponist diesem Gebiet seine ganze Sorgfalt angedeihen lassen müsse. Kirchenmusik wurde nicht nur funktional gesehen, sondern auch als Kunst, die ihren eigenen Gesetzen folgt, wie eine Debatte zu Beginn des 18. Jahrhunderts über den Vorrang von Naturell oder Kunst zeigt. Telemann plädierte für Ausgewogenheit zwischen Naturell und Kunst.6 Er zeigt sich hier als Frühaufklärer, der eigenständig und selbstbewusst selbständige Lösungen findet,7 bei einer Musik, die funktional stark determiniert scheint und es noch die Anschauung gab, dass gerade die polyphone, streng gearbeitete Musik in die Kirche gehöre. Nur auf den ersten Blick mutet dabei der Verweis auf die Oper, die modernste und komplexeste poetisch-musikalische Gattung der Zeit, gegensätzlich an. Doch sahen die Lutheraner im frühen 18. Jahrhundert die in der Oper entwickelten Verfahren durchaus als geeignet an, das Gotteslob auszudrücken.8 Die lutherische Auffassung, zumindest wie sie im 18. Jahrhundert ausgeformt war, hatte die Mitteldinge (Adiaphora) etabliert. Diese Mitteldinge, wozu Ausstattung und Kleidung, in hohem Maße aber auch Musik gehören, sind an sich indifferent und damit weder gut noch böse, wie sie auch nicht ge- oder verboten sind. Die Mitteldinge werden erst durch 3 Vgl.
dazu Wolf Hobohm (Hrsg.): … aus diesem Ursprunge … Dokumente, Materialien, Kommentare zur Familiengeschichte Georg Philipp Telemanns. Magdeburg 1988. 4 Georg Philipp Telemann: Autobiographie 1718. In: Ders.: Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen. Eine Dokumentensammlung. Leipzig 1981, S. 89–106, hier: 99. 5 Georg Philipp Telemann: Unmaßgebliches Gutachten über folgenden Fragen. In: Ders.: Singen ist das Fundament, S. 109–112, hier: 110. 6 Vgl. Ute Poetzsch: Das Erwecken von »allerhand Regungen« in Telemanns Kirchenmusik und die Fuge. In: Rainer Bayreuther (Hrsg.): Musikalische Norm um 1700. Berlin/New York 2010, S. 167–181. 7 Zur Charakterisierung (früh)aufklärerischen Handeln vgl. Wolfgang Hirschmann: »Die Wahrheit als Wahrheit muß mir lieb seyn«. Zur Biographie und Persönlichkeit Heinrich Bokemeyers. In: Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Jahrbuch 2000, S. 109–129. 8 Vgl. Ute Poetzsch-Seban: Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister. Zur Geschichte der protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Beeskow 2006, S. 54–63.
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ihren Inhalt festgelegt und damit auch religiös und in der Kirche einsetzbar, wenn nicht sogar notwendig.9 Die Stabilität der gemeinsamen Basis lässt es zu, Kirchenmusik und Predigt in Beziehung zu setzen und die Kirchenmusik weitergehend sogar als Ergänzung oder Hinführung zur Predigt anzusehen. In der Predigt wurden die in den Evangelien postulierten Glaubenswahrheiten erörtert und erklärt und teilweise sehr opulent aufbereitet. Seit dem 17. Jahrhundert wurde verstärkt auch für eine affektive Ansprache des Hörers plädiert,10 was in der Kirchenmusik dann weiter fokussiert werden konnte. Wobei, ist ein freudiger Affekt nicht durchgehend vorhanden wie etwa Weihnachten oder Ostern, anhand der Vorgaben der zu Grunde liegenden Erzählung negative Affekte (Furcht, Trauer) in positive (Zuversicht, Vertrauen) gewandelt werden. Die Texte für seine Kirchenmusiken bestellte Telemann wenn möglich bei dichtenden Theologen; der prominenteste und nach einer Aussage von 1714 auch der »beste Dichter in geistlichen Sachen« ist dabei Erdmann Neumeister,11 mit dem Telemann nach heutigem Wissen fünf Jahrgänge gestaltet hat.12 Offensichtlich war Telemann an einem gewissen Standard der Auslegung und der predigthaften Züge der Kirchenmusiktexte gelegen.13 Neben dieser inhaltlichen Qualität haben Musiktexte von einer gewissen Knappheit zu sein, um dem Komponisten Raum für seine Umsetzung zu lassen, damit er die Gemüter musikalisch z. B. aus der Zerknirschung zur Einsicht und weiter zu Zuversicht führen kann. Insofern wird es in einem Kirchenmusiktext nicht möglich sein, die biblische Erzählung nachzubilden. Ziel war es, auf der Grundlage der biblischen Erzählungen, die als Evangelienlesungen feststanden und auf die sich die Musik des Hauptgottesdienstes bezog, Hörer und Leser zeitgemäß und herzlich bewegend anzusprechen, ihre Andacht zu lenken 9
Vgl. Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005, S. 185 f. 10 Vgl. dazu: Albrecht Beutel: Aphoristische Homiletik. Johann Benedikt Carpzovs Hodegedicum (1652), ein Klassiker der orthodoxen Predigtlehre. In: Albrecht u. Weeber (Hrsg.): Klassiker der protestantischen Predigtlehre, S. 26–47. 11 Brief Telemanns vom 24. Dezember 1714 an Hofrat Witsch in Eisenach. In: Hans Grosse u. Hans Rudolf Jung (Hrsg.): Georg Philipp Telemann. Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann. Leipzig 1977, S. 175. 12 Vgl. Poetzsch-Seban: Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister. 13 Dafür spricht, dass Telemann bevorzugt Textvorlagen von Pfarrern oder theologisch gebildeten Dichtern (Tobias Heinrich Schubert, Joachim Johann Daniel Zimmermann, Albrecht Jacob Zell, Karl Wilhelm Ramler, Christian Wilhelm Alers) vertont hat. Vgl. dazu: Harald Schultze: Telemann und seine kirchliche Umwelt in Hamburg. In: Zentrum für Telemann-Pflege u. -Forschung Magdeburg in Verbindung mit d. Arbeitskreis »Georg Philipp Telemann Magdeburg« (Hrsg.): Die Bedeutung Georg Philipp Telemanns für die Entwicklung der europäischen Musikkultur im 18. Jahrhundert. 3 Bde. Bd. 3. Magdeburg 1981, S. 46–60, hier: 60 (Anm. 29).
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und zu verstärken oder auch betrachtende Reflexionen hervorzurufen. Die jeweilige Perikope wurde nicht nur hinsichtlich der in ihr enthaltenen Glaubenswahrheiten, sondern auch hinsichtlich ihres affektiven Potentials gelesen. Die neutestamentlichen Erzählungen zeigen Jesus in seiner Biographie, seinen Fähigkeiten, seinen Taten. Erzählt wird von seinen Begegnungen mit Menschen in verschiedenen Lebenszusammenhängen und aus unterschiedlichen Milieus, von Wundern, wozu auch wunderbare Heilungen gehören. Es gibt Gleichnisse (Parabeln) und Paradoxien. Wiedergegeben werden Gespräche, die Jesus über Glaubensdinge führt und Dialoge, in denen er befragt wird. Alle Geschichten zeugen von der Einzigartigkeit und Göttlichkeit dieses Menschen. Erzählt wird aber auch von denen, die diese Göttlichkeit vorhergesehen haben wie Johannes der Täufer, dessen Geschichte ebenfalls eine Rolle spielt. Liest man die Auszüge aus den Evangelien hintereinander, entsteht, wenn auch mit Leerstellen und in groben Zügen, die Erzählung zu Jesu Leben und Taten. Dabei gibt es Rückbezüge und Anklänge an bereits Erfahrenes, insbesondere bei den vielen Wunder- und Heilungsgeschichten. Auf diese Bezüge konnte in Predigten explizit hingewiesen werden, mitunter wurde auf bereits gehaltene Predigten verwiesen,14 was die Zusammengehörigkeit der Einzelerzählungen nur unterstreicht. Ausgehend von der Perikopenreihe, in der sich die übergreifende Erzählung entfaltet, spielen Jahrgänge in der lutherischen Tradition eine große Rolle. Jahr für Jahr hatten die Pfarrer die Texte wieder auszulegen. Schon im 17. Jahrhundert hatten sich deshalb unterschiedliche homiletische Methoden herausgebildet, mehr noch, »Freiheit und Variationsvielfalt« war geradezu gefordert.15 Vergleichbar mit solchen Methoden sind die musikalischen Konzeptionen, nach denen Telemann seine Jahrgänge gestaltete.16 Das Kirchenjahr beginnt am 1. Advent und endet, je nach Ostertermin mit dem 27. Sonntag nach Trinitatis. In den Rhythmus von Advent über die Weihnachtszeit hin zu Passion, Ostern, Auferstehung und der Trinitatiszeit sind kleinere Feste wie die Marientage und das Johannes- und das Michaelisfest eingebettet; in verschiedenen Gegenden wurden auch Aposteltage begangen.17 Durch die liturgische Reihung der Erzählungen und Rückbezüge innerhalb der Reihe bekommt das Kirchenjahr 14 Zum
Beispiel verweist Neumeister am Beginn einer Predigt zum Trinitatisfest auf die Auslegungen zum 2. Pfingsttag desselben Jahres. Vgl. Erdmann Neumeister: Geistliche Bibliothec, Bestehend aus Predigten Auf alle Sonn- und Fest-Tage des Jahrs, Nach Anleitung allerhand Geistlicher Bücher gehalten, und mit Neuen Liedern beschlossen. Hamburg 1719, S. 783. 15 Vgl. Beutel: Aphoristische Homiletik, S. 32. 16 Vgl. dazu Poetzsch-Seban: Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister, S. 155–228. 17 Marc-Roderich Pfau: Kirchenmusiken für die Aposteltage von Johann Friedrich Fasch und seinen Zeitgenossen. In: Internationale Fasch-Gesellschaft (Hrsg.): Fasch – Vater und Sohn. Beeskow 2011, S. 61–84.
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eine Struktur. So haben der 1. Advent und der Sonntag Palmarum, der letzte Sonntag der Passions- oder Fastenzeit, denselben Text (Mt 21,1–9), wobei der Fokus am 1. Advent eher auf der Freude über die Ankunft des Erlösers liegt und darauf, ihn würdig zu empfangen, womit auf das bevorstehende Weihnachts- als das Geburtsfest angespielt wird. An Palmarum ist der Einzug in Jerusalem der letzte Schritt in Richtung der Passion, denn dieser Einzug erregt Ärgernis. Am Sonntag vor der Passionszeit, Estomihi, sechs Wochen vor Palmarum, erzählt das Evangelium (Lk 18,31–43) von Passion und Auferstehung, die Jesus vorhersagt. Der zweite Teil berichtet von einem blinden Bettler, der durch Jesus sehend wird. Am 3. und 4. Advent (Mt 11,2–10 bzw. Joh 1,19–28) wird über das Verhältnis Johannes des Täufers und Jesus erzählt, was veranlasst, in Predigt und Kirchenmusik über die Taufe zu reflektieren. Über die Geburt Johannes des Täufers wird am Johannestag (Lk 1,57–80) berichtet: Johannes Vater Zacharias wird durch das Ereignis dieser Geburt die Zunge gelöst und er stimmt seinen Lobgesang »Gelobet sei der Herr, der Gott Israel« an, weshalb es viele Kirchenmusiken zum Johannestag mit diesem Dictum gibt. Am Sonntag Reminiscere (Mt 15,21–28) wird die Geschichte einer Frau aus Kana, einer Nichtisraelitin, erzählt, die Jesus bittet, ihre vom Teufel geplagte Tochter zu erlösen. Zuerst reagiert Jesus nicht, doch da sie nicht ablässt zu bitten und auch nach provozierenden Äußerungen seinerseits standhaft bleibt, erkennt Jesus ihren Glauben und die Tochter wird gesund. Das Evangelium zum Trinitatisfest (Joh 3,1–15) hat Glaubensinhalte zum Thema, über die der Pharisäer Nicodemus Jesus befragt. In einer seiner Predigten erklärt Neumeister diese »Glaubens-Articul«, tut dies aber auch in seinen Kirchenmusiktexten. Am 10. Sonntag nach Trinitatis (Lk 19,41–48) beweint Jesus die Verwahrlosung in Jerusalem, wobei direkt auf die alttestamentliche Voraussage der Zerstörung Jerusalems angespielt wird (Jes 56,7). Auf diese Erzählung kann u. a. verwiesen werden und Jesus als fühlender Mensch gezeigt, wenn die Frage aufgeworfen wird, inwieweit ein Einzelner seine Gefühle zeigen darf. Kirchenmusiken zu diesem Sonntag haben, wenn nicht die Mahnung herausgestellt wird, einen eher traurigen oder nachdenklichen Gestus. Eine Auferweckungsgeschichte erzählt das Evangelium des 16. Sonntags nach Trinitatis (Lk 7,11–14): Jesus kommt nach Nain und begegnet einem Trauerzug, doch nimmt er der versammelten Gesellschaft die Ursache der Trauer, indem er dem toten jungen Mann sein »Stehe auf« zuruft. Es hatte sich eingebürgert, an diesem Sonntag die Endlichkeit des weltlichen Seins und die gläubige Hoffnung auf das jenseitige Leben zu reflektieren.18 Auch an anderen Sonntagen der Trinitatiszeit ist die Rede von Heilungen und Wiederbelebungen. 18 Vgl.
auch Ute Poetzsch: Trauer in der Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann. In: Adolf Nowak (Hrsg.): Trauermusik von Telemann. Ästhetische, religiöse, gesellschaftliche Aspekte. Beeskow 2015, S. 45–63.
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Im 18. Jahrhundert war Erdmann Neumeister einer der begnadeten Kanzelredner, der für jedes Jahr eine neue Art und Weise fand, den Bibeltext durchzuführen. So veröffentlichte er z. B. 1721 unter dem Titel Geistliches Abel Fragepredigten nach dem Vorbild Johann Benedikt Carpzovs d. J.19 Neumeister legt hier sich aus dem Bibeltext herleitende Fragen einzelnen Personen in den Mund: Nicodemus, dem Frager des Evangeliums zum Trinitatisfest, eine Katechismusfrage. Stephanus stellt eine »Streitfrage«, damit solche »Puncte unserer Lehre, darinnen wir Widersacher haben«, behandelt werden können, Petrus wird als »Gewissensfrage« die Frage, was sündig sei, zugeordnet und als Zugabe wirft Esra noch eine »curiöse Frage« auf, die nicht direkt etwas mit dem Glauben und der Glaubenslehre zu tun hat und oft auf die Lebenswelt zielt.20 In einer früheren Predigtreihe hatte Neumeister geistliche Bücher vorgestellt und diese Predigtreihe unter dem Titel Geistliche Bibliothec veröffentlicht.21 Für Telemann ist diese Publikation von besonderer Bedeutung, weil er daraus Formulierungen für eigene Kirchenmusiktexte gewann. Durch die methodisch unterschiedliche Behandlung der Texte konnte der Fokus auf verschiedene Aspekte der Erzählung gelegt werden, so dass von Jahr zu Jahr Unterschiede bei der Ausarbeitung der daraus abgeleiteten Anwendungen entstanden. Es ist vorstellbar, dass dies und eine sich daraus ergebende ästhetische Komponente, die Telemann seinerseits zusätzlich mit der Kirchenmusik einbrachte, für die gebildete Hörerschaft, die Neumeister und seine Kollegen in Hamburg vor sich hatten, einen eigenen Reiz darstellten. Denn die Besucher des Hauptgottesdienstes – zumal in Hamburg und anderen großen Städten – waren Angehörige der gebildeten Schichten, in deren Häusern vielleicht Privatandachten stattfanden, für die Tele mann z. B. seine gedruckten Jahrgänge von geistlicher Kammermusik bereitstellte. Im 18. Jahrhundert war es darüber hinaus nicht mehr üblich, das Evangelium, das der Prediger noch einmal verlas, wörtlich zu vertonen wie es im 17. Jahrhundert mit den Evangelienmotetten oftmals der Fall war, die Erzählung also in Musik gekleidet direkt vergegenwärtigt wurde. In der neueren Figuralmusik wurde durch die poetische Bearbeitung vermittelt, über die bekannte Erzählung legt sich damit eine Reflexion über oder auch ein Weiterspinnen von in der Erzählung vorgestellten Gedanken. Neben der musikalischen Herausarbeitung von im Text angesprochenen Affekten kommt bei Telemann die besondere Fähigkeit hinzu, auf der Grundlage eines eindeutig formulierten Textes, auch verbalisiertes Abstraktes wie Glaubensgrund19 Erdmann
Neumeister: Geistliches Abel: in welchem I. Nicodemus, eine CatechismusFrage; II. Stephanus, eine Streit-Frage; III. Petrus, eine gewissens-Frage; IV. Esra, eine curiöse Frage, bey allen Sonn- und Fest-Tags-Evangelien wie auch in sieben Paßions-Predigten, […] vorgetragen. […]. Hamburg 21734. 20 Ebd., S. 4 f. 21 Vgl. Anm. 14.
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sätze in Musik umzusetzen. In der Predigt geht es im Kern darum, den Bezug zum aktuellen Leben, der einzelnen Person wie auch der Gesellschaft, in deren Zusammenhänge diese Person eingebunden ist, herzustellen, die Wohltat des Glaubens und seine Heilswirkung herauszustellen, um diesen in der einzelnen Person zu befestigen.22 Im Musiktext fallen Beweisführungen naturgemäß knapp aus. Je nach Anlass überwiegt allerdings die Argumentation als Ansprache an den (glaubenden) Verstand oder die Darstellung und Ansprache von Affekten, die von negativen zu positiven gewendet werden. Gezeigt wird in jedem Fall der Ausweg aus Kümmernissen und Notlagen, der dem Individuum durch den Glauben gewiesen wird. Dies geschieht wiederum durch die Mitteilung von Glaubenserfahrungen eines sprechenden Ichs. Die folgenden Beispiele können illustrieren, wie durch Reduktion auf in der biblischen Geschichte Angelegtes als wesentlich Angesehenes der individuelle Bezug zum Hörer hergestellt werden kann. Ein eindrucksvolles Beispiel für die musikalische Darstellung von auf der Basis der Evangeliumserzählung deutlich formulierten Glaubensinhalten ist das Stück zum 18. Sonntag nach Trinitatis von 1720 Das ist das ewige Leben (TVWV 1:177) aus dem Concerten-Jahrgang. Der Predigttext für den 18. Sonntag nach Trinitatis (Mt 22,34–46) gibt ein Gespräch Jesus’ mit den Pharisäern wieder. Man diskutiert über die Gleichwertigkeit der Gebote, Gott und auch den Nächsten zu lieben. Jesus fragt außerdem, wie Christus als Davids Sohn, von diesem als Herr bezeichnet, denn Sohn sein könne. Diese grundlegende Frage über die natürliche und göttliche Natur des Gottessohns erörtert Neumeister in seiner Predigt der Geistlichen Bibliothec in der Antwort auf die Nicodemus in den Mund gelegte Katechismusfrage.23 Aus diesem Abschnitt, in dem die Zweinaturenlehre erklärt wird, zieht Telemann den Text für seine Kirchenmusik. Zweiheit wird für den Kirchenmusiktext und seine Vertonung konstitutiv: Es gibt zwei Rezitative und zwei Arien, die beide Duette sind. Instrumentiert ist das Stück mit zwei konzertierenden Oboen und in der zweiten Arie webt Telemann den Satz polyphon aus zwei Themen, einem cantus firmus-artigen, das für die göttliche und einem beweglichen, das für die menschliche Natur klingt.24 Durch Anlage und Formung seiner Musik fügt der Komponist dem, was im Evangelium mitgeteilt, in der Predigt erklärt und im Musiktext 22 Vgl.
Albrecht Beutel: Lehre und Leben in der Predigt der lutherischen Orthodoxie. Dargestellt am Beispiel des Tübinger Kontroverstheologen und Universitätskanzlers Tobias Wagner (1598–1680). In: Ders. (Hrsg.): Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte. Tübingen 1998, S. 161–191, bes. S. 163 ff. 23 Neumeister: Geistliche Bibliothec, S. 1179–1182. 24 Vgl. hierzu Ute Poetzsch-Seban: Telemann als Prediger. Zum Verhältnis von Kirchen musik und Predigt. In: Carsten Lange u. Brit Reipsch (Hrsg.): Telemann und die Kirchenmusik. Hildesheim 2011, S. 44–60. Nicht immer lassen sich die Auslegungen eines Kirchenmusiktextes so direkt und mühelos auf eine Predigt beziehen wie im genannten Beispiel.
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poetisch auf den Punkt gebracht wird, eine weitere, nonverbale, aber durch seine Struktur entschlüsselbare Ebene hinzu. Ähnlich ging Telemann in seinem Trinitatisstück Drei sind, die da zeugen im Himmel (TVWV 1:377) aus dem ersten mit Neumeister zusammen gestalteten Jahrgang Geistliches Singen und Spielen von 1711 vor. Hier liegt es nahe, auch in der Musik auf die Trinität hinzuweisen. So gibt es in der Vertonung des einleitenden Dictums (1 Joh 5,7) im vierstimmigen Vokalsatz immer wieder neue Gruppierungen von drei Stimmen, gegen die die vierte gesetzt ist, wodurch die ›drei‹, denen je ein eigenes Motiv zugeordnet ist, als zusammengehörig markiert werden. Die vier Stimmen gehen in einen Einheitsverlauf, wenn der Text »sind eins« vorgibt. Zudem hat das Stück drei Rezitative, in denen der Glaubensinhalt an den drei einigen Gott, der vernünftig nicht zu fassen ist, deutlich gemacht wird. Denn der im Evangelium (Joh 3,1–15) mitgeteilte Dialog zwischen Nicodemus und Jesus hat schwierige Inhalte, es geht um Wiedergeburt, das Verhältnis von Geist und Fleisch und das Bezeugen eines Geschehens wie z. B. der Auferstehung. Im ersten Rezitativ, bedeutungsvoll als Accompagnato komponiert, wird bündig die Trinitätslehre dargelegt, und mit »da darf kein Nicodemus fragen« gibt es eine direkte Anspielung auf das Evangelium. In einer nachdenklichen Arie wird durch eine gleichmäßige instrumentale Bewegung in Sechzehntelfiguren und eine dunkle Tönung der »irdische Lauf« des menschlichen Lebens gemalt, nach dessen Ende sich die gläubige Seele sehnt. Im zum letzten Satz überleitenden Rezitativ wird nun vorgeschlagen, die irdische Zeit zu nutzen, um »Gott Vater, Sohn und Geist« zu loben, woran sich sinnvoll das Te Deum mit abschließender Halleluja-Fuge anschließt. Konnte Neumeister in seiner Predigt den Komplex der Dreieinigkeit ausführlich besprechen, auf die schwierigen Glaubensbegriffe eingehen und sie erklären, ist sein Musiktext kurz gefasst und präsentiert die Ergebnisse einer Reflexion über die Erzählung, wobei er von der allgemeinen Aussage ausgeht, sich aber an den Einzelnen wendet. Die Musik verstärkt die verbalen Aussagen und die Ansprache an das Individuum, das sich ja noch im »irdischen Lauf« befindet und sich zu Glaubensdingen zu verhalten hat. Mit der poetischen Auslegung im Text und noch viel stärker durch die Musik, die ein ganzes Spektrum an Gefühlen entfaltet und Reflexionen hervorruft, werden im Hörer andächtige Momente erzeugt. Nach dem Bekenntnis zur Anbetung des dreieinigen Gottes und dem topischen Appell, die Vernunft in Glaubensdingen beiseite zu lassen, zeigt die Musik dem in der Welt Befangenen den Weg aus seiner Lage, was durch den prächtigen und vor allem auch klanglich hellen Schluss symbolisiert wird. Von besonderer affektiver Eindringlichkeit ist das Stück zu Reminiscere Ich hatte viel Bekümmernisse (TVWV 1:843) von 1717.25 Im Evangelium (Mt 15,21–28) wird die Geschichte einer Nichtisraelitin erzählt, die an die Heilung ihrer vom Teufel 25 Vgl.
dazu auch Ute Poetzsch: Wann wurde »Ich hatte viel Bekümmernis« BWV 21 erst-
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geplagten Tochter durch Jesus glaubt. In seiner in der Geistlichen Bibliothec veröffentlichten Predigt lässt Neumeister die Hörer – und Leser – an der Betrübnis wie auch an der Tröstung der glaubensstarken Mutter Anteil nehmen.26 Davon ausgehend weist er darauf hin, dass niemand vor Anfechtungen und Leid, Krankheiten, Kummer und Trauer gefeit sei. Doch im Glauben wird man Trost und zur »Seligkeit« finden; vorbildlich dafür sei die Frau aus Kana. Für seinen Musiktext für Tele mann wählte Neumeister als Eingangs-Dictum »Ich hatte viel Bekümmernisse in meinem Herzen, aber deine Tröstungen ergötzten meine Seele« (Ps 94,19) – sowohl die Seele als auch das Herz werden und sollen Trost finden; »Herz« und »Seele« sind damit wichtige Schlüsselbegriffe für die folgenden Sätze. Telemann exponiert im Dictum den Gegensatz, indem er eine getragene, kleinschrittige Melodie mit langsamer Deklamation für die »Bekümmernisse« gegen eine frisch wirkende Bewegung für die freudige Erregung der »Tröstung« setzt. Im Rezitativ wird über den Zusammenhang von Sünde und Bekümmernis reflektiert, die daraus resultierende Trostlosigkeit wird in der Arie kleinschrittig-chromatisch und mit einer düster wirkenden Streicherbegleitung deutlich gemacht. Das nächste Rezitativ erinnert daran, dass Jesus der ängstlichen Seele Ruhe gibt, und leitet zu einer Arie über, die schon wesentlich heller und hoffnungsfroher klingt. Dass durch den Glauben Seligkeit erlangt wird, wird im dritten Rezitativ bekräftigt, und in der dritten Arie kann zuversichtlich besungen werden, dass Jesus der gläubigen Seele den gewünschten »Himmel« aufschließt. Beschlossen wird die Kantate in einer zusammenfassenden Liedstrophe: Wer glaubt, »wird nicht kommen ins Gericht«. Die Strophe hat Neumeister aus Zeilen mehrerer Strophen des alten Liedes Herr Jesu Christ, wahr Mensch und Gott zusammengestellt, Telemann kombiniert drei Varianten der dazugehörigen Melodie. Die musikalische Konzeption des Stückes folgt der im Text angelegten Entwicklung: Nach der Darstellung des unlösbar erscheinenden Gegensatzes am Beginn wird von Hoffnungslosigkeit gesprochen, die durch den Glauben überwunden wird. Bekümmernis und Angst als dunkle Gefühle werden von Hoffnung und Zuversicht zurückgedrängt. Eine gläubige Seele erzählt hier über ihren Zustand und tritt in Zwiesprache mit ihrem Gott, wodurch sie Trost findet. Dieser Text scheint exemplarisch für die Herangehensweise bei der Aufbereitung der Glaubenserzählungen zu sein – ausgehend von einer bekannten biblischen Geschichte werden darin enthaltene Gefühlslagen und Affekte herausgefiltert, in der Predigt an die individuelle Erfahrung gebunden, im Kirchenmusiktext poetisch formuliert und musikalisch das Gemüt ansprechend umgesetzt. aufgeführt? In: Brit Reipsch u. Wolf Hobohm (Hrsg.): Telemann und Bach – Bach und Telemann. Hildesheim 2005, S. 86–93. 26 Neumeister: Geistliche Bibliothec, S. 404–421.
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In allen drei Beispielen wird die Allgemeingültigkeit der in der Ursprungserzählung vermittelten Glaubensgesetze in Hinblick auf das gläubige Individuum angewendet; es wird angeregt, die in Text und Musik aufbereitete Geschichte selbst weiter zu reflektieren. Um dies zu erreichen, ist Telemanns Musik, seine kunstvoll vermittelnde Umsetzung der Texte, ihrerseits mitteilsam; sie nimmt den Hörer mit und führt ihn durch verschiedene Gemütszustände, wie es auch eine Geschichte oder Erzählung tut, die auf eine Pointe oder Sentenz ausgerichtet ist. Im Falle der auslegenden Kirchenmusik wird immer die Wendung zur auf dem Glauben beruhenden Zuversicht und Freude dargestellt. Auf der Grundlage der bekannten und anerkannten, Glauben stiftenden Erzählung entsteht in der Predigt mit der lebenspraktischen Anwendung und Vergegenwärtigung die auslegende Erzählung. Die Kirchenmusik verstärkt die affektiven Aspekte. Kombiniert werden dabei verstandesmäßige Erfassbarkeit der durch den Text mitgeteilten Inhalte und Affizierung durch die Musik. Die Verkündigung der Glaubenswahrheiten geht einher mit der Ansprache des Hörers als aktives und selbständiges, denkendes und fühlendes Individuum, das mit dem von seinen Glaubenserfahrungen sprechenden »Ich« in Dialog treten kann. In dieser Weise handelt es sich bei der Aufbereitung der klassischen Glaubenserzählungen tatsächlich um eine Aktualisierung und Projizierung in die Gegenwart, womit diese Erzählungen zu Erzählungen in der Aufklärung werden.
Laura M. Stevens
The New Pilgrim’s Progress, The Female American und die Entstehung narrativer Formen gegen die Erweckungsbewegung I. In der Britisch-Atlantischen Welt finden zur Mitte des 18. Jahrhunderts religiöse Auseinandersetzungen, u. a. zwischen Anhängern der Erweckungsbewegung und traditionellen Anhängern der anglikanischen Kirche statt. Dieser Beitrag untersucht, wie diese Kontroverse Ausdruck in einem Motiv – der christlichen Bekehrung nicht-europäischer, nicht-weißer Völker – und in zwei narrativen Formen findet: Allegorien und Bekehrungsnarrativen. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei anonym erschienene Romane, die einerseits die anglikanische Kirche durch ihre Erzählungen von deren Missionarsarbeit in Amerika unterstützen und beglaubigen sollten, und die andererseits für ihre Bemühungen narrative Formen in Anspruch nehmen, die man für gewöhnlich mit rivalisierenden Ausprägungen des Protestantismus in Verbindung bringt. Diese beiden Romane sind The New Pilgrim’s Progress, or the Pious Indian Convert (1748) und The Female American (1767). In Form einer Ich-Erzählung präsentiert der von der Forschung meist vernachlässigte erste Roman die Geschichte des anglikanischen Priesters James Walcot, der, angetrieben von dem Wunsch die ›Heiden‹ zu bekehren,1 zunächst nach Jamaica und dann nach South Carolina reist. Dort angekommen, wird er zum Kapelan eines wohlhabenden und sympathischen Plantagenbesitzers, der ihm den jungen asiatischen Sklaven Hattain Gelashmin (im Text mit sowohl chinesischen als auch indianischen Zügen beschrieben) in die Obhut übergibt. Letzterer wurde von einer spanischen Galeone inmitten des Atlantiks aufgelesen und nach South Carolina gebracht. Walcot hatte die Ankunft Gelashmins aufgrund prophetischer Träume schon erahnt, worauf er ihn im Lauf mehrerer Jahre konvertiert und erzieht. Er tauft ihn, überwacht seine Bemühungen, die lokale Sklavenbevölkerung zu christianisieren, und befürwortet seine Reise ins Inland, um einen Stamm amerikanischer Ureinwohner zu bekehren, die fiktionalen Checkbatoe. Aufgrund ihrer Konversion zum Christentum wird dieser Stamm dann von einem Nachbarstamm, den Gallangois (auch dieser fiktional), angegriffen. Der Roman 1
James Walcot [Pseud.]: The New Pilgrim’s Progress, or The Pious Indian Convert. London 1748, S. 10.
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Aspekte · 3. Sektion · Laura M. Stevens
schließt mit Gelashmins eigener Erzählung ab, die sowohl über seine Mission als auch über seine allegorischen Träume berichtet und damit ganz klar John Bunyans The Pilgrim’s Progress (1678) imitiert und revidiert.2 Der zweite Roman, The Female American, war relativ unbekannt, bis er durch die Edition, die Michelle Burnham (2011) für Broadview besorgte, größere Beachtung fand.3 Der anonym verfasste und ebenfalls in Ich-Form gehaltene Roman erzählt die Geschichte von Unca Eliza Winkfield. Sie ist die Tochter einer indianischen Prinzessin und eines Engländers, deren Kennenlernen sehr an die Geschichte von Pocahontas und John Smith erinnert. Von der Mutter als Baby verlassen, verbringt Winkfield ihre ersten sieben Jahre bei ihrem Vater in Virginia. Daraufhin reist sie nach England, wo sie für mehrere Jahre bei ihrem Onkel väterlicherseits, einem anglikanischen Priester, lebt, und kehrt dann zu ihrem Vater nach Virginia zurück. Als sie nach dem Tod des Vaters nach England zurücksegeln will, wird sie auf einer verlassenen Insel ausgesetzt, weil sie sich weigert, den Sohn des Kapitäns zu ehelichen. Dort herrschen etwas günstigere Umstände als bei Robinson Crusoe, etwa durch eine intakte Hütte, die ein Schiffbrüchiger vor ihr zurückgelassen hat. Sie lebt dort für mehrere Monate, bekehrt unterdessen die Ureinwohner der Nachbarinsel zum Christentum und wird nach einiger Zeit von einem Suchtrupp gefunden, den ihr Onkel und dessen Sohn entsendet hatten. Schließlich heiratet sie diesen Cousin und die beiden verbringen den Rest ihres Lebens auf der Insel in Abgeschiedenheit und Geistlichkeit. Mehr als zehn Jahre Forschung über The Female American vor und direkt nach Erscheinen der Broadview-Edition konzentriert sich vornehmlich auf den Roman als Neuinterpretation von Daniel Defoes männlich-konnotiertem SchiffsbruchNarrativ Robinson Crusoe, wobei der Fokus auf der zwei Ethnien angehörenden Protagonistin liegt.4 Einige neuere Publikationen haben unser Verständnis der Texte, 2
John Bunyan: The Pilgrim’s Progress. Hrsg. v. N.H. Keeble. New York 1984. Eliza Winkfield [Pseud.]: The Female American. Hrsg. v. Michelle Burnham u. Orchard Park. New York 2001. Eine zweite Ausgabe erschien vor zwei Jahren: Unca Eliza Winkfield [Pseud.]: The Female American. Hrsg. v. Michelle Burnham u. James Freitas. New York 2014. 4 Daniel Defoe: Robinson Crusoe. Hrsg. v. J. Donald Crowley. New York 1972. Den Roman als weiblichen Robinson zu lesen stammt unter anderem von Kristianne Kalata Vaccaro: »Recollection…Sets My Busy Imagination to Work«. Transatlantic Self-Narration, Performance, and Reception in The Female American. In: Eighteenth-Century Fiction 20 (2007–2008), S. 127– 150; Laura M. Stevens: Reading the Hermit’s Manuscript. The Female American and Female Robinsonades. In: Maximillian Novak u. Carl Fisher (Hrsg.): Approaches to Teaching Defoe’s Robinson Crusoe. New York 2005, S. 140–151; Betty Joseph: Re(playing) Crusoe/Pocahontas. Circum-Atlantic Stagings in The Female American. In: Criticism 42 (2000), S. 317–335; Roxann Wheeler: The Complexion of Race. Categories of Difference in Eighteenth-Century British Culture. Philadelphia 2000, Kap. 3; Jeanine Blackwell: An Island of Her Own. Heroines of the German Robinsonades from 1720 to 1800. In: The German Quarterly 58 (1985), S. 5–26. 3 Unca
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Geschichten und Genres, aus denen der Roman sich speist, erheblich erweitert. Matthew Reilly zeigt zum Beispiel, welche bestechenden Ähnlichkeiten zwischen dem Roman und einem arabischen Text aus dem zwölften Jahrhundert bestehen: Ibn Tufayls Hayy ibn Yaqzān [Der Lebendige, Sohn des Wachenden], von dem lateinische und englische Übersetzungen in Großbritannien um 1670 erschienen.5 Eve Tavor Bannet positioniert den Roman innerhalb einer reichen Geschichte von sogenannten »transatlantic stories«, die über »migrations, motives, and experiences of ordinary people« berichten und die deshalb in Vergessenheit geraten sind, weil »they fit so poorly into later nationalist master-narratives«.6 Mary Helen McMurran zeigt indes, wie der Text an »the eighteenth century’s curious relationship with pagan oracles« sowie an der Unsicherheit teilhat, »how enchantment functioned in nature and in society.«7 Wie diese neueren Publikationen zeigen, speist sich der Roman aus einem viel reicheren und vielfältigeren Repertoire von Schiffbruch- und Reiseerzählungen als bisher angenommen.8 Dennoch bleibt Robinson Crusoe ein zentraler Bezugspunkt für The Female American und ich glaube, dass es durchaus gewinnbringend sein kann, sich der Frage zuzuwenden, wie der spätere Roman den früheren bewusst bearbeitet. Einerseits finde ich Reillys Argument überzeugend, dass der Roman positiv in Quäkergemeinden aufgenommen wurde, weil das Narrativ des ursprünglich arabischen Schiffbrüchigen in The Female American mit den Glaubensgrundsätzen der Quäker in überaus starkem Einklang steht, andererseits überzeugt mich angesichts der großen Bedeutung von anglikanischen Gebetbüchern und anglikanischen Gläubigen in diesem Text Reillys These nicht, dass ein Quäker Autor des Textes war. Ich möchte an die Arbeiten von Scarlett Bowen, Eve Tavor Bannet und anderen anknüpfen, die sich mit der Beschreibung anglikanischer Missionarsarbeit im Text auseinandersetzen, und dafür argumentieren, dass The Female American – in bestechender Parallele zu The New Pilgrim’s Progress – eine Aufwertung des anglikanischen Glaubens und der christlichen Missionarsarbeit unternimmt, indem der Text nicht nur die Geschichte einer erfolgreichen Missionarin erzählt, sondern sich auch eine narrative Form aneignet, die sonst mit Protestanten assoziiert wird und nicht mit der anglikanischen Orthodoxie übereinstimmen.9 5
Vgl. Matthew Reilly: »No Eye Has Seen, or Ear Heard«. Arabic Sources for Quaker Subjectivity in Unca Eliza Winkfield’s The Female American. In: Eighteenth-Century Studies 44 (2011), S. 261–283. 6 Eve Tavor Bannet: Transatlantic Stories and the Histories of Reading, 1720–1810. Cambridge 2011, S. 1. 7 Mary Helen McMurran: Realism and the Unreal in The Female American. In: The Eighteenth Century. Theory and Interpretation 52 (2011), S. 323–342, hier: 328 u. 339. 8 Die zweite Ausgabe von The Female American für Broadview reflektiert viele dieser Entwicklungen in den Einleitungen von Burnham und Freitas sowie in den ergänzenden Materialien. 9 Vgl. Scarlet Bowen: Via Media. Transatlantic Anglicanism in The Female American. In:
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II. Für eine Untersuchung der narrativen Form der Romane ist es aufschlussreich, zunächst den historischen Kontext, in dem sie geschrieben wurden, in den Blick zu nehmen. Beide Romane stehen für die Rechtfertigung der anglikanischen Kirche im atlantischen und kolonialen Raum, indem sie eine erfolgreiche anglikanische Missionarsarbeit zu einer Zeit beschreiben, in der die anglikanische Kirche von prominenten Vertretern der amerikanischen Kolonien kritisiert wurde, insbesondere von jenen, die nicht mit Englands Staatskirche konform gingen oder die transatlantische protestantische Erweckungsbewegung – genannt Great Awakening – unterstützten.10 Beide Texte verleihen auch dem Wunsch Ausdruck, die Missionarsarbeit nicht-weißen Handlungsträgern zu überlassen, die in einem durch und durch englischen Umfeld aufgewachsen sind und den Anglikanismus gewissermaßen exportieren. Der genaue Kontext dieser anglikanischen Apologie unterscheidet sich in den beiden Romanen indes stark voneinander. The New Pilgrim’s Progress spielt hauptsächlich in der Kolonie South Carolina, die seit ihrer Gründung 1670 ein Austragungsort für Wettstreite zwischen Anglikanern und Nonkonformisten ist.11 Dieser Kampf der Konfessionen spielt sich in einem Umfeld ab, in dem auch ständige Rassenkonflikte schwelen. Im Jahr 1730 hatte die Kolonie doppelt so viele afrikanische Sklaven wie weiße Einwohner, während die Zahl der amerikanischen Ureinwohner dramatisch schrumpfte.12 Die weißen Kolonisten schützten sich vor der Rebellion durch in Westindien erprobte Terrortaktiken und verhinderten Allianzen zwischen Ureinwohnern und Afrikanern, indem sie mit Gewehren für entlaufene afrikanische oder neu gefangene indianische Sklaven bezahlten. Diese Spannungen verschärften sich in den 1730er- und 40erThe Eighteenth Century. Theory and Interpretation 53 (2012), S. 189–207; Bannet: Transatlantic Stories. Janina Nordius achtet auf Winkfields Missionsarbeit und sieht sie als Ausdruck von Macht, konzentriert sich allerdings nicht auf die Frage, welche Form des Christentums Winkfield propagiert: »Thus might I reason with a heathen…«. The Gothic Moment in The Female American. In: Nordic Journal of English Studies 7.2 (2008), S. 1–18. 10 Vgl. Thomas S. Kidd: The Great Awakening. The Roots of Evangelical Christianity in Colonial America. New Haven 2007; Frank Lambert: Inventing the Great Awakening. Princeton 1999. 11 Zu den komplexen Verhältnissen der anglikanischen Siedlungen in South Carolina vgl. Sidney Charles Bolton: Southern Anglicanism. The Church of England in Colonial South Carolina. Westport 1982, Kap. 2; Edwin Scott Gaustad: A Religious History of America. San Francisco 1966, S. 99–108. 12 Für eine allgemeine Darstellung von South Carolina vgl. Alan Taylor: American Colonies. New York 2003, Kap. 11. Über die Nationen der Ureinwohner bei Carolina vgl. Edward J. Cashin: Guardians of the Valley. Chickasaws in Colonial South Carolina and Georgia. Columbia 2009; James H. Merrell: The Indians’ New World. Catawbas and Their Neighbours from European Contact through the Era of Removal. Chapel Hill 1989.
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Jahren durch die transatlantische protestantische Erweckungsbewegung. Im Januar 1740 besuchte George Whitefield, ein charismatischer anglikanischer Prediger, der im Zentrum dieser Bewegung stand, die Stadt Charles Town, lockte große Massen zu seinen Predigten und geriet mit dem Beauftragten der anglikanischen Kirche, Alexander Garden, aneinander.13 Später in diesem Jahr veröffentlichte er A Letter to the Inhabitants of Maryland, Virginia, North and South Carolina, in dem er Sklavenhalter dazu anhält, ihre Sklaven zum Christentum zu bekehren, und den Mangel an christlichen Sklaven auf die geistliche Verarmung des anglikanischen Klerus in South Carolina zurückführt. Alexander Garden ließ mit einer entschiedenen Verteidigung nicht lange auf sich warten, doch von da an befand sich die anglikanische Kirche South Carolinas in der Defensive. Da die Bekehrung afrikanischer Sklaven von nun an als moralische Rechtfertigung im Wettstreit zwischen den sogenannten Old und New Lights (d. h. denjenigen, die sich dem Great Awakening entweder ab- oder zuwandten) galt, ließen sowohl Whitefield als auch Garden 1740 in Charles Town jeweils eigene Schulen für afrikanische Sklaven bauen. Während Whitefields Projekt nicht weitergeführt wurde, öffnete Gardens Charlestown Negro School 1742 ihre Tore. Garden kaufte zwei Sklaven, um sie als Lehrkräfte für die Schule auszubilden. Außerdem besuchte er 1746 England, wo er reichlich Gelegenheit hatte, seine Ansichten über den Zustand der anglikanischen Kirche in South Carolina zu publizieren und vorzutragen.14 Wer auch immer The New Pilgrim’s Progress geschrieben hat – veröffentlicht wurde das Buch zwei Jahre nach Gardens Besuch in England –, scheint den Text als Antwort auf die Wettstreite, Spannungen und Kritikpunkte verfasst zu haben, denen sich die anglikanische Kirche in South Carolina ausgesetzt sah. The Female American steht unter dem Vorzeichen einer anderen Phase der Britisch-Atlantischen Geschichte, denn er erschien vier Jahre nach dem Sieg der Briten über die Franzosen im Siebenjährigen Krieg. In dieser Zeit nährte London große Hoffnungen auf die Ausbreitung des Christentums in ganz Amerika – ehemalige französische Territorien einbezogen –, und das selbst als sich die Spannungen zwischen der indigenen Bevölkerung und landbegierigen Kolonialisten in Gegenden wie dem Ohio Valley verschärften. Außerdem keimte die Hoffnung neu auf, man könne das Evangelium durch Prediger aus den Reihen der Ureinwohner verbreiten. Die Staatskirche ließ 1765 durch die Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts den zur Ethnie der Fante gehörigen, in Cape Coast (Ghana) geborenen Philip Quaque ordinieren, der seit 1754 in England gelebt hatte, und entsandte 13
Charles Town änderte seinen Namen 1783 zu Charleston. In diesem Aufsatz verwende ich die ältere Schreibweise. 14 Vgl. Shaw Comminey: The Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts and Black Education in South Carolina, 1702–1764. In: The Journal of Negro History 84 (1999), S. 360–369, hier: 363 f.; Bolton: Southern Anglicanism, S. 116 f.
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ihn dann als Kapelan der Royal African Company zurück nach Cape Coast.15 Im Jahr 1767, als der Roman zum ersten Mal gedruckt wurde, befand sich der presbyterianische Geistliche Samson Occom – vom Stamm der Mohegan – auf einer in weiten Kreisen bekannt gemachten Predigtreise durch Großbritannien, um Geld für die Indian Charity School of New England zu sammeln, die später zu Dartmouth College wurde. Hauptsächlich wurde er von der Society in Scotland for the Promotion of Christian Knowledge gefördert, die zur presbyterianischen Kirche Schottlands gehörte und eng mit einigen kongregationalistischen Missionsinitiativen auf den amerikanischen Kontinenten verbunden war. Occom, während des Great Awakening konvertiert und von daher ein Anhänger der Erweckungsbewegung, lehnte mehrere Angebote – mitunter das des Bischofs von London – ab, zur anglikanischen Kirche zu konvertieren. So sehr er die Hoffnungen neu entfachte, dass amerikanische Ureinwohner Protestanten und britische Loyalisten werden könnten, war seine bloße Existenz für die anglikanische Kirche eine subtile Mahnung, dass sie zwar einen afrikanischen Priester, jedoch keine indianischen Prediger vorzuweisen hatte, um für ihren Erfolg bei der Missionierung Amerikas zu bürgen.16
III. Beide Romane können folglich als Apologie oder Verteidigung der anglikanischen kolonialen Bemühungen gelesen werden, die im Modus des Imaginären operieren: Ihre Vision ist es, die Missionsarbeit auf nicht-weiße oder zwei Ethnien angehörige Personen zu übertragen, die innerhalb eines englischen Kontextes ausgebildet wurden. Aufgrund ihrer Mittlerrolle sind sie dann befähigt als Exporteure des Anglikanismus’ zu agieren, indem sie ganze Gemeinden afrikanischer Sklaven oder indi15
Für eine Auswahl aus den zahlreichen Forschungsbeiträgen zur Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts (SPG) vgl. Daniel O’Connor et al. (Hrsg): Three Centuries of Mission. The United Society for the Propagation of the Gospel, 1701–2000. London 2000; Margaret Dewey: The Messengers. A Concise History of the United Society for the Propagation of the Gospel. London 1975; Hans Jacob Cnattingius: Bishops and Societies. A Study of Anglican Colonial and Missionary Expansion, 1698–1850. London 1952, S. 7–37; H.P. Thompson: Into All Lands. The History of the Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts, 1701–1950. London 1951; Frank J. Klingberg: Anglican Humanitarianism in Colonial New York. Philadelphia 1940. Über den Umgang der SPG mit Afrikanern vgl. Travis Glasson: Baptism Doth Not Bestow Freedom. Missionary Anglicanism, Slavery, and the Yorke-Talbot Opinion, 1701–1730. In: William and Mary Quarterly 67 (2010), S. 279–318. Über Philip Quaque vgl. Travis Glasson: Mastering Christianity. Missionary Anglicanism and Slavery in the Atlantic World. New York 2012, Kap. 6; Travis Glasson: Missionaries, Methodists, and a Ghost. Philip Quaque in London and Cape Coast, 1756–1818. In: Journal of British Studies 48 (2009), S. 29–50. 16 Bannet hat eine überzeugende Lesart von The Female American als Antwort auf Occoms Präsenz in Britannien entwickelt: Transatlantic Stories, Kap. 7.
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gener Stämme zu ihrem Glauben bekehren. Beide Texte machen ein anglikanisches Glaubensbekenntnis explizit stark, das nicht mit dem der Erweckungsbewegung konform geht, und sprechen sich in einigen Punkten sogar gegen Überzeugungen oder Methoden der Erweckungsanhänger aus. In The New Pilgrim’s Progress kritisiert Walcot direkt die von ihm so genannten Schwärmer für ihre fehlerhafte Glaubenslehre und legt großen Wert auf den Hinweis, dass er Gelashmin in einem Innenraum unterrichtete: »I had the Pavilion […] furnish’d for us both: Here we dwell’d, and were very little in Company, except at Meal Times.«17 Das unterscheidet ihn deutlich von Erweckungsanhängern wie Whitefield, die auf freiem Feld predigten, oder presbyterianischen und kongregationalistischen Missionaren wie David Brainerd und John Sergeant, die in die Wildnis reisten, um Ureinwohner zu evangelisieren.18 Gelashmins Bekehrung ist ein langjähriger Prozess der Gelehrsamkeit; bei seinem geistlichen Durchbruch ist er sich nicht plötzlich seiner Erlösung sicher, sondern fühlt demütig seine Verdammnis, gefolgt von dem Bedürfnis getauft zu werden: »[W]hat Part have I, poor unregenerated Heathen as I am, in all the glorious Promises made to the Professors of the Gospel: I believe, indeed, so do the Devils and tremble; but what is Belief as I am not admitted into the Hold of Christ by the Door of Baptism?«19 Seine Bekehrung hat nichts mit den Methoden, Dynamiken und Überzeugungen der Erweckungsbewegung zu tun; stattdessen benötigt sie theologische Bildung, Besinnung, die Sakramente der Kirche und Zeit. Ganz ähnlich betont Unca Eliza Winkfield, wie wichtig ihr die religiöse Erziehung durch ihren Onkel, ein anglikanischer Geistlicher, war. In dieser Erziehung, so hebt sie hervor, war ihr Onkel »as methodical and exact as though I had been to be a divine [i. e., ein ordinierter Priester]; nor did he inculcate religion as a mere science; but in such a warm and affecting manner, that whilst his lectures convinced the understanding, they converted the heart«.20 Diese Beschreibung weist sie zum einen als Anglikanerin aus, zum anderen – und das ist viel wichtiger – verteidigt sie damit den traditionellen Anglikanismus gegen die Angriffe der Erweckungs anhänger, die ihn als verkrustete, kalte Form des Christentums kritisieren, die auf das Herz und die Seele keinen Wert lege. Winkfields Frömmigkeit steht im scharfen Kontrast zu der des Puritaners Crusoe, der manchmal willkürlich Bibelverse auswählt und sie wörtlich auf seine Erfahrungen bezieht. Sie erinnert sich an die Warnung ihres Onkels: »Beware […] of the practice of some enthusiasts of our
17
Walcot: New Pilgrim’s Progress, S. 235. Brainerd und Sargeant vgl. Laura M. Stevens: The Poor Indians. British Missionaries, Native Americans, and Colonial Sensibility. Philadelphia 2004, Kap. 5. 19 Walcot: New Pilgrim’s Progress, S. 238. 20 Winkfield: Female American, S. 60. 18 Über
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times, who make the word of God literally an oracle«.21 Sie schlägt zwar auch auf gut Glück die Bibel auf und findet so zufällig einen bedeutsamen Vers, aber bevor sie seine Anwendbarkeit anerkennt, liest sie das ganze Kapitel, denkt darüber nach und betet. Im Kampf gegen die Einsamkeit tröstet sie sich mit der Erinnerung an die Ratschläge ihres Onkels, indem sie sich selbst ermahnt: »No imaginary flights of faith will warrant our confidence in [God], nothing will do unless we prove ourselves to be his servants by keeping his commands«.22 Die Methoden ihrer Arbeit als Missionarin werden neuerdings häufig von der Forschung kommentiert, insbesondere ihre Entscheidung, zunächst aus dem Inneren eines riesigen Götzen zu predigen. Später predigt sie dann gekleidet in die priesterlichen Roben einer alten Kultur, deren Schatz sie vergraben unter dem Götzen findet. Allerdings muss festgehalten werden, dass sich die Inhalte ihrer Predigten an den Prinzipien der Naturreligionen orientieren, wie es anglikanischen Missionaren beigebracht wurde.23 Später konzentriert sie sich dann darauf, das Book of Common Prayer, den anglikanischen Katechismus sowie die Bibel zu übersetzen und zu lehren.24 Ihre Lehre ist die eines orthodoxen Anglikanismus, dem Deismus (der die Existenz Gottes zwar akzeptiert, Offenbarungsreligionen aber leugnet) wie dem Schwärmertum gleichermaßen ablehnend eingestellt.
IV. Wenn die Protagonisten beider Romane der Kritik an Nonkonformisten und Anhängern der Erweckungsbewegung eine Stimme verleihen, dann stellen die Texte diese Kritik darüber hinaus durch ihre kreative Aneignung von Genre und Stil aus. In The Female American findet diese Aneignung vor allem durch die Abweichungen von dem Roman statt, den er imitiert: Robinson Crusoe. Am stärksten präsent ist diese Form der Bezugnahme in Winkfields Antwort an einen alternden Eremiten, den sie kurz vor seinem Tod auf der Insel trifft. Sie erfährt aus dem von ihm zurückgelassenen Tagebuch, dass er 40 Jahre lang ein von ihm so genanntes »wonderfully extraordinary« Leben auf dieser Insel geführt hat, das nicht zufällig dem des Robinson Crusoe gleicht. Nachdem er die ersten dreißig Jahre seines Lebens »in more than useless follies«25 verschwendet hatte, strandete er auf der Insel, erlebte 21
Ebd., S. 68. Ebd., S. 79. 23 Vgl. Instructions for the Clergy Employ’d by the Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts. In: A Collection of Papers, Printed by Order of the Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts. London 1706, S. 28. 24 Vgl. Winkfield: Female American, S. 126. 25 Ebd., S. 80. 22
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eine fromme Bekehrung und verbrachte die letzten vierzig Jahre seines Lebens in andächtiger Einsamkeit.26 Die Erzählerin findet Worte des Lobes für diese Bekehrung und für die im Tagebuch enthaltenen Reflexionen, die sie als »sensible and pious« bezeichnet.27 Dennoch folgt sie den Ratschlägen des Tagebuchs nur selektiv. Wie ich bereits erläutert habe, nimmt sie sich den Ratschlag ihres Onkels zu Herzen und versteht die Aufzeichnungen des Eremiten nicht als Prophezeiung. Vor allem ignoriert sie die Empfehlung, sich zu verstecken, wenn die Eingeborenen der Nachbarinsel auftauchen. Indem sie sich von den Ratschlägen des Eremiten nach eigenem Ermessen löst und gegen andere Informationsquellen abwägt – darunter die Bücher, die sie bei sich hat, an die sie sich erinnert, sowie ihr Wissen über Sitten und Sprache der Eingeborenen –, kann sie das Lebensmodell des Eremiten verbessern und die verlassene Insel in eine florierende Missionsstätte verwandeln. Damit kritisiert sie Robinson Crusoes Handeln als unzulänglich, dem es z. B. nicht gelang, mehr als einen der benachbarten Kariben zu bekehren. Im Kontrast zu ihrem eigenen, eher extrovertierteren Exil erscheint Crusoes Leben und Wirken nicht einfach nur abgeschieden, sondern solipsistisch, weil er nur auf seine eigenen Sünden, Konversion und Erlösung bedacht ist und sich der Bekehrung eines Kariben erst dann widmet, als er die Einsamkeit nicht mehr ertragen kann. Crusoes Einsiedlerdasein wird zum Spiegelbild seiner inneren Disposition: dem inneren Ringen mit sich selbst und seiner Seele. Winkfield erlebt zwar bei ihrer Ankunft auf der Insel eine symbolische Wiedergeburt, jedoch erfährt sie keine feierliche christliche Bekehrung wie Crusoe, bei dem Angst und Verzweiflung seine Umkehr und sein Bekenntnis zu Christus hervorrufen – sie hat ein solches Bekenntnis nicht mehr nötig. Schon seit ihrer Kindheit ist sie eine Gläubige, und aus diesem Glauben erwächst ihr auf Tugend, Mäßigung und Vernunft gegründetes Leben. Diese Eigenschaften fördern ihren Mut, ihr Mitgefühl, ihre Offenheit und machen aus ihr eine erfolgreiche Missionarin, die viele Seelen rettet. Durch die Geschichte der zur Missionarin gewordenen Schiffbrüchigen imaginiert der Roman, wie die anglikanische Missionierung Amerikas mit Hilfe dieser zu zwei Ethnien gehörigen Mittlerin gelingen könnte. Darüber hinaus wird das Genre genutzt, um diejenigen Protestanten zu kritisieren, die von Gegnern der Erweckungsbewegung als Schwärmer bezeichnet werden. Auch The New Pilgrim’s Progress übt Kritik an den Anhängern der Erweckungsbewegung, und zwar durch die anglikanische Adaption eines mit dem Nonkonformismus assoziierten Genres: in diesem Fall durch einen allegorischen Traum, der sich an John Bunyans A Pilgrim’s Progress anlehnt. Dieser Traum ereignet sich am Ende des Romans, als der indianische Konvertit und Missionar Gelashmin während 26 Vgl.
Defoe: Robinson Crusoe, S. 72. Female American, S. 80.
27 Winkfield:
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eines Angriffs auf die von ihm bekehrten Checkbatoe durch einen Nachbarstamm in eine Höhle geflohen ist. Merkwürdigerweise schläft er inmitten aller Gewalt taten ein, während er über das Johannesevangelium Kapitel 3, Vers 3 meditiert, also Jesu Worte an Nikodemus, dass ein Mann erst wiedergeboren werden muss, bevor er das Reich Gottes betreten kann.28 Wie auch heute noch, war dies ein beliebtes Thema unter Anhängern der Erweckungsbewegung, die die Forderung verfechten, dass kein Priester je predigen sollte, ohne eine Form von Wiedergeburt erfahren zu haben. Der Traum selbst kann als Antwort aus traditionalistisch-anglikanischer Perspektive auf die Bedeutung gesehen werden, die das Great Awakening der Wiedergeburt zukommen lässt. Der Traum weicht jeder möglichen Diskussion über Sünden- oder Heilsgewissheit aus und konzentriert sich stattdessen auf Mäßigung und Maßhalten sowie Tugend. Damit revidiert er aber auch The Pilgrim’s Progress in erheblichem Maß, indem er Bunyans Schilderung eines spirituellen Wegs hin zu glühender Hingabe an Christus, und zwar bis zur Bereitschaft zum Tod als Märtyrer, durch die Aufforderung zu einem ruhigen Leben in Mäßigung und Tugend ersetzt. Gelashmin träumt von einem Schutzengel, der ihn durch »The Wilderness of Delight« in eine Grotte führt, in der er zwei Frauen trifft – beide bieten ihm ihre Führung an, als er im Begriff ist, in die Welt hinaus zu gehen.29 Er muss sich zwischen einer reich geschmückten Frau mit glitzernden, »wanton Ringlets«, genannt Genuss, und einer schlichter gekleideten Frau mit »modest and contented« Aussehen entscheiden.30 Der Name dieser Frau ist – wie sollte es anders sein – Tugend und nachdem Gelashmin sich für sie entscheidet, enthüllt der Engel sowohl das wahre, monströse Aussehen von Genuss als auch die vielen Übel, die sie verursacht, sobald man sie begehrt. Der Engel gibt ihm ein Fernglas, das »Perceptive of Grace«, das ihn die Welt sehen lässt, wie sie wirklich ist.31 Kurz darauf erhält er ein weiteres Geschenk, den »Gem call’d Reflection«, der ihn vor jeder Versuchung schützt.32 Die Implikationen liegen auf der Hand: Der Gläubige wird nicht mit den ausschweifenden Freuden und Leidenschaften ausgestattet, die man mit den Anhängern der Erweckungsbewegung in Verbindung bringt, sondern mit einer klaren Wahrnehmung und der Fähigkeit, sich Wünsche mittels Reflexion zu versagen. Machtvoll begleitet von einer Vision des Jüngsten Gerichts bekräftigt die abschließende Aussage des Textes ein Leben in Mäßigung und Zurückhaltung, während sie Prunk, Sinnlichkeit und Vergnügungssucht ablehnt. Gelashmin äußert sie in seinem Versprechen an seinen Schutzengel, als sie den Palast des Genusses 28 Vgl.
Walcot: New Pilgrim’s Progress, S. 261. Ebd., S. 263. 30 Ebd., S. 264. 31 Ebd., S. 274. 32 Ebd., S. 296. 29
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verlassen: »I am thy Servant, never to forsake thy cool and wholesome Laws; good Heaven! what an End has Riot; how dreadful are the Consequences of Appetites indulged«.33 Der Titel des Romans, The New Pilgrim’s Progress, kann sich demnach auf Gelashmin beziehen, der als Konvertit noch ein Neuling auf der christlichen Pilgerreise ist. Die Schlussallegorie des Textes eröffnet jedoch noch eine zweite mögliche Bedeutungsebene. The New Pilgrim revidiert und verbessert Weg des ›alten‹ Pilgers, nämlich Bunyans Pilger Christian, der seine Familie und Nachbarn verlässt, um eine Suche zu beginnen, in der er zwar von den allegorischen Personifikationen Geduld, Vernunft, Glaube, etc. begleitet wird, sonst aber auf keine tatsächlichen Figuren trifft; er beginnt diese Suche mit einem Schrei: »What shall I do to be saved?«34 Es stimmt zwar, dass Bunyan selbst diese Allegorie bereits mit dem zweiten Teil des Romans aktualisiert, in dem er die Geschichte von Christians Ehefrau Christiana und ihrer Familie erzählt. Auch wenn diese Geschichte im Familien leben verankert ist, ist auch ihr Fluchtpunkt, der Welt den Rücken zuzukehren und sich auf seine eigene Erlösung zu besinnen. The New Pilgrim’s Progress kehrt nie zu den Checkbatoe zurück, handelt die Bekehrung dieses Stammes auf nur wenigen Seiten ab, um sie dann kurz vor dem Märtyrertod im Stich zu lassen. Stattdessen wendet sich der Roman einer detailreichen Allegorie zu und legt uns auf diese Weise nicht nur nahe, dass die überarbeitende Hand eines Herausgebers diesem Text gut getan hätte, sondern auch, dass das Bekehrungsnarrativ letztendlich im Dienst des Endes und der Schlussallegorie steht: Es predigt den Lesern die richtige Art zu glauben und zu leben. Diese richtige Art benötigt einen durch Vernunft angereicherten Glauben, eine von der Gnade verliehene Wahrnehmung und überhaupt die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung ein Geschenk der Gnade ist. Das entscheidende Anliegen des Romans besteht darin, die dramatischen, sinnlichen und egozentrischen Formen von Frömmigkeit zurückzuweisen, die von Anhängern der Erweckungsbewegung gepredigt wurden, um stattdessen seine Leserschaft an die zentrale Bedeutung von Tugend, Wahrnehmung und Reflexion zu erinnern. Während seiner gesamten Erzählung zeigt sich Walcot beunruhigt von den Gegnern der anglikanischen Kirche und debattiert direkt z. B. mit Deisten und Nonkonformisten. Walcots Bekehrung eines amerikanischen Ureinwohners bekräftigt schlussendlich die Glaubenssätze, die er lehrt, und die Methoden, die er anwendet. Die Schlussallegorie – durch die Stimme eines neuen Pilgers mitgeteilt – ist ein Versuch, das Bild und die Idee eines Pilgers überhaupt neu zu erfinden. Dafür wird ein Genre benutzt, das im späten 17. Jahrhundert einem breiten Publikum effektiv die puritanische Botschaft verkün-
33
Ebd., S. 281. Pilgrim’s Progress, S. 12.
34 Bunyan:
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dete, das aber so verändert wurde, dass es eine traditionellere Form des Glaubens lehren konnte, die mit der anglikanischen Staatskirche im Einklang stand.
V. Weder The New Pilgrim’s Progress noch The Female American sollten ausschließlich als Antworten auf The Pilgrim’s Progress oder Robinson Crusoe gelesen werden. Das intertextuelle Netz um beide Romane ist zu breit und komplex, um auf eine einzige Einflussquelle beschränkt zu werden. Nichtsdestotrotz steht fest, dass diese beiden transatlantischen Erzählungen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, die beide äußerst erfolgreiche nicht-weiße, anglikanische Missionare in einem atlantischen Umfeld imaginieren, Aspekte der beiden früheren Erzählungen imitieren, während sie gleichzeitig deren spezifische Theologie revidieren. Im Prinzip betreiben sowohl The New Pilgrim’s Progress als auch The Female American die theologische Wider legung ihrer Vorbilder durch die Aneignung ihrer narrativen Form. Beide Romane präsentieren die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Staatskirche und den Nonkonformisten, zwischen Anhängern der Erweckungsbewegung und Tradi tionalisten nicht nur dadurch, dass ihre Protagonisten erfolgreich Seelen in fremden Ländern bekehren, sondern tragen diese Auseinandersetzungen buchstäblich auf den Seiten der Erzählungen aus, indem sie die erfolgreichen narrativen Formen selbst in Besitz nehmen. Diese Auseinandersetzungen über die Erweckungsbewegung, in denen es essenziell um die jeweilige Bedeutung von Glaube und Vernunft, von Wahrnehmung und Sinnen, von Tugend und Gefühl geht, weisen ins Zentrum der Aufklärung und zeigen uns eine Alternative, mit der wir die Verwerfungslinien der Aufklärung in Erzählungen aufdecken können. Übersetzt aus dem Amerikanischen von David Pister
4.
se k t ion
ü be r l i e f e ru ng: von a n de r e m u n d a n de r e n e r z ä h l e n
Birgit Neumann
Überlieferung: Von Anderem und Anderen erzählen Einleitung
D
er Prozess der Narrativierung ist, ganz einfach gesprochen, ein grundlegender Modus menschlicher Sinn- und Erkenntnisstiftung, der zunächst heterogene Geschehnisse, zumeist Handlungen und daran geknüpfte Intentionen von Prota onisten, in eine zeitlich organisierte Ordnung einbettet. Eine allgemeingültige Definition der Narration gibt es nicht. Was sich wohl sagen lässt, ist, dass Narrationen, seien sie eher fiktionaler oder faktualer Art, einige charakteristische Merkmale aufweisen, durch die sie sich von anderen Textsorten, wie z. B. der Beschreibung, – zumindest graduell – unterscheiden.1 Zu diesen Merkmalen zählen vor allem die sequentielle Struktur, d. h. ein zeitlich organisierter Verweisungszusammenhang, Zustandsveränderungen und eine damit verbundene Ereignishaftigkeit, aber auch menschliche Akteure sowie deren Motive.2 Jerome Bruner zufolge beschäftigen sich Erzählungen mit den Motiven, Absichten und Zielen individualisierter Protagonisten, also mit deren Versuch, bestimmte Motive auch gegen Widerstände umzusetzen.3 Bedeutsam werden Ereignisse demnach vor allem dann, wenn sie in Verbindung zu Akteuren, deren Wünschen, Hoffnungen, Ängsten, Affekten und Begehren stehen.4 Erzählungen sind damit nicht mit den Geschehnissen identisch, sondern transformieren diese im Zuge ihrer symbolischen Konfiguration, Perspektivierung und Deutung. Sie sind damit stets als transformative und kreative Akte zu verstehen, das heißt, als ein poietischer, aber keineswegs fiktionaler Modus,5 Umwelten, Erfahrungen, Eindrücke und Wahrnehmungen zu interpretieren.6
1 Vgl.
Birgit Neumann: Den Holocaust erzählen. Geschichtstheorie und die Zukunft der Zeitgeschichte. In: Norbert Frei u. Wulf Kansteiner (Hrsg.): Den Holocaust erzählen? Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität. Göttingen 2013, S. 198–224. 2 Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin/New York 2005, S. 24. 3 Vgl. Jerome Bruner: Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge/London 1986, S. 16. 4 Vgl. Gerald Echterhoff u. Jürgen Staub: Narrative Psychologie. In: Gerd Jüttemann (Hrsg.): Psychologie als Humanwissenschaft. Ein Handbuch. Göttingen 2004, S. 102–133; Gerald Echterhoff: Geschichten in der Psychologie. Die Erforschung narrativ geleiteter Informationsverarbeitung. In: Vera Nünning u. Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 265–290, hier: 269. 5 Vgl. Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe. Baltimore 1973. 6 Vgl. Nelson Goodman: Ways of Worldmaking [1978]. Indianapolis 61992.
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Für die verschiedenen Projekte der Aufklärung haben Erzählungen eine herausragende Bedeutung, denn in ihnen werden aufklärerische Ideen und Positionen profiliert, ausgehandelt und verbreitet. Befördert durch neue Druckmöglichkeiten und einen stetig wachsenden Markt, avancieren Erzählungen im Europa des 18. Jahrhunderts zu einer zentralen Form der Sinn- und Erkenntnisstiftung, die in unterschiedlichsten Gattungen – in Romanen ebenso wie in den überaus beliebten Reiseberichten, in den Essays der populären Wochenzeitschriften, den Enzyklopädien der Aufklärer, in Lehrgedichten und Bildzyklen – eingeprobt wurden. Dabei sind es nicht nur die üblicherweise mit der Aufklärung in Verbindung gebrachten Textsorten – allen voran die Enzyklopädieeinträge und die Essays der Wochenzeitschriften –, sondern auch populäre, gut etablierte Gattungen und vormoderne Erzählmodi, wie der Reisebericht bzw. die Romanze, die für die Verbreitung ›aufklärerischer‹ Positionen zentral sind. Der Rückgriff auf vertraute Erzählformen ist wohl auch als Versuch zu verstehen, neuen Ideen zu größerer Akzeptanz zu verhelfen und allzu abstrakt erscheinende Ideale zu partikularisieren und emotionalisieren. Auch wenn die Erzählung als anthropologisch ubiquitäre Form der menschlichen Sinn- und Wissensstiftung gilt, sind Erzählungen immer auch kultur- und epochenspezifische Ausdrucksformen. Im 18. Jahrhundert wird auf bestimmte Weise erzählt, oder, etwas differenzierter gesagt: Das 18. Jahrhundert hat eine Reihe neuer Erzählmuster hervorgebracht, die einerseits von den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen kulturell vorherrschender Wissensordnungen zeugen, die andererseits transformatives Potential haben und über bestehende Ordnungen hinausweisen, die also neue Denk- und Sichtweisen, veränderte Formen der Sag- und Sichtbarkeit, eröffnen. Es ist insbesondere das Spiel mit der Perspektivengebundenheit von Erfahrung und der Subjektivität der Narration, das im 18. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt und das auf ein verändertes Bewusstsein für sozio-kulturelle Pluralität und die Transformationskraft von Differenz verweist. Aber auch neue, historisierende Temporalisierungsformen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in komplexe, wechselseitig aufeinander verweisende Bezüge treten lassen, setzen sich im 18. Jahrhundert zunehmend durch. Diese sequentiell-verstrickte und eben nicht nur konsekutive Temporalisierung erlaubt die Stiftung zeitlicher Kontinuität bei gleichzeitiger Profilierung von Brüchen, Wendepunkten und Zäsuren.7 Für das Verständnis der Gegenwart sind diese neuen, narrativen Temporalisierungsmodi folgenreich, denn die Besonderheiten der Gegenwart lassen sich nun einerseits in Abgrenzung von der Vergangenheit, andererseits als nachvollziehbare, vielleicht sogar notwendige Entwicklung aus eben derselben interpretieren. Dass diese genuin 7
Vgl. Amit Yahav: Time, Duration, and Defoe’s Novels. In: Partial Answers. Journal of Literature and the History of Ideas 6 (2008), S. 33–56; Paul Ricœur: Time and Narrative. Übers. v. Kathleen McLaughlin u. David Pellauer. Chicago 1988; Eizabeth Deeds Ermarth: Realism and Consensus in the English Novel. Princeton 1983.
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narrativen Temporalisierungsformen auch den für die europäische Aufklärung so zentralen Konzepten von Fortschritt und Zivilisationsvorsprung den Weg bereiten, liegt auf der Hand. Aus dieser Perspektive erscheint ›Aufklärung‹ in der Tat nicht länger als Bündel bestimmter Ideen, Ziele und Praktiken, sondern als offene Konfiguration von Erzählungen, durch die Fortschritt – sowohl gegenüber der eigenen Vergangenheit als auch gegenüber in die Vergangenheit gedrängter Kulturen – erzählt und behauptet, also narrativ in Szene gesetzt wird.8 Wenn demnach die Aufklärung in wesentlicher Hinsicht auch als ein narratives Unterfangen verstanden werden will, dann sind es wohl insbesondere die Erzählungen von Anderen und Anderem, die dieses Projekt entscheidend strukturieren, ja vielleicht überhaupt erst ermöglichen. Dies liegt aus mindestens zwei Gründen nahe: Zum einen fordern Fremdheitserfahrungen, also die Konfrontation mit wahrgenommener Alterität, narrative Sinnstiftungsmuster in besonderem Maße heraus. Es ist der Bruch mit vertrauten Mustern und eingeschliffenen Wahrnehmungen, der dazu anhält, erzählerisch Sinn zu generieren, erlebte Kontingenzen ansatzweise zu reduzieren und Fremdheit zumindest kurzzeitig zu bändigen. Zum anderen sind es fremde, in der Erzählung als andersartig markierte Kulturen, Gemeinschaften und Völker, durch die sich die Aufklärer und Aufklärerinnen den Besonderheiten ihrer Positionen, ihrer Kultur und ihrer Zeit vergewissern. Die narrative Zuschreibung von Andersheit bietet eine ausgesprochen flexible und vielseitige Projektionsfläche für die Profilierung aufklärerischen Selbstbewusstseins. Dabei ist es fast gleichgültig, ob Erzählungen kulturelle Andersartigkeit als minderwertig, rückständig und unaufgeklärt diffamieren und daraus eine normativ überhöhte Vorbildhaftigkeit der eigenen, ›aufgeklärten‹ Position ableiten oder ob sie Fremdes – etwa wie in der Figur des ›edlen Wilden‹ – als moralisch überlegen markieren. In beiden Fällen bleiben narrative Alteritätskonfigurationen weitgehend an die von Europa vorgegebenen Denkweisen, Normen und Werte gebunden. Sowohl das monsterhaft Verzerrte und das exotisch Verklärte stellen nämlich letztlich sedimentierte Wahrnehmungsdispositive dar, die vor allem »als Prothesen der Identität«9 fungieren und 8 Vgl.
Edelstein, der betont, dass die Grundlage der Aufklärung weniger ›epistemologisch‹ denn ›narratologisch‹ verstanden werden muss; Aufklärung definiert er demnach als »a historical narrative« bzw. als »a matrix in which ideas, actions, and events acquired new meaning« (Dan Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy. London 2010, S. 13). Wiewohl die Bedeutung von Narrationen nicht überschätzt werden kann, ist die Gegenüberstellung von epistemologisch und narrativ doch wenig plausibel. Narrationen sind vielmehr als grundlegende Form der Wissensstiftung zu verstehen. Darüber hinaus impliziert Edelsteins Rede von ›einer historischen Narration‹ eine Homogenität, die die diversen Projekte der europäischen Aufklärung niemals hatten. 9 Vittoria Borsò: Markt Macht Vergessen. Wie der Medialitätsraum der Literaturen der Welt zur kommunikativen Formel der Weltliteratur wird. Das Beispiel Mexiko. In: Gesine Müller (Hrsg.): Verlag – Macht – Weltliteratur. Lateinamerikanisch-deutsche Kulturtransfers zwischen internationalem Literaturbetrieb und Übersetzungspolitik. Berlin 2014, S. 21–46, hier: 24.
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im Versuch narzisstischer Selbstvergewisserung darauf angelegt sind, Alteritäten zu assimilieren und ihre kulturelle Sprengkraft zu neutralisieren. Aber es finden sich im 18. Jahrhundert auch immer wieder – geistesgeschichtlich bedeutsame und ästhetisch faszinierende – Momente, die derartige identitäre Narrative durchkreuzen, die Andersheit nur konstruieren, um sie sodann zu domestizieren. Denis Diderots Supplément au Voyage de Bougainville (1772; siehe Paul Strohmeiers Beitrag) bietet ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, dass Erzählungen von Anderem und Anderen auch eine Infragestellung der Denkweisen, Moralvorstellungen und Praktiken der europäischen Aufklärung anstoßen können. Aus den dargelegten Prämissen ergeben sich einige leitende Fragestellungen, die den in der Sektion »Überlieferung: Von Anderem und Anderen erzählen« versammelten Beiträgen zugrunde liegen: Was bedeutet es die Aufklärung als genuin narratives Projekt zu verstehen und welche, durchaus mehrsinnige und ambivalente, Rolle spielen Erzählungen von Anderen und Anderem für dieses Projekt? Wer darf in der Aufklärung überhaupt erzählen und wer wird als anders markiert und in den Bereich stummer Objekthaftigkeit gedrängt? Wie wird Alterität belegt – als Bedrohung, die es zu domestizieren gilt, oder als Verlockung und Bereicherung, derer man sich stellt, um die Grenzen des eigenen Denkens zu transzendieren? An welchen Stellen und unter welchen sozio-kulturellen Bedingungen wird die dominante Basisprämisse einer antithetischen Opposition von Eigenem und Fremdem außer Kraft gesetzt? Wo und wie fordert die Konfrontation mit Neuem und als andersartig Erlebtem bestehende narrative Sinnstiftungsmuster heraus und welche neuartigen Erzählverfahren werden generiert, um diese Alterität zumindest narrativ einzufangen? Und welche Rolle spielen die Universalitätsansprüche des aufklärerischen Projekts, also das, was Emmanuel Levinas als ›Imperialismus des Selben‹ bezeichnet,10 für die Deutung kultureller Differenz? Wie lassen sich überhaupt aufklärerische Ideale von Selbstbestimmung und Freiheit mit der Stigmatisierung und Unterdrückung kultureller Alterität vereinbaren? Alterität, dies zeigen die heterogenen, zum Teil widersprüchlichen narrativen Codierungen eindrucksvoll, ist keine ontologische Kategorie. Sie ist vielmehr eine imaginative Projektion, der in Narrationen performativ zur Geltung verholfen wird und die – bei allen Universalitätsansprüchen der Aufklärer – zumeist an die partikularen Identitäts-, Sinn- und Legitimationsbedürfnisse ihrer Erzähler gebunden bleibt. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen untersucht der Beitrag von Susanne Greilich, wie der zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung überaus populäre Roman Les Incas, ou La destruction de l’empire du Pérou (1777) von Jean-François Marmontel narrative Konfigurationen des inkaischen Anderen einspannt, um philosophi10
Vgl. Emmanuel Levinas: Totality and Infinity. An Essay on Exteriority. Übers. v. Alfonso Lingis. Pittsburgh 1969, S. 87.
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sche Grundsatzfragen über Möglichkeiten und Grenzen aufklärerischer Ideen zu erörtern. Marmontel, so eine zentrale These, konstruiert narrativ die scheinbar gegebene Andersartigkeit der präkolumbianischen Kulturen, um Defizite in der europäischen, vor allem französischen Gesellschaft zum Vorschein zu bringen. Deutlich macht der Beitrag, in welchem Maße die Diskussion und Verbreitung aufklärerischer Gedanken auf populäre, romanzenhafte Erzählstoffe setzt; so kommt nämlich die Erörterung philosophischer Grundfragen im Gewand einer Abenteuer- und Liebesgeschichte daher, das der Leserschaft neue aufgeklärte Positionen attraktiv zu machen versucht. Auch der Beitrag von Florian Kappeler nimmt sich der Frage an, wie narrative Figurationen von Alterität auf eigene Legitimationsbedürfnisse und Wahrnehmungsweisen zurückverweisen und sie folglich vor allem als poietische Strategie der Assimilation von Andersheit zu begreifen sind. Der grundlegende Beitrag untersucht die Rezeption der Haitianischen Revolution – bekanntlich der erste erfolgreiche antikoloniale Sklavenaufstand – in deutschsprachigen Dichtungen, Zeitschriften und Geschichtsbüchern des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Besonderes Interesse gilt der bislang kaum erforschten Frage, wie diese Erzählungen, die nur scheinbar ausschließlich mit der Haitianischen Revolution befasst sind, Prinzipien und Grenzen der europäischen Aufklärung ausloten. In einer erhellenden Analyse zeigt der Beitrag, wie Narrativierung und Metaphern genutzt werden, um die Haitianische Revolution in bestimmte, ideologisch aufgeladene Relationen zu Narrativen der europäischen Aufklärung zu setzen. Katja Kremendahl verbindet in ihrem Beitrag eine begriffsgeschichtliche mit einer narratologischen Untersuchung der im Jahre 1784 veröffentlichen Tagebücher des Weltumseglers James Cook und erörtert die Bedeutung des polynesischen Tabu-Konzepts für die Narrativierung von Fremdheitserfahrungen. Die Narrativierung des Tabu-Konzepts, so die These, stellt eine Kontiguität von faktualem und fiktionalem Erzählen her, die als Authentisierungsstrategie über die anti-intellektuelle Berichterstattung hinwegtäuscht und welche die Erzählung selbst zum Projekt der Aufklärung werden lässt. Um das erzählte Ägypten in ›Trivialromanen‹ der Spätaufklärung geht es in dem Beitrag von Lucia Mor. Auch dieser Beitrag demonstriert die enge Verqui ckung von Fremdheitsnarrationen mit den erzählerischen Projekten der Aufklärung. Die Analysen von Friedrich Eberhard Rambachs und Christian Heinrich Spieß’ Romanen legen offen, wie über die Semantisierung von Ägypten virulente Themen der späten Aufklärung, nämlich Potentiale und Grenzen menschlicher Ratio, erfahrungsnah aufbereitet werden. Einmal mehr zeigt sich hier, dass das narrative Unterfangen ›Aufklärung‹ auf populäre Themen und einfache, alltagsnahe und immer wieder ins Triviale umschlagende Sprache setzt, um abstraktes Gedankengut zu popularisieren. In einer spannungsreichen Interpretation von Louis-Antoine de Bougainvilles Voyage autour du monde (1771) und Denis Diderots Supplément au Voyage de Bougainville (1772) verdeutlicht schließlich Paul Strohmaier, wie eng Alte
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ritätsfigurationen der Insel Tahiti mit Besonderheiten der Narrativierung verwoben sind, die ihrerseits Komplexitätssteigerungen oder aber -reduktionen anstoßen. Bleibt Bougainvilles weitgehend linear strukturierte Fremdheitserzählung letztlich den Motiven und Interessen eines überlegenen Europas verpflichtet, so öffnet sich die diskursive Verschachtelung und Multiperspektivität von Diderots Supplément für die Transformationskraft kultureller Alterität. Zusammengenommen zeigen die Beiträge, dass die europäische Aufklärung nicht nur konstitutiv an Erzählungen gebunden, sondern sie auch entscheidend auf Fremdheitskonstruktionen angewiesen ist. Die Aufklärung erscheint aus dieser Perspektive als offene, durch und durch instabile und in sich widersprüchliche poietische Formation bzw. als Prozess der Formgebung, dem das Andere immer schon eingeschrieben ist.
Susanne Greilich
Vom Anderen erzählen in den Grenzen der eigenen Narrative Marmontels Les Incas. Der inkaische ›Andere‹ in der Literatur der Aufklärung Jean-François Marmontels philosophischer Roman Les Incas ou La destruction de l’Empire du Pérou zählt zu jenen Bestsellern der Aufklärung, die heutzutage, wenn auch nicht gänzlich in Vergessenheit, so doch zum großen Teil aus dem Blick von Lesern und Forschung geraten sind. Dabei hatte der 1777 in Paris veröffentlichte Roman bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Neuauflagen erfahren, war ob seines Erfolgs für die Bühne adaptiert und – zum Teil noch im Jahr seiner französischen Erstausgabe – in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt worden, darunter ins Deutsche, Englische, Niederländische, Italienische, Russische und Schwedische. Das große Echo, das Les Incas im 18. Jahrhundert gefunden hat, nimmt angesichts der Thematik des Textes wie auch seines Settings und Figurenpersonals kaum Wunder.1 So ist der Roman zum einen dem für die Aufklärung so zentralen Toleranzgedanken verpflichtet, wie das auf der Titelseite befindliche Zitat »Accordez à tous la tolérance civile« aus Fénelons Directions pour la conscience d’un roi ebenso unmissverständlich markiert wie die Widmungsepistel an den schwedischen König Gustav III. Zeiträumlich im Peru der Conquista verortet, schreibt sich Marmontels Text zum anderen in das begeisterte Interesse für die präkolumbianischen Kulturen Mittel- und Südamerikas und die Geschichte der Entdeckung und Eroberung des amerikanischen Kontinents ein, wie es für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts charakteristisch war. In der historiographischen, essayistischen und belletristischen Literatur der Zeit verschränkten sich exotistische Faszination und Wissbegier über das ›Andere‹ mit seiner Indienstnahme für die Erörterung philosophischer Grundsatzfragen und die Reflexion über gesellschaftlichen Fortschritt.2
1
Vgl. zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Marmontels Roman: Karl-Ludwig Löhndorf: Marmontel als intermediale Quelle. Neues zur Rezeptionsgeschichte von Jean-François Marmontels »Bestsellerroman« Les Incas, ou la destruction de l’empire du Pérou. Frankfurt a. M. 2009; sowie ders.: Marmontels Incas. Untersuchungen zu ihrer Stellung in der Literatur der Aufklärung, ihrer Aufnahme und Nachwirkung. Bonn 1980. 2 Vgl. dazu Hans-Jürgen Lüsebrink: Von der Faszination zur Wissenssystematisierung. Die koloniale Welt im Diskurs der europäischen Aufklärung. In: Ders. (Hrsg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen 2006, S. 9–18.
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Die Südamerika-Faszination ist dabei im Zusammenhang zu sehen mit der Editionsgeschichte der Comentarios reales von Garcilaso Inca de la Vega zum einen und der La Condamine-Expedition der Jahre 1735–1745 zum anderen. Wiewohl bereits früh ins Englische und Französische übersetzt, entwickelte sich das Werk des Mes tizen Garcilaso Inca erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einem Bestseller, der zunächst 1704/06 durch Kuyper in Amsterdam erneut editiert und in der Folge mehrfach aufgelegt wurde, bevor die alte, noch aus dem 17. Jahrhundert datierende Übersetzung 1744 durch eine gänzlich neue Version ersetzt wurde.3 Vor dem Hintergrund des allgemeinen Interesses an der Südamerikaexpedition La Condamines erschien in Paris bei Prault fils die zweibändige Histoire des Incas, Rois du Pérou, die um moderne naturkundliche Aufsätze aus der Feder Dalibards, eines BuffonSchülers, ergänzt worden war. Philosophen und Literaten verarbeiteten den Text Garcilaso Incas gleichermaßen: Quesnays etwa machte die Beschreibung der im Inka-Reich praktizierten Verteilung des Bodens und seines Ertrags in seiner Analyse du gouvernement des Yncas du Pérou (1767) zum Ausgangspunkt der These von den drei Klassen als Träger wirtschaftlicher Aktivität. Prévost berücksichtigte die Histoire des Incas für seine Histoire générale des voyages (Bd. XIII, 1756) ebenso wie Raynal für die Histoire des deux Indes (1770); auch in Voltaires Essai sur les mœurs (1756) fand das Werk Eingang. Schließlich nahm der Text auf die Belletristik der Zeit Einfluss. Nachdem bereits Voltaire das peruanische Lima zum Schauplatz seiner Tragödie Alzire ou les Américains (1736) gemacht hatte, wählte Mme de Graffigny – angeregt durch die Lektüre Garcilaso Incas – eine Inka-Prinzessin zur Protagonistin ihrer Lettres d’une Péruvienne.4 Die in mancher Hinsicht intensivste Rezeption erfuhr das Werk wohl aber durch Marmontel, der in seinem Roman die Inkas im Moment des Kontakts mit den christlichen Eroberern inszeniert. 3 In
Auszügen bereits 1625 veröffentlicht, erschien eine vollständige englische Übersetzung der Comentarios reales unter dem Titel The royal commentaries of Peru. In two parts 1688 in London. In Paris wurde 1633 eine französische Fassung des ersten Bandes durch den versierten Übersetzer Jean Baudoin angefertigt und unter dem Titel Le commentaire royal, ou l’Histoire des Yncas, rois du Péru […] fidellement traduitte sur la version espagnolle par J. Baudoin publiziert. 1650 folgte eine zweibändige Fassung des zweiten Bandes: Histoire des guerres civiles des Espagnols dans les Indes […] mise en françois par I. Baudouin und Suite des guerres civiles des Espagnols […], traduction […] par I. Baudouin, jeweils in Paris bei A. Courbe. Die Textfassung von Kuyper vom Beginn des 18. Jahrhunderts basiert auf der Übersetzung durch Baudouin aus dem 17. Jahrhundert. 4 Vgl. English Showalter: Françoise de Graffigny. Her Life and Works. Oxford 2004, S. 143. Vgl. zur Rezeption von Garcilaso Incas Text außerdem Susanne Greilich: La cultura incaica en el contexto de la Ilustración europea. In: María Cecilia Barelli, Pablo Escalante Stambole u. Romina Pulley (Hrsg.): América del Sur y el movimiento ilustrado. Actas del Congreso internacional. Asociación Argentina de Estudios del Siglo XVIII. 9, 10 y 11 de abril de 2014, Biblioteca Nacional, Buenos Aires, Argentina. Buenos Aires 2015, S. 161–171.
Marmontels Les Incas
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1. Die Lumières im Reich der Inkas – Marmontels Roman als erzählte und erzählende Aufklärung Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse rund um die Eroberung Perus erzählt Les Incas die Geschichte des jungen und schönen spanischen Edelmanns Alonzo de Molina, der sich der Pizarro-Expedition anschließt. Entsetzt von den Grausamkeiten seiner Landsleute wendet sich Alonzo bald von ihnen ab und begibt sich nach Quito, wo er nicht nur dem Inka Ataliba (Atahualpa) und dem Azteken Orozimbo in ihrem Kampf gegen die Konquistadoren zur Seite eilt, sondern den Indios zugleich das ›Licht‹ europäischer Ratio und den christlichen Glauben bringt. Alonzo klärt die Inkas über die Ursache der Sonnenfinsternisse auf, beseitigt die letzten Reste sozio-religiösen Aberglaubens – was ihm schließlich die Ehe mit der Vestalin Cora ermöglicht – und bereitet die friedliche Evangelisierung durch Pizarro vor, die indes vom fanatischen Valverde zunichte gemacht werden wird. Der Text mischt Persönlichkeiten und Versatzstücke der Kolonialgeschichte mit fiktiven Ereignissen und Figuren, deren Fühlen und Sprechen anachronistisch gestaltet sind. Dabei nutzt der Roman – kaum überraschend – die Konfrontation zwischen Alter und Neuer Welt, zwischen den Spaniern und einem Volk, das Voltaire im Essai sur les mœurs als »peut-être la plus douce de toute la terre«5 charakterisiert hatte, zur Erörterung aufklärerischer Themen und der Forderung nach gesellschaftlicher Verbesserung. Wiederholt findet sich in Les Incas das Motiv der Aufklärung unschuldiger und zugleich lerneifriger Seelen. So nehmen nicht nur die Inkas Alonzos Erörterungen zur Ursache der Sonnenfinsternisse begierig auf und nutzen das neu gewonnene Wissen, um die weiterhin durch abergläubisches Entsetzen gelähmten, verfeindeten Cannarins zu besiegen. Auch die Einwohner der Isla de la Gorgona lassen sich vom jungen Spanier bereitwillig ›erleuchten‹, wie Pizarros Gefolgsleute feststellen, als sie Alonzo auf der Insel aufsuchen: »On le trouva au milieu des sauvages, éclairant leur raison, et jouissant de leurs caresses« 6, heißt es im Text. Neben solchen Inszenierungen von Aufklärung als Akt und Prozess ist der Roman gekennzeichnet durch die Verhandlung zentraler Themen der Aufklärung. So erörtert Marmontel zum einen im partiellen Anschluss an Fénelon die Rechte und Pflichten des Herrschers. Der Sapa Inka Ataliba wird zum idealen Regenten stilisiert, der anlässlich der »fête de la paternité« in aufgeklärtem Duktus über seine Rolle als »père publique«7 referiert. Zum anderen verhandelt der Roman einen Tole 5 Voltaire:
Essai sur les mœurs et l’esprit des nations. Hrsg. v. René Pomeau. 2 Bde. Bd. 2. Paris 1963, S. 361. 6 Jean-François Marmontel: Les Incas, ou La destruction de l’empire du Pérou. In: Ders.: Œuvres complètes. 7 Bde. Bd. III,1. Genève 1968, S. 409. 7 Ebd., S. 485.
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ranzbegriff, in der sich der Wandel in der Konzeption des Glaubens widerspiegelt, wie er sich bereits bei Bayle abgezeichnet hatte. Dieser hatte in seinen aus Anlass der Aufhebung des Edikts von Nantes verfassten, kritischen Schriften die Verfolgung und Grausamkeit gegenüber Häretikern verurteilt und betont, dass die Verteidigung des rechten Glaubens nicht vereinbar sei mit Gewalt und Hinterlist. Zudem hatte er darauf verwiesen, dass nicht Zwang die Grundlage des Glaubens bilden könne, sondern dass sich letzterer allein aus der festen Überzeugung von der Wahrheit dessen, was man glaubt, speise. In der Konsequenz hatte Bayle Gewissensfreiheit als ein Gebot der Vernunft definiert und auch für Andersgläubige eingefordert. In Les Incas vollziehen sich die Versuche der christlichen ›Bekehrung‹ der Neuen Welt durch die Angehörigen der Alten im Spannungsfeld des »zèle pur et tendre«8 eines Bartolomé de Las Casas einerseits und des blinden, gewalttätigen Fanatismus eines Valverde, Hernando de Luque und Pedrarias Dávila andererseits. Als zentrale Passage kann jene Begegnung zwischen Pizarro und Ataliba gelten, in der der Konquistador den Inka-Herrscher dazu auffordert, den christlichen Glauben anzunehmen. Die Mittel der Wahl sind dabei für Pizarro – in der Fiktion Marmontels – nicht Zwang und Gewalt, sondern Argumentation und Vernunft: Tu me confonds, mais tu m’éclaires, dit l’Inca. Je commence à croire qu’on avait trompé mes aïeux. Dis-moi seulement si ton Dieu est juste et bon, et si sa loi fait à l’homme un devoir de l’être? Il est, lui répondit Pizarre, la justice et la bonté même; et l’unique devoir de l’homme est de lui ressembler. Je ne te demande plus rien, reprit l’Inca. Viens nous instruire, nous éclairer de ta raison, nous enrichir de ta sagesse; et sois sûr de trouver des cœurs dociles et reconnaissans.9
Schon in seinem Roman Bélisaire (1767) hatte Marmontel die Aspekte der Herrscherpflichten und der Gewissensfreiheit erörtert, hier aber noch einen antiken Rahmen gewählt. Mit Les Incas verlagerte der Autor die Thematik ins Peru der Conquista. Damit zielte Marmontel ganz offensichtlich auf eine breite Leserschaft und das sowohl durch wissenschaftliche Expeditionen wie andere Buchpublikationen angeheizte Interesse an der Neuen Welt und bediente gleichermaßen exotistische Faszination wie Wissenshunger über die Länder Mittel- und Südamerikas. Im Anschluss an Garcilaso Inca, den Marmontel als Garanten für die Authentizität seiner Darstellung des präkolumbianischen Perus heranzieht, wird in Les Incas von den Herrschern des Inka-Reichs berichtet, von Sonnenkult und erwählten Jungfrauen, der königlichen Inka-Straße.10 Die philosophische Erörterung aufklärerischer Themenbereiche wird zudem in das Gewand einer Abenteuer- und Liebesgeschichte gekleidet, die dem Leser die ver8
Ebd., S. 334. Ebd., S. 535. 10 Vgl. Kap. XXVI, XXIX–XXXI. 9
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mittelten Prämissen und aufgeklärten Positionen ›schmackhaft verabreichen‹. Zwar liefert auch Les Incas einen seit La Hontan (1704) und Diderot (Supplément au voyage de Bougainville, 1772) nahezu unvermeidlichen Dialogue avec un sauvage (zwischen Alonzo und dem Inka Huascar) und Marmontel legt sowohl dem tugendhaften Ataliba wie dem Edelmann Alonzo so manchen, im Duktus der Lumières formulierten Monolog in den Mund.11 Über weite Strecken des Romans aber fesseln die nahezu unerhörten, haarsträubenden Abenteuer des Protagonisten, die dem Register vorbzw. nicht-aufklärerischer, romanzenhafter Erzählstoffe entnommen sind: Alonzo erleidet Schiffbruch und Hungersnot, Krieg und Naturkatastrophen (Erdbeben, Vulkanausbruch), und der Vereinigung des jungen Spaniers mit der Tempeldienerin Cora stellen sich zunächst noch soziale Widerstände und Unterschiede in den Weg. Schließlich tut Marmontel auch der literarischen Mode der Empfindsamkeit genüge: So evoziert die in idyllischer Naturszenerie sich vollziehende Vereinigung Alonzos mit Cora den berühmten Spaziergang Julies und Saint Preux’ am Genfer See in Rousseaus 1761 erschienenem Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse. An die Stelle des vom Jura gekrönten europäischen Bergpanoramas tritt der Feuer speiende Pichincha.12
2. Vom ›Anderen‹ erzählen – dem ›Eigenen‹ begegnen Handlungsort, -zeit und Personal bedingen, dass Les Incas ein Roman ist, in dem vom ›Anderen‹ erzählt wird. Der Text offeriert Alteritätserfahrung in doppelter Hinsicht. Zum einen auf der Ebene der Handlung, wo Konquistadoren und Inkas im Südamerika des 16. Jahrhunderts aufeinandertreffen und zum anderen auf der Ebene der Rezeption, wo der zeitgenössische europäische Leser mit der Andersartigkeit des präkolumbianischen Peru konfrontiert wird. Ermöglicht wird dem Publikum die Begegnung mit dem ›Anderen‹ respektive dem ›Fremden‹ aus der sicheren Distanz des heimischen Lesesessels oder -kabinetts heraus durch den Protagonisten des Romans: den jungen Alonzo de Molina, der das Inkareich bereist und erkundet, sich mit dem Sapa Inka Ataliba ebenso befreundet wie mit den aus ihrem zerstörten Reich vertriebenen Azteken und der dabei sämtliche sprachlichen und ideologischen Hindernisse überwindet. Wiewohl als spanischer Edelmann des Siglo de Oro beschrieben, ist Alonzo als noble éclairé und homme sensible in der Tat eine literarische Figur, die durch und durch dem (französischen) 18. Jahrhundert entsprungen ist. Mit seiner Hilfe gelingt es, vom soziokulturellen und lebensweltlichen Erfahrungs11 Der
Dialog zwischen Huascar und Alonzo findet sich in Kapitel XXXI des Romans. Vgl. ebd., S. 457–463. 12 Vgl. ebd., S. 446 f. und: Jean-Jacques Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse. Hrsg. v. Michel Launay. Paris 1967, S. 389.
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horizont des europäischen Lesers eine Brücke zu schlagen zum sowohl kulturellen als auch zeiträumlichen autre des präkolumbianischen Peru. Allerdings ist die Erzählung vom ›Anderen‹ in Les Incas in vielen Fällen tatsächlich eine Begegnung mit dem ›Eigenen‹, die sich in sowohl ästhetischer wie diskursiver Hinsicht innerhalb der Grenzen heimischer Narrative bewegt. Anders formuliert: Aus der Konfrontation zwischen Europäer und edlem Wilden erwächst in Les Incas eine Reflexion, bei der das ›Andere‹ in einer antithetischen Wendung stets auf das ›Eigene‹ zurückweist.13 1. So dient Ataliba als exemplarischer Monarch und Garant einer auf dem Prinzip der Tugend etablierten, funktionierenden Gesellschaft nicht zuletzt als Gegenentwurf zur Inaktivität und Volksferne Ludwigs XV., mit dem Marmontel zugleich seine Enttäuschung über den französischen Herrscher sublimieren konnte.14 Im Bemühen Alonzos wiederum, die Inkas vermittels einer anschaulichen wissenschaft lichen Erläuterung des Phänomens der Sonnenfinsternis von ihrem naiven Glauben an ein verhängnisvolles Wunder zu befreien, konnte der Leser des 18. Jahrhunderts eine Spiegelung jener Anstrengungen erkennen, die u. a. Bayle in seinen Pensées diverses sur la comète (1683) unternommen hatte, um mit den abergläubischen Vorstellungen aufzuräumen, die man im Europa des späten 17. Jahrhunderts mit den Kometen verband. In genannter Schrift plädierte Bayle bekanntermaßen zugleich dafür, alles Wissen ständig kritisch zu überprüfen und die eigenen Gewissheiten ggf. zu revidieren. Die Inkas in Marmontels Roman kommen dieser Forderung in vorbildlicher Weise nach: »[Au] premier souffle de la vérité«,15 die ihnen durch Alonzo zuteil wird, verabschieden sie ihren Aberglauben und münzen das neu erlangte Wissen sogleich in einen strategischen Vorteil um: Aus Aufklärung – so die Botschaft – erwächst gesellschaftlicher Fortschritt. Hier mag man eine Kritik an der Beharrlichkeit erkennen, mit der sich – im Unterschied zum Verhalten der Inkas in der Fiktion des Romans – im populären europäischen Wissensschatz der Glaube an Prognostica, Lassmännlein, usw. hielt, ungeachtet der aufklärerischen Bemühungen derlei abergläubischen Praktiken den Garaus zu machen. 2. In Les Incas findet sich das ›Eigene‹ im ›Anderen‹ schließlich noch auf eine zweite Art und Weise wieder. Bei näherer Betrachtung stellt sich nämlich die beschriebene, 13 Vgl.
dazu die einleitenden Überlegungen in Susanne Greilich u. Karen Struve (Hrsg.): Das Andere Schreiben – Diskursivierungen von Alterität in Texten der Romania (16.–19. Jahr hundert). Würzburg 2013, S. 7–15. 14 Vgl. John Renwick: Marmontel, Les Incas, et l’expansion de l’Europe. In: Ders. (Hrsg.): Jean-François Marmontel (1723–1799). Dix études. Paris 2001, S. 245–263. 15 Marmontel: Les Incas, S. 473.
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vermeintlich reale Alterität des Inkareichs zumindest partiell als Chimäre heraus, als seit jeher durch die eigene, europäische Literatur konstruiertes Anderes. Deutlich wird dies am Thema der religiösen Toleranz. Die Inkas, so deutet es der Roman an, seien potentiell für eine Missionierung mit den Mitteln der Argumentation und der Vernunft offen gewesen, weil sie selbst in der Vergangenheit andere Indio-Völker vermittels friedlicher Überzeugung unterworfen hätten. So erklärt Pizarro im Roman gegenüber Ataliba: Lorsque les Incas tes aïeux ont fondé cet empire, et rangé sous leurs lois les peuples de ce continent, ils leurs ont dit: Nous vous apportons un culte, des arts, des lois qui vous rendront meilleurs et plus heureux. Voilà le titre de leur conquête. Ce titre est le mien; et comme eux je m’annonce par des bienfaits. Je n’aurai pas de peine à te persuader que nous sommes supérieurs, par l’industrie et par les lumières, à tous les peuples de ce monde.16
Dieser Gedanke nun ist keine reine Fiktion aus der Feder Marmontels, vielmehr hat er ihn ganz offensichtlich aus den Comentarios reales Garcilaso Incas als vermeintlich faktische Wahrheit übernommen. Garcilaso beschreibt Tahuatinsuyu, das präkolumbianische Peru, in seinem Werk als ideale Gesellschaft, in der die Prinzipien der Gerechtigkeit, der brüderlichen Liebe, Barmherzigkeit und Fürsorge regierten. Dem mythischen Inka-Herrscher Manco Capac kommt bei ihm die Rolle eines Zivilisators der im Zustand der Barbarei lebenden Indio-Völker zu, die allein durch Vernunft und Vorbild unterworfen worden seien. Die Geschichte und Gesellschaft Perus, wie sie Garcilaso Inca in seinem Werk darstellt, bot Marmontel also die ideale Folie, vor deren Hintergrund das Thema der Gewissensfreiheit diskutiert werden konnte. Die Alterität Tahuatinsuyus forderte zur philosophischen Diskussion über reli giöse Toleranz vor allem deshalb heraus, weil sie sich als eine historische Realität – ein einst gelebtes autre – präsentierte. Nicht von ungefähr hat Marmontel seine Darstellung mit rund 140 Fußnoten und Quellenverweisen versehen, die dem Roman eine dezidiert faktuale Komponente verleihen.17 Tatsächlich aber ist auch die Andersheit des inkaischen Umgangs mit religiöser Differenz eine Konstruktion, die fest im kulturellen Bezugssystem des europäischen ›Eigenen‹ verankert ist. Dies wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Prätexte wirft, die Garcilaso Inca selbst seinen Comentarios reales zugrunde gelegt hat: Ausgehend von spanischen 16
Ebd., S. 533 f. Siehe auch S. 409: »[…] il [Alonzo, Anm. d.Verf.] prenait plaisir à l’entendre [le peuple amérindien, Anm. d.Verf.] célébrer les vertus des Incas, enfans du Soleil, et mettre au rang de leurs bienfaits l’heureuse révolution qui s’était faite dans ses mœurs, lorsque, par la raison plus que par la force des armes, les Incas l’avaient obligé de suivre leur culte et leurs lois.« 17 Marmontel verweist neben Garcilaso Inca de la Vega u. a. auf die Texte von Benzoni, Las Casas, Solís, Zárate, Herrera und La Condamine.
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Chroniken (Cieza de León, Acosta, Blas Valera, u. a.) einerseits und Gesprächen und Briefen aus dem Freundes- und Verwandtenkreis andererseits entwirft Garcilaso Inca seinen Text als eine Reinterpretation der durch die spanische Historiographie vorgenommenen Darstellung der Geschichte Perus, wobei der präzisen Deutung von Quechua-Begriffen eine zentrale Funktion zukommt.18 Damit schreibt sich der Text sowohl in die Schrifttraditionen des spanischen respektive europäischen Kulturraums ein, wie er der oral vermittelten und im kollektiven Gedächtnis der Inkas bewahrten Geschichtserzählung Stimme verleiht. In inhaltlicher Hinsicht, d. h. in Hinblick auf die Darstellung der sozialen Rahmenbedingungen Tahuatinsuyus, sind die Comentarios reales indes deutlich beeinflusst durch Thomas Mores Utopia (1516).19 In diesem Text hatte der englische Humanist eine im ailleurs gelegene, auf religiöser Toleranz, rationalen Gleichheitsgrundsätzen, Arbeitsleistung und Bildungsstreben basierende Gesellschaft entworfen, in der aller Besitz gemeinschaftlich ist und die Unterwerfung fremder Völker durch Überzeugungskraft und Vorbild erfolgt. In den Comentarios reales nun hat Mores Utopia eine zeiträumliche Verankerung in der präkolumbianischen Inka-Gesellschaft erfahren; Mores Utopus findet seine Verkörperung im mythischen InkaHerrscher Manco Capac. Dabei stellt das Inka-Reich bei Garcilaso Inca eine vorbereitende Stufe auf dem Weg der peruanischen Indios zu ihrer endgültigen Erlösung durch das Christentum dar; Tahuatinsuyu fungiert als praeparatio evangelica – eine Vorstellung, die wiederum von Las Casas übernommen wurde.20 Wenn Marmontel in Les Incas das präkolumbianische Inkareich heranzieht, um vor dem Hintergrund der Andersartigkeit Tahuatinsuyus über die Defizite des Eigenen zu reflektieren, dann greift er dabei mittelbar – bewusst oder unbewusst – auf More zurück und mit dessen Utopia auf den philosophischen Entwurf einer ›anderen‹ heimischen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird evident, dass die Differenz Perus zu den europäischen Gesellschaften, wie sie sich bei Garcilaso Inca und bei Marmontel darstellt, oder genauer: Perus Funktion als positiver Spiegel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts ein ideologisches Konstrukt ist, bei dem die Alterität dem (vermeintlich) ›Anderen‹ ab ovo eingeschrieben ist. Tatsächlich forderte nicht eine ›reale‹ Andersartigkeit der präkolumbianischen Kulturen Marmontel (und mit ihm seine Leser) zur Kritik am Eigenen heraus, sondern umgekehrt: der Wille zur kritischen Reflexion über das Eigene war ursächlich da-
18 Vgl.
Garcilaso de la Vega El Inca: Comentarios Reales. Hrsg. v. José de la Riva-Agüero. México 52006, S. 4. 19 Vgl. Margarita Zamora: Language, Authority, and Indigenous History in the Comentarios reales de los incas. Cambridge 1988. 20 Vgl. ebd., S. 136–151 u. 97.
Marmontels Les Incas
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für verantwortlich, andere Kulturen mit den Attributen spiegelbildlicher Alterität zu versehen. Gleichwohl ist die zeiträumliche Verortung des ›Anderen‹ im Peru der Conquista ein Aspekt, der Marmontels Roman wesentlich von Mores Utopie unterscheidet. Anders als in Mores Utopia ist Alterität nicht mehr ein bloßes philosophisches Gedankenspiel, mit Hilfe dessen die Defizite der heimischen Gesellschaft offen gelegt und kritisiert werden. Vielmehr offenbart sich dem Leser mit Tahuatinsuyu eine zeiträumliche Heterotopie, eine historisch und geographisch lokalisierte Andersheit, die die Verwirklichung alternativer gesellschaftlicher Bedingungen im Hier und Jetzt der französischen Gesellschaft in greifbarere Nähe rücken ließ. Die wissenschaftlichen Expeditionen und Entdeckungsfahrten, die Forscher ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in alle Teile der Erde brachte und die langen Reisen, auf denen im 19. Jahrhundert Künstler und Literaten dann insbesondere den ›orientalischen‹ Raum erkundeten, führten die Europäer an immer neue und auch altbekannte Orte, an denen sich Differenz erfahren ließ. Die Konstruktion dieser Orte als Räume der Alterität, entlang derer Koordinaten die heimische Gesellschaft vermessen und bespiegelt wurde, sollte zu einem festen Element der europäischen Literatur, spezifischer: des exotistischen Romans werden. Marmontels Les Incas stellt nicht zuletzt einen in diesem Sinne typischen Repräsentanten seiner Gattung dar.
Florian Kappeler
Das schwarze Licht der Aufklärung Erzählungen der Haitianischen Revolution im deutschsprachigen Raum Die Haitianische Revolution (1791–1804), erfolgreichster Sklavenaufstand der Geschichte und zugleich erste antikoloniale Befreiung, löst Ideen der europäischen Aufklärung ein und stellt die letztere zugleich in Frage. Das ist keine theoretische These aus heutiger Perspektive, sondern eine zeitgenössische Erzählung, die sich in deutschsprachigen Dichtungen, Zeitschriften und Geschichtsbüchern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts findet. Anhand dieser Quellen sollen im Folgenden zwei Fragen diskutiert werden. Erstens: Inwiefern ist ein narratologischer Zugriff geeignet, die bislang – mit Ausnahme von Heinrich von Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo (1811) – kaum erforschte Rezeption der Haitianischen Revolution im deutschsprachigen Raum zu erfassen?1 Diese theoretische Frage ist nicht loszulösen von einer zweiten, eher empirischen: Geben deutschsprachige Erzählungen der Haitianischen Revolution Auskunft über Prinzipien und Grenzen der europäischen Aufklärung?
1. Feuer und Flamme. Metaphern der Haitianischen Revolution ›Revolution‹ kann um 1800 allgemein weniger als klar umrissener Begriff denn als Komplex von Metaphern und Narrationen verstanden werden.2 So zeigt gerade die deutschsprachige Rezeption der Haitianischen Revolution, dass der Terminus selten definiert wird. Vielmehr spielen Metaphern eine größere Rolle – an erster Stelle die um 1800 allgemein verbreitete geologische Metapher des Vulkanausbruchs. Gerade im Falle Haitis ermöglicht diese Übertragungen zwischen der Geographie und den politischen Ereignissen: »Die Insel […] [ist] bedeckt mit Spuren uralter Erdrevolutionen […]. Man wandelt an mehreren Gegenden auf Vulkanen […]; sie bringen 1
Zur deutschsprachigen Darstellung haitianischer Geschichte allgemein vgl. Karin Schüller: Die deutsche Rezeption haitianischer Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum deutschen Bild vom Schwarzen. Köln 1992. Vgl. außerdem Marie Onana Biloa: Der Sklavenaufstand von Haiti. Ethnische Differenz und Geschlecht in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Köln 2010; Susan Buck-Morss: Hegel, Haiti and Universal History. Pittsburgh 2009. 2 Auf einer noch grundsätzlicheren Ebene betont z. B. Florian Grosser, dass sich das Konzept der Revolution aufgrund seiner rhetorischen Komponenten gegen begriffliche Fixierungen sperrt, vgl. Florian Grosser: Theorien der Revolution zur Einführung. Hamburg 2013, S. 20–24.
Erzählungen der Haitianischen Revolution im deutschsprachigen Raum
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von Zeit zu Zeit unter dampfbrüllenden Donnern Erdbeben hervor, die manchmal plötzlich Abgründe aufreißen.«3 ›Erdrevolution‹ ist um 1800 ein geologischer Begriff, der metaphorisch bald auf politische Revolutionen übertragen wurde.4 Er beschreibt den Wandel der Erdgestalt durch abrupte Naturereignisse wie Vulkanausbrüche. So manche Erzählung der Haitianischen Revolution – hier ihres Ausbruches im Jahre 1791 – könnte wortwörtlich auch ein geologisches Ereignis bezeichnen: »Die ganze Wuth […] bricht jetzt hervor […] wie die Gewalt unterirdischer flammender Gase, die sich erst meilenweit durch Felsen hindurcharbeiten müssen, bevor sie brüllend zum Krater hinausfahren.«5 Diese Übereinstimmung verwundert nicht, geht man mit Donald Davidson davon aus, Metaphern bedeuteten auf der semantischen Ebene wörtlich, was sie bedeuten, während ihre Metaphorizität durch ihren Gebrauch definiert werde.6 Entsprechend entspringt die Revolutionsmetapher der vulkanischen Eruption einer Wechselwirkung zwischen einem geologischen und einem politischen Gebrauch. Aus narratologischer Perspektive legen Metaphern bestimmte Erzählverläufe nahe. So impliziert die Metapher des Vulkanausbruchs eine Narration der Revolution als gewaltvolles Ereignis, das zu einer unumkehrbaren Veränderung der Verhältnisse führt. Ein Gegenbeispiel wäre die astronomische Metapher der Umwälzung, die eher auf ein zyklisches Modell der Revolution verweist, in den Quellen zu den haitianischen Ereignissen aber kaum verbreitet ist. Der Terminus der Haitianischen Revolution oder – entsprechend des früheren Namens der französischen Kolonie – der »einheimischen Revolutionen Westindiens und vor allen Domingo’s«7 ist also kein klar definierter Begriff, sondern übersetzt naturgeschichtliche Seman3 Karl
Ferdinand Philippi: Geschichte des Freistaats von St. Domingo (Hayti). Dresden 1826–1827, S. 1 f.; vgl. ganz ähnlich auch Wilhelm Jordan: Geschichte der Insel Hayti und ihres Negerstaats. 2 Bde. Bd. 1. Leipzig 1846, S. 2 ff. und in der Dichtung Theodor Mügge: Toussaint. 4 Bde. Stuttgart 1840 [im Folgenden: T], hier: T 2, 376 f. 4 Vgl. dazu Wolfert von Rahden: Revolution und Evolution. In: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 1 (2012) (http://www.zfl-berlin.org/tl_files/zfl/downloads/publikationen/ forum_begriffsgeschichte/ZfL_FIB_1_2012_1_Rahden_Revolution.pdf, Aufruf 22. 03. 2016); Karl Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung. Frankfurt a. M. 1992. 5 Jordan: Geschichte der Insel Hayti, S. 164; vgl. ähnlich Heinrich Handelmann: Geschichte der Insel Hayti. Kiel 1856, S. 58; Karl Eduard Meinicke: Versuch einer Geschichte der europäischen Colonien in Westindien. Weimar 1831, S. 396; Johann Valentin Hecke: Reise durch die Vereinigten Staaten von Nord-America und Rückreise durch England. Nebst einer Schilderung der Revolutions-Helden und des ehemaligen und gegenwärtigen Zustandes von St. Domingo. 2 Bde. Bd. 2. Berlin 1821, S. 202. 6 Donald Davidson: Was Metaphern bedeuten. Frankfurt a. M. 1986. 7 Karl von Rotteck: Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten für denkende Geschichtsfreunde bearbeitet. 9 Bde. Bd. 9. Freiburg i.Br. 1826, S. 386.
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tiken in politisch-historische Kontexte und strukturiert dabei Muster des Verlaufs der Umwälzung oder schlicht: Erzählerische Plots. Ein narratologischer und metaphorologischer Ansatz dürfte uns deshalb über die Haitianische Revolution mehr erzählen als eine Begriffsanalyse. Dies lässt sich gut an der Verknüpfung von Revolution, Aufklärung und Ökonomie belegen: Insbesondere in den Jahren vor dem Sieg der Haitianischen Revolution (1803/04) herrscht im deutschsprachigen Raum eine einfache Erzählung vor: Haiti sei »vor den Umständen, welche sie während der Revolution verheerte, die blühendste […] unter den Antillen« gewesen.8 Das koloniale Regime der Sklaverei brachte demnach ökonomischen Wohlstand, die Revolution Destruktion. Das konservative Politische Journal verbindet diese Erzählung mit der Metapher des Lichts einerseits und einer Metonymie des Schwarzen andererseits: »Der Revolutions-Clubb […] les amis des noirs […] hat eine seltsam schwarze Erscheinung zu Folge gehabt. Von den Schwarzen ist nun ein neues Licht geschaffen worden, welches […] Europas Handel verbrennen kann, und wird.«9 Die von aufklärerischen Ideen beeinflusste Société des Amis des Noirs (Gesellschaft der Freunde der Schwarzen), die in den Jahren 1788 bis 1793 für die Abschaffung des Sklav_innenhandels und die Rechte von (freien) Menschen mit schwarzer Hautfarbe agitierte, wird hier als Auslöser der Haitianischen Revolution dargestellt. Die Revolution selbst und nicht nur die Hautfarbe der Revolutionär_ innen wird damit zur negativ konnotierten »schwarzen Erscheinung« und zugleich in schillernder Weise mit der prominentesten Metapher der Aufklärung – der des Lichts – verbunden: Indem die Akteur_innen mit schwarzer Hautfarbe mittels des Lichts der Aufklärung die Flamme der Haitianischen Revolution entzünden, zerstören sie die europäische Kolonialökonomie. Diese Diffundierung der aufklärerischen Lichtmetapher und einer rassistisch aufgeladenen Metonymie des Schwarzen erlaubt es, auch auf die Aufklärung selbst ein fragwürdiges Licht zu werfen: Diese erscheint als Gefahr, zumindest wenn sie in die Hände von Menschen mit schwarzer Hautfarbe gerät. Die Metaphorik von Licht und Flamme verweist zurück auf die Revolutions metapher des Vulkanausbruchs und lässt dabei – wenn sie narratologisch dechiffriert wird – vermuten, an welchem Punkt sich Aufklärungs- und Revolutionserzählungen im Falle Haitis nicht nur treffen, sondern auch trennen: Die eruptive Plötzlichkeit der Revolution ist mit einem evolutiven Prozess der Aufklärung kaum mehr kompatibel. So treten aufklärerische Positionen im deutschsprachigen Raum meist durchaus für eine allmähliche Abschaffung oder zumindest Reform der Skla8
Anonym: St. Domingo. In: Europäische Annalen 2 (1802), S. 189–204, hier: 189. Anonym: Die neue Neger-Republik in Westindien. Frankreich verliert Domingo. Die Insel formirt einen Freystaat. In: Politisches Journal 1 (1804), S. 153–159, hier: 153. 9
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verei ein, lehnen jedoch schnelle revolutionäre Umwälzungen wie in Haiti fast immer ab. Im Jahre 1815 wird selbst im Politischen Journal im Gegensatz zu früheren Positionen die Aufhebung des Sklav_innenhandels durch die Haitianische Revolution als »das einzige Mittel« bezeichnet, »Westindien den Europäern zu erhalten«, indem man »die Neger nach und nach […] dem Zustande der gemeinen, freyen, arbeitenden Volksclassen im mittleren Europa nähert«.10 Diese allmähliche Wende zur Lohnarbeit bezeichnet die Stelle, an der Aufklärungsnarrative für die Rezeption der Haitianischen Revolution virulent werden, denn »Aufklärung und Verfeinerung« werden als quasi-evolutiver Effekt der kapi talistischen Warenzirkulation aufgefasst und es wird postuliert, erst durch den Kontakt mit europäischen Waren könnten die ›Schwarzen‹ ›zivilisiert‹ werden. Befürchtet wird hingegen, die Revolutionär_innen mögen auf die Idee kommen, sie »braucht[en] keinen Capitalisten, der [sie] employire«.11 Erzählerische Plots implizieren also Argumente. Indem sie Ereignisse verknüpfen, suggerieren sie kausale Beziehungen: Affirmativ gebraucht werden können Narrative der Aufklärung genau dann, wenn sie ideologisch der kapitalistischen und kolonialen Ausbeutung dienen und einem revolutionären Bruch entgegenstehen. Wird hingegen die Revolution wie in den früheren Quellen narrativ und metaphorisch mit der Aufklärung verbunden, so gerät diese selbst in Misskredit. Und ist die Revolution die Flamme eines Vulkans, dann bricht sie abrupt aus und begründet gewaltvoll eine neue Gestalt der Verhältnisse, die kaum noch in Narrative der Aufklärung integriert werden kann.
2. Imitation und Inversion. Revolutionserzählungen als Nexus von Geschichtsschreibung und Dichtung Narrativität verbindet nicht nur Plots und Argumente, sondern auch Geschichtsschreibung und Dichtung. So wird sie in der zeitgenössischen deutschen Historiographie der Haitianischen Revolution als konstitutives Element aufgefasst – und in ›literarischen‹ Erzählungen umgekehrt historiographisches Wissen reklamiert. Die Aufgabe der Geschichtsschreibung ist demnach, historische Quellen in eine Erzählung zu integrieren. Narrativität ist somit ein zentraler Bestandteil historiographischen Wissens. Das impliziert dem Geographen und Historiker Karl Eduard Meinicke zufolge, »jede[…] Begebenheit […] nicht als etwas Einzelnes, sondern als ein Glied der Kette aller Erscheinungen eines Zeitraums anzusehen«.12 Erzählen bedeu10 Johann
Nikolaus Gloyer: Phantasie über die Zukunft Westindiens. In: Politisches Journal 1 (1815), S. 131–138 u. 208–217, hier: 131. 11 Gloyer: Phantasie, S. 136 f. 12 Meinicke: Versuch einer Geschichte, S. 369.
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tet, Ereignisse zu verknüpfen. Diese Bestimmung kann auch der Analyse zugrunde gelegt werden: Ein narratologischer Zugriff zielt auf den Modus der Verknüpfung von Ereignissen (wie etwa der Französischen und der Haitianischen Revolution) in zeitlichen Sequenzen. Umgekehrt haben Dichtungen der Revolution an historiographischem Wissen teil – auch aus der Perspektive der Geschichtsschreibung selbst. So begreift Wilhelm Jordan in seiner Geschichtsmonographie Geschichte der Insel Hayti und ihres Negerstaats (1846) Theodor Mügges Roman Toussaint (1840) nicht als reine Dichtung, sondern als Fundus historiographischen Wissens: »das interessante Buch Mügge’s ist zwar ein Roman, beruht aber in allen seinen historischen und nicht ganz offenbar nur dichterischen Parthieen […] auf umfassenden, gründlichen und oft sehr detaillierten Quellenstudien; es ist daher sehr möglich, dass auch diese Züge mehr als bloße Erfindung sind.«13 Jordan trennt also Dichtung und Geschichtsschreibung anhand der Kategorie der subjektiven Erfindung, welche der ersteren zugeschrieben wird, sieht aber ein verbindendes Glied im gemeinsamen Bezug auf historische Quellen. Und tatsächlich werden in Mügges Roman »Geschichtsschreiber und Augenzeuge[n]« (T 3, 235 f.) aufgerufen, um die Glaubwürdigkeit des Erzählten zu autorisieren, und es finden sich direkte Zitate historischer Quellen wie etwa das »seltsame Aktenstück« (T 1, 216 f.) eines Schreibens haitianischer Revolutionär_innen. Auch im Vorwort von Julius von Voß’ Roman Ignaz von Jalonski oder die Liebenden in der Tiefe der Weichsel. Eine wahre Geschichte aus den Zeiten der Polnischen, Französischen und Negerrevolution in St. Domingo (1806) wird behauptet, Basis der hier berichteten »wahren Geschichte« seien mündliche Erzählungen, Schriften und Briefe des Protagonisten seines Romans, eines dem Autor angeblich persönlich bekannten historischen Augenzeugen der Revolution. Ziel seiner Dichtung sei entsprechend in erster Linie »nicht […] die Form, sondern […] die ehrwürdige Materie«14: Voß inszeniert seinen Roman als narratives Medium historiographischen Wissens. Sowohl Narrativität als auch der Bezug auf historische Quellen sind also für das Selbstverständnis der zeitgenössischen Geschichtsschreibung wie auch der Dichtung der Haitianischen Revolution konstitutiv. Dagegen werden beide mittels der Kategorie der Poetizität voneinander unterschieden. Nur aufgrund einer impliziten Abgrenzung von Narrativität und Poetizität kann etwa der Geschichtsschreiber Karl Ferdinand Philippi in seiner Monographie der Haitianischen Revolution die erzählerische Qualität der Histoire de l’ insurrection des esclaves dans le nord de Saint-Domingue (1818) des französischen Schriftstellers Antoine Métral loben, zu13 Jordan:
Geschichte der Insel Hayti, S. 320. von Voß: Ignaz von Jalonski oder die Liebenden in der Tiefe der Weichsel. Eine wahre Geschichte aus den Zeiten der Polnischen, Französischen und Negerrevolution in St. Domingo. Berlin/Leipzig 1806, S. 2 f. 14 Julius
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gleich aber kritisieren, dass dieser »seinen feurigen republikanischen Pinsel gern in poetische Farben taucht, und dadurch sein Urtheil und Zeugniß zuweilen trübt«.15 Während eine Narration historische Ereignisse verknüpft und damit eine Bedingung der Geschichtsschreibung darstellt, wird das Poetische als subjektive rhetorische Ausschmückung begriffen und von der Historiographie abgegrenzt. Dies sollte allerdings nicht zu der Annahme verführen, Poetizität könne allein der Dichtung zugeschrieben werden. So finden sich Metaphern der Haitianischen Revolution in der Geschichtsschreibung sogar häufiger – und die Metapher ist bekanntlich in erster Linie nicht eine verdichtete Erzählung, sondern eine rhetorische Trope. Gleichwohl werden Dichtung und Geschichtsschreibung auch aus der Perspektive einer bestimmten Richtung der Literaturkritik16 voneinander abgegrenzt, wie etwa eine Rezension von Mügges Roman Toussaint im Journal Athenäum. Zeitschrift für das gebildete Deutschland vom 19. 6. 1841 zeigt, in welcher dieser als zu ›unpoetisch‹ kritisiert wird: »es fehlt die Ruhe, welche uns in die reine Sphäre des Poetischen führt […]. Es entsteht eine Mischung von Geschichte und Poesie, welche von der wahren Kunst abirrt«.17 Das Poetische soll demnach ganz der Dichtung gehören, während die Geschichtsschreibung in eine eigene Domäne verwiesen wird. Die jeweilige Spezifität von Historiographie und Dichtung wird also aus den Perspektiven beider Bereiche über die Kategorie der Poetizität bestimmt, während die der Narrativität sie eher verbindet. Ein prominentes Beispiel für eine solche Verbindung, das sich in Geschichtsbüchern wie in Dichtungen gleichermaßen – wenn auch nicht in ganz gleicher Weise – findet, ist ein Narrativ der Imitation: Die Haitianische Revolution wird als reine Nachbildung europäischer Muster erzählt. Dies können aufklärerische Prinzipien sein – beispielsweise werden Nachrichten von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Frankreich als Ursache der Erhebung in Haiti dargestellt – oder auch konkrete Abläufe der Französischen Revolution: So heißt es bei Karl Ferdinand Philippi, »die französische Revolution lebte gleichsam in einem Nachspiele auf St. Domingo fort«, und Wilhelm Jordan schreibt: »Alle Phasen der Revolution hatten ihren Wiederschein auf St. Domingo«.18 Dieses Imitationsnarrativ kulminiert besonders in Dichtungen in einer parodistischen – und damit auch genuin poetischen – Erzählung, in der die haitianischen 15
Philippi: Geschichte des Freistaats, S. 75. solcher Begriff der Dichtung wird nicht überall vertreten. So rezensiert etwa die Zeitung für die elegante Welt vom 22. und 23. 10. 1841 Mügges Roman deutlich positiver und folgt dabei eher einem realistischen und prosaischen Begriff der Dichtung. 17 Eduard Meyen: Rezension von Theodor Mügge, Toussaint. In: Athenäum. Zeitschrift für das gebildete Deutschland 24 (1841), S. 376–378, hier: 377 f. 18 Philippi: Geschichte des Freistaats, S. 128; vgl. auch Jordan: Geschichte der Insel Hayti, S. 108 f. 16 Ein
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Revolutionär_innen sich mittels europäischer Kleidung Ansehen zu verleihen versuchen. So wird im Roman von Mügge notorisch unterstellt, die ›schwarzen‹ Revolutionär_innen ahmten qua Verkleidung in missglückter Weise europäische Sitten nach: Ein dürrer, affenartiger Neger von der äußersten Hässlichkeit steckte in einem rothen Uniformrocke mit schweren goldenen General-Epauletten […]. Grüne Unterkleider und hohe Reiterstiefeln gaben dem Ganzen einen Zug von Lächerlichkeit, der durch eine Reihe von Ehrenzeichen und Ordensbändern und Ketten vergrößert wurde.19 (T 1, 297)
Die Position der haitianischen Revolutionär_innen innerhalb dieses Narrativs ist aporetisch: Verleihen sie aufklärerischen Prinzipien Geltung und setzen sie in ihrer eigenen revolutionären Praxis um, so ist der eurozentrische Vorwurf, es handle sich dabei um ein bloßes »Nachspiel« (Philippi) oder einen fahlen »Wiederschein« (Jordan) der Revolution im Herzen Europas. Eignen sie sich dagegen die Positionen und die Kultur herrschender europäischer Klassen an, so wird auch dies in rassistischer Weise erzählerisch parodiert und Menschen mit schwarzer Hautfarbe eine »affena rtige Nachahmungssucht« (T 2, 153) unterstellt. Eine Parodie wurde zumindest vor dem 20. Jahrhundert häufig als Nachahmung verstanden, bei der einer bestimmten Form ein dieser unangemessener Inhalt gegeben wird. Begreift man nicht nur poetische Genres oder Schreibweisen, sondern auch Kleidung als kulturelle Form der Darstellung, dann wird den haitianischen Revolutionär_innen unterstellt, ihre Körper in übertriebener Weise mittels europäischer Uniformen und Abzeichen aufzuwerten. Missglückt ist die Nachahmung in dieser rassistischen Perspektive aufgrund der Inkompatibilität der Körper der ›Schwarzen‹ und der euro päischen Kleidung. Doch wirft die Parodie auch ein Schlaglicht auf Europa, wenn die Frage aufgeworfen wird, ob das von den Revolutionär_innen Imitierte selbst geglückt ist. So spricht Mügge von einer »europäischen Ordenssucht« (T 1, 297) und Johann Valentin Hecke schreibt in seinem Reisebericht zur Revolution in Haiti: »Wir hören […] von Neger-Generälen und Neger-Clerus, die unserem entfernten Blicke gleich dramatischen Personen einer travestirten Komödie erscheinen. Eine nähere Betrachtung wird uns überzeugen, daß sie in allen diesen Dingen bloß uns nachahmen.«20 Aus seiner Perspektive außerhalb Europas beansprucht Hecke einen weniger projektiven Blick: Diesem zufolge imitieren die haitianischen Revolutionär_innen europäische Formen, ohne sie theatralisch zu travestieren. Die Travestie wird traditionell als Pendant des Parodierens aufgefasst, nur dass in diesem Fall die Form als dem 19
Vgl. ähnlich Voß: Ignaz von Jalonski, S. 303 f. Reise durch die Vereinigten Staaten, S. 196 (Herv. d. Verf.).
20 Hecke:
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Inhalt unangemessen empfunden wird. Anders als bei Mügge wird bei Hecke also von vorneherein die Form des theatralischen Verkleidungsspiels selbst als fragwürdig dargestellt – und nicht die Körper der Revolutionär_innen mit schwarzer Hautfarbe. Da das erstere aber auch in Europa eifrig betrieben wird, wirft die Imitation ein kritisches Licht auf die imitierten europäischen Formen selbst. Diese Rückwirkung der Imitation auf das Imitierte wird in einigen Schriften zu einer Inversion des Imitations-Narrativs zugespitzt. So schreibt der Staatswissenschaftler Karl Heinrich Ludwig Pölitz, dass die haitianischen Revolutionäre »eine ungewöhnliche […] Fertigkeit in der Nachbildung europäischer Staatsformen verriethen«, dies allerdings »mit Verfassungsgrundsätzen und Regierungsformen, wie sie kaum in den freisinnigsten Constitutionen der europäischen Republiken seit dem letzten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts angetroffen wurden!«21 Die Chronologie der Erzählung bei Pölitz ist verkehrt, denn das Imitat geht dem Imitierten, die Kopie dem Original voran. Der Nachbildung europäischer Formen (Prinzipien, Ereignisse, Sitten) in Haiti wird das revolutionierte Haiti als Vorbild für Europa an die Seite gestellt. Hier imitieren nicht die haitianischen Revolutionär_innen ein selbst schon fragwürdiges Europa, sondern ihre Verfassungen und Regierungsformen sind ganz im Gegenteil den fortschrittlichsten europäischen Staaten überlegen: Die Haitianische Revolution wird zur Avantgarde der Aufklärung.
3. Projektion und Reversion. Die Haitianische Revolution als narrative Brechung der Aufklärung Den Ausgangspunkt der bisherigen Überlegungen bildeten zwei Fragen: Ist Narra tivität eine angemessene theoretische Kategorie, um die deutschsprachige Rezeption der Haitianischen Revolution zu erforschen? Und: In welcher Beziehung steht diese mit Narrativen der Aufklärung? Fassen wir unsere Beobachtungen zusammen, so ergeben sich zwei Thesen, die jeweils beide Fragen betreffen. Erstens kann die deutschsprachige Rezeption der Revolution in Haiti weniger begriffsgeschichtlich als metaphorologisch erfasst werden. Metaphern legen bestimmte Narrationen nahe: Der Vulkanausbruch etwa die einer abrupten revolutionären Eruption im Gegensatz zu längerfristigen Transformationen. Die aufklärerische Lichtmetapher wird dabei, so ein weiteres Beispiel, zur revolutionären Flamme. Die Aufklärung und die Haitianische Revolution sind dann entweder Gegensätze – nämlich wenn der Vergleichspunkt die gewaltvolle Eruptivität der Revolution ist, die mit Kolonia21 Karl
Heinrich Ludwig Pölitz: Die Staatensysteme Europa’s und Amerika’s seit dem Jahre 1783, geschichtlich-politisch dargestellt. 3 Bde. Bd. 1. Leipzig 1826, S. 504 f. Vgl. ähnlich Handelmann: Geschichte, S. 81.
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lismus, Sklaverei und Kapitalismus bricht. Oder die Haitianische Revolution wird als logische Realisierung aufklärerischer Ideen wie der Abschaffung des Sklav_innenhandels angesehen. Wenn Narrativität als Verknüpfung von Ereignissen in zeitlichen Sequenzen verstanden wird, dann verbindet sie – so die zweite These – Geschichtsschreibung und Dichtung; umgekehrt kann der Bezug auf historische Quellen auch einigen Dichtungen zugeschrieben werden. Poetizität im Sinne subjektiver Erfindung wird hingegen von beiden eher der Dichtung zugesprochen. Ein Beispiel für die Verknüpfung von Historiographie und Dichtung ist das Narrativ einer Imitation der europäischen Aufklärung und der Französischen durch die Haitianische Revolution. In einigen Dichtungen wird dieses parodistisch zugespitzt und kann zu einer eurozentrismuskritischen Erzählung invertiert werden, in der die Haitianische Revolution als Vorbild für Europa erscheint. Damit wird ein Raum der Projektion, aber auch der Reversion eröffnet, in dem die europäische Aufklärung selbst zur Disposition steht. Die literarische Erzählung Der König von Akim (1818) des Schweizer Historikers Heinrich Zschokke bringt dies auf den Punkt: Seit aber Neger und Negermädchen […] auf der Insel Haiti […] Verfassungen und Gesetze haben, die sich mancher gescheite Mann sogar in manches europäische Ländchen hineinwünschen möchte, ja, seitdem hat sich die Meinung vom Verstand der Neger etwas geändert, und die großen Gelehrten mit ihren unsterblichen Werken sehen seitdem etwas unverständig aus.22
Das hellste Licht der Aufklärung ist schwarz und lässt uns Schattenseiten von Staat und Wissenschaft in Europa erkennen.
22 Heinrich
Zschokke: Der König von Akim. In: Ders. u. Ernst Hermann Joseph Münch (Hrsg.): Heinrich Zschokkes ausgewählte Schriften. 40 Bde. Bd. 3. Aarau 1825, S. 285–305, hier: 289.
Katja Kremendahl
Vom Anderen in den Reiseberichten des Kapitäns James Cook Eine Funktionsanalyse des Tabus When dinner came upon table, not one of them would sit down, or eat a bit of any thing that was served up. On expressing my surprise at this, they were all taboo, as they said; which word has a very comprehensive meaning; but, in general, signifies that a thing is forbidden. (15. 06. 1777, veröffentlichtes Tagebuch des Kapitäns James Cook)1
Die Komplexität und Bedeutung des Tabus in den 1784 veröffentlichten Tage büchern der dritten Südseereise des Weltumseglers und Kapitäns James Cook lässt sich bereits in der ersten Erwähnung des Begriffs erahnen. An dieser wie auch an weiteren Tabustellen, die man für Juni/Juli 1777 findet, soll beispielhaft gezeigt werden, wie Cook eine andere Form in der Darstellung jener Ereignisse2 einsetzt: Die Faktengetriebenheit, die den Reisebericht des 18. Jahrhunderts gemeinhin ausmacht, unterbricht er an diesen Stellen mit einer Narration, die in Inhalt, Dramatik wie auch im Stil eher fiktional als faktual anmutet.3 In der Begegnung mit dem Fremden wird das polynesische Tabu-Konzept funktionalisiert und konfiguriert als ein Ereignis, welches Cook eine verstärkte fiktionale Narrativierung der Reisetagebücher erlaubt ohne den Anspruch an den Realitätscharakter aufzugeben. Dies ist insbesondere in der Beschreibung des Tabus innerhalb eines polynesischen Initiationsrituals namens Natche auf der Insel Tongataboo am 7./8. Juli 1777 erkennbar. Cook kann an dieser Stelle mit der Einbettung textinterner Erzählelemente, wie Spannungsbögen und Stilelementen einer Mauerschau, seine ansonsten faktische Berichterstattung der Reise – und damit sein enzyklopädisches Projekt – unterbrechen bzw. vielmehr anreichern. Mit der veränderten Redesituation kann er den »armchair traveller«4 oder, wie Cook ihn selbst nennt, den philosophischen Leser, mit einem »matter of amusement« (V 2, 365) unterhalten. Das Tabu wird so auf zweifache Weise in Cooks aufklärerischem Prozess eingesetzt: Die Begegnung mit 1 James Cook: A Voyage to the Pacific Ocean. 3 Bde. Dublin 1784 [im Folgenden: V], hier: V 2, 286. 2 Zum Begriff des ›Ereignisses‹ und der ›Ereignishaftigkeit‹ siehe Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin 2014, S. 12–18. 3 Zur ›faktualen Erzählung‹ siehe Gérard Genette: Fiktion und Diktion. München 1992, S. 66. 4 Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt a. M. 2008, S. 109.
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dem Anderen wird faktisch im Sinne »der starren Erkenntnisprogramme […] der enzyklopädischen Reisenden«5 durch die Aufnahme des exotischen Begriffs Tabu in den okzidentalen Wort- und Erfahrungsschatz ermöglicht (den ersten Eintrag findet man bereits in der dritten Edition der Encyclopædia Britannica, 17976). Gleichzeitig wird mit den langen Passagen zu den Tabu-Ritualen auch immer eine authentisierte Fiktionalisierung der Darstellung inszeniert, die jedoch nie den »Anspruch auf unmittelbare Referenzialisierbarkeit, d. h. Verwurzelung in einem empirischwirklichen Geschehen« aufgibt.7 Somit kann Cook schlussendlich das Spannungsverhältnis zwischen textinternen Fiktionssignalen und seinem faktualen Authentizitätsanspruch produktiv auflösen.
1. Reiseberichte im 18. Jahrhundert – Der Umgang mit dem Anderen Aufklärerische Denkweisen führen Ralph-Rainer Wuthenow zu Folge in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zu einer Umorientierung der Gattung der ReiseErzählung.8 Die noch in der Apodemik vorhergehender Jahrhunderte verhaftete Reiseliteratur bemüht sich, sich von den Legitimationsverankerungen an antike Berichterstatter zu lösen und sich durch autoptische Strategien zu legitimieren.9 Diese Strategien manifestieren sich in einer Authentisierung durch die Form der Eigenbeobachtung,10 der Ich-Erzählung und der Technik des mikrologischen Realismus.11 So verabschiedet man sich von der bisher üblichen Form der »utopischidealisierende[n] Reisebeschreibung«12 , die mit ihren konventionalisierten Erzählschemata das Genre über Jahrhunderte geprägt hatte. Peter Brenner geht so weit, die Veränderung der Gattung aus der Aufklärung heraus zu lesen und erkennt eine »von der Aufklärung festgeschriebene[…] Prävalenz des autoptischen Darstellungsprinzips […]. Neu ist besonders das Interesse der Aufklärung an der Art der 5
Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990, S. 152. 6 »TABOO, a word used by the South Sea islanders, nearly of the same import as prohibited or interdicted. It applies equally to persons and things, and is also expressive of any thing sacred, devoted, or eminent« (Art. Taboo. In: Encyclopædia Britannica. 18 Bde. Bd. 18. 31797, S. 269). 7 Matías Martínez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 92012, S. 15. 8 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeit alter der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1980, S. 15. 9 Die lange Tradition der Apodemik setzt sich bis ins 18. Jahrhundert fort und differenziert sich hier weiter aus. Vgl. Brenner: Der Reisebericht, S. 156. 10 Hier die »Berufung durch eigene Wahrnehmung«. Ebd., S. 162. 11 Vgl. William E. Stewart: Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Bonn 1978, Kapitel 2.1, hier insbes.: 31–34. 12 Stewart: Die Reisebeschreibung, S. 32.
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Darstellung, die sich wiederum auf die spezifische Erlebnisform und die Art der Erfahrung gründet.«13 Konsequenz sei, dass der ›quantifizierende Blick‹ auf das Fremde von einem ›ästhetisierenden Blick‹ abgelenkt wird.14 Dabei ist Fremdheit hier, Ortfried Schäffter zufolge, ein relationales Phänomen, für dessen Beschreibung die betrachtende Person auf erlernte Ordnungsschemata als methodisches Regulativ zurückgreift.15 Dabei entsteht eine Doppelung: als Fremder ist der Reisende den Situationen ausgesetzt, denen er mit Neugierde oder Verunsicherung begegnen kann. Diese außerliterarische Erfahrung muss er anschließend verarbeiten und durch ihre Narrativierung dem Leser vermitteln. Dabei muss das Fremderlebnis so dargestellt werden, dass es direkt und unvermittelt erscheint. Die Fremderfahrung muss so einerseits beherrschbar und kontrolliert sein, sollte aber andererseits nicht so erscheinen, wenn der Bericht glaubwürdig und realitätsnah sein möchte. Darüber hinaus darf das Spannungsverhältnis zwischen dem Kontrollverlust in der Begegnung mit dem Fremden und der absoluten Kontrolle über die Darstellung der Erfahrung wiederum nicht im Reisebericht selbst erkennbar sein, soll die Erzählung als authentisch wahrgenommen werden.
2. Die Veröffentlichungen der Tagebücher des Kapitäns James Cook Wie das Fremde beschrieben wird, ist laut Brenner von dem sozialen Status des Reiseberichterstatters abhängig, den »persönlichen Dispositionen des Reisenden, die sich kristallisieren in seinem Bildungsstand, seinen Vorkenntnissen, seinen Interessen und seiner allgemeinen Wahrnehmungsfähigkeit.«16 Gerade für Cooks Reiseberichte sind diese Voraussetzungen des Verfassers von ausschlaggebender Bedeutung. Denn im Gegensatz zu dem Typus des intellektuellen Reisenden – wie er unter anderem von Vater und Sohn Johann Reinhold und Georg Forster verkörpert wird – handelt es sich bei dem Autodidakten Cook um einen »anti-intellektuel-
13 Brenner:
Der Reisebericht, S. 29 u. 149. Stephan Jaeger spricht hier von einer »Verschiebung zum Partikularen«. Stephan Jaeger: Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel. Berlin 2011, S. 5. 14 Brenner nennt ihn den »ästhetischen Blick«. Peter J. Brenner: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts. In: Ders. (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M. 1989, S. 14–49, hier: 35. 15 Vgl. Ortfried Schäffter: Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit. In: Ders. (Hrsg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen 1991, S. 11–44, hier: 12. 16 Brenner: Die Erfahrung der Fremde, S. 27.
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len Aufklärer«17 mit nur rudimentärer Schulbildung.18 Die Konsequenzen für die Reiseberichte Cooks bringt Percy Adams auf den Punkt: »Not being trained in literature as he had been in draughtsmanship and navigation, Cook’s own journals were, especially for the first voyage, not well written.«19 Der von der Royal Society bestellte Dichter John Hawkesworth, der an keiner Reise teilgenommen hat, hatte eine solche dichterische Freiheit in der Gestaltung der Ereignisse walten lassen, dass die Veröffentlichung – trotz ungebrochen hoher Beliebtheit – schnell zum Gespött der englischen Öffentlichkeit wurde. Unzufrieden mit der Redaktion seines ersten Tagebuches, verändert Cook in den zwei nachfolgenden Reisetagebüchern die Narrativierung der Ereignisse auffallend. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – Cook lange Passagen zu außergewöhnlichen Fremderlebnissen in seinen späteren Reiseberichten einschließt, distanziert er sich von den frei erfundenen Ereignisberichten des Dichters.20 In der Einleitung zu seinem Tagebuch der zweiten Reise, A Voyage towards the South Pole and Round the World, stellt Cook zunächst die verschnörkelten ›Lügenberichte‹ Hawkesworths seinen ›eigenen Worten‹ gegenüber. Diese alleine sollen als autoptisch begründete Erzählung Wahrheitsanspruch haben: I leave this account of my last voyage in the hands of some friends, who in my absence have kindly accepted the office of correcting the press for me; who are pleased to think, that what I have here to relate is better to be given in my own words, than in the words of another person; […] in which, it is their opinion, that candour and fidelity will counterbalance the want of ornament. [The Public] will, I hope, consider me as a plain man, zealously exerting him in the service of his Country, and determined to give the best account he is able of his proceedings.21 17
Russell Berman: Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Culture. Lincoln 1998, S. 60 f. Cook schreibt selbst: »[The reader] will recollect that [this narrative] is the production of a man, who has not had the advantage of much school education, but who has been constantly at sea from his youth; […] he has had no opportunity of cultivating letters« (Plymouth Sound, July 7, 1776. In: James Cook: A Voyage Towards the South Pole and Round the World. 2 Bde. Bd. 1. London 1777, S. XXXVI). 18 Vgl. Percy G. Adams: Travel Literature Through the Ages. An Anthology. New York 1988, S. 301. 19 »It has been shown, however, that Banks and the mathematician Wales on the second voyage helped improve Cook’s style. And by the third voyage he was writing his best« (Adams: Travel Literature, S. 302). 20 Die Authentizität der Erzählung betont er immer dann, wenn die Narration als zu unglaubwürdig anmuten könnte: »[…] such a meeting, at such a place, so accidentally visited by us, may well be looked upon as one of those unexpected situations, with which the writers of feigned adventures love to surprise their readers, and which, when they really happen in common life, deserve to be recorded for their singularity« (V 2, 200). 21 Plymouth Sound, July 7, 1776. In: Cook: A Voyage Towards the South Pole, S. XXXVI (Herv. d. Verf.).
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Mit dieser Rechtfertigung verortet er die Authentizität seiner Erzählung in eben dieser Ungebildetheit, die ihn darüber hinaus von Autoren der intellektuellen Aufklärung abgrenzt.22 In diesem zweiten Schritt distanziert sich Cook als patriotischer Engländer von der zu erwartenden Veröffentlichung seines Mitreisenden der 2. Reise, Georg Forster, mit dem er in einem inhaltlichen sowie zeitlichen Wettstreit lag. Der Deutsche Forster war laut Gerhard Steiner von der Vorstellung beseelt, die »Ideen der Aufklärung und eines neuen Humanismus auf die Betrachtung und Bewertung der Beobachtungen und Erfahrungen angewendet zu sehen«23. Cook hingegen stellt seine Erlebnisse nicht als eine »Ich-Erfahrung durch verarbeitende Aneignung des Fremden«24 dar. In seinem Weltaneignungsmodell 25 bleibt die beschreibende Narrativierung der Fremderfahrung im Mittelpunkt. Darüber hinaus begründet eine auf enzyklopädische Forschungsergebnisse fokussierte Perspektivierung der Berichte durch Cooks Auftraggeber, der Royal Society, die begrenzten Trajektorien der Erzählung.26 Diese enzyklopädische Perspektivierung Cooks wird dann aber wieder stellenweise von einem Abenteuergeist unterlaufen. Im Vergleich zu seinem ansonsten so nüchternen Pragmatismus der Erzählung mutet dies kurios an und ist eine Besonderheit dieser Reiseberichterstattung, welche insbesondere in den Tabustellen ihren bemerkenswerten Ausdruck findet.
3. Die Funktion des Tabus im Reisebericht Cooks »[T]aboo, […] has a very comprehensive meaning« (V 2, 286), heißt es in der zu Beginn zitierten ersten Stelle des Cook’schen Tagebuches zum Konzept des Tabus. Dieser Eintrag wird gemeinhin als der erste schriftliche Nachweis dieses polynesischen Wortes in einer europäischen Sprache gehandelt.27 In der Narrativierung des 22 Vgl.
Birgit Tautz: Cutting, Pasting, Fabricating. Late 18th-Century Travelogues and their German Translators between Legitimacy and Imaginary Nations. In: The German Quarterly 79 (2006), S. 155–174, hier: 162. 23 Gerhard Steiner: Georg Forster. Stuttgart 1977, S. 15. 24 Brenner: Der Reisebericht, S. 150. 25 Zur Spannbreite der Weltaneignungsmodelle in der Reiseliteratur der Aufklärung siehe Kapitel VI »Enzyklopädische und philosophische Weltaneignung« in Ralph-Rainer Wuthenow: Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1980, S. 351–377. 26 Die Royal Society hatte die Rechte an allen Reisetagebüchern der drei Südsee-Reisen Cooks. Cook selbst arbeitete an der Veröffentlichung des Tagebuchs seiner zweiten Reise mit dem Domherrn John Douglas zusammen, der nach dem Tod Cooks auf der dritten Reise auch dessen letztes Tagebuch redigierte und dieses stellenweise mit dem Reisebericht des mitreisenden Arztes und Naturforschers auf der zweiten und dritten Reise, William Anderson, anreicherte. 27 Genaugenommen, jedoch in der Literaturkritik nicht erwähnt, ist dies nicht das erste Mal, dass der Begriff in der englischsprachigen Reiseliteratur erwähnt wird. Der Schiffsarzt derselben
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fremden Konzeptes bei Cook spielen insbesondere die Länge der Beschreibungen sowie die sich von den übrigen Informationen des Reiseberichts unterscheidende Form der Erzählung eine wichtige Rolle. Entscheidend für die exzeptionelle Ausführlichkeit der Beschreibung des Tabus in dem Tagebuch ist die mit elf Wochen außergewöhnlich lange Aufenthaltsdauer der Mannschaft auf der Insel Tongataboo. Extensive Tagebucheinträge zeichnen diese wichtige Phase der Reisebeschreibung aus und liefern eine realweltliche Begründung für die veränderte Narration des Erfahrungsberichts, der sich nun mit einer detaillierten ethnographischen Darstellung der fremden Kultur beschäftigen kann. Zusätzlich zu diesen äußerlichen Rahmenbedingungen der Erzählsituation spielt eine weitere narrative Authentisierungsstrategie eine entscheidende Rolle. Neben den bereits erwähnten Maßnahmen setzt die Erzählung darauf, »ein besonders konsistentes Bild von der anderen Wirklichkeit«28 zu zeichnen. Mit der inneren Konsistenz der beobachteten Ereignisse und den in sich stimmigen Zusammenfassungen untermauert Cook – unterstützt durch seinen Lektor, den Domherrn John Douglas – den Wahrheitsanspruch seiner Narration. Gerade das Fremde und Kuriose in den Tabu-Beschreibungen möchte die Echtheit der Erfahrung bezeugen. Diese Authentisierungsstrategien lösen dabei das Spannungsverhältnis auf, welche die textinternen Fiktionssignale, wie u. a. der dramatische Aufbau der Tabu-Stellen, der Spannungsbogen der Erzählung und Inklusion einer Mauerschau, für den Authentizitätsanspruch darstellen könnten. Wie der Leser in der ersten Tabu-Stelle vom 15. 06. 1777 erfährt, stellt sich Tabu zunächst als eine Beschränkung, ein Verbot dar. Bereits diese erste Tabu-Erwähnung ist sehr aufschlussreich in Bezug auf ihre literarische Bedeutung für das Tage buch. In dem veröffentlichten Tagebuch durch den Lektor John Douglas findet man folgende Ergänzung zu dem Eintrag im Original-Tagebuch des Kapitäns: »Why they were laid under such restraints, at present, was not explained.« (V 2, 286). Diese Information kann a posteriori hinzugefügt worden sein und als Vorwegnahme einer späteren Erklärung des Sachverhaltes gelesen werden. Damit wird die Singularität eines Tabu-Ereignisses proleptisch ausgesetzt. Dem Leser wird ein Erwartungshorizont einer ausführlichen Erklärung eröffnet, der in den folgenden Szenen erfüllt werden kann. Mit drei weiteren Erwähnungen innerhalb der nächsten fünf Tage wird die Allgegenwart des Phänomens unterstrichen. Um dem Leser zu verdeutlichen, dass es sich hier nicht um ein unbedeutendes Einzelphänomen handelt, sondern um etwas, das durchaus die Aufmerksamkeit des anthropologischen Reisenden und des philosophischen Lesers verdient, bietet Cook einerseits das Enigma ›Tabu‹ Reise, William Ellis, veröffentlicht sein Tagebuch bereits 2 Jahre zuvor und somit müsste der Beitrag in seinem 1782 veröffentlichten Tagebuch An Authentic Narrative of a Voyage als erste Erwähnung in der englischen Sprache gelten. William Ellis: An Authentic Narrative of a Voyage Performed by Captain Cook and Captain Clerke. 2 Bde. Bd. 1. London 31784, S. 114. 28 Brenner: Die Erfahrung der Fremde, S. 15.
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als spannungsanreicherndes Element an. Andererseits stellt er aber auch als rationaler Empiriker, der sich weniger auf Mutmaßungen als auf Fakten stützt, immer wieder die bis zu diesem Zeitpunkt noch ungesicherte Erkenntnis und die Unzuverlässigkeit der Informationen heraus. Im weiteren Verlauf zeugen seine Beschreibungen im Original-Tagebuch von empirischem Vorgehen: Ausdrücke wie z. B: »we met« und »we saw«29 belegen die empirische Absicherung seiner beschriebenen Erlebnisse. Dass Douglas in der Veröffentlichung des Tagebuchs diese anthropologisch-wissenschaftliche Herangehensweise noch unterstreichen möchte, zeigen zwei Ergänzungen: »I observed« (V 2, 305) betont die Autopsie des Moments; »we learnt« (ebd., 306) möchte betonen, dass wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse aus diesem Erlebnis gezogen werden können.30 Cooks gesteigertes Interesse an den Tabu-Praktiken Tongas ist aus der nächsten, 16 Seiten-umfassenden Szene, deutlich herauszulesen. In einer Mischung aus pikareskem Erlebnisbericht, Abenteuer-Geschichte und – wenn auch zunächst untergeordnet – anthropologischer Studie wird in der Veröffentlichung des Tagebuches das feierliche Initiationszeremoniell Natche der Bewohner von Tongataboo beschrieben. Dabei inszeniert Cook sich als Abenteurer, der sich hartnäckig in die Zeremonie einschleust, um seine Neugierde mit weiteren Details stillen zu können. So kann die zweitägige Natche-Zeremonie, an der einige hochrangige Crew-Mitglieder teilnehmen, dann auch als Höhepunkt in der Tabu-Erzählung Cooks gelesen werden. Die in seinem veröffentlichten Reisebericht präzisen Beschreibungen der zeremoniellen Vorbereitungen werden schnell von partizipatorischen Ereignissen abgelöst: Aus dem Beobachter Cook wird ein Teilnehmer der Zeremonie. Nachdem er sich den fremden Gebräuchen gebeugt hat (die Gäste werden gebeten, die Hüte abzunehmen und die Haare offen zu tragen), lässt er seinen Beobachterposten zurück und versucht, zu dem aktiven Geschehen vorzudringen. In einer spannungssteigernden Berichterstattung wird dem Leser immer deutlicher suggeriert, wie unwillkommen der Europäer jedoch eigentlich ist. Unter Todesandrohung wird er schließlich der Zeremonie verwiesen. When we returned to the king, he desired me to order the boat’s crew not to stir from the boat; for, as every thing would, very soon, be taboo, if any of our people, or of their own, should be found walking about, they would be knocked down with clubs; nay mateed, that is, killed. He also acquainted us, that we could not be present at the ceremony; but that we should be conducted to a place, where we might see every thing that passed. (V 2, 338) 29 Zitate
aus den Original-Tagebüchern: John C. Beaglehole (Hrsg.): The Journals of Captain James Cook on His Voyages of Discovery. The Voyage of the Resolution and Discovery (1776–1780). Cambridge 1988, S. 135 [im Folgenden: O]. 30 Auch die Veränderung der Schreibweise von ›tabu‹ im Originaltagebuch (O, 129) zu ›taboo‹ in der Veröffentlichung ist ein weiterer editorialer Eingriff in die Tagebücher.
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Das Tabu trifft hier zum ersten Mal die Europäer – eine Spannungssteigerung, die auch unter dem Aspekt zu lesen ist, dass dem Leser des 18. Jahrhunderts zu diesem Zeitpunkt natürlich bewusst war, dass Cook später auf dieser Reise beim Aufenthalt auf den Sandwich-Inseln (Hawaii) sein Leben lassen musste. Obwohl diese Kulmination der Ereignisse Cook zunächst wieder in seine Beobachterrolle zwingt, versucht er weiterhin am Geschehen teilzunehmen. Jedoch wird ihm immer wieder warnend das Wort »Tabu« (V 2, 339) zugerufen. Die Dramatik verschärft sich, als er merkt, dass er von mehreren Inselbewohnern verfolgt und beobachtet wird. Dieser Form der Bedrohung muss er sich schlussendlich beugen. Er kehrt an den Platz zurück, der ihm (und den anderen Europäern) als Zuschauer zugewiesen worden war. Von dort werden dem Leser in Form einer Art Mauerschau die nächsten Ereignisse der Zeremonie bis ins kleinste Detail dargelegt (»we were […] allowed to peep from behind the curtain« (V 2, 340)). Um die schlechte Ausgangssituation zu verbessern, schneiden die Seeleute größere Löcher in den Vorhang. Hier wird in einem ersten Schritt verstärkt von der literarischen Funktion der Teichoskopie Gebrauch gemacht. Dies verdeutlicht dem Leser, dass die den Europäern auferlegten Beschränkungen keine Hindernisse für die Autopsie der Ereignisse darstellen. Anschließend wird mit langen Passagen von Beschreibungen der zeremoniellen Ereignisse ein retardierender Einfluss auf die Dramatik der Erzählung ausgeübt. Mit einem weiteren autoptischen Kunstgriff werden alle vorangegangenen, fiktionalen Textsignale nachträglich legitimiert. Cook, in seiner Rolle als empirischer Berichterstatter, überprüft die Schilderungen der Bewohner Tongataboos zu den in der Zeremonie benutzten Gegenständen, um mit seiner eigenen Nachkontrolle zu beweisen, dass der Leser seinem überprüfenden Blick auf die Ereignisse vertrauen kann: […] after the crowd had dispersed, I went and examined [the poles]. Yet we had been repeatedly told by the natives, who stood near us, that they were young yams; insomuch that some of our gentlemen believed them, rather than their own eyes. As I had the demonstration of my senses to satisfy me, that they were not real yams, it is clear, that we ought to have understood them, that they were only the artificial representations of these roots. (V 2, 343, Herv. d. Verf.)
Mit dieser autoptischen Legitimation, den abschließenden Zusammenfassungen und den theoretischen Reflektionen über die Natche-Zeremonie schließt sich Mitte Juli 1777 dann der Spannungsbogen des polynesischen Tabu-Phänomens.
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4. Fazit Wie kaum eine andere Reisebeschreibung prägten die veröffentlichten Tagebücher des Weltumseglers James Cook das Wissen der Zeit über das Andere. Dabei setzt Cook den aufklärerischen Auftrag anders um als viele seiner zeitgenössischen Reise berichterstatter. Einerseits ist es die mangelnde philosophische Ausbildung Cooks, die es ihm nicht ermöglicht, erkenntnistheoretisch reflektierend über das Fremde zu berichten. Diese Reflektionsebene der eigenen Perspektive wird bei Cook durch eine Auseinandersetzung mit der Fremdheit der anderen Kultur ersetzt, die authentisch beschrieben und dramatisch in Szene gesetzt wird. Andererseits integriert Cook Beschreibungen erlebnisreicher Episoden. Aufklärung geschieht nach Cooks Verständnis in einer erzählten Fremderfahrung, die er in einer Kontiguität von faktualen Beschreibungen und fiktionalen Erzählelementen als Folge einer antiintellektuellen Berichterstattung authentisiert und somit den Anspruch der Referenzialisierbarkeit nie aufgibt. So kann Cooks »matter of amusement« dann immer auch als authentisch wahrgenommen werden. Im Tagebuch der dritten Reise funktionalisiert er die Tabu-Thematik dann auch in diesem aufklärerischen Prozess: Seine außerliterarische Erfahrung beschreibt er direkt und unvermittelt, so dass der Leser an seiner abenteuerlichen Fremderfahrung teilnehmen kann. Mit der narrativen Vermittlung, die durch editoriale Eingriffe von Douglas noch verstärkt wird, authentisiert er einerseits seine Erfahrungen und stilisiert darüber hinaus den Tabu begriff zu einem Konzept von immenser Bedeutung und Tragweite: »Taboo, as I have before observed, is a word of an extensive signification« (V 2, 410).
Lucia Mor
Pyramiden, Geheimnisse, Schwärmer Das erzählte Ägypten in den Trivialromanen der Spätaufklärung Die Literarisierung Ägyptens bzw. des alten Ägypten ist in Deutschland im 18. Jahrhundert kein Einzelfall. Das Narrativ Ägypten entsteht im Rahmen einer Diskussion, die sich kultur- bzw. literaturhistorisch vom zweiten Viertel bis zum Ende des Jahrhunderts (und weiter) erstreckt und besonders in den 80er-Jahren brisant wird. Es ist also kein Zufall, dass auch der entstehende Trivialroman1 das Thema Ägypten ins Auge fasst. Im Folgenden wird zuerst im Rahmen bestimmter kultur- bzw. literaturhistorischer Zeitgrenzen ganz kurz der Ägypten-Diskurs im 18. Jahrhundert skizziert, um die Profilierung des Narrativs Ägypten zu eruieren. Dann wird die Literarisierung Ägyptens am Beispiel von zwei Trivialromanen der 90er-Jahre erschlossen: Friedrich Eberhard Rambachs Aylo und Dschadina oder die Pyramiden. Eine ägyptische Geschichte,2 und Christian Heinrich Spieß’ Die Geheimnisse der alten Egipzier. Eine wahre Zauber- und Geistergeschichte des achtzehnten Jahrhunderts.3 Als kulturhistorischer Ausgangspunkt des Ägypten-Diskurses im 18. Jahrhundert kann man die Veröffentlichung im Jahre 1732 des ersten Bandes von Zedlers Universal-Lexikon, der die Lemmata Aegypten und Aegyptische Weisheit enthält, betrachten. Als Schlusspunkt dagegen das Jahr 1799: die Entdeckung des Rosetta-Steines während des napoleonischen Feldzugs in Ägypten ermöglichte es Jean-François Champollion im Jahre 1822, die hieroglyphische Schrift zu entziffern. Die Quellen 1 Der Begriff Trivialliteratur ist seit 1855 belegt und tritt 1923 in die Literaturforschung zum ersten Mal auf, in Marianne Thalmanns Studie: Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Geheimbundmystik. Berlin 1923; vgl. Zdenko Škreb: Trivialliteratur. In: Ders. u. Uwe Baur (Hrsg.): Erzählgattungen der Trivialliteratur. Innsbruck 1984, S. 9–31; zur Entstehung des Trivialromans im 18. Jh. vgl. unter anderen auch: Peter Nusser: Trivialliteratur. Stuttgart 1991; Hainer Plaul: Illustrierte Geschichte der Trivialliteratur. Hildesheim 1983; Marion Beaujean: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Ursprünge des modernen Unterhaltungsromans. Bonn 1969. 2 Die drei Bände des Romans erschienen 1793–1794 anonym sowohl bei Füchsel (Zerbst) als auch bei Barth (Leipzig). Zitate sind der Leipziger Ausgabe [im Folgenden: AuD] entnommen. Zu Rambach als Trivialautor vgl. Marianne Thalmann: Die Romantik des Trivialen. Von Grosses Genius bis Tiecks William Lovell. München 1970; James Trainer: Tieck, Rambach and the Corruption of Young Genius. In: German Life and Letters 16 (1962–1963), S. 27–35. 3 Vgl. Christian Heinrich Spiess: Die Geheimnisse der alten Egipzier. 3 Bde. Leipzig 1798– 1799 [im Folgenden: DG]. Zu Spieß als Trivialautor vgl. Ulrich Hartje: Trivialliteratur in der Zeit der Spätaufklärung. Untersuchungen zum Romanwerk des deutschen Schriftstellers Chris tian Heinrich Spieß (1755–1799). Frankfurt a. M. 1995.
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der ägyptischen Kultur und Religion wurden somit zugänglich, es war die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Ägyptologie.4 Vor dieser epochemachenden Entdeckung, also vor Rosetta und vor Champollion, spricht man von vorwissenschaftlicher Ägyptologie. Rambachs und Spieß’ Romane befinden sich in der Schlussphase dieser Tradition. Ägypten wird im Zedlers Lexikon als Land der Weisheit bezeichnet: »Aegyptische Weisheit war theils die gemeine, theils die hieroglyphische. Die gemeine ward einem jeden beigebracht, […] In der hieroglyphischen aber wurden nur etliche unterrichtet, weil sie viel höhere Sachen vortrug […].«5 Das alte Ägypten war also Ort von zweierlei Wissen: das eine wurde ›jedem‹, das andere nur ›etlichen‹ beigebracht. Man kann eine statische und eine dynamische Dimension der ägyptischen Weisheit unterscheiden; einerseits war Ägypten Ort der Bewahrung, andererseits Ort der Vermittlung von Wissen. Gerade dieser Aspekt bildet meines Erachtens die Ereignishaftigkeit des Narrativs, jene Zustandsveränderung, die es möglich macht, von einem Narrativ zu sprechen.6 Das Narrativ Ägypten ist dementsprechend dem Narrativ Aufklärung eng verbunden. Koschorke behauptet, das Narrativ Aufklärung habe einen Quellcode im Incipit von Kants Abhandlung Was ist Aufklärung? und sei das Narrativ des Mündigwerdens: Sapere aude! 7 Ägypten als Ort der Aufbewahrung und der Vermittlung des Wissens ist auch der Ort, wo der Imperativ Sapere aude! erfüllt werden kann, wo man Wissen erwerben und eben dadurch aufgeklärt werden kann. Aus der zweifachen Natur der ägyptischen Weisheit (offen und elitär) entsteht im 18. Jh. auch eine weitere dynamische Dimension des Narrativs, je nachdem, wie dieses aus einem rationalistischen oder aus einem ägyptosophischen Gesichtspunkt interpretiert wurde.8 Für einige bestand das ägyptische Wissen nur aus wissen4 Vgl. Guillemette Andreu: L’expédition d’Égypte et la naissance de l’égyptologie. In: Jean-Marcel Humbert (Hrsg.): Bonaparte et l’Égypte. Feu et lumières. Paris 2009, S. 238–271. Zum faszinierenden Thema der vorwissenschaftlichen Ägyptologie ist die Bibliographie riesig; als Einstieg vgl.: James Stevens Curl: Egyptomania. The Egyptian Revival as a Recurring Theme in the History of Taste. Manchester 1994; Siegfried Morenz: Die Begegnung Europas mit Ägypten. Berlin 1968; Jurgis Baltrusaitis: La quête d’Isis. Paris 1967; Erik Iversen: The Myth of Egypt and Its Hieroglyphs in European Tradition. Copenhagen 1961. 5 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. 64 Bde. Bd. 1. Leipzig/ Halle 1732, Sp. 637. 6 Zum Begriff Narrativ vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. ³2013, S. 71–74; zu den Begriffen Zustandsveränderung und Ereignishaftigkeit vgl. Silke Lahn u. Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart ²2013, S. 212. 7 Vgl. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 270–277. 8 Das Wort Ägyptosophie wurde von dem Ägyptologen Erik Hornung geprägt vgl.: Das esoterische Ägypten. Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland. München 1999, S. 9–12.
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schaftlichen Kenntnissen,9 für andere aus geheimnisvollen, höheren Dingen, die nur durch einen Einweihungsprozess erreicht werden konnten:10 diese Interpretation wurde aber von den Aufklärern als Anlass zur Schwärmerei stark kritisiert. Dass dieses doppelte Ägyptenbild im kulturellen Kontext des 18. Jhdts. ein anerkannter Begriff war, bezeugt neben Zedlers Lexikon auch die Publikation in den Jahren 1786/87 eines anonymen Werkes in zwei Bänden: Aegyptische Merkwürdigkeiten aus alter und neuer Zeit. Ein raisonnirter Auszug aus Herodots, Diodors, Strabo’s, Plutarchs und anderer alten Schriftsteller Werken und aus den neuern Reise nachrichten Shaws, Pococks, Nordens, Niebuhrs und Savary’s. Das Compendium betrifft verschiedene Aspekte der antiken ägyptischen Welt, Geographie, Gesellschaft, Sitten und Gebräuche, Handel und Wirtschaft, Religion, und auch wenn die Einleitung mit folgenden Worten beginnt: »Ich führe euch, meine Leser! In das Land der Wunder, der Geheimnisse und der Fabeln«,11 bleibt der Gesichtspunkt des Autors derjenige des aufklärerischen Gelehrten, der keine ägyptosophische Perspektive wählt und keinen Anlass zur Schwärmerei bieten will. Eine ähnliche rationalistische Perspektive wurde besonders in Göttingen gepflegt, wo Ägypten mehrere Studien gewidmet wurden: »tous ces travaux sont animés d’une volonté très rationaliste et quasi voltairienne d’éliminer tous les éléments fabuleux de l’histoire de l’Egypte«.12 Auch die großen Klassiker trafen negative Urteile über Ägypten: »die Musen lieben keine fürchterlichen Gespenster«13 schreibt Winckelmann, und Herder definiert Ägypten als »ein Rätsel der Urwelt«14, er meint, die Pyramiden seien kein »Kennzeichen von der Glückseligkeit und wahren Aufklärung«15, und verbreiteter Aberglauben zeige »Stillstand des Verstandes«16. Die ägyptosophische Interpretation Ägyptens wurde vor allem im Bereich der Freimaurerei und der geheimen Gesellschaften gepflegt, von denen viele ihren Ur9 Jean Leclant: De l’égyptophilie à l’égyptologie. Érudits, voyageurs, collectionneurs et mécènes. In: CRAI 4 (1985), S. 630–647. 10 Jan Assmann: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung. Berlin 2010. 11 Anonym: Aegyptische Merkwürdigkeiten aus alter und neuer Zeit. Ein raisonnirter Auszug aus Herodots, Diodors, Strabo’s, Plutarchs und anderer alten Schriftsteller Werken und aus den neuern Reisenachrichten Shaws, Pococks, Nordens, Niebuhrs und Savary’s. 2 Bde. Bd. 1. Leipzig 1786–1787, S. 3. 12 Gérard Laudin: Vers l’idée de civilisation originale. L’égyptologie allemande de Semler a Plessing (1748–1783). In: Recherches germaniques 27 (1997), S. 1–31, hier: 4. 13 J. Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Faksimileneudruck der 2. vermehrten Ausgabe [1756]. BadenBaden/Strasbourg 1962, S. 138. 14 J. Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1989, S. 499. 15 Ebd., S. 503. 16 Ebd., S. 504.
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sprung in den ägyptischen Mysterien sahen.17 Die Aegyptischen Merkwürdigkeiten nehmen auch dadurch zu diesem Thema Stellung, dass die ägyptische Maurerei des Grafen Cagliostro stark kritisiert wird: Cagliostro, einer der berüchtigsten Charletans und Thaumaturgen, versicherte noch in diesem Jahre 1785, daß er in Aegypten von den Priestern, welche sich daselbst noch in den Pyramiden heimlich aufhielten, in ihre Geheimnisse eingeweihet worden sei. […] Er kannte sein Publikum sehr gut, er wußte, daß jetzt, der gesunden Vernunft und der hochgerühmten Aufklärung unsers Jahrhunderts zum Trotz, alles nach verborgnen und geheimen Wissenschaften geizt, wußte, daß Aberglauben und Schwärmerei […], jetzt mit verstärkter Kraft das Haupt emporheben.18
Die Mysterien, schreibt der anonyme Autor, seien nichts anders als »Lehrschulen vernünftiger philosophischer und natürlicher Kenntnisse« gewesen, und fügt hinzu: für diese Vorstellung [habe ich] keine ganz gewissen und unumstößlichen Beweise; auf alle Fälle glaube ich dadurch jenen geheimen Gesellschaften mehr Ehre zu erzeigen, als wenn ich sie zu Aufbewahrern alchymischer, theurgischer und anderer übervernünftiger und sogenannter geheimer Künste machte, wie noch jetzt viele Schwärmer sie so gern schildern; welche vermutlich wähnen, Unsinn könne durch Verjährung Weisheit werden.19
Zedlers Lexikon und die Aegyptischen Merkwürdigkeiten haben evident dazu beigetragen einen Quellcode des Narrativs Ägypten zu bilden. Auch in literaturhistorischer Perspektive ist das Jahr 1732 als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Ägypten zu betrachten, weil es Erscheinungsjahr des ersten Bandes der deutschen Übersetzung des Romans des französischen Abbés Jean Terrasson: Abriss der wahren Helden-Tugend oder Lebens-Geschichte des Sethos, König in Egypten war;20 als Schlusspunkt, oder besser gesagt, als Wendepunkt kann das Jahr 1802 ins Auge gefasst werden, das Erscheinungsjahr von Novalis’ philosophischer Roman Die Lehrlinge zu Sais. Diese Grenzen markieren einerseits eine rationalistisch-aufklärerische Literarisierung Ägyptens, andererseits eine definitiv romantische: Hauptthema des Sethos ist die Erziehung des Monarchen nach den Prinzipien der Aufklärung: »in dieser Geschichte [ist] nur von moralischen Tugenden die Rede.«21 Sethos erwirbt kein esoterisches Wissen sondern lauter natur17 Jan
Assmann: Erinnertes Ägypten. Paraonische Motive in der europäischen Religionsund Geistesgeschichte. Berlin 2006, hier: Kap. 3: Mysterium. Das Ägyptenbild der freimaurerischen Aufklärung, S. 75–109. 18 Anonym: Aegyptische Merkwürdigkeiten, S. 336–337. 19 Ebd., S. 126. 20 Jean Terrasson: Abriss der wahren Helden-Tugend oder Lebens-Geschichte des Sethos. 3 Bde. Hamburg 1732–1737; auch Matthias Claudius übersetzte den Roman: Geschichte des egyptischen Königs Sethos [1777–1778]. 2 Bde. Leipzig 31794. 21 Terrasson: Sethos. Bd. 1, S. 191.
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wissenschaftliche Kenntnisse, die im Palast von Memphis, eine dreidimensionale Enzyklopädie, aufbewahrt werden: jeder Raum ist einem Bereich des Wissens gewidmet, die Wände sind wie Blätter eines Buches. In Novalis’ Roman ist dagegen von moralischen Tugenden und naturwissenschaftlichen Kenntnissen keine Rede: in Sais, die Stadt der verschleierten Göttin Isis, lernen die Lehrlinge durch Intuition die Sprache der Natur, die »auf Flügeln, Eierschalen, Wolken, Schnee, Wasser usw.«22 geschrieben steht, zu entziffern. Innerhalb dieser Zeitspanne wird Ägypten mehrmals und in verschiedenen Gattungen literarisiert: Wieland, Schiller, Goethe, Mozart, aber auch weniger bekannte Autoren wie B. Naubert, J. Ch. Röhling, F. E. Rambach und C. H. Spieß ließen sich vom alten Ägypten inspirieren.23 Rambach und Spiess sind keine Autoren der hohen Literatur, trotzdem sind sie nicht ganz unbekannt: der erste, weil er Lehrer von Tieck und Wackenroder am Friedrich-Werder-Gymnasium in Berlin war,24 der zweite, weil er ein Erfolgsschriftsteller war.25 Rambachs Roman spielt in der Zeit nach den Kreuzzügen im mittelalterlichen Ägypten und erzählt die Geschichte der deutschen Geschwister Joseph und Aurora von Kronau und der ägyptischen Geschwister Aylo und Dschadina, Kinder des Bassa von Alexandrien. Joseph und Dschadina, Aylo und Aurora sind verliebt und können nach einer unendlich langen Erzählung der unterschiedlichsten Begebenheiten, die von Gewalt, List, Betrügerei und moralischer Depravation berichtet, ihre Liebe krönen. Dschadina und Joseph ziehen nach Deutschland, nach seiner Hochzeit mit Aurora wird Aylo aufgeklärter und gutmütiger Bassa von Alexandrien. Schwerpunkt des Romans ist aber nicht so sehr die Liebesgeschichte, als vielmehr die Geschichte eines Geheimbundes, des Bundes für Volksglück, der in den Pyramiden seinen Sitz hat und durch seine Adepten die ganze Welt regiert, um zur Erreichung von Frieden und Eintracht beitzutragen: es ist »[d]er Bund, welcher die Welt im Gleise hält« (AuD 1, 76). Seine Werte werden jedoch missverstanden und schaffen in seinen Adepten Machtgier, Zynismus und Gewalt. Deswegen wird der 22
Novalis: Die Lehrlinge zu Sais. In: Ders.: Schriften. 6 Bde. Bd. 1. Hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Darmstadt 1960, S. 79. 23 Ägyptische Motive findet man in Wielands Märchen Der Stein der Weisen und Die Salamandrin und die Bildsäule (1786–1789) in Schillers Vorlesung Die Sendung Moses (1789) und in seinem Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais (1795) in Goethes Lustspiel Der Großcopha (1791) in Mozarts Zauberflöte (1791) aber auch in Nauberts Almé oder ägyptische Märchen (1793–1797) und in Röhlings Roman Sesostris Pharao von Mizraim (1796–1798). 24 Vgl. Dietrich Meyer: Art. Rambach, Fr. Eberhard. In: Killy Literaturlexikon. 13 Bde. Berlin ²2010 [im Folgenden: K], hier: K 9, 411; Trainer: Tieck, Rambach; Thalmann: Die Romantik des Trivialen; Rudolf Köpke: L. Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters. Leipzig 1855, S. 116–122. 25 Carsten Zelle: Art. Spieß, Ch. Heinrich. In: K 11, 126–128.
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Bund nach einer labyrinthischen Erzählung mehrerer Abenteuer von Numa, seinem Führer, aufgelöst. Der Roman will zeigen, dass die Macht nicht im Geheimen, sondern von einem aufgeklärten Monarchen öffentlich ausgeübt werden soll. Aylo ist der ideale tugendhafte und aufgeklärte Monarch, und es ist kein Zufall, dass seine Erziehung nicht im Rahmen einer Einweihung in die Mysterien stattfindet, sondern durch den Beistand eines alten Mentors auf einer Insel im Nil. Der Roman von Spieß spielt im 18. Jhdt. und erzählt die Geschichte zweier junger Männer, eines Grafen und eines bedürftigen Medizinstudenten, die an der Universität Freunde geworden sind und sich als »enthusiastische Schwärmer« (DG 1, 5) von der ägyptischen Weisheit faszinieren lassen; sie treffen die Entscheidung, »nach Aegypten zu reisen, jede Gefahr zu scheuen, jede Pyramide, jeden zerstörten Tempel mit Forschers Augen zu spähen« (DG 1, 6). Ein alter Onkel möchte aber von dem Erbe des Grafen Besitz ergreifen und plant einen Betrug zu dessen Nachteil dadurch, dass er die Neigung des Grafen zur Schwärmerei ausnützt. Eines Nachts inszeniert er die Erscheinung eines Priesters der Isis, des ägyptischen Greises Menes, und lässt den Grafen und seinen Freund glauben, sie seien auserwählt worden, nach Ägypten zu gehen, um einen magischen Balsam zu holen und nach Europa zu bringen, damit die Menschheit »zur Vollkommenheit empor reife« (DG 1, 18; vgl. 1, 23). Auch in diesem Roman ist die Reihe der Abenteuer, welche die zwei Freunde erleben, unendlich, aber die Erzählung verläuft weniger labyrinthisch als bei Rambach. Der 20 Jahre ältere Spiess meistert die Kunst des Schreibens besser, er spielt mit den Ebenen der inszenierten und der realen Wirklichkeit, ohne aber, dass der Leser sich im Labyrinth verirrt, und führt die ganze Geschichte zum glücklichen Ende. Die Betrüger werden entdeckt, die Schwärmer geheilt. Der Schwerpunkt von Spieß ist nicht so sehr politisch, sondern viel mehr anthropologisch, er will die Schwäche der menschlichen Psyche ins Auge fassen. Pyramiden, Geheimnisse, Schwärmer sind die drei Begriffe, die den roten Faden bilden, der die zwei Romane verbindet und der schon in beiden Paratexten thematisiert wird. Beide evozieren im Titel Ägypten als Land der Mysterien: Die Pyramiden waren im Ägypten-Diskurs ein stark semantisierter Raum, der Leser inferiert sofort, dass die erzählte Geschichte mit Geheimnissen zu tun haben könnte; Spieß dagegen thematisiert ganz explizit die ägyptosophische Dimension, als ob er zeigen wollte: hier wird das brisante Thema behandelt, hier erzähle ich endlich, worum es geht. Der Begriff Schwärmerei, der im Vorwort bzw. in der Einleitung der Romane erwähnt wird, will dagegen auf die Perspektive hindeuten, von welcher aus das Hauptthema dargestellt wird, und somit auf die Zielsetzung des Schreibens: beide Romane wollen nämlich gegen die Schwärmerei wirken, d. h. gegen das eben evozierte ägyptosophische Ägyptenbild. Im Vorwort zum ersten Band bezieht sich Rambachs fiktiver Verfasser auf die Vorliebe des Publikums für geheimnisvolle Geschichten und erklärt, er wolle diese Schwäche für höhere Zwecke nutzen:
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Für die abentheuerlichen mysteriösen und schauderhaften Romane hat sich jetzt die Lesewelt entschieden; eine Vorliebe, die eben so sehr die Frivolität unseres Zeitalters beweiset, als das Verderbnis des ächten Geschmakkes besorgen läßt. Ihr fröhnen, ist gewissenlos; sie einem höhern Zwekke unterwerfen, erlaubt. Die Begebenheiten in den Pyramiden sind nur Nebensache. (AuD 1, 1)
Auch die Absicht von Spieß ist von Anfang an deutlich: er will die Geschichte von zwei »enthusiastische[n] Schwärmer[n]« (DG 1, 5) und deren Heilung durch die Vernunft erzählen. Der Unterschied zwischen den zwei Autoren bei der Behandlung dieses Stoffes ist aber groß. Spieß zeigt keine Verlegenheit in der Darstellung von Geistererscheinungen, er genießt es sogar.26 Dem jungen Rambach fällt es dagegen schwer, sich der Phantasie zu widmen; er findet für seine Verlegenheit dadurch eine Lösung, dass er einen anonymen Autor erfindet, der krank ist und sich in einem Zustand befindet, in dem es »schwer [ist], sich von Schwärmereien zu trennen, sie gewähren der Seele einen Schwung, der sie über alle Angriffe einer auszehrenden Krankheit auf kurze Zeit hinaushebt« (AuD 2, 2). Die Phantasie entsteht aufgrund einer Pathologie: Rambach ist aber dessen bewusst, dass das Thema im Rahmen der Berliner Aufklärung, die seinen Tätigkeitsbereich darstellt, sehr gefährlich ist, und lässt seinen anonymen Autor sterben. Für den dritten Band schreibt der Verleger das Vorwort, er behauptet, der höhere Zweck des jungen verstorbenen Autors sei es gewesen, »seine Ideen über geheime Gesellschaften« (AuD 3, 2) zu äußern. Ludwig Tieck brandmarkt in seinem Roman Peter Lebrecht das Werk seines ehemaligen Lehrers als ein »konfuses ägyptisches Buch«27 und auch der Rezensent in der Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek stigmatisiert es als ein »Chaos von Ungeheuerlichkeiten«28. Er fügt hinzu: »Was in aller Welt mag nun wohl eigentlich Hauptsache in diesem Buche seyn?«29. Auch der Roman von Spieß wird in derselben Zeitschrift heftig kritisiert: die Geschichte »hätte ohne Zauberey und Geister geschehen können; aber Herr Spieß ist einmal nirgends als in der bezauberten Welt zu Hause«30 und ganz empört ruft der Rezensent aus: »Wenn man nur auch die nicht ganz unrichtige Frage: cui bono? beantworten könnte!«31. Die Rezensenten zeigen eine gewisse Intoleranz gegenüber beiden Romanen, deren Sinn ihnen verborgen bleibt. Das orthodoxe Organ der aufklärerischen Literaturkritik scheint den 26 Vgl.
Beaujean: Der Trivialroman, S. 132 f. Tieck: Peter Lebrecht. Eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Hrsg. v. Marianne Thalmann. 4 Bde. Bd. 1. Darmstadt 1963, S. 182. 28 Anonym: Aylo und Dschandina, oder die Pyramiden, eine ägyptische Geschichte. 1. Theil. In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 9.1 (1794) S. 270–272, hier: 270. 29 Ebd. 30 Anonym: Die Geheimnisse der alten Egipzier. In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 41.1 (1798) S. 54 f., hier: 54. 31 Ebd. 27 Ludwig
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guten Willen und die erzieherische Strategie von Rambach und Spieß nicht verstehen oder nicht akzeptieren zu wollen. In beiden Fällen wird die Nebensache in den Pyramiden gar nicht als Werkzeug zur Wiederherstellung der wahren Aufklärung verstanden, sondern ganz im Gegenteil als gefahrvolle Präsenz, die auf gefährliche Irrwege führt. Beide Werke zeigen im Grunde genommen das Scheitern einer deduktiven, rationalistischen Interpretation der Realität, bei der der Zusammenhang von Grund und Folge nicht linear ist: nichts ist so wie es scheint, und Zufall, Vorfall, Imponderabilität sind keine Nebensache. Dadurch kommt das Wesen des ägyptosophischen Narrativs zum Ausdruck. Zur Wahrheit und zur Erschließung der Realität kann man nur durch einen Einweihungsprozess kommen, bei dem Kenntnisse entschleiert werden sollen, weil sie nicht deduktiv erreicht werden können. Das erzählte Ägypten nimmt, auch wenn mit der naiven Sprache der Trivialliteratur, an der Diskussion über brisante Themen der ausgehenden Aufklärung teil, die im Bereich der Philosophie und der hohen Literatur durch eine komplexere Begrifflichkeit kritisch reflektiert werden. Beide Romane sind aber nicht nur Zeugen einer kulturellen und literarischen, sondern auch einer anthropologischen Wende. Am Anfang von Rambachs Roman trifft der Ritter Joseph von Kronau einen nackten Mann, der behauptet, er sei endlich wieder Mensch geworden, weil er wieder fühlen könne (vgl. AuD 1, 26). Die Wendepunkte in Josephs Einweihung in die Mysterien des Bundes für Volksglück, die in den Pyramiden stattfindet, und in Aylos Erziehung, die dagegen auf einer Insel des Nils in der Natur stattfindet, sind keine rationalistischen Einblicke in wissenschaftliche Erkenntnis, sondern werden durch Gefühl und Sinne erlebt. Nachdem Numa, der Führer des Bundes, Joseph die Absichten des Bundes enthüllt hat, wird Josephs Einweihung besiegelt: »Numa erhob sich und trat ihm näher, seine Linke ruhte auf der Sphinx. Joseph reichte ihm die Hand, Numa faßte sie und Funken sprangen aus der seinigen, in des Ritters Adern glühte ein jukkendes Feuer über« (AuD 1, 212). Der Greis, der Aylo zum aufgeklärten Monarch erziehen soll und ihm die wahre Natur des Menschen enthüllt, sagt: Es ist mir oft als wäre alles, was wir einsehen und begreifen, nur Schein, denn alles, was sich unser Verstand als wahr darstellt, beruht noch immer auf der Vollkommenheit unsrer Denkkräfte. Wer weiss, ob die Gesetze unseres Denkens die Gesetze der Wahrheit sind? […] Unsere Gefühle sind das, was wir für Wahrheit erkennen müssen, denn sie sind aus der Hand der Natur uns geworden, wir verließen sie, verirrten uns auf die Wege des Verstandes, und werden von diesen Irrwegen zu unseren einfachen Gefühlen wieder zurückkehren müssen. Das Gefühl macht uns keine Klügeleien vor. (AuD 2, 273 f.)
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In Spieß’ Roman spricht ein alter Mann von dem »philosophischen Schwärmer, der sich ein eigenes System gründet [und] ein glänzendes Luftgebäude darauf errichtet« (DG 1, 153) und redet dann in einem langen Gespräch mit dem Grafen über den Zweifel als den »schrecklichen Untertan der Vernunft« (DG 1, 166), der die Menschen zur Verzweiflung führt. Wie schon gesagt, siegt am Ende der Geschichte die Vernunft über die Schwärmerei, Spieß versäumt jedoch keine Gelegenheit, die Schwäche der Vernunft ganz offen zu thematisieren. Sowohl Rambach als auch Spieß treten als Verteidiger und Verfechter der wahren Aufklärung auf und zugleich als Vertreter der aufklärerischen Wirkungspoetik. Durch das Narrativ, das sie gewählt haben, schlagen sie jedoch einen Weg ein, der eine Richtung zeigt, die einerseits zur Infragestellung der rationalistischen Interpretierbarkeit der Realität führt und andererseits langsam anfängt, sich von der Wirkungsästhetik zu entfernen. In beiden Romanen wagen sie nämlich, den Raum des Wunderbaren zu durchschreiten: Rambach ist unruhig, er lässt seinen fiktiven anonymen Autor sterben, weniger unruhig Spieß, der lange und ausführliche Beschreibungen der Geistererscheinungen liebt und in seinem Roman dem Wunderbaren viel Raum gibt. Das erzählte Ägypten ist letzten Endes eine kleine Nische im Rahmen der erzählenden Aufklärung, markiert aber einen kulturellen und poetologischen Zwischenraum und stellt eine der vielen Facetten jener Schwelle dar, an der die Sicherheiten der Aufklärung in Krise geraten und die Hinwendung zur romantischen Episteme angedeutet wird.
Paul Strohmaier
Tahiti oder Europa als Insel Bougainville, Diderot und der sauvage raisonneur Von Februar 1767 bis März 1769 umsegelt der ausgebildete Mathematiker Louis Antoine de Bougainville mit Hilfe der beiden Schiffe La Boudeuse und L’Étoile die Welt. So aufwändig und entbehrungsreich sich die Unternehmung gestaltet, kann sie doch nicht mehr das Pathos einer Entdeckungsreise im strengen Sinne beanspruchen. Schon zahlreiche andere Seefahrer haben in der Nachfolge Magellans die Erde umschifft. Im Widmungsschreiben an den französischen König, das den 1771 veröffentlichten Voyage autour du monde eröffnet, dämpft Bougainville die Erwartungen an den Ertrag seiner Reise entsprechend herab: Le voyage dont je vais rendre compte est le premier de cette espèce entrepris par les Français et exécuté par les vaisseaux de Votre Majesté. […] L’Amérique, il est vrai, découverte et conquise, la route par mer frayée aux Indes et aux Moluques, sont des prodiges de courage et de succès qui appartiennent sans contestation aux Espagnols et aux Portugais. L’intrépide Magellan, sous les auspices d’un roi qui se connaissait en hommes, échappa au malheur si ordinaire à ses pareils, de passer pour un visionnaire; il ouvrit la barrière, franchit les pas difficiles et, malgré le sort qui le priva du plaisir de ramener son vaisseau à Séville d’où il était parti, rien ne put lui dérober la gloire d’avoir le premier fait le tour du globe. Encouragés par son exemple, des navigateurs anglais et hollandais trouvèrent de nouvelles terres et enrichirent l’Europe en l’éclairant.1
Kurzum: das heroische Zeitalter neuzeitlicher Seefahrt ist unwiederholbar zu Ende, doch bleibt auch den Franzosen noch »une partie de la gloire«2 , die sich aber weit eher in der korrigierenden Nachlese des schon Entdeckten erweist und in dessen präziser Einbettung in die von Europa aus orientierten Karten. Bougainvilles Reise versteht sich damit auch als Beitrag zur Förderung eines intensivierten Weltverkehrs, der ferner im Zeichen eines ›éclairer‹ steht. Durch die Aufnahme des Leitverbs der französischen Lumières situiert Bougainville die neuzeitliche Seefahrt und mit ihr sich selbst in jenem Erzählzusammenhang, als welcher ›Aufklärung‹ in jüngerer Zeit gedeutet worden ist.3 Entsprechend umfangreich sind die Passagen, in denen Was1 Louis-Antoine
de Bougainville: Voyage autour du monde. Hrsg. v. Jacques Proust. Paris 1982, S. 33 f. 2 Ebd., S. 34. 3 Vgl. Dan Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy. Chicago 2010. Nach Edelstein, der sich hierbei auf die Querelle des Anciens et des Modernes beruft, war »the foundational act of the
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sertiefen, Strömungsbilder und geographische Positionsbestimmungen detailliert verzeichnet werden, doch sind es gerade diese, nach Bougainville selbst nützlichsten Abschnitte seines Berichts, die heute nahezu unlesbar sind. Epoche gemacht haben hingegen jene Kapitel, in denen mitten in die cartesische Vermessung der Erde hinein die Nötigung zur Hermeneutik fällt. Am Morgen des 2. April 1768 sichtet man den gewaltigen Vulkan, der die Insel Tahiti dominiert. Wenig später nähern sich ihre Bewohner in Einbäumen. Ein reger Austausch an Naturalien setzt ein, bis den Europäern schließlich gewährt wird, an Land zu gehen. Was sich den Augen der Besatzung nach Bougainvilles Bericht dort darbietet, ist ein Tableau idyllischer Fruchtbarkeit, landschaftlicher Schönheit, mühelosen Komforts und allgemeiner Freundschaftlichkeit: Je me croyais transporté dans le jardin d’Éden; nous parcourions une plaine de gazon, couverte de beaux arbres fruitiers et coupée de petites rivières qui entretiennent une fraîcheur délicieuse, sans aucun des inconvénients qu’entraîne l’humidité. […] ceux que nous rencontrions dans les chemins se rangeaient à coté pour nous laisser passer; partout nous voyions régner l’hospitalité, le repos, une joie douce et toutes les apparences du bonheur.4
Unter den zahlreichen Vorzügen dieser Insel, die im Übrigen in den Berichten späterer Reisender wie Georg Forster Gegenstand deutlicher Revisionen werden, macht sich insbesondere der vollkommen andere Umgang mit Nacktheit, Scham und Sexualität nachhaltig bemerkbar, wie ihn die folgende Szene zeigt: Chaque jour nos gens se promenaient dans le pays sans armes, seuls ou par petites bandes. On les invitait à entrer dans les maisons, on leur y donnait à manger; mais ce n’est pas à une collation légère que se borne ici la civilité des maîtres de maisons; ils leur offraient des jeunes filles; la case se remplissait à l’instant d’une foule curieuse d’hommes et de femmes qui faisaient un cercle autour de l’hôte et de la jeune victime du devoir hospitalier; la terre se jonchait de feuillage et de fleurs, et des musiciens chantaient aux accords de la flûte un hymne de jouissance. Vénus est ici la déesse de l’hospitalité, son culte n’y admet point de mystères, et chaque jouissance est une fête pour la nation. Ils étaient surpris de l’embarras qu’on témoignait; nos mœurs ont proscrit cette publicité. Toutefois je ne garantirais pas qu’aucun n’ait vaincu sa répugnance et ne se soit conformé aux usages de pays.5
Die erstaunte Beobachtung einer von europäischen Gepflogenheiten wesentlich abweichenden Sexualmoral, die Duldung von Polygamie etwa und die Inexistenz von Enlightenment […] narratological and not epistemological« (ebd., S. 88). Aufklärung ist demnach zu verstehen als »a historical narrative«, als »a matrix in which ideas, actions, and events acquired new meaning« (ebd., S. 13). 4 Bougainville: Voyage, S. 235 f. 5 Ebd., S. 235.
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Eifersucht, durchzieht Bougainvilles gesamte Schilderung Tahitis, die er schließlich auf den Namen Neu-Kythera (La Nouvelle Cythère) tauft und damit zum pazifischen Pendant der Geburtsinsel Aphrodites erhebt. Doch dominiert in Bougainvilles klassizistischer Optik die Zuordnung der tahitianischen Kultur zu den tradierten Vorstellungen eines goldenen Zeitalters, das zugleich als Kindheit des Menschengeschlechts semantisiert bleibt. Ebendiese durchgängige Einordung in ein vorverfügbares Ursprungsparadigma hindert jedoch im Falle Bougainvilles, dass Tahiti zum Anstoß europäischer Selbstreflexion wird. Die Einordnung in ein kanonisches Epochenparadigma kultureller Entwicklung verhindert, dass die Provokation seiner Gleichzeitigkeit mit der europäischen Zivilisation zum reflexiven Austrag kommt. Bestimmend für Bougainvilles Betrachtung der edenischen Südseeinsel bleibt vielmehr der Wunsch nach deren baldiger Eingliederung in den (vorzugsweise französischen) Welthandel und deren Beglückung mit den technischen Segnungen Europas. So erklären sich die Hoffnungen, die Bougainville in den Tahitianer Aotourou setzt, der ihn nach Frankreich begleiten soll, um schließlich – »enrichi de connaissances utiles« 6 – zurückzukehren. In Bougainvilles Welterfassungsprojekt bildet Tahiti damit trotz seiner eingehenden Schilderung letztlich keinen Widerstand, vor dem die Motivationen eigenen Handelns und dessen Erträge und Folgen problematisch würden. Der Nachtrag dieser reflexiven Chance bleibt Diderots als ebensolchem betitelten Supplément au Voyage de Bougainville vorbehalten. Die reflexive Einstellung zeigt sich auch in der nun weit komplexeren Strukturierung von Diderots Text. Entwirft Bougainvilles Voyage eine linear-unaufgeregte Erzählung, die sich den sukzessiven Etappen der Reise ohne Anachronien anschmiegt, fächert sich Diderots Text in fünf verschiedene Abschnitte auf: im ersten unterhalten sich zwei Figuren A. und B. lobend über die Reise Bougainvilles und wenden sich schließlich einem ›Supplément‹ zu, das in B.’s Verfügung ist. Dieses bildet den zweiten Teil und enthält die verdammende Rede eines alten Tahitianers, der die verhängnisvollen Folgen des Kontakts mit den Europäern ausmalt. Der dritte und vierte Abschnitt, die gleichfalls dem supplément entstammen, enthalten den Dialog eines Schiffsgeistlichen mit dem Tahitianer Ourou, in dem es vor Allem um die Dissoziation von Moral und Sexualität und europäische Bigotterie geht. Der fünfte und letzte Abschnitt schließlich enthält den resümierenden Dialog von A. und B., die beide Tahiti den Vorzug einräumen und sich fragen müssen, wieviel von der ersehnten Freiheit sich unter europäischen Vorzeichen umsetzen ließe, ohne dabei zu einem beschließenden Ergebnis zu gelangen. Die diskursive Verschachtelung von Diderots Supplément steht damit in eindrücklichem Kontrast zu Bougainvilles linearer Narration. Enthält das textinterne supplément mit dem Dialog zwischen Ourou und dem Schiffsgeistlichen bereits eine sehr 6
Ebd., S. 262.
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viel offenere Diskursform, in der die verschiedenen Standpunkte ohne übergreifende Perspektivierung in Austausch treten, wird die hier schon merkliche Folge instabiler Diskurspositionen durch den gleichfalls offenen Rahmendialog von A. und B. noch verdoppelt. Die Struktur von Diderots Text ist damit nicht mehr eigentlich narrativ, sondern entwirft ein komplexes Gefüge von Beobachtungen, das sich rückwirkend auf Bougainvilles scheinbar unproblematisches Erzählen richtet. Zugleich zeichnet sich hierin ein wichtiger Unterschied in der Besetzung eines geographischen Imaginären ab, das den jeweiligen Texten zugrunde liegt. In Bougainvilles Voyage fügt sich die bereiste Welt umstandslos in die Isomorphie ihrer geometrischen Erfassung, eine Isomorphie, deren auch kulturelle Dimension sich darin zeigt, dass das abweichende Tahiti schlussendlich dazu aufgerufen bleibt, sich dem technisch überlegenen Europa anzugleichen. Bei Diderot hingegen zeigt sich die Aufbrechung dieses cartesischen Imaginären durch ein topologisches. Die Geographie bildet nicht mehr ein homogen beschreibbares Gesamt, sondern fächert sich auf in ein komplexes Geflecht perspektivischer Zentren. Die blinden Punkte der Geometrie werden zu qualitativ verschiedenen, immer schon semantisierten Ursprüngen von Beobachtungen. Diderots Aufwertung geometrischer Punkte zu Ursprüngen diskursiv gleichgestellter Beobachtungen gründet nicht zuletzt auf einer diskursiven Umbesetzung des ›Wilden‹ in den Debatten des 18. Jahrhunderts, die weit bis über die Jahrhundertmitte hinaus noch vorwiegend als rückständig und mental eingeschränkt betrachtet werden.7 In seinem viel konsultierten Reisebericht charakterisiert etwa noch La Condamine die Einwohner Südamerikas durch Eigenschaften wie »insensibilité«, »stupidité«, beklagt die »petit nombre de leurs idées«, insgesamt seien sie ennemis du travail, indifférens à tout motif de gloire, d’honneur ou de reconnoissance; uniquement occupés de l’objet présent, et toujours déterminés par lui; sans inquiétude pour l’avenir; incapables de prévoyance et de réflexion; se livrant, quand rien ne les gêne, à une joie puérile, qu’ils manifestent par des sauts et des éclats de rire immodérés, sans objet et sans dessein; ils passent leur vie sans penser, et ils vieillissent sans sortir de l’enfance, dont ils conservent tous les défauts.8
Die Kritik an den hier beschriebenen Völkern visiert ihre kulturelle Stasis und ihre vermeintliche Unfähigkeit zur Ergreifung der Zukunft als Planungs-, Handlungsund schließlich Innovationsraum. Ebendiese Momente jedoch erfahren bei Diderot eine Aufwertung, da sie nicht länger Resultate angeblicher Indolenz sind, sondern vielmehr bewusste Entscheidungen einer nicht minder ausgeprägten Rationalität. Dies gelingt Diderot durch den anverwandelnden Rückgriff auf die Figur des ›sau7 Siehe
hierzu belegreich Alberto Castoldi: Il fascino del colibrì. Aspetti della letteratura di viaggio esotica nel Settecento francese. Florenz 1972, S. 186–217. 8 Charles-Marie La Condamine: Relation abrégée d’un voyage fait dans l’intérieur de l’Amérique méridionale. Paris 1745, S. 52 f.
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vage raisonneur‹, des vernunftbegabten, wenn nicht gar darin überlegenen ›Wilden‹, der schon in den Dialogues de Monsieur le Baron de Lahontan et d’un sauvage dans l’Amérique von 1704 hervortritt, wo sich der französische Edelmann mit dem Huronen Adario unterhält und schließlich die moralische Überlegenheit der ›wilden‹ Indianer konstatiert. Das hierbei zu Rate gezogene Tugendregister entspricht aber ganz den von Europa her bekannten Begriffen, weshalb Lahontan letztlich eine doch traditionelle, im Grunde seit Tacitus’ Germania verfügbare Diskursmöglichkeit arti kuliert. Diderots Aneignung des intellektuellen Wilden indes setzt grundlegender an und stellt die von Europa aus vorgegebenen Tugenden, Laster und Normen als solche zur Disposition. Sowohl der Alte, der die Europäer zum Abschied geradezu verflucht, als auch Ourou zeichnen sich aus durch ein regelrechtes Übermaß an dialektischer Finesse. Die Zurückweisung der »inutiles lumières«9 der Europäer weitet sich damit aus zu einer eudämonistischen Rechtfertigung eben jener vermeintlichen Stasis, die frühere Beschreibungen ›wilder‹ Völker noch als Defizit verzeichnen. So wendet sich der Alte mit folgenden Worten an den scheidenden Bougainville: Poursuis jusqu’où tu voudras ce que tu appelles commodités de la vie, mais permets à des êtres sensés de s’arrêter, lorsqu’ils n’auraient à obtenir de la continuité de leurs pénibles efforts que des biens imaginaires. Si tu nous persuades de franchir l’étroite limite du besoin, quand finirons-nous de travailler, quand jouirons-nous?10
In den Worten des Alten zeichnet sich das genügsame Verharren der Tahitianer auf einem weit bescheideneren Niveau materieller Kultur ab als harmonische Unterordnung kultureller Komplexität unter die Grenzen eines durch die menschliche Natur vorgegebenen »besoin«, eines Vorrats grundlegender Bedürfnisse, deren numerische Überschreitung eine unheilvolle Dynamik freisetzt, die immer neue »biens imaginaires« entwirft und das ihnen zugeordnete Begehren als Unruhefaktor hervorbringt. Minutiös enttarnt der alte Tahitianer damit das Zielproblem einer solchen zivilisatorischen Entwicklung, die aus der Überschreitung der nächstliegenden Bedürfnisse als Telos menschlicher Vergemeinschaftung hervorgeht. Zivilisatorischer ›Fortschritt‹ wird kritisiert als Aufschubstruktur, in der die Gegenwart des Genusses immer schon durchkreuzt wird durch ein Soll an erst noch zu leistender Arbeit. Das hierbei gebrauchte Verbum »s’arrêter«, das eben jenen Punkt zivilisatorischer Komplexität bezeichnet, an dem ein Maximum von Glück erreicht ist, kehrt vielfach wieder in Diderots Reflexionen zur Anthropologie.11 Die mögliche Arretierung kultureller Ausdifferenzierung auf einem Niveau, das dem Einzelnen die größt9 Denis
Diderot: Supplément au Voyage de Bougainville. Hrsg. v. Michel Delon. Paris 2002, S. 41. 10 Ebd., S. 41 f. 11 Vgl. Michel Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières. Buffon, Voltaire, Rousseau, Helvétius, Diderot. Paris 1971, S. 407–475.
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mögliche Erfüllung bietet, setzt Diderot in diesen zu Lebzeiten unveröffentlichten Aufzeichnungen schließlich auf einem vage verbleibenden mittleren Niveau an, zwischen vorzivilisierter Wildheit und dem als »artificiel« gewerteten Komplexitätsgrad der europäischen Nationen. Neben dieser Produktion immer neuer Güter und Bedürfnisse, die das europäische Subjekt in Schach halten, formuliert Diderots Supplément eindringlich eine weitere Folge kultureller Ausdifferenzierung, deren Pluralität normativer Instanzen zu einer konfliktträchtigen Komplizierung des Subjekts führt. Es ist dies die Lehre von den »trois maîtres«12 , die im Gespräch des Geistlichen mit Ourou formuliert wird und von B. schließlich zu »trois codes«13 präzisiert werden, denen der Einzelne zu gehorchen habe: »le code de la nature, le code civil et le code religieux«14. Als Diener dreier Herren wird das europäische Subjekt aufgerieben zwischen ihren Forderungen, die sich zumeist in eklatantem Widerspruch befinden. Doch sind nach Diderot nicht alle dieser »codes« (im Sinne von ›Gesetzbuch‹) gleichermaßen verbindlich, vielmehr gebührt der normative Vorzug klar dem »code de la nature«, sodass A. schließlich ausrufen kann: »Que le code des nations serait court, si on le conformait rigoureusement à celui de la nature! combien de vices et d’erreurs épargnés à l’homme!«15 Das okzidentale Subjekt hingegen wird noch zugespitzter beschrieben als Schauplatz eines niemals ruhenden inneren Bürgerkriegs zwischen einem ursprünglichen »homme naturel« und einem durch zivilisatorische Fortentwicklung eingepflanzten »homme artificiel«.16 Als Gegenbild dieser inneren Verdopplung dient die innere Einförmigkeit der Tahitianer, die ihren Moralkodex der Inkonstanz menschlichen Begehrens und damit dessen nature angepasst haben. Zum Ende des beschließenden Gesprächs zwischen A. und B. versucht sich A. dennoch in Form einer Gleichung an etwas europäischer Ehrenrettung: A. Il m’est venu souvent dans la pensée que la somme des biens et des maux était variable pour chaque individu, mais que le bonheur ou le malheur d’une espèce animale quelconque avait sa limite qu’elle ne pouvait franchir, et que peut-être nos efforts nous rendaient en dernier résultat autant d’inconvénient que d’avantage, en sorte que nous nous étions bien tourmentés pour accroître les deux membres d’une équation entre lesquelles il subsistait une éternelle et nécessaire égalité.17
Sowenig die hier postulierte Homöostase von Glück und Unglück textintern überzeugt, da die europäischen Zugewinne an bonheur nahezu ungenannt bleiben, ist 12 Diderot:
Supplément, S. 56. Ebd., S. 81 f. 14 Ebd., S. 82. 15 Ebd., S. 89. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 92. 13
Bougainville, Diderot und der sauvage raisonneur
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A.s Gedankenspiel doch aufschlussreich, weil hinter der scheinbaren Einheitlichkeit einer Formel die Einsicht durchscheint, dass Kulturen nur aus ihrem je spezifisch erzielten Gleichgewicht heraus begriffen und gegebenenfalls reformiert werden können. So versagt sich Diderots Supplément die allzu komfortable Idealisierung Tahitis als eines Ursprungs, den es auch für die zivilisationsmüden Europäer wiederzugewinnen gelte. Tahiti fungiert damit weniger als Ursprungsparadigma denn als Beispiel glücklicher Kontingenz, das auch aus den zahlreichen Besonderheiten seiner geographischen Lage hervorgeht und deshalb nicht ohne weiteres in andere Weltgegenden transferiert werden kann.18 Das Andere, das sich in Diderots Text in aller rhetorischer Bravour artikuliert –Bougainvilles noch stumm verbleibende Tahitianer – leistet damit letztlich nicht die authentische Artikulation tahitianischer Verhältnisse, sondern eine durch Fiktion ermöglichte Modalität europäisch-aufgeklärter Selbstbeobachtung. An der Fiktionalität der Stimmen des Alten und Ourous werden wenig Zweifel gelassen. So merkt A. an, dass es doch befremdlich sei, wie Bougainville die Worte des Alten verstanden haben solle, wo sie doch in einer Sprache vorgebracht worden sein mussten, die jener gar nicht beherrschte. Gerade die Plausibilierung dieses Umstandes durch B. stellt nun aber erst recht die Fiktionalität der vernommenen Fremdheit aus: A. Ce discours me paraît véhément, mais à travers je ne sais quoi d’abrupt et de sauvage il me semble retrouver des idées et des tournures européennes. B. Pensez donc que c’est une traduction de l’otaitïen en espagnol et de l’espagnol en français.19
Trotz dieses Spiels mit dem eigenen fiktionalen Status speist sich die Intensität der Kritik, die Diderots Supplément formuliert, aus der in Anspruch genommenen Faktizität Tahitis, die durch Bougainvilles Bericht verbürgt bleibt. Sie verbleibt als reales Vexierbild eines in aller Evidenz vorhandenen Glücks, das den Europäern unerreichbar ist.20 So wenig sich Diderots Text damit als Narration begreifen lässt, wird er doch schließlich mit einer minimalen narrativen Rahmung umlegt, die – nicht ohne Ironie – die Leitmetapher der Aufklärung zitiert. Zu Beginn des Supplément weist A. auf den dichten Nebel hin, der die Außenwelt verhüllt. Am Ende des fünften Abschnitts hat sich der Nebel gelichtet, doch ist die Klarheit, die sich nunmehr ausbreitet, nur diejenige skeptischer Ernüchterung. 18 Zur Rolle der ›Ursprünge‹ in den französischen Lumières siehe Chantal Grell u. Christian Michel (Hrsg.): Primitivisme et mythes des origines dans la France des Lumières, 1680–1820. Paris 1989. 19 Diderot: Supplément, S. 46. 20 Zur inneren Ambivalenz des aufklärerischen Glücksbegriffs zwischen einem »modèle stable« und dem »dynamisme« der Perfektibilität siehe Michel Delon: Art. Bonheur. In: Ders. (Hrsg.): Dictionnaire européen des Lumières. Paris 1997, S. 165–167.
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An der Konstellation Bougainville/Diderot lässt sich damit die Charakterisierung des Aufklärungszeitalters als die Blütezeit eines apriorisch akzeptierten grand récit nuancierter betrachten. Ohnehin haben jüngere Beiträge zur kulturellen Narratologie darauf hingewiesen, dass diese meist retrospektive Vereinheitlichung kaum je zutrifft. So lassen sich etwa nach Albrecht Koschorke »Inkonsistenz, Mehrfachcodierung, Unbestimmtheit als kultursemiotische Fundamentalgegebenheiten« bestimmen.21 Die für unseren Zusammenhang maßgebliche Inkonsistenz lässt sich lokalisieren in dem ungelösten Nebeneinander zweier in sich gegensätzlicher Organisationsformen aufgeklärten Wissens: des historische Entwicklung als Vorteil ausweisenden Fortschrittsdiskurses einerseits und einer eher taxonomisch orientierten Anthropologie andererseits, die differente Formen menschlicher Vergemeinschaftung in prinzipieller zeitlicher Gleichordnung betrachtet. Die Simultanität dieser beiden Modelle ermöglicht auch deren kritischen Abgleich, ja ihre Durchkreuzung. Paradigmatisch vollzieht sich diese in Diderots Text, der die anthropologische Perspektive ausbuchstabiert, um der europäischen Zivilisationsdynamik ihre Defizite vorzurechnen und zugleich ihre Selbstbeschreibung als Fortschritt in Zweifel zu ziehen. Der Universalismus des europäischen Aufklärungsprojekts wird damit im prüfenden Abgleich mit Tahiti zu einer möglichen, aber nicht notwendigen Form kultureller Organisation, die nicht weniger als das betrachtete Tahiti aus historisch und geographisch kontingenten Bedingungen hervorgeht. Im Sinne dieser Einschränkung vermeintlich universaler Gültigkeit kommt es damit zu dem, was man als die Verinselung Europas bezeichnen könnte. Im Anschluss an Jürgen Osterhammel kann damit festgestellt werden, dass die ungelöste Parallelität von Synchronie und Diachronie den aufgeklärten Diskursen über das Fremde, wenn nicht zwingend, so doch potentiell eine größere Komplexitätsakkommodation erlaubt als dem kolonialistisch geprägten Folgejahrhundert, in dem sich eine Exklusivierung des zivilisatorischen Fortschrittsnarrativs aufzeigen lässt, zuungunsten der dezentrierenden Gleichzeitigkeit der Anthropologie.22 Ron Edmond hat aufgezeigt, dass auch der zunächst so emphatische Tahiti-Diskurs schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts und mit der Ankunft der ersten europäischen Missionare einen Akzentwechsel erfährt.23 War es nach Diderot als originäre Leistung der Tahitianer anzusehen, auf einem fragilen Mittelpunkt zwischen unzivili21
Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 22012, S. 397. 22 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 22013, bes. S. 64–84 u. S. 375–403. 23 Vgl. Ron Edmond: The Pacific/Tahiti. Queen of the South Sea Isles. In: Peter Hulme u. Tim Youngs (Hrsg.): The Cambridge Companion to Travel Writing. Cambridge 2002, S. 139– 155, hier: 149 f. Zur Entwicklung des Mythos Tahiti siehe eingehender Sonia Faessel: Vision des îles. Tahiti et l’imaginaire européen, du mythe à son exploitation littéraire (XVIIIe–XXe). Paris 2005.
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sierter Wildheit und überfeinerter Zivilisiertheit ›innezuhalten‹ (›s’arrêter‹), verliert diese Mittelstellung ihre normative Kraft und wird zum Ausweis fortschrittsunfähiger Stasis. Auch die Literatur trägt ihren Teil zur Verfestigung dieses imperialis tischen Topos bei. So heißt es in Herman Melvilles Südsee-Erzählung Omoo von 1847 in aller Drastik über die entzauberten Tahitianer: Years ago brought to a stand, where all that is corrupt in barbarism and civilization unite, to the exclusion of the virtues of either state; like other uncivilized beings, brought into contact with Europeans, they must here remain stationary until utterly extinct.24
In der Kontrastierung von Bougainville/Diderot und Melville zeigt sich damit in aller Deutlichkeit der Wegfall narratologischer Selbstreflexion, die noch im 18. Jahrhundert durch die Kreuzung von historischer Erzählung und gleichordnender Synopse möglich war. Aus dem Relativierungspunkt Europas ist ein Archaismus geworden, der die europäische mission civilisatrice nicht überleben wird. Das narrative Monopol transitiven Fortschritts impliziert jedoch auch, dass seine schon innereuropäischen Defizite, seine Normalisierungstendenz und seine Sinnenfeindschaft immer seltener durch Alternativen in Frage gestellt werden können. Seine Tendenz, in »organisierte Glücklosigkeit«25 umzuschlagen, ist damit noch bedenklicher als zuvor.
24 Herman
Melville: Omoo. A Narrative of Adventures in the South Seas. London 1985, S. 189. 25 Ralph-Rainer Wuthenow: Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1980, S. 230.
5.
se k t ion
t h e or i e n u n d Mode l l e ( u n ) mö g l ic h e r W e lt e n
Martin Mulsow
Theorien und Modelle (un)möglicher Welten Einleitung
M
it der Ausdifferenzierung narrativer Formen geht im 18. Jahrhundert die Reflexion auf mögliche, erfundene und erdichtete Welten einher. Jede Erzählung, kann man sagen, stellt eine Art von Realitätsverdoppelung dar, die nicht anders als nicht-textuelle Formen der Fiktion, wie etwa die Wahrscheinlichkeitsrechnung, im Dienst der Kontingenzbewältigung steht. Die Sektion beschäftigt sich mit der spezifischen Wahrheit der Fiktion, ihrer Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit, die einerseits von den epistemologischen Rahmenbedingungen des Erzählens – Lügner lügen, Schwärmer schwärmen, Kritiker kritisieren –, andererseits von der logischen Struktur der Verdoppelung abhängt. Dass Fiktion als eine Schaffung einer möglichen Welt, die der wirklichen verdoppelnd an die Seite gestellt wird, aufgefasst werden kann, ist die Tendenz neuerer Arbeiten sprachanalytischer Provenienz.1 Sie verwenden das Konzept der möglichen Welten aus der Modallogik, nach dem eine mögliche Tatsache eine Tatsache in einer möglichen Welt, eine notwendige Tatsache aber eine Tatsache in allen möglichen Welten ist. Eine fiktionstheoretische Übernahme dieses Ansatzes kann dies freilich nur cum grano salis tun, denn literarisch erzeugte Welten sind oft nicht einmal konsistent und berühren damit auch das Unmögliche. Dennoch: Erzählungen implizieren insofern mögliche Welten, als die Gegenstände, die in ihnen vorkommen, selbst wenn sie nicht explizit erwähnt werden, diese Alternativuniversen bevölkern.2 Dabei lehrt ein Blick auf die Literaturgeschichte, dass die Alternativuniversen eine ganz unterschiedliche Nähe zur Realität haben können. Ist eine Erzählung ›realistisch‹, bewegt sie sich sehr nahe, ist sie ›utopisch‹ oder gar ›phantastisch‹, kann sie sehr weit von ihr entfernt sein. In Bezug auf die Gattungen des 18. Jahrhunderts kann dieser Unterschied durchaus relevant sein. Dabei wäre die moderne Theorie des Fiktiven ein etwas künstliches Interpretament für die Aufklärungsforschung, wenn nicht das Konzept der möglichen Welten just durch Leibniz in eine breitere Diskussion gebracht worden wäre und damit für das 18. Jahrhundert präsent war.3 Auch Hans Blumenberg 1
Vgl. etwa Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur. Berlin 2001, bes. S. 83–90. 2 Vgl. auch Tobias Klauk u. Tilman Köppe (Hrsg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin 2014. 3 In Wirklichkeit war das Konzept bereits eines der Jesuitenscholastik. Vgl. Sven K. Knebel:
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Aspekte · 5. Sektion · Martin Mulsow
beschreibt in einem frühen Text von 1956 dieses Jahrhundert unter dem Aspekt der möglichen Welten: »Was von Leibniz’ ›bester aller möglichen Welten‹ ontologisch nachhaltig übrigbleibt, ist nicht die ›beste Welt‹, sondern die Unendlichkeit der möglichen Welten, die eben dann bewusstseinsattraktiv ist, wenn die wirkliche Welt nicht mehr die auserwählt-beste glaubhaft repräsentiert.«4 Blumenberg knüpft also die Fiktionsbildung an die Unzufriedenheit im Kontext eines Nachlassens des philosophischen Optimismus. So kommen sowohl die Gattung der Satire, die sich kritisch an der Unzufriedenheit abarbeitet, als auch die der Utopie in den Blick, bei welcher der schlechten Welt der Gegenwart eine bessere an einem anderen Ort oder in einer anderen Zeit gegenübergestellt wird. Viele der in dieser Sektion thematisierten Autoren, von Voltaire bis Wieland, bewegen sich im Spannungsfeld von Satire und Utopie. Doch Blumenberg selbst weist zunächst auf Johann Jakob Breitinger hin, der – gegen Gottsched – den »zündenden Kontakt« zwischen Leibniz’ Konzept der möglichen Welten und der Vorstellung des schöpferischen Dichters erstmals herstellt. Er beruft sich auf den österreichischen Literaturwissenschaftler Oskar Walzel, der in den 1930er-Jahren im Zuge seiner Studien über die Prometheus-Figur zum Schluss kommt, dass sich im 18. Jahrhundert etwas Neues ereignet.5 Zwar war die Idee des schöpferischen Menschen als eines ›zweiten Gottes‹ und damit als Erzeuger von Welten (um das Wort von Goodman zu gebrauchen6) bereits eine der Renaissance,7 aber Walzel hat zu Recht betont, dass im 18. Jahrhundert die Dichtkunst und damit die Produktion von Fiktionen in dieser Hinsicht eine singuläre Bedeutung erlangt. Der Dichter wird zum Schöpfer, weil die Mimesis-Idee sich zersetzt hat.8 Wenn aber die Mimesis-Idee sich zersetzt, dann kann die freie Erfindung an ihre Stelle treten. Christian Reidenbach erörtert den Extremfall eines erfundenen Gemäldes bzw. der Ekphrasis eines Bildes, das man nie gesehen hat, bei Diderot. Dem französischen Denker dient die vitale Energie der Materie als Musterbild. »Die vitale Energie versetzt nicht allein die Wesen in Gärung und treibt zur Sicherung bzw. zur Perfektionierung der Norm beständig Abweichungen hervor; sie erlaubt Würfel, Wille, Wahrscheinlichkeit. Das System der moralischen Notwendigkeit in der Jesuitenscholastik 1550–1700. Hamburg 2000. 4 Hans Blumenberg: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 55–103, hier: 89. Der Text stammt von 1956 und wurde 1957 erstmals veröffentlicht. Vgl. auch ders.: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Hans Robert Jauß (Hrsg.): Nachahmung und Illusion. München 21969, S. 9–27. 5 Oskar Walzel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. München 21932. 6 Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a. M. 1990. 7 Vgl. Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance [1927]. Hamburg 2013. 8 Blumenberg: ›Nachahmung der Natur‹, S. 89, Anm. 4.
Einleitung
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es auch der menschlichen Imagination, wie ein Magnet Erinnerungsfragmente zu bündeln, zu neuen Kombinationen zu verbinden und im Werk mögliche Wirklichkeiten zu stiften.«9 Mögliche Wirklichkeiten sind aber nach herkömmlicher Logik durchaus auch Täuschungen. Täuschung ist also, so Reidenbachs Folgerung aus Blumenbergs Szenario, nicht mehr per se anrüchig. Das Kriterium ist nun eher die Glaubhaftigkeit, und zwar als Wahrscheinlichkeit des Möglichen. Damit sind wir wieder beim ›Realitätsprinzip‹, das in der neueren Fiktionsforschung diskutiert wird. Wie soll dieses Realitätsprinzip mit den Brüchen umgehen, die zunehmend in die Texte des 18. Jahrhunderts Einzug halten? Während der ›Welttext‹, die reale Welt, in sich kohärent ist, wird die erzählte Alternativwelt inkohärent. Reidenbach spricht von »aufgesprengte[r] Prosa«,10 die für Diderot wahrhaftiger wäre als ein kohärentes Erzählen, weil für ihn das Bizarre im Wahrnehmungsprozess das Normale darstellt. Die Naturphilosophie liefert also die Norm für die Inkohärenz der möglichen Welt. Lars-Thade Ulrichs spricht von der »Autoreflexivität« und von einem »wechselseitig[en] [R]eflektieren« in den spätaufklärerischen Romanen in Deutschland.11 Die häufigen Digressionen in diesen Werken, die er ebenso wie Reidenbach herausstellt, sorgten aber nicht nur für ein Anerkennen der Kontingenz, sondern auch für eine »radikale Ironisierung sowohl des dargestellten Geschehens als auch der gängigen philosophischen Positionen, die auf dieses Geschehen reagieren.«12 So kann man sagen: Die möglichen Welten gehen nicht nur auf faktische Distanz zur realen, sondern ziehen vor allem auch die Lösungen in Zweifel, die in der faktischen Welt für deren Probleme vorgeschlagen werden. Das tun sie allerdings auf durchaus komplizierte Weise. »[E]ine auf Fortschritt ausgerichtete Vorstellung von Geschichte«, betont Michael Dominik Hagel, unterminiere »den klassischen Utopiebegriff« und bringe ihn »aus dem Gleichgewicht«.13 Ja, noch mehr: »Durch die Erfindung von möglichen Welten«, so Ulrichs, »leis ten die Romane einen Beitrag zur Überschreitung der Grenzen menschlicher Erkenntnis, indem sie durch die Verknüpfung von kausaler und teleologischer Erzählweise den Begriff von der Einheit der Welt als eines geordneten Ganzen anschaulich füllen.«14 Das geschehe vor allem durch die Reflexivität in der Gattung der Utopie. »Die Utopie wird zum Austragungsort einer quasi-transzendentalen Reflexion, de9
Christian Reidenbach: »Zur Tatsache!« Krise der Mimesis und diskontinuierliches Erzählen bei Denis Diderot, S. 391–402, hier: 392. 10 Ebd., S. 397. 11 Lars-Thade Ulrichs: Vom Roman der Philosophen zum philosophischen Roman. Der conte philosophique (Voltaire, Diderot) und der Roman der deutschen Spätaufklärung (Wieland, Wezel, Heinse), S. 412–420, hier: 415. 12 Ebd., S. 414. 13 Michael Dominik Hagel: Beschreiben, Abschweifen, Folgen. Zur Narratologie des utopischen Genres am Beispiel von C. M. Wielands Der Goldne Spiegel, S. 382–390, hier: 388. 14 Ulrichs: Vom Roman der Philosophen, S. 417.
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Aspekte · 5. Sektion · Martin Mulsow
ren eigentlicher Gegenstand die Fiktionalität des Romans selbst ist.«15 Diese von Kant her getroffene Einschätzung spricht der Spätaufklärung eine Vorläuferrolle für die ›Transzendentalpoesie‹ der Frühromantiker zu. Ob das zutrifft, mag diskutiert werden. Auf jeden Fall ist damit eine Perspektive aufgemacht, die den Anspruch auf Modernität für den Roman der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unterstreicht. An dieser Stelle wäre an die Mahnung von Hagel zu erinnern, dass nur eine epis temologisch orientierte Gattungsgeschichte aus Perspektive einer historischen Narratologie beschreiben kann, wie sich in diesem Prozess traditionelle Gattungen wie die der Utopie geradezu auflösen. Man kann Gattungen also nur als Formpotentiale begreifen, nicht als fixe Größen. In Wielands Goldnem Spiegel erscheint die Utopie nur noch im Modus der Abschweifung, als Digression. Späte – auch triviallitera rische – Formen des Aufklärungsromans, etwa in Joseph Friedrich von Kepplers Fasan, greifen Elemente aus Swifts Satiren, aus den auch von Wieland geschätzen Feenmärchen von Crébillon fils und von Diderot auf und steigern die Inkohärenz und Autoreflexivität der möglichen Welten, die sie beschreiben, so sehr, dass am Ende nur noch eine einzige absurde Achterbahnfahrt zu verzeichnen ist, in der gleichwohl noch jede Menge Gesellschaftskritik transportiert wird.16 Zugleich aber, das darf man nicht verkennen, sorgt – bei aller Aufsprengung der Formen – der Naturalismus als Norm der Fiktionen, der den Menschen vor allem als Naturwesen begreift, wiederum für eine Annäherung an die Realität. Ulrichs zitiert Wielands Begriff der »›Werkeltagswelt‹«17 und spricht von einem Pragmatismus, der den Texten unterlegt ist, Reidenbach von der »Menschlichkeit«,18 die bei Jacques le Fataliste und anderen Texten die Grundlage bildet. Auch Voltaires »Science-Fiction«,19 die Fabian Schmitz behandelt, führt bei allen Spielereien mit den Maßstäben von Groß und Klein – ein Erbe der menippeischen Satire – doch immer auf die realen Nöte des Menschen zurück. Der Common Sense ist es paradoxerweise, in dessen Namen man sich von der realen Welt hin in alternative mögliche Welten hin entfernt. Das »unbeschriebene Weltenbuch«, sagt Schmitz, ist in diesem Sinne »offen für das Einschreiben der fiktionalen wie naturphilosophischen Welterklärungsmodelle«.20
15 Ebd.
16 Joseph
Friedrich von Keppler: Der Fasan. Frankfurt/Leipzig 1784. Vgl. Martin Mulsow: Von sprechenden Unterröcken und Männern ohne Hosen. Dinge in antiklerikaler Pornographie der Österreichischen Aufklärung. In: Dirk Sangmeister u. Martin Mulsow (Hrsg.): Pornographie im Deutschland der Aufklärung [in Vorbereitung]. 17 Ulrichs: Vom Roman der Philosophen, S. 416. 18 Reidenbach: »Zur Tatsache!«, S. 401. 19 Fabian Schmitz: Unter dem Mikroskop des Micromégas. Voltaires Science-Fiction der Aufklärung, S. 403–411, hier: 405. 20 Ebd., S. 411.
Einleitung
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Hans Blumenberg hat seine frühen Überlegungen bekanntlich 1979 in seiner großen Studie zur produktiven Rezeptivität, der Arbeit am Mythos, wieder aufgenommen und sie in der Sektion über die Aspekte des Prometheus-Mythos weitergeführt.21 Mythen sind für ihn ›Naturereignisse des Intellekts‹, mit denen man auf die eine oder andere Weise zurechtkommen muss. Vielleicht kann man auch von einer Arbeit an den möglichen Welten sprechen, die im 18. Jahrhundert geschieht und in denen Prome theus, der Mensch, welcher das Göttliche auf den Boden holt, eine zentrale Figur ist.
21 Hans
Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979.
Michael Dominik Hagel
Beschreiben, Abschweifen, Folgen Zur Narratologie des utopischen Genres am Beispiel von C. M. Wielands Der Goldne Spiegel Die Beachtung, welche die Erzähltheorie in den vergangenen Jahrzehnten gefunden hat, scheint direkt proportional zum Desinteresse, mit welchem die Geistesund Kulturwissenschaften der Theorie der Gattungen und der Gattungsgeschichte begegnet sind. Erst in jüngster Vergangenheit sind generische Fragen wieder stärker in den Fokus einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft gerückt.1 Im Folgenden wird vorgeschlagen, eine epistemologisch orientierte Gattungsgeschichte aus Perspektive einer historischen Narratologie zu entwickeln. Gegenstand der Überlegungen wird das Genre der fiktiven Staatsbeschreibungen von der frühen Neuzeit bis ans Ende des 18. Jahrhunderts sein, also jene Serie von Texten, die man seit dem 19. Jahrhundert als die Gattung der Staatsromane oder der Utopie beschrieben hat.2 Im Zentrum der Argumentation soll Christoph Martin Wielands Der Goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian aus dem Jahr 1772 stehen, zumal dieser Roman als beispielhafte Reaktion auf die in der Gattung Utopie angelegten narratologischen Probleme angesehen werden kann. Indem die darstellerischen Möglichkeiten der Utopie gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausgelotet werden, adressiert der Text wesentliche epistemologische Fragen der Utopie und damit verbundene erzähltheoretische Problematiken. Die Aufmerksamkeit soll im Folgenden also der Art und Weise der darstellerischen Organisation in der Gattungsgeschichte der Utopie gelten. Die Frage nach der Ordnungsleistung der Repräsentation kann für die Gattung Utopie nur indirekt narratologisch beantwortet werden; und zwar gerade deshalb, weil die Utopie ganz grundsätzliche strukturelle Probleme des Erzählens berührt. Um diesen Gedankengang anschaulich zu machen, wird zunächst der Begriff der literarischen Gattung Utopie mit seinen darstellungstechnischen Implikationen skizziert. Der Aufriss des Gattungsbegriffs wird sich vor allem auf Thomas Morus’ namensgebende Abhandlung über den besten Zustand eines Staats bezie1 Vgl.
v. a. Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950. Göttingen 2015; Michael Bies, Michael Gamper u. Ingrid Kleeberg (Hrsg.): Gattungs-Wissen. Wissens poetologie und literarische Form. Göttingen 2013. 2 Für Angaben und Diskussion zu Forschungsliteratur und -geschichte siehe: Michael Dominik Hagel: Fiktion und Praxis. Eine Wissensgeschichte der Utopie, 1500–1800. Göttingen 2016, S. 9–31.
Zur Narratologie des utopischen Genres am Beispiel C. M. Wieland
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hen (I). Daran anschließend wird dargelegt, wie Wielands Der Goldne Spiegel eine Verschiebung der Problemlage der Gattung anzeigt (II). Zuletzt soll verdeutlicht werden, wie das von Wieland zugleich exemplifizierte und reflektierte Problem der Utopie symptomatisch für eine historische, epistemologische Konstellation ist und wie Wielands Fiktion zu einer Sichtbarmachung der Verschränkung von formalen Problemen und epistemologischen Fragen beiträgt (III).
I. Tatsächlich scheint in der kleinen Schrift, die auf Betreiben Erasmus’ von Rotterdam unter dem Namen Thomas Morus’ im Jahr 1516 zum ersten Mal gedruckt wird, das Denken über den optimalen Staat auf genuin neue Weise formuliert zu sein. Das Titelblatt des kleinen Büchleins verspricht eine Abhandlung über den besten Zustand des Gemeinwesens, ferner Nachricht von der neuen Insel Utopia.3 Für die bis heute anhaltende Popularität des Textes ausschlaggebend ist der zweite der beiden Teile des Werks, welcher eine Beschreibung der Insel Utopia enthält. In dieser Beschreibung liegt auch aus dem Blickwinkel der Darstellungstechniken die wesentliche und grundsätzliche Neuerung, welche die politischen Reflexionen durch die Utopia erfahren. Vorbereitet durch den Dialog im ersten Teil werden die Betrachtungen zur Einrichtung der optimalen Verfassung eines Gemeinwesens im Rahmen einer monologisch vorgetragenen Fiktion präsentiert. Die Utopia stellt nicht nur Überlegungen zur Beschaffenheit des optimalen Staats an, sondern behauptet dessen Tatsächlichkeit und faltet dessen fiktiven Gegebenheiten darstellerisch aus. Im Kontext der gegenwärtigen Argumentation ist zunächst die Wirklichkeitsverdoppelung in der Fiktion, das Faktum der Reklamation dieser fiktiven Wirklichkeit – welche ihren Ort in einer Begriffsgeschichte der Fiktions- und Wirklichkeitsauffassung4 hat – von Interesse. Denn mit der Behauptung der Realität der utopischen Insel verändert sich der Aggregatzustand der politischen Erörterungen. Die Insel Utopia wird nicht als Gedankenexperiment vorgestellt, vielmehr wird die Existenz des besten Zustands eines Staatswesens behauptet. Was Platons Staat – so heißt es bei Morus – »nur mit Worten [d]arstellte«, präsentiert die Utopia mit wirklichen 3 Vgl. die Reproduktionen im Abbildungsteil von Thomas More: Utopia. In: Ders.: The Complete Works of St. Thomas Morus. Hrsg. v. Edward Surtz u. Jack Hexter. 15 Bde. Bd. 4. New Haven 1965. Ausführliche Angaben zur Entstehungs- und Druckgeschichte des Textes gibt die Einführung dieser Ausgabe (Edward Surtz: Introduction. In: More: Complete Works. Bd. 4, S. CXXV–CXCIV, hier: CLXXXIII–CXCIV ). 4 Im Sinne von Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Frankfurt a. M. 2001, S. 47–73.
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Aspekte · 5. Sektion · Michael Dominik Hagel
Menschen und Werken.5 In der Fiktionalisierung der politischen Betrachtung im Sinne eines wirklichkeitsebenbürtigen Fiktionsbegriffs liegt die hauptsächliche Originalität der Utopia-Schrift. Mit ihr verbunden sind Implikationen, die eine erstaunliche Parallelität von epistemologischem Problem und narratologischer Anlage zeigen und ihren – freilich verzerrten – Widerhall bei Wieland finden. Was ist der narrative Modus von Morus’ Fiktion? Am Ende des ersten Buches der Utopia steht die Aufforderung, Landschaften, Flüsse, Städte, Menschen, Sitten, Einrichtungen, Gesetze, kurz alles zu schildern, was es von der Insel Utopia zu wissen gibt. Das zweite Buch ist die Erfüllung dieses Wunsches, das Eiland in seiner Gänze abzubilden. Die Beschreibung Utopias stellt dem Leser – so behaupten die Briefe, die der humanistische Freundeskreis um Erasmus für die frühen Ausgaben verfasste – ein vollständiges Bild der Insel und all ihrer Einrichtungen vor Augen. Nicht nur der ideen- und begriffsgeschichtliche Ort dieses ›Bildes‹ von der Utopie ist herausragend, auch sein literarisches Verfahren ist höchst speziell. Es handelt sich bei der Darstellung der Insel Utopia nicht um eine Erzählung, sondern um eine Beschreibung. Die Utopia ist ein fiktionaler Text, der bemerkenswerterweise als politischer Traktat gewandet ist, und im Gegensatz zu geläufigen fiktionalen Genres – zumindest dort, wo es um die Insel Utopia geht – nicht-narrativ verfährt. Auf den ersten Blick scheint die Frage nach einer narratologischen Beschreibung des utopischen Genres also fehl zu gehen, zumal eben der Zuständigkeitsbereich der Narratologie, die darstellerische Organisation von Geschehensmomenten, in der Schilderung Utopias keinen Raum hat. Jedoch lässt sich gerade aus dem Umstand dieser Abwesenheit eine für die Gattungsgeschichte der Utopie zentrale Frage entwickeln. Die Präsentation der Insel Utopia verweist darauf, dass eine Geschichtszeit, eine sequenzielle und kontingente Abfolge von Ereignissen, die sich als Erzählung organisieren lassen, der Utopie äußerlich ist. Die darstellerische Ordnung kongruiert in diesem Sinne mit der politischen Ordnung der Insel. Was von Utopia in dem Büchlein über die beste Staatsverfassung geschildert wird, ist keineswegs eine Momentaufnahme, vielmehr wird die Zeitstruktur der Beschreibung – die ZeitLosigkeit oder Äußerlichkeit von Zeit – auch für die fiktive politische und gesellschaftliche Wirklichkeit Utopias behauptet. Die Organisation der utopischen Insel folgt einer Logik der Wiederholung immer gleicher Abläufe, die keinen Spielraum für unvorhergesehene Veränderung bietet. Die wesentliche Äußerlichkeit der Zeit betrifft also sowohl die Ebene der Darstellung als auch die Ebene des Dargestellten. Die Darstellung der Insel wird in Form der Deskription mit ihrer der Erzählung entgegengesetzten Anlage geliefert. Und was geschildert wird, ist der zyklisch aktualisierte Zustand des utopischen Gemeinwesens. Auch der Titel hatte ja die Ab5 Thomas
Morus: Utopia. Übers. v. Hermann Kothe. Frankfurt a. M. 1992, S. 27. Vgl. Morus: Utopia [Complete Works], S. 20.
Zur Narratologie des utopischen Genres am Beispiel C. M. Wieland
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handlung eines besten ›Zustands‹ (status) angekündigt. Es handelt sich dabei keineswegs um einen momentanen, volatilen Zustand, sondern um einen dauernden Status, welcher, wie es am Ende des Büchleins heißt, nach allem was menschliche Voraussicht vorhersagen kann, von ewiger Dauer sein wird.6 Wenn der Kern der Utopie ihre der Narration konträre Anlage ist, handelt es sich um einen doppelten Gegensatz, der sowohl auf einer darstellungstechnischen, als auch einer inhaltlichen Ebene auftaucht. Die Gattung Utopie ist durch diesen Problemkomplex gekennzeichnet, in dem narratologische und epistemologische Gegebenheiten analog konfiguriert sind. Die Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten, die sich aus dieser Konstellation ergeben, lassen sich durch die Gattungsgeschichte der Utopie in der frühen Neuzeit verfolgen. Als paradigmatische Beispiele für den Umgang mit der Frage der Zeit oder Zeit-Losigkeit der Utopie – sowohl auf der Ebene der darstellerischen Organisation als auch auf der Ebene der Organisation der dargestellten politischen Formation – können mit Tommaso Campanellas C ittà del sole und Francis Bacons New Atlantis zwei kanonische Texte aus dem frühen 17. Jahrhundert gelten. Während Bacons Insel Neu-Atlantis mit ihrem das Wissen stetig erweiternden Forschungskollegium in einem fragmentarischen Bericht präsentiert wird, schildert Campanella die Versammlung einer Gesamtheit von Wissen in der Sonnenstadt in einem eigenwillig reduzierten Dialog. Mit der Bemühung um Überwindung respektive um Bewahrung der auf Morus’ Insel angelegten Statik, sind zwei gegenläufige Tendenzen der Bewältigung des Problemzusammenhangs der Utopie vorgezeichnet, welche auch bei Wieland verhandelt werden.
II. Wielands Goldner Spiegel gehört nicht bloß zu der hier angedeuteten Utopie geschichte. Der Text kann sowohl als Modell für die Notwendigkeit einer Narratologie des utopischen Genres als auch für die Umstellungen der epistemischen Problemlage gegen Ende des 18. Jahrhunderts angesehen werden. Der Roman erscheint zuerst im Jahr 1772. Der Autor ist, wie sich durch seine Korrespondenzen zeigen lässt, bestens über die zeitgenössischen Versuche im Bereich der literarischen Utopie und des politischen Romans orientiert. Er kennt Louis-Sébastien Merciers Das Jahr 2440 ebenso wie Albrecht von Hallers Usong (beide 1771). Letzteres Werk habe er jedoch nur gesehen und überflogen, da er bereits auf der siebten Seite von Hallers Alterswerk eingeschlafen sei.7 Angesichts der den modernen Leser Wieland 6
Vgl. Morus: Utopia [Complete Works], S. 244. Christoph Martin Wieland an Sophie La Roche, 6. Januar 1772. In: Ders.: Wielands Briefwechsel. Hrsg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte durch Hans Werner Seiffert. 20 Bde. Bd. 4. Berlin 1979, S. 444 f., hier: 444. 7 Vgl.
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einschläfernden Eintönigkeit von Hallers Text, aber auch angesichts der vergleichsweise schnörkellosen erzählerischen Einbettung von Merciers Traumfantasie aus dem 25. Jahrhundert, ist der darstellungstechnische Aufwand, den Wielands Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte. Aus dem Scheschianischen übersetzt betreibt, umso bemerkenswerter. Scheschian heißt das fiktive Reich, von dem erzählt wird. Um eine »wahre Geschichte« aus dem Scheschianischen übersetzt, soll es sich beim Goldnen Spiegel handeln. Wieland spielt mit dieser Übersetzerfiktion. Tatsächlich, so erfährt man im Vorbericht, sei die Schrift keineswegs vom Scheschianischen ins Deutsche übersetzt, vielmehr liege der deutschen Übersetzung eine lateinische Handschrift zu Grunde, die auf Basis einer chinesischen Übersetzung des angeblichen Originals entstanden sei. Das Resultat einer dreifachen Übersetzung soll das vorgelegte Buch also sein, wobei sämtliche Übersetzer ihre Spuren im Text in Form von Fußnoten hinterlassen. Die Übersetzungsfiktion ist aber nur ein Teil der von Wieland aufgebauten Komplexität der Kommunikationssituation. Der Akt des Erzählens selbst wird im Goldnen Spiegel inszeniert. Die Geschichte von Scheschian wird dem Sultan von Indostan in Doppelconference von seiner Mätresse und seinem Hofphilosophen erzählt. Die Geschichte der Könige von Scheschian – welche auf Grund ihrer Anlage und Verschachtelung voller das Erzählen reflektierender Pointen ist – birgt zwei Aspekte, die den Text für eine Geschichte der Utopie relevant machen. Erstens mündet die dargelegte Geschichte des Scheschianischen Reichs – in der Fassung von 1772 – in utopische Zustände. Zweitens ist in diese große Geschichte Scheschians eine kleine Schilderung gewoben, die sich als Echo der Beschreibung der utopischen Insel lesen lässt. Zunächst zu dieser Episode: Die Geschichte der Könige von Scheschian ist kaum in Gang gekommen, als der Sultan die Erzählung mit der Frage nach einer Lebensordnung oder Policey, »wodurch allen […] Übeln vorgebeugt werden könnte«, unterbricht.8 Sein Hofphilosoph antwortet mit der Schilderung einer Gemeinschaft, welche in der Abgeschiedenheit eines Tals einen Modus des dauerhaft glückseligen Lebens gefunden haben. Die Abschweifung über diese »Kinder der Natur« zitiert eine Reihe von Topoi, die seit Morus für das utopische Genre typisch sind, und von denen die topographische Beschränkung der Talgemeinschaft nur der augenfälligste ist: Abgeschieden von der Welt in einem fernen Tal leben die Kinder der Natur ein langes und überaus klar reglementiertes Leben. Die ganze Gesellschaft versteht sich als eine Familie und ist ebenso organisiert. Die Kinder der Natur sind wirtschaftlich autark, etc. Freilich: Im Vergleich zu Morus’ urbaner In8 Christoph
Martin Wieland: Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte. Aus dem Scheschianischen übersetzt. In: Ders.: Wielands Werke. Historischkritische Ausgabe. Hrsg. v. Klaus Manger u. Jan Philipp Reemtsma. 36 Bde. Berlin/New York 2008 ff. [im Folgenden: WW], hier: WW X,1.1, 42.
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selkultur haben die Kinder der Natur nur wenig zu bieten. Die Grundzüge jedoch, vor allem was die Zeitdimension betrifft, in der das Gemeinwesen existiert und sich reproduziert, könnten kaum ähnlicher sein. Die Bauform des Goldnen Spiegels bietet reichlich Raum für die Diskussion der Digression über die Talgesellschaft. Das Resümee, es wäre um die Sitten der Gegenwart nicht anders bestellt, auch wenn die Welt »mit Gemählden von glücklichen Inseln und glücklichen Menschen angefüllt « wäre (WW X,1.1, 71), ist hier vor allem auf Grund seiner Metaphorik von Interesse. Das ›Gemälde‹ der Talgesellschaft hat im Goldnen Spiegel gewiss mehrere Funktionen; die poetologischen und moralischen Implikationen der Abschweifung werden explizit verhandelt. Eine weitere Funktion ist eine generische: Die Abgrenzung der Erzählung über die Könige von Scheschian von den Beschreibungen der insularen utopischen Fiktionen des dauerhaften Gleichgewichts, welche für die Gattung der Utopie seit dem 16. Jahrhundert charakteristisch gewesen waren. Der Typus von stabiler, statischer Utopie, der zu Beginn der Neuzeit aufgetaucht war, erscheint im Goldnen Spiegel als Abschweifung, als Digression in Form einer »kleinen Geschichte« oder, wie es im Roman eben auch heißt, eines »Gemäldes« von einer isolierten Gesellschaft. Der Goldne Spiegel knüpft aber, wie erwähnt, noch anderweitig an das utopische Genre an. Die Erzählung von den Königen von Scheschian, in der man unschwer Abbilder der europäischen Neuzeit finden kann, steuert nämlich zielsicher auf ein Ende zu, das den Staat Scheschian in den besten aller möglichen Zustände versetzt. Die Erzählung vom Scheschianischen Reich wird an Hand der Genealogie seiner Könige entwickelt. Ein Herrscher folgt dem anderen nach und mit der jeweiligen Figur des Königs ändern sich auch die Geschicke des Landes. Wielands 1772 erschienener Text endet mit einem durch eifrige pädagogische Anstrengungen wohl vorbereiteten König, der alles, »was die alten Fabeln oder Überlieferungen uns von dem wonnevollen Leben der ältesten Menschen« berichten, wahr macht (WW X,1.1, 270). Ohne Zweifel kann man in diesem Ende eine Anknüpfung an das utopische Genre sehen. Dass Utopie nunmehr als Endpunkt einer zeitlichen Folge – hier der dynastischen Sukzession – erscheint, unterscheidet diese Art Utopie jedoch sicherlich von den Seefahrerberichten, welche Inseln des stabilen politischen Optimums beschrieben hatten. Unter diesen Vorzeichen verändert sich auch die Präsentation der Utopie. Abrupt endet der Roman mit der Versicherung des utopischen Endes von Reich und Erzählung. Die Darstellung bricht ab, ohne der Beschreibung dieser Zustände Raum zu geben. Eine Beschreibung des sukzessive zur Utopie gewordenen Staatswesens im Sinne der minutiösen Schilderung der Insel Utopia oder auch des Tals der Kinder der Natur bleibt aus.
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III. Der Goldne Spiegel knüpft mit der Schilderung der Talgemeinschaft der Kinder der Natur und der Geschichte des Königreichs Scheschian zweifach an das utopische Genre an. Die ›Utopie‹ erscheint zum einen als Digression, zum anderen als Endpunkt einer Sukzession. Die Digression wiederholt in gewissem Sinne, was mit Morus’ Utopia aufgetaucht war: die Beschreibung eines optimalen Gemeinwesens, das von der Dynamik eines historischen Fortschritts dissoziiert ist. Die Markierung dieser Wiederholung in der Abschweifung könnte deutlicher nicht sein. Schwärmerei und mangelnde Bodenhaftung solcher der historischen Zeit enthobenen Anordnung werden innerhalb der Fiktion der Geschichte von Scheschian explizit gemacht. Wielands kurz vor dem Goldnen Spiegel erschienene Republik des Diogenes (1770) würde in Richtung der Abtragung des alten, insularen Utopiebegriffs weiteres Material liefern.9 Die Alternative zu den in der Digression zugleich zitierten und diskreditierten utopischen Eskapaden, ist die Haupthandlung, die Königshandlung des Goldnen Spiegels, in der allerdings die Beschreibung der Utopie zur Ellipse wird. Wielands Roman kann als überaus stichhaltiger Beitrag zur Arbeit am Begriff der Utopie gelesen werden. Er macht deutlich, dass auch die Gattung der Utopie vom Auftauchen eines Geschichtsbegriffs bewegt wird, den Reinhard Koselleck mit der Herausbildung des Kollektivsingulars Geschichte beschrieben hat. Wie unter diesen Vorzeichen die Utopie nicht mehr als Insel in den unerforschten Breiten des Globus erscheint, sondern ins Zukünftige projiziert wird, ist von der Forschung – oft mit Hinweis auf Merciers Jahr 2440 – beschrieben worden.10 Während Merciers Text für die Öffnung des Denkens auf eine Zukunftsdimension hin symptomatisch ist, artikuliert Wielands Roman die Implikationen dieser epistemologischen Umstellung für den Begriff der Utopie und bringt deren narratologische Dimension zur Geltung. Dass die geschichtsphilosophisch imprägnierte Utopie sich nicht mit der Beschreibung eines Zustands zufrieden geben kann, dass im Gegenteil eine auf Fortschritt ausgerichtete Vorstellung von Geschichte den klassischen Utopiebegriff unterminiert und aus dem Gleichgewicht bringt und zu einer Komplizierung der narrativen Anlage führt, wird bei Wieland evident. Statt Beschreibung lautet der darstellerische Modus der Utopie nunmehr Geschichte, zumal Staatsgeschichte. Genauso wie bei der Insel Utopia ist auch hier die ästhetische Präsentation untrennbar mit der Beschaffenheit der dargestellten politischen Formation verknüpft. Die Utopie bekommt eine Geschichte: Diese Umstellung des Utopiebegriffs bedeuMartin Wieland: Σωκράτης μαινόμενος oder die Dialogen des Diogenes von Sinope. Aus einer alten Handschrift. In: WW IX,1, 85–105. 10 Vgl. exemplarisch Reinhart Koselleck: Die Verzeitlichung der Utopie. In: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1984, S. 1–14. 9 Christoph
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tet mithin auch die Zersetzung der zeit-losen Konstruktionen politischer Stabilität, die den Horizont der frühneuzeitlichen Utopie gebildet hatten. Besonders deutlich wird an der Gattungsgeschichte der Utopie also, wie Form und Inhalt aufeinander bezogen sind; wie die narrative Anlage den Index epistemischer Verhältnisse vorzeichnet. Die Konsequenzen des Prekärwerdens des optimalen Zustands, mit dessen Beschreibung die Gattung zu Beginn des 16. Jahrhunderts aufgetaucht war, lassen sich durch die Textgeschichte des Goldnen Spiegels eindringlich illustrieren. Im Jahr 1794 erscheint eine überarbeitete Fassung des gut zwanzig Jahre früher publizierten Romans. Wieland fügt der Geschichte einen Schluss hinzu, in dem der Zusammenbruch der sorgfältig komplizierten Kommunikationssituation ebenso wie jener des utopischen Reichs in Szene gesetzt wird. Der aus der Erstfassung bekannte Erzähler der Geschichte der Könige von Scheschian, der Hofphilosoph, wird gleich zu Beginn der Fortsetzung ins Gefängnis geworfen. Von Scheschian wird berichtet, es habe sich nicht lange in den utopischen Höhen halten können, mit denen der Text 1772 geendet hatte, und sei durch eine Reihe unfähiger Herrscher schließlich zu Grunde gegangen, so dass auch die gelehrtesten Altertumsforscher nicht im Stande wären, die Grenzen des ehemaligen Staatsgebiets zuverlässig anzugeben.11 Das ist also das Ende der Nachfolge Scheschians: der Erzähler der Utopie im Kerker, die politische Formation aufgelöst. Eben der Schwung, der die Erzählung zur Utopie gebracht hatte, führt unabdingbar auch wieder davon weg. Wielands Roman exemplifiziert zwei Möglichkeiten, Utopie zu präsentieren. Zwei strukturell und prinzipiell verschiedene Optionen, ein »sonst planloses Aggre gat menschlicher Handlungen«12 darstellerisch zu bewältigen. Einerseits die Beschreibung – als Abschweifung der Geschichte eingelagert –, anderseits die Erzählung, die sich entlang der dynastischen Folge organisiert. Das Stabilitätsversprechen, das mit der utopischen Insel aufgetaucht war, wird in beiden Varianten gründlich demontiert. Damit ist die Utopie sicher nicht an ein Ende gekommen. Vielmehr würde ich vorschlagen, Wielands Beitrag zum utopischen Genre als Lösung, wenn auch vielleicht im Sinne der Auflösung eines bestimmten Begriffs von Utopie zu sehen. Was Wielands Text leistet, ist nicht weniger als der Aufweis epistemischer Funktionsmechanismen des Utopiebegriffs mittels narrativer Ausgestaltung. Der Goldne Spiegel ist eine Aufklärungserzählung, indem die Arbeit am Utopiebegriff nicht in gerader Linie betrieben wird, sondern die Möglichkeiten der narrativen 11 Vgl.
Christoph Martin Wieland: Der Goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hamburger Reprintausgabe. 39 Bde. Bd. 7. Hamburg 1984, S. 317–373. 12 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. 6 Bde. Bd. 6. Frankfurt a. M. 1964, S. 31–50, hier: 48.
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Gestaltung eingesetzt werden, um epistemische Strukturen offen zu legen. Wieland macht deutlich, wie eine Geschichte der Utopie mit einer Geschichte der literarischen Verfahren verflochten ist und wie gerade eine Narratologie des Genres dazu beiträgt, die Gattungsgeschichte zu beschreiben.
Christian Reidenbach
»Zur Tatsache!« Krise der Mimesis und diskontinuierliches Erzählen bei Denis Diderot Wie wäre zu schreiben von einem Gemälde, das man selbst nicht sehen kann, zu schreiben überdies für ein Publikum, das ebenjenes Bild ebenfalls nicht kennt? Wären ein solches Schreiben, eine solche Ekphrasis nicht ganz und gar unmöglich zu nennen oder eher mit einem Erschreiben des Abwesenden zu vergleichen, in der Repräsentation durch Evokation ersetzt ist? Von solcher Unmöglichkeit berichtet Diderot mit Bezug auf Fragonards Le grand prêtre Corésus se sacrifie pour sauver Callirhoé seinem Freund Melchior Grimm: »Lieber Freund, es ist mir unmöglich, Sie mit diesem Bild zu unterhalten. Wie Sie wissen, war es bereits nicht mehr im Salon, als das Aufsehen, das es erregte, mich zur Stelle rief.«1 Das Eingeständnis einer solchen Unverfügbarkeit des Beschreibungsgegenstandes führt jedoch nicht etwa zu einem Aussetzen des Textes; sie entfesselt vielmehr die imaginativen Ressourcen des Autors. Diderot erschreibt somit für den Salon von 1765 Fragonards Bild aus einer doppelten Abwesenheit heraus: Es ist nicht allein abwesend für den Leser an einem europäischen Fürstenhof, sondern zugleich, zumindest der Behauptung nach, auch für den schreibenden Autor: »Um nun diesem Artikel zu Fragonard nachzukommen, werde ich Sie an einer recht merkwürdigen Vision teilhaben lassen, die mich in der Nacht nach einem Tag heimsuchte, an dem ich morgens Bilder besichtigt und abends einige Dialoge von Platon gelesen hatte.«2 Diderot suggeriert, dass sein Text eine Leerstelle zu füllen imstande ist mittels einer radikalisierten Repräsentation, in der die Schrift nicht allein als Substitut einer bildlichen Repräsentation einspringt, sondern sich selbst als originär setzt. Wäre die Beschreibung der realen Welt dort, wo sich die Lust am Erzählen nicht mehr auf einen realen Erzählgegenstand beziehen kann oder muss, nun durch die Beschreibung fiktionaler als möglicher Welten zu retten? Diderots fiktive Beschreibungen eines gewollt oder ungewollt Unverfügbaren beleuchten den zentralen Stellenwert des Verhältnisses von Abwesenheit und Gegenwart, von Realität und Fiktionalität bzw. von Wahrheit und Lüge des Erzählens nicht nur im Werk Diderots, sondern in der poetologischen Reflexion des 18. Jahrhunderts. Sie veranschaulichen,
1 Denis
Diderot: Salon de 1765. In: Ders.: Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Hrsg. v. Herbert Dieckmann u. Jean Varloot. 33 Bde. Paris 1975 ff. [im Folgenden: DPV], hier: DPV 14, 253. Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser. 2 Ebd.
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wie die imitatio durch den energetischen Begriff einer eigenschöpferischen Mimesis ersetzt wird.
1. Kunst als τέχνη Bereits in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts vollziehen sich unter englischem Einfluss jene Transformationen, in denen der Sensualismus hinsichtlich der Kunst betrachtung in den Begriff einer Ästhetik einmündet, der sich von normativen und präskriptiven Elementen befreit hat. Diese Entwicklung verläuft weitgehend im Zuge der in den Naturwissenschaften besonders scharf formulierten Kritik an einer geometrischen Vernunft. Weil es Sache des außengerichteten Instinkts und der Sinne ist, sich die Welt in der tastenden Observation anzueignen, wie Diderot, darin Bacon verlängernd, fordert,3 bringt der weite Begriff der artes im 18. Jahrhundert Kunst als τέχνη unmittelbar mit ihrem Material auf Tuchfühlung. Der naturwissenschaftliche Weltbezug wird zum Beispiel für die Vorgehensweise des Künstlers und für fähig erachtet, dessen gestaltender Geste zu neuer Reflexivität zu verhelfen.4 Statt sich daher mit den so artifiziellen wie rigiden Zurichtungen der Regelpoetik zu begnügen, ist ein neuer Schöpferbegriff bei Diderot zudem verbunden mit der Reflexion auf die aktive Materie, die es zum Ausdruck drängt: »Die Natur treibt das Genie, das Genie den [bloß] Nachahmenden. Es gibt kein Mittleres zwischen der Natur und dem Genie, das immer zwischen der Natur und dem Nachahmenden vermittelt.«5 Die vitale Energie versetzt nicht allein die Wesen in Gärung und treibt zur Sicherung bzw. zur Perfektionierung der Norm beständig Abweichungen hervor; sie gestattet auch der menschlichen Imagination, wie ein Magnet Erinnerungsfragmente zu bündeln, zu neuen Kombinationen zu verbinden und im Werk mögliche Wirklichkeiten zu stiften. An dieser Stelle jedoch eröffnen sich verschiedene Probleme. Im ersten erkennen wir ein mediales: Bereits ein einfacher Realismus, in dem die Natur kaum vermittelt in der Kunst zur Darstellung drängte, muss an den unterschiedlichen Dimensionierungen der künstlerischen Darstellungsmittel scheitern. Diderot zeigt, inwiefern die Sprache in Bezug auf eine in beständiger Bewegung begriffene Natur immer schon zu spät ist. Man mag so viele Termini zwischen einem gegebenen und einem anderen Begriff einfügen, wie man will: Weil diese Termini immer isoliert bleiben, weil sie sich nicht berühren, weil sie zwischen sich ein Intervall bilden, können sie niemals gewissen 3
Vgl. Diderot: Pensées sur l’interprétation de la nature. In: DPV 9, 33 f. u. 47 f. Vgl. Diderot: Lettre sur les aveugles. In: DPV 4, 62. 5 Diderot: Réfutation d’Helvétius. In: DPV 24, 687. 4
Krise der Mimesis und diskontinuierliches Erzählen bei Denis Diderot
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kontinuierlichen Größen entsprechen. Wie soll man eine kontinuierliche Größe mit einer diskreten Größe messen? Ebenso: Wie soll man eine Handlung mit zeitlicher Erstreckung durch Bilder von separierten Momenten wiedergeben?6
Die Kernfrage erweist sich hier als ein Problem der Dimensionen, und zwar zwischen kontinuierlichem Befund und diskreten Darstellungsmitteln. Auf das zweite Problem in der direkten Umsetzung eines Realismus wollen wir nur verweisen: Diderot hatte bereits in den Pensées sur l’ interprétation de la nature die Unverfügbarkeit weiter Bereiche für die menschliche Erkenntnis zu einem Grundprinzip seiner Epistemologie gemacht und im Artikel »Encyclopédie« den Sachverhalt im Tableau einer Landschaft gefasst, von der nur wenige Einzelbereiche gleich Felsen über einem diffusen Meer indistinkter Sinnvermischungen zu erkennen sind.7 Aus diesem Befund ergibt sich auch für die Literatur die folgenreiche Konsequenz, dass auch die fiktionale Wirklichkeit nur in einem pas à pas, in einem Voranschreiten entlang des Partikularen, erschließbar ist. Wir werden darauf in der Rede vom Detail zurückzukommen haben. Das dritte Problem ist zentral und zielt direkt auf die mimetische Legitimität der Kunst: Dass sie sich in ihrer medial-technischen Verfasstheit auf ihre Naturwahrheit besinnen muss bzw. Diderot die Naturwahrheit im naturwissenschaftlichen Sinne auslegt,8 verlangt nämlich nach einer Neuformulierung des Begriffs vom Schönen. Wie jedoch wäre das erste, ideale Modell aus der Natur selbst abzuleiten, wenn es in der Immanenz selbst nicht anzutreffen ist?9 Diderots bekannte Auseinandersetzung mit dem Klassizismus operiert maßgeblich über eine Aufwertung des künstlerischen Genies einerseits, dessen Werk gegen Platon von einem Abbild dritten Grades zu einer echten Schöpfung zweiten Grades nobilitiert wird,10 sowie über eine Dekonstruktion des Ideals andererseits, sei es in seiner Pluralisierung11 bzw. Historisierung oder aber in seiner Auflösung in den historischen Prozessen seiner Entstehung, bei der die Idealform, die dann nur noch Muster zu nennen ist, aus ei6
Denis Diderot: Art. Encyclopédie. In: Ders. u. Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hrsg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. 17 Bde. Bd. 5. Paris 1755, S. 638. 7 Vgl. ebd., S. 640. 8 Vgl. dazu Robert Niklaus: L’Esprit créateur de Diderot. In: Cahiers de l’Association internationale des études françaises 20 (1968), S. 39–54, hier: 51. 9 Vgl. Diderot: Salon de 1767. In: DPV 16, 68 f. 10 Im Vergleich zum reinen Porträtisten adelt das Genie der Anspruch, nicht der Phänomenwelt zu einer weiteren Abbildung zu verhelfen, sondern die Ideen selbst darstellen zu können. »Geben Sie daher zu, dass Sie, wenn Sie etwas Schönes erschaffen, nichts hervorbringen, was schon ist, noch etwas von dem, was sein könnte« (ebd., S. 67 f.). 11 Die Begegnung mit der fremden Kultur Tahitis nutzt Diderot explizit, um den Begriff des Ideals zu pluralisieren: »Es gibt beinahe nichts Gemeinsames zwischen der athenischen Venus und jener von Tahiti« (Diderot: Supplément au voyage de Bougainville. In: DPV 8, 613).
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ner Anhäufung von Details optimiert und synthetisiert wird.12 Diderot zeigt hier, dass eine Ermittlung des Schönen auch bei den Griechen immer schon nach dem Beispiel der Experimentalphilosophie vorgenommen wird, in einem tastenden Prozess unendlicher Annäherung an den Limeswert einer Linie, bei dem das poco più und das poco meno die haarfeine Abweichung der Natur vom Ideal, das Umschlagen des Schönen ins Hässliche markiert.13 So ist das Ideal kulturell und historisch bedingt: Der Sprung zu den Alten bedeutet dagegen einen Verstoß gegen das Prinzip, dass die Natur keinen Sprung macht.14 Klassizismus erweist sich in dieser Hinsicht nur noch als Afterkunst.15 Wenn die Künste also zwar einerseits einer natura naturans zum Ausdruck verhelfen sollen, andererseits aber so wenig einem Vergleich mit den gestaltenden Kräften der Natur standhalten und, gemessen am realistischen Anspruch, nur ein jeweils unvollständiges Werk zutage fördern, muss dem Roman der Moderne daran gelegen sein, nicht mehr die Welt, sondern eine Welt darstellen zu wollen,16 in der die Kräfte der Natur zwar als Kriterium von Wahrheit dienen, aber der sinnlich-medialen Überforderung durch Informationsentzug und Selektion vorgebeugt ist. Dieser widersprüchlichen Forderung kommt Diderot nach, indem er einerseits die Wahrheit des Romangeschehens behauptet und andererseits ihre Konstruktion sichtbar werden lässt. Eine solche Wahrheit, die weder der herkömmlichen vraisemblance entspricht noch in einen schieren Realismus verfällt, bedarf jedoch eigener Legitimation.
12
Diderot spielt auf Zeuxis an, der für die Gestaltung des Helenabildes für die Stadt Kroton fünf verschiedene Jungfrauen verglich, um die schönsten Details einer jeden im Bild zu vereinen. Charles Batteux verweist auf die Anekdote innerhalb einer idealistischen Definition der Mimesis als einer »Imitation, bei der man die Natur nicht sieht, wie sie für sich selbst ist, sondern wie sie sein kann, und bei der man sie mit dem Geist erfassen kann« (Charles Batteux: Les Beaux Arts réduits à un même principe. Paris 1746, S. 24 f.). Dubos hatte bereits 1719 mit Bezug auf Quintilian ergänzt, dass in der Zeuxis-Nachfolge die Physiognomien der Götter nur mehr nach dem Muster der Zeuxis-Figuren ausgeführt wurden – das Prinzip der nachforschenden Ermittlung des Schönen verliert sich in einer Tradierung der Form. Vgl. dazu Jean-Baptiste Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. Hrsg. v. Dominique Désirat. Paris 1993, S. 89 f. 13 Vgl. Diderot: Salon de 1767. In: DPV 16, 72. 14 Vgl. ebd., S. 74. 15 Diderots Argumentation gegen die Regelpoetik wendet sich zugleich gegen eine Identifikation mit den Antiken: »Die Natur auf der Basis der Antike erneuern heißt, den Weg der Alten in umgekehrter Richtung zu beschreiten, die ihrerseits keine [Antike] kannten; heißt, immer nach einer Kopie zu arbeiten« (ebd., S. 71 f.). Diderot richtet sich gegen Batteux’ Formel »Die Antike war für uns, was den Alten die Natur gewesen war« (Batteux: Les Beaux Arts réduits à un même principe, S. 74). 16 Zu dieser Differenz vgl. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Hans Robert Jauß (Hrsg.): Nachahmung und Illusion. München 21969, S. 9–27, hier: 19. Blumenberg spricht hier auch von der Weltebenbürtigkeit des Romans (ebd., S. 18).
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2. Die Legitimität einer neuen Mimesis Die poetologische Krise der Neuzeit war, wie Hans Blumenberg festgestellt hat, durch die Erkenntnis ausgelöst worden, dass bisher »die Idee der vollständigen Entsprechung von Möglichkeit und Wirklichkeit [es nicht zuließ], daß der Mensch geistig originär wirken kann.«17 Entgegen der Dominanz der imitatio-Lehre identifiziert der Autor im Werk Platons zwei verschiedene Schöpferbegriffe: den Demiurgen des Timaios, der ein Veranschaulichungsmodell für die Konkretion der Ideenwelt im physischen Kosmos darstellt; und den Phutourgos der Politeia, der mit dem Gegenstand zugleich die Idee dieses Gegenstandes erschafft – ein Modell göttlicher Tätigkeit also, in dem mit der Kreation nicht lediglich nachgeahmt wird, sondern Abbild und Urbild gleichursprünglich sind.18 Das Missverständnis in der christ lichen Platon-Exegese, den Schöpferbegriff einzig auf den Demiurgen des Timaios und nicht auf jenen Phutourgos zurückzuführen, und die zähe Beharrlichkeit dieser Tradition, in der die Kunst sich dem Ruf der schlichten Nachbildung schwer nur entzieht, bedingt die Vehemenz, in der das 18. Jahrhundert sich vom Klassizismus distanziert. Während die klassizistische Dichtung in einem Sprechen-Über verharrte, entsteht nun eine Literatur, in der »die Dinge zugleich ausgesprochen und repräsentiert sind[.]«19 Wenn sich jedoch die Literatur solcherart von der Historie emanzipiert, muss das Verhältnis von der vraisemblance, wie sie für das 17. Jahrhundert gilt,20 und der Wahrheit der Welt neu tariert werden. Täuschung ist dann nicht mehr per se anrüchig. Die Glaubhaftigkeit wird he rausgeführt aus ihrer ideellen und ideologischen Verpflichtung, entlastet von ihrem mimetischen Auftrag und insofern kriteriell an der Wahrscheinlichkeit (probabilité) ausgerichtet, als sie nun lediglich gewährleistet, dass das Romangeschehen im Rahmen des innerhalb der Naturgesetze Möglichen verbleibt: 17 Hans
Blumenberg: ›Nachahmung der Natur‹ [1956]. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 55–103, hier: 70. 18 Vgl. ebd., S. 68 ff. 19 Diderot: Lettre sur les sourds et muets. In: DPV 4, 169. 20 Gérard Genette weist am Beispiel der Querelle du Cid und des Skandals um die Princesse de Clèves nach, dass der Begriff der vraisemblance im 17. Jahrhundert ein Regulativ zur Darstellung des Sittlichen bildet, das jedoch im Text nur in Form eines »stillschweigenden Pakts zwischen dem Werk und seinem Publikum« wirksam wird, indem es nämlich eine kollektive Wertvorstellung als Ideologie realisiert. Vgl. ders: Vraisemblance et motivation. In: Communications 11 (1968), S. 5–21, hier: 5–9. Zuvor hat bereits Werner Krauss gezeigt, dass die begriffliche Verschiebung der vraisemblance von einem Sein-Sollen zu einer Wahrscheinlichkeit im Sinne der Naturwahrheit in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts vollzogen wird; er begründet dies allerdings lediglich mit dem Verlangen eines nunmehr breiteren Publikums nach kürzeren, populäreren Texten (Werner Krauss: Zur französischen Romantheorie des 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Aufklärung II. Frankreich. Hrsg. v. Rolf Geißler. Berlin/Weimar 1987, S. 442–462, hier: 444 f.).
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Nicht jedes Mögliche darf in einer qualitätsvollen Kunst oder Literatur seinen Platz finden […]. Was hier an Möglichem verwendbar ist, das sind die glaubhaften Möglichkeiten, jene also, bei denen man eher dafür als dagegen wetten kann, dass sie innerhalb eines durch die Handlung selbst umrissenen Zeitrahmens vom Zustand der Möglichkeit in jenen der Existenz übergegangen sind.21
Doch bemisst und konstruiert sich die Romanhandlung nach den Gesetzen der Kombinatorik; deren Glaubwürdigkeit wird bewertbar vor dem Hintergrund der Naturgesetze, in deren kriteriellem Raster die sinnfällige von der bloß kontingenten Schöpfung absticht. Ausgeschlossen werden müssen beispielsweise jene Kombinationen, die niemals geschehen könnten und die auch niemals geschehen sind. Als Beispiel einer solchen Unmöglichkeit nennt der Autor launig das zufällige Zusammentreffen von Jungfrau, Niederkunft und Krippe.22 Damit aber kassiert Diderot den Abstand zwischen der Wahrscheinlichkeit als einer sittlichen Qualität und der Wahrheit des Erzählens – einer Wahrheit, wie Diderot sie am Beispiel Richardsons lobt, der gerade den sittlichen Gehalten zur Darstellung verhilft. Doch als probabel erscheint nicht allein das, was im Rahmen des naturgesetzlich oder affektiv Plausiblen liegt, sondern was zudem jene Selbstprojektion des Lesers in das Romangeschehen erlaubt, die als Substitutionsbewegung der Ein- und Mitfühlung für die Diderot’sche Moral so kennzeichnend ist. In solcher Identifikation erhält nicht nur das ausgestellte Bild, sondern auch der Roman eine Sogwirkung, die seinen ideellen Tiefenverlust kompensiert. Diderot beschreibt, wie er sich als Leser in die Gespräche der Protagonisten Richardsons einmischt und also einwilligt, sich selbst als Teil einer möglichen Welt zu setzen, die bisher nicht die seine ist. Die rezeptionstheoretischen Romantheorien haben herausgearbeitet, dass im 18. Jahrhundert ein wesentlicher Reiz bei dieser Einwilligung des Lesers in den Sinn- und Erfahrungszusammenhang der Literatur nicht allein in der Lust am suggestiven Anderen besteht, dass er weniger von der autonomen Wahrheit des Textes ausgeht, sondern zugleich von der Inkompossibilität seiner erlebbaren Wirklichkeit mit der Lebenswirklichkeit des Lesers herausgefordert wird, ja sich in den Ausfaltungen möglicher Welten steigert – in der niemals bruchlosen Folge, in der der Romantext von Jacques le fataliste beispielsweise Diegese, Intra- und Metadiegese, in der er Digression und mäanderndes Parlando des Erzählers atemlos aneinanderreiht und vor allem, in der er die Auflösung der einzelnen Geschichten vorenthält und die Protagonisten niemals zu Ende erzählen können. Entsprechend dem Prinzip, dass die Kunst verkürzt und im Unterschied zur Natur, die sich langsam in der Zeit entfaltet, Sprünge macht,23 unterschlägt der Romantext mehrere Seiten, der Erzähler 21 Diderot: 22 Vgl.
23 Vgl.
Essais sur la peinture. In: DPV 14, 366.
ebd. Diderot: Pensées sur l’interprétation de la nature. In: DPV 9, 64 ff. Ein Halsweh
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bricht aus einer Erzählung aus und hastet in die nächste. Diese rhapsodische Erzählweise vereint, so der Vorwurf des erzählten Lesers an den Erzähler, wahllos und ohne Ordnung reale und imaginierte Tatsachen.24 Dennoch findet an den Rändern des Textes und in seinen Offenheiten die Imagination des Publikums genau jene Anknüpfungspunkte vor, an denen es sich in Bezug auf das Geschehen emotional oder imaginativ investiert. Es sind die funkelnden Details einer aufgesprengten Prosa, in denen an den Leser wirkmächtige Einladungen in die Fiktion des Textes ergehen. Im Detail, und gerade das wird ihren Natürlichkeitseffekt beweisen, zeigen sich beide Welten überschreitbar.
3. Dispositionen möglicher Welten In Jacques le fataliste besteht eine geschlossene Kette der Ereignisse bekanntlich einzig als die Hypothese von einem Buch der Welt, in dem Jacques das Kommende vorbeschlossen sieht. Diesem schicksalhaften Welttext steht das Diskontinuierliche des manifesten Romantextes gegenüber – eine strukturelle Opposition, angesichts derer die Opposition von Fiktion und Wirklichkeit zu verblassen scheint. Diese Vereinzelung der Fakten ist die Konsequenz einer fatalistischen Perspektive, die jegliche Wirklichkeit als zusammengesetzte analysiert. Was die atomistische Sprachreflexion gewöhnlich im Beispiel der Ilias fasst, die selbst nur das glückliche Resultat einer endlichen Zahl von Buchstabenkombinationen bildet, stellt Diderot dem Leser vor Augen, indem er Verläufe in Tatsachen, gar in Details dividiert. Als bringt Jacques über ganze Passagen zum Verstummen: »An dieser Stelle klafft eine wirklich bedauerliche Lücke in der Unterhaltung zwischen Jacques und seinem Herrn. Eines Tages wird ein Nachfahre Nodots, Freinshémius’ oder des Paters Brottier sie vielleicht schließen; und die Nachfahren von Jacques oder seinem Herrn, die Besitzer des Manuskriptes, werden darüber lauthals lachen« (DPV 23, 235). So wird auf der Ebene der Romanhandlung bzw. des metaleptischen Kontakts mit dem Autor das Unvollständigkeitsdefizit zur Sprache gebracht, das der Versprachlichung komplexer Inhalte strukturell eignet. Diese auf der Form- wie auf der Inhaltsebene diskutierte quantitative Ökonomie des Romans steht in Diderots Werk in Konkurrenz zu anderen narrativen Ökonomien, so beispielsweise in den extremen Abkürzungen des enzyklopädischen Schreibens, in dem sich geometrisches und naturphilosophisches Interesse vereinen, »eine dichtgedrängte, stark verknüpfte und damit bruchlose [très-continu] Gesamtheit [ensemble] zu bilden« (Diderot: Art. Encyclopédie, S. 643). Sie steht zudem im Kontext einer Kritik an der – beispielsweise durch Detailbeschreibungen hervorgerufenen – Länge des Romans, wie sie Diderot in der Éloge de Richardson (vgl. DPV 13, 197) zur Sprache bringt. Für Diderot ist der Wunsch, solche für das Charakterbild der Protagonisten zentralen Passagen überspringen zu wollen, Zeichen einer ungeübten Lektüre und damit mangelnder Bildung. 24 Vgl. Diderot: Jacques le fataliste et son maître. In: DPV 23, 76 (»so ohne Zusammenhang in der Konversation wie die Lektüre eines Buches, bei dem man mehrere Blätter übersprungen hätte«), 101 (unvollständige Handlungsverläufe als Sackgassen) u. 230 (»[I]hr Jacques ist nichts als eine geschmacklose Aneinanderreihung [rhapsodie] von Fakten«).
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Autor handelt er dabei gemäß der eigenen paradoxen Einsicht, dass gerade die bizarre und sprunghafte Vorstellungswelt des Dichters der Wahrhaftigkeit der Natur eher entspricht als ein mimetisches Nachempfinden vermeintlich logischer Sinneinheiten und bruchloser Handlungsfolgen.25 Denn das Bizarre fällt, wie Diderot in den Pensées sur l’ interprétation de la nature bemerkt hat, nicht aus der Natur heraus, es spiegelt vielmehr die Normalität des Erkenntnisvorgangs, in dem das Wahrgenommene zunächst unverbunden im Weltkontext steht.26 Jene Rekonstruktion, die der Leser aus den bizarren Kombinationen der Erzählung vornimmt, entspricht jenen Wahrnehmungsprozessen, die ihm im täglichen Leben ermöglichen, Sinn aus singulären bzw. unverbundenen Sinnestatsachen herauszulesen. Deshalb bittet der Herr seinen Knecht Jacques, die langatmigen Beschreibungen zu übergehen und zu den Tatsachen vorzudringen, die in einem genesenen Knie und in der Verliebtheit des Protagonisten bestehen. Der Herr: Und du glaubst, dass ich es drei Monate im Haus des Doktors aushalten werde, ehe ich das erste Wort von Deinen Liebschaften vernehme? Ach, Jacques, das kann nicht sein. Ich bitte dich, verschone mich mit der Beschreibung des Hauses und des Charakters des Doktors, ebenso mit jener der Laune seiner Frau, auch mit den Fortschritten deiner Genesung, springe, überspringe all das. Zur Tatsache, schnurstracks zur Tatsache. Dein Knie so gut wie genesen, du selbst wohlauf, und voilà: du liebst.27
Anhand solcher Indizien sind der Herr bzw. der Leser selbst in der Lage, auf die Steigerung des Begehrens bei Jacques zu schließen. Die eigentliche Tatsache freilich besticht dann durch ihre Deutlichkeit. Jacques erzählt: »Tatsache ist, dass sie [d. h. Dame Marguerite] ziemlich wenig bekleidet war und dass ich ebenfalls recht wenig anhatte. Tatsache ist, dass ich immer mit der Hand dort zugegen war, wo bei ihr nichts war, und dass sie ihre Hand dort platziert hatte, wo das bei mir ziemlich anders aussah.«28 Die Pluralisierung von Wirklichkeit in den Entwürfen und Kombinationen ihrer möglichen Lesarten separiert zugleich die erlebte von den möglichen Welten der Literatur. Eine Imagination, deren Schöpfungen im Feld des statistisch Realisierbaren verbleiben, wird damit zum Befähigungsnachweis für den Dichter. Einblicke 25
Vgl. ebd., S. 81 f. Diderot: Pensées sur l’interprétation de la nature. In: DPV 9, 45. Vgl. dazu Étienne Bonnot de Condillac: Traité des sensations. In: Ders.: Œuvres philosophiques. Hrsg. v. Georges Le Roy. 3 Bde. Bd. 1. Paris 1947, S. 246: »Zuerst nehmen wir die Details eines Bildes ungeordnet [confusément] wahr. Dann fokussieren unsere Augen eine Gestalt, darauf eine andere. Und erst nachdem wir sie in ihrer Abfolge bemerkt haben, gelingt es uns, über alle gemeinsam zu befinden.« 27 Diderot: Jacques le fataliste et son maître. In: DPV 23, 96. 28 Ebd., S. 224. 26 Vgl.
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in dessen kombinatorische Praxis gewährt der Erzähler des Jacques beispielsweise, wenn er verschiedene Handlungsverläufe offen vor dem Leser diskutiert. Am Punkt des Ereignisses verzweigt sich Wirklichkeit.29 Nicht allein die kontingente Determination des Handlungsverlaufs, auch die kontingente Erzählpraxis selbst repräsentiert Jacques’ Pferd, »dieses bizarre Wesen«, auf besondere Weise: Der Erzähler führt vor, wie er aus den narrativen Optionen auswählt: Du siehst, werter Leser, wie zuvorkommend ich bin; es wäre mir ein leichtes, den Pferden einen Peitschenhieb zu versetzen […], am Tor der nächsten Herberge Jacques, seinen Herrn, die berittene Gendarmerie mit dem Rest ihres Zugs zu versammeln, die Geschichte von Jacques’ Hauptmann zu unterbrechen und Dich nach meinem Gutdünken auf die Folter zu spannen. Doch dafür hieße es lügen, und ich mag die Lügerei nicht, es sei denn sie wäre nützlich und durch die Umstände erzwungen.30
Wenn aber differente Einzelheiten zu bizarren Konfigurationen konvergieren, dann entscheiden bei ihrer Kombination bereits minimale Kriterien über die Abweichung bzw. über die Abspaltung inkompossibler Welten: »In der Natur ist alles mit allem verbunden, und derjenige, der ein neues Phänomen annimmt oder einen vergangenen Zustand wiederherstellt, erschafft eine neue Welt.«31 Die Diskussionen des Rêve de d’Alembert beweisen ihre Relevanz auch in poetologischer Hinsicht: Der
29 Joseph
Vogl hat diese Figur einer Verzweigung, welche sich aus Verzweigungen herleitet und ihrerseits weitere Ramifikationen hervortreibt, als zugleich kritisches wie poetisch fruchtbares Moment des neuzeitlichen Erzählens charakterisiert (Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen [2002]. Zürich 42011, S. 142). Hier werden im Erzählen alternativer Geschichtsverläufe die künstlerischen Praktiken der Postmoderne vorweggenommen, in denen der Zuschauer interveniert, um eine kontrafaktische Variation der Realgeschichte vorzunehmen. Vgl. dazu Christoph Rodiek: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur. Frankfurt a. M. 1997, S. 10 ff. Der Artikel ›Sensations‹ zeigt anhand einer Locke-Passage (Über den menschlichen Verstand, Buch IV, Kap. 11, § 7), dass gerade die Entkoppelung des Schreibakts von der Vorstellung eingeborener Ideen die Option eröffnet, allein aus der Körperlichkeit der Buchstaben und ihrem kombinatorischen Spiel die Wirklichkeit um den Bereich des Möglichen zu erweitern. »So sehe ich, während ich dies schreibe, dass ich die Erscheinungsformen des Papiers verändern kann, und indem ich auf ihm Buchstaben zeichne, gelingt es mir vorauszusagen, welche neue Vorstellung es meinem Verstand im nächsten Moment vermitteln wird, und zwar allein durch die wenigen Schriftzüge, die ich mit der Feder auf ihm hinterlasse. Ich mag mir diese Züge so sehr vorstellen, wie ich will – sie erscheinen nicht, solange meine Hand untätig bleibt, oder wenn ich die Augen schließe, während ich die Hand bewege« (Diderot (Hrsg.): Encyclopédie. Bd. 15, S. 36). So ergeht aus der Vorgängigkeit der Schrift die Ermächtigung an die Literatur, sich fiktionale Aussagebereiche zu erschließen. 30 Diderot: Jacques le fataliste et son maître. In: DPV 23, 79 f. Zum weiteren Diskurs um die Kontingenz im Verhalten des Pferds vgl. ebd., S. 62, 76, 80 f., 86 u. 270 f. 31 Diderot: Le Rêve de d’Alembert. In: DPV 17, 99.
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Roman leuchtet auf als aus jenen Kombinationen erschaffene Welt, die die Natur bisher ausgespart hat. Es ist bezeichnend, dass Diderot den Begriff des Interessanten daher explizit in Hinblick auf die offene Form des Kunstwerks in Anschlag bringt. In der Romanprosa heben sich diesem Konzept folgend einzelne Wörter oder Linien, hebt sich die gegenständliche oder sprachliche Einzelheit von ihrem Hintergrund ab und tritt hervor.32 Das lustvolle Erlebnis eines unabschließbaren Regresses in der ästhetischen Erfahrung übersteigt dabei das reine Identifikationsinteresse, wie es Dubos in seinen Réflexions critiques (1719) beschrieben hatte.33 Es fokussiert vielmehr die Details als Momente, in denen erwartbare Sinnzusammenhänge aufbrechen. Details stellen also Sinnverdichtungen innerhalb von Feldern dar, in denen das Interesse des Betrachters in besonderer Weise gebunden wird. Dann kann sich eine Kontiguität der Tatsachen als das zentrale Erzählprinzip bewähren, wenn der Leser den parzellierten Text mit einem eigenen Imaginationsraum überwölbt: »Allein dieser Unzahl von kleinen Dingen verdankt sich die Illusion.«34 Nach der Trauer um den Verlust einer geschlossenen Sinndecke der Wirklichkeit lässt sich diese immerhin in der Vorstellungswelt aus Bruchstücken zusammensetzen. In einer Nachbemerkung zur Erzählung Les deux Amis de Bourbonne präzisiert Diderot dieses Anliegen, die Literatur vor dem Vorwurf der Unwahrhaftigkeit zu retten, sie einerseits vor der Rhetorizität einer regelpoetischen Erfüllung wie auch vor falsch verstandenem Idealismus klassizistischer Prägung zu bewahren. Die Konsequenz jedoch realisiert sich als eine Arbeit an der rhetorischen Oberfläche: Es gelte, im glatten Gesicht des Ideals Narben und Risse sichtbar zu machen. »Verführen Sie mich mit den Details; auf dass der Charme der Form mir die mangelnde Glaubwürdigkeit des Inhalts verzichtbar mache.«35 Das interessante Detail bildet im idealschönen Kontext jene spannungsvolle Dissonanz, die Diderot als Realitätsoder Wahrheitseffekt bei Richardson bewundert.36 Natur stellt sich hier als Resultat eines Stilkalküls ein, nicht etwa als ein metaphysisches Datum, das sich aus der Tiefe der Imagination hervorarbeitet. »Auf dass die Wahrheit der Natur die Illusion der Kunst verdecke, und dass er [d. h. der Erzähler] somit zwei Anforderungen 32
Weil die Plastizität des Details in jener moralistischen écriture, die Diderot bei La Bruyère oder La Rochefoucauld schätzt (vgl. seinen Essai sur les règnes de Claude et Néron. In: DPV 25, 257), lediglich Fragmente produziert, liefert der Roman immerhin ein Gewebe (tissu), wenn auch keine geschlossene Ereigniskette. Richardson sei diese Leistung zu verdanken, das fragmentarische Schreiben der Moralisten in die Einheit des Romans überführt zu haben (vgl. Éloge de Richardson. In: DPV 13, 192). 33 So Karlheinz Stierle: Diderots Begriff des ›Interessanten‹. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), S. 55–76, hier: 61 u. 65. 34 Diderot: Éloge de Richardson. In: DPV 13, 198. 35 Diderot: Les deux Amis de Bourbonne. In: DPV 12, 454. 36 Vgl. Diderot: Éloge de Richardson. In: DPV 13, 195.
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Genüge leiste, die widersprüchlich scheinen: nämlich zugleich Historiker und Poet zu sein, Verfechter der Wahrheit wie der Lüge.«37 Es entsteht dann ein Begriff der Wahrheit in der Kunst, der mit ihrer Fiktionalität zusammenfällt, und einer Natur, die sich als technisch produzierbar herausstellt. Die Rhetorik, zuvor als sprachliche Herrschaftstechnik abgelehnt, kehrt damit als energetisch getränktes Kennzeichen des menschlichen Ausdrucks wieder; sie rekonstituiert sich im Zeichen einer positiven Anthropologie.
4. Der poröse Text als Triumph der Menschlichkeit Diese vermeintlichen Widersprüche konvergieren in einem Begriff der Poiesis, der in der schöpferischen Tätigkeit des Künstlers den Ausdruck des Genies als einer gesteigerten Natur erkennt. Eine Mimesis, die nicht mehr auf einem Naturalismus im Sinne einer Kopie beruht, kehrt das Verhältnis von Natur und ästhetischer Wirklichkeit um: Der zeitgenössische Kunstbetrachter korrigiert seine Betrachtung der Natur aufgrund der Kenntnis der Gemälde und ihres ästhetischen Kalküls: Es sind die Bilder des großen Vernet, die lehren, die Natur richtig zu sehen;38 ja, Natur entpuppt sich sogar als Gemälde von der Hand Vernets. Hier realisiert sich ein Chiasmus von Wahrheit und Lüge, in dem Wirklichkeit und Fiktion, Historie und Roman hinsichtlich ihrer Nähe zur Wahrheit die Stelle tauschen.39 Die Illusion einer gemachten Natur aber wird dabei zum Triumph der Menschlichkeit.40 Wirkliches Schöpfertum des Menschen bedeutet das Ende einer Mimesis, die sich an der Wiedergabe eines Ideals orientiert, und eine Hinwendung zu einer Wahrheit des Partikularen, die dem Sachverhalt immer nur in Ausschnitten gerecht zu werden vermag. Sie macht nicht mehr das Unveränderlich-Zeitlose hinter einer vergänglichen Phänomenwelt sichtbar, sondern »einen flüchtigen Umstand, der Ihnen entgangen war.«41 Diesem neuen Begriff der Mimesis spricht Diderot ein prognostisches bzw. projektives Potenzial zu: Wenn nämlich die Partikel, die ein Kunstwerk zusammensetzen, gezinkten Würfeln entsprechen, dann wäre es nicht 37 Diderot:
Les deux Amis de Bourbonne. In: DPV 12, 455. Diderot: Salon de 1767. In: DPV 16, 177. 39 Vgl. dazu Diderot: Éloge de Richardson. In: DPV 13, 202: »[O]ft ist die Geschichte ein schlechter Roman, und […] der Roman […] eine gute Geschichte. Doch du, der du nach der Natur malst, du lügst niemals.« 40 Die Denkfigur findet sich mehrfach in den Salons: Das Kunstschöne offenbart sich als das Menschliche, weshalb die Pyramide mehr überrascht als der Berg (vgl. DPV 16, 178). Ebenso zeigt sich derjenige, den das Naturschauspiel einer sublimen Meereslandschaft ungerührt ließ, erst von einem Seestück Vernets überwältigt: »Seine Kompositionen künden noch stärker von der Größe, der Kraft und der Majestät der Natur als die Natur selbst« (ebd., S. 226). 41 Diderot: Éloge de Richardson. In: DPV 13, 198. 38 Vgl.
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allein möglich, wie es in den Salons heißt, dass eine Bildmaschine in der Lage wäre, Gemälde vom Schlag eines Raphael zu produzieren;42 es wäre zudem möglich, dass eine Erzählmaschine, wie sie Jacques imaginiert, ein bisher noch nicht gesehenes Gemälde in einer rein prognostischen Ekphrasis vollständig erfasst. In einem solchen aleatorischen Sprachkosmos fällt in den Bereich des Wahrscheinlichen, dass Diderot ein zuvor unbekanntes Bild, wie den eingangs erwähnten Fragonard, präzise imaginiert. Für die Ausgangsfrage hält der Salon von 1765 daher nur wenige Seiten später die pointierte Antwort bereit: Sein Freund Melchior Grimm wird bestätigen, dass Diderot exakt das Bild erträumt hat, das nicht gesehen zu haben er im Text vorgegeben hatte.43 Das Abwesende zu erschreiben stellt keine Schwierigkeit mehr dar für einen Begriff der Mimesis, die die Wirklichkeit, derer sie zu ihrer Legitimation bedarf, selbst allererst schafft.
42 Vgl.
Diderot: Salon de 1767. In: DPV 16, 179 f. Diderot: Salon de 1765. In: DPV 14, 262 ff. Bezüglich des Fragonard-Bildes jedoch hält Grimm nicht nur fest, dass Diderots Traumschilderung der dargestellten Szene im Detail entsprach, sondern dass Diderot, ganz entgegen seiner Auskunft, in seiner Gegenwart sehr wohl das Bild gesehen habe (vgl. die Bemerkung Grimms. Ebd., S. 264). 43 Vgl.
Fabian Schmitz
Unter dem Mikroskop des Micromégas Voltaires Science-Fiction der Aufklärung Die fortschreitende Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert, beginnend mit der kopernikanischen Wende, den astronomischen Erkundungen Galileis und Keplers mit ihren Teleskopen und den ersten mikrobiologischen Studien Leeuwenhoeks durch seine Mikroskope ein Jahrhundert zuvor, konfrontiert die philosophes der Aufklärung mit Ergebnissen und gegenläufigen Perspektiven auf der Maßstabsskala des Micro- wie Megabereichs. Diese galt es, in ihre theologischen, metaphysischen, moralphilosophischen, anthropologischen, etc. Diskurse zu integrieren. Voltaires erstes conte philosophique, der Micromégas, zeugt davon auf pointierte Weise in seinem Titel, darüber hinaus auch auf den Ebenen der Erzählung. Zwischen 1737–39 in einer ersten Version mit dem Titel Voyage du Baron de Gangan im höfischen Kontext als eine von ihm selbst so bezeichnete gefällige »fadaise philosophique«, eine philosophische Albernheit, für Friedrich II. entstanden, überarbeitete Voltaire den Text zur Publikation 1752.1 Treten im Schreiben und Denken Voltaires Ende der 1730er-Jahre immer wieder Figuren extraterrestrischer Besucher auf, so bspw. im Traité de métaphysique (1734–1736), den Élements de la philosophie de Newton (1738), ist der Micromégas der erste fiktionale Prosatext Voltaires überhaupt.2 Als Bewohner eines Planeten des Sternsystems Sirius tritt der junge und wissbegierige Protagonist Micromégas nach 1 Die
Selbstbezeichnung der »fadaise philosophique« stammt aus Voltaires Brief an Friedrich II. vom 20. Juni 1739. Vgl. Voltaire: Les œuvres complètes. Hrsg. v. Haydn Trevor Mason, Theodore Besterman u. Nicholas Cronk. Ca. 200 Bde. Bd. 90. Genf 1970, D2033. Als erster datierte Wade den Entstehungszeitraum des Micromégas aufgrund stilistischer Annahmen und dieses Briefwechsels auf 1737–1739. Dies wurde durch den Fund einer detaillierten Inhaltszusammenfassung der Voyage du Baron de Gangan von Meerkerk und Braun endgültig bestätigt. Vgl. Edwin van Meerkerk u. Theodore E. D. Braun: From the »Voyage du baron de Gangan« to »Micromégas«. New Documentary Evidence Linking Voltaire’s Space Odysseys. In: SVEC 6 (2002), S. 371–384; Ira O. Wade: Voltaire’s Micromégas. A Study in the Fusion of Science, Myth, and Art. Princeton 1950, S. 12–36. 2 Vgl. W. H. Barber: Voltaire’s Astronauts. In: French Studies 30 (1976), S. 28–42. Zuvor war Voltaire vor allem mit den im höfischen Kontext hochangesehenen Gattungen des Versepos mit seiner Henriade (1728) und Tragödien wie Zaïre (1733) in Erscheinung getreten. Thoma sieht diesen strategischen Gattungswechsel in marktwirtschaftlichen Aspekten und dem Potenzial der Popularisierung aufklärerischen Gedankenguts im beliebter werdenden Roman begründet. Vgl. Heinz Thoma: Philosophie – Anthropologie – Erzählen. Der Roman als Instrument der Selbstaufklärung der Aufklärung. In: Cahiers d’histoire des littératures romanes 21 (1997), S. 55–77, hier: 59.
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Querelen um seine Forschung und erfolgter Verbannung eine Bildungsreise durch das Weltall an. Auf dem Saturn begegnet er dem Sekretär der dortigen wissenschaftlichen Akademie und findet in diesem intelligenten ›Zwerg‹ einen Reisebegleiter zur Erde, die sie gemeinsam als die Welt der Menschen entdecken. Anders als in vorherigen Erzählungen von Weltallreisenden, wie bspw. Cyrano de Bergeracs L’Histoire comique des États et Empires de la Lune (1650/57), ist es mit der Figur des Micromégas in Voltaires conte kein Mensch, der als Protagonist ins All aufbricht, sondern ein Außerirdischer, dessen Reise auf die Erde und Begegnung mit den Menschen erzählt wird. Daraus resultiert eine Alienität der Perspektive, die über diejenige einer bloß kulturellen Fremdheit wie beispielsweise in Montesquieus Lettres persanes (1721) hinausgeht. Das 18. Jahrhundert und die Aufklärung gelten aufgrund der sich ausdifferenzierenden Naturwissenschaften, ihrer Nähe zu und direkten Auswirkung auf Philosophie und Literatur als Entstehungskontext der Science-Fiction-Literatur.3 Die Idee, Voltaires Micromégas mit dem Genre der Science-Fiction zu ›labeln‹ und ihn als einen Vorläufer im Kontext einer literaturgeschichtlichen Tradition der ScienceFiction bis ins 20. Jh. anzusehen, ist nicht neu, liegt sie doch thematisch mit dem Außerirdischen als Protagonisten und seiner Weltraumreise auf der Hand.4 Ich werde hingegen die erzählerischen Momente des conte analysieren, wo science und fiction sich reziprok bedingen. Dazu verstehe ich Science-Fiction als ein Genre, das den je zeitgenössischen Stand der Natur- und Geisteswissenschaft sowie des technologischen Fortschritts auf unterschiedlichen Ebenen der Narration reflektiert und literarisch für seine Fiktion fruchtbar macht. Darauf aufbauend entwickelt es eigene fiktional-physikalische Weltmodelle und lotet mit nichtexistierenden aber denk3
Vgl. Natascha Lee: Planetary Perspectives in Enlightenment Fiction and Science. In: Christie McDonald (Hrsg.): French Global. A New Approach to Literary History. New York u. a. 2010, S. 94–109; Adam Roberts: The Copernican Revolution. In: Mark Bould et al. (Hrsg.): The Routledge Companion to Science Fiction. London u. a. 2009, S. 3–12; George Slusser: The Origins of Science Fiction. In: David Seed (Hrsg.): A Companion to Science Fiction. Malden u. a. 2008, S. 27–42; W.M.S. Russell: Voltaire, Science and Fiction. A Tercentenary Tribute. In: Foundation 62 (1994/1995), S. 31–46; Patrick Parrinder: Scientists in Science Fiction. Enlightenment and After. In: Rhys Garnett u. R.J. Ellis (Hrsg.): Science Fiction Roots and Branches. Contemporary Critical Approaches. Basingstoke u. a. 1990, S. 57–78; Donald M. Hassler: The Eighteenth Century and Science Fiction. A Symbiosis? In: Science Fiction. A Review of Speculative Literature 2 (1979), S. 75–82; ders.: Erasmus Darwin and Enlightenment Origins of Science Fiction. In: International Congress on the Enlightenment. Transactions of the International Congress on the Enlightenment 4 (1975), S. 1045–1056. 4 Vgl. bspw. Theodore E.D. Braun: »Mircomégas«. Voltaire’s Interstellar »Conte«, a Model for the Future? In: Terry Pratt (Hrsg.): The Enterprise of Enlightenment. A Tribute to David Williams from His Friends. Oxford u. a. 2004, S. 195–210, hier: 201; Hinrich Hudde: Voltaire, Candide ou l’Optimisme (1759), Zadig ou la Destinée (1747/48), Micromégas (1752). In: Dietmar Rieger (Hrsg.): 18. Jahrhundert. Theater, conte philosophique und philosophisches Schrifttum. Tübingen 2001, S. 223–261, hier: 227.
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baren Phänomenen die Grenzen menschlichen Wissens und menschlicher Erkenntnis aus.5 Gerade an solchen erzählerischen Momenten, an denen eine Fusion von Wissenschaft und Fiktion geschieht, werden die für Voltaire geltenden Modalitäten des Erzählens einer Science-Fiction deutlich. Diese ermöglichen es ihm, mit dem Micromégas seine Science-Fiction der Aufklärung zu schreiben, und sie dadurch ironisch unterhaltsam wie kritisch luzide zu beleuchten. Zuerst sollen dabei anhand der ambivalenten Figur des Erzählers die Bedingungen des Erzählens eruiert, dann wesentliche thematisch motivische Aspekte der Science-Fiction näher analysiert werden, bevor abschließend die Aufklärung unter dem Mikroskop des Micro mégas in ihrer Prozessualität vergrößernd aufgelöst wird.
1. Modalitäten des Erzählens einer Science-Fiction: Voltaires Erzähler Voltaire gibt seinem ersten conte philosophique die Genrebezeichnung »Histoire philosophique« 6 und grenzt es damit einerseits von fiktionalen Genres ab, indem er den Aspekt einer faktualen Geschichtsschreibung akzentuiert. Andererseits betont er die Ambivalenz der Fiktion, da er zugleich die Tradition philosophischer Erzählungen und Romane aufruft, womit Voltaire dezidiert eine Gegenposition zum zeitgenössisch galanten Erzählen bezieht.7 Im Gegenzug folgt strategisch auf die extraterrestrische Lokalisierung zu Beginn des ersten Satzes die Formel »il y avait« (M, 19), welche die Märchentradition aufruft und damit das phantastische Erzählen sowie das Novum eines Alien als Protagonisten und Perspektivträger legitimiert.8 Diese gegenläufigen Tendenzen setzen sich im Selbstverständnis des Erzählers fort, der sich vordergründig als »historien« (M, 28), als Geschichtsschreiber begreift. Als homodiegetischer Erzähler verbleibt er, was die Geschichte betrifft, in 5 Vgl.
Bradford Lyau: The Anticipation Novelists of 1950s French Science Fiction. Stepchildren of Voltaire. Jefferson u. a. 2011, S. 15; Adam Roberts: The History of Science Fiction. Basingstoke/New York 2006, S. 1–20; ders.: Science Fiction. London/New York 2000, S. 1–46; Darko Suvin: Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Frankfurt a. M. 1979, S. 23–119. 6 Voltaire: Micromégas. In: Ders.: Romans et contes. Hrsg. v. Frédéric Deloffre u. Jacques van den Heuvel. Paris 1979, S. 19–37 [im Folgenden: M]. 7 Vgl. Heinz Thoma: Märchen und Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts. In: Fabula 55 (2014), S. 52–65, hier: 54. Diese ambivalente Positionierung findet sich ebenso in Lukians Verae historiae, die als Satire auf die zeitgenössische Historiographie u. a. von einer Weltraumreise berichten. 8 Zu weiteren literaturgeschichtlichen Bezügen vgl. Werner von Koppenfels: Mundus alter et idem. Utopiefiktion und menippeische Satire. In: Poetica 13 (1981), S. 16–66, hier: 61–63. Der Renaissance-Topos der mundus alter et idem wird über die Tradition der Reiseerzählung reingeholt. Vgl. Nicholas Cronk: Voltaire, Lucian, and the Philosophical Traveller. In: John Renwick (Hrsg.): L’invitation au voyage. Studies in Honour of Peter France. Oxford 2000, S. 75–84.
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einer beobachtenden Position und bürgt persönlich wie topologisch von Beginn an für ihre vraisemblance: Dans une de ces planètes qui tournent autour de l’étoile nommée Sirius, il y avait un jeune homme de beaucoup d’esprit, que j’ai eu l’honneur de connaître dans le dernier voyage qu’il fit sur notre petite fourmilière; il s’appelait Micromégas, nom qui convient fort à tous les grands. (M, 19)
Die genauen Umstände ihrer Bekanntschaft bleiben ungeklärt, aber Micromégas Einfluss auf den Erzähler ist deutlich an den auktorial normativen Maßstabssetzungen des Erzählers erkennbar: Bezeichnet er die Erde wie in diesem Zitat ironisch als ›kleinen Ameisenhaufen‹, so artikuliert sich satirisch in seinem Urteil über den Menschen dasjenige Wissen, das Micromégas die philosophes seiner Erzählung lehren wird: »[…] car nous autres, sur notre petit tas de boue, nous ne concevons rien au-delà de nos usages« (M, 20 f.). En passant formuliert der Erzähler epistemologische Grenzen menschlichen Denkens, die nicht der internen Fokalisierung des Protagonisten entstammen. Diese wird vom Erzähler erst bei der Begegnung zwischen dem Riesen und den Menschen eingenommen, wenn er bspw. von »nos atomes« (M, 31) spricht. Sein retrospektiver Standpunkt weist ihn als denjenigen aus, der vorbildlich die Lehren aus der Begegnung mit Micromégas für sich bereits gezogen hat. Als auktoriale und mehr wissende Erzählinstanz verfügt er bspw. über Micromégas’ Erkenntnisse der Jupitererkundungen, deren Publikation durch die Inquisition verhindert wurde: »Mais j’ai lu le manuscrit dans la bibliothèque de l’illustre archevêque de…, qui m’a laissé voir ses livres avec cette générosité et cette bonté qu’on ne saurait assez louer« (M, 25). Die Hypokrisie kirchlicher Inquisitionspolitik verspottend, legitimiert dies seine Vorrangstellung als erzählerisch vermittelnde Instanz wie auch sein ironisch satirisches Spiel mit Wörtern, die Größenverhältnisse umschreiben. Ihre Bedeutung transformiert er im Verlauf der Erzählung in die Bedeutungslosigkeit der Relativität, die sich bereits im ersten Satz mit dem Kommentar zum Namen »Micromégas, nom qui convient fort à tous les grands« (M, 19) andeutet.9 Im Kontrast zur Erde, dem ›kleinen Ameisenhaufen‹ und zu dem Oxymoron des Namens, was bedeutet da ›groß‹? Wird die riesenhafte Größe des Protagonisten antizipiert, bezieht es sich auf seinen außerirdischen Verstand, auf menschliche Geistesgrößen oder wird gar auf politische Größen des Hofes angespielt? Dieses mit Witz sprachlich ad absurdum geführte ›Prinzip Micromégas‹ reflektiert sprachkritisch die anthropozentrische Durchdringung der Sprache von allein am Menschen orientierten Maßstäben. Das gleiche Verfahren lässt sich an den Bezeichnungen für Mensch, Tier und Außerirdischem beobachten: Ist dem 9
Vgl. Jean Sareil: Le vocabulaire de la relativité dans »Micromégas« de Voltaire. In: Romanic Review 64.4 (1973), S. 273–285.
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»jeune homme« (M, 19), mit dem die Figur Micromégas im ersten Satz eingeführt wird, die camouflierte Plausibilisierung der Science-Fiction durch die Humanisierung des Alien inhärent,10 werden die Bedeutungsgrenzen nivelliert und die Menschen zu »insectes invisibles« (M, 31) oder zur »mite philosophique« (M, 35), der Saturnbewohner zum »petit homme de saturne« (M, 23) und Micromégas gegen Ende des conte wiederum zum »animal de huit lieues« (M, 35) oder »animal de Sirius« (M, 36). Bedenkt man, dass sowohl Menschen als auch Micromégas Insekten für ihre Forschungen seziert haben, so verwischt der Erzähler hier die Grenzen von Forscher und Forschungsgegenstand zu einem zirkulären Beobachten der Beteiligten. Auf mehreren Ebenen wird so das Erzählen vom Extraterrestrischen indirekt plausibilisiert und der Erzähler als ›historien‹ kann die Wahrhaftigkeit seiner Erzählung behaupten. Indem er die real stattgefundene und der Vermessung der Welt dienende Expedition Maupertuis’ in die Polarkreise nach Lappland von 1737, auf die via Datum und geographischer Lokalisierung der Landung Micromégas’ und seines Reisegefährten auf der Erde (vgl. M, 26) angespielt wird, zum Schauplatz ihrer Begegnung mit den Menschen macht, problematisiert der Erzähler zugleich die Wahrhaftigkeit seiner Erzählung: Laut den ›Geschichten‹ der Pariser gazettes, den journalistischen Klatschblättern, über eine mögliche Strandung des Expeditions schiffs stellt er zugleich implizit seinen eigenen Status und Anspruch als Historiker in Frage: Les gazettes dirent que leur vaisseau échoua aux côtes de Botnie, et qu’ils eurent bien de la peine à se sauver; mais on ne sait jamais dans ce monde le dessous des cartes. Je vais raconter ingénument comme la chose se passa, sans y rien mettre du mien, ce qui n’est pas un petit effort pour un historien. (M, 28)
Ist das Erzählen zu einem unvorhersehbaren ›Kartenspiel‹ mit Realität und Fiktion geworden, so wird der Erzähler seiner selbstauferlegten persönlichen Zurücknahme nicht gerecht, wie bereits u. a. an seinem Spiel mit den Bedeutungen von ›klein‹ und ›groß‹ gezeigt wurde. Pointiert formuliert, reflektiert Voltaire an ihm die zwei Pole der Science-Fiction, die zwischen dem wissenschaftlich historischen und dem phantastisch fiktiven oszilliert und die er hier ironisch zur unterhaltsamen Analyse der Aufklärung verschränkt. Der Erzähler treibt nicht nur dieses Spiel: Er bezieht auch Stellung gegenüber seinem Protagonisten hinsichtlich dessen propagierter wissenschaftlichen Pedanterie, die topologisch dem klassischen Bildungsideal des honnête homme gegenübersteht. Diese wird in der Korrektur seines Reisebegleiters, der als Sekretär der Saturnaka10 Die
Humanisierung des Aliens wird auch durch die vermenschlichte Lebensumwelt auf seinem Heimatplaneten mit Jesuitenschule etc. vollzogen und ist damit eine Ausgestaltung des Renaissance-Topos mundus alter et idem.
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demie eine Parodie auf Fontenelle ist und dessen metaphorischen Sprachstil Voltaire pastichiert, erkennbar: Eh non! dit le voyageur [Micromégas], encore une fois la nature est comme la nature. Pourquoi lui chercher des comparaisons? – Pour vous plaire, répondit le secrétaire. – Je ne veux point qu’on me plaise, répondit le voyageur, je veux qu’on m’instruise; […]. (M, 22)
Auf Micromégas’ einseitige Präferenz des Horaz’schen prodesse et delectare, die Ablehnung jeglicher gefälligen Vergleiche für die Naturbeschreibung, reagiert der Erzähler in eingeklammerter Ironie später, als er amüsant die Größenunterschiede zwischen Micromégas und seinem Saturngefährten während der Erderkundung metaphorisch darzustellen sucht: Les pas ordinaires du Sirien et de ses gens étaient d’environ trente mille pieds de roi; le nain de Saturne suivait de loin en haletant; […] figurez-vous (s’il est permis de faire de telles comparaisons) un très petit chien de manchon qui suivrait un capitaine des gardes du roi de Prusse. (M, 26)
Der Voltaire’sche Erzähler spielt sowohl auf inhaltlicher wie auf poetologischer Ebene seine auktoriale Kompetenz aus. Er behauptet das analogische Beschreiben als ein literarisches Verfahren der Instruktion sowie der Unterhaltung vor dem Einbruch von Micromégas wissenschaftlicher Pedanterie. Genauer noch entlarvt er das produktive Äquivalent, das Analogiedenken der (Natur-)Philosophie, wenn er sich bspw. auf wissenschaftliche Kalkulationen proportionaler Größenverhältnisse bezüglich der Anzahl der Marsmonde beruft: Je sais bien que le père Castel écrira, et même assez plaisamment, contre l’existence de ces deux lunes; mais je m’en rapporte à ceux qui raisonnent par analogie. Ces bons philosophes-là savent combien il serait difficile que Mars […] se passât à moins de deux lunes. (M, 25)
Kritisiert der Erzähler an der Theorie des Jesuiten Castel die Verneinung des Analogiedenkens in ironisch impliziter Verknüpfung mit dem Vorwurf der Unterhaltung, so rehabilitiert er es in Bezug auf seine wissenschaftlichen Ergebnisse, ohne freilich wissen zu können, dass die zwei Marsmonde erst 1877 von Hall entdeckt werden. Literarische Fiktion und Naturphilosophie sind in ihrem Verfahren der Analogie eng verknüpft. Voltaire zeigt mit seiner Science-Fiction, dass nicht einmal die vermeintlich differierende Funktion von Unterhaltung und Erkenntnisgewinn in Opposition zueinander stehen.
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2. Die Aufklärung unter dem Mikroskop des Micromégas Dieses komplementäre Verhältnis spiegelt sich auch in Voltaires Gestaltung seiner Science-Fiction auf inhaltlicher Ebene wider, auf der naturwissenschaftliche und metaphysische Diskurse der Aufklärung fiktionalisiert dargestellt werden.11 Als ›Anti-Pascal‹, der seinen Gegner Blaise Pascal als »géomètre assez médiocre et un fort mauvais métaphysicien« (M, 20) direkt anspricht, greift der Micromégas Pascals anthropologische Diskussion der Stellung des Menschen zwischen dem infiniten Regress des Kleinen wie Großen satirisch verspielt auf und entledigt sich ihrer reli giösen Deutung zu Gunsten naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle.12 Auch der Mythos wird als Ursprungserklärung nicht mehr herangezogen, wenn einer der Menschen in seiner an Micromégas gerichteten Erklärung zur Existenz noch kleinerer intelligenter Wesen wie der Biene bevorzugt auf zeitgenössische Naturforscher rekurriert: »Il lui conta, non pas tout ce que Virgile a dit de fabuleux sur les abeilles, mais ce que Swammerdam a découvert, et ce que Réaumur a disséqué« (M, 33).13 Diese Tendenz zeigt sich ebenso in Voltaires Umgang mit dem merveilleux, mit dem er zur Legitimation seiner Science-Fiction die Märchentradition wiederholt aufruft, aber ganz anders begründet: Notre voyageur connaissait merveilleusement les lois de la gravitation, et toutes les forces attractives et répulsives. Il s’en servait si à propos que, tantôt à l’aide d’un rayon du soleil, tantôt par la commodité d’une comète, il allait de globe en globe, lui et les siens, comme un oiseau voltige de branche en branche. (M, 21)
Für die Plausibilisierung des merveilleux wird Newtons Gravitationslehre funktionalisiert. Interessant ist, dass diese naturphilosophische Begründung des merveilleux zusätzlich mit dem Vergleich eines herumflatternden Vogels poetisch verbildlicht wird. Reziprok sind Naturphilosophie und Literatur hier miteinander zu einer Science-Fiction verwoben. Betreibt Voltaire einerseits die Scientifizierung des merveilleux, wird das ›Wunderbare‹ der damaligen Naturwissenschaft erst im Rahmen der poetischen Fiktion anschaulich.14 Micromégas, das fiktive Alien wie die 11
Zu weiteren Kontexten vgl. Pierre-Georges Castex: Voltaire. Micromégas, Candide, L’Ingénu. Paris 1977, S. 5–81; Jacques van den Heuvel: Voltaires dans ses contes. De «Micromégas» à « l’Ingénu». Paris 1977, S. 68–115; Wade: Micromégas, S. 37–60. 12 Vgl. Blaise Pascal: Pensées. Transitions de la connaissance de l’homme à dieu. H-9 »Disproportion de l’homme«. In: Ders.: Œuvres complètes. Hrsg. v. Michel le Guern. 2 Bde. Bd. 2. Paris 2000, S. 608–614. 13 Vgl. Vergil, Georgica. 4. Buch. In diesem Lehrgedicht verknüpft Vergil die biologische Betrachtung der Bienen und ihrer Entstehung in der Bugonie mit dem Orpheus-Mythos. Diesen Hinweis verdanke ich Jakob Moser. 14 Pearson sieht hingegen nur die eine Bewegung von der fiction zum fact. Vgl. Roger Pearson: The Fables of Reason. Oxford 1993, S. 49–69.
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Erzählung, wird zur Metapher des infiniten Regresses von Klein wie Groß und zur literarischen Verbildlichung der nur so begreifbaren Relativität. Diskreditiert sich der Mensch moralisch nicht nur im Angesicht des Klein und Groß, sondern auch vom Okzident zum Orient durch seine Kriege, lehrt ihn Micromégas die Bescheidenheit seiner Existenz. Spiegelt Voltaire insofern auf unterschiedlichen Ebenen seiner Erzählung verschiedene Diskurse der Aufklärung, kommt diese in der Begegnung Micromégas’ mit einer »volée de philosophes« (M, 28), einer ›Horde von Aufklärern‹ selbst zu Wort. Durch zufällig heruntergefallene Diamanten die Welt der Menschen wie unter den geschliffenen kostbaren Gläsern eines Mikroskops entdeckend, gewinnt er Einblick in ihren ›Mikrokosmos‹. Das Schiff der bereits genannten Expedition in die Hand genommen, erkennt er, dass es sich um »atomes pensants« (M, 35) handelt, lernt im Zuhören das Französische, spricht sie an und fragt nach ihrer Tätigkeit, worauf einer der philosophes antwortet: Nous disséquons des mouches, […], nous mesurons des lignes, nous assemblons des nombres, nous sommes d’accord sur deux ou trois points que nous entendons, et nous disputons sur deux ou trois mille que nous n’entendons pas. (M, 34 f.)
Trotz der großen physischen Varianz betreiben sie das gleiche wie Micromégas und sein Gefährte: die Naturphilosophie ist überall gleich, in der mundus alter et idem. Die wenigen Dinge, über die sich die menschlichen Philosophen verständigen können, ist die äußere Welt der Erscheinungen. Befragt aber nach ihrer Seele und dem Funktionieren ihres Geistes herrscht absolute Uneinigkeit vor: Les philosophes parlèrent tous à la fois comme auparavant; mais ils furent tous de différents avis. Le plus vieux citait Aristote, l’autre prononçait le nom de Descartes, celui-ci de Malebranche, cet autre de Leibnitz, cet autre de Locke. (M, 35)
Dass Voltaire in seiner Satire hier nicht die ›reale‹ Expeditionsbesatzung, sondern einen ›idealen‹ Querschnitt der Positionen der Aufklärung vorführt ist nur zu deutlich: Einzeln befragt sollen die philosophes Micromégas und seinen Gefährten von ihren Theorien überzeugen, wobei der Empirismus des »sectateur de Locke« (M, 36) auf Anerkennung stößt, der Scholastiker in seinem religiösen Hochmut hingegen dem homerischen Lachen zum Opfer fällt.15 Entscheidend für die Begegnung sowie den philosophischen Austausch und im Micromégas stets entsprechend inszeniert ist der Dialog. Ob erst zwischen Micromégas und dem Sekretär der Saturnakademie, oder zwischen ihnen und den Menschen, oder letzteren untereinander. Der philo-
15 Zur
Locke-Rezeption im Micromégas vgl. insbesondere van den Heuvel: Voltaires dans ses contes, S. 79–91.
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sophische Dialog der unterschiedlichen Positionen wird als produktiver Prozess der gegenseitigen Erkenntnis dargestellt.16 Vor seiner Abreise verspricht Micromégas den Menschen ein »beau livre de philosophie« (M, 37), das ihnen den Endzweck aller Dinge lehren soll: »Effectivement, il leur donna ce volume avant son départ: on le porta à Paris, à l’Académie des sciences; mais quand le secrétaire l’eut ouvert, il ne vit rien qu’un livre tout blanc: Ah! dit-il, je m’en étais bien douté« (ebd.). Die weißen Seiten des Buchs und damit Voltaires Pointe erschöpfen sich nicht in dem lakonisch resignierten Kommentar der weiteren Fontenelle-Parodie. Eine deus-ex-machina-Lösung von Micromégas zu erwarten, hieße ihn zu verkennen, ist er – Protagonist wie die histoire philosophique – sich seiner eigenen Grenzen nur zu gut bewusst. Verweisen die weißen Seiten auf Lockes tabula rasa und bieten sich zum Einprägen der diversen menschlichen Erfahrungen an, so ist dieses unbeschriebene Weltenbuch offen für das Einschreiben der fiktionalen wie naturphilosophischen Welterklärungsmodelle, die Voltaire uns als prozessual dialogische Praxis der Aufklärung in Beobachtung, Analyse und Disput auf den unterschiedlichen Ebenen seiner Science-Fiction des Micromégas satirisch wie ironisch unterhaltsam erzählt.
16 Zur
Bedeutung des Dialogs vgl. Annick Azerhad: Le Dialogue philosophique dans les contes de Voltaire. Paris 2010.
Lars-Thade Ulrichs
Vom Roman der Philosophen1 zum philosophischen Roman Der conte philosophique (Voltaire, Diderot) und der Roman der deutschen Spätaufklärung (Wieland, Wezel, Heinse) I. Einen der bösartigsten Kommentare, die je ein Philosoph über einen anderen geäußert hat, stammt von einem Mann, der für seine Invektiven berüchtigt ist: Schopenhauer bemerkt in der Welt als Wille und Vorstellung über Leibniz, er könne dessen Theodizee, »dieser methodischen und breiten Entfaltung des Optimismus […], kein anderes Verdienst zugestehen, als dieses, daß sie später Anlaß gegeben hat zum unsterblichen Candide des großen Voltaire«. Dadurch habe »Leibnitzens so oft wiederholte, lahme Exküse für die Übel der Welt, daß nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbeiführt, einen ihm unerwarteten Beleg erhalten«.2 Diese Bemerkung steht am Ende von Schopenhauers Versuch, »ernstlich und ehrlich« zu beweisen, dass die Welt »die schlechteste unter den möglichen« Welten sei.3 Wenn man nun Schopenhauers Argumentation gegen Leibniz näher betrachtet, so findet sich dort eine interessante Überlegung: »Im Grunde ist es aber ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Uebeln mehr auf der Welt sei: denn schon das bloße Daseyn des Uebels entscheidet die Sache; da dasselbe nie durch das daneben oder danach vorhandene Gute getilgt, mithin auch nicht ausgeglichen werden kann.«4 Schopenhauers Bemerkung kann dazu dienen, uns über die Art und Weise aufzuklären, in der sich nicht allein Voltaire, sondern vielleicht die gesamte erzählende Literatur zumindest des 18. Jahrhunderts mit der zeitgenössischen Philosophie auseinandersetzt: Die Literatur stellt nämlich, so ließe sich sagen, gegen die Allgemeingültigkeit beanspruchenden Argumentationen der Philosophie die Darstellung des Konkreten und Anschaulichen, das in den – so die implizite Kritik – zwar das Universelle anstrebenden, aber nur das Generelle erreichenden Aussagen der Philosophen unterzugehen droht. 1 Vgl.
dazu Klaus Dirscherl: Der Roman der Philosophen. Diderot – Rousseau – Voltaire. Tübingen 1985. 2 Arthur Schopenhauer: Werke in 5 Bänden. Nach den Ausg. letzter Hand. Hrsg. v. Ludger Lütkehaus. 5 Bde. Bd. 2. Zürich 1988, S. 677 f. 3 Ebd., S. 678. 4 Ebd., S. 669 f.
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II. Dieses Pochen auf das Individuelle, das in den Augen der Literaten durch keine philosophische Begründung eingeholt werden kann, zeichnet gerade Voltaires Auseinandersetzung mit der Theodizee-Problematik aus, wie sie von Leibniz entfaltet wird. Im Candide stellt er dessen metaphysischer Theorie, wonach das Üble und Böse im Plan der Schöpfung stets nur dem Sieg des Guten diene und es nur an unserem begrenzten Erkenntnisvermögen liege, dass wir nicht durchschauten, dass wir in Wahrheit in der besten aller möglichen Welten lebten, die narrative Darstellung einer Welt entgegen, in der des Hauens und Stechens kein Ende ist und in welcher Hölle sich der optimistische Philosoph Pangloss, dieser Formulierer weltfremder Allaussagen, fortlaufend blamiert. Der Roman Voltaires zeichnet sich dabei durch zweierlei aus: Zum ersten dadurch, dass in den Gesprächen der Protagonisten eine diskursive Auseinandersetzung mit einem zentralen Theorem der damaligen Metaphysik stattfindet; zum andern dass die pessimistischen und Realitätstreue beanspruchenden Argumente gegen diese Theorie im Romangeschehen veranschaulicht und exemplifiziert werden. Dies letztere erfolgt mit den Mitteln der Narration als demjenigen Verfahren, mit dem man dem leidigen und leidvollen Detail, der trostlosen Faktizität unseres Daseins, am besten ihr Recht widerfahren lassen kann. Durch dieses narrative Verfahren findet eine Kontextualisierung einer philosophischen – nunmehr pessimistischen – Position statt, die als allgemeingültiges Modell vermutlich ebenso scheiterte wie die ihm entgegengesetzte Theorie Leibniz’, die zur Rechtfertigung Gottes führen sollte. Zugleich ist aber festzustellen, dass Voltaires Roman, abgesehen von seiner damaligen philosophischen Aktualität, ganz klassisch erzählt ist. Die in ihm vorgeführte Kontextualisierung einer philosophischen Position muss entsprechend als (bloß) exemplarisch bezeichnet werden. Denn der Candide verbleibt noch in der Nähe derjenigen philosophischen Textsorte, die sich des Beispiels bedient, um eine abstrakte Argumentation zu erläutern. Und auch die Verwendung des Dialogs unterscheidet Voltaires Roman nicht von philosophischen Texten seiner und der vorhergehenden Zeit.
III. Ganz anders gestaltet sich die Sachlage, wenn man sich Diderots Jacques le Fataliste zuwendet. Das gilt nicht so sehr für die in ihm präsentierte Weltsicht. Schließlich ist das zentrale philosophische Thema dieses Romans mit demjenigen des Candide durchaus verwandt: Der in ihm präsentierte Determinismus lässt sich als eine meta physische Theorie auffassen, die zwar die kausale Weltordnung aus dem Kontext
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der Frage nach einer Rechtfertigung Gottes herauslöst, sie aber für ebenso unumstößlich erklärt wie die Theodizee ihren auf Perfektion abgestellten Schöpfungsplan. Zudem bedienen sich der Protagonist Jacques und der Erzähler ganz ähnlicher Argumente wie Leibniz und auch der Candide. Denn zwar präsentiert der Roman einen strengen Determinismus, aber die kausale Ordnung ist den ihr unterworfenen Menschen nicht durchsichtig: Aufgrund ihres beschränkten Erkenntnisvermögens zerfällt ihnen die Welt in eine Mannigfaltigkeit von Kontingenzen, deren notwendiger Zusammenhang zwar stets zu vermuten ist, jedoch dem Einzelnen verschlossen bleibt. Und schließlich geht es Diderot ebenfalls v. a. um die moralischen Implikationen dieses Modells: Schon der Determinismus selbst, erst recht aber der Umstand, dass der kausale Ordnungszusammenhang nicht erkennbar ist und aus der Sicht des Einzelnen die Welt vom Zufall regiert zu werden scheint, lässt zumindest Jacques allein den Fatalismus, als die zum System erhobene Resignation, als angemessene Haltung erscheinen. So beginnt Jacques le Fataliste gewissermaßen dort, wo der Candide endet. Auf der diskursiven Ebene ist die entscheidende Differenz zwischen den beiden Texten also nicht zu verorten. Der Unterschied, der bereits einer flüchtigen Lektüre offenkundig wird, besteht vielmehr in den angewandten narrativen Verfahren, genauer: in der Textfunktion dieser narrativen Verfahren. Die Befunde sind rasch erbracht: Bei Diderots Roman handelt es sich um einen Dialogroman, innerhalb dessen sich nicht nur die Akteure ständig über das in Vergangenheit und Gegenwart Vorgefallene und die in der Zukunft zu erwartenden Handlungsmöglichkeiten gesprächsweise verständigen, sondern in dem sich auch das Erzählen vorwiegend im Modus von Erzähler-Leser-Dialogen entfaltet. Das sich dialogisch konstituierende Erzählen der Protagonisten wie des Erzählers ist dabei in einem außerordentlichen Maße digressiv – mit der Folge, dass die einzelnen Erzählfäden vielfach ineinander verschlungen sind und dem Leser, wie schon Jacques Herrn, viel Aufmerksamkeit und Geduld abverlangt werden. Sowohl das dialogische wie das digressive Erzählverfahren sind nun zunächst die adäquaten narrativen Mittel für die in dem Roman präsentierte – nicht etwa Welt, sondern Weltsicht. Diese Sicht des Menschen auf die Welt ist dadurch charakterisiert, dass alles wie eine Aneinanderreihung von Zufällen erscheint und zugleich zu endlosen Mutmaßungen über den darin verborgenen Kausal- und Sinnzusammenhang Anlass gibt: Der scheinbaren Kontingenz und faktischen Unentwirrbarkeit des Erzählten entspricht die Digressivität des Erzählens, das zugleich beständig nach Zusammenhängen sucht. Darüber hinaus wird mit Hilfe dieser Erzählmittel noch etwas Anderes erreicht: eine radikale Ironisierung sowohl des dargestellten Geschehens als auch der gängigen philosophischen Positionen, die auf dieses Geschehen reagieren. Das ironische Erzählen entlarvt das Erzählte, entlarvt die philosophischen Reflexionen auf das Erzählte und entlarvt schließlich den Gewissheits- und
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Allgemeinheitsanspruch der (metaphysischen) Theorien, die das Erzählte deuten sollen, als bloße Prätentionen. In Diderots Jacques le Fataliste werden damit die diskursiven Dialogpassagen sowie die sie exemplifizierenden Erzählungen und die im Roman eingesetzten narra tiven Verfahren in ein Verhältnis gesetzt, innerhalb dessen sie sich wechselseitig reflektieren. Der gesamte Roman bekommt eine autoreflexive Struktur. Nicht die Qualität der in ihm enthaltenen philosophischen Argumente, auch nicht die – mehr oder minder ausgeprägte – Virtuosität, mit der die Erzählmittel gehandhabt werden, als vielmehr die autoreflexive Beziehung, die der Text zwischen beiden herstellt, und die Ironisierungseffekte, die sich daraus ergeben, sind das Neue und literatur- wie ideengeschichtlich Bedeutsame an Diderots Roman. Jacques le Fataliste übt damit in eine Haltung ein, die von Seiten der Philosophie mit verschiedenen Titeln versehen werden: Skeptizismus, Relativismus, Perspektivismus, Partikularismus und in toto Kritizismus. IV. All das, was hier in ungenügender Kürze über Diderots Roman gesagt wurde, gilt in noch größerem Maße für das Erzählen der deutschen Spätaufklärer, u.zw. sowohl im Hinblick auf dessen diskursiven Gehalt als auch hinsichtlich der narrativen Darstellungsmittel. Um zunächst auf das Erstgenannte einzugehen, so ist zu bemerken, dass gerade in Wielands Romanen philosophische Modelle wesentlich detaillierter zur Sprache kommen als bei Voltaire oder Diderot. Nahezu alle die zeitgenössische Philosophie beschäftigenden Probleme werden mit deutscher Gründlichkeit behandelt. So lässt sich bezüglich der Romane der deutschen Spätaufklärung insgesamt, v. a. aber im Hinblick auf diejenigen Wielands behaupten, dass in ihnen das Grundkonzept der Vernunft durch dasjenige der Natur ersetzt und der Mensch entsprechend in erster Linie nicht als Vernunft-, sondern als Naturwesen betrachtet wird. In einem solchen aber hat die Sinnlichkeit vor der Vernunft bzw. die affektive vor der intellektuellen und moralischen Ausstattung den Primat inne. Daraus entwickelt sich eine holistische Theorie des Funktionalismus, die sich am ›ganzen Menschen‹ orientiert. Zugleich wird die Praxis massiv aufgewertet, sodass sich sagen lässt, dass die literarischen Spätaufklärer einem pragmatischen Paradigma folgen. ›Pragmatisch‹ hat hierbei den doppelten Sinn, dass damit 1. das Primat des Praktischen und 2. die Bindung an den common sense gemeint ist. Dieser Paradigmenwechsel hat auf mindestens 4 Ebenen einschneidende Konsequenzen: der erkenntnistheoretischen, der handlungs- und moraltheoretischen, der staats- und geschichtsphilosophischen und der ästhetischen.5 5
Zum pragmatischen Paradigma vgl. ausführlich: Lars-Thade Ulrichs: Die andere Vernunft. Philosophie und Literatur zwischen Aufklärung und Romantik. Berlin 2011, S. 51–261.
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Auf erkenntnistheoretischem Gebiet wird innerhalb des pragmatischen Paradigmas die gesamte menschliche Vermögensausstattung als das Erkennen bedingend begriffen. Daraus entwickeln sich ein Funktionsbegriff der Rationalität, ein existentieller Erkenntnis- sowie ein pragmatischer, mit der Korrespondenztheorie brechender Wahrheitsbegriff. Es entsteht ein Konzept, das man als Explikation der Lehre von den Grenzen der Vernunft ansehen kann und aus dem heraus man metaphysischen Spekulationen skeptisch gegenübersteht. Dieser Funktionalismus fragt nicht nach der internen Struktur der Rationalität, sondern nach ihrer Funktion in der alltäglichen Lebenswelt, der von Wieland so genannten ›Werkeltagswelt‹. Mit dieser funktionalistischen Theorie, deren Ziel die Selbstaufklärung der Vernunft über ihre Möglichkeiten und Grenzen ist, schließen sich die Spätaufklärer an die empiristische und skeptische Tradition an. Aus der Einbindung des Erkennens in die Praxis ergibt sich für sie ein Toleranz gebietender Relativismus. Der polyperspektivische Dialog erscheint ihnen als die diesem ›Urbanitätsideal‹ genügende Artikulationsform. In ihm nämlich werden Diskursinhalt und Diskursform, wie bei Diderot, in ein sich wechselseitig reflektierendes Verhältnis gebracht. Auf dem Gebiet der praktischen Philosophie steht im Roman der deutschen Spätaufklärer zum einen die Motivation des Handelns, zum andern die Geltung moralischer Urteile im Mittelpunkt des Interesses. Man bemüht sich um die Entwicklung eines an der Lebenswelt orientierten Kontextualismus. Auf der Basis einer Auseinandersetzung mit dem Leib-Seele-Problem und den zeitgenössischen Trieblehren entwickeln die literarischen Spätaufklärer eine Position, die zwar die Affekte als Triebkräfte allen Handelns und deren rationale Durchdringung als einzig haltbares Ideal ansieht, zugleich aber durch Zweifel an der Möglichkeit sowohl von Selbsterkenntnis als auch einer psychologischen Analyse aus der Beobachterperspektive geprägt ist. In moralphilosophischer Hinsicht sympathisieren sie einerseits mit der Moral-sense-Ethik, andererseits mit der Egoismustheorie, weil beide nicht in der Vernunft, sondern in der Affektivität das Fundament der Moral sehen. Der Einfluss der Egoismustheorie führt sie jedoch nicht zur Leugnung der Soziabilität bzw. der Fähigkeit des Menschen zu altruistischem Verhalten, sondern zum Zweifel an deren Wirksamkeit. V.a. aber begründet sie ihre eudämonistische Moralauffassung, wonach die Funktion der Vernunft allein in einer Verallgemeinerung des moralischen Triebs zu Maximen oder Tugenden besteht, sie selbst jedoch keine motivierende Kraft besitzt. Aufgrund dieser Orientierung an verschiedenen motivationstheoretischen Modellen sind die moralphilosophischen Ausführungen der spätaufklärerischen Romanciers durch große Ambivalenzen geprägt: Einerseits sympathisieren sie mit der Auffassung vom Menschen als eines nicht-festgestellten Tiers, aus dem Milieu und Erziehung nahezu alles machen können, andererseits stehen sie den aufklärerischen Erziehungsprogrammen mit großer Skepsis gegenüber. Diese Ambi valenz prägt sich im philosophischen Roman der Spätaufklärung auch formal aus:
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Zum einen adaptiert er wesentliche Elemente des Bildungsromans, zum andern dekonstruiert er – etwa im Agathon Wielands oder in Wezels Tobias Knaut – dieses Konzept fortwährend. Daher ist er durch starke Psychologisierungstendenzen ebenso wie durch satirische Entlarvungstechniken charakterisiert. Auch die Einstellung der spätaufklärerischen Romanciers gegenüber der Staatsund Geschichtsphilosophie ist auf vielfältige Weise ambivalent: Obwohl sie sich einerseits ausführlich mit den damaligen Konzepten auseinandersetzen und insbes. das darin sich artikulierende utopische Denken immer wieder literarisch gestalten, schwanken sie zwischen einem Agnostizismus, der sie relativistische Positionen präferieren lässt, und dem Glauben an die Perfektibilität des Menschen. Wielands Metapher der Spirale, mit der der immer mögliche Rückschritt mit dem Fortschritt zusammengedacht wird, bringt diese zwiespältige Position treffend zum Ausdruck.6 Die Auseinandersetzung mit dem geschichts- und staatsutopischen Denken dient im philosophischen Roman der Spätaufklärung jedoch v. a. einem anderen Zweck: Die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des utopischen Denkens steht stellvertretend für die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des fiktionalen Erzählens. Die Utopie wird zum Austragungsort einer quasi-transzendentalen Reflexion, deren eigentlicher Gegenstand die Fiktionalität des Romans selbst ist. Dabei greifen die Spätaufklärer auf die Theorie der möglichen Welten zurück, wonach die Literatur eine konsistente und kausal geschlossene Welt entwirft, halten aber zugleich am mimetischen Anspruch der Literatur fest. Dadurch aber, dass mit dem Konzept der möglichen Welten und der Mimesistheorie zwei Modelle unterschiedlicher Provenienz zusammengeführt werden, entsteht eine überaus komplexe Sachlage: Durch die Erfindung von möglichen Welten leisten die Romane einen Beitrag zur Überschreitung der Grenzen menschlicher Erkenntnis, indem sie durch die Verknüpfung von kausaler und teleologischer Erzählweise den Begriff von der Einheit der Welt als eines geordneten Ganzen anschaulich füllen. Die literarische Darstellung einer ›Welt im Kleinen‹ vermittelt uns eine Einsicht in die Kontingenz der wirklichen Welt einerseits, in die von dieser Zufälligkeit unbeschadet bestehende Notwendigkeit der wirklichen wie der möglichen Welten andererseits und wird dadurch zu einer eminent metaphysischen Beschäftigung. Andererseits wird dieses anspruchsvolle Unternehmen mit den Mitteln der Fiktionsironie fortwährend gebrochen. Gerade an der in der Applikation der Theorie der möglichen Welten sich arti kulierenden Reflexion auf das fiktionale Erzählen überhaupt zeigt sich, dass im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit philosophischen Modellen die originelle Leistung der spätaufklärerischen Romanciers nicht in den jeweiligen philo6
Vgl. Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Reprint der Göschen-Ausgabe. Hrsg. v. Johann Gottfried Gruber. 39 Bde. Hamburg 1984 [im Folgenden: SW], hier: SW V,14, 326 ff.; SW XI,36, 224 f.
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sophischen Positionen, sondern in ihrer Diskurswahl besteht: Sie sehen im Roman die dem pragmatischen Paradigma angemessene Diskursform, da nur in ihm die vom diesem Paradigma geforderte Kontextualisierung des Denkens und Handelns durchgeführt werden könne. Man kann also von einer Korrespondenz zwischen der Theorie des Funktionalismus und dem Prinzip der narrativen Kontextualisierung sprechen. Insofern ist bereits in dieser Hinsicht das charakteristische Merkmal des philosophischen Romans der Spätaufklärung seine Autoreflexivität, da die diskursiven Passagen, die das pragmatische Paradigma artikulieren, zugleich die narrativen Mittel des Romans und damit die Gründe der Diskurswahl reflektieren. Dieses wechselseitige Begründungsverhältnis von diskursivem Gehalt und Erzählmitteln kann man als eine Autoreflexivität erster Stufe bezeichnen. Indem aber darüber hi naus der Erzählprozess selbst zu einem bewussten und ständig reflektierten Vorgang wird, konstituiert sich im spätaufklärerischen Roman zusätzlich eine Autoreflexivität zweiter Stufe. Diese Selbstthematisierung des Erzählens artikuliert sich v. a. in der Form der Fiktionsironie, deren einfachster Ausdruck die ironische Behandlung der Herausgeberfiktion ist. Somit sind weder sein diskursiver Gehalt, in dem nur ein in der Philosophie stattfindender Paradigmenwechsel nachvollzogen wird, noch die Erfindung neuer narrativer Mittel – die Spätaufklärer finden den Roman als ausgebildete Gattung bereits vor –, sondern die diskurslogischen und narrativen Konsequenzen, die aus dem neuen Paradigma gezogen werden, das Wesentliche am philosophischen Roman. Entsprechend zeichnet nicht sein philosophischer Gehalt einen Roman als einen philosophischen aus, sondern erst wenn dieser die rational rekonstruierbaren Gründe umfasst, die für die Wahl des narrativen Diskurses entscheidend sind, kann man zu Recht von einem philosophischen Roman sprechen. In ihm sind Diskursgehalt und Diskursform in autoreflexiver Weise so aufeinander bezogen, dass der Roman den Charakter eines ›Metaromans‹ erhält. Als ein solcher hat er große Bedeutung für die Entwicklung von Autonomieästhetik und Transzendentalpoesie gewonnen.7 Man kann sogar behaupten, dass, insofern in den diskursiven Passagen des philosophischen Romans die implizite Philosophie eines jeden Romans artikuliert wird, sich im Zuge dieser Reflexion das Erzählen mit dem Erzählten zusammen konstituiert und zudem als ein bewusster Vorgang präsentiert wird, der philosophische Roman einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des modernen Romans überhaupt geleistet hat. Jedenfalls implementiert der philosophische Roman der Spätaufklärung mit der Autoreflexivität eine Struktur in den Roman, die er seitdem in vielen seiner Exemplare nicht mehr verloren hat. 7 Lars-Thade
Ulrichs: Vollständiges Bewusstsein. Der Bildungsroman und die genetische Subjektivitätsphilosophie um 1800. In: Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): Genealogien der Natur und des Geistes. Jahrestagung des Zentrums für Klassikforschung Weimar 2014 [im Erscheinen].
Der conte philosophique und der Roman der deutschen Spätaufklärung
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V. Diese allgemeine Diagnose zum philosophischen Roman der deutschen Spätaufklärung soll nicht verdecken, dass es zwischen den literarischen Spätaufklärern große Unterschiede gibt. Aber diese Differenzen betreffen nicht die autoreflexive Struktur ihrer Romane. Wohl kann man behaupten, dass Wieland die narrativen Mittel weitaus virtuoser handzuhaben weiß als Wezel und Heinse und dass die Romane der letzteren in dieser Hinsicht einen ›Rückschritt‹ darstellen. Dass die autoreflexive Faktur der fiktionalen Narration bei den Letztgenannten einfachere Formen annimmt, mag man auch gegen ein Konzept von Literaturgeschichte als einer ständigen Komplexitätssteigerung ins Feld führen. Gleichwohl zeichnen sich Wezels und Heinses Romane ebenfalls vielfach durch autoreflexive Erzählweisen aus. Und auch in der pragmatischen Grundhaltung – in ihrer Orientierung am common sense und in der Ablehnung metaphysischer Spekulationen – unterscheiden sie sich nicht. Zugleich aber lässt sich in den Romanen Wezels und Heinses eine Radikalisierung der philosophischen Positionen beobachten. Diese Radikalität veranlasste den sonst so konzilianten Wieland – und gerade weil er ein konzilianter Aufklärer war – dazu, sowohl mit Wezel als auch mit Heinse8 zu brechen. Mit ihrer Sympathie für (französische) materialistische und sensualistische Positionen konnte und wollte er nicht mitgehen. Noch weniger konnte sich Wieland mit den pessimistischen Positionen der beiden ›Radikalaufklärer‹ einverstanden erklären. Die düstere Weltsicht, wie sie in Wezels Belphegor präsentiert wurde, galt ihm als »menschenfeindlich« und als ein »Frevel an unserem armen Geschlecht«. Und auch die ›heroische‹ PessimismusVariante, wie sie den Ardinghello auszeichnete: der amoralische ›Titanismus‹ des Renaissancemenschen, den der Stürmer und Dränger ungebrochen feierte,9 konnte den Weimarer Prinzenerzieher nur befremden. Insbes. aber die Drastik ihrer literarischen Darstellungen rief bei Wieland entschiedenen Widerstand hervor. Erschien es ihm im Fall Wezels unangemessen, sämtliche Handlungen und Geschehnisse nur als Ausgeburten eines durchweg bösartigen und im zivilisatorischen Prozess noch weiter verrohten Menschengeschlechts zu präsentieren, so ging ihm im Fall Heinses die unverhohlene Darstellung der Sexualität viel zu weit.10 Weder eine radikal negative noch eine solche Anthropologie, die den natürlichen Menschen ohne alle 8 Zum
Verhältnis zwischen Wieland und Heinse vgl. Max L. Baeumer: »Mehr als Wieland seyn!« Wilhelm Heinses Rezeption und Kritik des Wielandschen Werkes. In: Hansjörg Schelle (Hrsg.): Christoph Martin Wieland. Nordamerikanische Forschungsbeiträge zur 250. Wiederkehr seines Geburtstages. Tübingen 1984, S. 115–148. 9 Vgl. Björn Vedder: Wilhelm Heinse und der so genannte Sturm und Drang. Künstliche Paradiese der Natur zwischen Rokoko und Klassik. Würzburg 2011. 10 Vgl. dazu u. a. Almut Hüfler: Vermittlung und Unmittelbarkeit. Wilhelm Heinses Roman poetik zwischen Leben und Literatur. Heidelberg 2012.
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Aspekte · 5. Sektion · Lars-Thade Ulrichs
Abstriche guthieß, waren mit Wielands Menschenbild vereinbar. Für ihn war der Mensch gerade aufgrund seiner Weltoffenheit in jeder Hinsicht gefährdet und deshalb orientierungs- und lenkungsbedürftig. Im Fall Heinse kommt etwas hinzu, was sich bei Wezel nur in Ansätzen zeigte: Heinse gehörte mit seinem pantheistischen und organizistischen Weltbild bereits einer Generation an, die für den »Ausgang […] aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«11 kein großes Interesse mehr aufzubringen vermochte.12 Anders als viele Romantiker beschäftigten Heinse zwar v. a. die moralischen Implikationen eines Modells, wonach der Mensch allein aus dem organischen Naturganzen verstanden werden und auch nur aus einer solchen Natur heraus Orientierung gewinnen kann. Zugleich wies er jedoch mit seiner ›dionysischen‹ Weltsicht13 auf etwas voraus, dem der alte Wieland nur noch mit Kopfschütteln hätte begegnen können: auf die romantische Naturphilosophie nicht bloß, sondern auf Nietzsches Konzept vom Übermenschen.
VI. Unbeschadet dieser erheblichen inhaltlichen Differenzen gingen Wieland, Wezel und Heinse den Weg vom Roman der Philosophen zum philosophischen Roman gemeinsam. Und dies taten sie, indem sie in ihre Texte eine autoreflexive Struktur implementierten, durch die der diskursive Gehalt und die narrativen Mittel in ein Entsprechungs- und Begründungsverhältnis gebracht wurden. Für die daraus entspringende Bewusstheit des Erzählens, in der das Erzählte mit dem Erzählen stets zusammen präsentiert wird, spielt Diderot eine wichtige Vermittlerrolle. Mit ihm als Vorgänger und mit Wieland, Wezel und Heinse als seine Radikalisierer ist eine Romanform entstanden, die auch für Philosophen von größtem Interesse ist oder sein sollte.
11
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 22 Bde. Bd. 8. Berlin 1912, S. 33–42, hier: 35. 12 Vgl. Lars-Thade Ulrichs: Das ewig sich selbst bildende Kunstwerk. Organismustheorien in Metaphysik und Kunstphilosophie um 1800. In: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 4 (2006), S. 256–290. 13 Vgl. Max L. Baeumer: Das Dionysische in den Werken Wilhelm Heinses. Studie zum dionysischen Phänomen in der deutschen Literatur. Bonn 1964.
6 . se k t ion m e di e n de s e r z ä h l e ns: i n t e r- u n d t r a ns m e di a l i tät
Cornelia Pierstorff
Medien des Erzählens: Inter- und Transmedialität Einleitung
W
enn Gotthold Ephraim Lessing 1766 in seinem Laokoon die Grenzen der Mahlerey und Poesie bestimmt, begründet er damit – von der Warte der Rezeptionsgeschichte dieses Textes aus gesprochen – nichts weniger als die Intermedialitätstheorie. Im zentralen 16. Kapitel seiner Abhandlung vergleicht er Malerei und Dichtung im Hinblick auf ihre jeweiligen semiotischen Bedingungen und Möglichkeiten. Dabei geht es ihm nicht mehr, wie es das horazische Dictum »ut pictura poesis«1 vorgibt, um eine Ähnlichkeit zwischen den Künsten, sondern vielmehr um ihre mediale Differenz: Wenn es wahr ist, daß die Mahlerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.2
Entsprechend diesen beiden grundsätzlich verschiedenen semiotischen Dispositiven der beiden Medien, ›Mahlerei‹ und ›Poesie‹, ordnet Lessing der Bildenden Kunst den »Körper«, der Dichtung die »Handlungen« als Gegenstand zu.3 Doch auch wenn Lessing mit seiner Rede von »ganz andere[n] Mittel[n], oder Zeichen«4 eine Grenze zieht, ist sein Projekt gleichzeitig auch immer auf ebendiese Grenze und ihre Überschreitung bezogen.5 Denn Lessing diskutiert die Möglichkeiten der Künste, Gegenstände auch entgegen einem ›bequemen Verhältnis‹ darzustellen, widmet sich also genau den »Ausnahme[n]« seiner eigenen »Regel«.6 Die Grenze muss dementsprechend – kaum gezogen – abgesichert werden, mit rhetorisch durchaus drasti1 Horaz:
Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Hrsg. v. Hans Färber. 2 Bde. Bd. 2. München/Zürich 91982, S. 250. 2 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Text und Kommentar. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner. 12 Bde. Bd. 5.2. Frankfurt a. M. 1990, S. 116. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Vgl. Sabine Schneider: Die Laokoon-Debatte. Kunstreflexionen und Medienkonkurrenz im 18. Jahrhundert. In: Claudia Benthien u. Brigitte Weingart (Hrsg.): Handbuch Literatur und visuelle Kultur. Berlin/Boston 2014, S. 68–85, hier: 72. 6 Lessing: Laokoon, S. 130.
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Aspekte · 6. Sektion · Cornelia Pierstorff
schen Mitteln: Lessing inszeniert die Paragone dezidiert als kriegerisches Setting, wodurch der Antagonismus die Möglichkeiten der medialen Transgression über lagert.7 Gleichzeitig macht diese Inszenierung die Ambivalenz des Laokoon-Projekts deutlich. Denn der ›Sieger‹ im Kampf der Künste ist – obwohl die Abgrenzung über ihre jeweilige Medialität erfolgt – gerade diejenige Kunst, die eben diese vergessen macht, sie überwindet und in Illusion auflöst: die Dichtung.8 Dass Lessing der Dichtung gegenüber der Bildenden Kunst den Vorzug gibt, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er letztere ebenfalls auf ihr Erzählpotenzial hin befragt. Denn er fasst auch die bildliche Darstellung von Körpern als zeitlich, wenn er sie als Darstellung »nur eine[s] einzigen Augenblick[s] der Handlung« bezeichnet, die sowohl eine zeitliche Deixis auf das »Vorhergehende« als auch auf das »Folgende« entfalten solle.9 Damit bemisst Lessing beide Medien letztlich an ihrer Narrativität, womit die Erzählung mit ihrer doppelten Zeitlichkeit – die Darstellung »fortschreitende[r] Handlungen[] als fortschreitend«10 – gleichermaßen zum Paradigma von Dichtung wie von Bildender Kunst avanciert.11 In den Fußnoten zum Laokoon schließlich inszeniert Lessing den Sieg der Dichtung nicht mehr nur argumentativ, sondern auch performativ, nämlich in Form einer imaginierten, aber durchgestrichenen Medienkombination: »Ich kann mich desfalls auf nichts entscheidenderes berufen, als auf das Gedichte des Sadolet. Es ist eines alten Dichters würdig, und da es sehr wohl die Stelle eines Kupfers vertreten kann, so glaube ich es hier ganz einrücken zu dürfen.«12 Der ausdrückliche Verzicht auf Bilder ist der Punkt, an dem Lessing zum einen am konsequentesten einer »Ästhetik jenseits der Bilder«13 – und damit letztlich einer Ästhetik jenseits aller Medialität – folgt,14 zum anderen damit aber gerade die konkrete Medialität des Textes markiert. Denn Inhalt der ›Illusion‹ ist hier die Darstellung selbst, in Form einer alternativen medialen Realisierung, welche die real vorliegende, umgesetzte Variante umso stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. 7 Vgl.
Jörg Robert: Laokoon oder: Krieg und Frieden im Reich der Künste. In: Ders. u. Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin/Boston 2013, S. 10–40. 8 »Sondern er [der Poet, Anm. d.Verf.] will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu sein aufhören« (Lessing: Laokoon, S. 124). 9 Ebd., S. 117. 10 Ebd., S. 116. 11 Vgl. Schneider: Die Laokoon-Debatte, S. 79. 12 Lessing: Laokoon, S. 61, Anm. 2. 13 Robert: Laokoon, S. 37. 14 Vgl. ebd.
Einleitung
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Damit ist in Lessings Laokoon etwas angelegt, das – trotz des ausdrücklichen Ziels der Überwindung der Medialität – vorzeichnet, was für die moderne Theoriebildung charakteristisch ist: dass nämlich Medialitätstheorie und Intermedialitätstheorie die Kehrseiten einer Medaille bilden. Es ist also nicht allein die Tatsache, dass sich das weitere Nachdenken über Intermedialität »als Reaktion auf und Auseinandersetzung mit dem Laokoon«15, insbesondere als Abarbeiten an der »Laokoontischen Differenz«16, beschreiben lässt, sondern auch diese doppelte Ausrichtung, die Lessings Laokoon für Medialitätstheorie wie für Intermedialitätstheorie gleichermaßen paradigmatisch macht. Der Begriff der Intermedialität hat seit den 1990er-Jahren Konjunktur. Zahlreiche medienkomparatistisch angelegte Studien verwenden ihn, um ihre Gegenstände, deren Darstellungsverfahren und Inhalte miteinander in Beziehung zu setzen.17 Dieser Vielfalt an Verwendungsweisen setzt Irina Rajewsky 2002 erstmals eine ausdifferenzierte Systematik der Intermedialität entgegen, die seitdem als erste Refe renz dient, um intermediale Phänomene zu klassifizieren und in ihren Dimensionen zu beschreiben. Intermedialität bestimmt Rajewsky dabei als »Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren«18, wobei sie drei Typen intermedialer Relation unterscheidet: 1. den Medienwechsel, bei dem ein mediales Objekt in ein anderes Medium ›übersetzt‹ wurde; 2. die Medienkombination, in der die Darstellung des Objekts mindestens zwei verschiedene, gleichzeitig präsente Medien umfasst; und schließlich 3. die intermediale Bezugnahme, die entweder als Einzelreferenz auf ein in einem anderen Medium realisiertes Objekt oder als Systemreferenz auf ein anderes Medium als solches erfolgen kann.19 Ein Medium kann nicht nur intermedial bezugnehmen, indem es das andere Medium erwähnt und thematisiert, sondern auch durch seine Darstellungsverfahren,20 weshalb Frauke Berndt und Lily Tonger-Erk in ihrer Einführung zur Intertextualität grundsätzlich die Bezugnahme qua Referenz von derjenigen qua Performanz unterscheiden.21 Während Überlegungen zu einer Bezugnahme qua Performanz auf der Prämisse basieren, dass zwischen den Darstellungsverfahren der Medien Ähnlichkeitsrelationen bestehen, sie also grundsätzlich vergleichbar sind, geht Rajewskys Definition der Intermedialität dennoch von klar unterscheidbaren 15
Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014, S. 43. Ebd., S. 16. 17 Vgl. Evi Zemanek: Intermedialität – Interart Studies. In: Dies. u. Alexander Nebrig (Hrsg.): Komparatistik. Berlin 2012, S. 159–174, hier: 166–167. 18 Irina Rajewsky: Intermedialität. Tübingen/Basel 2002, S. 19. 19 Vgl. ebd., S. 19. 20 Vgl. ebd., S. 83–149. 21 Vgl. Frauke Berndt u. Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013, S. 159–161. Rajewksy unterscheidet verschiedene Stufen der Systemerwähnung qua Transposition und Formen der Systemkontamination, vgl. Rajewsky: Intermedialität, S. 83–149. 16
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Einzelmedien aus, eine Vorstellung, die letztlich auf Lessings Laokoon zurückgeht und die seitdem als »Laokoon-Paradigma«22 die Theoriebildung leitet. Die blinden Flecken der Intermedialitätstheorie offenbart Rajewskys Definition genau dort, wo sie Intermedialität von ›Nicht-Intermedialität‹ abgrenzt und dafür zwei Residualkategorien schafft: die Intra- und die Transmedialität. Zum einen werden »Phänomene, die nur ein Medium involvieren«23, aus der Systematik ausgeschlossen und als Intramedialität letztlich – für die Literaturwissenschaft gesprochen – an die medienblinde Theorie der Intertextualität delegiert.24 An diesem ›Systemfehler‹ tritt etwas zutage, das sich bereits für das 18. Jahrhundert beobachten lässt: Die Aufmerksamkeit für Medialität ist abhängig von Intermedialität – das Leistungsprofil eines Mediums wird stets komparatistisch gedacht.25 Zum anderen grenzt Rajewsky die Inter- von der Transmedialität ab, wie sie »[m]edienunspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist«26, bezeichnet. Als eines dieser transmedialen Phänomene gilt klassischerweise das Erzählen. Denn erzählt werden kann in unterschiedlichen Medien. Dennoch nimmt mündliche wie schriftliche Sprache innerhalb narrativer Medien eine bevorzugte Stellung ein,27 was für die Theoriebildung einer (inter)medialen Narratologie Konsequenzen hat. Wird nämlich die Sprache als ›natürliche‹ Erscheinungsform des Erzählens verstanden,28 gerät die Medialität des Erzählens aus dem Blick. Diese Medienvergessenheit ist symptomatisch für die klassische Narratologie Genette’scher Prägung, die ihrer Sys tematik zwar sprachliches und implizit: mündliches Erzählen zugrunde legt, dieses Erzählen jedoch nicht medienspezifisch – das würde bedeuten: vom schriftlichen Text ausgehend –, sondern eben als transmedial beschreibt. Die aktuelle medienwissenschaftliche Rezeption der Narratologie hingegen denkt über medienspezifische Formen des Erzählens – sei es im Film, im Computerspiel oder im Comic 22 Inge
Baxmann, Michael Franz u. Wolfgang Schäffner (Hrsg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000; vgl. Robert: Intermedialität. 23 Rajewsky: Intermedialität, S. 19. 24 Vgl. Berndt u. Tonger-Erk: Intertextualität, S. 161. 25 In eine ähnliche Richtung argumentiert Jörg Robert, wenn er feststellt: »Ästhetik der Intermedialität und Intermedialität der Ästhetik bedingen sich gegenseitig« (Robert: Intermedi alität, S. 8). 26 Rajewsky: Intermedialität, S. 19. 27 Vgl. Marie-Laure Ryan: Narration in Various Media (http://www.lhn.uni-hamburg.de/ article/narration-various-media#, Aufruf 02. 08. 2017), dort Abschnitt 3.2. Zur Skalierbarkeit von Narrativität vgl. Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Vera Nünning u. Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 23–104. 28 »In these accounts of the social and cognitive foundations of storytelling, natural language is presented as the original narrative medium« (Ryan: Narration in Various Media).
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– nach und erweitert die herkömmlichen strukturalistischen Systematiken.29 Kein Wunder, muss sie doch die literaturwissenschaftliche Narratologie für ihr jeweiliges Medium ›übersetzen‹ und ist damit grundsätzlich medienkomparatistisch ausgerichtet. Auch für die Theoriebildung gilt also, dass das Bewusstsein von Medialität stets von einer intermedialen Perspektive abhängig ist. Was in Rajewskys System in eine eigene Kategorie ausgelagert und so aus dem Fokus des Interesses verschoben ist, stellt sich somit als grundlegende, quer zu den anderen Kategorien verlaufende Dimension der Frage nach der (Inter)Medialität heraus: Erzählen ist nicht das ›Andere‹ der Intermedialität, sondern liefert die Struktur, die je medienspezifisch, und das heißt auch intermedial in Erscheinung tritt. Dass und wie Formen intermedialen Erzählens im 18. Jahrhundert Medialität zum Thema machen, sie reflektieren und selbstreflexiv inszenieren, untersuchen die Beiträge dieser Sektion. Sie zeigen dabei, wie im 18. Jahrhundert die Frage nach der Sinnlichkeit von Zeichen(systemen) virulent wird. Mit den Medientheorien treten auch die Intermedialitätstheorien auf den Plan.30 Denn die Frage, wie Wissen durch Medien vermittelt werden kann, provoziert unwillkürlich ein Wissen von den Medien. Neben dieser Herausbildung theoretischer Reflexion sind es (inter)mediale Artefakte selbst, die dieses Verhältnis ausloten, und zwar indem sie das Wissen der Medien inszenieren. Die Tradition der Ekphrasis ist nicht nur Katalysator theoretischer Reflexion über das Verhältnis von Bild und Text, sondern sie ist auch untrennbar mit der Frage nach dem Erzählen und seinen Grenzen verbunden. Friederike Felicitas Günther führt in ihrem Beitrag vor, wie das Einbrechen des Erzählens in die ›beschreibende Poesie‹ Barthold Heinrich Brockes ein poetologisches Programm entfaltet. Ausgangspunkt ist dabei zunächst eine Medienkombination: Der von Brockes und Johann Elias Ridinger gemeinsam herausgegebene Band Betrachtung der wilden Thiere von 1736 überführt die der Ekphrasis inhärente deiktische Struktur in eine mediale Kopräsenz von Kupferstich und Beschreibung. Die Einzelreferenz des Gedichts auf die bildliche Darstellung – exemplarisch in Die Hirsche. No. 3 – entpuppt sich gleichzeitig als performative Systemreferenz, indem die Narrativierung des im Bild momenthaft dargestellten Ereignisses durch eine Stillstellung der erzählten Zeit ›gerahmt‹ wird. Das intermediale Arrangement verdoppelt so die Betrachtersituation 29 Siehe bspw. Marie-Laure Ryan u. Jan-Noël Thon (Hrsg.): Storyworlds across Media: Toward a Media-Conscious Narratology. London 2014; Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin 2011; Marina Grishakova: Intermediality and Storytelling. Berlin 2010; Leonhard Korbel: Zeit und Raum im Computerspiel. Ein narratologischer Ansatz. München 2009; Seymour Benjamin Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca 1978. Vgl. Ryan: Narration in Various Media. 30 Vgl. Schneider: Die Laokoon-Debatte, S. 68.
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und überblendet damit das Lob der Natur mit einem Lob des Bildes, wodurch dem Konzept der Stillen Andacht eine mediale Vermittlung implementiert wird. Wiebke Helm widmet sich in ihrem Beitrag den intermedialen Strategien der Wissensvermittlung in Kinder- und Jugendsachbüchern der Aufklärung. Denn ähnlich wie Wissensmedien für Kinder heute präsentieren sie ihre Gegenstände in Form von Medienverbünden. Den Texten sind neben Abbildungen, Grafiken oder Karten auch figürliche Objekte beigegeben. Damit folgen sie dem philanthropischen Konzept der anschauenden Erkenntnis, das zeitgleich in der pädagogischen Theorie ausformuliert wird. Sie stellt das Wissen der Medien in den Dienst der Wissensvermittlung und weist den einzelnen Elementen eine klare Funktion zu. Während der Text die grundlegenden Informationen enthält, dienen Bilder und Figuren der besseren Vermittlung und Einprägung. Dass dieser Anspruch der Theorie jedoch nicht oder nur bedingt von den intermedialen Kinder- und Jugendsachbüchern eingelöst wird, zeigt Helm am Beispiel der enzyklopädisch angelegten Reihe Geschenke für Kinder, bei dem sich Bild und Figur der ihnen zugedachten Komplementärfunktion versperren und teilweise alternative Informationen präsentieren. Damit hält das Arrangement aufgrund seiner intermedialen Ambiguität auch die Möglichkeit einer scheiternden Rezeption bereit, was sich nicht zuletzt darin äußert, dass diesem Problem mit hohem narrativen Aufwand entgegenzuwirken versucht wird. Denn die Medienkompetenz kann offenbar nicht vorausgesetzt, sondern muss zunächst narrativ hergestellt werden, indem sowohl pädagogische Theorie als auch der Text der Sachbücher selbst die experimentelle Anordnung steuern und aus erzählen, nämlich als Erfolgsgeschichte einer idealen Rezeption des intermedialen Arrangements durch ›das Kind‹. Inwiefern das Theater als bürgerliche Institution, wie es sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts herausbildet, von Texten abhängig ist, zeigt Beate Hochholdinger-Reiterer in ihrem Beitrag. Denn das reformierte Theater wird in Kritiken und schauspieltheoretischen Texten quasi ›herbeierzählt‹. Die Theaterreform, die das Ziel verfolgt, die Schauspielerei zu einer der Literatur ebenbürtigen Kunstform zu erheben, findet somit zunächst in einem anderen Medium statt. Ausgehend von intermedialen Einzelreferenzen – Aufführungs- und Schauspielkritiken – bildet sich in den aufkommenden Theaterperiodika ein schauspieltheoretischer Diskurs heraus, in dem nun Systemreferenz im Mittelpunkt steht. Die Texte wechseln dabei von einer deskriptiven zu einer präskriptiven Bezugnahme auf die historische Schauspielpraxis, indem sie diese überhaupt erst produzieren und legitimieren. Gleichzeitig diskreditieren die schauspieltheoretischen Texte die nichtliterarische Tradition des Theaters, dessen Wissenssystem auf Mündlichkeit basierte. In der Theaterhistoriographie schließlich lassen sich die Folgen dieser Strategie nachzeichnen, weil sie die Abgrenzung fortführt und eine patrilineare Theatertradition erzählt, die Mündlichkeit, Körperlichkeit und Weiblichkeit aus dem Kanon ausschließt.
Friederike Felicitas Günther
Vom Einbruch der Erzählung in die deskriptive Poesie Brockes’ Beschreibung eines fliehenden Hirschs im Kupferstich von Johann Elias Ridinger Die folgende Auseinandersetzung mit einer poetischen Bildbeschreibung von Barthold Heinrich Brockes demonstriert, wie die Erzählung als zeitliches und ereignishaftes Geschehen in die beschreibende Poesie der Frühaufklärung einbricht und diese mitsamt ihrem Betrachter – mehr oder weniger unfreiwillig – in Bewegung setzt. Der Rahmen der beschreibenden Kunst ut pictura wird gesprengt, und zwar in dem ausgewählten Beispiel ausgerechnet durch die Einwirkung eines Bildes, eines Kupferstichs von Johann Elias Ridinger. Der Stich entstammt ebenso wie das Gedicht dem gemeinsamen Band der beiden Freunde Brockes und Ridinger mit dem Namen Betrachtung der wilden Thiere, der 1736 erschien1 und vierzig Kupferstichtafeln Ridingers enthält, unter denen sich, in zwei Strophen unterteilt und meistenteils in Alexandrinern gehalten, jeweils die Beschreibung des Bildes von Brockes findet. Das hier ausgewählte Gedicht wird im Folgenden unter drei Gesichtspunkten in Blick genommen: Erstens als beschreibende Poesie (Deskription statt Narration), zweitens als Narration wider Willen und drittens als Blick in Bewegung (concupiscentia oculorum).
1. Deskription statt Narration: Brockes’ beschreibende Poesie Warum also eine frühaufgeklärte Bildbeschreibung in einem Beitrag zur Relevanz der Erzählung in der Aufklärung? Brockes’ Beschreibung eines in Kupfer gestochenen fliehenden Hirsches zeigt einen Konflikt auf, der das Ende der beschreibenden Poesie am Beginn des 18. Jahrhunderts einläutet. Gemeinhin wird Brockes der beschreibenden Dichtung zugeordnet, der, wie in Lessings späterem Urteil, eine räumlich-statische Anordnung zugeschrieben wird.2 August Langen schildert diese Tendenz von Brockes’ poetischem Blick auf die Natur mit dem treffen-
1
Johann Elias Ridinger: Betrachtung der wilden Thiere, mit beygefügter vortrefflichen Poesie des hoch-berühmten Herrn Barthold Heinrich Brockes. Augsburg 1736. 2 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner. 12 Bde. Bd. 5.2. Frankfurt a. M. 1990, S. 11–206, hier: 123–129 [Kap. XVII].
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Aspekte · 6. Sektion · Friederike Felicitas Günther
den Begriff der »Rahmenschau«3: Brockes illustriere in seinen Gedichten statische Landschaften, und dies auch dann, wenn er sich als Betrachter selbst bewege wie in einer Kutsche: dann erscheine die Landschaft im Gedicht in Gestalt wechselnder Einzelbilder, vom Kutschfenster gerahmt.4 »Die einzelnen Naturphänomene«, so Hans Christoph Buch über Brockes’ Lyrik, »werden […] verdinglicht zu Objekten der Beschreibung, die gleichberechtigt nebeneinander stehen.«5 Eine »sichtbare stehende Handlung, deren verschiedene Teile sich neben einander im Raume entwickeln« 6: das wird Lessings Charakterisierung poetischer Gemälde im Laokoon sein, die er deutlich von der zeitlichen Dynamik der Poesie abgrenzt. Einen solchen statisch-deskriptiven Modus von Texten stellt Wolf Schmid in seinen Elementen der Narratologie dem narrativen Modus gegenüber.7 Aneinanderreihungen von Zustandsbeschreibungen, wie beispielsweise die liebevolle und detaillierte sprachliche Skizzierung einzelner Blumen in den Gartengedichten von Brockes, würden nach diesem Begriff des Narrativen überhaupt nicht narrativ zu nennen sein, weil sie keine Zustandsveränderungen darstellen. Dies vorausgesetzt, erscheint es kaum erstaunlich, dass sich Brockes affirmativ der Malerei zuwendet. Er hebt die Malerei als stillstellende Kunst hervor, doch im Gegensatz zu Lessing betont er dies als entscheidenden Vorteil der Malerei gegenüber der Poesie. Explizit gibt Brockes also der Malerei den Vorzug – und zwar gerade weil die Poesie im Zeitfluss steht, die Malerei aber den Augenblick still stellt, wie es in einem kleinen Gedicht mit dem Titel Vorzüge der Mahlerey aus dem achten Teil seines Hauptwerks Irdisches Vergnügen in Gott bestehend zu lesen ist: »Da wir, sonder Mühe nicht, auch nicht ohne Zeit, erst lesen | Was desjenigen, der schrieb, Zweck und Absicht sey gewesen; | Schenkt sie [ d. i. die Natur, Anm. d. Verf. ] uns die Mahlerey […]«.8 Lesen kostet nicht nur Mühe, sondern braucht Zeit – anders als die Malerei, der entsprechend eine mühelose Perzeption zugeschrieben wird, die nicht im oder als Zeitverlauf stattfindet. In seinem Gedicht Die Hirsche. No. 3, das den erwähnten Kupferstich Ridingers beschreibt (Abb. S. 431), hebt Brockes diesen Vorzug der Malerei besonders hervor. Ihr wird die Eigenschaft zugeschrie3 August
Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Jena 1934. 4 Vgl. August Langen: Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 70 (1948/49), S. 249–313. Wieder abgedruckt in: Alexander Ritter (Hrsg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt 1975, S. 112–191, hier: 123. 5 Hans Christoph Buch: Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. München 1972, S. 78. 6 Lessing: Laokoon, S. 116. 7 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin/New York 22008, S. 7 ff. 8 Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. 9 Bde. Hamburg 1737–1748 [im Folgenden: IVG], hier: IVG 8, 447.
Vom Einbruch der Erzählung in die deskriptive Poesie
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Ein Hirsch von 6. änden, der angeschweist und flüchtig ist. In: Johann Jakob Ridinger: B etrachtung der wilden Thiere, mit beygefügter vortrefflichen Poesie des hoch-berühmten Herrn, Barthold Heinrich Brockes. Augsburg 1736. © Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Signatur GR 2 ZOOL X, 54, RARA, Abb. 3.
ben, die Zeit anhalten zu können. Auf dem Bild ist, wie man der Bildunterschrift entnehmen kann (Ein Hirsch von 6. änden, der angeschweist und flüchtig ist), ein angeschossener Hirsch abgebildet, der aus dem Gebüsch des Waldes bricht und in voller Flucht von rechts nach links durch das Bild am Betrachter vorbei läuft. Brockes beschreibt diese Flucht folgendermaßen: »Er ist vorbey und fort. Doch nein; | Wie ! wird er in der Flucht zu Stein? | Er fleucht, und bleibt auf einer Stelle. Dieß ist nun keine Zauberey; | Doch ist es eine schwarze Kunst. Damit hier lange sichtbar sey, | Was sonst die Schnelligkeit uns raubet« (IVG 6, 218). Im Kontext der Betrachtung der wilden Thiere ist klar, dass mit der schwarzen Kunst die Kupferstecherei gemeint ist – schwarze Erde oder schwarze Kreide ist laut Brockes ihr Medium.9 9 Es finden sich viele weitere Beispiele von Brockes’ Bezeichnung des Kupferstechens als »schwarze Kunst« im Sinne eines Malens mit schwarzer Farbe, so in Betrachtung der wilden Thiere als »mit etwas schwartzer Erde« oder »mit schwartzer Kreide entworffene Zeichnung« (Ridinger: Betrachtung der wilden Thiere, Titelkupfer und Tafel 1); an anderer Stelle charakterisiert er sie als »künstlich schwartze[ ] Züge[ ] und Linien« (Gedanken des vortreflichen Herrn B. H. Brockes am Beginn von Johann Elias Ridinger: Lehrreiche Fabeln aus dem Reiche der Thiere zur Verbesserung der Sitten und zumal zum Unterrichte der Jugend. Augsburg 1744, n. pag.).
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Dieser Kunst, die an Zauberei grenzt und doch Wirklichkeit ist, gelingt es, den Lauf der Dinge anzuhalten und dadurch stillzustellen, »was sonst die Schnelligkeit uns raubet«. In Ridingers Kupferstich lässt sich diese Stillstellung durchaus nachvollziehen. Die Form des Hirschgeweihs wird in der Kreuzstellung der Bäume aufgenommen, auch die Linien seiner Beine werden in den Ästen fortgeführt und seine Kopfstellung in den herabhängenden Gräsern. So wird der Hirsch in den Bestand der unbelebten Natur eingefügt, seine hektische Bewegtheit – schließlich ist er angeschossen und flieht um sein Leben – wird von der unbelebten Gesamtkomposition im Sinne Langens ›gerahmt‹. Genau dies ist es, was Brockes in den zitierten Versen an Ridinger so lobt und hervorhebt: Es gelingt ihm, die Bewegung zugleich zu zeigen und zu bändigen (»[e]r fleucht und bleibt auf einer Stelle«). Der im Bau des Gedichts herausfallende kürzeste Vers artikuliert diese Leistung: »Wie ! wird er in der Flucht zu Stein?«. Es liegt offenbar in Brockes Kerninteresse, die zu starke, zu heftige und abrupte Bewegung – sei es eine äußere oder eine innere – in einen Rahmen einzufügen und zu beruhigen. Ein solches Bestreben, ausufernde Dynamik zu vermeiden, zeigt sich auch in einer Empfehlung, die er an anderer Stelle zur Heilung starker innerer Bewegtheit ausspricht: im Gedicht Bewährtes Mittel, Gemüths= Bewegungen zu stillen aus dem dritten Teil des Irdischen Vergnügens in Gott. Über die Affekte innerlich Kontrolle zu gewinnen, so heißt es hier, sei ungleich schwerer, als sie durch Erzwingen äußerer Ruhe zu beeinflussen. Das in Bewegung geratene (»starck wallende«) Gemüt zu beruhigen ist das erklärte Ziel, und erlangt wird dieses Ziel durch die Ruhigstellung der äußeren Form (»[d]ie Muskeln im Gesicht zu erst zu recht zu lencken«), was wiederum beruhigend auf den Affekt wirkt: er »wird nicht mehr lange währen.«10
2. Narration wider Willen Trotz des grundsätzlichen Abzielens auf die Ruhigstellung des Bewegten und des ausgiebigen Lobs der Stille, die Brockes durch Ridingers Bild gewährleistet sieht, bricht das Narrative als Bewegung und Ereignis in Brockes’ Gedicht Die Hirsche. No. 3 geradezu unwillentlich ein: 10 Bewährtes Mittel, Gemüths=Bewegungen zu stillen: »[…] Wann es uns Menschen nun viel leichter fällt, | Die Züge des Gesichts zu zwingen, | Als das starck wallende Geblüth, | Und ein entzündetes Gemüht | Zur Stille so gar schnell zu bringen; | So deucht mich, wär es gut mit Ernst darauf zu dencken, | Wann etwan unser Geist vor Zorn und Unmuth glüht, | Die Muskeln im Gesicht zu erst zu recht zu lencken | Und gleichsam mit Gewalt die Augen aufzuklären, | Den Mund zu ziehn, zusammt den Augen=Brauen. | Dies wird zum Gleichgewicht gewisse Wege bahnen, | Und der Affect wird nicht mehr lange währen« (IVG 3, 702).
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Welch Rascheln unterbricht der Stille so lang hier ungestörten Sitz? Es rauschen Büsch, es krachen Sträucher. Was fliegt daher, als wie ein Blitz? Es war ein angeschweister Hirsch: Er ist vorbey und fort. Doch nein; Wie! Wird er in der Flucht zu Stein? Er fleucht, und bleibt auf einer Stelle. Dieß ist nun keine Zauberey; Doch ist es eine schwarze Kunst. Damit hier lange sichtbar sey, Was sonst die Schnelligkeit uns raubet: Kann man, an diesem armen Thier, Entsetzen, Unmuth, Grimm und Gram, Furcht, Wüten, Todespein und Grauen, Nicht in den Augen nur allein, in allen seinen Gliedern, schauen. Die Muskeln raffen sich zusammen; die strammen Nerven reissen schier. Hier seh ich nun zwar eine Probe, wie weit des Menschen schlauer Geist, Auch in den allerdicksten Wäldern, die Herrschaft über Thiere weist: Doch seh ichs ohne Mitleid kaum. Wesfalls ich eilig meine Blicke, Um mich zu trösten, in den Wald, in die bebüschte Ferne schicke. Ich sencke mich, mit stiller Lust, in das verwachsene Gefilde; Und wenn ich, in dem schönen Wald mich satt und doch nicht satt gesehn, Weil man stets neue Schönheit spüret: So ruf ich: Jeder muß gestehn, Daß hier die bildende Natur, durch Ridinger, sich selbsten bilde.11 (IVG 6, 217 f.)
Ausgangspunkt und Endpunkt des Gedichts ist die Stille, die der laufende Hirsch zu Beginn »unterbricht« und die der Betrachter in Vers 13 wieder herstellt, indem er seine »Blicke« vom Hirsch losreißt und sie »mit stiller Lust« (V. 15) wieder im schönen Wald versenkt. Die Stille wird hier im doppelten semantischen Sinne aktiviert: Zum einen ist die verhältnismäßige Lautlosigkeit der unbelebten Natur gemeint, die der Hirsch mit seinem Lärmen aufschreckt, zum anderen aber auch die Bewegungsarmut des Waldes im Vergleich mit dem gejagten Hirsch. Anders als man von Brockes’ deskriptiver Dichtung erwarten würde, konterkariert die Poesie in den ersten Versen das Medium des Bildes unmittelbar: ganz im Sinne von Lessings Unterscheidung offenbart sie sich hier als Zeitkunst. Die Tempora der ersten Verse signalisieren den Zeitlauf: noch gerade gegenwärtig (»Es rauschen Büsch, es krachen Sträucher. Was fliegt daher, als wie ein Blitz?«, V. 2, Herv. d. Verf.), ist der Moment im Gedicht schon wieder Vergangenheit, aus Präsens wird Präteritum: »Es war ein angeschweister Hirsch« (V. 3, Herv. d. Verf.). Während der Kupferstich die rasende Flucht »zu Stein« (V. 4) meißelt, gibt das Gedicht die Flüchtigkeit der Bewegung in ihrem zeitlichen Verlauf wieder. Dreißig Jahre später konstatiert Lessing im Laokoon dies, wie bereits erwähnt, indem er die Poesie als Zeitkunst versteht, 11 Hier
sind viele der Rechtschreibfehler aus der ersten Fassung (Ridinger: Betrachtung der wilden Thiere. Tafel 3) getilgt, die dort noch vorhandene mittige Unterteilung in zwei Strophen zusammengefügt und der Name Ridingers nicht nur durch den Anfangsbuchstaben angedeutet, sondern ausgeschrieben.
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die Handlungsabläufe zeigt, und sie der Malerei als Raumkunst gegenüberstellt. In Brockes’ Gedicht geht es zudem um mehr als bloße Sukzession. Hier besteht die poetische Handlung der ersten drei Zeilen nicht nur in der Wiedergabe eines zeitlichen Verlaufs, sondern es handelt sich semantisch auch um ein Ereignis im Sinne der Lotmanschen Definition von Ereignishaftigkeit12: Eine gegebene Ordnungsstruktur wird gestört, der gesicherte optische Rahmen von Kupferstich und Waldesstille wird von der vorbei eilenden Bewegung des Tiers durchbrochen (der Hirsch »unterbricht« die Stille, er stört, was zuvor »ungestört[ ]« war, V. 1). Das Gedicht steigert diesen Eindruck eines Durchbruchs, indem es das Ereignis nicht nur zeitlich im Verlauf abbildet, sondern zudem von der optischen auf die akustische Ebene wechselt: »Welch Rascheln unterbricht […] Es rauschen Büsch, es krachen Sträucher« (V. 1 f.). Die Poesie, so Lessing, habe entsprechend ihrer zeitlichen Disposition mit dem akustischen Medium der Töne zu arbeiten, die Malerei aber mit dem optischen der Formen und Farben.13 Durch die synästhetische Schwerpunktverlagerung ebenso wie durch die Wiedergabe eines zeitlichen Verlaufs sprengt das Gedicht von Brockes insofern ganz im Sinne Lessings den Rahmen der optisch orientierten beschreibenden Poesie. Die Erzählung beginnt. Zwar wird nun, wie im ersten Abschnitt dargestellt, in den Versen 3 ff. abge sichert, dass es sich bei dem Beschriebenen um ein Bild und damit um stillgestellte Bewegung handelt, aber gleich darauf wird die im Bild enthaltene Geschichte voll entfaltet: Ein Hirsch ist angeschossen worden und flieht um sein Leben. Was wird mit ihm geschehen? Die Geschichte lädt ein zum emotionalen Mitgehen, zum Mitleiden, dem Brockes auch prompt nachgeht: »Kann man an diesem armen Thier, | Entsetzen, Unmuth, Grimm und Gram, Furcht, Wüten, Todespein und Grauen, | Nicht in den Augen nur allein, in allen seinen Gliedern, schauen. | Die Muskeln raffen sich zusammen; die strammen Nerven reissen schier. | Hier seh ich nun zwar eine Probe, wie weit des Menschen schlauer Geist, | Auch in den allerdicksten Wäldern, die Herrschafft über Thiere weist; | Doch seh ichs ohne Mitleid kaum.« (V. 7–13) Angesichts dieser Qual kann sich der Betrachter kaum des Mitleids enthalten. Der längste Vers (8) des Gedichts entfaltet zudem einen Wirbelsturm an innerer Bewegung, die in Mimik und Gliedern des Hirsches bildlich festgehalten ist: »Entsetzen […] Todespein und Grauen« – schlimmer kann es eigentlich nicht werden. Das Herz des Betrachters schlägt eindeutig nicht auf Seiten der Jagdleidenschaft, der Ridinger in seinen Stichen oftmals frönt, sondern es schlägt auf Seiten der gequälten 12 Vgl.
die Darstellung bei Schmid: Elemente der Narratologie, S. 11: Lotman kennzeichne das Ereignis als »Überschreiten einer Verbotsgrenze«; es bestehe demnach »in der Abweichung von dem in einer gegebenen narrativen Welt Gesetzmäßigen, Normativen, dessen Vollzug die Ordnung dieser Welt aufrechterhält.« 13 Vgl. Lessing: Laokoon, S. 116.
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Kreatur: »das arme Thier« (V. 7). Sollte man hier bereits einen wirkungsästhetisch beabsichtigten Appell an das Mitgefühl des Lesers mit dem zu Tode gehetzten Tier vermuten, um der Moral willen, dass der Mensch seine gottgegebene Herrschaft über die Kreatur hier missbraucht? Zumindest klingt in der Formulierung »des Menschen schlauer Geist« eine Kritik am menschlichen Herrschaftsgestus an, der solche Pein hervorruft. Allerdings scheint das Mitleid – ebenso wie der Nachvollzug von Ereignis und Bewegung – dem Gedicht gleichsam wider Willen zu wiederfahren, denn gleich darauf wird die Betrachtung wieder in den Rahmen der unbewegten Natur eingeholt. Der Betrachter zwingt seinen Blick fort von der geschundenen Kreatur, fort von der äußeren Bewegung, die seine Sprache und sein Innenleben durch Mitleiden bereits infiziert hat. Er schwenkt mitten hinein in die erholsame Waldesstille: »Doch seh ichs ohne Mitleid kaum. Wesfalls ich eilig meine Blicke / um mich zu trösten, in den Wald, in die bebüschte Ferne schicke« (V. 13 ff.). Hier kann er sich, wie der folgende Vers zeigt, endlich wieder »mit stiller Lust« in die Natur versenken. Der beschreibende Modus ist wieder möglich, denn die Bewegung – und damit das Ereignis als Ordnungsbruch ebenso wie der Zeitverlauf seiner Erzählung – ist ausgeklammert. Wie zu Beginn bereits erwähnt, wird die Stille, die das Ereignis unterbrochen hat, am Ende wieder hergestellt. Sie ist von einer äußeren Stille (»der Stille so lang hier ungestörten Sitz«, V. 1) zu einer inneren gewandelt (»[i]ch sencke mich, mit stiller Lust«, V. 15). Die äußere Ruhe des den Hirsch umgebenden Waldes, dem sich der Blick als einem äußeren Rahmen nun wieder zuwendet, erzwingt eine innere Ruhe, ganz wie Brockes es in seinem bereits zitierten Gedicht Bewährtes Mittel, Gemüths-Bewegungen zu stillen anweist. Vielleicht wird die Distanz zwischen Lessings Laokoon und Brockes’ Gedicht Die Hirsche. No. 3 bei aller Übereinstimmung in Bezug auf die jeweilige Merkmalsbestimmung von Poesie und Malerei nirgends so deutlich wie in ihrer unterschiedlichen ästhetischen Einschätzung des Mitleids. Während für Lessing das Mitleid die entscheidende wirkungsästhetische Komponente darstellt, ist für Bro ckes das Mitleid gerade das, von dem es sich weitestgehend zu distanzieren gilt. Auf den Vers: »Doch seh ichs ohne Mitleid kaum« folgt die unmittelbare Reaktion: »Wesfalls ich eilig meine Blicke […] in die bebüschte Ferne schicke«. Der Grund für die Abkehr des Betrachters ist gerade das Mitleid, das er durch das Ereignis in sich aufsteigen fühlt (»[w]esfalls« koppelt die Fluchtreaktion direkt an die aufsteigende Mitleidsempfindung). Ist er also schlicht gleichgültig, ist ihm das Leiden der Kreatur egal, und wie verträgt sich dies mit Brockes’ intensivem Besingen der gottgeschaffenen Natur im Irdischen Vergnügen in Gott? Die ostentative Abwendung vom angeschossenen Tier hin zur Waldesstille ist nur vor dem Hintergrund seiner theologisch ausgerichteten Ästhetik zu verstehen. Sie besagt, dass der Dichter, der Gottes Lob singt, nicht auf der Ebene der Kreatur verharren darf, sondern die Hin-
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wendung zur Natur vielmehr als Absprungbrett zum Lobpreis Gottes verstehen soll. Zur Erläuterung sei ein weiteres Gedicht von Brockes herangezogen, das ebenfalls vom Mitleid mit einer geschundenen Kreatur handelt: Der geschlagene Hund aus dem fünften Teil des Irdischen Vergnügens. »Neulich rannt ein grosser Hund, mit erbärmlichem Geschrey, Weil man ihn geschlagen hatte, Sporenstreichs mein Haus vorbey, | Als ich an der Thüre stand. Dieser laute Ton durchdrang | Nicht nur mein beleidigt Ohr, sondern der zu scharfe Klang | Drang mir durchs Gehör ins Hertz« (IVG 5, 133). Schon die Formulierungen eines »beleidigt[en] Ohr[s]« und des »zu scharfe[n] Klang[s]« legen nahe, dass die durch Lärm und Schrei erregte mitleidige Wallung, die im Zuhörer aufsteigt, letztlich negativ bewertet wird. Er vergleicht im weiteren Mensch und Vieh, die beide durch Wehklagen und Schreien ein mitleidiges Ohr auf sich ziehen können, und überlegt, ob auf diese Weise der Mensch nicht vielleicht auch ein geneigtes Ohr Gottes erwecken könne. Dies wird gleich darauf vehement abgelehnt, »[w]eil dem Schöpfer, was uns fehlet, | Was uns nützlich, was uns nöthig, uns erfreut, und was uns quälet | Besser als uns selbst bekannt. Er auch minder nicht, nicht mehr, | Durchs Geschrey, beweget wird« (IVG 5, 134). Demonstratives lautes Schreien und Klagen verharrt auf der Ebene der Kreatur wie des jaulenden Hundes, während der wahre Gottesdienst in einer Öffnung vornehmlich des optischen Sinns für die Schönheit der Natur besteht, und aus dieser Andacht erst erwächst eine der Schöpfung ebenbürtige Harmonie bzw. Schönheit. In Der geschlagene Hund fungiert diese harmonische Andacht als Kontrastfolie zum lärmenden Affekt der gequälten Kreatur. Es sei »([v]on der äusserlichen Andacht, auch aufs innere zu schliessen) | Und wie etwann wir zu weilen, durch der Nachtigallen singen | […] dem Schöpfer auch ein Lob=Lied mitzubringen; | Angetrieben werden können« (ebd.). In anderen Worten: durch Geschrei und Geheul im Unglück auf des Schöpfers Antwort zu hoffen bringt überhaupt nichts hervor außer Misstönen, vielmehr ist es Aufgabe des Menschen, sich der schönen als der harmonischen Natur zu öffnen und sich dadurch angeregt zum Gotteslob aufzuschwingen. Zur schönen Natur zählt Brockes in Die Hirsche. No. 3 entsprechend nicht etwa den fliehenden Hirsch, sondern allein die Waldesstille (»in dem schönen Wald«, V. 16). Nur die schöne Natur bringt schöne Töne hervor, und nur die schönen Töne singen das Lob Gottes. Doch lassen sich die einmal geöffneten Sinne, wie man an Die Hirsche. No. 3 sehen kann, nicht so leicht im Zaume halten.
3. Blick in Bewegung Die bisherigen Beobachtungen haben gezeigt, dass im Gedicht Die Hirsche. No. 3 in zweierlei Hinsicht der ästhetische und theologische Anspruch der stillen Andacht und des Gotteslobs uneingelöst bleibt. Erstens auf der Ebene der Sprache, die in
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Tempus und Semantik von der Deskription ins Narrative kippt und das Ereignis des die Stille durchbrechenden, tödlich getroffenen Hirsches wiedergibt. Zweitens auf der Ebene der inneren Bewegung des Betrachters, der zum Mitleid genötigt Gefahr läuft, seine zur Gottesandacht zentrale innere Ruhe zu verlieren. Im letzten Abschnitt wird nun noch ein dritter Aspekt angeführt, der die Stille im Gedicht nachhaltig stört. Er betrifft die Ebene der Erzählzeit, die durch das Betrachterauge strukturiert wird. Bei der Beschreibung des Kupferstichs mit dem fliehenden Hirsch bleibt das Auge nicht ruhig wie während der eingangs erwähnten Kutschfahrt, die nicht die eigene Bewegung wiedergibt, sondern die Blicke aus dem Fenster wie Einzelphotographien als Zustandsbeschreibungen aneinanderreiht und so die eigene Bewegung ins Statische kehrt. In Die Hirsche. No. 3 handelt es sich dagegen um ein unruhiges und wechselhaftes Betrachterauge, das die im Bild angelegte Bewegung des Hirsches verfolgt und sie dabei zugleich entfesselt. Noch im Rückzug von dieser Bewegung zeigt sich die Infektion durch die hektische Dynamik des Hirsches: »Wesfalls ich eilig meine Blicke […] in die bebüschte Ferne schicke« (V. 13) – eilig ist diese Abwendung des Blicks von der Unruhe und trägt dadurch die Unruhe noch mitten in die eigene Schau der Waldesruhe hinein. Zwei weitere Gedichtbeispiele seien noch erwähnt, die deutlich machen, dass es sich bei dem von der ereignishaften Bewegung zum Mitlaufen verführten Betrachterblick in Die Hirsche. No. 3 um keine Ausnahme handelt. Fliehendes Wild heißt das eine Gedicht aus dem Irdischen Vergnügen in Gott; in Betrachtung der wilden Tiere ist es als 18. Tafel unter dem Titel Weißer Dammhirsch gelistet (IVG 6, 230). Schon der erste Vers etabliert eine Parallelbewegung von Wild und Blick: beide fliehen: »In der Flucht des schnellen Wildes, flieht mein Blick mit ihnen fort.« Diese ungewohnte Bewegtheit stürzt den Blick samt seinem Betrachter in Verwirrung: er »begreift nicht, wie er [ der Blick, Anm. d. Verf. ] flieget, und doch an demselben Ort | Bleibt, und schwebend feste steht«, und weiter: »Kaum kann ich die Wunder:Sachen | […] | Die, in dieser schönen Zeichnung, nicht, und doch gemalet stehn, | Vor der zweifelnden Bewegung der getäuschten Augen sehn« (IVG 6, 230). Zweifel, Flucht, Täuschung: die innere Verunsicherung des Auges durch den Blick auf die äußere Fluchtbewegung ist nicht zu verleugnen. Die Folge dieser Verwirrung ist, dass das Auge für die Schönheit blind und – entsprechend dem skizzierten theologisch- ästhetischen Anspruch – für die Gottesandacht untauglich wird: kaum kann es »die schöne[ ] Zeichnung« der Natur noch wahrnehmen. Dieselbe ungeordnete Verwirrung des Blicks zeigt sich auch in einem weiteren Gedichtbeispiel: In Die Hirsche. No. 4 schwankt der Blick beständig zwischen ruhender Betrachtung der unbelebten Natur und dem Hingerissen-Werden durch den Hirsch:
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Ob in diesem Kupferstück ich zuerst das Pflanzen=Reich, Oder erst das Thier=Reich sehn, oder alle zwey zugleich Schauen und bewundern wolle; zweifelt mein verwirrter Blick. Sucht mein Aug am kühlen Bach, unter Schatten=reichen Büschen, Unter Blätter=reichen Bäumen in der Fern, sich zu erfrischen: Reisset ihn der edle Hirsch, mit Gewalt, auf sich zurück, Und indem ich seine Stellung, Anstand, prächtige Gestalt, Sein auf mich gerichtet Aug und den festen Tritt beschau; Schweift der Blick aufs neue weg, in die von der klaren Au Angenehm durchfloßne Gegend, wo sich, von beblümten Hügeln, Weisse Stämme, grüne Blätter, in dem reinen Wasser, spiegeln. Doch des Hirsches schöne Zweig, und sein sich bewegend Ohr, Reissen mich aus grüner Zweige ferner Tief aufs neu hervor. (IVG 6, 218 f., Herv. d. Verf.)
Der Blick zweifelt, irrt und schwankt zwischen den beiden Polen, die auch das Gedicht Die Hirsche. No. 3 prägen: Da ist der Hirsch auf der einen Seite und die Stille der unbelebten Natur auf der anderen. Die unterschiedliche Wertung beider Pole wird unmittelbar deutlich: auf Seiten der Waldesstille findet der Blick Erfrischung (V. 5) und Angenehmes (V. 10 f.), während mit der Hingerissenheit seines Blicks zur belebten Natur Gewaltsamkeit einhergeht (»Reisset ihn der edle Hirsch, mit Gewalt, auf sich zurück«, V. 6; »Reissen mich aus grüner Zweige ferner Tief aufs neu hervor«, V. 13). Das beinahe Unfreiwillige, ja Verführte dieses Blickes erinnert an einen Topos, den Hans Robert Jauß in Anknüpfung an Hans Blumenberg mit dem Erwachen der ästhetischen Erfahrung in Verbindung gebracht hat: die concupiscentia oculorum, die Schaulust bzw. die Verführbarkeit der Augen durch den Sinnesreiz. Im Mittelhalter hatte sich die unter diesem Begriff summierte Kritik generell gegen Sinnesreize gewandt, wie z. B. die Klage Bernhards von Clairvauxs, dass die Mönche nicht mehr den biblischen Text, sondern viel lieber die anschaulichen Marmorfiguren und -fresken bestaunen.14 Bei Brockes, der den Sinnesreiz gezielt sucht, um durch das Lob des Irdischen das Lob seines Schöpfers zu singen, ist natürlich keine solche generelle Kritik der Sinne zu finden. Wenn man den Begriff der Verführbarkeit des Auges auf ihn anwendet, dann muss sich dies auf eine Augenlust beziehen, die nicht zum Gotteslob führt, sondern vielmehr auf der Ebene der Kreatur stecken bleibt, ohne sich weiter empor zu schwingen. Gemeinhin gelingt Brockes am Ende jedes seiner Gedichte die Wendung nach oben, in der sich das sinnliche Schauen in ein Lob des Schöpfers des Geschauten wandelt. Bei den von Bewegung hingerissenen Gedichten dagegen rettet sich Brockes aber mitunter nur mit knapper Not 14 Vgl.
Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1982, S. 31.
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in ein Lob nicht der Natur, sondern vielmehr des Kupferstichs, dem es gelingt, die Naturbewegung festzuhalten und dadurch das Schöpferlob möglich zu machen. Nur in dieser gefilterten Form, im Medium des Bildes, lässt sich die ereignishafte Bewegung des Wildes bändigen, wie z. B. in dem an Ridinger gerichteten Abschluss des Gedichts zu Ein Hirsch von 12. änden, welcher in voller Flucht ist: »Eines guten Schreibers Griffel ist dein Griffel. Denn du schreibest | unsers großen Schöpfers Thaten, würcklich in der That, in Ertz.«15 Das Gotteslob wird zwar auch bei Betrachtung des fliehenden Hirsches möglich (»unsers großen Schöpfers Thaten«), doch eben nur im stillstellenden Medium des Kupferstichs, und nicht mittels des von der Flucht mitgerissenen poetischen Blicks.16 Dieser bleibt in seinen hingerissenen Momenten, in denen er im Akustischen weilt und mitleidig mit der Kreatur mitgeht, ganz am Geschöpf hängen und droht den Schöpfer darüber zu vergessen – kein Wunder, dass Brockes Ridingers Kunst daher den Vorzug gibt und ihn in Vorzüge der Mahlerey gewissermaßen als den besseren Dichter bezeichnet: »[…] Sprich dann, edler Ridinger, ob nicht unsrer Dichterey, | Deines Griff= und Pinsels Werk, billig vorzuziehen sey?« (IVG 8, 447).
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Ridinger: Betrachtung der wilden Thiere, Tafel 6; vgl. ebd., Tafel 7: »[…] ja es zeiget überall die so künstliche Copie, | in nur schwarzten Linien […] | Wie das Urbild so vortreflich, wie die Welt, so wunderschön, | davon kann man hier im Abdruck, einen schönen Schatten sehn«. 16 Allerdings gelingt dies in der Betrachtung der wilden Thiere nicht immer: Die Abbildung eines brünftigen Hirschs, der in seiner verzehrenden Triebhaftigkeit geschildert wird, verführt das Auge des Betrachters so sehr, dass der Aufschwung zum Gotteslob am Ende wegfällt, vielmehr mit der Sprache der Kreatur endet: »[…] und mein Auge höhret fast, wie er schnauffet, keicht und ächzet. | ja mich deücht als wenn er gleichsam durch sein keichen zu mir spricht, | aus dem schlammigten Morast: Schau, in mir, die Wuth der Triebe, | ihr den Leib verzehrend Feür, kurtz: ein Bild missbrauchter Liebe« (Ridinger: Betrachtung der wilden Thiere, zur Tafel 9: Ein starcker Brunfft-Hirsch von 18. änden, welcher von der Hitze des Brands sich zu kühlen in einem Brudel oder solachen ligt).
Wiebke Helm
Vom Lesen, Sehen und Begreifen Intermedialität im Kinder- und Jugendsachbuch der Aufklärung Das Angebot an Sachbüchern für Kinder und Jugendliche ist derzeit vielfältiger und umfangreicher denn je. Neben außergewöhnlichen Einzeltiteln liegen zahlreiche Sachbuchreihen vor, die ein Thema in unterschiedlichen Versionen und medialen Formaten präsentieren. Je nach Lesealter reicht das Programm der großen Verlage von der Sachbuch-Version mit Lese- bzw. Hörstift, über das Sachhörbuch, bis hin zum Sachbilderbuch mit 3D-Brille, QR-Code und Internetlink, der zum Download von Apps, Podcasts, zum Leser-Blog oder zur TV-Serie führt. Sachgeschichten werden heute intermedial und im groß angelegten Medienverbund präsentiert. Woher rührt dieses Phänomen und wo liegen seine ideengeschichtlichen und materiellen Wurzeln? Ein Rückblick in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts kann diesbezüglich bemerkenswerte Einsichten bringen und zeigen, wie Bildungsinhalte verstärkt medial aufbreitet wurden, um Kindern Wissen durch die geschickte Kombination verschiedener Medien1 begreifbar zu machen und ihnen deskriptiv, visuell und figürlich beispielsweise Informationen über ein bestimmtes Tier sinnlich-anschaulich zu vermitteln. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts befanden sich in den Bücherregalen bürger licher Familien außer dem Orbis sensualium pictus des Comenius’ und einer Kinderbibel selten weitere Titel für die jüngste Generation des Hauses. Literatur, die sich explizit an Kinder und Jugendliche richtete, gab es kaum, erinnert sich Goethe in seinem Lebensrückblick.2 Drei Jahrzehnte später machte sich der Berliner Schulrat Friedrich Gedike Einige Gedanken über Schulbücher und Kinderschriften (1787) und kam nun bereits zu einer anderen Einschätzung, denn binnen kürzester Zeit hatte sich der Buchmarkt grundlegend verändert. Täglich erschienen eine Vielzahl von Schriften, die »als Privatlektur zur Nebenbeschäftigung und Unterhaltung der Kinder gebraucht«3 wurden. Inzwischen gebe es Bücher, bei denen der Inhalt für 1 Der
von mir verwendete Medienbegriff ist ein erweiterter, der neben gedruckten auch didaktische Medien, z. B. Spielfiguren und (Anschauungs-)Modelle, als Übermittler von ›Botschaften‹ einschließt. 2 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Werke in zwölf Bänden. 12 Bde. Bd. 8. Ausgew. u. eingel. v. Helmut Holtzhauer, bearb. v. Herbert Greiner-Mai. Berlin/Weimar 1966, S. 39. 3 Friedrich Gedike: Einige Gedanken über Schulbücher und Kinderschriften. Berlin 1787, S. 14.
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Kinder zwar »zwekmäßig und nützlich«, die Darbietung hingegen oftmals »unausstehlich abgeschmakt« sei.4 Deshalb forderte er: Verständlichkeit und Faßlichkeit sind die ersten wesentlichsten Erfordernisse jedes Lesebuchs. Es muß keinen Begriff, kein Wort enthalten, das den Kindern nicht entweder sogleich verständlich ist, oder ihnen vom Lehrer ohne vielen Aufwand von Zeit verständlich gemacht werden kann. Der Inhalt muß für die jungen Leser anlokkend sein, und, um dies zu sein, müssen die Begriffe aus ihrem Ideenkreise hergenommen sein, und je sinnlicher sie anfänglich sind, desto mehr Interesse wird das Buch für sie haben.5
Mit seiner Forderung nach einer sinnlichen Literatur fürs Kind, die nicht nur zur bloßen Imagination, sondern auch für das Gedächtnis geschrieben sein sollte, sprach Gedike des Weiteren einen Fakt an, der in der Aufklärung zu einem wesentlichen Postulat kindlicher Erziehung erhoben wurde. In den theoretischen Schriften der Philanthropen zur anschauenden Erkenntnis traten diese in Anlehnung an die Überlegungen John Lockes für einen ersten Unterricht ein, der die Sinne des Kindes wecken und über das sture Repetitieren und Literaturstudium hinausgehen sollte.6 Für Johann Stuve und Philipp Julius Lieberkühn galt die unmittelbare Wahrnehmung eines Gegenstandes als eine der Quellen der Erkenntnis, die zur Bildung von richtigen Begriffen beitrage. Ihrer erzieherischen Konzeption legten sie die Idee zugrunde, dass ein Kind zunächst nur über eine sinnliche Vernunft verfüge und Wissensinhalte daher über die Sinne – heute würde man sagen: multimodal – vermittelt werden müssten. Sofern die zu erklärende Sache nicht direkt empirisch fassbar sei, beispielsweise durch einen Spaziergang in der Natur oder den Besuch einer Handwerkerstätte, sollte sie durch Abbildungen oder Ähnliches veranschaulicht werden. Es gebe, so Stuve, »eine große Menge merkwürdiger Gegenstände der Natur und Kunst, die wir entweder gar nicht, oder nicht zu allen Zeiten und unter allen Umständen unmittelbar anschauen können, und von denen wir uns durch Beschreibungen, oder welches in diesen Fällen besser ist, durch Abbildungen einen Begriff zu machen suchen müssen«.7 Diese Abbilder sollten keine symbolische oder 4
Ebd., S. 15. Ebd., S. 17 f. 6 Dem Wissenserwerb mittels Anschauungsmethode in der Aufklärungszeit widmeten sich exemplarisch jüngst Sylvi Chakkalakal: Die Welt in Bildern. Erfahrung und Evidenz in Friedrich J. Bertuchs »Bilderbuch für Kinder« (1790–1830). Göttingen 2014, bes. S. 105–187; und Nikola von Merveldt: Pädagogische Raumpraktiken. Zur Topographie philanthropischer Anschauungspädagogik. In: Caroline Roeder (Hrsg.): Topographien der Kindheit. Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen. Bielefeld 2014, S. 183–197. 7 Johann Stuve: Ueber die Nothwendigkeit Kinder frühzeitig zu anschauender und lebendiger Erkenntniß zu verhelfen und über die Art wie man das anzufangen habe. Braunschweig 1788, S. 109. 5
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allegorische Verschlüsselung mehr enthalten, sondern den zu vermittelnden Gegenstand nach der Natur wiedergeben.8 Lieberkühn ging sogar noch einen Schritt weiter: Er wies Modellen gegenüber Bildern einen stärkeren Wirkfaktor zu, ebenso der realen Betrachtung der Natur, die wiederum dem Bilderstudium vorzuziehen sei. Aber auch der anschauliche Gebrauch von Sprache, beispielsweise der Rückgriff auf Analogien und beschreibende Adjektive, vermöge beim Leser Vorstellungen von einer Sache zu erzeugen.9 In den hier umrissenen Überlegungen finden sich die ideengeschichtlichen Grundlagen für die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beobachtbare zunehmende Intermedialität im Kinder- und Jugendbuch, deren Anfänge im Folgenden dargestellt werden. Der Fokus soll dabei auf Sachtexten zu Naturthemen liegen, denen bereits Merkmale des Intermedialen eingeschrieben sind, da sie meist noch in der Erzähltradition der Historia naturalis verharren und dem Genre gemäß inter mediale Elemente wie beispielsweise Sprachbilder und intertextuelle Bezüge enthalten. Exemplarisch sollen am Beispiel eines historischen Medienverbundes inter mediale Bezüge herausgearbeitet und kritisch evaluiert werden, inwiefern das Konzept Intermedialität zur Vermittlung von Wissen funktionierte. Ab 1770 wurden im deutschsprachigen Gebiet vermehrt enzyklopädische Bildwerke für Kinder und Jugendliche gedruckt, die den Anspruch erhoben, die ganze Welt des aufgeklärten Wissens altersgerecht zu präsentieren. Rasch bildeten sich entsprechend der vorhandenen technischen Möglichkeiten erste Medienkombinationen im Feld der noch jungen Kinder- und Jugendliteratur heraus, die Sachthemen sinnlich und zugleich spielerisch vermitteln wollten. Es entstanden Werke mit Bildtafeln, Grafiken, ausklappbaren Landkarten und didaktischen Ergänzungsmedien wie Spielfiguren, Modellen und Experimentierkästen. Das Bilderbuch für Kinder (1790–1830) des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch ist neben Johann Bernhard Basedows Elementarwerk (1774) und Sigmund Stoys Bilder-Akademie für die Jugend (1780–1784) wohl das bekannteste Beispiel aus jener Zeit, das Bild und Text auf eine neue und außergewöhnliche Weise miteinander verknüpft und wesentlich auf die weitere Entwicklung des Sachbilderbuches gewirkt hat. Bertuch, der die Orbis pictus-Tradition fortschreibt und inhaltlich wie formal Anleihen bei Basedows Elementarwerk nimmt, gelang mit der Medienkopplung ein großer verlegerischer Erfolg.10 Schon bald fand der Titel einen Nachahmer in dem Hallenser 8 Vgl. zur allgemeinen Bedeutung und zur Entallegorisierung des Bildes im Kinderbuch der Aufklärung Anke te Heesen: Der Weltkasten. Die Geschichte einer Bildenzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert. Göttingen 1997, S. 73. Ergänzend ist hierzu jedoch anzumerken, dass dieser Wandel nur teilweise auf die Frontispizdarstellungen in Kinderbüchern jener Zeit zutrifft. 9 Vgl. Philipp Julius Lieberkühn: Versuch über die anschauende Erkenntnis. Ein Beitrag zur Theorie des Unterrichts. Züllichau 1782, S. 125–130. 10 Vgl. Gerhard R. Kaiser u. Siegfried Seifert (Hrsg.): Friedrich Justin Bertuch (1747–1822).
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Buch- und Kunsthändler Friedrich Christoph Dreyßig (1761–1814)11, der von dem Konzept angetan war und selbst kurze Zeit später ein mehrbändiges illustriertes Werk herausgab, dem er – und das war neu – Spielfiguren aus Zinn hinzufügte.12 Ab 1792 erschienen über die Jahrhundertwende hinaus unter dem durchnummerierten Nebentitel Geschenke für Kinder zwölf Einzellieferungen mit abweichenden Haupttiteln. Sie behandeln in unsystematischer Abfolge13 und in variierendem Umfang Themen aus der Naturgeschichte und der Ethnologie. Erst alle Einzelbände zusammen ergeben eine umfassende Natur- und Völkerkunde, die den Wissensstand der Aufklärung widerspiegelt. Dieses Wissen blieb allerdings einem privilegierten Adressatenkreis vorbehalten, denn die Medienkombination hatte ihren Preis. Zwar konnten Buch und Zinnfiguren, die zusammen ein Reichstaler und zwölf Groschen kosteten, unabhängig voneinander erworben werden, doch waren auch die Einzellieferungen zu jeweils zwölf Groschen nicht gerade günstig. Dreyßig konnte für die ersten Ausgaben zwei in Halle tätige Universitätsprofessoren gewinnen: den Mathematik und Physik lehrenden Georg Simon Klügel (1739–1812) und den ethnologisch interessierten Naturforscher und Weltreisenden Johann Reinhold Forster (1729–1798).14 Sie verfassten bis zu Forsters Tod einen Großteil der Texte des enzyklopädischen Werkes. Bei den übrigen Sacherklärungen handelt es sich um Kompilationen »aus bewährten Naturgeschichtsbüchern Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar. Tübingen 2000 (hier bes. die Beiträge von Uwe Plötner u. Jutta Heinz). Zum neuartigen medialen Zusammenspiel von beschreibendem Text und Bild auf jeweils einer Doppelseite im Bilderbuch für Kinder tritt ein weiteres Medium hinzu: Carl Philipp Funkes Handreichung für die Mentoren (Ausführlicher Text zu Bertuch’s Bilderbuche für Kinder. Ein Commentar für Eltern und Lehrer, welche sich jenes Werks bei dem Unterricht ihrer Kinder und Schüler bedienen wollen. 24 Bde. Weimar 1796–1833). Der gegenüber dem Kinderbuch doppelt umfängliche Kommentar zeichnet die Kupfertafeln sprachlich en detail nach. Darin zeige sich, so Chakkalakal, die Einflusskraft von Bildern, die aufgeklärte Sensualisten diesem Medium für die Verbreitung und Vermittlung von Wissen zuschrieben. Vgl. Chakkalakal: Die Welt in Bildern, S. 12 f. 11 Das Programm der Verlagsbuchhandlung war vielseitig und sprach einen breiten Leserkreis an. Rund ein Drittel der Druckerzeugnisse (z. B. ABC-Bücher, Bilderbücher zum Aus malen und Zerschneiden, Kindererzählungen, Fabelbücher, Tugendspiegel, Sprachlehrwerke und Beschäftigungsbücher) richtet sich ausdrücklich an Kinder und Jugendliche. 12 Erhard Schraudolph weist in: Eisvogel trifft Klapperschlange. Zinnfiguren und Kinderbücher in der Aufklärung. Nürnberg 2006, bes. S. 17–23, eine sichtbare Nähe der Bilder und Figuren zu den Kupferstichen des Bilderbuchs für Kinder nach. 13 Zwar sind die Einzelbeiträge in den ersten Bänden alphabetisch geordnet, was vermutlich zum ursprünglichen Titel Naturhistorisches A.B.C. Buch geführt hat, der später wieder aufge geben wurde, aber eine genaue Lektüre zeigt eine willkürliche Zusammenstellung der natur geschichtlichen Themen. 14 Klügel wendete sich mit diesem Projekt nicht zum ersten Mal einem jüngeren Adressatenkreis zu. Drei Jahre zuvor hatte er bereits ein naturkundliches Lehrbuch, Die gemeinnützigsten Vernunftkenntnisse, oder Anleitung zu einer verständigen und fruchtbaren Betrachtung der Welt (1789), veröffentlicht.
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und Reisebeschreibungen, welche in die Hände der Kinder nicht kommen«15, die der Verleger »gewisser Ursachen wegen selbst zusammen getragen, und als Anhang [hatte] beidrucken lassen«16. Namentlich referiert der Herausgeber wissenschaftliche Autoritäten wie den Naturforscher Johann Matthäus Bechstein (1757–1822), Verfasser der Gemeinnützigen Naturgeschichte Deutschlands nach allen drey Reichen (1789–1809), den Zoologen Johann August Ephraim Goeze (1731–1791), Verfasser einer Europäischen Fauna […], vorzüglich für die Jugend (1791–1803), und den Afrika-Reisenden François Le Vaillant (1753–1824), dessen Naturgeschichte der Africanischen Vögel 1798 in der Übersetzung Forsters in seinem Verlag erschienen war. Neben den unterschiedlich langen und stilistisch variierenden Ausführungen zur einheimischen, aber auch exotischen Flora und Fauna sowie zu ausgewählten Ethnien schmücken eine Vielzahl von colorierten und schwarz-weißen Kupferstichen jeden Einzelband. Die Illustrationen sind teilweise auf faltbaren Bildtafeln angeordnet und enthalten ein Verweissystem aus Ziffern und Namen, das eine Verbindung zwischen Text und Bild herstellt.17 Hinzu kommen über 300 farbige Spielfiguren aus Zinn, die einzelne Tierarten oder ethnische Gruppen darstellen. Sie ergänzen die beiden Medien Text und Bild und bilden zusammen eine Medienkombination im Sinne der drei Phänomenbereiche von Intermedialität in der Definition Irina Rajewskys.18 Darüber hinaus stellen sie einen der ersten Medienverbünde in der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur dar.19 Bilder und Figuren wurden von den Autoren als pädagogische Hilfsmittel verstanden, die der sinnlichen Vermittlung des im Text wiedergegebenen Wissens die15
Leipziger Jahrbuch der neuesten Literatur 128 (1801), S. 377. Reinhold Forster u. Georg Simon Klügel: Beschreibungen zu den Abbildungen merkwürdiger Völker und Thiere des Erdbodens. Zur Beförderung der Kenntnisse, zur Bildung des Herzens und Vervollkommnung überhaupt für die Jugend entworfen von D. Johann Reinhold Forster und Georg Simon Klügel. Drittes Geschenk für Kinder. Halle 1793, S. 126 (Anm. d. Verl.). 17 Zum Zeichner bzw. den Zeichnern der Abbildungen gibt es kaum Hinweise, da die meis ten Illustrationen unsigniert oder aber auch nicht mehr vorhanden sind. Lediglich in Band 1 wird ein gewisser Eberhard genannt und in Band 2 Forster, der die Vorlagen für die Figuren schuf. 18 Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen 2002, S. 15–19. 19 Systematische Untersuchungen zu historischen Medienverbünden liegen bislang noch nicht vor, Tendenzen erfassen Petra Josting: Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund. In: Günter Lange (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler 2011, S. 391–420; und Bettina Kümmerling-Meibauer: Überschreitung von Mediengrenzen. Theoretische und historische Aspekte des Kindermedienverbunds. In: Klaus Maiwald u. Petra Josting (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund. Grundlagen, Beispiele und Ansätze für den Deutschunterricht. München 2007, S. 11–21. Zu Medienverbünden in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur vgl. Wiebke Helm: Wissen rundum. Multimedialität in der Kinder- und Jugendsachliteratur. In: interjuli 2 (2014), S. 42–56, hier: 46–51; Maiwald u. Josting (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund. 16 Johann
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nen und Memorierhilfe sein sollten.20 Beide sollten das gehörte oder durch Lesen angeeignete naturgeschichtliche und ethnologische Wissen auf weiteren Sinnes ebenen (visuell und haptisch) veranschaulichen und beim Rezipienten lebhaftere Eindrücke hinterlassen, um zu einem späteren Zeitpunkt umso leichter wieder abgerufen werden zu können. Damit erwies sich diese Medienkombination als eine praktische Umsetzung der Überlegungen Stuves: Das Kind will immer unmittelbar anschauen, strebt immer nach eigenem sinnlichen Wahrnehmen. Bloße Beschreibungen und wörtliche Darstellungen ziehen es wenig oder gar nicht an, es ermüdet und schläft dabei ein: aber man lasse es die Sache selbst sehen, hören, fühlen, da lebt und webt es, da arbeitet seine ganze Seelenkraft, da hüpft es vor Lust und Freude.21
Als Urheber der Spielfiguren konnte der ebenfalls in Halle tätige Graveur Johann Ernst Fischer (1759–1821) ermittelt werden. Er versah die Figuren mit einem farbigen Lacküberzug und beschriftete die Bodenplatte mit dem deutschen, teilweise auch dem französischen Namen des dargestellten Objektes und seinem Kürzel. In einer Holzkiste mit beiliegender Beschreibung verpackt, enthielt jede Lieferung rund zwei Dutzend Figuren.22 Die Dreierkombination war ein geschickter ökonomischer Schachzug des Verlegers, da Dreyßig die Abbildungen und Figuren gleich mehrfach nutzte, und zugleich eine pädagogische Innovation, die seit Ende des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt aufgrund der vielseitigen technischen Möglichkeiten, größere Bedeutung in der Kinder- und Jugendliteratur erlangt hat.23 Der Vergleich der Medien miteinander macht allerdings eine Inkonsequenz sichtbar, denn sowohl die Abbildungen wie auch die Figuren zum ethnologischen 20 Während
die Figuren ebenso wie die unsystematische Darstellungsweise der Naturgeschichte für Kinder gedacht waren, denen damit ein flexibler und spielerischer Zugang zum Wissen geebnet werden sollte, richteten sich die Kupferstiche, vor allem aber der ethnologische, in systematischer Lehrbuchform formulierte Textteil an die »erwachsenen jungen Leute«. Friedrich Christoph Dreyßig: Vorrede. In: Johann Reinhold Forster u. Georg Simon Klügel: Abbildungen einiger Nationen, […], und einiger merkwürdiger Thiere, nebst Beschreibung ihrer Lebensart, von D. Johann Reinhold Forster und Georg Simon Klügel. Fünftes Geschenk für Kinder. Halle [ca. 1795], S. 3 f. 21 Stuve: Ueber die Nothwendigkeit, S. 55 f. 22 Schraudolph: Eisvogel trifft Klapperschlange, S. 27. 23 Auch andere Titel der Hallenser Verlagsbuchhandlung wie das Neue Jagdspiel zum Nutzen und Vergnügen für die Jugend (1802), die Unterhaltungen aus der Mythologie für die wißbegierige Jugend (1804) oder die Belehrenden und nützlichen Unterhaltungen aus der Naturgeschichte aus den vier ersten Klassen des Thierreiches (1804–1808) wurden zusammen mit den Zinnfiguren Fischers angeboten. Die Vorteile von Intermedialität im Verlagsbuchhandel der Gegenwart diskutiert u. a. Gudrun Marci-Boehncke: Intermedialität – Der Rezipient gestaltet das Medium. In: Dies. u. Matthias Rath (Hrsg.): BildTextZeichen. Intermedialität im didaktischen Diskurs. München 2006, S. 13–26. Sie bezeichnet Intermedialität als »ökonomisch determiniertes Kommunikationsphänomen« (ebd., S. 14).
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Teil stimmen nicht immer mit dem zugehörigen Text überein. Während die Abbildungen und Figuren zu den vorgestellten Ethnien in Band 6 in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen, entsprechen sie in Band 3 nicht den schriftlichen Angaben, eine fehlende Verweisstruktur erschwert außerdem die korrekte Zuordnung. Statt dem im Text beschriebenen Kleidungsstil der männlichen Tschuktschen trägt der Vertreter dieses indigenen Volkes auf der Bildtafel bzw. der Zinnfigur weder eine lederne Mütze, noch Halbstiefel aus Robben- oder Rentierfell und auch keinerlei Glaskorallenschmuck.24 In der Relation von Text, Bild und Figur zeigt sich damit eine mögliche Schwachstelle des intermedialen Erzählens im Medienverbund. Dennoch können die Bildtafeln gut mit dem zugehörigen Text korrespondieren, auch wenn sie im Buch nicht in dessen unmittelbarer Nähe aufgeführt werden, wie ein anderes Beispiel aus dem dritten Band belegt. Hier wird unter anderen ein einheimisches Wildtier beschrieben, das zudem in einer Schwarzweiß-Zeichnung visualisiert wird, die sich auf einem gefalteten Bilderbogen mit 19 Einzeldarstellungen von Säugetieren befindet, denen jeweils ihr biologischer Name zugewiesen ist. In der Beschreibung spricht der Verfasser den Rezipienten direkt an und fordert ihn zur intensiven Betrachtung des Naturobjektes auf: Diese Abbildung, meine jungen Leser! welche Sie hier von dem edelsten Thiere unseres Vaterlandes sehen, ist nach einer sehr correkten Zeichnung gemacht worden; – und unser Graveur Herr Fischer in Halle hat denselben sehr gut in Zinnmasse zum abdrucken gegraben. Sehen Sie dieses edle Geschöpf an! merken Sie sich seinen ganzen Bau! betrachten Sie denselben genau: Sie haben ihn nun gesehen, lassen Sie sich nun alles Merkwürdige erzählen, was dieses edle Thier betrift.25
Der erklärende Text weist explizit auf Bild und Figur hin und ist, was Umfang und Ausführlichkeit anbelangt, dem abgebildeten Tier des Kupferstiches bzw. der Spielfigur übergeordnet, denn er enthält mehr Informationen als diese. Während der Text in der Erzähltradition der Historia naturalis stehend auf Aussehen, Vorkommen, Verhalten, Nahrung, Besonderheiten wie die jahreszeitlich bedingten Unterschiede des Fellkleides und Nutzen des Tieres für den Menschen eingeht und darüber hinaus Anekdoten enthält, spiegeln Kupferstich und Zinnfigur diese Informationen nur ansatzweise wider. Hierin zeigt sich eine weitere Grenze des Medienverbundes: Die textexternen Medien verkürzen den beschriebenen Sachverhalt, wodurch Vermittlungsprobleme entstehen können. Anke te Heesen hat dies an an24 Die Ursache dieser Abweichung liegt möglicherweise darin begründet, dass Zeichner und Graveur verschiedene zeitgenössische Illustrationsvorlagen nutzten, wie z. B. Bertuchs Bilderbuch für Kinder, anstatt sich auf die Angaben aus dem Manuskript zu stützen. Zur allgemein üblichen kulturellen Praxis des ›Abkupferns‹ vgl. beispielhaft Chakkalakal: Die Welt in Bildern, S. 403–405. 25 Der Hirsch. In: Forster u. Klügel: Beschreibungen zu den Abbildungen merkwürdiger Völker und Thiere des Erdbodens […] Drittes Geschenk für Kinder, S. 103–108, hier: 103.
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derer Stelle mit der Formulierung von der »Fermentierung des Wissens«26 auf den Punkt gebracht und darauf aufmerksam gemacht, dass diese Problematik schon in der Aufklärung bekannt war. In der Vorrede zu seiner bebilderten Allgemeinen Weltgeschichte für Kinder (1779–1784) fordert Johann Matthias Schröckh diesbezüglich: Der Künstler sollte nicht nur seine Zuschauer an den Verfasser der Geschichte verweisen, er sollte auch da anfangen, wo die Erzählung des leztern aufhört; mit ihm fortarbeiten, oder ihn vielmehr übertreffen, indem er Geist, Leben und Leidenschaften weit anschauender und rührender darstellte, als es Feder und Worte thun können; und er sollte also den schwachen Eindruck, den jener erregt hat, stark und bleibend machen, einen kraftvollen Ausdruck und eine sinnreiche Täuschung für die Einbildungskraft der Kinder hinzusetzen.27
Mit diesem Seitenblick wird jedoch deutlich, dass Dreyßigs Projekt dies nur eingeschränkt umsetzt. Die Illustrationen und Figuren unterstützen in Synthese mit dem Text zwar dessen Aussagegehalt, indem sie für eine bessere Verständlichkeit und Anschaulichkeit sorgen, sie sprechen Seh- und Tastsinn des Rezipierenden an und erleichtern dadurch das Memorieren des Gelesenen bzw. Gehörten. Beide Medien übernehmen aber keine Komplementärfunktion, indem sie zusätzliche Informationen bereithielten und zur Vertiefung des Wissens durch dessen Weiterführung beitrügen, stattdessen geben sie den Inhalt des Textes pleonastisch wieder. Somit ist festzuhalten: Intermedialität ist Teil des philanthropischen Konzepts der anschauenden Erkenntnis und kommt am Ende des 18. Jahrhunderts im Sachbilderbuch für Kinder zur Anwendung. Doch Theorie und Praxis harmonisierten nur bedingt, Idee und Wirklichkeit lagen noch weit auseinander. Diesen Spagat markiert eine Kritik des Pädagogen Johann Christoph Friedrich GutsMuths am Bilderbuch für Kinder.28 In Plan, Ankündigung und Vorbericht des Werks (1801) zählt Bertuch Merkmale auf, die »ein gutes Bilderbuch für Kinder«29 aufweisen sollte. Unter anderem sollte es schön und richtig gezeichnete und keine schlecht gestochenen Kupfer enthalten, nicht zu viele und zu verschiedene Gegenstände auf einer Tafel vereinen und diese nicht zu klein darstellen. Das Dargestellte sollte dem Kind noch unbekannt und fremd sein. Außerdem sollte das Bilderbuch nur sehr wenig gelehrten Text beinhalten und bei aller Regellosigkeit in der Darstellung dennoch eine Systematik des Ganzen erkennen lassen.30 Kritisch merkte daraufhin Guts26 Te
Heesen: Der Weltkasten, S. 19. Schröckh: Allgemeine Weltgeschichte für Kinder von Johann Matthias Schröckh. 6 Bde. Bd. 1. Leipzig 21786, S. 10. 28 Johann Christoph Friedrich GutsMuths: Ueber Bilderbücher und das Bertuchische besonders. In: Bibliothek der pädagogischen Literatur 2.7 (1801), S. 315–321. 29 Friedrich Justin Bertuch: Plan, Ankündigung und Vorbericht des Werks. In: Ders.: Bilderbuch für Kinder […]. Erster Band. Weimar 21801, n. pag. 30 Vgl. ebd. 27 Matthias
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Muths an, dass Bertuch eben jene Qualitätsregeln bei der Umsetzung seines Planes nicht befolgt habe, da die Kupfer des Bilderbuches ungenau und zu klein seien. Allgemein ist der Rezensent der Ansicht, dass die vermeintlich kinderfreundlichen Abbildungen in den Lesewerken mehr ökonomischen Nutzen für die Herausgeber und Verleger haben als den avisierten pädagogischen Nutzen für die intendierte Adressatengruppe.31 Vor der Folie von Medienkombinationen der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur erscheinen die Bemühungen Bertuchs und Dreyßigs dennoch innovativ und modern, aus der literaturgeschichtlichen Perspektive betrachtet erfahren gegenwärtige Tendenzen eine gewisse Relativierung und zeigen sich als Spiegelung eines nicht mehr ganz so neuen Phänomens.
31 GutsMuths:
Ueber Bilderbücher, S. 315–321.
Beate Hochholdinger-Reiterer
Schauspielkunst erfinden und erzählen Theaterkritiken, Schauspieler- und Rollenporträts als Agenten der aufklärerischen Theaterreform Im Verlauf des 18. Jahrhunderts setzten im deutschsprachigen Raum Bestrebungen zur Reform des Theaters ein, deren Auswirkungen auf das repräsentative Stadt- und Staatstheater bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. Neben der Literarisierung von Theater bestand ein wesentliches Ziel der aufklärerischen Theaterreform darin, die gesellschaftliche Reputation der Schauspielenden zu verbessern und ihre Tätigkeit, die bislang als Handwerk galt, zu einer Kunstform zu erheben. Deutschsprachige Schauspieler sollten gewissermaßen nobilitiert werden und Vorbildfunktion für ein sich konstituierendes Bürgertum einer – ebenfalls erst zu schaffenden – deutschen Nation übernehmen. Große Ziele und Utopien, deren annähernde Verwirklichung sich de facto erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzog, als sich allmählich ein deutschsprachiges Literaturtheater mit all den unvermeidlichen ›Nebenwirkungen‹ etablierte: zum Beispiel die Subordination des Schauspielerischen unter das Literarische, die Abwertung aller nichtliterarischen Theaterformen, die sukzessive Reduktion der theatralen Mannigfaltigkeit, das Verschwinden von Frauen aus den operativen Bereichen des Theaters oder das Marginalisieren weiblicher Dramatikerinnen im Zuge der Kanonisierung einer deutschen Nationalliteratur.1 Die Reformierungsbestrebungen hatten massive Auswirkungen auf die Geschlechter, was nicht sonderlich erstaunt, findet doch zeitgleich mit den Theater reformbestrebungen auch eine mittlerweile intensiv erforschte Neuordnung der Ge1 Vgl.
u. a. Friedemann Kreuder: Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010; Erika Fischer-Lichte u. Jörg Schönert (Hrsg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999; Anne Fleig: Handlungs-Spiel-Räume. Dramen von Autorinnen im Theater des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Würzburg 1999; Wolfgang F. Bender (Hrsg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992; Ruedi Graf: Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht. Tübingen 1992; Susanne Kord: Ein Blick hinter die Kulissen. Deutschsprachige Dramatikerinnen im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1992; Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982; Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien/München 1980; Rudolf Münz: Das »andere« Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit. Berlin 1979.
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schlechter statt.2 Nicht von ungefähr lässt sich an den Reformierungsbestrebungen eine Legitimationsstrategie beobachten, die sich u. a. hierarchisch ausgerichteter geschlechtlicher Codierungen bedient.3 Ab Mitte des 18. Jahrhunderts sind im deutschsprachigen Raum vermehrt Bestrebungen zu beobachten, die sich speziell um die Erfindung einer Schauspielkunst bemühen. Wenn Christlob Mylius 1750 einen Beitrag mit dem Titel Versuch des Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sey veröffentlicht, in dem er dem Schauspielkünstler ein schöpferisches Potenzial zuspricht, das dem eines Dichters ebenbürtig sei, dann war die Behauptung, das Tun der Comœdianten sei eine Kunst, noch dazu eine ›freye Kunst‹ eine pure Provokation.4 Der um 1750 erfundene deutsche Begriff ›Schauspielkunst‹ entspringt reformerischen Bedürfnissen. Er ist im Sinne der Begriffsgeschichte als Zukunftsbegriff zu verstehen, dem vorerst noch keinerlei Realität zukommt. Die ›Realität‹ einer Schauspielkunst musste im wahrsten Sinne erst herbeigeschrieben werden. Lessing nimmt durch seine Übersetzungen von Francesco Riccobonis L’Art du théâtre (1750) und Pierre Rémond de Sainte-Albines Le Comédien (1747) aus dem Französischen, die er in den von ihm herausgegebenen Theaterperiodika veröffentlicht, nachweislich Einfluss auf die schauspieltheoretischen Diskurse im deutschsprachigen Raum. Von Lessing selbst stammt der vermutlich um 1754 im Zuge der Übersetzungsarbeit an Sainte-Albines Comédien entstandene, fragmentarisch und unveröffentlicht gebliebene Versuch Der Schauspieler. Ein Werk, worinne die Grundsätze der ganzen körperlichen Beredsamkeit entwickelt werden, der als Gegenentwurf zu Sainte-Albines Theorie einer Empfindungsschauspielkunst gedacht ist.5 Lessings Übersetzungen werden von Praktikern rezipiert, seine Hamburgische Dramaturgie initiiert eine Flut an Theaterperiodika, die ihrerseits zum reformerischen Diskurs beitragen. Ab den 1770er-Jahren ist der deutsche Begriff ›Schauspielkunst‹ bereits allgemein eingeführt, wie beispielsweise die Einträge »Schauspiehler; Schauspiehlkunst« in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (1771 und 1774) oder die Einträge zu »Bühne«, »Schauspiel« und
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Vgl. Heinz-Jürgen Voß: Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Bielefeld 2010; Rüdiger Schnell: Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe. Köln/Weimar/Wien 2002; Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a. M./New York 1992; Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt a. M./New York 1991. 3 Vgl. Beate Hochholdinger-Reiterer: Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfindung der Aufklärung. Göttingen 2014. 4 Vgl. Christlob Mylius: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sey. In: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters 1 (1750), S. 1–13. 5 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner et al. Frankfurt a. M. 1985 ff. [im Folgenden: WB], hier: WB 3, 320–329.
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»Kunst« in Adelungs Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart (1774–1786) belegen. Die neue Schauspielkunst, die als psychologisch-realistischer (oder in der Diktion der Leipziger Theaterwissenschaftlerin Gerda Baumbach als veristischer)6 Stil charakterisierbar ist, wird als Gegenentwurf zum damals etablierten und vorbildlichen rhetorischen Stil Frankreichs und zum Comödien-Stil der Wandertruppen konzipiert und ist vorerst eine theoretische Erfindung der Reformer. Die in der Schauspielpraxis erforderlichen handwerksmäßigen, also praktischen Anteile und Fertigkeiten, die an imitierende und mimetische Verfahrensweisen einer mündlichkörperlichen Tradition geknüpft sind, werden in den Theorien weitgehend negiert. Stattdessen versucht man, die Schauspielkunst in Analogie zu anderen etablierten künstlerischen Ausdrucksweisen über ein erst zu verfassendes Regelwerk zu legitimieren und beurteilbar, sprich: kritisierbar zu machen. Die Crux dieser neu zu erfindenden Kunst liegt, wie Lessing in der Ankündigung seiner Hamburgischen Dramaturgie ausführt, in deren Gebundenheit an literarisches Material sowie in der Transitorik der schauspielerischen Darstellung begründet. Obwohl Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie aufgrund des Widerstands der Schauspielenden schon nach kurzer Zeit von Theater- und Schauspielerkritik Abstand nimmt, sind seine Mikroanalysen schauspielerischer Verfahrensweisen, die ihm als Ausgangspunkt für eigene theoretische Überlegungen dienen, vorbildlich geworden. In seiner Nachfolge entstehen ab den 1770er-Jahren im Zuge des expandierenden literarischen Marktes Formen institutionalisierter Kritik, die von der Buchkritik ausgehend auch bald als Aufführungs- und Schauspielerkritiken bedeutsam werden.7 Mit dieser allgemeinen Verschriftlichung von Theater und Schauspielkunst durch theoretisch-praktische Texte, Aufführungskritiken, Hommagen an die Künst lerinnen und Künstler etc. ändert sich auch die Kommunikation über Fragen des Schauspielerischen. So wird der Austausch zwischen Theoretikern und Praktikern maßgeblich über Theaterperiodika ermöglicht. Mylius’ Text über die Schauspielkunst als ›freye Kunst‹ wird zu einem wesentlichen Wegbereiter der künstlerischen Identitätskonzepte; Lessings Übersetzungen und seine eigenen Überlegungen zu Beginn der Hamburgischen Dramaturgie bieten eine für die Folgezeit vorbildhafte Kombination von Material und Reflexion. Die Konzepte von Schauspielkunst stehen im 18. Jahrhundert stets in engem Verhältnis zur Schauspielpraxis; für die Theoriebildung ist ein Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit konstitutiv, gegenseitige Einflüsse finden in der 6
Vgl. Gerda Baumbach: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. 2 Bde. Bd. 1. Leipzig 2012. 7 Vgl. Roland Krebs: Die frühe Theaterkritik zwischen Bestandsaufnahme der Bühnenpraxis und Normierungsprogramm. In: Fischer-Lichte u. Schönert (Hrsg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, S. 463–482.
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Frühzeit dieser Diskurse nachweislich statt. Die Überlegungen sind von Erfahrung oder Anschauung abstrahiert und wirken ihrerseits auf die Praxis zurück. Ein außergewöhnliches Beispiel für die Rezeption der Theorien in der Praxis ist die 1753 vom Schauspieler Conrad Ekhof in Schwerin gegründete Academie der Schönemannischen Gesellschaft, deren Protokolle erhalten geblieben sind.8 Umgekehrt entwickelt Lessing in den ersten Stücken seiner Hamburgischen Dramaturgie ausgehend von Ekhofs spezifischem Schauspielstil eigene schauspieltheoretische Überlegungen (vgl. WB 6, 196–201). Diese für den deutschsprachigen Raum erste Hochblüte eines theatertheoretischpraktischen Diskurses beeinflusste die ab dem 19. Jahrhundert verstärkt einsetzende theaterhistorische Forschung nachhaltig. Der reformerische Impetus der theaterbezogenen Texte, der Gestus von zergliedernder Rationalität gepaart mit kunstaffiner Empfindsamkeit, in dem der Großteil der Texte verfasst ist, sowie der unverhohlen parteiische und patriotische Personenkult blieben in den theaterhistoriografischen Darstellungen weitgehend unreflektiert. Den Theaterkritiken, Rollenporträts und Schauspielerhommagen wurde stattdessen von den Theaterhistoriografen bis weit ins 20. Jahrhundert der Status von Zeitzeugenberichten zuerkannt, anhand derer die Rekonstruktion vergangener Theaterereignisse möglich sei. Die Publikationen des 18. Jahrhunderts sind meines Erachtens jedoch vornehmlich hinsichtlich ihrer produktiven und konstruierenden Implikationen zu lesen und nicht als theater historische Fakten. Die Theaterberichte und -kritiken des 18. Jahrhunderts wurden in der Folge den jeweiligen ideologischen Historiografien entsprechend adaptiert. Um nur zwei besonders anschauliche Beispiele zu nennen: In der nationalsozialistischen Theaterhistoriografie wurden die aufklärerischen Werte der Theaterreform weitgehend unterschlagen und der Fokus vornehmlich auf die Nationaltheaterbestrebungen gelegt, deren legitimes Erbe der Nationalsozialismus anzutreten bestimmt sei.9 In den theatergeschichtlichen Forschungen der DDR wiederum, die sich besonders um die Publikation vieler Textquellen des 18. Jahrhunderts verdient machten, wurde der Schauspieler Conrad Ekhof, der bereits kurz nach seinem Tod 1778 zum ›Vater der deutschen Schauspielkunst‹ erhoben wurde, als Begründer einer realistisch-psychologischen Schauspielkunst gefeiert – ein Erbe, das die DDR mit ihrem ästhetischen Ideal fortzuführen gedachte. Anhand eines konkreten Beispiels soll ein Eindruck von der Kanonisierung dieses ›Vaters der deutschen Schauspielkunst‹ gegeben werden.
8 Vgl.
Heinz Kindermann: Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie. Wien 1956; Gerhard Piens: Conrad Ekhof und die erste deutsche Theater-Akademie. Berlin 1956. 9 Vgl. dazu Hochholdinger-Reiterer: Kostümierung der Geschlechter.
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Im Mai 1773 reist der Schriftsteller, Kritiker und Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai nach Weimar, u. a. um Conrad Ekhof in der Rolle des Odoardo Galotti zu sehen. Nicolai ist nach eigenen Angaben mit Lessings Stück Emilia Galotti bestens vertraut, doch erst Ekhofs Darstellung habe ihm dieses umfassender erschlossen. In seiner 1807, also knapp 30 Jahre nach Ekhofs Tod, publizierten Beschreibung interpretiert Nicolai diesen als Prototyp des Intellektschauspielers, der ›tief in den Geist des Autors‹ eindringt und diesem ›nacharbeitet‹. Die Schauspielkunst besitzt nach aufklärerischem Verständnis das Potenzial, Dramatik über Versinnlichung vollständiger erfahrbar und interpretierbar zu machen. Da Ekhof während Nicolais Anwesenheit in Weimar nur die Rolle des Odoardo spielt, gibt er dem eigens Angereisten noch eine zusätzliche Privatvorstellung in seinem Zimmer, bei der er Szenen aus drei unterschiedlichen Stücken liest: aus einem sentenzenreichen Trauerspiel à la françoise, eine affektvolle und eine lustige Szene. Ekhof erscheint in Schlafrock und Nachtmütze: »sein hageres, kummervolles Gesicht machte den Kontrast noch auffallender, wenn man sich hier den großen berühmten Schauspieler vorstellen sollte, nach Lessing, den einzigen Mann in seiner Art«.10 Nicolais Schilderung von Ekhofs Privatvorstellung will den Beweis erbringen, dass Ekhof kraft seines schauspielerischen Talents den Kontrast von äußerlicher Unvorteilhaftigkeit und Rollenanforderung nicht nur zu überwinden imstande ist, sondern in proteischer Metamorphose körperliche wie kostümtechnische Mängel so aufzuheben versteht, »daß man den edlen jungen Prinzen zu hören glaubte, und Brille, Nachtmütze und Schlafrock nicht sah«.11 Im Ausschnitt aus Voltaires Zaïre sind anstatt der beiden Kinder »ein paar alte Stühle gesetzt, zu denen er sich neigen mußte, und die er auch zu umarmen hatte«. Nicolai und seine Begleiter sind durch Ekhofs affektvolles Lesen so gerührt, dass ihnen die »hellen Thränen über die Wangen liefen«.12 Damit nicht genug: Sobald die Szene geendigt war, sprang Eckhof vom Stuhle auf, wie ein junger Bursche, schnalzte mit den Fingern beider Hände, warf seinen Schlafrock auf die Erde, und nun sagte er augenblicklich aus dem plattdeutschen Nachspiele: der Bauer mit der Erbschaft, eine Szene auswendig her, so originell drollig, daß wir alle einmal übers andere laut auflachen mußten.13
Ein viel zitiertes Beispiel für Ekhofs Befähigung, als ›Dollmetscher‹ der Seele das bürgerliche Publikum zu affizieren, ist Nicolais Beschreibung eines »ganz kleine[n]
10 Friedrich
Nicolai: Ueber Eckhof. In: Almanach fürs Theater 1 (1807), S. 31–49, hier: 39. Ebd., S. 40. 12 Ebd., S. 41 f. 13 Ebd., S. 42. 11
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Zug[es]«14 in dessen Darstellung des Odoardo Galotti. In der Szene zwischen Odoardo und Gräfin Orsina, während der sich Emilias Vater erst allmählich die Identität der Gräfin enthüllt, »fing Eckhof während dieser Entdeckung an, mehreremale an seinem in der linken Hand vor sich habenden Federhute zu zupfen, indem er die Gräfin von Zeit zu Zeit bedeutend von der Seite ansah«.15 Dieses »gleichsam bewußtlose Zupfen am Federhute«16 setzt Ekhof in einer späteren Szene beim Zusammentreffen mit Marinelli und in endgültiger Steigerung bei der Konfrontation mit dem Prinzen ein. [U]nd als Odoardo’s innerer Unwillen, den er doch verbergen muß, aufs höchste stieg, nachdem der Prinz in der Folge von einer besondern Verwahrung spricht, pflückte Eckhof konvulsivisch eine einzelne Feder aus der Hutbesetzung. Alles war in seinem Spiele so zusammenstimmend, seine inneren Empfindungen entwickelten sich durch kleine äußerliche Bewegungen so unvermerkt und doch so schrecklich deutlich, daß bei dem Herausreißen dieses Federchens den Zuschauer ein kalter Schauder überlief.17
Die graduelle Sichtbarmachung innerer Vorgänge, wie sie hier an Ekhof exemplifiziert wird, ist ein wesentlicher Baustein der realistisch-psychologischen Schauspielkunst. Der Blick ins Innere, auf »sequentielle, ›bewegte Bilder‹ der Innenwelt«,18 auf den psychischen Prozess lässt das bürgerliche Publikum ob seiner Deutlichkeit erschaudern. Ideale realistisch-psychologische Schauspielkunst versetzt die Zuschauenden in die Position der Lesenden und vermittelt gleichzeitig ein Bewusstsein um die eigene Lesbarkeit. Nicolai orientiert sich in seinem Ekhof-Porträt sowohl an Lessings Analysen und Reflexionen über die schauspielerische Darstellung wie auch an Georg Christoph Lichtenbergs Briefen aus England, in denen dieser die spezifische Schauspielkunst und die Rolleninterpretationen des berühmten englischen Schauspielers David Garrick akribisch zu analysieren versucht und damit gleichermaßen vorbildhaft für die deutschsprachigen Darsteller wie für deren Kritiker wurde.19 Die von Lessing und Lichtenberg inspirierten verehrenden Schauspielerbeschreibungen legen wie diese den Fokus auf die vorbildliche Einzelleistung, auf die schau14
Ebd., S. 35. Ebd., S. 35 f. 16 Ebd., S. 37. 17 Ebd., S. 37 f. 18 Rainer Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Berlin 1995, S. 96. 19 Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hrsg. v. Wolfgang Promies. 6 Bde. Bd. 3. Frankfurt a. M. 61998, S. 326–367. Vgl. dazu auch Alexander Košenina: Entstehung einer neuen Theaterhermeneutik aus Rollenanalysen und Schauspielerporträts im 18. Jahrhundert. In: Yoshio Tomishige u. Soichiro Itoda (Hrsg.): Aufführungsdiskurse im 18. Jahrhundert. Bühnenästhetik, Theaterkritik und Öffentlichkeit. München 2011, S. 41–74. 15
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spielerische Individualität, von der ausgehend theoretisiert werden kann. Allerdings werden die Glorifizierungen der Darstellungskunst in den Schauspielerhommagen vor allem dazu genutzt, die individuelle Empfindsamkeit der Rezipienten auszubreiten. Als wiederkehrender Topos findet sich daher stets das kokette Eingeständnis, wonach die Übertragung der schauspielerischen Wirkung in die Schrift versagen müsse. Wurde schauspielpraktisches Wissen innerhalb der Truppen und generationenübergreifend gemäß den zirkulären Traditionen der Mündlichkeit weitergegeben, so wird dieses ›Geheimwissen‹ im Zuge der Theoretisierung und Intellektualisierung von Schauspielkunst vermeintlich öffentlich, damit vergleich- und kritisierbar sowie im Sinne linearer Weiterentwicklung reformierbar. Kritik als Vehikel für den Fortschritt verweist auf den gehobenen Status der Schauspielkunst, die erst als Kunst kritikwürdig wird. Gleichzeitig – und davon sprechen die Schwierigkeiten der Schauspielenden mit der verschriftlichten Kritik – gelangt die schauspielerische Arbeit immer stärker unter das Diktat der Prinzipien von Schriftlichkeit. Theaterkritiken, Rollenporträts und Hommagen vereinen in sich all die dominanten Prinzipien der Schriftlichkeit wie Entkörperlichung durch Abstraktion, Linearität und Fortschrittsgläubigkeit, Phantasma der ›Unsterblichkeit‹ sowie Geschichtlichkeit. Die Macht der Schrift wird von den Schauspielenden am eigenen Leib erfahren, da bei ihnen ›Instrument‹ und Werk mit der Person ident sind. Diejenigen Künstler, die von der frühen Theaterkritik als Verkörperungen des reformierten Theaters anerkannt werden, finden Eingang in die späteren theaterhis toriografischen Darstellungen, welche die »Wahl und die damit verbundenen grundsätzlichen Festlegungen der ›Kenner‹ und Kritiker des 18. Jahrhunderts im wesentlichen«20 sanktionieren. Ein besonders sinnfälliger Ausdruck der männlichen Codierung des reformierten Theaters ist die Stilisierung des Schauspielers Conrad Ekhof zum ›Vater der deutschen Schauspielkunst‹. Das reformierte Theater kann nur durch Abgrenzung vom illiterarischen Theater Kontur gewinnen. Die diversen Abgrenzungen kulminieren in der Installation einer übermächtigen ›geistigen‹ Vaterfigur, die künstlerische wie lebenspraktische Bereiche umfasst. Conrad Ekhof eignet sich als ideale Vaterfigur des reformierten Theaters hervorragend, weil er als Vertreter einer intellektuellen Schauspielkunst die Disziplinierung der schauspielerischen Arbeit mit der Selbstdisziplin des verbürgerlichten Schauspielkünstlers verbindet. Stets wird in den Darstellungen von Ekhofs spezifischer Schauspielkunst darauf hingewiesen, dass er sein unvorteilhaftes Äußeres durch seine ›realistischen‹ Rollengestaltungen vergessen ließ. Gerade seine körperlichen Defizite prädestinieren ihn zum Begründer der deutschen Schauspielkunst, weil er als Prototyp des Verstandesschauspielers die Überwindung 20 Krebs:
Theaterkritik, S. 482.
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des Körperlichen durch Geistigkeit vollzieht und damit ein wesentliches Anliegen des reformierten Theaters einlöst. An Ekhof wird die Metamorphose des Comœdianten zum Übervater des reformierten Theaters versinnbildlicht und folgt damit einer historiografischen Praxis, die sich an den ›großen Männern‹ orientiert. Mit der Installation einer Vaterfigur ist eine klar patrilinear strukturierte Theatergeschichtsschreibung initiiert, deren Optik in der Folge über Traditionswürdigkeit, Vergessen und Ausschlüsse sowie interpretative Bewertungen entscheidet. Auffällig ist bei der Installation dieser Vaterfigur auch, dass man aufgrund des offensichtlichen Mangels nationaler Identität ein anderes, vorgeblich privateres Strukturierungsmodell zu setzen versuchte. Mit einer Vaterfigur als Gründer konnte man vom Familiären ausgehend in der Folge zum ›Nationalen‹ übergehen. Vom Vater zum Vaterländischen also. Der ›Vater der deutschen Schauspielkunst‹ wird nämlich zur Symbolgestalt für die Überwindung des französischen Einflusses stilisiert und kann solcherart als Erblasser auch für national-kulturelle Identitätsstiftungen herangezogen werden. Schon in August Wilhelm Ifflands Ekhof-Abhandlung, die im Jahr nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt und Napoleons Einzug in Berlin erscheint, lässt sich eine deutliche Betonung des ›Vaterländischen‹ beobachten. Demnach sei Ekhof »der Erste« gewesen, welcher der deutschen Schauspielkunst Bemerkung, Werth, Ansehen und Nahmen erworben hat. Haben andere eben dahin gestrebt, war ein Theil des Grundes, worauf nachher gebauet ist, schon zugefahren; so haben doch sein Betragen, seine glänzenden Eigenschaften, seine Ausdauer, die ganze Weise seiner Führung, zuerst erreicht, was vor ihm nicht erreicht war: Aufmerksamkeit der Großen auf vaterländische Kunst, Glauben daran und den Sinn dafür zu handeln.21
Das Erstarken eines ›deutschen Nationalgefühls‹, das sich als Reaktion auf die Napoleonischen Eroberungen um 1800 breitzumachen beginnt, korrespondiert auch mit den diversen Interpretationen des Vaters der deutschen Schauspielkunst, dessen immer wieder betonte Reminiszenzen an Traditionen der französischen Darstellungskunst einer eingängigen Deutung bedürfen. In Ifflands Ekhof-Hommage ist es gewiss, dass »der kräftige Deutsche«22 bei allem, was er von der Weise der französischen Bühne angenommen, dennoch durchaus seinen eigenen Weg gegangen ist, und daß er dem deutschen Künstler ein Vorbild vaterländischer Darstellung aufgestellt hat.23
21
August Wilhelm Iffland: Ueber Eckhof. In: Almanach fürs Theater 1 (1807), S. 1–30, hier: 5 f. Der Schauspieler, Dramatiker und Theaterleiter Iffland gilt als Ekhof-Schüler bzw. als einer seiner ›künstlerischen Söhne‹. 22 Ebd., S. 22. 23 Vgl. ebd., S. 23.
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Ab Beginn des 19. Jahrhunderts also wird der ›Vater der deutschen Schauspielkunst‹ national. Wo taucht aber im Sinne des komplementär gedachten Zwei-Geschlechter- Modells innerhalb dieser patrilinearen Theaterhistoriografie ›das Weibliche‹ wieder auf? In der auffälligen Tendenz beispielsweise, überdurchschnittlich häufig Schauspielerinnen als Widerständige und Widerspenstige zu überliefern. Die Hindernisse auf dem Weg zum reformierten Theater werden gebündelt in der Figur der Schauspielerin als Störfaktor und durch Beispiele historischer Subjekte legitimiert. Die offen oder verdeckt misogynen Darstellungen lenken den Blick so, dass deren Argumentationen in ihrer Selbstverständlichkeit ›logisch‹ erscheinen. So habe die Gefallsucht der Schauspielerinnen die Kostümreformen gegen Ende des 18. Jahrhunderts geradezu torpediert, die angestrebte Illusion sei während der Aufführungen empfindlich durch die kokette Kommunikation der Schauspielerinnen mit dem Publikum gestört worden, die aufklärerische Theaterkritik sieht sich aufgrund der erotischen Ausstrahlung der Tänzerinnen veranlasst, gegen das Ballett zu polemisieren. Im Ballett, das sich nicht literarisieren lässt, ist die Sinnlichkeit des illiterarischen Theaters aufbewahrt, das der Sittlichkeit des reformierten Theaters diametral entgegengesetzt wird. Die ›realen‹ Schauspielerinnen verkörpern in der theaterhistoriografischen Überlieferung die symbolischen Codierungen des Weiblichen als des Mündlichen, Körperlichen, Unberechenbaren, Abnormen. Indem der weibliche Körper für das Anormale, die Anomalie, stand, diente er der Definition des ›Kanons‹ bzw. der Normalität. Vergleichbar der ›Reinheit‹, die nie positiv, nur in Abgrenzung gegen das Unreine definiert werden kann, läßt sich auch die Norm nur in Abgrenzung gegen die Anomalie beschreiben.24
Die massiven schauspieltheoretischen Bemühungen um Kontrolle und Kanalisierung des Körperlichen erzählen von den Abspaltungsversuchen, von den Reinhaltungsbestrebungen, letztlich von Kanonisierung. In der Schauspielerin erhalten die Codierungen des illiterarischen Theaters jenen gefährlich erotischen Körper, von dem das reformierte Theater unausgesetzt ›gereinigt‹ werden muss. Die Schauspielerin als Imago wie als historische Akteurin ist im Prozess der Erfindung des reformierten Theaters und seiner Schauspielkunst jene Erinnerungsspur, die als Störung vorhanden bleibt. Sie ist der Störfaktor im Konzept der komplementären naturalisierten Geschlechtscharaktere, weil sie als Produzentin und Verkörperung von Geschlecht die zugrundeliegenden Codierungen der symbolischen Geschlechterordnung bewusst hält. In ihr bündeln sich das Wissen um Theater als Sehnsuchtsort, 24 Christina
von Braun: Gender, Geschlecht und Geschichte. In: Christina von Braun u. Inge Stephan (Hrsg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 22006, S. 10–51, hier: 21.
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an dem das Mündliche sich gegen die Prinzipien der Schriftlichkeit zu behaupten sucht, wie auch die damit verbundenen Ängste und Feindlichkeiten, die ihren Ausdruck in Verachtung oder Idolisierung der historischen Akteurinnen finden.
Anna Cordes
Diderot und die Fiktion performativen Erzählens: Jacques le fataliste et son maître I. Comment s’étaient-ils rencontrés? Par hasard, comme tout le monde. Comment s’appelaient-ils? Que vous importe? D’où venaient-ils? Du lieu le plus prochain. Où allaient-ils? Est-ce que l’on sait où l’on va?1
Die ersten Zeilen von Denis Diderots Roman Jacques le fataliste et son maître sind nicht nur dem ausgewiesenen Kenner des Diderot’schen Werkes ein Begriff. Im Gegenteil steht der zwischen 1778 und 1780 erstmals in der Correspondance littéraire erschienene und 1796 posthum veröffentlichte Text noch heute paradigmatisch für ein Erzählen, das mit den zeitgenössischen Konventionen der noch jungen Romangattung, ja des Erzählens selbst bricht. Der im zitierten Incipit wiedergegebene Dialog einer Erzähler- und einer ›Leser‹-Stimme bildet dabei die atypische Grundstruktur eines Textes, der Vielstimmigkeit zu seinem leitenden Konstitutionsprinzip macht. Nun ist vielstimmiges Erzählen vor dem Hintergrund einer Narrativik des 18. Jahrhunderts, deren Kassenschlager (Richardsons Clarissa Harlowe, Rousseaus La Nouvelle Héloïse) der Gattung des zumeist plurivokal und -fokal angelegten Briefromans angehören, durchaus kein Ausnahmephänomen. Atypisch ist weniger die Pluralität der Stimmen als solche, als vielmehr das strukturale Verhältnis dieser Stimmen zueinander und zum erzählten Geschehen. In seiner dialogischen Anlage stellt Jacques le fataliste die Wissensvoraussetzungen, Bedingungen und Widersprüche zeitgenössischen Erzählens zur Disposition. Der von seiner Erzählerfigur ausgetragene Konflikt zwischen den Ansprüchen einer nur zu berichtenden vérité der Geschichte einerseits (vgl. z. B. OC, 80) und einer postulierten Verfügungsgewalt über das Geschehen andererseits (vgl. z. B. OC, 24) ist Ausdruck dieser Beschäftigung mit den Voraussetzungen auktorialen bzw. ›allwissenden‹ Erzählens. Wo die Modelle auktorialen Erzählens im 18. Jahrhundert wie auch des Briefromans sich der Narration eines vorgängigen Geschehens verschreiben, der Erzähldiskurs folglich in einem Posteritätsverhältnis zur erzählten histoire steht, da bricht Diderots Roman mit den chronologischen Grundmustern 1
Denis Diderot: Jacques le fataliste et son maître. In: Ders.: Œuvres complètes. Hrsg. v. Herbert Dieckmann, Jacques Proust u. Jean Varloot. 25 Bde. Bd. 23. Paris 1981, S. 23 [im Folgenden: OC].
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der zeitgenössischen Narrativik. Die dialogische Struktur seiner Erzählsituation steht dabei in engem Zusammenhang mit dieser Besonderheit der chronologischen Anlage und der Problematik erzählerischer Verfügungsgewalt. Auf den folgenden Seiten wird zu zeigen sein, dass der Dialog von Erzähler- und ›Leser‹-Stimme das Verhältnis von narrativem discours und erzählter histoire strukturiert und dass sich diese Relation unter Rückgriff auf die neuere Theoriebildung als eine performative2 neu beschreiben lässt.
II. John Austin kreierte den Neologismus der sog. performative utterance bekanntlich in Abgrenzung zur constative utterance, um einen Typ von Äußerungen zu beschreiben, denen sich zum einen kein Wahrheitswert (wahr/unwahr) zuordnen lässt und die zum anderen den in ihnen beschriebenen Akt simultan zum und durch das Sprechen erst hervorbringen: »There is something which is at the moment of uttering being done by the person uttering.«3 Wenngleich Austin die Dichotomie ›konstativ vs. performativ‹ später aufgibt, um sie in eine Differenzierung dreier Handlungsdimensionen eines jeden Sprechaktes zu überführen (locutionary, illocutionary und perlocutionary act),4 so wurde mit der Einführung des Performativen ein Umstand benannt, dessen Pointe in der späteren Reformulierung eingebüßt wird: dass sich nämlich in der Menge von sprachlichen Äußerungsstrukturen ein bestimmter Typus von Äußerungen (z. B. Versprechen, Deklarationen) identifizieren lässt, dem eine besondere Autoreflexivität eignet, da er das, worüber er spricht, simultan zur Sprechhandlung erst konstituiert. Performative Äußerungen schaffen Wirklichkeit – eine Wirklichkeit, mithin, die von der Realität des bloßen Sprechaktes zu unterscheiden ist. Searle wird Austins ursprüngliche Dichotomie daher später wieder aufnehmen, 2 Dass
der Begriff des Performativen seit seiner Einführung in der Sprechakttheorie John Austins zu einem ›umbrella-term‹ für ganz unterschiedliche Theorien und Verwendungen mutiert ist, wird von Klaus Hempfer in einem klärenden Aufsatz aufgearbeitet: Klaus W. Hempfer: Performance, Performanz, Performativität. Einige Unterscheidungen zur Ausdifferenzierung eines Theoriefeldes. In: Ders. u. Jörg Volbers (Hrsg.): Theorien des Performativen. Bielefeld 2011, S. 13–43. Eine erste Erprobung einer Theorie performativen Erzählens liefert Klaus W. Hempfer: (Pseudo-)Performatives Erzählen im zeitgenössischen französischen und italienischen Roman. In: Romanistisches Jahrbuch 50 (1999), S. 158–182. Wenngleich die poetologischen wie epistemologischen Voraussetzungen des in letzterem Aufsatz anhand ausgewählter Romane der Postmoderne analysierten Erzählverfahrens gänzlich anders gelagert sind als im Falle Diderots, verdanke ich die Überlegungen hinsichtlich einer Übertragung von sprechakt- und theatertheoretischen Ansätzen auf die Erzähltheorie den Ausführungen Klaus Hempfers. 3 John L. Austin: How to Do Things with Words. The William James Lectures Delivered at Harvard in 1955. Oxford 1971, S. 60. 4 Austin: How to Do Things With Words, S. 108.
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um sie auf eine neue Grundlage zu stellen.5 Simultaneität von sprachlicher und ›anderer‹ (nichtsprachlicher) Handlung sowie Autoreflexivität wurden von Klaus Hempfer als Kernbestandteile eines Begriffs von Performativität benannt, 6 dessen Disziplinen übergreifende Rezeption in der Folge Austins sich zu jenem Theorie geflecht – Hempfer verwendet zur Veranschaulichung den Begriff des Rhizoms – ausbildete, mit dem der Performativitätsbegriff heute verbunden ist. Aus Platzgründen kann an dieser Stelle nicht auf alle Verzweigungen des Theoriefeldes Performativität eingegangen werden. Für den vorliegenden Zusammenhang eines in narratologischer Hinsicht brauchbaren Begriffs des Performativen beschränke ich mich neben der Sprechakttheorie auf das Modell eines von Erika Fischer-Lichte als »performative Kunst schlechthin« charakterisierten Theaters.7 Die Theatertheorie kann sich insofern auf den Performativitätsbegriff berufen, als dessen Kernbestandteile Simultaneität und Autoreflexivität in der Aufführungssituation des (klassischen) Theaters realisiert sind. Der theatralen Aufführung eignet eine zweifache Simultaneitätsrelation, die zum einen in der Gleichzeitigkeit von Produktion des Artefakts und dessen Rezeption durch den beiwohnenden Zuschauer besteht, für die zum anderen die Simultaneität von Sprechen und Handlungs- bzw. Geschehenskonstitution charakteristisch ist. Konkret bedeutet Letzteres, dass sich das Handlungsgeschehen auf der Bühne erst durch das Sprechen – performativ – konstituiert.8 Dass der Performativitätsbegriff des Theatermodells die Konstitutionsbeziehung zwischen Sprechakt und Handlungsgeschehen folglich von der einzelnen Äußerung auf größere diskursive Zusammenhänge ausweitet,9 ermöglicht es, auch narrative Einheiten mit einem Begriff des Performativen zu beschreiben, sofern sich in besagten narrativen Sequenzen eine dem dramatischen Aufführungsmodus strukturanaloge Konstitutionsrelation von erzählendem Diskurs und erzähltem Geschehen nachweisen lässt. Überträgt man die sprechakt- und theatertheoretischen Vorlagen eines Begriffs des Performativen auf narrative Konstellationen und deren spezifische 5
Siehe John R. Searle: How Performatives Work. In: Linguistics and Philosophy 12 (1989), S. 535–558. 6 Vgl. Hempfer: Performance, Performanz, Performativität, S. 23 f. 7 Erika Fischer-Lichte: Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Weg zu einer performativen Kultur. In: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, S. 277–300, hier: 291. Der Vollständigkeit halber sei auf die Anwendungen des Performativitätsbegriffs in der dekonstruktivistischen Theorie bei und nach Derrida sowie in der Gender-Theorie Judith Butlers hingewiesen. Siehe näher hierzu in Hempfer: Performance, Performanz, Performativität, S. 26–38. Für einen weiteren Überblick siehe zudem Jonathan Culler: Philosophy and Literature. The Fortunes of the Performative. In: Poetics Today 23 (2000), S. 503–519. 8 Vgl. Hempfer: Performance, Performanz, Performativität, S. 25. 9 Vgl. ebd.
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Struktur, so zeichnet sich ein solchermaßen als ›performativ‹ verstandener Erzählakt dadurch aus, dass er das, was er nur zu berichten vorgibt, im Prozess des Erzählens allererst konstituiert. Voraussetzung hierfür ist eine strukturelle Simultaneität von erzählendem discours und erzählter histoire – eine Konstellation, die in schriftlich fixierten Texten freilich immer bloß eine fingierte sein kann. Der performative Charakter dieser Struktur wird daher auf den Status der Performativitätsfiktion beschränkt bleiben. Was in performativen Erzählakten somit gewissermaßen ›performativisiert‹ wird, ist der strukturelle Doppelcharakter narrativer Kommunikation, der sich in der Differenzierung von discours und histoire ausdrückt. Dass sich die narrative Situation in Diderots Jacques le fataliste mithilfe eines Konzepts performativen Erzählens beschreiben lässt, das dem Konstitutionsverhältnis von Erzähldiskurs und erzähltem Geschehen Rechnung trägt, soll nun anhand aussagekräftiger Passagen des Romans nachvollzogen werden. Es wird sich zeigen, dass die bereits im berühmten Incipit erkennbare dialogische Struktur des Romans maßgeblicher Bestandteil eines performativen Erzählprozesses ist.
III. Dass das dialogisch strukturierte Erzählsystem des Romans Jacques le fataliste et son maître den Dialog seiner titelgebenden Protagonisten auf der Ebene des Erzähldiskurses spiegelt, ist hinlänglich kommentiert worden.10 Jenseits der bloßen Widerspiegelung lässt sich jedoch nachweisen, dass die dialogische Struktur des discours als Existenzbedingung der erzählten histoire zu gelten hat. In der Regel kommt der Dialog des Erzählers mit seinem ›Leser‹ derart zustande, dass die Leserstimme zu Form oder Inhalt der Erzählung interveniert oder der Erzähler Letztere zu ihren Präferenzen befragt. In dieser dialogischen Situation, die Erzähldiskurs und erzähltes ›Geschehen‹ miteinander verschränkt, konstituiert sich die histoire der Erzählung, die Reise des Dieners Jacques und seines namenlosen Herrn, erst im Prozess des Erzählens. Denn wo die Erzählerfigur das erzählte Geschehen zugunsten – oder zulasten – der Erwartungen seines Kommunikationspartners ad hoc anpasst,11 schlägt sich der Dialog der discours-Ebene auf den Inhalt 10 Für
eine schematische Darstellung der narrativen Ebenenstruktur in Jacques le fataliste siehe Simone Lecointre: Qui parle dans Jacques le Fataliste? In: Dietrich Harth u. Martin Raether (Hrsg.): Denis Diderot oder die Ambivalenz der Aufklärung. Würzburg 1987, S. 9–20. 11 Siehe z. B. OC, 42: »En suivant cette dispute sur laquelle ils auraient pu faire le tour du globe sans déparler un moment et sans s’accorder ils furent accueillis par un orage qui les contraignit de s’acheminer… – Où? – Où, Lecteur, vous êtes d’une curiosité bien incommode! Et que diable cela vous fait-il? […] Si vous insistez, je vous dirai qu’ils s’acheminèrent vers… oui, pourquoi pas… vers un château immense […]« (Herv. d. Verf.). Die hervorgehobene Proposition unterstreicht die Spontaneität des Einfalls.
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der histoire nieder, indem er diesen transformiert. Da Ausgestaltung und Inhalt der Geschichte wiederum Anlass für die Kommunikation der am Erzählvorgang beteiligten Instanzen sind, die histoire folglich die Gestalt des Diskurses beeinflusst, stellt sich das Konstitutionsverhältnis von discours und histoire als ein wechselseitiges dar. Eine komplexe Textpassage mag dieses Wechselspiel verdeutlichen. Auf ihrer Reise, deren Ziel dem (realen wie fiktiven) Leser vorerst unbekannt bleibt, dient die Rekapitulation ihrer jeweiligen Erfahrungen in Liebesdingen den Protagonisten als Zeitvertreib. Die metadiegetischen Einschübe ihrer Liebesgeschichten durchziehen den Roman wie ein roter Faden. In einer dieser Geschichten erzählt Jacques jene Episode aus seinem jugendlichen Liebesleben, die davon handelt, zwei Frauen mithilfe der Lüge um seine Unschuld verführt zu haben. Während sich Jacques’ Gesprächspartner auf der histoire-Ebene über diese pikante Anekdote nun ganz vorzüglich amüsiert, wirft der fiktive Leser auf der Ebene des dialogisch strukturierten discours dem Erzähler die Obszönität dieser Erzählung vor: »Comment un homme de sens, qui a des mœurs, qui se pique de philosophie peut-il s’amuser à débiter des contes de cette obscénité?« (OC, 229). Den Vorwurf der Immoralität von sich weisend, kontert dieser mit folgenden Worten: »Premièrement, Lecteur, ce ne sont pas des contes; c’est une histoire, et je ne me sens pas plus coupable, et peut-être moins quand j’écris les sottises de Jacques que Suétone quand il nous transmet les débauches de Tibère« (ebd.), und leitet damit eine längere Digression zum Status erzählerischer Obszönität ein. Ein konkreter Geschehenszusammenhang der histoire – der Inhalt der Anekdote – konstituiert somit sowohl eine dialogische Auseinandersetzung der am Erzähldiskurs beteiligten Stimmen als auch eine längere digressive Einlassung zu einem allgemeinen Problem narrativer Gestaltung. Diese Digression wird erzählerseitig mittels eines Montaigne-Zitats beendet, um sodann abrupt zur Diegese zurückzukehren: »Jacques et son maître passèrent le reste de la journée sans desserrer les dents« (OC, 231). Dass die Protagonisten an dieser Stelle nun die Zähne buchstäblich nicht mehr auseinander bekommen, ist durchaus fiktionsintern motiviert, insofern Jacques’ krankheitsbedingte Heiserkeit sich vorher bereits angekündigt hatte (vgl. z. B. OC, 229) und sein Herr es generell bevorzugt zuzuhören, als selber zu sprechen. Dennoch erscheint es in der Zusammenschau der moralischen Vorwürfe des ›Lesers‹, der digressiven Legitimationsversuche des Erzählers und der neuen Umstände der histoire, die Jacques’ Redseligkeit abrupt in Schweigsamkeit transformieren, legitim, das Schweigen auf die histoire-konstitutive Verfügungsgewalt des Erzählers zurückzuführen, der sich für den Zensurversuch seines Gesprächspartners rächt, indem er ihm mit dem Dialog Jacques’ und seines Herrn die eigentliche Geschichte vorenthält. Das erzählte Geschehen präsentiert sich so als ausgehandeltes Ergebnis der dialogischen Auseinandersetzung der Kommunikationspartner Erzähler und ›Leser‹.
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Die (chrono)logische Voraussetzung einer derartigen Einflussmöglichkeit der narrativen Instanz auf das Erzählgeschehen – dass sich nämlich narrativer Diskurs und ›Geschichte‹ simultan zueinander vollziehen – wird im Schweigen der Figuren auf die Spitze getrieben. Wo die Protagonisten nun nichts mehr tun, was berichtenswert ist, muss die Stille durch eine erneute Erzählerdigression überbrückt werden. Anlass bietet Jacques’ nur ausnahmsweise mit Kräutertee befüllter Trinkschlauch, der den Erzähler zu einem langen Kommentar hinsichtlich der prophetischen Qualitäten des dort üblicherweise enthaltenen Weines verleitet – ein Exkurs, der seitens des ›Lesers‹ schonungslos quittiert wird: Tout cela est fort beau, ajoutez-vous, mais les amours de Jacques? – Les amours de Jacques, il n’y a que Jacques qui les sache, et le voilà tourmenté d’un mal de gorge qui réduit son maître à sa montre et à sa tabatière, indigence qui l’afflige autant que vous. – Qu’allons-nous donc devenir? – Ma foi, je n’en sais rien. (OC, 234)
Wie eine Spirale dreht sich das Wechselspiel von Erzähldiskurs und erzähltem Geschehen weiter. Mittels metaleptischer Verfahren, die das Schweigen der Protagonisten als ›tote Zeit‹12 der histoire erscheinen lassen, wird die Fiktion eines sich simultan zum Erzählvorgang vollziehenden Geschehens erzeugt. Tatsächlich wird die reziproke Konstitution von Erzähldiskurs und ›Geschichte‹ erst vor dem Hintergrund dieser Simultaneitätsfiktion plausibel. Die zitierten Auszüge machen deutlich, dass die dialogische Struktur der Erzählsituation in Jacques le fataliste für das spezifische Verhältnis von discours und histoire maßgeblich ist. Neben der Simultaneität von (dialogischem) Erzählen und Handeln beruht die narrative Konstellation des Romans daher gleichsam auf der Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption des Erzählvorgangs. Beide Simultaneitätsrelationen fasst der Erzähler in nuce zusammen: »[…] Lecteur, causons ensemble jusqu’à ce qu’ils [i. e. Jacques et son maître] se soient rejoints« (OC, 81). Erzähler und ›Leser‹ überbrücken eine ›tote Zeit‹ der histoire – und dies erscheint mir zentral – mit Plaudern. Die strukturelle Dialogizität der Erzählsituation, auf der die gegenseitige Einflussnahme der zwei Stimmen basiert, wird hier explizit gemacht. Das Verb causer verweist auf jene unvermittelte face-to-face-Kommunikation, die in der Spontaneität des Dialogs präsupponiert wird. Inszeniert wird so ein (traditioneller) mündlicher Erzählakt vor Publikum. Als solcher knüpft er an die Aufführungsstruktur des Theaters mit dessen doppelter Simultaneitätsrelation an. Narrative Posteriorität wird in der Erzählkonstellation des Jacques le fataliste in zweifacher Hinsicht in dramatische Gleichzeitigkeit übertragen, indem sowohl die Produktion und Rezeption des Erzählaktes, als auch das Erzählen und das erzählte Geschehen 12 Vgl.
Gérard Genette: Discours du récit. Essai de méthode. In: Ders.: Figures III. Paris 1972, S. 65–282, hier: 244.
Diderot und die Fiktion performativen Erzählens
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als sich in wechselseitiger Determination simultan vollziehend inszeniert werden. Dem Umstand, dass die performative Konstitution von Diskurs und ›Geschichte‹ auf der Ebene zweier fiktiver Stimmen (Erzähler und ›Leser‹) zu verorten ist, wird konzeptuell mit dem Begriff der Performativitätsfiktion Rechnung getragen.
IV. »Lecteur, causons ensemble« – Diese drei Worte offenbaren zugleich das große Paradoxon der Erzählsituation in Jacques le fataliste. Während die Wahl des Verbes, die dialogische Struktur der Narration sowie der Erzählstil13 die Fiktion einer mündlichen Erzählsituation erzeugen, wird diese Fiktion mittels Elementen eines schriftlichen Kommunikationssystems konterkariert, indem der ›Gesprächspartner‹ den Titel des Lecteur, und eben nicht jenen eines medienneutralen Monsieur, trägt. Dieser Umstand ließe sich noch als bloßer Wink auf die zeitgenössischen Gattungskonventionen erklären, würde nicht das inhärente Paradoxon eines in mündlicher Kommunikation engagierten Lesers gegen Ende des Romans auf die Spitze getrieben. Die bloß terminologische Diskrepanz wird an der Stelle überschritten, wo ein besorgter Erzähler seinen ›Leser‹ fragt: »Lecteur, vous suspendez ici votre lecture; qu’est-ce qu’il y a?« (OC, 252), und dessen Lektüreprozess somit explizit thematisiert. Versucht man jedoch, die in dieser Stelle beschriebene Kommunikationssituation zu rekonstruieren, so stößt man schnell an die Grenzen der Plausibilität. Um das Lektüreverhalten des fiktiven Lesers kontrollieren und kommentieren zu können, müsste der Erzähler ihn beim Lesen beobachten. Da auch diese neue Situation folglich nur als Kopräsenz denkbar ist, wird die fingierte Simultaneität von Produktion und Rezeption de facto aufrechterhalten. Gleichwohl wird die performative Konstitutionsrelation von discours und histoire mit der Evokation eines schriftlichen Kommunikationssystems auf ein instabiles Fundament gestellt: Eine sich simultan zu ihrer narrativen Vermittlung, die nunmehr als eine schriftlich fixierte markiert wird, vollziehende ›Geschichte‹ sprengt die Grenzen der Wahrscheinlichkeit. Dass die Mündlichkeitsfiktion letztlich mittels Strukturen der Schriftlichkeit konterkariert wird, unterstreicht indes den fiktiven Charakter der Performativität des Erzählens. In diesen medialen Aporien liegt die Spannung des Erzählens in Jacques le fataliste. Indem Diderot die Grenzen der Erzählmedialitäten überdehnt, liefert er eine Problematisierung der historischen Entwicklung von einer mündlichen zu einer schriftlich fixierten Erzählung und markiert den Versuch, die spezifische Gleichzei13 Vgl.
Jean M. Goulemot: À propos d’oralité dans Jacques le fataliste. In: Jean-Louis Jam (Hrsg.): Éclectisme et cohérences des Lumières. Mélanges offerts à Jean Ehrard. Paris 1992, S. 91–95.
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tigkeit mündlicher Kommunikation ohne strukturelle Anpassungen auf das schriftliche Erzählsystem zu übertragen, als gescheitert. In diesem Sinne reiht sich die Erprobung performativen Erzählens in Jacques le fataliste ein in die Beschäftigung der Aufklärer mit den (historischen) Voraussetzungen und Gelingensbedingungen von Erzählungen.
7. se k t ion N a r r at ion, Pe r spe k t i v e , A m bi va l e nz : Sz e n e n u n d Rol l e n de s E r z ä h l e ns
Fritz Breithaupt
Narration, Perspektive, Ambivalenz: Szenen und Rollen des Erzählens Einleitung
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ird heutzutage außerhalb der Fachliteratur von Narration gesprochen, dann wird damit häufig ein relativ simpler Sachverhalt bezeichnet. Die großen Narrationen, welche die Geschichte bestimmen, sind eigentlich sehr banale Erzählungen etwa von der Größe und dem Leiden einer Nation.1 Auch der Begriff der ›narratio‹ in der juristischen Tradition bezeichnet den schlichten Sachverhalt ohne jeden Schmuck und Interpretation. In den Medien und der Politik wird derzeit gerne die Formulierung verwendet, jemand habe kein gutes Narrativ, und auch damit ist keine Geheimformel gemeint, sondern eher eine griffige Kausalerklärung in Form eines einzigen Satzes. Entgegen dieser Definition von Narration etwa als Ein-Satz-Kausalerklärung stehen die Kapitel dieser Sektion. Jedes dieser Kapitel verkompliziert das, was wir als ›Erzählen‹ bezeichnen. Und jedes der Kapitel tut dies auf andere Art und Weise. Statt sich in der einfachen Wiedergabe eines plots zu erschöpfen, kreist das Erzählen immer wieder um Verdoppelungen der Handlung oder der Interpretation, um Widersprüchlichkeiten der Fakten oder Perspektiven, um zeitliche Inkohärenzen und um in vielerlei Hinsicht Unzusammenhängendes. Diese Sektion nimmt dabei viele der Gedanken auf, die sich bereits formuliert finden in dem von Frauke Berndt und Stephan Kammer herausgegebenem Sammelband Amphibolie, Ambiguität, Ambivalenz.2 Was die Sektion damit als Ganzes zum Denken gibt, ist die Frage, ob sich den Aufklärern des 18. Jahrhunderts die Frage des Erzählens als eine Frage der einfachen Darstellung gestellt hat (Modell: Ein-Satz-Kausalerklärung) oder aber ob sich ihnen das Erzählen in seinem Wesen als eine Sache mit doppeltem Boden offenbart hat, das eben darin besteht, den einfachen Ablauf und die eindimensionale Deutung nicht zuzulassen. Naheliegend wäre nun durchaus die erste Variante. Baumgarten definiert Ästhetik abgeleitet von ›clarus‹ als klar und anschaulich. Analog müsste man ein ästhetisches Erzählen für klar halten. Doch vielleicht sind das Erzählen oder weite Formen des Erzählens nicht von dieser Form der Ästhetik be1
So zitiert Wolfram Malte Fues in seinem Beitrag Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1986, S. 14. 2 Frauke Berndt u. Stephan Kammer (Hrsg.): Amphibolie, Ambiguität, Ambivalenz. Würzburg 2009.
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troffen. Womöglich haben gerade viele Autoren der Aufklärung, die das Erzählen als produktive Kraft entdecken, sich dabei nicht auf das einfache und didaktische Darstellen eines Sachverhalts bezogen, sondern vielmehr die Tendenz zur Komplexitätssteigerung durch Narration für sich entdeckt. Anders gesagt: Vielleicht brauchte gerade die Aufklärung die vielfachen Schatten, Grauzonen und narrativen Unklarheiten, um das Licht der Aufklärung um so stärker mit und gegen das Erzählen behaupten zu können. Gerade weil die Arbeit am Erzählen und die Arbeit am Deuten von Erzählungen gesteigert werden, kann Aufklärung als Zielrichtung bestehen. Anna Cordes beschäftigt sich mit der performativen Seite des Erzählens, die den Gegenstand ihrer Rede erst im Akt des Erzählens hervorbringt. Statt einen Sachverhalt schlicht abzubilden, kann das Erzählen den Sachverhalt erst als eine narrative Setzung im Verlauf des Erzählens konstituieren. Gegenstand der Diskussion ist Diderots Jacques le fataliste (1778–80). Dort zeige es sich allerdings nicht einfach, dass der narrative discours (das Erzählen) die erzählte histoire (das Erzählte) dominiert, sondern dass die »Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption des Erzählvorgangs«3 selbst das Wechselverhältnis von discours und histoire hervorbringt. Performativ ist dieses Erzählen, so muss man den Gedanken weiterdenken, da es noch die Unterscheidung setzt, was hier das Erzählen und was das Erzählte ist. Mit diesem performativen Aspekt des Erzählens wird, so muss man annehmen, auch die Klassifikation von Genette fraglich. Entgegen der großen Narration betont Wolfram Malte Fues eben die kleinen Knospen von Narrationen, in denen sich alles angelegt findet, die aber zugleich auf ihre auch überraschende Entfaltung warten. Parallel zur Metapher der Knospe könnte man hier auch an das Bild des Schmetterlingsflügelschlags denken, der sprichwörtlich anderswo Stürme und Revolutionen auslöst. In der Metapher der Narration als Knospe ist somit eine in ihr vorbereitete, aber nicht vollständig beherrschte oder vorgezeichnete Nachgeschichte der Entfaltung angelegt. Entsprechend erinnert Fues an die Chaostheorie. Konkret präsentiert sein Beitrag einen unbekannten und höchst überraschenden Roman von 1770 mit dem Titel Der Philosoph und das natürliche Frauenzimmer, der vielleicht aus der Feder von Friedrich Adolph Audemar Kritzinger stammt und in dem fast jede Tendenz der Aufklärung von der Natur-Erzählung und dem Diskurs der Geschlechterdifferenz bis zur Erkenntnissuche und dem Experiment angelegt ist und im späteren 18. Jahrhundert seine Entfaltung findet. Irmtraud Hnilica wendet sich in ihrem Beitrag der Ambivalenz und der Vielstimmigkeit im Briefroman zu. Dabei betont sie vor allem, dass nicht nur die Viel3 Anna
Cordes: Diderot und die Fiktion performativen Erzählens: Jacques le fataliste et son maître, S. 465–472, hier: 467.
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stimmigkeit im Briefroman und auch nicht nur die im plot angelegten Spannungen, etwa ob ein Charakter ehrlich sei oder nicht, zu Ambivalenzen führen, sondern dass vielmehr prinzipiell die Frage bestehe, von welcher Perspektive aus zu lesen und zu bewerten sei, etwa von der des Autors, Erzählers oder Lesers. Entscheidend ist dabei, dass die Spannungen und Ambivalenzen nicht ausgebügelt werden können, sondern in einem Sowohl-als-auch münden. Strukturell entsteht daraus eine Simultanität von Naivität und Raffinesse oder Vertrauen und Misstrauen. In Lessings Kommentar zu den Romanen Richardsons, die im Zentrum der Überlegungen stehen, heißt es, zitiert nach Hnilica: »›Sehr oft sind das verschämteste Betragen und die unzüchtigsten Gedanken in einer Person.‹«4 Erzählen mündet in eben diesem reizvollen Zugleich von Unschuld und Sünde. Daniel Kazmaier nimmt diesen Gedanken auf und zeigt anhand einer Lektüre von Immanuel Jakob Pyras Lehrgedicht Der Tempel der wahren Dichtkunst (1737), dass es zu einem vorgeblichen plot wohl stets auch einen nicht auszuschließenden Subtext gibt oder geben kann, der eine queere Lektüre erlaubt, die den Text nicht nur unterminiert, sondern zugleich auf neue Art und Weise weiterführt. Der Wendepunkt der Lektüre besteht dabei in dem Aufrufen des Begehrens, das von dem Tempel der Poesie als dem präexistenten Gegenstand des Lehrgedichts abgleitet und dabei die Poesie erst erschafft. Diese performative Poesie des Singens (und nicht des Abbildens eines existierenden Tempels) ist dabei queer nicht nur, weil sie als Begehren dem männlichen Begleiter des Sängers gilt, sondern weil sie sich an keinem klaren Gegenstand mehr abarbeitet. Aus dem Gesang (der abbildenden Narration, der histoire) wird die Aufforderung des Weitersingens. Ein anderes Gesicht der Vielstimmigkeit und der Ambivalenz besteht im Streit. Judith Jansen zeigt beispielhaft an einer Diskussion von Friedrich Gottlieb Klopstocks Grammatischen Gesprächen (1794), wie Streit ein Mittel zur narrativen Darstellung werden kann. In Klopstocks Text streiten etwa die Konsonanten mit den Vokalen über ihren Stellenwert in der Sprache. Der Streit wird dabei zum ordnungsbringenden Prinzip, das auch über das »Changieren zwischen Fiktionalität und Faktualität«5 hinaus Stabilität verleiht – just indem es die eine feste Position auflöst in das (auch witzige) dialogische Hin und Her des Gesprächs. Christopher Meid leistet einen großen Überblick des politischen Romans in der Aufklärung ab 1730 und betont dabei die Funktion der Exemplarität von Figuren, Situationen und historischen Umständen. Eine Erziehungsgeschichte etwa könne den Rezipierenden insofern exemplarisch werden, als sie ihre »eigene[] Bedürf 4
Irmtraud Hnilica: »Oh Clary! Clary! Thou wert always a two-faced girl!« Ambivalenz und Polyperspektivität in Samuel Richardsons Clarissa, S. 482–490, hier: 488. 5 Judith Jansen: Die Stimmen der Sprache. Inszeniertes Erzählen in F. G. Klopstocks Grammatische Gesprächen (1794), S. 491–499, hier: 493.
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tigkeit« 6 erkennen. Auch die Diskussion um historische Bespiele ist eine Diskussion um den Status von Exemplarität, insofern die Frage ist, ob historisch oder geographisch ferne Geschehen uns als Beispiele nahestehen können oder nicht. Wieland wird in seinen politischen Romanen schließlich die Bewegung vom einzelnen Schicksal und Prozess zum Exemplar und vom Exemplar zum allgemeinen Begriff zum Ziel erklären. In narrativer Hinsicht wird mit der Exemplarität eine voraufklärerische Tendenz von Literatur in die Aufklärung übersetzt, die in dem Modellcharakter jeder Erzählung besteht: Alles Geschehene und das heißt alles Erzählte kann als Schema allgemeiner Handlung verstanden werden. Insofern wohnt dem politischen Erzählen stets auch die Tendenz zur Universalität inne. Erzählen wird politisch in diesem exemplarischen Überschuss an Bedeutung beziehungsweise dem Mehrwert der Deutung. Miriam Seidlers Beitrag schließt diese Sektion ab mit einer Diskussion von Wielands Roman Agathodämon (1799). Dieser Text inszeniert eine Spannung zwischen großer Redlichkeit der versprochenen Erzählung des alten Titelhelden und der prinzipiellen Multiversionalität der Narration. Diese Multiversionalität äußert sich schon darin, dass nicht sicher ist, ob dieser Agathodämon ein realer Mensch oder eben doch ein guter Geist ist, dessen Bericht entsprechend gewertet werden sollte. Wieland selbst reflektiert auf die Multiversionalität und den perspektivischen Pluralismus in seinem Essay Was ist Wahrheit? und schreibt, so zitiert von Seidler: »›Die Wahrheit ist, wie alles Gute, etwas verhältnismäßiges.‹«7 Am Ende steht mithin die Unhintergehbarkeit der Multiversionalität von Narration.
6 Christopher
Meid: Erzählte Aufklärung. Reflexionen über den politischen Roman zwischen Sinold von Schütz und Wieland, S. 510–525, hier: 515. 7 Miriam Seidler: »Ein Augenzeuge kann, ohne Schuld seines Willens, unrichtig sehen.« Biographisches Erzählen und das Erzählen von Biographien in Christoph Martin Wielands Roman Agathodämon (1799), S. 526–535, hier: 535.
Wolfram Malte Fues
Der Philosoph und das natürliche Frauenzimmer für eine kleine Narratologie Die Epoche der Aufklärung lässt sich auch durch das Bestreben definieren, wissenschaftliches Wissen aus theologischem und metaphysischem Begründungszusammenhang zu lösen und ihm den Nachweis seines Wahrheitscharakters als Theorie seiner Theorien selbst aufzugeben. Diese Theorie der Theorien, die einer Wissenschaft ihren Anspruch und ihre Absicht, ihre Perspektive und ihre Methodik transzendental vorgibt, sieht Jean-François Lyotard im Meta-Diskurs einer »großen Erzählung« begründet. Er versteht darunter ein Narrativ, das einen Erzählzusammenhang zwischen »großen Heroen, großen Gefahren, großen Irrfahrten und dem großen Ziel«1 so herstellt, dass er für das Wissen, das sich auf ihn bezieht, einen interaktiven Horizont bildet, der dessen Entwicklung ebenso wohl bedingt, wie er auf sie reagiert. Hat das statt, dann muss diese Erzählung sich wie jede andere auf ein Motiv, ein Bild, eine Szene ursprünglich zurückführen lassen. Jede große Erzählung muss irgendwo irgendwie eine kleine Erzählung sein, eine Erzähl-Knospe, die ihrer Gestaltungskraft nach zu umfassender Vegetation heranzuwachsen vermag. Finden wird man die gesuchten Knospen allerdings nicht in den bekannten Gärten der Wissenschaftsgeschichte. Hier sieht man sie schon entfaltet, ihre Silhouette über den ganzen Geltungsbereich der von ihnen abgeschatteten Wissensform werfend. Finden wird man die gesuchten Motive, Bilder, Szenen in ihrer unmittelbaren Verkapselung an ehesten in abseitigen, von der Forschung noch kaum betretenen Räumen, in kleinen Erzählungen, die den Keim zu großen in sich tragen, ohne ihn zu erkennen und ohne ihn zu entwickeln. Deswegen bleiben sie nicht folgenlos. Sie bilden stets Flugsamen. Gesagte Dinge, in ihrer Eigenwirklichkeit gesagter Dinge, sind nicht – wie man manchmal allzu sehr zu denken geneigt ist – eine Art Hauch, der vorüberstreicht, ohne Spuren zu hinterlassen, sondern diese Spuren, wie unmerklich sie auch gewesen sind, bestehen tatsächlich fort, und wir leben in einer Welt, die völlig durchwoben und durchflochten vom Diskurs ist.2 1 Jean-François
Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht [1979]. Wien 1986, S. 14. Vgl. dazu Christine Weber: Philosophien der Differenz zwischen Sprache und Schrift. Affinität und Differenz im Denken Lyotards und Derridas. Essen 2009, S. 111 ff.; Gary K. Browning: Lyotard and the End of Great Narratives. Cardiff 2000, S. 21 ff. sowie Stefan Münker u. Alexander Roesler: Poststrukturalismus. Stuttgart/Weimar 2000, S. 110 ff. 2 Vgl. Archäologie einer Leidenschaft. Gespräch mit Michel Foucault. In: Zeit-Mitschrift 9 (1990), S. 90–100, hier: 94.
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Der kleine Roman, der Beispiele dafür enthält, worauf wir zu sprechen kommen wollen, trägt den Titel: Der Philosoph und das natürliche Frauenzimmer. Darunter in Klammern: Eine Dukaten-Pièce. 1770, ohne Autor-, Orts- und Verlagsa ngabe. Die letzten beiden haben sich eruieren lassen: Leipzig bei Kritzinger. Friedrich Adolph Audemar Kritzinger, geboren 1726 in Leipzig und dort 1793 auch gestorben, Schriftsteller, Verleger, Buchhändler, Sprachlehrer, spielt eine umtriebige, wenn auch keine glänzende Rolle am Leipziger Literaturmarkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zu seiner Charakterisierung hier die Titel einiger Schriften, die von ihm verfasst oder bei ihm verlegt worden sind: Die lustigen Muttersöhnchen; Der lustige Leipziger; Das lustige Leipzig, alle Leipzig 1764; Die lustigen Leipzigerinnen, Leipzig 1790. Aber auch: Das Frauenzimmer oder die scherzende Venus, ebd. 1761, sowie Die physische Venus, Untertitel: Lycoris selbst kann es lesen, ebd. 1776.3 Seine Promenaden bey Leipzig, ebd. 1781, hat Gertraude Lichtenberger 1990 bei Brockhaus neu herausgegeben. Leipzig wird in dieser Zeit »eine moderne bürgerliche Stadt […] Hier herrschten Massenkonsum, kleinbürgerliche Mentalität, verbildete Bürgerlichkeit […], ein entwickelter literarischer Markt, freie Schriftsteller und eine bedürfnisorientierte Literatur.«4 Friedrich Adolph Audemar Kritzinger ist ein typischer und eifriger Agent dieser Literatur und ihres Marktes. Die Dukaten-Pièce sieht ihr Ziel insgesamt darin, das natürliche Frauenzimmer dem Philosophen und ihrem Gefährten Emilor (!) die allgemeine Richtigkeit von Rousseaus Weltsicht beweisen zu lassen: »Ich […] sehe überall, dass das Elend, dem die Natur uns unterwirft, viel weniger grausam ist als das, was wir hinzufügen.«5 Sie gibt sich also den Anschein einer Übersetzung aus dem Französischen. Das ist möglich, obwohl es mir bis jetzt nicht gelungen ist, ein Original ausfindig zu machen (für helfende Hinweise bin ich selbstverständlich dankbar). Ebenso sehr möglich ist, dass es sich um ein deutsches Original handelt, das seine französische Herkunft vortäuscht, um seine Absatz-Chancen zu erhöhen. Wie hoch darf man die Redlichkeit eines Autors und Verlegers schätzen, der seinen Bestseller Die Erzeugung der Menschen und Die Heimlichkeiten der Frauenzimmer, 1808 letztmalig erschienen, unter dem Namen Wilhelm Tissot veröffentlicht?6
3 Lycoris
ist die in vier Büchern Elegien (um 40 v. Chr.) besungene Geliebte des römischen Dichters Gaius Cornelius Gallus. 4 Uwe Hentschel: Leipziger Literaturverhältnisse nach dem Siebenjährigen Krieg. Thesen und Anmerkungen. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 30 (1995), S. 179–204, hier: 203. 5 Rousseau an Voltaire am 18. August 1756. In: Jean-Jacques Rousseau: Ich sah eine andere Welt. Philosophische Briefe. Hrsg. v. Henning Ritter. München 2012, S. 7–29, hier: 12. 6 Samuel Auguste André David Tissot (1728–1797) berühmter Schweizer Arzt, heute noch bekannt durch seine Schriften gegen die Selbstbefriedigung. Vgl. dazu Karl Braun: Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1995, S. 37–86.
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Meine Kindheit hat 22 Jahre gewähret: und seit so vielen Jahren habe ich weder Himmel noch Erde gesehen. Ein reicher Philosoph kaufte mich in meinen ersten Lebenstagen, und liess mich mit einem Knaben, der eben so viele Tage als ich alt war, in einem Keller auf seinem Landguthe aufziehen. Man hatte uns die Augen mit einer künstlich gearbeiteten ledernen Maschine verbunden, und so mussten wir unser Brod aus einem Korbe holen lernen, der in den Keller herunter hing, und unsern Trank aus einer grossen Schale trinken, in welche man täglich […] frisch Wasser goss. Als wir beyde nun so gross geworden waren, dass wir einander beystehen konnten, so mischte man ein Arcanum unter das Wasser, und wir fielen in einen festen Schlaf; indem wir nun so feste schliefen, nahm man uns die lederne Binde von den Augen hinweg; und da wir aufwachten, sahen wir das Licht des Tages.7
So beginnt das natürliche Frauenzimmer ihre Geschichte. Dieser Teil hat eine Vorlage. Herodot berichtet, der ägyptische Pharao Psammetich habe wissen wollen, welches das älteste Volk auf der Erde sei. Um das herauszufinden, ersann er folgenden Weg. Zwei eben geborene Kinder gemeiner Leute gab er zu einem Hirten unter die Herden und gebot ihm, sie folgendermassen zu halten: Niemand sollte vor ihnen ein Wort sprechen, in einsamer Hütte abgesondert sollten sie liegen; zu gewisser Zeit sollte er […] sie mit allem Notwendigen versorgen. Solches tat und gebot Psammtichos deshalb, weil er wissen wollte, welche Sprache die Kindlein […] zuerst würden verlauten lassen.8
Die Versuchsanordnung geht offensichtlich aus der großen Erzählung von der Frage nach dem Ursprung der Sprache hervor, hier präzisiert durch die Voraussetzung, Sprache sei ursprünglich angeboren, und später in sozialen Kontexten erlerntes Sprechen verfälsche und verdränge diese ursprüngliche Sprache. Die Versuchsanordnung, der sich das natürliche Frauenzimmer unterworfen findet, verfährt radikaler. Der Philosoph scheint seinen besonderen Beitrag zur großen Erzählung von der Hierarchie der Sinne leisten zu wollen, indem er eine diesbezügliche zeitgenössische Theorie überprüft. Etienne Bonnot de Condillac stellt den zweiten Teil seines 1754 erschienen Traité des Sensations unter den Titel Du toucher, ou du seul sens qui juge par lui-même des objets extérieurs. Die beiden im Keller eingesperrten Kinder tragen Binden über den Augen. Von irgendwelchen Geräuschen oder jemandem, der mit ihnen spräche, ist nicht die Rede. Zur Erkundung ihrer selbst und ihrer Umwelt bleibt ihnen nur der Tastsinn, der in je verschiedener Weise über beides mit Gewiss 7 [F. A. A. Kritzinger]: Der Philosoph und das natürliche Frauenzimmer. Eine Dukaten-Pièce. [Leipzig] 1770, S. 3 f. Vgl. dazu Nicolas Pethes: »Einsamkeit sei eine Schule der Menschenkenntnis«. Isolation als anthropologische Versuchsanordnung in der Literatur der französischen und deutschen Aufklärung. In: Andreas Beck u. Nicola Kaminski (Hrsg.): Literatur der frühen Neuzeit und ihre kulturellen Kontexte. Frankfurt a. M. 2012, S. 181–207; sowie dens.: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. 8 Herodot: Neun Bücher der Geschichte. Übers. v. Heinrich Stein. Essen 3 1990, S. 113.
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heit urteilt. Der Mensch existiert, so Condillac, zunächst durch ein unmittelbares Grundgefühl, das ihm sagt: Ich bin. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Berührt er nun, etwa mit der Hand, seinen Körper, erzeugt er eine doppelte Empfindung seiner selbst, in der er sich von sich unterscheidet, aber der Selbigkeit der Unterschiedenen zugleich gewiss ist. Ich bin Ich, sagt dieses so modifizierte Grundgefühl. Berührt die Hand hingegen einen anderen, fremden Körper, erzeugt sie eine doppelte Empfindung, in der sie sich von sich unterscheidet, das Unterschiedene aber verschieden ist und bleibt. Ich bin nicht Ich, sagt dieses so modifizierte Grundgefühl. Somit erzeugt der Tastsinn erstens die für die Verstandestätigkeit grund legende Operation der Reflexion, und zweitens bildet er zugleich ihre prinzipielle Urteilsfunktion aus: Identifikation und Differenzierung. Damit sieht Condillac seine These bestätigt: »Le jugement, la réflexion, les désirs, les passions, etc., ne sont que la sensation même qui se transforme différemment.«9 Und nun? »Als wir beyde […] so gross geworden waren, dass wir einander beystehen konnten, […] nahm man uns die lederne Binde von den Augen hinweg«, berichtet die Erzählerin weiter. Nach den Erfahrungen, die ihnen der Tastsinn vermittelt hat, können die Kinder bei einander stehen, Selbst- von Fremdwahrnehmung, Ich von Nicht-Ich unterscheiden. Das Experiment ist geglückt, Condillacs These empirisch bewiesen. Der Keller hat zwei Seitenfenster, durch die Licht fällt. Der Gesichtssinn nimmt als seinem Rang nach zweiter seine Arbeit auf. Anders als der Tastsinn vermag er nicht nur über Identität und Differenz zu urteilen, sondern darüber hinaus Identität zu modifizieren und Differenz in Differenzen zu vermitteln, sie zu vergleichen, einzuschätzen und zu werten, also die Bedingungen ihrer Systematisierung zu schaffen: »Warum ist dieses so, und warum ist dieses nicht so?«10 An welchen Gegenständen können die beiden Halbwüchsigen die Erfahrungen machen, die der Gesichtssinn ihnen anbietet? Nur an ihren eigenen Körpern. »Wir griffen uns immer an, wir untersuchten uns wechselsweise, […] und unsere unschuldigen Hände fanden nichts unehrbares an diesen natürlichen Liebkosungen […] Dieser Trieb bey den Kindern ist ohnfehlbar der Trieb der Natur; so war der Unsrige.«11 Damit gerät der Text an eine andere große Erzählung: die von der Geschlechterdifferenz. Er hält sie in einer Kurzfassung bereit, wie sie seiner Auffassung nach die Natur selbst erzählt. Um diese Natürlichkeit zu verdeutlichen, gibt das natürliche Frauenzimmer in einer kleinen Geschichte einen Dialog unter Kindern wieder, der beide Seiten der Differenz zu Wort kommen lässt: »Meine traute Freundinn, dieser geringe Unterschied 9
Etienne Bonnot de Condillac: Oeuvres Philosophiques de Condillac. Hrsg. v. Georges Le Roy. 3 Bde. Bd. 1. Paris 1947, S. 222. Vgl. dazu Udo Thiel: Self and Sensibility. From Locke to Condillac and Rousseau. In: Intellectual History Review 25 (2015), S. 257–278 sowie Natalie Binczek: Kontakt. Der Tastsinn in Texten der Aufklärung. Tübingen 2006. 10 [Kritzinger]: Das nat. Frauenzimmer, S. 6. 11 Ebd., S. 5 f.
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ist just die Ursache warum, ich dich mehr liebe als mein Bruder eine Puppe liebt: Mein Werther, antwortete mir das junge Jungferchen, ich liebe diesen Unterschied auch.«12 Darin zeichnet sich ab, was gut 200 Jahre später die »sexuelle Aggressivität« von der kriegerischen trennen wird: »Aggressivität zwischen den Geschlechtern heißt Unterscheidung vom anderen; im Krieg heißt sie Vernichtung des anderen. Die erste impliziert das Lebenlassen des anderen, die zweite dessen Ausschaltung.«13 Wir haben inzwischen den Philosophen aus den Augen verloren. Wo war er die ganze Zeit? Wo steckt er? »Der Philosoph, oder der Eigenthümer des Kellers, den ich Ariste nennen will, bemerkte […] durch ein heimliches Dachfenster alles, was wir vornahmen.«14 Das ist seine liebste Perspektive. Jahre später, als er erwägt, das nun zu einer jungen Frau herangewachsene natürliche Frauenzimmer zu seiner Geliebten oder vielleicht sogar zu seiner Ehefrau zu machen, »nahm man mich,« erinnert sich die Ich-Erzählerin, »im Schlafe aus des Emilors Armen und trug mich in ein Zimmer, in welches Ariste heimlich sehen konnte«.15 Schlüsselwort: heimlich. Wir kommen darauf zurück. Zunächst sind wir mit dem eben zitierten Satz bei der großen Erzählung von der Aufklärung selbst angelangt. Cogito – sum. Sum cogitans. Ich definiert sich in seinem Sein als souveränes Subjekt, das urteilend, schließend, reflektierend alles auf Begriff und System zu bringen vermag, was menschlicher Aufmerksamkeit und Erfahrung möglich ist. Dieses Vermögen wirkt »heimlich«; es bewahrt dem gegenüber, was es beobachtet und bestimmt, durchgängig jene Distanz und Differenz, die seinen Gegenständen reine Objektivität und damit ihm ihre Wahrheit garantiert. Diesen Grundsatz wissenschaftlichen Wissens in den Geistes- und Sozial- wie in den Naturwissenschaften haben erst Freuds Traumdeutung und Max Plancks Entdeckung des Lichtquants auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert in Zweifel gezogen. Von der eben analysierten Textstelle her werden, wenn ich recht sehe, weitere Versionen der großen Erzählung von der Aufklärung zugleich mit angesprochen. Dass sie die Idee des Panopticons vorwegnimmt, wie sie Jeremy Bentham in seinem 1787 in London erschienenen gleichnamigen Werk ausführen und Michel Foucault sie 1975 in Surveiller et punir zu einer eigentümlichen Machttheorie entwickeln wird, ist so offensichtlich, dass es m. E. keiner weiteren Erörterung bedarf. Darin gibt sie jedoch zugleich die wesentlichen Bedingungen moderner Forschungspraxis an. Ariste unternimmt mit dem Kinderpaar ein Experiment im klassischen Sinn. Sein Rahmen ist lückenlos definiert, störende Einflüsse sind ausgeschlossen. Der Untersuchungsgegenstand steht dem Experimentator gemäß von ihm sorgfältig konzipierten und folgerichtig angewandten methodischen Prozeduren völlig zur 12
Ebd., S. 6. von Braun: NICHT ICH. Logik, Lüge, Libido. Frankfurt a. M. 31990, S. 286. 14 [Kritzinger]: Das nat. Frauenzimmer, S. 11. 15 Ebd., S. 15. 13 Christina
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Verfügung. Der Versuch kann mit jeder neuen Generation Gleichaltriger in gleicher Weise wiederholt werden. Ariste orientiert sich anscheinend bereits an einer bis heute berühmten Anweisung: Die Vernunft muss mit ihren Prinzipien […] in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, […] aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.16
Schlüsselbegriff: Nötigung. Die mag bei Steinen und Pflanzen angehen. Auch bei Tieren, wenn man sie wie Descartes als seelenlose Maschinen betrachtet. Aber bei Menschen? Bei Kindern? Ariste, einer der besten und edelsten Menschen, wie sein Name sagt, lässt in keiner Zeile seines kleinen Romans Zweifel an der Richtigkeit seines Experiments erkennen. Die Prinzipien wahrheitsgerichteter Wissensproduktion sind offenkundig für ihn zugleich Maximen moralischer Praxis, die allen übrigen vorangehen. Um im Kontext der Aufklärung zu bleiben: Lautet nicht Kants berühmt berüchtigter kategorischer Imperativ: »Handle so, dass du die Menschheit […] jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst.«17 Und benutzt Ariste die beiden Kinder nicht bloß als Mittel für seine höchst egoistischen Erkenntniszwecke? Einerseits. Andererseits: Worin liegt denn der höchste Zweck der Menschheit? Doch wohl in ihrer vollkommenen vernunftwissenschaftlichen Aufklärung über sie selbst und ihre Welt. Warum soll sie sich dafür nicht als Mittel brauchen dürfen? In seinem Brief über den Fortschritt der Wissenschaften von 1752 erörtert Pierre Louis Moreau de Maupertuis die Verbindung zwischen Körper und Geist. Man gehe dabei für gewöhnlich von den Sinnen aus, aber »aufschlussreicher wären […] Experimente am Gehirn selbst […] Man hätte mehr Mittel, solche Experimente voranzutreiben, wenn man sich dazu derjenigen Menschen bedienen würde, die zu einem schmerzhaften und sicheren Tode verurteilt sind und für die solche Experimente eine Art Gnade wären.«18 Verbirgt sich in der Szene vom Dachfenster zugleich eine andere, der obigen verwandte Funktionsform der großen Erzählung von der Aufklärung? Ariste will mit seiner Versuchsanordnung Zusammenhänge von Ursache und Wirkung so be16
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1988, S. 19 [B XIII]. 17 Ders.: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Kants Werke. Akademie-Text ausgabe. Hrsg. v. der Preussischen Akademie der Wissenschaften. 23 Bde. Bd. 4. Berlin 1903, S. 385–464, hier: 429. 18 Pierre Louis Moreau de Maupertuis: Brief über den Fortschritt der Wissenschaften. In: Ders.: Sprachphilosophische Schriften. Übers. u. hrsg. v. Winfried Franzen. Hamburg 1988, S. 55 f. Vgl. dazu Grégoire Chamayou: Les corps vils. Expérimenter sur les êtres humains aux XVIIIe et XIXe siècles. Paris 2008.
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obachten, dass sie jeden Einfluss versteckter Variablen a priori tilgt. Gelingt es, das Mögliche fern zu halten, bleibt das Wirkliche allein gegenwärtig, um die reine Realität der objektiven Welt und damit ihre Wahrheit zu bezeugen. Diese (wissenschaftliche) Methode bezahlt jedoch ihren Erfolg mit der negativen Anwesenheit dessen, was sie abweist. Die versteckten Variablen sind unwirksam, während die Versuchsanordnung gilt, aber sie sind deshalb nicht nichtig. Die kleinste Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit schlägt eine Lücke in die methodischen Prozeduren und gibt ihnen ihren Einfluss zurück. Fordern sie damit das wissenschaftliche Wissen nicht stets und ständig auf, sich vom wirklich Wahren ab- und dem möglich Wahrscheinlichen zuzuwenden? Ist Ariste an seinem Dachfenster nicht jeden Augenblick versucht, die von seinem Versuch geforderte Beobachtungsdisziplin losund die freie Bewegung der Einbildungskraft zuzulassen? Dieselbe Szene. Dasselbe Personal. Aber eine ganz andere Regie und eine ganz andere Handlung. Wenn ich richtig sehe, zeigt der kleine Satz aus unserem kleinen Roman das Forscher-Subjekt und das Autor-Subjekt als Geschwister. Sie stehen am selben Ort, Rücken an Rü cken, und können jederzeit die Plätze tauschen. Wenn wir von der Dachfensterszene ein paar Schritte Abstand nehmen und von da her den gesamten Text überschauen, so sehen wir, dass er eine weitere große Erzählung anspricht: die Erziehung des Menschengeschlechts. Erinnern wir uns: Der beste und edelste aller Philosophen hält die beiden Kinder 22 Jahre in seinem Kellerverlies gefangen. Dann holt er die junge Frau heraus und macht sie zu seiner Geliebten, benutzt sie aber weiterhin als Versuchsobjekt, indem er sie mit wesentlichen Situationen aus Natur und Kultur konfrontiert, um ihre Reaktion zu beobachten. Als er sich zu alt fühlt, um länger ihr Liebhaber zu sein, »führte mich Ariste […] an das heimliche Kellerfenster, durch welches er in dem Keller alles bemerken konnte. Ariste liess mich durchsehen, und ich sahe mit Vergnügen dass Emilor da sass«.19 Er hat offenbar bis jetzt dort gesessen. Nach einem Schnellkurs in Französisch und französischem Materialismus, den er mit beachtlichem Erfolg absolviert, werden er und das natürliche Frauenzimmer wieder ein Paar. Und dann? »Wir brachten unsere Tage sehr ruhig in des Ariste Schlosse zu; dieser Philosoph war für uns ein wohlthätiger Mann, er liebte uns wie seine Kinder, wir wusten von keinem anderen Vater.«20 Wieso hassen sie ihn nicht für all das, was er ihnen angetan hat? Wieso sperren sie ihn nicht wenigstens in den Keller, in dem sie so lange haben vegetieren müssen? Die Antwort, die sich aus den wenigen Angaben unseres kleinen Romans erschließen lässt, weist, wie mir scheint, auf einen prinzipiellen Konflikt am Grund der großen Erzählung von der Erziehung hin.
19 20
[Kritzinger]: Das nat. Frauenzimmer, S. 79. Ebd., S. 89.
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Aspekte · 7. Sektion · Wolfram Malte Fues
Als Ariste auf dem Totenbett liegt, verabschiedet er sich von seinem Versuchsobjekt mit den folgenden Worten: »Meine Kinder, die Natur hat euch ihr Licht gezeiget.«21 Was sich in ihrem Licht am klarsten zeigt, ist die völlige Nutz- und Wertlosigkeit aller Gesetze und Verordnungen, die das gesellschaftliche Leben regeln sollen. Die Natur »hat dem Menschen keine vorgeschrieben, die Natur begnüget sich sein Gemüthe zu rühren und seinen Verstand zu erleuchten«.22 Um seine Kinder zu dieser Einsicht zu bringen, schließt Ariste sie lückenlos in Gesetze und Verordnungen ein, die an Brutalität und Rigidität kaum zu übertreffen sind. Die Erziehungslehre, die unseren kleinen Roman unterschwellig durchzieht, scheint etwa so zu lauten: Die Vertreter der Zivilisation, die deren und ihre eigene Verderbtheit begriffen haben, müssen diejenigen, die sie erziehen, mit allen Mitteln von dieser Zivilisation abschotten und sie unerbittlich auf ihr Selbst und dessen ursprüngliches Reflexionsvermögen einschränken. So lange – gegebenenfalls auch für 22 Jahre –, bis sie sich mit dieser Einschränkung vollständig identifizieren und so gegen die Versuchungen der Zivilisation unempfindlich werden. Gelingt das nicht, ist die Erziehung gescheitert und muss an der nächsten Generation unter verschärften Bedingungen wiederholt werden. Das Licht der Natur entzündet sich nicht von selber. Es muss mit aller Macht der Zivilisation angefacht werden. Rousseaus Emile, an dem sich unser Text offenbar orientiert, kennt dunkle Räume ebenfalls als Erziehungsmittel. Allerdings in sehr anderer Absicht und Tendenz: Nichts ist so traurig als die Finsternis; sperre dein Kind nicht in ein Gefängnis. Es soll lachen, wenn es ins Finstere tritt, und bevor es wieder herauskommt, soll es wieder lachen: während es darin ist, möge der Gedanke an die Ergötzlichkeiten, die es verlässt, und an die, die ihm noch zu teil werden sollen, jene wirren Einbildungen von ihm fernhalten, die dort über es kommen könnten.23
Jean-François Lyotard beschreibt den Übergang von moderner Kultur und Gesellschaft zu nachmoderner in folgender Weise: Die narrative Funktion verliert ihre Funktoren, den großen Heroen, die großen Gefahren, die großen Irrfahrten und das große Ziel. Sie zerstreut sich in Wolken, die aus sprachlich-narrativen, aber auch denotativen, präskriptiven, deskriptiven usw. Elementen bestehen, von denen jedes pragmatische Valenzen sui generis mit sich führt. Jeder von uns lebt an Punkten, wo viele von ihnen einander kreuzen.24 21
Ebd., S. 93. Ebd., S. 84. 23 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Übers. v. E. von Sallwürk. 2 Bde. Bd. 2. Langensalza 41907, § 224. Vgl. dazu Christophe Martin: »Der Natur Gewalt antun«? Negative Erziehung und die Versuchung des Experiments im Emile. In: Bettine Menke u. Thomas Glaser (Hrsg.): Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität. Paderborn 2014, S. 25–46. 24 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 14 f. 22
Der Philosoph und das natürliche Frauenzimmer für eine kleine Narratologie
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Weckt unser kurzer Gang durch unseren kleinen Roman nicht den Verdacht, la condition postmoderne nehme zu ihren Bedingungen wieder auf, was an den Rändern der Moderne la condition prémoderne ausmacht? Eine Vielzahl kleiner, über ihre jeweilige Textoberfläche zerstreuter Funktoren, in denen Erzählung, Erklärung, Beschreibung und Vorschrift sich so überlagern, dass sie eine je andere, vielleicht nur ein wenig andere Praxis anbieten? Ließe sich dieser Verdacht erhärten, müssten die großen Erzählungen nicht mehr als Inbegriff der Moderne, sondern als ihr Extrem gelten – wie heute die klassisch newtonische Physik gegenüber Quantenmechanik und Chaostheorie.
Irmtraud Hnilica
»Oh Clary! Clary! Thou wert always a two-faced girl!« Ambivalenz und Polyperspektivität in Samuel Richardsons Clarissa Dass der Briefroman im 18. Jahrhundert seine Blütezeit erlebt ist mehr als literaturgeschichtlicher Zufall.1 Die Gattung kann vielmehr als eine für ihre Zeit exemplarische gelten; dass in der Aufklärung nicht mit einer, sondern mit vielen Stimmen erzählt wird, gilt für den Briefroman in besonders offensichtlicher Weise. Lange Zeit hat die Forschung vor allen Dingen die Nähe der Gefühlsunmittelbarkeit versprechenden Briefform zur Empfindsamkeit betont.2 So ist die Brieffiktion, wie Gisbert Ter-Nedden ausführt, eine Möglichkeit, »das Erleben [der Briefe schreibenden Romanfiguren, Anm. d. Verf.] und seine Verbalisierung zu synchronisieren«.3 Dargestellte Ereignisse und damit verbundene Erlebnisse fallen zusammen; für Ter-Nedden ergibt sich daraus, was er den »Kino-Effekt des Briefromans«4 nennt, der Briefroman habe als »Kino des 18. Jahrhunderts« die Qualität einer »Bewusstseinsdroge«.5 Andere Forschungsbeiträge haben die mit dem Begriff des »Kino-Effekts« auf den Punkt gebrachte Gefühlsunmittelbarkeit des Briefromans relativiert.6 So hat Gideon Stiening herausgearbeitet, wie der Briefroman auf eine Weise an die Aufklärung anschließt, die mit Empfindsamkeit nicht zur Deckung gebracht werden kann. Insbesondere durch das im Briefroman verbreitete Moment der Herausgeberfiktion erweist sich die Gattung für Stiening vielmehr als literarische Entsprechung zum
1
»Daß der Briefroman im 18. Jahrhundert eine ›Blütezeit‹ erlebte, und zwar in quantitativer Hinsicht sowie in Bezug auf seine qualitativ literar- und kulturhistorische Bedeutung […] ist eine unbestreitbare Tatsache« (Gideon Stiening: Briefroman und Empfindsamkeit. In: Klaus Garber (Hrsg.): Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. München 2005, S. 161–190, hier: 161). 2 Vgl. Jürgen von Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 293–309. 3 Gisbert Ter-Nedden: Der Kino-Effekt des Briefromans. Zur Mediengeschichte der Empfindsamkeit am Beispiel von Richardsons Clarissa und Lessings Miss Sara Sampson. In: Gideon Stiening u. Robert Vellusig (Hrsg.): Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. Berlin 2012, S. 85–127, hier: 98. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 87. 6 »Wir behaupten nämlich, daß auch und gerade das Medium Briefroman neben dieser affektiv-identifikatorischen durchaus auch eine rational-analytische Rezeptionshaltung begünstigen kann« (Monika Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloise und Laclos’ Liaisons Dangereuses. Tübingen 1990, S. 6).
Ambivalenz und Polyperspektivität in Samuel Richardsons Clarissa
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»philosophischen Empirismus der Zeit«.7 Ob der Briefroman vom »Kino-Effekt« oder der Herausgeber- bzw. Wahrheitsfiktion her verstanden wird ist letztlich eine Lektüreentscheidung. Dass beide Lesarten möglich sind entspricht der dem Genre eigenen Ambivalenz, um deren weitere Implikationen es im Folgenden gehen soll. »Briefromane«, so definieren Gideon Stiening und Robert Vellusig, »sind Romane, die eine Geschichte in einer und als eine Folge von Briefen präsentieren […]«.8 Damit verabschiedet sich der Briefroman von der Dritte-Person-Perspektive eines Erzählers oder der eines rückblickenden Ich-Erzählers zugunsten zumeist mehrerer Erste-Person-Perspektiven, die »situationsverhaftete[s] personale[s] Erleben[.]«9 darstellen. Schon dadurch wird ein Potential zur Vielstimmigkeit evident.10 Da der Leser mit unterschiedlichen Figurenperspektiven konfrontiert wird, erscheint eine ungebrochene Identifikation mit den Protagonisten weniger naheliegend als in anderen Erzählformen.11 Die Polyperspektivität des Briefromans führt mithin zu einer »dezentrierten« Erzählweise.12 Der Briefroman ist damit ein Genre, das in besonderer Weise Ambivalenzen und Ambiguitäten begünstigt. Er bedient dadurch eine modisch beinahe überstrapazierte Kategorie: Frauke Berndt und Stephan Kammer weisen in der Einleitung ihres Bandes Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz auf die Allgegenwart des sogenannten »Yet-setting« hin. Dabei beziehen sie sich auf einen polemischen Kommentar des Kulturjournalisten Peter Richter: »x yet y« lautet die Formel, die Richter im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Kunstbetrieb ausmacht (»photorealistic yet abstract« wäre ein Beispiel) und schnell wird klar, dass diese Formel auch aus kulturwissenschaftlichen Diskursen bereits allzu vertraut ist.13 Gleichwohl ist Ambivalenz, mit Berndt und Kammer definiert als »antagonistisch-gleichzeitige Zweiwertigkeit«14, mehr als eine modische Leerformel. Sie kann im Zusammenhang 7
Stiening: Briefroman und Empfindsamkeit, S. 177. Stiening u. Robert Vellusig: Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Perspektiven. In: Dies. (Hrsg.): Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. Berlin 2012, S. 3–18, hier: 7. 9 Ter-Nedden: Der Kino-Effekt, S. 100. 10 Der einzelne Brief im Briefroman ist einerseits »Selbstdarstellung des Schreibers«, andererseits »subjektive Fremdcharakterisierung anderer fiktiver Figuren« (Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung, S. 26). 11 Vgl. ebd., S. 244 f. 12 Der Briefroman scheint mithin »niemandes ›geistiges Eigentum‹ [und] in besonderem Maße verfügbar [zu sein]« (Dimiter Daphinoff: Samuel Richardsons Clarissa. Text, Rezeption und Interpretation. Bern 1986, S. 206). 13 Frauke Berndt u. Stephan Kammer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit. In: Dies. (Hrsg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Würzburg 2009, S. 7–30, hier: 7. Berndt und Kammer beziehen sich auf Peter Richter: Alles, was Quark ist. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (20. 05. 2007), S. 33 u. 36. 14 Berndt u. Kammer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, S. 10. 8 Gideon
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der hier verfolgten Fragestellung insbesondere dann von Bedeutung sein, wenn sie als am literarischen Text zu machender Befund in ein Spannungsverhältnis zum Ringen von Autor und Leserschaft um die jeweilige Deutungshoheit eines von ihnen als kohärent imaginierten Textes gesetzt wird. Ein solcher Konflikt zwischen Autor und Leserschaft entbrannte Mitte des 18. Jahrhunderts um Samuel Richardsons Clarissa, or, The History of a Young Lady. Im Zentrum des Briefromans steht die achtzehnjährige Clarissa Harlowe, Tochter eines ausgesprochenen Patriarchen. Von ihm, aber auch den Geschwistern und der Mutter wird sie unter Druck gesetzt, den wohlhabenden aber abstoßenden Roger Solmes zu heiraten. Die anvisierte Eheschließung soll nicht zuletzt der Sympathie zwischen Clarissa und Robert Lovelace einen Riegel vorschieben: der charmante und gut aussehende, sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzende und als Wüstling geltende Mann ist in der Familie Harlowe nicht gerne gesehen. Erst wenn Clarissa verheiratet ist, so die Annahme der Familie, wird Lovelace seine Werbung aufgeben. Clarissas ausgesprochener Wunsch ist es hingegen, ledig zu bleiben. Mehr um der Ehe mit Solmes zu entgehen als aus eigentlicher Liebe zu Lovelace lässt Clarissa sich von diesem aus dem Elternhaus entführen. Schon bald wird Clarissa das bereuen, denn Lovelace stellt ihr allzu zudringlich nach und vergewaltigt sie schließlich. Clarissa fastet sich zu Tode, Lovelace stirbt an den Folgen eines Duells mit Clarissas Cousin und Vormund Oberst Morden. Erzählt wird diese Handlung in 537 Briefen, geschrieben in der Zeit von Januar bis Dezember eines Jahres. Den Ausgangspunkt bildet der Briefwechsel zwischen Clarissa Harlowe und ihrer Freundin Anna Howe. Die dialogische Struktur wird jedoch schnell zur polylogischen erweitert. Zunächst, indem Clarissa ihren Briefen an Anna Briefwechsel mit ihren Eltern, Geschwistern und weiteren Verwandten beilegt. Dann aber auch, weil der Briefwechsel zwischen Robert Lovelace und dessen Freund John Belford zunehmend Raum einnimmt. Leserinnen und Leser des Romans wissen, dass eine Handlungszusammenfassung wie die oben gegebene den Roman verfehlt. Für Ter-Nedden zeichnet sich Clarissa gar »durch die Aufkündigung der Bindung des narrativen Schreibens an einen wieder- und weitererzählbaren Plot«15 aus. Der 1.500 Seiten umfassende Großtext gestaltet ein recht reduziertes Geschehen aus, die »Diskrepanz zwischen der Simplizität des Plots und des Roman-Umfangs«16 ist mithin augenfällig. Der Romanumfang ergibt sich also nicht aus der etwaigen Komplexität des Plots, sondern aus der Mehrstimmigkeit der Clarissa;17 der Reiz des Romans ist nicht in einer innovativen 15
Ter-Nedden: Der Kino-Effekt des Briefromans, S. 97. Ebd., S. 98. 17 Richardsons Clarissa kann als »erster wirklich ›mehrstimmiger‹ Briefroman« gelten (Mora vetz: Formen der Rezeptionslenkung, S. 6). 16
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histoire zu suchen, sondern in einem so noch nicht dagewesenen discours18 – mithin in einer Form, deren Ambivalenzeffekte Richardson nicht kalkuliert hatte, so dass sie letztlich sowohl ihn selbst als auch seine Leserinnen und Leser gleichsam überforderten. Fragen und Probleme der Interpretation, wie der Roman sie aufwirft, verhandelt auch Clarissa selbst. Das liegt nahe, denn die Figuren des Romans schreiben nicht nur, sondern sie empfangen auch Briefe und begegnen dem Leser daher als Lesende.19 Clarissa beschreibt der Freundin, wie Lovelace ihr Komplimente zu machen pflegt und greift dabei zu einem interessanten Vergleich: As commentators find beauties in an author which the author perhaps was a stranger to, so he sometimes compliments me in high strains of gratitude for favours, and for a consideration, which I never designed him; insomuch that I am frequently under a necessity of explaining away the attributed goodness, which if I showed him, I should have less opinion of myself.20
»Commentators«, Leser, können also in einem Text »beauties«, Qualitäten, erkennen, die dem Autor selbst entgangen sind – und gerade auf eine damit vergleichbare Weise zeigt sich Lovelace gegenüber Clarissa dankbar für Zuwendungen, von denen sie offenbar nichts weiß. Wer Richardsons expliziten Aussagen über Lovelace folgt, der in ihm eine teuflische Figur geschaffen zu haben glaubte, wird Komplimenten dieser Art misstrauen müssen – und dieses Misstrauen im Umkehrschluss auf von Lesern in Texten ausgemachte Qualitäten ausdehnen, von denen der Autor selbst nichts weiß. Installiert wird damit ein starker Autor, dessen Deutungshoheit bezüglich der eigenen Texte wird untermauert. Doch der Text selbst streut einen leisen Zweifel, ist es doch nicht sicher, dass der Autor den von den Lesern ausgemachten Textschönheiten auch wirklich so fremd gegenüber steht, wie behauptet wird: »As commentators find beauties in an author which the author perhaps was a stranger to«, heißt es. Gewissheit, das verrät der Text damit, ist in dieser Frage also nicht zu erlangen. Richardson kämpfte indessen gegen »commentators« der Clarissa, die darin »beauties« ausmachten, von denen er nichts wissen wollte. Die ›Leerstellen‹ des Briefromans, wie man mit Wolfgang Iser sagen könnte, sollte Richardsons impli18
Dabei ist die Unterscheidung von histoire und discours für Clarissa nicht eindeutig zu treffen, insofern die Briefe selbst Teil der histoire sind (vgl. ebd., S. 30). 19 »In a technical sense, of course, everyone in Clarissa is an exegete; everyone is caught up in a world of ›cyphers‹. Clarissa, Lovelace, Anna, Belford and the rest – these characters are present to us first as readers of texts: they exist in that they participate in a vast system of epistolary exchange« (Terry Castle: Clarissa’s Ciphers. Meaning and Disruption in Richardson’s Clarissa. Ithaca/London 1982, S. 19). 20 Samuel Richardson: Clarissa, or, The History of a Young Lady [1748]. London 1985, S. 128.
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ziter Leser zwar füllen – aber eben so, wie vom Autor vorgesehen. Als Autorstrategie funktioniert die Unbestimmtheit des Textes in diesem Fall jedoch nicht:21 Die Leserschaft las Clarissa durchaus anders als der Autor. Richardson wollte Clarissa als Heilige verstanden wissen, als eine Figur, die sich gerade durch die entschiedene Verfolgung einer strikten Moral auszeichnet. Die Anklage durch Clarissas Schwester Arabella »Oh Clary! Clary! Thou wert always a two-faced girl!«22 ist deshalb als vollkommen unzutreffend und als Ausdruck von Arabellas boshaften Unterstellungen gemeint: Richardson will Clarissa gerade nicht als »two-faced girl« verstanden wissen, wer sie – wie die intrigante Schwester – aber so sieht und an ihr Ambivalenzen ausmacht, der befindet sich, so soll wohl suggeriert werden, auf dem moralisch tiefstehenden Niveau Arabellas. Anders der von Richardson intendierte Leser, der Clarissas Tod als Vervollkommnung versteht. »Nicht Psychologie und Empathie fordert Richardson von seinen Lesern ein […], sondern die Rückbesinnung auf eine tradierte kulturelle und religiöse Praxis: die der allegorischen Lektüre«23, so Claudia Liebrand in ihrer einschlägigen Clarissa-Lektüre. Rezipiert wurde der Roman indessen oft anders: Die christlich-allegorische Lektüre wurde von der zeitgenössischen Leserschaft verweigert. »Die Leserinnen«, so Liebrand, »wichen vor der Figur Lovelace nicht wie vor dem Leibhaftigen zurück, sie verliebten sich scharenweise in den charmanten Bösewicht, phantasierten ein happy ending, in dem die Heldin und der durch ihre engelhafte Tugendhaftigkeit geläuterte rake sich in den Armen liegen.«24 Richardson reagierte mit dem Versuch, in Korrespondenzen mit seinen Leserinnen die Folgen der Offenheit seiner Romane zu bekämpfen und die Rezeption zu kontrollieren. Dazu versah er auch die 2. Auflage, die im April 1749 – nur ein halbes Jahr nach der Erstauflage – erschien, neben erläuternden Fußnoten mit einem Index der Briefe,25 der im Vergleich mit den Briefen selbst eine erhebliche Komplexitätsreduktion aufweist.26 Wie sollte es auch anders sein? Im Zusammenhang mit der oben gegebenen Zusammenfassung des Romans ist ja bereits zustimmend Ter-Neddens Einschätzung zitiert worden, dass Richardsons Romane sich gerade »durch die Aufkündigung der Bindung des narrativen Schreibens an einen wiederund weitererzählbaren Plot«27 auszeichnen. Die Zusammenfassungen verfehlen den 21
Vgl. Moravetz’ Ausführungen zu Iser in: Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung, S. 17. Clarissa, S. 195. 23 Claudia Liebrand: Briefromane und ihre ›Lektüreanweisungen‹. Richardsons Clarissa, Goethes Die Leiden des jungen Werthers, Laclos’ Les Liaisons dangereuses. In: arcadia 32 (1997), S. 342–364, hier: 346. 24 Ebd., S. 347. 25 Vgl. William Beatty Warner: Reading Clarissa. The Struggles of Interpretation. New Haven/ London 1979, S. 181. 26 Vgl. dazu ebd., S. 180–189. 27 Ter-Nedden: Der Kino-Effekt des Briefromans, S. 97. 22 Richardson:
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Briefroman denn auch,28 indem sie Clarissas Zuneigung zu Lovelace, wie sie in den Briefen erkennbar wird, unterschlagen. Alle diese Maßnahmen Richardsons belegen, dass er als Leser seines eigenen Romans offenbar eine gewisse Wahrnehmung der enthaltenen Ambivalenzen besaß, die ihm als Autor entgangen waren. Gleichwohl gelingt es ihm nicht, die Rezeption in seinem Sinne zu kontrollieren. So versieht er die dritte Auflage 1751 mit zweihundert Seiten zusätzlichem Text,29 ausgewiesen als »restorations from the original manuscripts«, obwohl es sich, das hat die Forschung nachgewiesen, fast ausschließlich um nachträglich geschriebenes Material handelt.30 Darin lässt Richardson Clarissa darüber reflektieren, wie unglücklich sie in einer Ehe mit Lovelace werden müsste,31 so dass der von der Leserschaft gewünschte Ausgang des Romans diskreditiert wird. Doch auch die Leserschaft hielt ihrerseits mit einiger Zähigkeit an ihrer Version der Clarissa fest. Lady Bradshaigh, die dem Autor ihren Wunsch nach einem Happy End für Clarissa und Lovelace ergebnislos nahegelegt hatte, wurde gar »von der Leserin zur Co-Autorin« und sandte Richardson einen Entwurf für das Romanende zu. Darin »läßt sie die gesundete Clarissa den nach tödlicher Krankheit wiedergenesenen, gänzlich geläuterten Lovelace heiraten«.32 Richardson geht bekanntlich auf den Wunsch der Leserin nicht ein. Wie diese daher unter der Lektüre des letzten Romanteiles leidet, teilt sie ihm wiederum brieflich mit: Had you seen me, I surely should have moved your pity. When alone, in agonies would I lay down the book, take it up again, walk about the room, let fall a flood of tears, wipe my eyes, read again, perhaps not three lines, throw away the book, crying out, excuse me, good Mr. Richardson, I cannot go on; it is your fault – you have done more than I can bear; I threw myself upon my couch to compose, recollecting my promise (which a thousand times I wished had not been made); again I read, again I acted the same part: sometimes agreeably interrupted by my dear man, who was at that time labouring through the sixth volume with a heart capable of impressions equal to my own, tho’ the effects shewn in a more justifiable manner […].33 28 Sie
»radieren die vielen ambiguen Grau-Töne aus, mit denen vor allem Lovelace gezeichnet ist, und ersetzen sie durch eine klare Schwarz(Lovelace)-weiß(Clarissa)-Opposition – […] eine Strategie Richardsons, der Uneindeutigkeit des eigenen Textes zu begegnen, dessen Komplexität auf den einen, den richtigen Sinn zu reduzieren« (Liebrand: Briefromane und ihre ›Lektüreanweisungen‹, S. 350). 29 Vgl. Warner: Reading Clarissa, S. 181. 30 Ebd., S. 197. 31 Vgl. ebd., S. 198. 32 Liebrand: Briefromane und ihre ›Lektüreanweisungen‹, S. 348 f. 33 Der Brief Lady Bradshaighs an Samuel Richardson vom 11. Januar 1748 findet sich im Appendix der von Toni Bowers und John Richetti verantworteten gekürzten Ausgabe: Samuel Richardson: Clarissa. An Abridged Edition. Hrsg. v. Toni Bowers u. John Richetti. London 2011, S. 728–731, hier: 729.
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Und weiter: »After all, I believe you are of a cruel disposition; just now is one of the times I hate you […]«.34 Lady Bradshaighs Brief legt gleichsam Zeugnis ab vom »Kino-Effekt« des Briefromans, die emotional affizierte Leserin sieht sich mit den Romanfiguren auf ein und derselben Gefühlsebene: »I believe I feel just now something of what Lovelace felt at the death of Clarissa.«35 Entsprechend verlangt sie nach einem emotional (und eben nicht moralisch oder religiös) befriedigenden Ausgang des Geschehens und appelliert dabei an Richardsons Gefühle, an sein Mitleid. Gerade auf diese Ebene lässt Richardson sich nicht ein; stattdessen führt er seiner Leserin die Nichtigkeit des von ihr anvisierten happy endings und den ephemeren Charakter damit verbundener Gefühle vor Augen: »And what Madam, is the temporary Happiness we are so fond of?«36 Im kuriosen, aber, wie Lady Bradshaighs Brief zeigt, keinesfalls spielerischen Streit um den von Autor wie Leserschaft jeweils als kohärent imaginierten Roman hat die Literaturwissenschaft, ruft man sie als Zeugin auf, der Leserin Bradshaigh – anders als Richardson glaubt – keine »Fehlrezeption« vorzuwerfen: Im Roman sind »doppelte Lektüreanweisungen«37 zu finden, wie bereits Liebrand argumentiert. So soll der Leser in Lovelace zwar eine teuflische Figur erkennen. Doch ist gerade er es, der in seine Briefe immer wieder Gedichte einstreut (und damit Clarissa gleicht), sich als Feingeist ausweist und der mitunter ernsthaft einen besseren Lebenswandel anzustreben scheint: »Cannot I indeed reform?«38 fragt er den Freund in einem seiner Briefe. Lovelace liebt Clarissa, auch daran lassen seine Briefe (mit der Einschränkung, dass in dergleichen Gefühlsangelegenheiten Gewissheit niemals ganz zu haben ist) kaum Zweifel: »But now I am in-deed in love.«39 All das legt den Leserinnenwunsch nach dem von Richardson verworfenen happy ending mit Hochzeitsglocken durchaus nahe. Ein Wunsch, der nicht zuletzt erotische Implikationen hat: Die sexuelle Spannung, die der Roman aufbaut, entlädt sich in der Vergewaltigung einer bewusstlosen Clarissa schließlich auf äußerst enttäuschende Weise. Einem klugen Zeitgenossen wie Gotthold Ephraim Lessing ist die Ambivalenz des Romans auch in dieser Hinsicht nicht entgangen. Mit Bezug auf Richardson schreibt er in den Paralipomena zur Hamburgischen Dramaturgie: Sehr oft sind das verschämteste Betragen und die unzüchtigsten Gedanken in einer Person. Nur weil sie sich dieser zu sehr bewußt sind, nehmen sie ein desto züchtigeres Äußerliche an. Durch nichts verraten sich dergleichen Leute aber mehr, als dadurch, daß sie sich am meisten durch die groben plumpen Worte, die das Unzüch 34
Ebd., S. 730. Ebd., S. 729. 36 Samuel Richardson: Selected Letters. Hrsg. v. John Carroll. Oxford 1964, S. 91. 37 Liebrand: Briefromane und ihre ›Lektüreanweisungen‹, S. 343. 38 Richardson: Clarissa, S. 143. 39 Ebd., S. 144. 35
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tige gerade zu ausdrücken, beleidiget finden lassen; und weit nachsichtiger gegen die schlüpfrigsten Gedanken, wenn sie nur in feine unanstößige Worte gekleidet sind.40
Während Richardson wie Lady Bradshaigh jeweils nur eines der mindestens zwei Gesichter Clarissas wahrnehmen (wobei Lady Bradshaigh das, was Lessing als unzüchtig kritisiert, als Liebe rezipiert), betont Lessing an Richardsons Romanen jene Ambivalenz, jenes Yet-Setting, das für heutige Leserinnen und Leser einen Reiz des Textes ausmacht. Wenn auch nicht für alle: Ter-Nedden kritisiert Richardsons Briefroman gerade, weil der Text Ambivalenzen aufweist. Er schreibt: Im eminenten Maß korrekturbedürftig an der Clarissa ist die mit Händen zu greifende Unwahrheit der Darstellung, bei der es schwer fällt, nicht von Unaufrichtigkeit zu sprechen. Die Romane [Ter-Nedden denkt hier neben Clarissa auch an Pamela, I. H.] leben von der Faszination durch erotische Themen […]. Und doch bringt es der Autor fertig, eben dies Interesse und diese Faszination, das ihn und seine Leser über so viele tausend Seiten zu fesseln vermag, der Selbstwahrnehmung zu entziehen und als Liebe zu einer Tugend darzustellen, deren vornehmster Inhalt die Abwesenheit von sexuellen Wünschen ist. Der Widerstand gegen die Verführungsund Vergewaltigungsversuche wird zum opus supererogatum einer Moral, die jede Verbindung zur praktischen Vernunft gelöst hat, und deren einzige Gewinner die sexuellen Phantasien des Autors und seiner Leser sind.41
Ter-Neddens Analyse ist einerseits zutreffend, andererseits möchte man Richardsons Briefromane der damit verbundenen Anklage nicht ohne Verteidigung überlassen. Mit Fritz Breithaupt lässt sich argumentieren, dass sich Clarissa als heimlicher Meistertext einer »Kultur der Ausrede« erweist – und damit an die Urszene des Erzählens rührt. »Erzählen«, so Breithaupts These, »heißt Ausreden erfinden«42 und das nicht zuletzt zur Couvrierung verbotener sexueller Interessen.43 Damit aber erweist sich Clarissa erneut als das, was der Roman für seinen Autor gerade nicht sein sollte: ambivalent. Die 1985 bei Penguin Classics erschienene Ausgabe der Clarissa bewirbt den Roman im Klappentext als »richly ambiguous study of a fatally attracted couple«.44 Als heutiger Leser wird man darin unschwer ein Lob des Romans erkennen – Samuel Richardson hingegen wäre angesichts einer solchen Charakterisierung seines Textes vermutlich verzweifelt. Indem der Verlag mit der Ambiguität des Romans wirbt, 40 Gotthold Ephraim Lessing: Paralipomena zur Hamburgischen Dramaturgie. In: Ders.: Werke 1767–1769. Hrsg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 1985, S. 695–713, hier: 709. 41 Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986, S. 19. 42 Fritz Breithaupt: Kultur der Ausrede. Frankfurt a. M. 2012, S. 8. 43 Ebd., S. 12 f. 44 Richardson: Clarissa, Klappentext.
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nimmt er eine Richardson wie seiner damaligen Leserschaft ganz und gar fremde Perspektive ein. Die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts wurden von den soeben erst entdeckten Effekten der Gattung überrascht und überwältigt. So wird anhand der Gattung Briefroman deutlich, dass die Aufklärung hinsichtlich Narration, Perspektive und Ambivalenz von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geprägt ist: die Erzählform ist Autor wie Leserschaft voraus. Wir nachgeborenen Jet-Setter kommen indessen in den Genuss, Richardsons Clarissa als das faszinierend ambivalente »two-faced girl« bewundern zu können, das sie – Arabella weiß es – schon immer (»always«) gewesen ist.
Judith Jansen
Die Stimmen der Sprache Inszeniertes Erzählen in F. G. Klopstocks Grammatischen Gesprächen (1794) 1. (Sprach-)Debatten der Aufklärung Die entstehende bürgerliche Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts scheint vor allem eins zu tun: Sie streitet. Dabei hinterfragt, diskutiert und widerspricht sie in einer Intensität, die das Streiten nicht nur zu einer zentralen Kulturtechnik avancieren lässt, sondern ihre kontroversen Debatten bewegen und prägen die Aufklärung derart, dass jene als »Kristallisationspunkte«1 die vielschichtige Epoche strukturieren. Die von der medialen Entwicklung beförderte Diskussionskultur dient vor allem einem Ziel: Die eigene Kultur zu pflegen und einen Fortschritt gegenüber den gegenwärtigen Verhältnissen zu erreichen. Als besonders probates Mittel der Kulturförderung und außerdem wirksames Instrument der Identitätsbildung identifizieren die Gelehrten und Poeten die deutsche Sprache, die als strittiger Gegenstand kontinuierlich im Fokus der Diskussionen steht. Die Systematik und Form des Deutschen bleiben über das gesamte Jahrhundert hinweg brisante Themen, die Eignung als Wissenschafts- und später als Poesiesprache wird gleichermaßen erprobt, wie ihre Tauglichkeit zur Nationalsprache. Ulrich Ricken spricht aus diesem Grund von einem »Jahrhundert der Sprachdiskussion«2 . So reich die Aufklärung an Debatten über die Sprache ist, so unterschiedlich sind die Formate, in denen sie geführt werden. Gegenstand meiner Analyse ist indes weder eine mehrbändige Grammatik noch ein polemischer Zeitschriftenartikel, sondern eine in der Aufklärung sehr populäre Textform: das Gespräch. Es spiegelt die bürgerliche Kommunikationskultur und findet vielfältige Ausprägungen, an die jeweils verschiedene Funktionen geknüpft sind. Es steht einerseits in der sokratischen Tradition, in der ein Lehrer seinem Schüler Wissen dialogisch vermittelt. Andererseits erklärt sich die Popularität des Gesprächs auch aus seiner genuinen Mehrstimmigkeit und Perspektivenvielfalt. Im Gegensatz zu dogmatischen und systematischen Darstellungen können im Gespräch verschiedene Ansichten ein1 Vgl.
Ursula Goldenbaum: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung. Berlin 2004. 2 Ulrich Ricken u. Patrice Bergheaud: Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution. Berlin 1990, S. 66.
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ander gegenübergestellt, kritische Meinungen geäußert und skeptisch hinterfragt sowie argumentativ überprüft werden.3 Neben inhaltlichen Vorzügen finden auch die ästhetisch ansprechende Form und die lebhafte Darstellung großen Zuspruch. Besonders die Populärwissenschaften und die moralischen Wochenzeitschriften entdecken den Dialog, der philosophische Inhalte anschaulich darstellen lässt, für ihre didaktischen Zwecke. Im Folgenden möchte ich ein von der Forschung bislang kaum beachtetes Gespräch unter dem Aspekt der Wissensgenese erzähltheoretisch analysieren, das sich mit den Lebensregeln der deutschen Sprache auseinandersetzt: Friedrich Gottlieb Klopstocks Grammatische Gespräche (1794). Weil es sich hierbei nicht um eine philosophische Wechselrede oder einen katechisierten Lehrdialog handelt, sondern die Grammatischen Gespräche in der satirischen Dialogtradition Lukians stehen, domi niert die szenische Darstellung den Austausch grammatischer Argumente.4 Das bedeutet jedoch nicht, wie häufig behauptet wird, dass Klopstock den Anspruch der Wissensvermittlung zugunsten der Unterhaltung aufgegeben hätte.5 Denn während es bei Lukian die Vokale sind, die als Richter den Auseinandersetzungen beiwohnen, haben bei Klopstock die seelischen Erkenntnisvermögen den richterlichen Vorsitz inne – und das ist durchaus programmatisch. Sie sind es, die sich im ersten Gespräch auf eine ästhetische und lebhafte Darstellung des Gegenstandes einigen, denn es ist – und das ist der Clou – gerade die literarische Wendung der Debatte, die Wissen über die Sprache schafft. Die Literarisierung der Debatte vollzieht sich deshalb auch nicht unkommentiert, im Gegenteil: Sie wird in den Grammatischen Gesprächen regelrecht in Szene gesetzt. Mit einer erzähltheoretischen Analyse möchte ich daher genau jene narrative Instanz in den Blick nehmen, welche den Rezipienten geradezu auf den Aspekt der Vermittlung stößt und somit die Literatur als einen Ort der Wissensgenese ausstellt.6 3 Vgl.
Thomas Fries u. Klaus Weimar: Art. Dialog 2. In: Klaus Weimar (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3 Bde. Bd. 1. Berlin/New York 2007, S. 354–356; Thomas Fries: Dialog der Aufklärung. Shaftesbury, Rousseau, Solger. Tübingen/Basel 1990; HansGerhard Winter: Dialog und Dialogroman in der Aufklärung. Mit einer Analyse von J.J. Engels Gesprächstheorie. Darmstadt 1974. 4 Sie beziehen sich auf den von Lukian inszenierten Sprachstreit zwischen den Konsonanten Sigma und Tau, die vor das Gericht der Vokale ziehen (Iudicium Vocalium). Auch Gottsched publiziert einen an Lukian angelegten Sprachstreit: Der entschiedene Rechtshandel der doppelten Buchstaben (1762). Er nutzt das Gespräch ausschließlich für didaktische Zwecke. 5 Vgl. Ludwig M. Eichinger u. Claire Lüsebrink: Gespräche über die Sprache. In: Brigitte Schlieben-Lange (Hrsg.): Fachgespräche in Aufklärung und Revolution. Tübingen 1989, S. 197– 240, hier: 216. Vgl. auch Ludwig M. Eichinger: Von der Heldensprache zur Bürgersprache. Wandel der Sprechweisen über Sprache im 18. Jahrhundert. In: Wirkendes Wort 40 (1990), S. 74–94. 6 Ich stütze meine erzähltheoretische Analyse maßgeblich auf Genette. Seine Kategorien auf die Gattung des Gesprächs zu übertragen, ist aufgrund der narrativen Vorrede möglich, in
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Ich nähere mich der narrativen Instanz, indem ich zunächst den Ort des Erzählens lokalisiere und sie als figurale Erzählinstanz sowie in ihren Erzählerfunktionen betrachte. Um Aufschluss über die Mittel zu gewinnen, mit welchen sie die Literatur in das rechte erkenntnistheoretische Licht rückt, analysiere ich anschließend, wie sie erstens in einem Modus- und Stimmwechsel die Literarisierung der Debatte ausdrücklich ausstellt und wie die Vermittlungsinstanz zweitens auch im dramatischen Modus über eine Metalepse sichtbar bleibt.
2. Inszeniertes Erzählen in den Grammatischen Gesprächen Den Grammatischen Gesprächen ist eine Vorrede vorangestellt, die für die literarische Inszenierung der Debatte eine wichtige Rolle spielt. Sie unterteilt den Text nicht nur strukturell, sondern etabliert als episierendes Verfahren auch eine differenzierte Vermittlungsebene. Während im dramatischen Modus der Gespräche die narrative Instanz meist gänzlich getilgt scheint, ermöglicht es der narrative Modus der Vorrede eine extradiegetische Aussageinstanz explizit einzuführen, die dort zudem als figuraler Erzähler der Gespräche in Erscheinung treten kann. Die vorangestellte Kontextualisierung und Reflexion des Erzählten ist umso bedeutungsvoller, als mit dem Übergang von der Vorrede zum Haupttext ein Wechsel in den dramatischen Modus einhergeht, welcher eine Kommentierung des unmittelbar Dargestellten erschwert – aber nicht unmöglich macht. Denn der dramatische Modus verfügt über paratextuelle Angaben, beispielsweise die Sprecherbezeichnungen, die Titel der einzelnen Gespräche sowie die Ausführungen, welche sich in Form von Fußnoten an einigen wenigen Stellen der Gespräche finden. Sie einer Aussageinstanz zuzuweisen und diese als die extradiegetische Erzählerfigur der Vorrede zu identifizieren, ist kein Problem. Denn die Vorrede enthält einerseits paratextuelle Informationen einer autoritativen Instanz, wie etwa eine Auflistung der dramatis personae, andererseits wird hier die Fiktionalität der Gattung thematisiert. Weil die extradiegetische Erzählinstanz der Vorrede darüber hinaus metaleptisch in die Gespräche eingreift, betrachte ich die Vorrede als einen fiktionalisierten Paratext, der bereits Bestandteil des Erzählens ist.7 Inwiefern das Changieren zwischen Fiktionalität und Faktualität der ein extradiegetischer Erzähler die folgenden Gespräche kontextualisiert. Das ohnehin generisch schwer zu bestimmende Gespräch lässt verschiedene Modi zu, im Falle der Grammatischen Gespräche wird der Moduswechsel (narrativ – mimetisch) sogar explizit thematisiert. Vgl. Bernd Häsner: Der Dialog. Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung. In: Klaus W. Hempfer (Hrsg.): Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis. Stuttgart 2004, S. 13–65, hier: 28. 7 Diese Kategorisierung entspricht Häsners Einschätzung von Vorreden, die Gesprächen im Allgemeinen vorangehen. Vgl. Häsner, Bernd: Der Dialog, S. 24.
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Teil der Strategie ist, die Grammatischen Gespräche als Form ästhetischer Wissensgenese vorzuführen, möchte ich nun darstellen. Um wen es sich bei der Aussageinstanz der Vorrede genau handelt, darüber gibt sie selbst Auskunft: Es gehörte schon seit ziemlicher Zeit zu der Aufheiterung meines Alters, daß ich dem, was ich für die Regel unserer Sprache halte, die Bildung gab, welche man in diesen Gesprächen findet. Ganz andere Gegenstände haben mich nachher, mit nicht leiser Stimme, beynahe von allem abgerufen, was mir sonst unterhaltend war; und mich daher auch von jener Leichten, und besonders dadurch angenehmen Beschäftigung entfernt. Auch komme ich jetzo zu ihr nur so weit zurück, daß ich, was unter meinen Papieren liegt, mit der Feder in der Hand, für den Drucker durchblättre.8
In der Vorrede inszeniert sich der figurale Erzähler also in der Rolle des Autors, der sich mit der Feder in der Hand an seinem Schreibtisch sitzend zeigt. Die Vorrede als Ort einer Herausgeberfiktion zu nutzen, ist in der Aufklärung nicht ungewöhnlich. Hier wird jedoch nicht das übliche Narrativ eines in einem Geheimfach gefundenen oder in den Nachlässen eines Advokaten aufgetauchten Manuskripts bemüht, sondern die narrative Instanz betont dezidiert ihre Autorschaft des vor ihr liegenden und fast fertiggestellten Manuskripts. Im Gegensatz zu der üblichen Authentifizierungsfunktion der Herausgeberfiktion steht hier nämlich nicht die Verschleierung der Fiktionalität der Gespräche im Vordergrund. Im Gegenteil: Dass hier die eindeutig als solche zu erkennende Vermittlungsinstanz die Fiktionalität des Textes deutlich in Szene setzt, ist Teil einer anders gelagerten, offensiven Authenti fizierungsstrategie, welche den Gegenstand – die Sprache – durchaus den sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechend darstellen möchte, sich hierfür aber ausdrücklich literarischer Mittel bedient. Um dieser Strategie auf die Schliche zu kommen, muss man sich den imaginären Kontext vergegenwärtigen, den die figurale Erzählinstanz als Autorfiktion – es handelt sich ja um einen fiktionalisierten Paratext – evoziert. »Es gehörte schon seit ziemlicher Zeit zu der Aufheiterung meines Alters, daß ich dem, was ich für die Regel unserer Sprache halte, die Bildung gab […].« Hier oszilliert die Vorrede zwischen fiktionaler und faktualer Wirklichkeit, denn die Bezüge der Autorfiktion zum realen Autor und dem realen Entstehungskontext der Grammatischen Gespräche sind offensichtlich: Klopstock hat sich Zeit seines Lebens nicht nur als Dichter um die Poesiefähigkeit der deutschen Sprache bemüht, sondern auch zahlreiche sprachwissenschaftliche Abhandlungen publiziert. Auch wenn die Vorrede als fiktionalisierter Paratext zwischen realem und fiktivem Kontext changiert, beraubt sich die Autor8 Eine
historisch-kritische Ausgabe der Grammatischen Gespräche steht noch aus. Die Zitat angaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Friedrich Gottlieb Klopstock: Grammatische Gespräche. Altona 1794. Die Vorrede ist nicht paginiert.
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fiktion keineswegs der anerkannten Kompetenz des Sprachgelehrten und Poeten, welche als Kontur des realen Autors unter der Autorfiktion durchscheint und die inhaltlich richtige Darstellung beglaubigt. Darüber hinaus stehen die Grammatischen Gespräche, weil sie aus der Feder eines Dichters stammen – und auch das ist im kontextuellen Wissen eindeutig verankert –, in Opposition zu den deutschen Grammatikautoritäten. Jene degradieren die Rolle der Dichter für die Sprachpflege und bewerten sie als sekundär, weil sie ihnen die sprachwissenschaftliche Kompetenz absprechen. Wenn sich nun aber die narrative Instanz als sprachgelehrter Dichter profiliert, der dem, was er für die »Regel unserer Sprache« hält, »die Bildung gab«, dann stellt er sich erstens mit einem poetischen Selbstbewusstsein diesen Autoritäten entgegen. Zweitens überführt er die sprachwissenschaftliche Fragestellung mit Nachdruck auf literarisches Terrain, um sich mit den Regeln der Sprache auf eine »leichte, und besonders dadurch angenehme« Art und Weise auseinanderzusetzen: »Es ist«, so hält der fiktive Autor in der Vorrede hinsichtlich der Gattung fest, »keine Grammatik […] es sind aber […] Gespräche«.9 Er betont die literarische Aufarbeitung der Grammatik, um zu demonstrieren, wie qua der ästhetischen Darstellung Wissen über Sprache gewonnen werden kann. Auch die seelischen Erkenntnisvermögen thematisieren im ersten Gespräch die Gattungswahl. Es ist die Einbildungskraft, die sich die »unaussprechliche Trockenheit«10 einer systematischen Darstellung verbietet und die Grammatik fortschickt. Schließlich, so argumentiert sie für die Möglichkeiten einer literarischen Darstellungsform, ist die Sprache nichts anderes »als ein Gewebe von feinen Bezeichnungen«11, das als solches erst in den literarischen Grammatischen Gesprächen sichtbar und erfahrbar werden kann. Denn im Gegensatz zu einem wissenschaftlichen Traktat vermag die Sprache in einer literarischen Auseinandersetzung in verschiedenen Personifikationen selbst den Schauplatz der Sprachdebatten zu betreten. Dass sprachtheoretische Debatten ohnehin nur zu den Bedingungen der Sprache selbst geführt werden können, ist dem fiktiven Autor als Dichter natürlich bewusst und durch die paratextuelle Inszenierung stößt er mit der Feder in seiner Hand auch den Leser auf diese Erkenntnis. Er korrigiert so in der entworfenen Schreibszene bestehende Auffassungen der Systematiker und erforscht die Sprache auf literarische Weise, weil nur sie eine angemessene Darstellung verspricht. Wissensgenese und -vermittlung funktioniert hier deshalb weniger dozierend, sondern eher über die Anschaulichkeit der figurgewordenen Sprache, die ihre eigene Struktur in verteilten Rollen selbstreflexiv diskutiert und gleichzeitig performativ ausstellt.
9 Ebd.
10 Ebd., 11
S. 3. Ebd., S. 11.
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Die Authentifizierungsstrategie funktioniert daher quasi paradox: Gerade die von der narrativen Instanz offengelegte Literarisierung der Debatte gefährdet den Wahrheitsgehalt der theoretischen Inhalte nicht, vielmehr gewährleistet die fiktionalisierte Darstellung – und nicht wie sonst die wissenschaftliche Systematik – eine Erkenntnisgenese. Der fiktive Autor stößt den Leser auf die doppelte Inszenierung der beglaubigenden Vermittlungsinstanz einerseits (sprachgelehrter Autor – fiktiver Erzähler) und der performativ veranschaulichenden Vermittlungsform andererseits (Grammatik – Literatur), um die Literatur als Ort der Wissensgenese auszuweisen. Weil die inszenierte Vermittlung Bestandteil der Authentifizierungsstrategie ist, möchte ich nun die Funktion der extradiegetischen Erzählinstanz schärfer konturieren. Genette beschreibt neben der narrativen vier extra-narrative Funktionen.12 Dass die Erzählinstanz eine sogenannte Regiefunktion innehat und die sprach lichen Mittel sowie die innere Organisation der Vermittlung ausstellt, habe ich bereits anhand der Vorrede dargestellt. Darüber hinaus erfüllt der fiktive Autor vor allem eine testimoniale Funktion. Als solche kategorisiert Genette die Beglaubigung des Dargestellten, die hier über die Kompetenz des Sprachgelehrten und Poeten, der sich »ein Leben lang« mit der Sprache auseinandergesetzt hat, hergestellt wird. Eng mit der testimonialen ist die interpretative Funktion13 verbunden, die eine bewertende und kommentierende Erzählinstanz auszeichnet. Dass sie der narrativen Instanz unbedingt zuzuweisen ist, werde ich später am Beispiel einer Metalepse veranschaulichen. Schließlich erfüllt der fiktive Autor auch eine kommunikative Funktion, wenn er beispielsweise in einer indirekten Ansprache des Adressaten bekräftigt, dass die Literarisierung des Gegenstandes nichts an der Ernsthaftigkeit seines Unterfanges ändert. Seine Seriosität bringt er in einem Possessivpronomen zum Ausdruck, mit dem er seinen Adressaten konkretisiert: An zwei Stellen der Vorrede definiert er den Gegenstand der Grammatischen Gespräche als »unsere Sprache«. Dass der fiktive Autor dieselbe Sprache spricht wie der narrative Adressat, ist zunächst wenig verwunderlich. Vor dem Hintergrund der Sprachdebatten ist die Adressierung jedoch emotional aufgeladen und kulturpolitisch konnotiert, schließlich sollen die Gespräche seine Zeitgenossen von den noch immer bezweifelten Vorzügen des Deutschen überzeugen. Durch das Pronomen kreiert er dergestalt eine Gemeinschaft zwischen sich und seinem Leserkreis, aufgrund ihrer gemeinsamen Sprache teilen sie dieselbe Identität. Gleichzeitig versichert der fiktive Autor seine patriotische Gesinnung als eine Motivation des Erzählens. Nachdem die narrative Instanz zunächst aufmerksamkeitsheischend ins Scheinwerferlicht trat, bereitet sie am Ende der Vorrede ihren (vermeintlichen) Rückzug 12 Vgl.
Gérard Genette: Die Erzählung. Hrsg. v. Jochen Vogt. München 1998, S. 166 ff. Aus der ursprünglich ideologischen wird im Neuer Diskurs der Erzählung (Noveau discours du recit 1983) die interpretative Funktion. Vgl. ebd., S. 279. 13
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vor. »Ich gebe, durch die Grammatischen Gespräche, die Eine Stimme, welche ich über unsere Sprache habe, wie ich sie fand, und wie sie, während der Zeit, die ich mit ihr fortlebte, sich veränderte.«14 Mit dem Öffnen des Manuskripts wird demnach nicht nur ein Wechsel des Modus und der Erzählebene eingeläutet, der Moduswechsel wird zugleich illustrativ als Stimmwechsel arrangiert. Auf der Ebene der Gespräche nimmt die Sprache Gestalt an und erhält ihre eigene Stimme, beziehungsweise Stimmen. Nun sind es Personifikationen ihrer selbst, einzelner Nationalsprachen, personifizierte stilistische und grammatische Kategorien sowie auftretende Sprachgelehrte, die in einer vielstimmigen Auseinandersetzung miteinander streiten und um die Struktur und die Form der Sprache ringen. Hierfür haben sich alle in einem »hundertstrassigen«15 und »unermeßlichen Büchersaale«16 versammelt, um nacheinander vor den richtenden Erkenntniskräften aufzutreten und ihren Standpunkt zu verteidigen. Der dramatische Modus schafft die Voraussetzung dafür, die existierenden Diskussionen unmittelbar und aus verschiedenen Perspektiven darzustellen. Dergestalt bilden die Grammatischen Gespräche ein Panorama der aufgeklärten Sprachdiskurse ab, die in einzelnen Dialogen ironisierend aufgegriffen und polemisch debattiert werden. Die Vielstimmigkeit des Arrangements möchte ich an einem Auszug aus dem zweiten Gespräch demonstrieren: Unter der Überschrift der Aussprache streiten hier die Konsonanten und Vokale um ihre Bedeutsamkeit und ihre Bezeichnung. Ausspr. So höret denn endlich einmal auf, Mitlaute, und machet dem Lerme, und dem Geschrey ein Ende, daß man ein Wort in Ruhe mit euch reden kan. Doch ich weis es, warum ihr nicht zu schweigen seid. Ihr könt der Freude über die neuen Namen nicht satt werden, die ihr bekommen habt. Setzt euch, Mitlaute. Es. Wenn du wilst, daß wir es thun sollen, so sprichst du anders mit uns. Du mußt sagen: Setzet euch, Blaselaute, Bebelaute, Stotterer. En. Ich bin der Nennlaut! A. Das ist ein sonderbarer Name. Wir benennen, denke ich, doch wohl alle. En. ich weiß zwar selbst nicht, warum ich so heiße; aber das ist einmal gewiß, daß ich sehr oft in der Sprache vorkomme, und also nicht wenig zu benennen habe, A. nur zu viel En. Der Franzose näselt mich. So zierlich macht es der Deutsche nicht mit mir. A. Er bildet sich ein, daß er das doppelte Aeusserste vermeiden müsse. Töne, welche zu tief aus dem Halse heraufkommen, verrathen ihm Barbarey; und Töne, die man mit Selbstgefallen in die Nase hinauftreibt, überfeine Kultur.17
14
Klopstock: Grammatische Gespräche, Vorrede. Ebd., S. 358. 16 Ebd., S. 357. 17 Ebd., S. 15 f. 15
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Das Gespräch zur Aussprache wimmelt von Bezügen zum aufgeklärten Sprachdiskurs und veranschaulicht beispielhaft, auf welch witzige Weise die Sprache ihn bewertet: An dieser Stelle ironisiert die absurd anmutende Darstellung der Konsonantenbezeichnung – der Sauser und Brauser – die grammatische Terminologie, welche Johann Christoph Adelung in seinem Lehrgebäude der deutschen Sprache (1782) einführt. Darüber hinaus wird das Deutsche – in diesem Fall seine phonetischen Eigenarten – dem Französischen und später auch dem Englischen gegenüber als Kultursprache in Stellung gebracht. Hierfür bemühen die Buchstaben den aufgeklärten Topos der überfeinerten französischen Kultur, die ihren Zenit bereits überschritten hat. Im Wettstreit der Nationalsprachen nutzen viele deutsche Schriftsteller und Sprachgelehrten dieses Argument für die ursprüngliche Stärke des noch minder entwickelten Deutschen. Die Präsenz der narrativen Instanz scheint in diesem unmittelbaren Erzählen fast getilgt zu sein und hinter die Vielstimmigkeit der Gespräche zurückzutreten. Ich möchte allerdings abschließend an einem Beispiel demonstrieren, wie der fiktive Autor mit den strukturellen Möglichkeiten des dramatischen Modus spielt, um sich trotzdem als kommentierende und beglaubigende Instanz in die Verhandlungen einzuschalten. Der ausgewählte Textauszug veranschaulicht eine eher implizite, dafür aber umso spielerischere Stellungnahme der narrativen Instanz durch eine Metalepse. Sie findet sich im vierten Zwischengespräch und illustriert eindrücklich, wie die Möglichkeiten sowohl des narrativen als auch des dramatischen Modus eingesetzt werden, um Wissen über die Sprache anschaulich, unterhaltsam, aber nichtsdestotrotz wahrheitsgemäß zu generieren. In diesem Zwischengespräch treffen die Bildsamkeit und die Ausländerey – also das personifizierte Lehnwort – aufeinander. Weil die Ausländerey unumwunden ihre völlige Unkenntnis der deutschen Sprache bekundet, nutzt die Bildsamkeit die Gelegenheit, um sich über deren Unwissen lustig zu machen und sie mit didaktischer Absicht mit zahlreichen fehlerhaften Vorstellungen von der deutschen Sprache zu täuschen. An einer Stelle der Unterhaltung beschwert sich nun die Ausländerey über ihren Namen. Das Zitat setzt mit der gewohnt hinterlistigen Erwiderung der Bildsamkeit ein. Bildsamkeit. Wenn du Veränderung des Namens beschlossen hast, so rathe ich zur Barbarey, nämlich der ursprünglichen, einfachen, durch keinen Nebenbegrif entweihten Bedeutung, nach welcher dieses Wort bloß Ausdruck von Gedanken bezeichnet, wie sie den Ausländern in den Köpfen herumgehen.
Ausländerey. Barbarey denn, weil dieser Name auch eine so schöne, unverderbliche Bedeutung hat.18
18 Ebd.,
S. 133.
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In der nächsten Wortmeldung wird die Ausländerey nun auf der Ebene der Sprecherbezeichnung als »Barbarey«19 angeführt. Der Eingriff in den Paratext ist offensichtlich eine Reaktion auf die Handlung auf der intradiegetischen Ebene. Die extradiegetische Aussageinstanz des Paratexts, der fiktive Autor, stellt mit dieser Metalepse somit nicht nur die strukturelle Organisation des Erzählens aus, sondern er schaltet sich – mit gezückter Feder – in einer bewertenden Art und Weise in die Auseinandersetzung ein. Mithilfe dieser Metalepse kommentiert er die diskutierte Relevanz des Lehnwortes: Er markiert die ablehnende und puristische Haltung der Bildsamkeit als wahr und verleiht ihr mit seinem symbolischen Gewicht und in seiner testimonialen Funktion Nachdruck. Darüber hinaus wird die Wirkmacht der Sprache performativ vorgeführt: Aus der Ausländerey wird die Barbarey. Somit sind alle weiteren Äußerungen der Barbarey natürlich als absurd markiert. In den Grammatischen Gesprächen wird die Grammatik aus einer neuen Warte – nämlich die der Sprache selbst – und mit fiktionalen Mitteln diskutiert, um qua literarischer Darstellung Wissen über die Sprache zu generieren. Dabei ist es vor allem die narrative Instanz, die durch eine gezielte Inszenierung der Vermittlung die Literatur als einen Ort der Wissensgenese ausstellt. Friedrich Schlegel charakterisiert die dialogische Aufarbeitung der Grammatik sehr treffend: »Klopstock ist ein grammatischer Poet, und ein poetischer Grammatiker.«20 Schließlich verbindet Klopstock in den Grammatischen Gesprächen seine beiden Perspektiven auf die Sprache und leistet sowohl einen literarischen als auch einen sprachwissenschaftlichen Beitrag zum epochenprägenden Sprachdiskurs der Aufklärung.
19
Ebd., S. 134. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Hans Eichner. 35 Bde. Bd. I,2. München u. a. 1967, S. 186. 20 F. F.
Daniel Kazmaier
Der Tempel der queeren Dichtkunst Immanuel Jakob Pyras Lehrgedicht Der Tempel der wahren Dichtkunst queer gelesen 1. Einleitung Der sperrige Titel des Aufsatzes mit seiner Quasi-Verdopplung des Pyraschen Titels ist programmatisch, denn es geht mir im Folgenden um Verdopplungen, die queere Resultate zeitigen. Das Prinzip dieser Verdopplungen besteht darin, dass »zwei Männer […] ihre Freundschaft auf das gemeinsame Begehren nach der Literatur«1 gründen. Immanuel Jakob Pyras Der Tempel der wahren Dichtkunst ist ein frühaufklärerisches poetologisches Lehrgedicht, das er seinem Freund, dem Theologen Samuel Gotthold Lange, widmet. Der Text erscheint zuerst 1737 »als Gratulationsschrift […] zu Langes Installation in der Laublinger Pfarre.«2 In seinem Vorwort zu den Freundschaftlichen Liedern von Pyra und Lange vermutet August Sauer, dass der Text »nicht von vornherein als Gelegenheitsgedicht entworfen wurde«3. Einem Hinweis aus einer anderen Schrift Pyras – nämlich der Fortsetzung des Erweises, daß die G***ianische Sekte den Geschmack verderbe4 – folgend, datiert er den Anfang der Arbeit am Tempel auf das Jahr 1735. In den zwei Jahren bis zum Erscheinen haben sich also der Anlass bzw. die Adresse und auch die erzählerische Anlage des Textes geändert. Daran anschließend stelle ich die Frage wer in Pyras Lehrgedicht Der Tempel der wahren Dichtkunst eigentlich was lehrt? Die Gattung des Lehrgedichts antwortet auf den didaktischen und pädagogischen Impetus der Aufklärung. Alles kann Gegenstand eines Lehrgedichts sein: Geschichte, Philosophie, Ethik, Morallehre, Rechtsprechung, Medizin und auch die Dichtung selbst. Das Lehrgedicht stellt sich als »zutiefst eklektisch«5 dar was seine 1
Andreas Kraß: Queer lesen. Literaturgeschichte und Queer Theory. In: Caroline Rosenthal, Therese Frey Steffen u. Anke Väth (Hrsg.): Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik. Würzburg 2004, S. 233–248, hier: 242. 2 August Sauer: Vorwort. In: Immanuel Jakob Pyra u. Samuel Gotthold Lange: Freundschaftliche Lieder. Heilbronn 1885, S. III–XLVIII, hier: XXX. 3 Ebd., S. XXXI. 4 Immanuel Jakob Pyra: Fortsetzung des Erweises, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe. In: Ders.: Erweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe. Beigebunden ist Fortsetzung des Erweises, dass die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe [1743–1744]. Hildesheim/New York 1974, S. 6. 5 Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974, S. 54.
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Inhalte angeht. Es geht darin um eine Konsolidierung und eine Veranschaulichung des vorhandenen Wissensbestandes. Zwischen 1730 und 1770 hat das Lehrgedicht seine Hochzeit, ein Zeitraum, der von der Dichtungsauffassung Johann Christoph Gottscheds geprägt ist. Dessen Regelpoetik gilt vor allem für das Lehrgedicht, wie Christoph Siegrist festhält.6 Nun war Immanuel Jakob Pyra ein entschiedener Gegner Gottscheds und Anhänger der Zürcher Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Seine Schrift bzw. sein Pamphlet Erweis, daß die G***ianische Sekte den Geschmack verderbe macht Pyras Frontstellung gegenüber Gottsched deutlich. Nichtsdestotrotz schreibt Pyra mit dem Tempel der wahren Dichtkunst ein Lehrgedicht. Er agiert also innerhalb derjenigen Gattungskonventionen und derjenigen dichterischen Parameter, die durch Gottsched vorgegeben sind. In seinem poetologischen Text geht es Pyra darum, eine neue Dichtungskonzeption zu propagieren. Er distanziert sich von einer »sich selbst genügende[n] – selbstreferentielle[n] – Literatur«, die »nicht über sich hinaus denken«7 lässt. Unter dem Schlagwort der ›heiligen Poesie‹ will er die religiöse Dimension in sein literarisches Projekt eingliedern. Es geht in Pyras dichterischer Standortbestimmung darum, das Verhältnis der nachbiblischen heiligen Poesie zur »Poesie der Bibel«8 auszuloten. Sein aufklärerisches Lehrgedicht soll also ein Literaturverständnis vermitteln, das sich der religiösen Tradition verpflichtet weiß und damit religiöses Wissen um Dichtung produziert. Allerdings begibt sich Pyra mit seinem Projekt eines poetologischen Lehrgedichts in eine Ambivalenz hinein, in der der Erzählrahmen und die Erzählrollen oder -inhalte quer zueinander stehen. Denn einerseits steht das Format des Lehrgedichts für die Vermittlung eines feststehenden Wissens, andererseits integriert Pyra mit dem Konzept der heiligen Poesie eine Vorstellung von Heteronomie und damit eben von unsicherem Wissen in dieses Genre. Insofern produziert das Pyrasche Lehrgedicht also schon qua Anlage Ambivalenzen. Ich möchte hier noch einen Schritt weiter gehen. In Pyras Tempel der wahren Dichtkunst gehen im und durch das Erzählen Dichtungsinszenierungen in Begehrensinszenierungen über. Ausgehend von den narrativen Ambivalenzen des Textes eröffne ich eine Lesart von Pyras Lehrgedicht, die die oben beschriebene poetologische Standortbestimmung unterläuft. Die narrativen Ambivalenzen legen Strukturen eines Begehrens frei, das – analog zum Genre Lehrgedicht, wie Pyra es verwendet – quer bzw. queer steht und damit einen Tempel der queeren Dichtkunst erschafft. »Was bei Girard als Extremfall des triangulären Begehrens erscheint – jene 6 Vgl.
ebd.
7 Joachim
Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997, S. 64. 8 Ebd., S. 10. Ebenso Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974, S. 44.
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Konstellation der internen Vermittlung, in welcher nicht der Rivale als Schauplatz des Begehrens nach der Frau figuriert, sondern umgekehrt die Frau als Schauplatz des Begehrens nach dem Rivalen – ist für Sedgwick der Regelfall.«9 Diesen von Sedgwick abgelauschten Regelfall des triangulären Begehrens beobachte ich in Pyras Text nun nicht unter dem Vorzeichen der Rivalität, sondern unter dem der Freundschaft, die das trianguläre Begehren dahingehend entwickelt, dass das »Objekt […] nicht eine Person, sondern ein Abstraktum«10, nämlich die heilige Poesie, ist. Die Queerness des Textes ergibt sich dabei nicht über das Prinzip der Rivalität, über das René Girard und daran anschließend Eve Kosofsky Sedgwick das trianguläre Begehren bzw. das erotische Dreieck bestimmen, sondern über das Prinzip der Ähnlichkeit, das durch das Konzept der Freundschaft vermittelt wird11 – schließlich erscheint der Text in seiner zweiten Auflage in den Freundschaftlichen Liedern Langes und Pyras. Die heilige Poesie wird im Tempel der wahren Dichtkunst als ›Heilige Poesie‹12 personifiziert und damit weiblich gegendert. Auf diese Weise kommt innerhalb des Settings eines triangulären Begehrens »die Frau wieder ins Spiel«13; allerdings als eine abstrakte Position, die sich der Fingierungsleistung des Textes verdankt und dadurch leicht durch die homosoziale empfindsame Freundschaftssemantik besetzt werden kann. Denn das »male homosocial desire«14 wird »oftmals auf einem externen Schauplatz ausgetragen […], nämlich dem der Frau.«15 Die homosoziale empfindsame Sache ist dabei nicht nur am systematischen Schauplatz des triangulären Begehrens bzw. des erotischen Dreiecks, sondern auch am historischen Schauplatz der Aufklärung festzumachen. Für die Goethezeit ist Queerness bzw. Outing bereits präzise beschrieben worden. Ich möchte dieses Outing, das Alice Kuznair als »a constant dialogue that entails a sustained reading of the situation, of how to (re)present oneself«16 versteht, nun auf den historischen Schauplatz der Frühaufklärung vorverlegen. Dabei werde ich zuerst die Figurenkonstellation des Textes klären (2.), dann anhand der Verdopplungen der Erzählrollen die grundlegende narrative Ambivalenz 9
Kraß: Queer lesen, S. 241. Ebd., S. 242. 11 Andreas Kraß argumentiert in eine ähnliche Richtung und dekliniert das Freundschaftsparadigma von Queerness am Beispiel von Montaigne und La Boëtie durch. Vgl. Andreas Kraß: Männerfreundschaft. Bündnis und Begehren in Michel de Montaignes Essay De l’amitié. In: Andreas Kraß u. Alexandra Tischel (Hrsg.): Bündnis und Begehren. Berlin 2002, S. 127–141. 12 Wenn ich das Konzept meine, schreibe ich ›heilige Poesie‹, wenn es um die Personifikation im Tempel der wahren Dichtkunst geht, schreibe ich ›Heilige Poesie‹. 13 Kraß: Queer lesen, S. 242. 14 Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985. 15 Kraß: Queer lesen, S. 239. 16 Alice Kuznair: Introduction. In: Dies. (Hrsg.): Outing Goethe and His Age. Stanford 1996, S. 1–32, hier: 4. 10
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des Textes herausarbeiten (3.) und zuletzt die queere Lesart aus den Szenen und Rollen des Erzählens heraus narratologisch begründen (4.).
2. Figurenkonstellation, verdoppelte Rollen Pyra erzählt im Tempel der wahren Dichtkunst in fünf Gesängen und in einer autodiegetischen Erzählsituation den Aufstieg eines Dichters zusammen mit der Personifikation der ›Heiligen Poesie‹ zu deren Tempel. Die Ausgangssituation des Textes ist folgende: Nachts in einer kleinen Stube singt der Dichter die Psalmen Davids nach. Daraufhin erscheint eine fremde Gestalt, die sich als die Personifikation der Heiligen Poesie herausstellt. Gemeinsam mit ihr verlässt der Dichter seine Stube und macht sich auf einen allegorischen Weg zum Tempel der wahren Dichtkunst. Der erste Gesang beschreibt den Aufstieg zum Reich der Dichtkunst. Im zweiten Gesang, der bereits im Reich der wahren Dichtkunst spielt, treffen der Dichter und die Heilige Poesie auf Samuel Gotthold Lange, der zum Weggefährten des allegorischen Aufstiegs zum Tempel der Dichtkunst wird. Der dritte Gesang beschreibt den Tempelvorhof und stellt die Künste dar. Der vierte Gesang beschreibt zuerst den Tempel und seine vier Flügel als Bauwerk und dann das Innere des Tempels mit den Gattungen, den allegorischen Töchtern der Dichtkunst. Im fünften Gesang verkündet schließlich die Dichtkunst selbst ihre Lehre in einem Lied und weiht Lange zu ihrem Priester. Der Gesang endet mit einer Coda, in der der Dichter Lange direkt anspricht. Fungiert Lange durch eine Apostrophe im Prolog des ersten Gesangs zunächst als Adressat bzw. als Muse der Dichtung, »Du aber hörst mir doch, mein Freund! mein Lange! zu?«17, so wird er im zweiten Gesang selbst Teil der Diegese. Dieses Treffen in der erzählten Welt irritiert August Sauer in seinem Vorwort zutiefst. Er schreibt: »Man weiss nicht, woher er kommt, ob ihn ›des Höchsten Arm‹ hergeführt hat. Es ist dies umso auffälliger, als Pyra langsame Übergänge liebt und meistens sorgfältig motiviert.«18 Diese Irritation macht eine simple Tatsache augenfällig, nämlich dass die Apostrophe, »Du aber hörst mir doch, mein Freund! mein Lange! zu?« (TwD I, 13), als eine grundlegende Erzählsituation zu begreifen ist, die mehrere (Kommunikations)ebenen miteinander verschaltet. Denn Pyra spricht erstens seinen Freund Lange direkt an und verpflichtet ihn so auf die gemeinsame empfind17
Immanuel Jakob Pyra: Der Tempel der wahren Dichtkunst. In: Ders. u. Samuel Gotthold Lange: Freundschaftliche Lieder. Heilbronn 1885, S. 83–119 [im Folgenden: TwD, Gesang in römischen und Vers in arabischen Ziffern], hier: I, 13. 18 Sauer: Vorwort, S. XXXI.
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same Sache der Freundschaftlichen Lieder und zweitens vollzieht er die gemeinsame Sache im Text selbst als Wanderung zum Tempel der wahren Dichtkunst. Die heilige Poesie als Drittes, das den Fluchtpunkt des gemeinsamen empfind samen Bundes darstellt, wird in der erzählten Welt des Textes vom Dichter evoziert, ja herbeigesungen. Sie tritt in dem Augenblick als Personifikation in Erscheinung, in dem der Dichter die Psalmen Davids nachsingt. »Dies [also die Psalmen Davids, Anm. d.Verf.] sang ich nach« (TwD I, 77) ist der rekapitulierende Vers, bevor die Heilige Poesie ihren Auftritt hat. »Voll Ehrfurcht sah ich hier die heilge Poesie« (TwD I, 81), konstatiert der Dichter den Vorgang der Personifikation. Damit erscheint sie als eine zweifache Ableitung: Ableitung von der Autorität des biblischen Psalms auf der Ebene des Aussageinhalts und Ableitung von der Autorität der Stimme des Dichters auf der Ebene des Aussagevorgangs. Aus der Adressatin im Musenanruf des ersten Verses »Den Tempel und dein Reich laß mich, o Königin // Der wahren Poesie, durch deinen Trieb besingen« (TwD I, 1 f.) wird eine Figur des Textes. Der Auftritt der heiligen Poesie als Figur im Text, die im Grunde die Verlängerung des Psalmgesangs ist, antwortet also auf eine grundlegende Anrufung im Prolog des Textes an die Königin der »wahren Poesie« (TwD I, 2). Tritt die Heilige Poesie also als Figur in der erzählten Welt auf, dann geschieht dies analog zum Auftreten Langes im Text. Beide Male wird der bzw. die Adressat/in des Textes zur Figur im Text. Egal wie »sorgfältig motiviert«19 man den Auftritt der Heiligen Poesie gegenüber dem Langes beurteilen mag: Ebenso wie Lange ist die Heilige Poesie zugleich Adressatin des Erzählens und Figur in der Diegese. Diese Rollenverdopplung macht eine klare Trennung der Erzählebenen zunichte, wenn die Instanz der Adressatin erstens figural besetzt wird und zweitens die Figur selbst zur erzählerischen Autorität wird. Diese Autorität wird im fünften Gesang manifest, als die Heilige Poesie das Wort ergreift und innerhalb der Erzählung des Dichters ihre eigene Lehre in einem Lied darstellt. Aufgrund dieser metadiegetischen Struktur – das Lied der Heiligen Poesie ist ein Lehrgedicht im Lehrgedicht bzw. ein Lied im Lied – nehmen nicht nur die Heilige Poesie und Lange eine doppelte Rolle im Text ein, sondern auch der Dichter selbst. Er fungiert in diesem fünften Gesang gleichzeitig als Adressat des Liedes der Heiligen Poesie und als Erzähler dieses Liedes. Denn gerade die Wiedergabe des Liedes bzw. der eigentlichen Lehre der Heiligen Poesie, verdankt sich einer höchst ambivalenten Erzählsituation. Alle drei Protagonisten des Textes sind also gleichzeitig auch Adressaten einer Lehre bzw. einer Ansprache. Diese Verdopplungen stellen die Basis dar für die »Möglichkeit eines Textbegehrens, das in einer unterschwelligen symbolischen Ordnung kodiert und nicht mit jenem Begehren deckungsgleich ist, 19
Ebd., S. XXXI.
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das sich in den Stimmen des Autors, des Erzählers und der Figuren artikuliert.«20 Dass sich ein solches Textbegehren artikuliert, dafür sorgt in Pyras Text eine narra tive Ambivalenz.
3. Narrative Ambivalenz Das Erzählen im Tempel der wahren Dichtkunst ist an die Perspektive des Dichters gebunden, der als Sänger, als Freund und als Gefährte fungiert. Diese Verviel fachung der Rollen überblendet das Begehren des Dichters nach Lange mit dem nach der heiligen Poesie: Im fünften Gesang ist erstens unklar, wer spricht, ob der Gesang als medial realisierte Rede auf das Konto der Heiligen Poesie oder auf das des Dichter geht, und zweitens ist abhängig von dieser Sprechsituation der Status Langes unklar. Ist er weiterhin Teil der diegetischen Welt oder ist er privilegierter Adressat der Anrede? In dieser unklaren Situation bricht sich ein trianguläres Begehren »un désir triangulaire«21 Bahn, dass über die Heilige Poesie bedenkenlos auch den Freund meinen kann, und so ein »erotic triangle[]«22 konstituiert, das zunächst über die Art des Erzählens aufgebaut wird. Am entscheidenden Punkt des Textes, als der Dichter, Lange und die Heilige Poesie am Ziel sind und den Tempel der wahren Dichtkunst erreicht haben, findet ein Erzählabbruch bzw. ein Ebenenwechsel statt. Die bisher vorherrschende Erzählsituation, die an die Wahrnehmung des Dichters als Figur und Erzähler in Personalunion gebunden ist, wird durch eine Extradiegese abgelöst, die die Verbindung von Erzähler und Figur aufkündigt. Denn der Dichter geht nicht mit in den Tempel hinein. Er kann also nicht mehr Teil der Wahrnehmungsgemeinschaft sein, die den Tempel sieht. Die Pforte öfnete nunmehr die goldnen Flügel. Auf einmal ließ sich uns der weite Umfang sehn. Da stand das Heiligthum. Ich blieb voll Scheu am Thore. Ihr aber gingt hinein. Sie wies, mein Lange, dir Ihr gantzes Haus, den Thron und ihre liebsten Töchter. (TwD IV, 139–143)
Im fünften Gesang, dessen Erzählsituation sich hier entscheidet, singt die Heilige Poesie ihr Lied in ihrem Tempel, sodass es der Dichter folglich nicht mitbekommen kann. Dennoch erzählt der Dichter nahtlos weiter, indem er die allegorischen 20
Andreas Kraß: Queer Studies – eine Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Frankfurt a. M. 2003, S. 7–28, hier: 22. 21 René Girard: Mensonge romantique et vérité romanesque. Paris 1961, S. 11–57. 22 Sedgwick: Between Men, S. 21 f.
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Töchter der Heiligen Poesie (die Dichtungsgattungen) räumlich im Tempel verortet. »Hier« (TwD IV, 144 u. 157), dann »Zur Seiten an der Wand« (ebd., 154), »Dort« (ebd., 156) und »Gleich über« (ebd., 158). Der Dichter weiß also sehr genau Bescheid. Genau wie der erste beginnt auch der fünfte Gesang mit einer Apostrophe an die Dichtkunst. Die Apostrophe »Nunmehr erzähle mir, du grosse Dichterin!« (TwD V, 1) ruft ein vergangenes Geschehen auf, denn die Heilige Poesie soll erzählen, was der Dichter »damals gehört« (TwD V, 3) hat, um es in eine Geschichte zu überführen. Die zeitliche Differenz zwischen dem (vermeintlichen) Hören und dem Erzählen wird eingeebnet, denn der Dichter wiederholt das Lied der Heiligen Poesie. Ja stimme mir zugleich mit deiner eignen Hand Mein irdisch Säyten=Spiel, so ich mit Lorbern kröne, Daß ich dein hohes Lied mit einem edlen Ton, Der dessen würdig sey, den Menschen wiederhole. Sprich, wer erschien zuerst? (TwD V, 5–9)
Der Dichter führt dabei die Apostrophe an die Heilige Poesie fort, nur um im Halbvers, nach der Frage, von der Anrufung in die Narration zu wechseln. Sowohl strukturell, in der Analogie zum ersten Gesang, als auch motivisch, im Bild des Saitenspiels, nimmt der Anfang des fünften Gesangs den ersten Gesang wieder auf, der den Dichter als Nachahmer Davids ausweist. Nur wird hier vom inhaltlichen Aspekt auf den sinnlich-klanglichen Aspekt umgestellt. Es geht jetzt nicht mehr darum den Inhalt korrekt wiederzugeben, sondern »dein hohes Lied mit einem edlen Ton [Herv. d. Verf.]« darzustellen, ja nachzusingen. Mit der medialen Wendung hin zum Akustischen holt der Dichter im fünften Gesang nacherzählend ein, was er im ersten Gesang nachsingend gestartet hat und wechselt dadurch auf die extradiegetische Ebene. Der Ableitung der Heiligen Poesie als Personifikation aus dem Psalmgesang, entspricht das Wiederholen des Gesangs der Heiligen Poesie, durch die Nacherzählung des Dichters. Die Nacherzählung bringt damit im Modus des Singens aus sich selbst heraus heilige Poesie hervor. Denn obwohl der Dichter, wie ein neuzeitlicher Mose im vierten Gesang vor dem Tempel stehen bleibt, kann er das Lied der Heiligen Poesie wiedergeben. Derjenige Dichter, der den fünften Gesang erzählt, ist als Erzähl instanz nicht mehr an eine figürliche Erzählperspektive und deren Wahrnehmung gebunden und kann deshalb die Wahrheit der heiligen Poesie selbst aussprechen.
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4. Queere Resultate Nichtsdestoweniger scheinen unter der heterodiegetisch-extradiegetischen Erzähl instanz die Vorstellung und das Begehren eines Dichters (Pyra) durch, der als Figur mit interner Fokalisierung greifbar bleibt. Durch diese Ambivalenz, die Extra diegese und Autodiegese verschaltet, konstituiert der Text die heilige Poesie als den Schauplatz eines triangulären Begehrens, das Pyras Dichter, »über das gemeinsame Begehren nach der Literatur«23, auf seinen Freund (Lange) richtet. Die Einkleidung Langes durch die Heilige Poesie als ihr Priester und der Akt der Personifikation der Heiligen Poesie selbst sind Allegorien dieses Begehrens. Über diese tropische Struktur sind Pyra und Lange gerade durch die Heilige Poesie miteinander verbunden. Diese beiden Verbindungen etablieren und verschleiern gleichzeitig das grundlegende Begehren, das den gesamten Text durchzieht: nämlich das zwischen Pyra und Lange. Die Coda des Textes nun bringt dieses trianguläre Begehren in einer idyllischen Gartenszene zur Anschauung. In dieser Coda imaginiert der Dichter eine idyllische Freundschaftsszene, mit seinem Freund Lange und dessen Frau Doris in einem Garten. So fahre weiter fort, laß deine Laute nicht, Da du die Bibel nimmst, verstimmt und staubig liegen; Nein sondern, wenn dein Fuß den Lehrerstuhl verläßt; So steig mit deinem Spiel auf deines Gartens Hügel, Wo deine Doris sich denn zu dir setzen wird, Und, so wie ich manchmal, in deine Seiten singen. (TwD V, 145–150)
Diese finale Apostrophe spricht Lange wieder die Position des Adressaten zu, aber der Dichter spricht hier zum ersten Mal auf eigene Rechnung. Er erzählt nicht vom Auftreten der Heiligen Poesie im Studierzimmer, nicht vom allegorischen Aufstieg zum Tempel der Dichtkunst und auch nicht das Lied mit der Lehre der Heiligen Dichtkunst nach. Die Coda ist also keine Aufforderung zum Wiedererzählen, sondern zum Weitererzählen. Sie setzt den fünften Gesang des Textes fort und bringt ihn zu Ende, aber die Heilige Poesie spielt dort längst keine Rolle mehr. Sie wird mit der Priesterweihe Langes aus dem Text verabschiedet. Aber dergestalt auf den Kammerton der heiligen Poesie gestimmt, und das heißt für meine These, auf Linie mit einer Dichtungskonzeption gebracht, kann hier ein Begehren durchscheinen, dass mehr als nur ein Freundschaftliches Lied ist. Die 23 Kraß:
Queer lesen, S. 242.
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Trias Dichter, Heilige Poesie und Lange wird in der idyllischen Schlussszene zuerst zur Trias Dichter, »deine Doris« (TwD V, 149) und Lange verschoben. In einem zweiten Schritt wird dann die dritte Figur eliminiert. Als Katalysator des Begehrens hat sie ihre Funktion erfüllt. So wie die Heilige Poesie Lange zu ihren Priester weiht und so wie der Dichter sich ihre Stimme einverleibt, so nimmt er auch die Stelle von Doris ein, die »sich denn zu dir setzen wird, // Und, so wie ich manchmal, in deine Seiten singe[]« (TwD V, 149 f.). Der Austausch der Personen an Langes Seite erfolgt unproblematisch weiterhin im Modus des Singens, in dem der ganze Text gehalten ist. In einer minimalen Klangverschiebung wird aus dem Singen, zu dem der Dichter Lange auffordert, ein Sinken. Mit dieser Volte verschiebt sich das Begehren rückwärtig auch von dem Anspruch »dem Höchsten [zu] spielen« (TwD V, 151) auf den Freund. Die idyllische Coda lässt diese Begehrensstruktur sichtbar werden und macht den gemeinsamen Aufstieg zum Tempel der wahren Dichtkunst, der in der Einkleidung und Priesterweihe Langes gipfelt, als eine Deckerzählung einsichtig. Die abschließende rhetorische Frage »Was wünscht ein Dichter mehr?« (TwD V, 152) beantwortet der Dichter dann schließlich mit einem dreifachen »hier« (TwD V, 154, 155 u. 157), das auf den »Garten« als die idyllische Szenerie und denjenigen Ort verweist, an dem ein Begehren realisierbar ist, das mehr als nur homosozial ist. Deshalb endet der Text auch mit einem letzten »Hier« (TwD V, 157), das selbst den eigenen Tod in den Modus des Singens einberechnet. »Hier sollte endlich mich des Lebens blasser Feind // Mit seinem kalten Arm im Singen noch umschliessen« (TwD V, 157 f.). Das erotische Dreieck kann nun endgültig auf eine figürliche Besetzung der dritten Position verzichten und allein im Modus des Singens bestehen. Die Aufforderung Pyras an Lange weiter zu singen, auch wenn er nun »die Bibel« (TwD V, 146) nimmt, verweist natürlich auch auf den Charakter des Textes als Gratulationsschrift »zu Langes Installation in der Laublinger Pfarre.«24 Damit hatte August Sauer in seinem Vorwort zu den Freundschaftlichen Liedern überhaupt die Einfügung Langes in den Text begründet. Die Umarbeitung des Textes zur Gratulationsschrift für Lange wird nun als Artikulation eines Begehrens lesbar, das für Sauer ein Ärgernis darstellt. »[D]er ganz persönliche Schluss, der auf die Änderung von Langes Stellung Bezug nimmt und ein schönes Denkmal von Pyras Genügsamkeit und Bescheidenheit ist«25, ist für ihn Stein des Anstoßes, denn so verrinnt der mächtige Strom der Begeisterung und Verzückung armselig im Sande. Der Leser hofft, dass der fromme Dichter, den die heilige Poesie aus seinem Schlaf24 Sauer: 25 Ebd.,
Vorwort, S. XXX . S. XXXII.
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gemache entführt, nun auch selber den Schleier aus ihrer Hand empfangen werde, und ist enttäuscht, als er ihn nur den Platz des Zuschauers einnehmen sieht. Pyra wollte in Form einer Allegorie eine ars poetica dichten; er ändert in der Mitte den Plan und macht ein Gratulationsgedicht daraus. Das künstlerische Ebenmass des Gebäudes ist dadurch zerstört, der Eindruck des Ganzen ist dadurch geschwächt worden; der Freund hat über den Dichter den Sieg davon getragen.26
Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung Sauers bekommen die Einfügung Langes in den Text wie auch die Aufforderung weiter zu singen allerdings eine konsequente, auf den Fluchtpunkt des Begehrens gerichtete, und keine bloß akzidentelle Motivierung. Ars poetica und Begehren können eben nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern gehören in den Freundschaftlichen Liedern untrennbar zusammen. Insofern liefert das ambivalente Erzählen ein Beispiel, bei dem gerade Erzählabbrüche und scheinbare Unmotiviertheiten der Dichtkunst einen queeren Tempel erschaffen.
26 Ebd.
Christopher Meid
Erzählte Aufklärung Reflexionen über den politischen Roman zwischen Sinold von Schütz und Wieland 1. Der politische Roman als Aufklärungserzählung In Christoph Martin Wielands Roman Der goldne Spiegel tauschen sich Figuren der Rahmenhandlung über den Fiktionalitätsstatus der Binnenerzählung aus. Dabei geht es auch um das Verhältnis zwischen erfundenen Welten und der durch didaktische Gattungen angestrebten Wirkung. Schah Gebal, der zu erziehende Fürst, identifiziert sich mit den positiven Eigenschaften des Musterherrschers Tifan, dessen positive Eigenschaften er (zumindest zeitweise) als Antrieb für eigenes Handeln auffasst: Wißt Ihr Danischmend«, sagte der Sultan, »daß mir Euer Tifan zu gefallen anfängt? Es ist wahr, man merkt je länger mehr, daß er nur der phantasierte Held eines politischen Romans ist. Aber, beim Bart des Propheten! man kann sich nicht erwehren zu wünschen, daß man dreißig Jahre jünger sein möchte, um eine so schöne Phantasie wahr zu machen!1
Wenn nun innerhalb eines politischen Romans dessen Protagonisten der Gattung bestimmte Merkmale zuschreiben und generell über den Zusammenhang zwischen Lektüre und Handeln reflektieren, so ist dies zwar ein extremes Beispiel textueller Selbstreferentialität,2 der Gegenstand selbst überrascht aber nicht: Der politische Roman wird bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts intensiv theoretisch diskutiert und legitimiert. Diese produktiven kritischen Auseinandersetzungen mit einer wesentlichen Form des Aufklärungsromans finden sich primär in Vorreden und Rezensionen; oftmals herrscht ein geradezu dialogisches Verhältnis zwischen den poetologischen Selbstverortungen der Autoren und den literaturkritischen Kommentaren zu den betreffenden Werken.
1
Christoph Martin Wieland: Der Goldne Spiegel und andere politische Dichtungen. Hrsg. v. Herbert Jaumann. München 1979, S. 236. 2 Vgl. Ernst Weber: Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts. Zu Theorie und Praxis von »Roman«, »Historie« und pragmatischem Roman. Stuttgart u. a. 1974; narratologisch fundierter bei Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen 1997.
Reflexionen über den politischen Roman zwischen von Schütz und Wieland
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Die ergiebige und vielstimmige zeitgenössische Diskussion um eine Gattung, die im eigentlichen Sinn von Aufklärung erzählt, steht im Zentrum dieses Beitrags.3 Dabei geht es nicht darum, eine kohärente Theorie zu synthetisieren; vielmehr sollen die Quellen selbst zu Wort kommen, um so ›literaturtheoretische‹ Entwicklungen des 18. Jahrhunderts zu konturieren. * Politik stellt in der Romanproduktion des 18. Jahrhunderts ein bevorzugtes Thema dar. Der bereits von Zeitgenossen so bezeichnete ›politische Roman‹ ist privilegierter Ort dieses Wissens.4 Er nimmt in der Literatur der Aufklärung eine bedeutende Rolle ein – nicht zuletzt deshalb, weil (zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte) das Thema des Staates zur Nobilitierung der Gattung beitragen konnte.5 Vor allem in der Nachfolge von Fénelons Aventures de Télémaque (1699), 6 aber auch unter Rückgriff auf ältere Traditionen wie Xenophons Kyrupädie (4. Jh. v. Chr.)7 steht zumeist die Erziehung des Fürsten zu einem idealen Herrscher sowie dann dessen vorbildliche Herrschaftsausübung im Mittelpunkt. Entscheidend ist in jedem Fall die moralphilosophische Fundierung von politischem Handeln: So unterstreicht Philipp Balthasar Sinold von Schütz in der Vorrede seiner 1733 publizierten Über3 Vgl.
meine Vorüberlegungen: Christopher Meid: Zur Theorie des politischen Romans im 18. Jahrhundert. In: Recherches Germaniques 44 (2014), S. 11–31. 4 Vgl. den Sammelband Michael Bies, Michael Gamper u. Ingrid Kleeberg (Hrsg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen 2013; für die notwendige Historisierung vgl. Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968. 5 Vgl. zur Terminologie Philip Ajouri: Probleme der Empirisierung einer Gattung. Zum Erwartungshorizont und der sozialen Funktion des politischen Romans im 18. Jahrhundert. In: Philip Ajouri, Katja Mellmann u. Christoph Rauen (Hrsg.): Empirie in der Literaturwissenschaft. Paderborn 2013, S. 283–305; einen Überblick bei Hans-Jürgen Schings: Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Handbuch des deutschen Romans. Düsseldorf 1983, S. 151–169. 6 Vgl. Henk Hillenaar (Hrsg.): Nouvel état present des travaux sur Fénelon. Amsterdam/ Atlanta 2000; Robert Granderoute: Le roman pédagogique de Fénelon à Rousseau. 2 Bde. Bern 1983; Volker Kapp: Télémaque de Fénelon. La signification d’une œuvre littéraire à la fin du siècle classique. Tübingen 1982; Wolfgang Bensiek: Die ästhetisch-literarischen Schriften Fénelons und ihr Einfluß in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Tübingen 1972; Johannes Kraus u. Joseph Calvet (Hrsg.): Fénelon. Persönlichkeit und Werk. Festschrift zur 300. Wiederkehr seines Geburtstages. Baden-Baden 1953; Albert Chérel: Fénelon au XVIIIe siècle en France (1715–1820). Son prestige – son influence. Paris 1917. Vgl. auch Christoph SchmittMaaß, Stefanie Stockhorst u. Doohwan Ahn (Hrsg.): Fénelon in the Enlightenment. Traditions, Adaptations, and Variations. Amsterdam/New York 2014. 7 Vgl. zur Xenophon-Rezeption die Studie von Julius Müller-Goldingen: Untersuchungen zu Xenophons »Kyrupädie«. Stuttgart/Leipzig 1995; zur Rezeption der Kyrupädie Doohwan Ahn: The Politics of Royal Education. Xenophon’s Education of Cyrus in Early Eighteenth-Century Europe. In: The Leadership Quarterly 19 (2008), S. 439–452.
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Aspekte · 7. Sektion · Christopher Meid
setzung von Fénelons Télémaque, »eine der vornehmsten Eigenschafften dieses hochzuschätzenden Helden-Gedichtes bestehe[ ] darinnen, daß dessen Verfasser die vollkommenste Staats-Kunst mit dem herlichsten Begriff der Tugenden vereiniget« habe.8 Es geht also textintern in doppelter Hinsicht um Aufklärungsprozesse: Zum einen um die Bildung des Musterherrschers, zum anderen um die systematische Verbesserung des Staates im Einklang mit Maximen der Aufklärung. Die Texte erzählen mithin von Fortschritten in allen Bereichen: Von der Aufklärung des Volkes, von der Durchsetzung von Recht und Institutionen, von wirtschaftlichem und kulturellem Aufschwung, von Kolonisierung, schließlich auch von dem Sieg der Diplomatie über bellizistische Tendenzen. Darüber hinaus ist der politische Roman eine Erzählung mit dem Ziel, den Rezipienten aufzuklären, zu belehren und zu bessern und über die Adressierung an politisch Handelnde positiv auf die Entwicklung des Gemeinwesens einzuwirken. Diese pragmatische Funktion findet sich stereotyp in Paratexten von Produzentenwie von Rezipientenseite und ist (völlig unabhängig von der kaum zu beantwortenden Frage nach tatsächlichen Auswirkungen) als konstitutiv für diese didaktische Gattung ernst zu nehmen.9
8 [Philipp
Balthasar Sinold von Schütz]: Vorbericht. In: Die Seltsamen Begebenheiten Des Telemach / In einem auf die wahre Sitten- und Staats-Lehre gegründeten, angenehmen und sinnreichen Helden-Gedichte / durch Francois de Salignac de la Motte Fenelon abgefast, mit nöthigen Anmerckungen erläutert, und ins Teutsche übersetzt von Ludwig Ernst von Faramond [Philipp Balthasar Sinold von Schütz]. Mit 25. Kupffern und einer Land-Charte gezieret. Frankfurt/ Leipzig 1733, n. pag. 9 Symptomatisch hierfür ist die Selbstanzeige von Wielands Goldnem Spiegel, die am 4. Juni 1772 in der Erfurtischen gelehrten Zeitung erschien: »Da das Buch vornämlich dreierlei Gattungen von Lesern finden wird, so ist in Absicht ihrer auch ein dreifacher Wunsch zu tun. Der Prinzenmentor lerne daraus die wichtigen Kapitel der Staatskunst vom Ursprung der Reiche, vom Luxus, von der Tyrannei, von der Religion, von der öffentlichen Erziehung, von der Gesetzgebung usf., deren er keines übergangen finden wird (außer daß sich in den Betrachtungen über die Religion einige Lücken finden), aus allgemeinen Spekulationen in allgemeine Wahrheiten verwandeln, und spiegle sich an Danischmendens Beispiele! Der gemeine Leser, der seine Hoffnung, ein Märchen von der gewöhnlichen Art zu finden, getäuscht sieht, schreibe seine Langeweile auf seinen Mangel an Patriotismus. Eine Anwendung auf sein eigen Vaterland sollte ihn nicht kalt lassen. Sollte endlich ein Schach auf die Gedanken kommen, es zu seiner Lektüre vor der Mittagsruhe zu machen, und dankbar die rührenden Stellen bezeichnen, wo ihm die Gedanken in Schlaf übergingen […], so möchten wir den etwanigen Entschließungen, die es in ihm erweckte, eine etwas längere Dauer oder schnellere Vollziehung wünschen, als die von Schah-Gebal gehabt haben sollen. Mehr traurig als vergnügt werden alle drei Klassen von Lesern von dieser Lektüre zurückkommen über die Schwierigkeiten der Regierungskunst, und über die schaudernden Folgen, welche die Fehler in derselben über das Geschlecht der Sterblichen verbreiten« (zit. nach Wieland: Der Goldne Spiegel und andere politische Dichtungen, S. 734–735).
Reflexionen über den politischen Roman zwischen von Schütz und Wieland
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2. Der politische Roman als Universalroman (Sinold von Schütz, Loen) Fénelons Télémaque und seine Imitationen wie Andrew Michael Ramsays Les voyages de Cyrus (1727) und Jean Terrassons Séthos (1731) werden in Deutschland unmittelbar nach ihrem Erscheinen rezipiert: Der produktiven Aneignung dieser Muster, die mit Johann Michael von Loens Der Redliche Mann am Hofe (1740) einsetzt, geht eine theoretische Diskussion über den neuartigen Romantypus voraus. Während August Bohse (Talander) in der Leservorrede zu seiner Übersetzung von Fénelons Roman lediglich auf dessen nützlichen Inhalt verweist – er habe den Télémaque »wegen der Vortrefflichkeit der guten Maximen / so in dem gantzen Wercke zu finden / auf Ansuchen kluger und gelehrter Leute in das Teutsche« übersetzt10 –, nutzt Philipp Balthasar Sinold von Schütz den »Vorbericht« zu seiner erstmals 1733 erschienenen deutschen Fassung des Textes dazu, sich grundsätzlich mit den Eigenheiten von Fénelons Erzählen auseinanderzusetzen.11 Dabei vermengt er Andrew Michael Ramsays überaus einflussreiche Télémaque-Deutung mit pietistischem Gedankengut.12 Für Sinold ist Fénelons Text in mehrfacher Hinsicht bedeutend: Zunächst als Roman der Erziehung sowohl des Protagonisten als auch des Lesers, dann als moderne Überbietung des antiken Epos und schließlich als anthropologisches und politisches Wissenskompendium.13 Sinold nobilitiert seinen Gegenstand, indem er dessen Verwandtschaft mit antiken Mustern hervorhebt.14 So sei Fénelon den antiken Epikern Homer und Vergil zumindest gleichwertig, wenn nicht gar überlegen.15 10 Staats-Roman
/ Welcher unter der denckwürdigen Lebens-Beschreibung TELEMACHI Königl. Printzens aus Ithaca, und Sohn des Ulyssis vorstellet / Wie Die Königl. und Fürstl. Printzen Zur Staats-Kunst-u. Sitten-Lehre anzuführen / Durch FR ANCISCUM DE SALIGNAC DE LA MOTHE-FENELON, Ertz-Bischoffen zu Cambray, In Frantzösischer Sprache beschrieben/ und aus derselben ins Teutsche übersetzet durch Talandern [1700]. Breslau 1715, n. pag. Vorrede »An den Leser«, datiert auf den 24. April 1700. Bohses Übersetzung beruht auf einem unvollständigen französischen Text und wurde sowohl deswegen als auch wegen eines sich wandelnden Stilideals obsolet, sobald neuere Übersetzungen vorlagen. 11 Vgl. Schütz: Vorbericht, n. pag. 12 Vgl. [Andrew Michael Ramsay]: Discours de la poésie epique, et de l’excellence du poème de Télémaque. In: François de Salignac de la Motte Fénelon: Les avantures de Télémaque fils d’Ulysse […]. Première edition conforme au manuscrit original. 2 Bde. Bd. 1. Paris 1717, S. VI– LVIII. 13 Sinold von Schütz ist dabei selbstverständlich von der französischen Diskussion beeinflusst, insbesondere von Ramsay, dessen Fénelon-Biographie er ausdrücklich erwähnt. Vgl. Schütz: Vorbericht, n. pag. 14 Die Gleichsetzung des Romans mit dem Epos ist eine wesentliche Tendenz der Romandiskussion des 18. Jahrhunderts. Vgl. etwa: Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen. In: Critische Versuche ausgefertiget durch Einige Mitglieder der Deutschen Gesellschaft in Greifswald. 15 Bde. Bd. 2. Greifswald 1744, S. 21–51, hier: 25: »Man irret daher nicht, wenn man ein in ungebundener Schreibart verfertigtes Heldengedichte so beschreibet, daß es der vollkommenste Roman sey.« 15 Vgl. Schütz: Vorbericht, n. pag. Der Autor erklärt, »daß er [Fénelon, Anm. d. Verf.] diesel-
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Auch wenn Fénelons Roman zur Fürstenerziehung konzipiert worden sei,16 enthalte er darüber hinaus allgemein anwendbare wichtige Lehren. Nicht »nur ein Fürste, sondern auch ein jeder Mensch« könne daraus Nutzen für seine moralische Entwicklung ziehen.17 Sinolds Verständnis des individuellen Bildungsgangs ist deutlich von pietistischen Konzeptionen geprägt: Die Rede von der verderbten Natur, die zur Verbesserung strebe, hat ihre Wurzeln in diesem Diskurs.18 So interpretiert Sinold auch die Erziehungsgeschichte des Prinzen von Ithaka in einer Weise, dass sie auf jeden Leser anwendbar wird; zugleich erscheint der Protben [Homer und Vergil, Anm. d.Verf.] in dieser Art der Poesie entweder übertroffen habe, oder ihnen doch zum wenigsten vollkömmlich zu vergleichen sey.« Vgl. Ramsay: Discours de la poésie epique, S. IX. 16 Vgl. ebd.: »Unterdessen hatte er [Fénelon, Anm. d.Verf.], obgedachter masen, mit dieser Arbeit nichts anders gesuchet, als seinem Königlichen Untergebenen gleichsam spielend und zu einem erlaubten Zeitvertreib vorzustellen, wie sich ein Printz nach seiner äusserlichen und innerlichen Beschaffenheit verhalten müsse, wenn er zur künfftigen Regierung seines Königreichs oder Landes tüchtig werden wolle: Denn weil ihn die blose Geburt eben so wenig, als alle andere Menschen hierzu fähig machen könne; so müsse sein Gemüthe zu einem dermasen wichtigen Amte zuvor vermittelst sorgfältiger Auferziehung und Verbesserung seiner verderbten Natur bereitet werden.« 17 Ebd. 18 In diesem Kontext ist auch Sinolds Beharren auf Fénelons realistischer Figurenzeichnung zu sehen. Vgl. ebd.: »Die meisten Poeten der sogenanten Romans oder Helden- und LiebesGedichte legen ihren Helden und Heldinnen insgemein eine mehr als menschliche Tugend und Vollkommenheit bey. Ihre Helden verrichten unglaubliche Thaten der Tapferkeit, und müssen sie unter einer entsetzlichen Menge gewaffneter Feinde allemahl den Sieg verwunderbarer Weise darvon getragen haben. […] Von solchen abgeschmackten und lächerlichen Erzehlungen findet man in gegenwärtigem Helden-Gedichte nicht das allermindeste; dahingegen zeiget sich in demselben eine wunderbare Vermischung der Tugenden und der menschlichen Leidenschafften, wodurch zu erkennen gegeben wird, wie nicht nur ein Fürste, sondern auch ein jeder Mensch mit tapferem und standhafftem Muthe nach der Tugend streben, seine angebohrne und verderbte Natur aber zugleich in Demuth erkennen, und sich mit gäntzlicher Verleugnung seiner schädlichen EigenLiebe auf seine eigene Kräffte des Gemüthes auf keinerley Weise verlassen, sondern in einem stetswährenden Kampfe wider seine angebohrne Unart begriffen seyn sollte.« – Diese pietistische Tönung überrascht nicht, hatte doch derselbe Autor wenige Jahre vor seiner Fénelon-Übersetzung eine religiös akzentuierte Insel-Utopie vorgelegt, die wesentlich als Umsetzung pietistischen Gedankenguts zu verstehen ist, vgl. [Philipp Balthasar Sinold von Schütz]: Die glückseeligste Insul auf der gantzen Welt, oder Das Land der Zufriedenheit, Dessen Regierungs-Art/ Beschaffenheit/ Fruchtbarkeit/ Sitten derer Einwohner, Religion, Kirchen-Verfassung und dergleichen, Samt der Gelegenheit, wie solches Land entdeckt worden, ausführlich erzehlet wird. Von Ludwig Ernst von Faramund [1728]. Frankfurt a. M. 1970. Die erste Auflage erschien 1723 unter dem Pseudonym Constatin von Wahrenberg. Vgl. Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 1981, S. 185–304, bes. 190: »Im engeren Sinn ist er der Hallischen Richtung des Pietismus zuzuordnen. Der Schriftsteller Sinold wirkte als Propagandist der pietistischen Lehren in verschiedenen Sparten, als Übersetzer, als Verfasser von religiösen Erbauungsschriften und Kirchenliedern und als politischer Satiriker.« Allerdings ist die Übersetzung selbst eines Romans wie Fénelons Télémaque für Pietisten durchaus anstößig, vgl. ebd., S. 191 f.
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agonist vor allem als bedürftiger Mensch, nicht als vollkommener Heros. Die Mentor-Figur wiederum verdeutliche, so Sinold, die Hilfsbedürftigkeit jedes Menschen: »[V]ornehmlich aber hat er [Fénelon, Anm. d.Verf.] dadurch anzeigen wollen / daß der Mensch in seiner natürlichen Unvollkommenheit ohne die Göttliche Weisheit nichts fruchtbarliches und gedeyliches vollbringen könne, sondern immer aus einem Irrthum in den andern gerathen müsse.«19 Dieser Fokus auf der conditio humana bestimmt auch Sinolds Wahrnehmung des politischen Gehalts des Textes. Es gehe im Roman primär um Friedensstiftung und um gegenseitigen Respekt der Völker voreinander.20 Daneben sei der Télé maque auch ein wichtiges Kompendium der Staatsgelehrtheit: Politisch Handelnde könnten zu allen Bereichen wertvolle Informationen finden.21 Der Roman ist somit zugleich Wissensspeicher und moralischer Ratgeber: In der Darstellung einer exemplarischen Erziehungsgeschichte kann der Rezipient seiner eigenen Bedürftigkeit gewahr werden und zugleich Trost aus der Vorstellung schöpfen, dass jedem Individuum in Gestalt der Vorsehung ein Mentor zur Seite stehe. Sinold von Schütz deutet in seinem Vorbericht bereits etliche Aspekte an, die für die weitere produktive Rezeption des Télémaque im deutschsprachigen Raum wichtig sind. Auch Johann Michael von Loen strebt danach, den politischen Roman für größere Leserschichten jenseits der höfischen Sphäre interessant zu machen.22 In der Vorrede zu seinem Roman Der Redliche Mann am Hofe; Oder die Begebenheiten des Grafens von Rivera. In einer auf den Zustand der heutigen Welt gerichteten Lehr- und Staats-Geschichte (1740) und in der als Reaktion auf die kritischen Anmerkungen von Christian Erhardt entstandenen Abhandlung Die vertheidigte Sitten-Lehre durch Exempeln (1741) entwickelt er eine Romankonzeption, die versucht, die am Epos orientierte Form der französischen politischen Romane mit dem galanten Roman und Formen des niederen Romans in Einklang zu bringen. Konsequenz ist eine bewusste Gattungsmischung. Loen gesteht seinen Kritikern zu, dass er »bald einem weisen Fenelon in seinem Telemach, bald einem lustigen Scarron in seinem Roman comique gefolget sey.«23 19
Sinold von Schütz: Vorbericht, n. pag. ebd.: »Er [Fénelon, Anm. d.Verf.] beweiset mit unumstößlichen Gründen, daß die gantze Welt nichts anders als eine allgemeine Republic, und daß in derselben ein jedes Volck ein grosses Geschlecht oder Haus-Wesen sey.« 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. den Forschungsüberblick von Christiane Büchel: Johann Michael von Loen im Wandel der Zeiten. Eine kleine Forschungsgeschichte. In: Das achtzehnte Jahrhundert 16 (1992), S. 13–37; neuerdings auch Mechthild Greven Schalit: Pädagogische Provinzen. Johann Michael von Loens Der redliche Mann am Hofe und Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. Göttingen 2012. 23 Johann Michael von Loen: Die vertheidigte Sitten-Lehre durch Exempeln. In: Ders.: Des 20 Vgl.
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Das verrät eine pragmatische Orientierung an der Romanpraxis der Zeit: Bereits in Ziglers im 18. Jahrhundert ungemein populärer Asiatischer Banise (1689) wird die heroische Haupthandlung durch die komische Figur des Scandor ergänzt;24 im galanten Roman schließlich setzt sich diese Tendenz fort.25 Loen möchte die unterschiedlichen Traditionen so aufnehmen und variieren, dass sie einer aufklärerischdidaktischen Poetik Genüge tun und zugleich die Erwartungen des Lesepublikums erfüllen. Die besondere Leistung von Loens Romanpoetik liegt somit darin, dass sie die in der Praxis der Zeit weitverbreiteten Gattungsmischungen theoretisch erfasst und moraldidaktisch funktionalisiert. Loen reiht seinen Roman in eine lange Traditionslinie ein; dies dient sowohl der Legitimation als auch der Abgrenzung. Er verweist zunächst auf klassische Autoren wie Homer und Sophokles, die allesamt eine moraldidaktische Absicht verfolgt hätten.26 Unter den Modernen nehme Fénelon eine entsprechende Rolle ein; Loen beruft sich ausdrücklich auf ihn und erklärt, durch das Beispiel des Télémaque »die Art [s]eines Buchs gerechtfertiget zu haben«.27 Allerdings trennt ihn ein entscheidender Unterschied von Fénelon: Loen versteht seinen Roman als »eine Schilderey der heutigen Welt nach dem Leben gezeichnet.«28 Entsprechend heißt es in dem Vorbericht zu dem Redlichen Mann am Hofe, dieser Text sei in gleicher Absicht, als die Begebenheiten des Telemachs, des Cyrus und des Sethos geschrieben; ob sie gleich in der Art des Vortrags so weit davon abgehen, als die jetzige Welt von der alten unterschieden ist. Der Verfasser beschreibet hier die Menschen, wie sie heut zu Tage sind, und wie er selbsten hat Gelegenheit gehabt, sie kennen zu lernen.29 Herrn von Loen gesammlete kleine Schrifften. Hrsg. v. J. C. Schneidern. 4 Bde. 3. Bd. Frankfurt/ Leipzig 1751, S. 387–400, hier: 396. 24 Vgl. zu Ziglers Roman Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Bd. 1. Tübingen 1988, S. 25–73; vgl. zur Rezeption des Romans Dieter Martin u. Karin Vorderstemann (Hrsg.): Die europäische Banise. Rezeption und Übersetzung eines barocken Bestsellers. Berlin/New York 2013. 25 Vgl. zur Gattungsmischung im galanten Roman Herbert Singer: Der galante Roman. Stuttgart 1961, S. 54–55. 26 Vgl. Loen: Die vertheidigte Sitten-Lehre, S. 389: »Hercules, Theseus, Achilles, Ulysses, Agamemnon, Aeneas und alle die Helden des Trojanischen Kriegs sind als blose Romanen-Helden zu betrachten; ob sie gleich an sich wircklich waren, sie haben aber darzu dienen müssen, die schönste Gedichte auszuschmücken, um der Nachwelt reitzende Beyspiele der Tugend und der Tapfferkeit aufzustellen.« 27 Ebd., S. 390. 28 Ebd., S. 391. 29 [Johann Michael von Loen]: Der Redliche Mann am Hofe; Oder die Begebenheiten Des Grafens von Rivera. In einer auf den heutigen Zustand der Welt gerichteten Lehr- und StaatsGeschichte. Vorgestellet von Dem Herrn von *** [1742]. Stuttgart 1966, Vorrede, n. pag.
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Loen führt die französischen Modelle an, mit denen er die didaktische Intention teilt – die Ausführung allerdings unterscheide sich grundlegend. Für Loen ist die »Art des Vortrags« entscheidend: Implizit unterstellt er Fénelon, Ramsay und Terrasson, sie verminderten durch die Ansiedlung der Handlung in fernen Zeiten und fremden Ländern die angestrebte didaktische Wirkung. Denn anders als die französischen Autoren geht Loen von einem fundamentalen Unterschied der »jetzige[n] Welt von der alten« aus. Eine wirksame Belehrung sei nur dann möglich, wenn die dargestellten Ereignisse in direkter Verbindung zur Lebenswirklichkeit ständen. Dies wiederum setze einen informierten, weltgewandten Autor voraus, der aus gründlicher Kenntnis der Zusammenhänge eine breit angelegte Handlung disponieren könne. Auch wenn diese nicht mehr nur in der höfischen Sphäre angesiedelt sei, besitze der Hof nach wie vor eine zentrale Rolle: »Er [der Verfasser, Anm. d. Verf.] hat den Hof, als die gröste Schule der Welt, zu seinem vornehmsten Schauplatz gemacht; andere Stände und Lebens-Arten aber gleichsam als Zwischen-Spiele mit eingeführet; damit ein jeder Leser etwas finden mögte, das er sich zueignen könte.«30 Mit dieser Argumentation löst sich Loen von der Fixierung auf den zu erziehenden Fürsten. Nun steht der Erzieher, »den die göttliche Vorsehung dazu bestimmet hatte, den Hof den Staat und die Menschen zu verbessern«,31 im Mittelpunkt. Gerade die Darstellung »andere[r] Stände und Lebens-Arten« ermögliche es, so Loen, jedem Rezipienten, nützliche Lehren für das eigene Leben aus dem Text abzuleiten. Trotz dieser Erweiterung richtet die Vorrede den Fokus auf die politische Thematik: Das Verhältnis ist das einer Haupthandlung zu einem Zwischenspiel. Nach wie vor ist der Hof »die gröste Schule der Welt«,32 andere Schauplätze haben aber ebenso eine Berechtigung. Mithin geht es nicht mehr nur um eine politische Erziehung des Rezipienten, sondern um die Offenlegung und Verdammung des überall anzutreffenden Lasters. Auch die in niedrigeren sozialen Milieus angesiedelten Passagen besitzen eine klar zu fassende didaktische Funktion, die auf die Wirkungsabsicht des satirischen Romans verweist. Diese im Vergleich zum Fénelonschen Fürstenspiegel erweiterte Wirkungsintention hat auch ästhetische Konsequenzen. Loens Stil changiert bewusst zwischen »Ernsthafftigkeit« und »Munterkeit«.33 Diese unterhaltenden Elemente gewinnen ihre Existenzberechtigung aus wirkungsästhetischen Überlegungen. Seine Absicht sei es gewesen, sich »nach dem Geschmack solcher Leute zu richten, die nur zum 30 Ebd.
31 Loen:
Die vertheidigte Sitten-Lehre, S. 398. ist kaum nötig zu erwähnen, dass der Hof durchaus kritisch gesehen wird. Vgl. zu den Traditionen der literarischen Hofkritik die Studie von Helmuth Kiesel: »Bei Hof, bei Höll«. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979, zu Loen bes. S. 199–207. 33 Loen: Der Redliche Mann am Hofe, Vorrede, n. pag. 32 Es
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blossen Zeitvertreib lesen, und denen auf eine andere Art keine Wahrheit nicht wohl beyzubringen ist.«34 Loen zieht also aus seiner didaktischen Konzeption konkrete Folgerungen, die sich auf Anlage und Stil seines Romans auswirken. Loen versteht seinen Roman als Abbild gesellschaftlicher Totalität.35 Diese Totalität ist Mittel zum Zweck, um die didaktische Intention zu verstärken. Trotz dieser Öffnung liegt der Fokus bei Loen weiterhin auf dem Hof – dort gelten aber dieselben moralphilosophisch fundierten Verhaltensregen wie überall.36 Auf wie wenig Verständnis Loen mit seiner avancierten Konzeption stieß, bezeugen zwei Rezensionen seines Romans. Der Rezensent der Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen liest den Redlichen Mann vor dem Hintergrund galanter Schlüsselromane und beklagt, dass die Anspielungen ohne einen beigegebenen Schlüssel nicht verständlich seien: Man will sagen, dieses Buch habe in der Wahrheit einiger neueren Geschichte Grund. Ist dem also, so werden diejenigen nur davon gerühret werden, denen sie bekannt ist. Andere denen der Schlüssel fehlet, sehen das Buch mit eben den Augen an, als so viele romanhafte Schriften, womit man uns belästiget, und zählen es unter die mittelmässigen.37 Er folgt damit einer Deutungstradition, die auch für den Télémaque einschlägig ist und das Gewicht auf die Identifikation realer Ereignisse legt und dabei vom lite rarischen Gehalt völlig absieht. Die Franckfurtische Gelehrte Zeitungen wiederum nehmen die Form des Textes sehr wohl zur Kenntnis – stoßen sich aber daran, weil die Vielstimmigkeit und das vermeintliche Übergewicht der Nebenhandlungen die löbliche Grundtendenz des Werkes eher verdunkle.38
34 Ebd. 35 Vgl.
Loen: Die vertheidigte Sitten-Lehre, S. 397: Er habe »den Zustand und die Sitten der heutigen Welt abschildern« wollen und »auf das Gantze« abgezielt; vgl. hierzu Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973, S. 185. 36 Vgl. Ajouri: Probleme der Empirisierung einer Gattung, S. 293: Loen habe ein Werk verfasst, »dessen didaktischer Nutzen zwar an Fénelons Prinzip der Prinzenerziehung angelehnt [sei], das zugleich aber durch den dargestellten Erfolg einer tugendethischen und religiösen Fundierung allen Handelns über den Bereich der großen Politik hinaus« ziele. 37 Rezension von: Loen: Der Redliche Mann am Hofe. In: Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen auf das Jahr MDCCXL , 72. Stück, S. 632. Vgl. zur Schlüsselliteratur die Studie von Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Beispiel der Schlüsselliteratur. Tübingen 2004; vgl. auch die materialreiche Übersicht bei Georg Schneider: Die Schlüsselliteratur. 3 Bde. Stuttgart 1951–1953. 38 Vgl. Rezension von: Loen: Der Redliche Mann am Hofe. In: Franckfurtische Gelehrte Zeitungen 5 (Nr. XLIV, 31. 05. 1740), S. 249 f.
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3. Historische Wahrheit (Justi) Dass sich die politischen Romane der folgenden Jahrzehnte primär an den Erzählverfahren von Fénelon und seinen Nachahmern orientieren und Loen nahezu folgenlos bleibt,39 mag mit ähnlichen Einwänden zusammenhängen. Es scheint aber auch plausibel, den zunehmenden englischen Einfluss für eine zunehmende Ausdifferenzierung und Funktionsbestimmung unterschiedlicher Romangenres verantwortlich zu machen. Spätestens seit der produktiven Rezeption der englischen Briefromane Samuel Richardsons steht ein allgemein akzeptiertes Modell zur moralisch akzentuierten Thematisierung von Innerlichkeit zur Verfügung, so dass es nahe liegt, den Roman in der Nachfolge Fénelons einseitig auf die Darstellung des Staatswesens festzulegen. Symptomatisch für diese Rückkehr zum ›hohen‹ Romangenre sind die Romane von Johann Heinrich Gottlob von Justi, Albrecht von Haller und Christoph Martin Wieland. Justi sagt in seiner Vorrede zu dem 1759/60 in zwei Bänden erschienen Roman Die Wirkungen und Folgen sowohl der wahren, als der falschen Staatskunst in der Geschichte des Psammitichus Königes von Egypten wenig über den eigentlichen politischen Gehalt des Textes, den er offenbar für selbstverständlich hält (und der durch den Titel ausreichend beschrieben ist), und setzt sich stattdessen grundsätzlich mit dem Verhältnis von Historie und Dichtung auseinander. In diesem Zusammenhang wendet sich Justi auch gegen die kanonischen poli tischen Romane, die sich allesamt zu weit »von der Wahrheit der Geschichte« entfernten,40 insbesondere gegen Terrassons Séthos. Das ist insofern aufschlussreich, als Terrasson in seiner Vorrede die Position vertritt, Fiktion sei zuweilen der Faktentreue überlegen, eben weil sie deutlichere Orientierung geben könne als die Geschichtsschreibung.41 39
Einen entgegengesetzten Weg schlägt Christoph Heinrich Korn in seiner Fortsetzung von Loens Roman ein. Er verzichtet auf den staatstheoretischen Gehalt und orientiert sich in seiner Moraldidaxe vielmehr am empfindsamen Roman. Vgl. [Christoph Heinrich Korn]: Die tugendhafte und redliche Frau am Hofe in der Geschichte der Henriette von Rivera. Frankfurt/Leipzig 1770; vgl. auch Barbara Potthast: Die verdrängte Krise. Studien zum »inferioren« deutschen Roman zwischen 1750 und 1770. Hamburg 1997, S. 124–127. 40 Vgl. [Johann Heinrich Gottlob von Justi]: Die Wirkungen und Folgen sowohl der wahren, als der falschen Staatskunst in der Geschichte des Psammitichus Königes von Egypten. 2 Bde. Bd. 1. Frankfurt/Leipzig 1759, Vorrede, n. pag.: »Sie [die Autoren guter Romane, Anm. d. Verf.] werden sich nicht einmal von der Wahrheit der Geschichte so weit entfernen, als Xenophon in der Cyropedie, die Verfasser des Telemachs, der Reisen und der Ruhe des Cyrus, und andre dergleichen berühmte Schriftsteller gethan haben. Am allerwenigsten aber werden sie sich so viel erlauben, als der Verfasser des Sethos sich unterfangen hat, der seinen Helden solchergestalt vorstellet, daß er nicht die geringste Aehnlichkeit mit dem wahren Könige Sethos von Egypten hat.« 41 Vgl. [Jean Terrasson]: Abriß der wahren Helden-Tugend / oder Lebens-Geschichte des
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Justi strebt einen neuen Typus von Erzählung an, der eigentlich nicht »Roman« heißen solle.42 Diese Ablehnung des Begriffs mag mit tradierten Vorurteilen gegen die Gattung zusammenhängen; darüber hinaus artikuliert sich in seiner Vorrede ein genereller Vorbehalt gegenüber dichterischer Fiktion, der außerhalb des religiö sen Diskurses kaum seinesgleichen findet. Für Justi ist die historische Wahrheit das entscheidende Kriterium für einen guten Roman,43 eben weil die moraldidaktische Wirkung eines Romans stärker ausfalle, wenn sich der Leser sicher sein könne, dass die dargestellten Ereignisse eine historische Entsprechung besäßen. Darüber hinaus führt Justi auch einen produktionsästhetischen Aspekt an: Die Historie sei ohnehin ein unerschöpfliches Reservoir von literarisch verwertbaren Exempeln. Da die »wahre Geschichte […] voll von ausserordentlichen und erhabenen Thaten, von großen und bewundernswürdigen Tugenden, von vollkommenen Verdiensten und SETHOS, Königes in Egypten, aus Geheimen Urkunden des alten Egypten-Landes gezogen, und nach der Frantzösischen Uebersetzung Eines Griechischen Originals verteutschet von C. G. W. 3 Bde. 1. Bd. Hamburg 1732, n. pag.: »Vorrede des sich so nennenden Frantzösischen Uebersetzers«: »Sie [die Historie, Anm. d.Verf.] ist vermittelst der Erkenntnüß, so sie von denen Menschlichen Neigungen und vorgefassten Meinungen giebet, eine derer grössesten Quellen von der wahren Weltweisheit; Durch die Erfahrung von allen Zeiten her, die sie in einen eintzigen Menschen legen kan, ist sie der allersicherste Führer in der Staats-Kunst; Endlich halten sie einige wegen der beständig zusammenhängenden Exempel, die sie vom Guten und Bösen darreichet, für einen starcken Grund der Sittenlehre. [Zeilenumbruch] Was aber diese letzte Eigenschafft anbetrifft, so wird man nach meinem Erachten bey genauer Untersuchung die Historie bey weitem schwächer als die Erdichtung befinden, massen diese allein die Weise eines klugen Scribentens, als nehmlich in der gesuchten Sitten-Verbesserung, anwendet, da hingegen die Historie an sich selbst bloß ein unordentlicher Hauffen von Umständen und Zufällen ist, welche die Fürsehung immer zu verborgenen Ausgängen leitet, und ob zwar die Göttliche Weisheit und Gerechtigkeit nach ihrem Geheimnüß-vollen Absichten alles wunderlich eingerichtet hat, so ist doch die Folge menschlicher Handlungen dem äusserlichen Ansehen nach gar offters nichts mehr als eine Folge mißgelungener Unternehmungen oder ungestraft gebliebener Uebelthaten. Das Schauspiel von demjenigen, was sich in der Welt zugetragen hat, ist, nach der Schärffe genommen, nicht anders beschaffen als das Schauspiel desjenigen, was auf einem öffentlichen Schauplatze fürgehet: Keines von diesen beyden Schauspielen ist Moralisch als nach denen Betrachtungen des Zuschauers oder des Erzehlers: Mit einem Worte, die Historie ist an und für sich selbst vielmehr nur ein Vorwurff als eine Lehre.« Der Dichter könne frei verfahren, um vorbildliche Charaktere zu erschaffen, aus denen der Leser mehr lernen könne, als durch historisch getreu gezeichnete Figuren. Ähnliche Positionen finden sich auch in der deutschsprachigen Barockliteratur, vgl. dazu Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 15. 42 Vgl. Justi: Psammitichus. Bd. 1, Vorrede, n. pag.: »Ich habe schon längst gewünschet, daß wir keine andern Romanen haben möchten, als die nach solchen Grundsätzen und Regeln geschrieben wären, die man aber alsdenn nicht Romanen nennen könnte, sondern die eine ganz andre Benennung verdienen würden. […] Allein, ich habe endlich davor gehalten, daß die Eröffnung meiner Gedanken über diesen Gegenstand nicht so viel Wirkung haben würde, als wenn ich zugleich ein Beyspiel eines solchen Buches gäbe.« 43 Für Justi kommen nur solche Romane überhaupt in Betracht, die »indem sie den Leser vergnügen, auch zugleich denselben unterrichten, und seine Seele mit edlen Bildern erfüllen« (ebd.).
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Eigenschaften, von edlen und rührenden Bildern, von schönen Empfindungen« ebenso wie »von allen nur möglichen Lastern, Bosheiten, Unordnungen und Ausschweifungen« sei,44 finde man für jedes Vorhaben dort einen geeigneten Gegenstand. Somit sei es unnötig und zudem ein untrügliches Zeichen von Faulheit und Unbildung eines Autors, wenn dieser seinen Stoff frei erfinde: Nur die Unwissenheit in der Geschichtskunde, oder die Furcht vor der Arbeit, die Geschichtschreiber nachzuschlagen, und mit einander zu vergleichen, kann also die Romanschreiber bewegen, daß sie die Handlungen und Begebenheiten, die sie vorstellen wollen, selbst erdichten; und dieser Fehler der Romanen scheinet mir größer zu seyn, als alles, was viele Theologen und Moralisten darwider zu erinnern haben.45
Wenn Justi die Geschichte als Anhäufung von nützlichen Beispielen betrachtet, so ist er darin überkommenen Vorstellungen verpflichtet. Allerdings ignoriert er die für die Tradition fundamentale aristotelische Trennung zwischen Dichter und His toriker und nimmt damit eine eklatante Außenseiterposition ein.46 Sie steht quer zu den Entwicklungen der aufgeklärten Romanpoetik; auch Gottsched, dem Justi in vielerlei Hinsicht verpflichtet ist,47 spricht im Romankapitel der vierten Auflage seiner Critischen Dichtkunst (1751) ausdrücklich von der Wahrscheinlichkeit, die der Autor beachten müsse. Diese meint jedoch selbstverständlich nicht die extreme Faktentreue, wie sie Justi anvisiert. Auch bei Gottsched dient der historische Stoff der Didaxe, allerdings gesteht er dem Poeten mehr Freiheit zu.48 Korrektur und Überbietung des Fénelon’schen Modells unter Rekurs auf Arbeitsweisen des Historikers – dieses in der Praxis schwer durchzuführende Programm verweist trotz aller Idiosynkrasien auch auf virulente Diskussionen um den Nutzen politischer Fiktion überhaupt. Es geht Justi mithin auch um eine Rettung der Gattung, die sich zunehmend dem Vorwurf des Utopischen ausgesetzt sieht. Gegen diese Kritik setzt Justi forcierte Faktentreue. Dabei kann er an ältere Überlegungen anknüpfen. Eine teilweise Abkehr vom Fénelon’schen Modell findet sich bereits an prominenter, wenngleich versteckter 44 Ebd. 45 Ebd. 46
Vgl. Ajouri: Probleme der Empirisierung einer Gattung, S. 293. Vgl. auch die vernichtende Rezension von Thomas Abbt. In: Briefe, die neueste Litteratur betreffend XII (1762), S. 255–284 [196.–198. Brief]. 47 Es scheint schlechterdings unwahrscheinlich, dass der literarisch versierte Justi die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit nicht gekannt haben soll. Vgl. Ajouri: Probleme der Empirisierung einer Gattung, S. 293. Vielmehr liegt seiner Konzeption eine bewusste Entscheidung zugrunde. 48 Vgl. hingegen Beatrice Rösch-Wanner: J. H. G. von Justi als Literat. Frankfurt a. M. 1993, S. 136: »Jusits [!] Forderung nach getreuer Wiedergabe der historischen Ereignisse stimmt also mit entsprechenden Äußerungen Gottscheds überein.«
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Stelle: Die Rede ist von Friedrichs Anti-Machiavel – einem der Referenztexte Justis. Der Text lobt zwar im siebten Kapitel Fénelons Prosaepos: Die Lektüre des Télémaque mache, so Friedrich II., den Leser gar den Engeln gleich;49 im Anhang der gängigen Ausgaben findet sich aber eine Voltaire zugeschriebene Rezension, die Fénelons Roman einer knappen, aber wirkungsvollen Generalkritik unterzieht und zugleich implizit Kriterien für einen überlegenen politischen Romantypus liefert. Wie wörtliche Zitate mit Seitenangaben belegen, benutzte Justi eine der deutschen Übersetzungen, die den entsprechenden Anhang enthalten.50 Eine Kenntnis der Rezension kann also vorausgesetzt werden. Dort mustert der Verfasser die politische Abhandlung vor dem Hintergrund der politischen Romane der Jahre um und nach 1700: L’auteur d’un roman, intitulé Séthos, a dit que si le bonheur du monde pouvait naître d’un livre, il naîtrait du Télémaque. Qu’il nous soit permis de dire qu’à cet égard l’Anti-Machiavel l’emporte peut-être beaucoup sur le Télémaque même. L’un est principalement fait pour les jeunes gens, l’autre pour des hommes. Le roman aimable et moral de Télémaque est un tissu d’aventures incroyables, et l’Anti-Machiavel est plein d’exemples réels, tirées de l’histoire. Le roman inspire une vertu presque idéale, des principes de gouvernements faits pour les temps fabuleux, qu’on nomme héroïques. Il veut, par exemple, qu’on divise les citoyens en sept classes: il donne à chaque classe un vêtement distintif, il bannit entièrement le luxe, qui est pourtant l’âme d’un grand Etat, et le principe du commerce. L’Anti-Machiavel inspire une vertu d’usage, ses principes sont applicables à tous les gouvernements de l’Europe. 49 Vgl.
[Friedrich II.]: Anti-Machiavel. Edition critique par Werner Bahner et Helga Bergmann. Oxford 1996, S. 147 (Kap. VII): »Comparez le Prince de Fénelon avec celui de Machiavel, vous verrez dans l’un la bonté, de l’équité, toutes les vertus. Il semble que ce soit une de ces intelligences pures, dont on dit que la sagesse est préposée pour veiller au gouvernement du monde; vous verrez dans l’autre la scélératesse, la perfidie, et tous les crimes. [Zeilenumbruch] Il semble que notre nature se rapproche de celle des anges, en lisant le Télémaque de Fénelon; il paraît qu’elle s’approche des démons de l’enfer lorsqu’on lit le Prince de Machiavel.« 50 Vgl. [Friedrich II.]: Anti-Machiavel, oder Versuch einer Critik über Nic. Machiavels Regierungskunst eines Fürsten. Nach des Herrn von Voltaire Ausgabe ins Deutsche übersetzet; wobey aber die verschiedenen Lesarten und Abweichungen der ersten Haagischen, und aller andern Auflagen, angefüget worden. Frankfurt/Leipzig 1745; seitenidentisch auch Hannover/ Leipzig 1756. In beiden Ausgaben folgt auf Machiavellis Text und Friedrichs Widerlegung in neuer Paginierung: Historie des Anti-Machiavels. Nebst denen darüber gefällten Urtheilen, dort auf S. 26–35 die Rezension aus der Nouvelle Bibliothèque vom November 1740. Justi zitiert in seinen theoretischen Schriften ausführlich mit Seitenangabe aus dem Anti-Machiavel, so dass eine eindeutige Zuordnung der von ihm benutzten Ausgabe möglich ist. Vgl. Johann Heinrich Gottlob von Justi: Der Grundriß einer Guten Regierung in Fünf Büchern. Frankfurt/Leipzig 1759, S. 243; vgl. auch Johann Heinrich Gottlob von Justi: Die Natur und das Wesen der Staaten, als die Grundwissenschaft der Staatskunst, der Policey, und aller Regierungswissenschaften, desgleichen als die Quelle aller Gesetze. Berlin/Stettin/Leipzig 1760, S. 152, § 87, zit. nach [Friedrich II.]: Anti-Machiavel, S. 353.
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Enfin, le Télémaque est écrit dans cette prose poétique que personne ne doit imiter, et qui n’est convenable que dans cette suite de l’Odyssée, laquelle l’air d’un poème grec, traduit en prose française.51
Gegen zeitgenössische Meinungen, die auf die moralische Wirkung von Fénelons Roman abheben, betont der Verfasser der Rezension, Friedrichs Anti-Machiavel sei dem französischen Text weit überlegen. Der Anti-Machiavel wird hier als zeitgemäße Überbietung und Korrektur des Télémaque mit größerem pragmatischen Nutzen verstanden. Im Folgenden kontrastiert der Autor die beiden Texte: Der Télémaque richte sich an junge Leute und berichte von unglaublichen Abenteuern, während der Anti-Machiavel erwachsenen Menschen lehrreiche Beispiele aus der Geschichte vermittele. Während Fénelons Protagonisten eine ideale Tugend verkörperten, die für die Gegenwart weitgehend untauglich sei, lehre Friedrich II. eine Gebrauchstugend, deren Prinzipien in ganz Europa anwendbar seien. Schließlich sei der Télémaque durch seine poetische Form ohnehin ein Einzelfall. Was Voltaire (?) hier an der politischen Abhandlung des preußischen Prinzen positiv hervorhebt, entspricht den Positionen in Justis Vorrede: Auch er unterstreicht die Bedeutung der historischen Korrektheit und richtet sich gegen das Wunderbare, das sich im Télémaque findet. Darüber hinaus zeigen sich inhaltlich im Roman deutliche Parallelen zu den Postulaten des Anti-Machiavel: Es geht in beiden Texten um die Moralisierung von Herrschaft und um die Ablehnung einer »bösen« Staatskunst. Gerade auch die ökonomischen Passagen über den Sinn des Luxus, die sich gegen die rigiden Positionen Fénelons richten, finden ihre Entsprechung in Justis Roman: Friedrich II. und Voltaire propagieren ein ökonomisch prosperierendes Staatswesen.
4. Politisch-pragmatisches Erzählen (Wieland) Auch Wieland setzt sich mit dem Problem von Geschichtsschreibung und didaktischer Wirkung auseinander. Für Wieland liefert die Geschichte modellhafte Prozesse, die im Roman gleichsam auf allgemeine Begriffe gebracht werden könnten. Dieses Verhältnis von anthropologischen Gegebenheiten, historischen Prozessen und erzählerischer Vermittlung reflektiert Wieland in den Paratexten zum Goldnen Spiegel. In der Vorrede zum dritten Teil des Romans fasst er die grundlegenden Prinzipien des Projekts zusammen. Es gehe ihm darum, seine Leser »durch Beispiele oder durch die Induktion zu unterrichten und zu bessern«; auf diese Weise erlange der Leser »eine Art von anschauender Erkenntnis, wozu die Fähigkeit der meisten 51
[Voltaire(?)]: In: Anti-Machiavel, S. 497 f.
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zureicht«.52 Diese bekannten Argumente, die seit jeher lehrhafte Dichtung legitimieren (die berühmte »verzuckerte Pille« aus dem vierten Buch von Lucrez’ Lehrgedicht De rerum natura), ergänzt Wieland durch einen Punkt, der hier von besonderem Interesse ist: Die »Geschichte der Könige von Scheschian« sei »eine Art von summarischem Auszug des Nützlichsten was die Großen und Edeln einer gesitteten Nation aus der Geschichte der Menschheit zu lernen haben«.53 Der politische Roman als Kondensat der Menschheitsgeschichte – damit geht Wieland über seine Vorgänger hinaus. Zugleich verweist diese Behauptung darauf, dass er in der Handlung des Romans modellhaft seine Vorstellungen über den Gang der menschlichen Entwicklung kondensiert hat. Gerade das fiktionale pragmatische Erzählen sei, so Wieland, der Geschichtsschreibung in Hinblick auf die zu erzielende Wirkung deutlich überlegen.54 In der Selbstanzeige des Romans, die am 4. Juni 1772 in der Erfurtischen gelehrten Zeitung erschien, hebt der Autor noch einmal den Vorteil des Autors politischer Romane gegenüber dem Historiker hervor. Er bestehe darin, »pragmatischer als der wahre Geschichtschreiber sein zu können.«55 Mit anderen Worten: Die literarische Fiktion mache es möglich, Zusammenhänge aufzuzeigen, die so in der Historie nicht sichtbar seien. Sie habe damit Teil an der sich langsam ausbildenden Geschichtsphilosophie.56 Anders als Justi unterstreicht Wieland gerade die sinnstiftende Funktion von Fiktion und literarischer Strukturgebung. Seine »pragmatische Geschichte der schlimmen Regenten von Scheschian« verdeutlicht,57 wie historische und anthropologische Diskurse in den politischen Roman eingehen, der so auch zu einer Erzählung über Aufklärungsprozesse nicht nur des Individuums, sondern der menschlichen Gattung überhaupt wird. * Der politische Roman wird in der zeitgenössischen Theorie als Reflexion und Darstellung von Aufklärungsprozessen verstanden, die Texte erzählen von den Bedingungen, die solche Entwicklungen befördern bzw. ihnen entgegenstehen. Die Romantheorie befragt diese literarisch-politischen Versuchsanordnungen auf ihre 52 Wieland:
Der Goldne Spiegel und andere politische Dichtungen, S. 730. Ebd., S. 732. 54 Vgl. zum pragmatischen Erzählen Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin/New York 1996, S. 59–144; Werner Hahl: Reflexion und Erzählung. Ein Problem der Romantheorie von der Spätaufklärung bis zum programmatischen Realismus. Stuttgart u. a. 1971, S. 12–84; Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 1969, S. 114–126. 55 Wieland: Der Goldne Spiegel und andere politische Dichtungen, S. 734. 56 Gewährsmann für Wieland ist Isaak Iselin. Vgl. Wieland: Der Goldne Spiegel und andere politische Dichtungen, S. 730. 57 Ebd., S. 744. 53
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Plausibilität und diskutiert zugleich die Bedingungen ihrer Wirkung. Der kritische Dialog zwischen Produzenten und Rezipienten, wie er exemplarisch an Leservor reden und Rezensionen deutlich wird, kreist um die angemessene Art, von politischen Aufklärungen zu erzählen und diese Erzählungen zugleich zu außerliterarischer Wirkung zu bringen.
Miriam Seidler
»Ein Augenzeuge kann, ohne Schuld seines Willens, unrichtig sehen« Biographisches Erzählen und das Erzählen von Biographien in Christoph Martin Wielands Roman Agathodämon (1799) Im September 1785 veröffentlicht Christoph Martin Wieland im Teutschen Merkur einen Essay mit dem Titel Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller. Der Text, der den »reiselustigen Schriftsteller[n] und briefstellerischen Wanderer[n]« einen »Maasstab«1 an die Hand geben soll, wie sie ihre Erlebnisse dokumentieren und beschreiben können, ist allerdings mehr als die harmlose Einleitung vermuten lässt. Er ist ein Plädoyer für die Pressefreiheit und eine anthropologische Reflexion über den Menschen. Zugleich enthält er ein Aufruf zur Reflexion der eigenen Position als Autor und der Verpflichtung auf »Wahrhaftigkeit und Unpartheylichkeit«.2 Da rüber hinaus entschuldigt er aber auch diejenigen, mit deren Sicht auf die Dinge der Leser nicht einverstanden ist: Ein Augenzeuge kann, ohne Schuld seines Willens, unrichtig sehen. Wer einen andern, den er für glaubwürdig hält, etwas nachsagt, kann falsch berichtet worden seyn: der aufmerksamste und scharfsichtigste Beobachter ist – wie alle Menschen, der Möglichkeit des Irrthums unterworfen, und kann einen wichtigen Umstand übersehen, oder gewisse Dinge nicht aus ihrem wahren Gesichtspunct oder in ihrem vorteilhaftesten Lichte gesehen haben. […] Auch ist es möglich, daß jemand aus Unerfahrenheit oder Beschränktheit seiner Einsichten, oder aus dunkeln Vorstellungen und Neigungen, die ohne sein Wissen auf ihn wirken, z. B. aus Vorliebe für sein Vaterland, zuweilen unrichtig sehen und urtheilen kann.3
Diese kritische Reflexion der Weltwahrnehmung betrachtet weniger das Verhältnis von Fakten und Fiktionen, das die Autoren des 18. Jahrhunderts immer wieder be1 Christoph
Martin Wieland: Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller in Absicht ihrer Nachrichten, Bemerkungen, und Urtheile über Nationen, Regierungen, und andre politische Gegenstände. In: Ders.: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. 3 Bde. Bd. 1. Hrsg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans Radspieler u. Johanna Radspieler. Nördlingen 1988, S. 249–258, hier: 249. 2 Ebd., S. 253. Vgl. zur Unparteilichkeit des Autors auch den Beitrag von Jutta Heinz: Kosmopolitismus versus Parteigeist – Ästhetische Erziehung zur politischen Urteilskraft in Wielands Essays zur Französischen Revolution. In: Miriam Seidler (Hrsg.): Die Grazie tanzt. Schreibweisen Christoph Martin Wielands. Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 237–256. 3 Wieland: Rechte und Pflichten, S. 257 f.
Biographisches Erzählen und das Erzählen von Biographien bei Wieland
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schäftigt hat, sondern stellt die Frage nach der Zuverlässigkeit der Wahrnehmung. Diese, so die These des Essays, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Selbst bei den besten Absichten eines Autors ist es denkbar, »daß jemand […] zuweilen unrichtig sehen und urtheilen kann.« Die Betonung des subjektiven Standpunktes, der die Wahrnehmung beeinträchtigt, betont somit den Perspektivismus jeder Wahrnehmung. Die Erkundung dieses Perspektivismus, die Frage, wie er zustande kommt und welche Folgen er hat, beschäftigt Wieland im Spätwerk immer wieder, denn damit ist auch die grundsätzliche Frage nach dem Weltbezug von Literatur gestellt. Im Folgenden wird der Prozess der narrativen Annäherung an die Figur des Apollonius in Wielands Roman Agathodämon nachgezeichnet, um zu zeigen, wie Wieland das biographische Erzählen zum Thema seines Romans macht. Ausgangspunkt ist die Überlieferung zur Person Apollonius von Tyana, in die als Basis für die Analyse der narrativen Gestaltung der Figur eingeführt wird. Bereits an dieser lässt sich verdeutlichen, dass Apollonius die Funktion einer metanarrativen Spiegelfigur für die Reflexion historischen Erzählens inne hat.
1. Historiographische Annäherung an eine Person Agathodämon – der gute Geist – heißt Wielands 1799 erschienener Roman. Als Agathodämon wird die historische Person Apollonius von Tyana (um 3 n. Chr. in Tyana – 97 n. Chr. vermutlich in Ephesos) bezeichnet. Dessen Biographie hat Wieland vermutlich in der 1774 publizierten französischen Übersetzung von Jean de Castillon versehen mit einem Kommentar des Engländers Charles Blount aus dem Jahr 1680 und einem Vorwort von König Friedrich II. gelesen, die sich in seiner Bibliothek befand.4 Besonders an Apollonius von Tyana ist die Überlieferungsgeschichte seiner Biographie. Apollonius war Zeitgenosse von Jesus von Nazareth. Mehr über die historische Persönlichkeit auszusagen, fällt heute schwer, da um seine Person ein Deutungsstreit entbrannt ist, dessen wahre Quellen nur schwer zu eruieren sind. Heute geht die Forschung zudem davon aus, dass die überlieferten Schriften des Apollonius selbst – seine Briefe, eine Lebensbeschreibung des Pythagoras, eine Schrift Über das Opfer und sein Testament – zum großen Teil Fälschungen sind.5 4 Vgl. Yvonne Häfner: Die Herder-Kant-Querelle im Spiegel von Wielands Agathodämon. In: Wieland-Studien 7 (2012), S. 1–18, hier: 8. 5 Vgl. Johannes Hahn: Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? Das Bild des Apollonius von Tyana bei Heiden und Christen. In: Barbara Aland, Johannes Hahn u. Christian Ronning (Hrsg.): Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike. Tübingen 2003, S. 87–110, hier: 90; Erikki Koskenniemi: Apollonios von Tyana in der neutestamentliche Exegese. Forschungsbricht und Weiterführung der Diskussion. Turku 1992, S. 3–5.
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Die erste erhaltene Lebensbeschreibung des Apollonius verfasste Flavius Philo stratos aus Lemnos (165/170–244/269 n. Chr., genannt auch Philostratos der Ältere oder Philostratos II.) um 220 n. Chr. im Auftrag der Kaiserin Julia Domna, der Gemahlin des Kaisers Septimius Severus.6 Dabei beruft er sich wiederholt auf einen Schüler und Begleiter des Apollonius mit dem Namen Damis. Dieser habe die »Gedanken, Reden und Weissagungen« seines Lehrers aufgezeichnet und bestätigt damit als Augenzeuge die Authentizität des erzählten Lebensberichts. Allerdings hebt Philostrat hervor, dass diese Schriften nicht für die Lektüre geeignet sind, denn »[d]er Mann von Ninive [d. i. Damis, Anm. d.Verf.] war zwar in seiner Darstellung sehr genau, aber nicht gerade geschickt und gewandt in der Formulierung.«7 Mit dieser Kritik der Schrift des Damis hebt Philostrat nicht in erster Linie seine eigene Kunstfertigkeit hervor, vielmehr weist Thomas Schirren darauf hin, dass hier eine Umkehrung der Eigenschaften für Philostrats eigenes Werk angenommen werden kann. Er schreibt einen guten Stil, ist dafür aber in der Rekonstruktion extratextueller Sachverhalte nicht korrekt,8 weil er die Bedeutung der Biographie des Apollonius herausstellen möchte und sich dabei mehr an den inneren Notwendigkeiten der Darstellung der Persönlichkeit (und vermutlich auch an den Erwartungen seiner Auftraggeberin) orientiert. Heute ist sich die Forschung weitgehend einig, dass gerade in der Differenzierung zwischen Fakten und Fiktionen die Funktion der Figur des Damis bestehe. Sie hebt einerseits den Kunstcharakter der Lebensbeschreibung hervor und dient zugleich entgegen der offensichtlichen Betonung der Augenzeugenschaft als Fiktionsmarker.9 Damit berührt die Debatte um die Person des Apollonius immer auch Fragen nach der Glaubwürdigkeit der Quellen in Bezug auf die Darstellung der historischen Person, wie sie im Fragmentenstreit10 im Hinblick auf 6 Julia
Domna nennt Philostratos selbst als Auftraggeberin. Vgl. Philostratos: Das Leben des Apollonios von Tyana. Griechisch-Deutsch. Hrsg. u. übers. v. Vroni Mumprecht. München/ Zürich 1983, S. 17. 7 Ebd. 8 Vgl. Thomas Schirren: Philosophos Bios. Die antike Philosophenbiographie als symbolische Form. Studien zur ›Vita Apollonii‹ des Philostrat. Heidelberg 2005, S. 47. 9 Schirren weist an verschiedenen Textstellen nach, dass im Zusammenhang mit Damis von Philostrat Fiktionalitätsmarker eingesetzt werden. Bereits die Tatsache, dass Damis narrativ eingeführt wird, statt lediglich auf die übernommenen Quellen Bezug zu nehmen, verweist auf seine besondere Funktion. Weitere Fiktionalitätsmarker sind sein Alter, das bei der letzten Niederschrift weit über 80 Jahre gewesen sein müsste, und die genannten Täfelchen, die er während der Reisen beschrieben hat. Der Beschreibung von Philostrat zufolge müssten diese eine enorm umfangreich sein, wenn sie die Erlebnisse von rund 60 Jahren Zeitzeugenschaft dokumentieren sollten. Vgl. Schirren: Philosophos Bios, S. 44–46. 10 Vgl. Markus Buntfuß: Briefe, das Studium der Theologie betreffend, Briefe an Theophron, Entwurf der Anwendung dreier Akademischer Jahre für einen jungen Theologen. In: Stefan Greif, Marion Heinz u. Heinrich Clairmont (Hrsg.): Herder Handbuch. Paderborn 2016, S. 351–360, hier: 351.
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die Glaubwürdigkeit der Evangelien in der Beschreibung von Jesus von Nazareth kontrovers diskutiert wurde. Dass mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit der Erzählung immer auch das Weltbild des Erzählers zur Disposition steht, zeigt sich in der Überlieferungsgeschichte der Biographie des Apollonius. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts verfasste Hierokles, »ein hoher kaiserlicher Beamter und maßgeblicher Beteiligter der diokletianischen Christenverfolgung«11 auf der Basis der Lebensbeschreibung von Philo strat eine Schrift mit dem Titel Philaletes, Freund der Wahrheit. Diese verfolgt das Ziel, die »Einzigartigkeit Christi als göttlichen Menschen«12 in Frage zu stellen, indem beide Persönlichkeiten gegenübergestellt wurden. Von Seiten der Christen reagierten verschiedene Autoren unter anderem der Schriftsteller Eusebius mit seiner Schrift Gegen die Lebensbeschreibung des Apollonius, verfaßt von Philostrat, anläßlich der von Hierokles gezogenen Parallele zwischen jenem und Christus auf diese Gegenüberstellung.13 Ist die Schrift des Hierokles heute verschollen, so kann lediglich aus der Schrift des Eusebius deren Stoßrichtung erschlossen werden. Geht die Forschung davon aus, dass es sich bei Wielands Roman Agathodämon wie auch bei dem 1791 erschienenen Peregrinus Proteus um eine »philologische ›Rettung‹ einer historisch übel beleumdeten Person«14 handelt, so lässt die Überlieferungsgeschichte15 und vor allem die intensive Auseinandersetzung mit Jesus von Nazareth und der Urkirche vermuten, dass Apollonius aus einem anderen Grund für Wieland interessant war. Am Beispiel der als außergewöhnlich markierten Persönlichkeit – Apollonius galt als »einziger heidnischer Wundertäter seiner Zeit«16 – 11
Hahn: Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan, S. 88.
12 Ebd. 13 Vgl.
Koskenniemi: Apollonios von Tyana, S. 7. Heinz: Peregrinus Proteus. In: Dies. (Hrsg.): Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2008, S. 305–314, hier: 305; So auch Horst Thomé: Religion und Aufklärung in Wielands ›Agathodämon‹. Zu Problemen der ›kulturellen Semantik‹ um 1800. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15.1 (1990), S. 93–122, hier: 93, der Wielands Roman als Revision der Biographie des Philostrat liest. Jüngst hat Marco Bunge-Wiechers im Hinblick auf Wielands gesamtes Spätwerk von ›Rettungen‹ oder zumindest ›Richtigstellungen‹ gesprochen. Vgl. Marco Bunge-Wiechers: Wielands ›Agathodämon‹ als Apologie des Trugs. In: Michael Multhammer (Hrsg.): Verteidigung als Angriff. Apologie und ›Vindicatio‹ als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs. Berlin/Boston 2015, S. 201–228, hier: 221. 15 Vgl. Pierre Bayle: Art. Apollonius, von Tana. In: Ders.: Historisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen versehen von Johann Christoph Gottsched. 4 Bde. Bd. 1. Hildesheim/New York 1974, S. 268–271. Bayle geht in Bezug auf die Überlieferungsgeschichte ausführlich auf die Aussagen des Philoktet selbst ein und nennt dann den Streit zwischen Eusebius und Hierokles vor allem in Bezug darauf, dass die Heiden die Wundertaten des Apollonius mit denen von Jesus von Nazareth gleichgesetzt haben. 16 Koskenniemi: Apollonios von Tyana, S. 10. 14 Jutta
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konnte er die Bedingungen und Möglichkeiten des Weltbezugs seines Schreibens wie auch des biographischen Schreibens reflektieren. Hier spielen Aspekte eine Rolle, die auch für die Überlieferung der Biographie des Apollonius wichtig sind. Ein christlicher Autor wird Apollonius anders bewerten als ein Autor, der im Auftrag der Kaiserin seine Lebensgeschichte zur »literarische[.] Unterhaltung[…]«17 des Hofes verfasst. Eine literarische Biographie folgt anderen Regeln als eine wissenschaftliche. Dabei zeigt der Kampf um die Deutungshoheit über die Person Apollonius, dass im Machtkampf um die Bewertung seines Lebens und seiner Taten der »Ähnlichkeitsanspruch«,18 der eine Biographie prägen sollte, schnell verloren ging. In dieses Feld der verschiedenen Deutungsmodelle und Schreibweisen tritt nun Wieland mit einer fiktiven Biographie ein, die den Überlieferungsprozess mitbedenkt und die Bedingungen des Beschreibens von Ereignissen und der (auto-)biographischen Darstellung eines Lebens diskutiert. Im Fokus stehen daher erzählende Augenzeugen, die ihre Sinneswahrnehmungen in Sprache fassen.
2. Narrative Annäherung an eine Figur Dass das Erzählen selbst im Fokus des Romans steht, zeigt bereits der Erzähleingang, der zwei unterschiedliche Formen des Erzählens gegenüberstellt. Der Roman ist als Briefroman konzipiert. Hegesias von Cydonia schreibt an seinen Freund Timagenes. In einer einleitenden Ansprache des Freundes, die auch als fiktives Vorwort gelesen werden kann, wird in die Briefform und den folgenden autobiographischen Bericht eingeführt. Dabei wird bereits im ersten Satz ein Spannungsbogen entwickelt, wenn Hegesias von dem » außerordentlichen Manne, den [er] in einer beynahe unzugangbaren Enöde der weißen Berge19 kennen lernte«20 spricht. Nicht nur der Leser, auch der Freund Timagenes wird dabei auf die Folter gespannt, denn: Billig mußte die geheimnißvolle Art, wie ich dieser Begebenheit bey unsrer neulichen Unterredung erwähnte, deine Neugier um so viel höher spannen, da ich die Auflösung des verwickelten Knotens, der uns damahls beschäftigte, in ihr gefunden zu haben versicherte, ohne mich in einer nähere Erklärung einlassen zu wollen. 17
Philostratos: Das Leben des Apollonios von Tyana, S. 18. Klein: Einleitung. Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Ders. (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart/Weimar 2002, S. 1–22, hier: 20. 19 Dabei handelt es sich um ein Gebirgsmassiv auf Kreta. 20 Christoph Martin Wieland: Agathodämon in sieben Büchern. Hrsg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans Radspieler u. Johanna Radspieler. Frankfurt a. M./Leipzig 2008, S. 3 [im Folgenden: A]. 18 Christian
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In der That scheint mir die Sache von solcher Beschaffenheit zu seyn, daß sie sich besser für eine schriftliche Erzählung, zu welcher ich durch sorgfältige Sammlung meiner Erinnerungen mich vorbereiten könnte, als für den irrenden Gang eines Gesprächs schickte. (A, 3)
Es ist nicht nur die für den Privatbrief charakteristische Vertrautheit von Sender und Empfänger, die den Romaneingang für den Leser rätselhaft erscheinen lässt, es ist zugleich der Verweis auf das Gespräch der beiden Freunde und das Problem, das sie nicht lösen konnten, das Neugier weckt. Anders als in Werthers enthusiastischem Ausruf »Wie froh bin ich, dass ich weg bin!«21, ist es bei Wieland eine intellektuelle Strategie, mit der die Problemlösungskompetenz des Lesers angesprochen wird. Dabei ist an dieser Stelle noch nicht ersichtlich, ob der Erzähler Informationen vorenthält, um den Leser zu aktivieren, oder ob er selbst vor einem Rätsel steht.22 Hegesias, der als homodiegetischer Erzähler eingeführt wird, zeichnet sich durch Gewissenhaftigkeit aus. Er wählt die Schriftform, um die Erzählung klarer strukturieren zu können. Dabei stößt der Leser schon bald auf einen Widerspruch, wenn er nämlich feststellen muss, dass Wieland seinen an der konzentrierten Schriftform orientierten Hegesias weitgehend Dialoge wiedergeben lässt. Damit wird im Folgenden deutlich, dass Wieland durch die Wiedergabe von Gesprächen in der Kombination von medialer Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit einen eigenen narrativen Weg bestreitet, der Dialog- und Briefroman kombiniert. Diese Verbindung aus Brief und Dialog macht die narratologische Besonderheit dieses Romans aus und ermöglicht es Wieland gewissermaßen durch die Hintertüre den auktorialen Erzähler verschwinden zu lassen. Die reflexiven Passagen des Briefes und die kurzen Anmerkungen für Timagenes erlauben dennoch einen kritischen Blick auf die Narrationen der verschiedenen Erzähler, wohingegen der Dialog bewusst als Authentizitätsmerkmal eingesetzt wird, um die Zuverlässigkeit des berichtenden Hegesias zu unterstreichen. Der einseitige und im Grunde nur aus einem langen Brief bestehende Brief roman ermöglicht es Wieland, einen zweiten Romaneingang zu gestalten. Der eigentliche Bericht des Hegesias beginnt mit der Erzählung einer Wirtshausszene und somit mit einer Form des kollektiven Erzählens. Der Naturforscher und Empiriker Hegesias trifft im Gebirge Kretas auf Ziegenhirten, die von einem guten Geist, dem Agathodämon, berichten. Die charakteristischen Merkmale der Mythenbildung sind hier gegeben. Eine sonderbare Erscheinung, der Agathodämon, kann narrativ 21
Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther. In: Ders.: Goethes Werke. 14 Bde. Bd. 6. Hrsg. v. Erich Trunz. Hamburg 141996, S. 7–124, hier: 7. 22 Vgl. zu Formen der Leseraktivierung im englischen Roman des 18. Jahrhunderts: Günther Blaicher: Freie Zeit – Langeweile – Literatur. Berlin/New York 1977, S. 212–214.
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Aspekte · 7. Sektion · Miriam Seidler
nur dadurch erklärt werden, dass sie als wunderbar charakterisiert wird. Zwar hat von den Anwesenden niemand den Wundermann selbst gesehen und damit eine übernatürliche Erfahrung mit ihm zu berichten, aber alle kennen Augenzeugen, die Unerklärliches erlebt haben, damit die Wahrheit der Erzählungen verbürgen und die Identifikation der Erzähler mit dem Erzählten ermöglichen. Auf diese Weise ist die Neugier des Hegesias, der nicht an eine übernatürliche Erscheinung glaubt und den sagenhaften Berichten der Hirten auf den Grund gehen möchte, geweckt. Damit ist der Leser mit einem zweiten Rätsel konfrontiert, das mit dem Wunderbaren und dem Wahren eine zentrale Frage der Romandiskussion des 18. Jahrhunderts aufwirft.23 Angetrieben von dem »unbezwingbare[n] Verlangen« (A, 9), der wahren Ursache für die »mährchenhafte Erzählung der guten Leute« (ebd.) auf den Grund zu gehen und damit ihre Sinnestäuschung offen zu legen, lässt er sich von zwei ängstlichen Hirten dahin führen, wo der ›Agathodämon‹ mehrfach gesehen wurde. Nach einer beschwerlichen Wanderung durch die felsige Landschaft trifft der Naturforscher Hegesias im Morgengrauen auf den Greis und ist selbst von seiner Reaktion überrascht: Es ist ein wunderlich Ding um unsre Einbildungskraft, mein Freund. Wie gänzlich ich auch überzeugt war, daß der vermeinte Dämon ein Mensch sey wie wir andern, und wie gut ich auf seinen Anblick (den einzigen Zweck meiner dießmahligen Wanderung) gefaßt zu seyn glaubte: so fand sich dennoch, daß auch mir, als ich ihn auf einmahl erscheinen und langsam auf mich zu gehen sah, eben so zu Muthe ward, wie jedem andern Menschen, der sich, ohne schon von langem her mit Geistern Umgang gepflogen zu haben, in diesem Augenblick an meiner Stelle befunden hätte. […] kurz, ich fuhr bey Erblickung des Ehrfurcht gebietenden Greises eben so zusammen, als wenn es wirklich eine Erscheinung aus der unsichtbaren Welt gewesen wäre. (A, 10 f.)
Der aus der Innenperspektive des Hegesias geschilderte Konflikt zwischen rationalem Wissen und durch die Narration und die Wahrnehmung geprägte Einbildungskraft steigert nicht nur die Spannung bei der Lektüre, sondern macht den Leser darauf aufmerksam, dass der Erzähler Hegesias im Folgenden nicht neutraler Beobachter und Berichterstatter sein kann, sondern dass er als metareflexive Figur angelegt ist. An ihm wird wiederholt die Wirkung von Erzählungen, aber auch die Möglichkeiten der Beeinflussung durch Sprache und Narration vorgeführt. Hegesias ist beim ›Agathodämon‹ angekommen, mit der Verwirrung seiner Sinne konfrontiert. Der Leser folgt dem Gespräch beider Figuren, ohne dass das Rätsel um die Identität des Greises gelöst wurde. 23 Vgl.
Christian Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit. Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993.
Biographisches Erzählen und das Erzählen von Biographien bei Wieland
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Die Annäherung an die Figur wird fortgesetzt, indem Apollonius Hegesias seine Lebensgeschichte erzählt. Der alte Mann ist sich der Bedeutung seines eigenen Lebens sehr wohl bewusst, weshalb er Hegesias als einen »Mann von reiner gesunder Seele« (A, 25) als ersten Zuhörer seiner Lebensgeschichte bestimmt. Damit geht er gewissermaßen eine Pakt mit Hegesias ein: Er befriedigt die Neugier seines Gastes durch die Erzählung seines Lebens und dieser verfasst im Gegenzug seine autorisierte Biographie und überliefert auf diese Weise sein Wirken der Nachwelt. Die Beauftragung der eigenen Biographie soll zugleich die Deutungshoheit über das eigene Leben sichern, denn so gesteht er Hegesias: Ich kenne mehr als Einen, der meine Geschichte schreiben, und sie sehr unrichtig schreiben wird, wenn er auch kein Wort mehr sagt, als was er selbst gesehen und gehört zu haben glaubt. Meine wahre Geschichte könnte der Welt vielleicht nützlich werden: verfälscht oder in ein täuschendes Licht gestellt, kann sie nicht anders als Schaden thun. (A, 25)
Dabei ist er sich – im Gegensatz zu den Hirten – durchaus der Gefahr der Beeinflussung der eigenen Erzählung durch die Sinne bewusst, wenn er erläutert, dass er bereit ist »von [s]einen Vorzügen ohne Anmaßung, von [s]einen Tugenden ohne Demuth, und von [s]einen Fehlern ohne Verlegenheit« (A, 34) zu berichten. Dennoch ist die autobiographische Lebensbeschreibung nicht vor Fälschungen geschützt, bedingt doch »die Eigenliebe demungeachtet geheime Täuschungen, die [er] selbst nicht gewahr werden kann, und die einem unbefangenen fremden Auge vielleicht nicht entgehen« (ebd.). Dass diese Rezeptionsanweisung nicht unwichtig ist, bestätigt sich im Folgenden, wenn er Hegesias darauf hinweist, dass er »mit einer Ruhmbegierde geboren [ist], die keine andre Leidenschaft in [ihm] aufkommen ließ« (ebd.). Damit ist nicht nur der Grund für den Versuch, die Herrschaft über die eigene Biographie und den eigenen Nachruhm zu erhalten, explizit genannt, zugleich weckt diese Auskunft aufgrund der mehrfachen Betonung des Perspektivismus der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte die Skepsis des Zuhörers. Dieser (und damit zugleich der Leser) wird aufgefordert, aktiv nach den ›Fehlern‹, den von Eigenliebe und Ruhmbegierde gefärbten Darstellungen des Apollonius zu suchen. Dies ist auch insofern von Bedeutung als Apollonius eingesteht, dass er eine Aura des Geheimen um sein Leben aufgebaut hat: Denn ein Räthsel war es, und, wie ich gestehen muß, bloß darum, weil ich wollte daß es nicht begriffen werden sollte. Die Ursachen, warum ich es wollte, sind nicht mehr; ich habe meine Rolle ausgespielt – und du, Hegesias, (setzte er hinzu, indem er meine Hand ergriff und drückte) du sollst der Erste seyn, dem ich mich so zeigen will, wie ich mich selbst sehe. (A, 25)
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Aspekte · 7. Sektion · Miriam Seidler
Hier ist nicht erst das autobiographische Erzählen ein Pakt mit seinem Zuhörer, sondern bereits das Leben selbst besteht aus Zeichen, deren Deutung bewusst manipuliert werden kann. Es sind »Inszenierungs- und Konstruktionscharakter«24 der Lebensbeschreibung, die Hegesias als Biograph erfassen muss. Die Rollenmetaphorik zeigt an, dass das wahre Ich des Apollonius auch für Hegesias und damit für den Leser kaum zu ergründen ist. Narratologisch wird hingegen ein Spannungsbogen aufgebaut, denn der Leser sieht sich nach wie vor mit der Frage konfrontiert, was es mit dem rätselhaften, von sich selbst überzeugten Greis auf sich hat. Apollonius entwickelt für Hegesias die großen Linien seines Lebens. Seine Ausbildung, die Erfahrungen, die er bei dem Orden der Orphiker machte und die letztendlich zur Gründung eines geheimen Ordens führte, der im Verborgenen wirkte und dem es so gelang, politisch Einfluss zu nehmen. Dabei fällt auf, dass Apollonius sich selbst bewusst als emotionslos charakterisiert. Selbst in einer klassischen Verführungsszene kann er nicht dazu bewegt werden, sein asketisches Lebensideal zu missachten, sondern betrachtet lediglich mit einer »ziemlich ruhige[n] Neugier« (A, 59), wie die Schöne versucht, ihn für sich zu gewinnen. Diese intellektuell-dis tanzierte Betrachtungsweise ist in jeder Lebenslage charakteristisch für Apollonius. Ergänzt wird die Selberlebensbeschreibung durch die Erfahrungsberichte seines jahrzehntelangen Weggefährten, des freigelassenen Sklaven Kymon, der gemeinsam mit Frau und Tochter bei Apollonius lebt. Er liefert die ›wahre‹ Lesart zu den Anekdoten, die von Apollonius erzählt werden und wird dazu von Apollonius auch autorisiert. Zugleich ist Kymon textintern als Kontrastfigur zu Apollonius erstem Biographen Damis von Ninive angelegt. Dieser spielt insofern eine nicht unwichtige Rolle im Roman als Hegesias seine Biographie gelesen hat und daher in der Lage ist, die Identität des Apollonius im dritten Buch des Romans zu entschlüsseln. Die Gegenüberstellung der Berichte von Damis und der Schilderung der gleichen Ereignisse durch Kymon, nutzt Wieland zu einer Reflexion des biographischen Erzählens. Der Beginn des dritten Buches – ein Gespräch zwischen Kymon und Hegesias über die Biographie des Damis – liest sich wie eine Einführung in multiperspektivisches Erzählen.25 Verschiedene Episoden aus dem Leben des Apollonius werden zuerst in der ›wunderbaren‹ Version des Damis wiedergegeben und dann von Kymon in 24 Klein:
Einleitung, S. 14. Klein geht davon aus, dass erst im 20. Jahrhundert die Selbstinszenierung des Ichs und die Konstruktion der Biographie durch die sprachliche Darstellung eine Rolle spielt. Der Roman von Wieland zeigt, dass diese Fragen bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert präsent waren. 25 Vgl. Vera Nünning u. Ansgar Nünning: Von ›der‹ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte. Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität. In: Dies. (Hrsg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier 2000, S. 3–38.
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der Version des ›wahren‹ Weggefährten korrigiert, der als Augenzeuge zugleich die ›unrichtige‹ Sichtweise des Damis offenlegen kann. Das multiperspektivische Erzählen hat aufeinander aufbauende Funktionen: Zuerst wird der Einfluss von persönlichen Vorannahmen – hier der Wunderglaube des Damis – als Beweggrund für seine Erzählungen enthüllt. Darauf aufbauend wird der Leser implizit dazu aufgerufen, die moralisch-soziale Funktion des Erzäh lens zu reflektieren und damit auch sein eigenes Referenzsystem zu hinterfragen. Darüber hinaus hat die Reflexion der Bedingung biographischen Erzählens auch eine metanarrative Funktion, wenn der Autor selbst die Voraussetzungen des Weltbezugs jeglichen Erzählens reflektiert. Dies macht den Text offen, für die Bezugnahme auf seine eigene Wirklichkeit, die Kritik an der Institution Kirche, die Fragen nach der guten Herrschaft der politischen Machthaber und die Funktion der Literatur für die Überlieferung an die Nachwelt. Die Gegenüberstellung von zwei Versionen ein und desselben Sachverhalts kann aber zugleich als Merkmal der Narration allgemein gewertet werden. Die beiden Versionen hinterfragen nicht nur die Wahrnehmung der Erzähler, sondern die grundsätzliche Möglichkeit objektiv zu erzählen. Diese thematisiert Fritz Breithaupt am Beispiel der Ausrede: Diese unterhöhlt »zum einen die erste Darstellung der Anklage, setzt sich selbst aber zugleich zum anderen demselben Zweifel aus, dass sie ebenfalls nichts als eine manipulative Version sein könnte, nichts anderes als eine Ausflucht. Damit verändert sich der Status von Rede als Ganzes.«26 Die Möglichkeit biographischen Erzählens als fakutalem Erzählen wird damit in Frage gestellt, da Erzählen immer schon perspektivisch gebrochen ist. »Die Wahrheit ist, wie alles Gute, etwas verhältnismäßiges.«27 schreibt Wieland in dem kurzen Essay Was ist Wahrheit? Dass es unterschiedliche Wahrheiten gibt, wirkt sich auch auf das Erzählen aus und so ist die Wahrheit der Biographie des Apollonius von Tyana weder im biographischen noch im fiktiven Erzählen einzuholen.
26 Fritz
Breithaupt: Kultur der Ausrede. Frankfurt a. M. 2001, S. 39. Martin Wieland: Was ist Wahrheit? In: Ders.: Sämmtliche Werke. 39 Bde. Bd. 24. Leipzig 1796, S. 41–54, hier: 42. 27 Christoph
8 . se k t ion N a r r at ion, Ko g n i t ion u n d A f f e k t: F ü h l e n, E m pf i n de n, E r k e n n e n
Frauke Berndt
Narration, Kognition und Affekt: Fühlen, Empfinden, Erkennen Einleitung Den Hintergrund für das Erzählen in der Aufklärung bildet die Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen, wie sie aus der Entdeckung der Sinnlichkeit resultiert. Sie gipfelt in die Diskursivitätsbegründung der modernen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten, mit der 1750/58 nicht nur die »Wissenschaft von allem, was sinnlich ist«,1 in der Aufklärung etabliert wird, sondern auch die erste moderne Literaturtheorie avant la lettre.2 Denn Baumgarten profiliert seine »Aesthetische Erfahrungs Kunst«,3 indem er die Gesetze der sinnlichen Erkenntnis in der Analyse literarischer Texte entwickelte – 1735 in den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus zunächst noch lyrischer Texte, in der Aesthetica dann vor allem epischer. Das ›ich empfinde‹ (aisthanomai / αἰσθάνομαι / sentio) wird durch ein ›ich erzähle‹ (si narrem) ersetzt, wobei der Konjunktiv genau die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler markiert. Diese Unterscheidung ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Aussagelogik narrativer Texte formal bestimmen lässt: Hier spricht weder der Autor noch ein (personalisierter) Erzähler, sondern ihnen liegt eine narrative Funktion zugrunde,4 wie sie dann auch Christian Friedrich von Blan ckenburg im Versuch über den Roman von 1774 profiliert, der Autor (›Dichter‹) und Erzähler kategorisch voneinander trennt.5 Sinnliches Erkennen und Erzählen bilden in der Aesthetica daher die Kehrseiten einer Medaille, weshalb Sebastian Meixner die Erkenntnis- als eine Erzählfunktion bestimmt.6 Vor diesem epistemologischen 1 Alexander
Gottlieb Baumgarten: Kollegium über die Ästhetik. In: Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Münster 1907, S. 59–258, hier: 66. 2 Vgl. Frauke Berndt: Die Kunst der Analogie. A.G. Baumgartens literarische Epistemologie. In: Andrea Allerkamp u. Dagmar Mirbach (Hrsg.): Schönes Denken. A.G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik. Hamburg 2016, S. 183–199. 3 Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Brieffe von Aletheophilus. Frankfurt/ Leipzig 1741, S. 8. 4 Vgl. Frauke Berndt: Schönes Wollen. A.G. Baumgartens literarische Medienethik. In: Rüdiger Campe u. Malte Wessels (Hrsg.): Bella Parrhesia. Begriff und Figur der freien Rede in der Frühen Neuzeit. Freiburg i. Br. [in Vorbereitung]. 5 Siehe die Einleitung dieses Bandes: 2. Erzähltheorien der Aufklärung: Rhetorische, ästhetische und poetologische Ansätze für die Profilierung einer historischen Narratologie. 6 Vgl. Sebastian Meixner: Narratologie und Epistemologie. Studien zu Goethes frühen Erzäh
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Hintergrund bildet das 18. Jahrhundert deshalb neue Erzählverfahren aus. Dabei unterscheidet bereits Baumgarten zwischen einem sinnlichen und einem psychologischen Erzählen. Sinnlich ist das Erzählen per se, psychologisch wird es durch die Figurenrede, der vor allem Johann Jakob Engels 1774 erschienene Abhandlung Ueber Handlung, Gespräch und Erzehlung in der Analyse des Gesprächs besondere Aufmerksamkeit widmet. Wenn es in der Aufklärung immer wieder um die kausale Motivierung von Handlungen geht,7 dann erhöht sich das Wirkungspotenzial einer Erzählung erheblich, sobald Figuren ihre Worte, Gedanken und Gefühle selbst ausdrücken, anstatt dass ein Erzähler über sie berichtet. Im dramatischen Modus wirken erzählte Texte unmittelbarer und zeichnen sich deshalb durch einen höheren Grad an affektiver Evidenz aus: Sie gehen gewissermaßen unter die Haut und nicht bloß in den Kopf. Zeitgleich mit den epistemologischen Weichenstellungen, die den Beginn der Narratologie des 18. Jahrhunderts markieren, rückt vor dem Hintergrund des anthropologischen Leitparadigmas der Aufklärung die Erfahrungsseelenkunde ins Zentrum der Episteme, die sich aus der empirischen Psychologie entwickelt und im Gegensatz zu dieser vor allem auf ein Medium setzt – auf die Fallgeschichte.8 Die zehn Bände des von Karl Philipp Moritz zwischen 1783 und 1793 herausgegebenen Magazins zur Erfahrungsseelenkunde legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Das bekannteste Beispiel einer solchen Fallgeschichte, welche die Grenze von mathesis und poiesis nicht nur überschreitet, sondern selbstreflexiv vermisst, ist Friedrich Schillers 1786 erschienene Novelle Verbrecher aus Infamie (Der Verbrecher aus verlorener Ehre, 1792). Der Lebensgeschichte des Mörders und Räubers Christian Wolf (alias Johann Friedrich Schwan) stellt Schiller eine poetologische Vorrede voran, in der er die Narratologie einer solchen Fallgeschichte diskutiert: »Entweder der Leser muß lungen. Diss. Tübingen 2017; vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band: Erkenntnis erzählen. Goethes frühe naturwissenschaftliche Schriften. 7 Vgl. Márta Horváth u. Katja Mellmann (Hrsg.): Die biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung. Münster 2016. 8 Vgl. Susanne Düwell u. Nicolas Pethes: Einleitung. Fall, Wissen, Repräsentation – Epis temologie und Darstellungsästhetik von Fallnarrativen in den Wissenschaften vom Menschen. In: Dies. (Hrsg.): Fall – Fallgeschichte – Fallstudie. Theorie und Geschichte einer Wissensform. Frankfurt a. M. 2014, S. 9–33; Nicolas Pethes: Ästhetik des Falls. Zur Konvergenz anthropologischer und literarischer Theorien der Gattung. In: Sheila Dickson, Stefan Goldmann u. Christoph Wingertszahn (Hrsg.): »Fakta, und kein moralisches Geschwätz«. Zu den Fallgeschichten im »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« (1783–1793). Göttingen 2011, S. 13–32; Zeitschrift für Germanistik: Fallgeschichten. Von der Dokumentation zur Fiktion 19 (2009); Ulrich Stuhr: Die Bedeutung der Fallgeschichte für die Entwicklung der Psychoanalyse und heutige Schlussfolgerungen. In: Psyche 61 (2007), S. 943–965; Nicolas Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur. In: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe u. Jens Juchatz (Hrsg.): Popularität und Popularisierung. Köln 2005, S. 63–92; Ulrich Stuhr u. Friedrich-Wilhelm Deneke (Hrsg.): Die Fallgeschichte. Beiträge zu ihrer Bedeutung als Forschungsinstrument. Heidelberg 1993.
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warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten.«9 Arne Höcker führt dazu aus: »Literarische Fiktion und historische Beobachtung bedingen sich hier gegenseitig und verbürgen gemeinsam die allgemeingültige Wahrheit des Falls. Die von Fallgeschichten zu leistende Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem, so kann man daraus folgern, lässt sich nicht allein historisch bewerkstelligen, sondern bedarf der literarischen Einbildung.«10 Dieses ›Warm-Werden‹ hängt einerseits von einem semantischen Katalog der Affekte – Formaten der Erregung – und Emotionen – Narrativen dieser Affekte – ab:11 Im 18. Jahrhundert sind es Narrative wie Empfindsamkeit, Schwärmerei, Melancholie usw. Andererseits setzt es aber auch voraus, dass sowohl Figuren als auch Erzähler als Erkennende, Empfindende oder Fühlende dargestellt werden. Die ihnen zugeschriebenen psychologischen Vorgänge konstituieren sich dabei im Wechselverhältnis von Bewusstseinsbericht – durch die Erzählinstanz vermittelte Informationen – und Techniken der internen Fokalisierung: Selbstgespräche, Gedankenzitate, indirekte Rede, erlebte Rede und autonome direkte Rede (stream of consciousness), die allesamt im 18. Jahrhundert ›erfunden‹ werden. Neben der Novelle sind es vor allem Briefroman, Tagebuchroman und Autobiografie, deren experimentelles Potenzial erst vor dem Hintergrund der kognitiven Narratologie hinreichend gewürdigt werden kann. Die Geschichte dieser Richtung der interdisziplinären, intermedialen Erzählforschung bringt David Herman auf den gemeinsamen Nenner zweier systematisch begründeter Fragen: »(1) How do stories across media interlock with interpreters’ mental states and processes, thus giving rise to narrative experiences?; (2) How (to what extent, in what specific ways) does narrative scaffold efforts to make sense of experience itself?«12 Diese wechselseitige Reflexion von Erzählung und (Welt)Erfahrung teilt Herman mit seinen Vorgängern in der Aufklärung: »Thus, research on the mind-narrative nexus encompasses not only how stories can be used to build worlds but also how such acts of narrative worldmaking are themselves mind-enabling and mind-extending.«13 In ihren zentralen Interessen 9
Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Wolfgang Riedel. 5 Bde. Bd. 5. München 2004, S. 13–35, hier: 14. 10 Arne Höcker: Fallgeschichte. In: Frauke Berndt u. Eckart Goebel (Hrsg.): Handbuch Literatur & Psychoanalyse. Boston/Berlin 2017, S. 462–477, hier: 472. 11 Vgl. Patrick Colm Hogan: Affective Narratology. The Emotional Structure of Stories. Lincoln 2011; Gesine Lenore Schiewer: Kognitive Emotionstheorien – emotionale Agenten – Narratologie. Perspektiven aktueller Emotionsforschung für die Sprach- und Literaturwissenschaft. In: Martin Huber u. Simone Winko (Hrsg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Paderborn 2009, S. 99–114; Suzanne Keen: Empathy and the Novel. Oxford 2007. 12 David Herman: Cognitive Narratology. In: Peter Hühn et al. (Hrsg.): The Living Handbook of Narratology (http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/cognitive-narratology-revised-version-uploaded-22-september-2013, Aufruf 20. 04. 2017). 13 Ebd.
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kann man die Proto-Narratologie des 18. Jahrhunderts als kognitive Narratologie verstehen, vor allem, weil auch hier ›Erzählung‹ ein Paradigma darstellt, das nicht auf die (schöne) Literatur, ja noch nicht einmal auf sprachliche Darstellungen beschränkt ist. Dabei spielt sich die Forschung seitdem auf drei Feldern ab: narrative Repräsentation von Welt(en),14 narrative Repräsentation von Figuren15 und Rezeption von beidem.16 Während die ältere Forschung von personalen Erzählungen spricht,17 setzt die neuere Forschung keine Figuren, sondern kognitive Rahmen voraus.18 In der Folge kann beobachtet werden, »that all cognitive activity is located in the projects and constructions of specifically positioned subjects, and that narrative has the unique capability to map differently positioned subjects in their relation to knowledge and to each other.«19 In Christoph Martin Wielands großem, in drei Fassungen veröffentlichten Aufklärungsroman Die Geschichte des Agathon (1766/1767, 1773, 1794) erzählt selbiger beispielsweise, wie er einer Pantomime beiwohnte. Die intradiegetisch-homodiegetische Erzählinstanz – besetzt durch den Autor des griechischen Manuskripts – vermittelt die Ereignisse durch interne Fokalisierung in erlebter Rede. Die Ausrufezeichen markieren den Wechsel von Nullfokalisierung zu interner Fokalisierung, aufgrund deren wir die Erzählung erleben so wie der junge Agathon sie erlebt hat: Aber wie erstaunte Agathon als er sah, daß es Danae selbst war, die in der Kleidung der Tänzerin die Person der Daphne spielte! Armer Agathon! Allzureizende Danae! Wer hätte es glauben sollen? Ihr ganzes Spiel drückte die eigenste Idee des Agathon 14 Vgl.
u. a. Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore 2001; Lubomír Doležel: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore 1998; Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Bloomington 1991; Thomas G. Pavel: Fictional Worlds. Cambridge 1986. 15 Vgl. u. a. David Herman: Storytelling and the Sciences of Mind. Cambridge 2013; ders.: The Emergence of Mind. Representations of Consciousness in Narrative Discourse in English. Lincoln 2011; ders. (Hrsg.): Narrative Theory and the Cognitive Sciences. Stanford 2003; ders.: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative. Lincoln 2002; Mark Turner: The Literary Mind. Oxford 1996; Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978. 16 Vgl. u. a. Anthony J. Sanford u. Catherine Emmott: Mind, Brain, and Narrative. Cambridge 2013; Catherine Emmott: Narrative Comprehension. A Discourse Perspective. Oxford 1997. 17 Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 31985. 18 Vgl. Manfred Jahn: Cognitive Narratology. In: David Herman et al. (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London 2005, S. 67–71; ders.: Frames, Preferences, and the Reading of Third-Person Narrative. Towards a Cognitive Narratology. In: Poetics Today 18.4 (1997), S. 441–468. 19 Uri Margolin: Focalization. Where Do We Go from Here? In: Peter Hühn, Wolf Schmid u. Jörg Schönert (Hrsg.): Point of View, Perspective, and Focalization. Modeling Mediation in Narrative. Berlin 2009, S. 41–57, hier: 41.
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aus, aber mit einer Anmut, mit einer Zauberei, wovon ihm seine Phantasie keine Idee gegeben hatte. Die Empfindungen, von denen seine Seele in diesen Augen blicken überfallen wurde, waren so lebhaft, daß er sich bemühte, seine Augen von diesem zu sehr bezaubernden Gegenstand abzuziehen; aber vergeblich!20
Allerdings geht Monika Fludernik in ihrer Studie Towards a ›Natural‹ Narratology (1996) einen entscheidenden Schritt weiter: »In my model there can therefore be narratives without plot, but there cannot be any narratives without a human (anthropomorphic) experiencer of some sort at some narrative level. […] [A]s I will illustrate, the emotional involvement with the experience and its evaluation provide cognitive anchor points for the constitution of narrativity.«21 Diese Bestimmung gilt nicht nur für intern fokalisierte Erzählungen, sondern für das Erzählen an und für sich. Zur Diskussion steht also die Epistemologie des Erzählens. Dass mit der Psychologisierung des narrativen Diskurses vor allem die Wahrheit der Erzählung auf dem Spiel steht, führt im 18. Jahrhundert zu neuen Formen der Beglaubigung bzw. eben deren Aufhebung. Denn ohne die Verankerung der erzählten Welt in einer epistemologischen Origo, die außerhalb der erzählten Welt angesiedelt ist, d. h. ohne einen extradiegetischen Ort, werden Erzählungen zwar ›wärmer‹, aber eben leider auch unzuverlässig. Die rhetorischphilosophische Debatte um die so genannte ›Wahrscheinlichkeit‹, die den ästheti schen Diskurs der Aufklärung bestimmt, übersetzt Wieland in eine Herausgeberfiktion.22 Die (epistemologische) Unzuverlässigkeit der Erzählung ist einerseits das Ergebnis mehrfacher Vermittlung: Herausgeber, ein griechischer Autor, der das eigentliche Manuskript geschrieben hat, sowie verschiedene Figuren, die wie Agathon ihre Geschichte selbst erzählen und entweder aus moralischen oder anderen Gründen ›unzuverlässig‹ sind. Andererseits ist das Manuskript, das der Herausgeber vorgibt zu lesen, an einem »Ort halb von Ratten aufgegessen«, an einem anderen »durch Feuchtigkeit so übel zugerichtet«,23 dass die materiale Überlieferung selbst problematisch ist. Auf diesen Hintergrund werfen die vier Beiträge dieser Sektion historische Schlaglichter. Tanja van Hoorn leistet einen Beitrag zur historischen Semantik von Emotionen bzw. eben deren Narrationsförmigkeit. Sie entwickelt am Leitfaden der stoizistischen Affektenlehre, wie sich der Protagonist von Schillers oben erwähnter ›Fall20 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. In: Ders. Werke. Hrsg. v. Klaus Manger. 12 Bde. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1986, S. 131 f. 21 Monika Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology. London 2005, S. 9 f. 22 Vgl. Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800. Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008. 23 Wieland: Geschichte des Agathon, S. 493.
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geschichte‹ Der Verbrecher aus Infamie von seinen unkontrollierbaren Leidenschaften ›befreit‹. Auf dieser Grundlage kann sie eine Linie vom erfahrungsseelenkundlichen Erzählen im Frühwerk zu der ›klassischen‹ Abhandlung Über das Pathetische sowie der Tragödie Maria Stuart ziehen. Kognitionswissenschaftlich hingegen argumentiert Jürgen Meyer, der zeigt, dass Positionen der kognitiven Narratologie und Emotionsforschung, deren Hintergrund die Theory of Mind bilden, im 18. Jahrhundert bereits vorweggenommen werden. Anhand von drei literarischen Essays aus englischen Zeitschriften analysiert er die narrative Repräsentation kognitiver und emotionaler Zustände sowie deren Performativität und Selbstreflexivität, wobei er die experimentelle Gattung des Essays gegenüber den verschiedenen Formen des Romans stark macht. Anthony Mahler geht ebenfalls den Erzählweisen und Genres nach. Anhand von Christoph Wilhelm Hufelands Handbuch Makrobiotik oder Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (1797) rekonstruiert er den Zusammenhang von Diätetik und Erzählen im 18. Jahrhundert. Eine ›gute‹ Erzählung ist nicht nur das Modell des ›guten‹ Lebens, sondern als Technik der Beobachtung und Mäßigung entstehen im Rahmen von Fallgeschichten, Briefen und Tagebüchern vor allem narrative Techniken der internen Fokalisierung. Schließlich richtet Evelyn Dueck ihr Interesse auf die technischen Medien der Fokalisierung, wobei insbesondere der Vergleich des Auges mit der camera obscura in den Texten zur Optik des 17. und 18. Jahrhunderts nicht nur eine rhetorische Figur darstellt. Vielmehr überbrücken Narrationen die Kluft, die sich zwischen dem physikalischen Bild auf der Retina und dem psychologischen Wahrnehmungsbild auftut. Solche Erzählungen sind also epistemologisch notwendig, um zu ›erklären‹, wie ein Wahrnehmungsbild entsteht; sie bilden also kein Wissen ab, sondern stellen es her.
Evelyn Dueck
»[D]enn es ist genug, daß dieses empfindet« Narration, Sinneswahrnehmung und das Problem des aufrechten Sehens in der Optik um 17001
1752 veröffentlicht Abraham Gotthelf Kästner im Hamburgischen Magazin eine kurze und teils polemische »Anmerkung über die Aehnlichkeit des Auges, mit einem verfinsterten Zimmer«.2 Er ruft damit einen im 17. und 18. Jahrhundert überaus populären Vergleich zwischen der Anatomie des menschlichen Auges und der Camera obscura auf, den bereits Leonardo da Vinci erwogen und der durch Giovanni Battista della Portas Magiae naturalis (1558) als epistemologischer Vergleich bekannt wurde.3 Wie populär dieser Vergleich im 18. Jahrhundert war, veranschaulicht die etwas gelangweilte Art, mit der Kästner ihn vorstellt.4 Auch im überwiegenden Teil der anderen Schriften zu Optik und Anatomie des 17. und 18. Jahrhunderts wird er angeführt.5 Meist geht es – neben der offensichtlichen topischen Funktion – in lehrhafter Absicht um die Erläuterung der Anatomie des Auges und der Funktion seiner Bestandteile. In der Tradition der Keplerschen Optik erlaubt der Vergleich zudem, Weg und Brechung der Lichtstrahlen durch das Auge zu erklären und zu veranschaulichen. Konkret erlebbar wird er durch die Möglichkeit, als Zuschauer in die Camera obscura einzutreten und damit einen im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend als illusorisch erkannten direkten Einblick ins Innere der Natur und des Menschen zu erhalten. Doch der Vergleich versinnbildlicht nicht nur grundlegende Aspekte der aufklärerischen Epistemologie – wie das Verhältnis von Instrument und Natur, von Wahrnehmung und Vernunft – sondern auch (gänzlich unbeabsichtigt) deren Grenzen. Ist der Vergleich des Auges mit der Camera obscura mehr als nur eine sprachliche Trope und also anatomisch korrekt, so zeichnet sich auf der Retina nicht etwa eine klare Kopie der Welt ab, sondern – wie schon Kepler bemerkt – ein verkleinertes, unscharfes, zweidimensionales Bildchen, 1
Dieser Beitrag ist im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Habilitationsprojektes unter dem Titel »Unschärfen. Visuelle Wahrnehmung in Literatur, Optik und Epistemologie des 18. Jahrhunderts« entstanden. 2 Abraham Gotthelf Kästner: Anmerkung über die Aehnlichkeit des Auges, mit einem verfinsterten Zimmer. In: Hamburgisches Magazin, oder gesammlete Schriften, zum Unterricht und Vergnügen 8.4 (1752), S. 426–432. 3 Giambattista della Porta: Natural magick. London 1658, S. 364 f.; vgl. Annika Baacke: Fotografie zwischen Kunst und Dokumentation. Berlin 2014, S. 189–194. 4 Kästner: Anmerkung über die Aehnlichkeit des Auges, S. 427. 5 Vgl. Claude Nicolas Le Cat: Traité des sens. Nouvelle édition. Amsterdam 1744, S. 149.
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das zu allem Überfluss auf dem Kopf steht und seitenverkehrt ist.6 Was bedeutet dies aber für eine aufklärerische Epistemologie, die sich an den Methoden der Naturforschung orientiert und folglich Sichtbarkeit und deren Verlässlichkeit zu ihren Grundvoraussetzungen zählt? Was bedeutet dies zudem für die Selbstreflexion eines Jahrhunderts, das sich ohne Unterlass der Lichtmetapher bedient? Viele Studien zur visuellen Wahrnehmung im 18. Jahrhundert situieren den Wandel von einer direkten und linear gedachten zu einer vermehrt unter psychologischen und subjektiven Gesichtspunkten betrachteten Optik ab ca. 1750 bis 1840 und lenken den Blick auf die Parallelität zur Anthropologie, romantischen Synästhesie und der zunehmenden Infragestellung der sich auf Analogie und Ähnlichkeit stützenden Perzeptions modelle.7 Die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts sei – im Gegensatz dazu – geprägt von dem Modell der vereinzelten, funktionalisierten und rationalisierten Sinne nach dem Modell der Rahmenschau.8 Das Problem des ›aufrechten Sehens‹ erlaubt, die Frage zu stellen, ob dieser Wandel sich nicht bereits früher ankündigt und beinahe notgedrungen aus dem neuen Wissenschaftsverständnis ergibt. Anhand einiger zentraler Texte der Optik des 17. und 18. Jahrhunderts soll gezeigt werden, wie das Nicht-Wissen um die Verbindung von Leib und Seele, dem Bild auf der Retina und der visuellen Wahrnehmung mit narrativen Verfahren überbrückt wird und welche Rolle bei dieser ›Kippfigur‹ ins Arbiträre Empfindung und Erfahrung spielen. Kästner stellt – wie gesagt – den Vergleich des Auges mit der Camera obscura etwas gelangweilt vor. Wesentlich interessanter scheinen ihm seine Inkohärenzen. Er situiert diese nicht etwa auf der Ebene der in jedem Fall komplexeren Anatomie des Auges, sondern bei der Frage, ob der Vergleich auch die Rolle der Seele angemessen erfasse. Nur eine Kleinigkeit finde ich dabey zu erinnern. Sie betrifft den Zuschauer in der Camera obscura, die wir im Kopfe herumtragen. Ich habe mathematische Lehr bücher gelesen, in denen die Seele ausdrücklich dafür ausgegeben wird, und ich kann dieses doch nicht glauben, weil ich mich Zeit meines Lebens nicht zu erinnern 6 Dies
widerspricht der These Crarys, der Vergleich von Auge und Camera obscura verbleibe bis ins 19. Jahrhundert rein metaphorisch und die Autorität des Auges unangefochten. Vgl. Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge 1990, S. 129. Einen Überblick gibt: Nicholas J. Wade: A Natural History of Vision. Cambridge 1998, S. 322–325. 7 Vgl. Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990, S. 9 f. u. 177–184; Friedmar Apel: Das Auge liest mit. Zur Visualität der Literatur. München 2010, S. 7–44; Crary: Techniques of the Observer, S. 25–66; Albrecht Koschorke: Wissenschaften des Arbiträren. Die Revolutionierung der Sinnesphysiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik um 1800. In: Joseph Vogl (Hrsg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 22010, S. 19–52. 8 August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts [1934]. Darmstadt 1965.
Narration, Sinneswahrnehmung und aufrechtes Sehen in der Optik
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weis, daß meine Seele in einem Auge wäre eingesperret gewesen, wie der Zuschauer sich gefallen lassen muß, im finstern Zimmer eingesperret zu seyn.9
Kästner kritisiert also in erster Linie die räumliche Situierung und Beschränkung der Seele. Implizit trifft er jedoch eine weitreichendere Aussage über ihr Verhältnis zum Körper. Die Seele entziehe sich den materiellen Gesetzen der Körperlichkeit. Kästner nimmt hierzu die Personifizierung der Seele aus dem Vergleich mit der Camera obscura auf und führt sie ad absurdum: die Seele könne ja nicht zur gleichen Zeit in beiden Augen sitzen und wenn doch, wie solle sie dann durch die dunkle Netzhaut hindurchsehen? Er wehrt sich zudem gegen die Darstellung des Sehvorgangs als einer mise en abyme, bei der sich Bild und Zuschauer verkleinert, aber identisch duplizieren. Kästner schlussfolgert, dass die Seele sich weder in den Augen befinde, noch im anatomischen Sinne die Fähigkeit besäße, zu sehen: »[…] die Seele empfindet das Bild […] gewiß nicht vermittelst anderer Augen, und also nicht auf die Art, wie der Zuschauer.«10 Nicht einmal den Status des Bildes will er dem Gesehenen zugestehen: Zwölf bis dreyzehn Jahre sind in meinen Augen Bilder gewesen, ohne daß ich es gewußt hätte, und in mehr als zwanzig Jahren, da ich es weis, kann ich versichern, dass ich es nicht ein einzigmal empfunden habe. Die Seele empfindet nicht das Bild, sondern die Sache selbst […].11
Kästner vertritt die Auffassung, das gesehene Objekt werde als solches von der Seele wahrgenommen, das Auge reproduziere nur ein Bild, also per definitionem nicht die ›Sache selbst‹. Bemerkenswert ist, dass er damit die physischen Prozesse im Auge dem Bereich des medialen, indirekten, auch sprachlichen Weltzugangs zurechnet und den psychischen bzw. seelischen Prozess als unmittelbaren Weltzugang begreift. Es ist folglich nur konsequent, dass Kästner die Worte fehlen, wenn er die mögliche Verbindung zwischen der Seele und den geometrischen Gesetzen folgenden Vorgang im Auge zu beschreiben versucht. Lückenhaftes Wissen spiegelt sich hier in einem lückenhaften Text: »[…] die Seele empfindet das Bild, das sich in den Augen ihres Körpers abmalet, vermittelst … des Nervensaftes … der gespannten Nervenfasern … wie man will.«12 Kästners kategoriale Unterscheidung des geometrischen Vorgangs im Auge und der seelischen Prozesse erlaubt es ihm, dem Problem des umgekehrten Bildes auf der Retina keine besondere Relevanz zuzumessen. Da wir nämlich nicht die Gemälde, sondern die Sachen selbst empfinden, so sehe ich keinen Zusammenhang zwischen dem Stande des Bildes im Auge, und der Empfin9
Kästner: Anmerkung über die Aehnlichkeit des Auges, S. 427. Ebd., S. 428. 11 Ebd. 12 Ebd. 10
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dung des Gegenstandes, als den mir die Erfahrung lehret. Auf was für eine Art das Bild die Empfindung erregt, veranlasset, oder auch nur damit übereinstimmet […] das ist mir völlig unbekannt […].13
Die Wissenslücke, die sich hier erneut auftut, füllt Kästner diesmal mit einem poetischen Zitat: »Das soll kein Sterblicher und kein Geschöpfe fragen,/ Es möge sich mein Feind mit solchem Vorwiz plagen./ Haller.«14 Die Analogie mit der Camera obscura und das damit implizierte geometrische Bild der visuellen Wahrnehmung führen dazu, dass Kästner Sehen und Wahrnehmen entkoppelt und die dennoch bestehende Verbindung als einen Ort prinzipiellen Unwissens markiert.15 Das »verborgene[] Band«16 zwischen Seele und Leib verdiene Bewunderung, könne jedoch nicht erklärt werden: »Soll ich mich denn wundern, warum Zucker süße, und Eßig sauer schmeckt? warum ich Wärme beym Steigen des Thermometers, und Kälte beym Fallen desselben empfinde? so hätte ich nichts zu thun, als mich zu wundern.«17 Ähnlich, wenn auch durchaus nicht polemisch, argumentiert bereits Johannes Kepler in seiner ersten optischen Schrift, die 1604 die Auffassung des Basler Arztes Felix Platter übernimmt, das Sehvermögen sei nicht in der Linse zu verorten, sondern diese diene lediglich der Fokussierung auf dem Augenhintergrund.18 Das Sehen, wie ich es erkläre, kommt dadurch zustande, daß das Bild der gesamten Halbkugel der Welt, die vor dem Auge liegt, und noch etwas darüber hinaus auf die weißrötliche Wand der hohlen Oberfläche der Netzhaut gebracht wird. […] Deshalb überschreitet weder das Licht die hintere Oberfläche des Glaskörpers, noch wird es daselbst gebrochen, sondern es malt sich darauf ab.19
Keplers Beschreibung des Sehvorgangs und dessen Lokalisierung auf der Retina scheinen erstmals zu zeigen, dass es sich bei dem Vergleich des Auges mit der Camera obscura20 nicht um eine sprachliche Analogie handelt, sondern Anatomie und Instrument in ihrer Funktionsweise tatsächlich übereinstimmen. In der Konsequenz gibt es, zum einen, innerhalb des Auges keine Möglichkeit mehr, das Bild herumzudrehen, wenngleich Kepler einräumt, er habe diese Vorstellung nur ungern aufgegeben.21 Zum anderen suggeriert der Vergleich mit der bildenden Kunst (›Bild‹, ›malen‹), es handele sich beim Sehvorgang um einen Übertragungsprozess, 13
Ebd., S. 429.
15
Vgl. ebd., S. 431.
14 Ebd. 16 Ebd.
17 Ebd. 18
Vgl. Johannes Kepler: Ad Vitellionem paralipomena. In: Ders.: Schriften zur Optik 1604– 1611. Frankfurt a. M. 2008, S. 73–296, hier: 230 f. 19 Ebd., S. 233. 20 Vgl. ebd., S. 238. 21 Vgl. ebd., S. 278.
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der von einem komplexen Verhältnis von Identität und Differenz geprägt sei. Der Mensch betrachtet nicht mehr die Außenwelt, sondern Bilder auf seiner Retina. Und diese sind – so konstatiert Kepler – nicht nur seitenverkehrt, sondern auch verkleinert und stehen auf dem Kopf.22 Genau hier findet also die Verdoppelung der Beobachterperspektive statt, die Kästner mehr als ein Jahrhundert später kritisieren wird und die auf der Bildebene von einer grundlegenden Uneigentlichkeit geprägt ist. Kepler spricht nicht umsonst von einem »Gespenst oder ein[em] Bildchen«.23 Dieser Uneigentlichkeit antworten in gewisser Weise seine rhetorischen Mittel. Der Astronom und Optiker schlägt zwar vor, den Sehvorgang als einen physischen »Eindruck der Abbilder in den geistigen Stoff«24 zu fassen, will letzteren aber nicht näher bestimmen. Er verweist auf das Göttliche und eine kleine Erzählung muss die Wissenslücke schließen: Ich muß es den Physikern [Physiologen] zur Entscheidung überlassen, auf welche Weise sich das Bild oder dieses Gemälde mit den geistigen Sehstoffen verbindet, die ihren Sitz in der Netzhaut und den Nerven haben, und ob es durch diesen geistigen Stoff nach innen in die Hohlräume des Gehirns zum eigentlichen Sitz der Seele oder der Sehfähigkeit gebracht wird, oder ob die Fähigkeit zu sehen von der Seele wie ein Quästor [öffentlicher Ankläger] bestellt wird, der aus dem Hauptsitz des Gehirns nach außen zu dem Sehnerv und der Netzhaut wie zu den unteren Bänken herabsteigt und diesem Bild entgegenschreitet.25
Die Verbindung von Körper und Geist wird ›hinter‹ das Auge verlagert, in einen Bereich also, über den aus anatomischer Sicht noch wenig Genaues gesagt werden kann. Die Erkenntnisfähigkeit liegt damit nicht in den menschlichen Sinnen, sondern in den »Hohlräumen des Gehirns«, die die Seele durchaus autoritär bewohnt. Wie bei Kästner verweisen auch hier die narrativen Elemente schon rein formal auf ein Gebiet, welches nur der Einbildungskraft zugänglich ist und somit im Bereich des ›Möglichen‹ liegt.26 Auf der inhaltlichen Ebene wird der Sehvorgang als physische Bewegung gefasst und die Gerichtsmetapher scheint zu veranschaulichen, dass die Wahrheit erst mühsam (sprachlich) herausgefunden werden muss. Die Ausdeutung der Analogie führt den Leser aber auch zur blinden Justitia und zu einer Sprachverwendung, die sich rhetorischer Überzeugungsstrategien und Tropen bedient. 22 Vgl.
ebd., S. 234. Ebd., S. 277. 24 Ebd., S. 234; vgl. ebd., S. 276. 25 Ebd., S. 233. 26 Kepler geht davon aus, dass Proportionen und räumliche Verhältnisse des Bildes auf der Retina mit denjenigen des gesehenen Objektes übereinstimmen. Vgl. ebd., S. 278 f. Er rät dennoch, dem Auge nicht zu sehr zu vertrauen. Vgl. ebd., S. 296. 23
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Was bei Kepler nur im übertragenen Sinne gemeint war, nimmt rund 30 Jahre später René Descartes in seiner Dioptrique wörtlich. Auch er vergleicht das Auge mit der Camera obscura und sieht es als erwiesen an, dass Bilder auf die Retina projiziert werden. Er versteht jedoch sowohl das Licht, als auch den Sehvorgang als einen Übertragungsprozess von Bewegung, nicht von Bildern: Il faut, outre cela, prendre garde a ne pas supposer que, pour sentir, l’ame ait besoin de contempler quelques images qui soyent envoyées par les obiects iusques au cerveau, ainsi que font communement nos Philosophes; ou, du moins, il faut concevoir la nature de ces images tout autrement qu’ils ne font.27
Nicht das Bild auf der Retina sei also das Problem, sondern die Idee, der Wahrnehmungsvorgang beruhe auf Ähnlichkeit: »Vous voyés donc assés que, pour sentir, l’ame n’a pas besoin de contempler aucunes images qui soyent semblables aux choses qu’elle sent […].«28 Hinzu kommt, dass Descartes die bei Kepler nur angedeutete Unabhängigkeit von Seele und Körper verschärft. Mit dieser Unabhängigkeit und der Zurückweisung des Ähnlichkeitsparadigmas wird das umgekehrte Bild unproblematisch. Dieser Meinung ist Ende des 17. Jahrhundert auch William Molyneux. Er argumentiert, dass das Auge selbst gar nicht sehe (auch er vergleicht es mit der Camera obscura29): »For ’tis not properly the Eye that sees, it is only the Organ or Instrument, ’tis the Soul that sees by means of the Eye.«30 Herauszufinden, was sich in der Seele abspiele, sei jedoch nicht Aufgabe des Optikers. But by means of the Humors and Coats thereof each Cone of Rays is separated, and brought by it self to determine in its proper Point on the Retina, there Painting distinctly the Vivid Representation of the Object; Which Representation is there perceived by the sensitive Soul (whatever it be) the manner of whose Actions and Passions, He only knows who Created and Preserves it, Whose Ways are Past finding out, and by us unsearchable. But of this Moral truth we may be assured, That He that made the Eye shall see.31
27
René Descartes: La Dioptrique. In: Ders.: Œuvres de Descartes. Hrsg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. 11 Bde. Bd. 6. Paris 1973, S. 81–228, hier: 112; vgl. ebd., S. 85 u. 114–129. 28 Ebd., S. 114; vgl. ebd., S. 112 f; vgl. Isaac Newton: Opticks: or, a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light. London 41730, S. 319 f. 1775 geht der britische Astronom Joseph Harris davon aus, dass weder das Auge, noch der Geist (›mind‹) das Bild auf dem Kopf sehe, da das Auge die Sehstrahlen bis zum gesehenen Objekt zurückverfolge. Vgl. Joseph Harris: A Treatise of Optics. Containing Elements of the Science; in two Books. London 1775, S. 101–103. 29 Vgl. William Molyneux: Dioptrica Nova. A Treatise of Dioptricks, in two Parts. London 21709, S. 103 f.; vgl. Le Cat: Traité des sens, S. 149 f. 30 Molyneux: Dioptrica Nova, S. 105. 31 Ebd., S. 104 f.
Narration, Sinneswahrnehmung und aufrechtes Sehen in der Optik
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Sowohl die rationalistische Unabhängigkeit des Geistes von den Sinnen, als auch die im Glauben verhafteten Erklärungen des 17. Jahrhunderts bleiben zwar auch im 18. Jahrhundert durchaus präsent, werden aber durch empiristische und sensualis tische Thesen, sowie durch die grundlegende Aufwertung der visuellen Erkenntnis immer mehr herausgefordert. John Locke vertritt Ende des 17. Jahrhunderts bekanntlich die Auffassung, der Mensch habe nur durch seine Sinne Kenntnis von der Welt. Wie kann er in diesem Fall jedoch wissen, dass das Bild auf der Retina nicht der tatsächlichen Position der Dinge entspricht? Locke setzt dabei auf das Urteilsvermögen, welches die richtige Interpretation des Bildes im Laufe des Lebens erlerne. Die Schwächen des Sehsinns sieht er nicht als dauerhaftes epistemologisches Problem an, sondern als Zeichen für den notwendigen und reziproken Lernprozess zwischen den Sinnen und der Urteilskraft.32 Ähnlich argumentiert auch Georges Berkeley. Er beschäftigt sich vor allem mit der Wahrnehmung von Distanzen und Größen, die das Auge (auch dies eine Folge von Keplers Erkenntnissen) nicht wahrnehmen kann und nur durch Rückschlüsse aus der Erfahrung zu erklären ist.33 Auf das umgekehrte Bild auf der Retina kommt er im Zusammenhang mit der räum lichen Wahrnehmung zu sprechen. Berkeley diskutiert sie im Kontext der optischen Erkenntnisse des 17. Jahrhunderts und nennt das umgekehrte Bild eine sich hieraus ergebende ›gewaltige Schwierigkeit‹34, die für ihn nicht mit der Erklärung aus dem Weg geräumt sei, der Geist (›mind‹) verfolge die Lichtstrahlen bis zum gesehenen Objekt zurück. To me it seems evident, that Crossing and Tracing of the Rays, &c. is never thought on by Children, Idiots, or in Truth by any other, save only those who have applyed themselves to the Study of Optics. And for the Mind to judge of the Situation of Objects, by those things, without perceiving them, or to perceive them without knowing it, take which you please, ’tis perfectly beyond my Comprehension.35
Anders als Locke erklärt Berkeley die Fähigkeit des Menschen, visuelle Eindrücke aufrecht wahrzunehmen nicht mit der Urteilskraft, sondern mit alltäglicher Erfahrung. Müsse der Mensch doch die Augen heben, um Dinge deutlich zu sehen, die sich zwar auf der Retina unten, in Wirklichkeit aber oben befänden.36 Zudem sei ja die Erde auch im umgekehrten Bild nahe an den Füßen gelegen. Die alltägliche 32 Vgl.
Evelyn Dueck: Sinnestäuschungen und Trugwahrnehmungen: eine Einleitung. In: Evelyn Dueck u. Nathalie Vuillemin (Hrsg.): »Der Augen Blödigkeit«. Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmung und visuelle Epistemologie im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2016, S. 9–37, hier: 29–31. 33 Vgl. George Berkeley: An Essay Towards a New Theory of Vision. Dublin 21709, S. 1 f. 34 Ebd., S. 104. 35 Ebd., S. 107 f. 36 Vgl. ebd., S. 116 f.; so noch Charles Bell in: John Bell u. Charles Bell: The Anatomy and Physiology of the Human Body [1797]. 3 Bde. Bd. 3. London 41816, S. 21.
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Erfahrung lehre jeden, dass der Himmel oben und die Erde unten sein müsse.37 Ohne die physische Erfahrung des Tastsinns und der Bewegung kann das Auge jedoch, so Berkeley, Größen und Distanzen nicht wahrnehmen und das umgekehrte Bild auf der Retina folglich nicht korrigieren.38 In seiner Antwort auf Kästners »Anmerkung« versucht Johann August Unzer, den Vergleich des Auges mit der Camera obscura zu retten. Der Unterschied bestehe lediglich in der Tatsache, dass die weiße Wand ohne Empfindungsfähigkeit sei: »Man kann vielmehr nur einzig und allein die Frage thun, ob die weiße Wand, wenn sie dächte, die Bilder auf eben die Art empfinden würde, als sie das netzförmige Häutchen empfindet, und dazu sage ich, in der Vergleichung, ohne Bedenken: Ja.«39 Auf die Frage jedoch, wie die seelische Empfindungsfähigkeit die Bilder der Retina weiter verarbeitet, weiß auch er keine Antwort: »Ich unterscheide also, so wie ich das Auge und finstere Zimmer vergleiche, die Seele nicht von dem netzförmigen Häutchen: denn es ist genug, daß dieses empfindet, die Seele mag es damit anfangen, wie sie will.«40 In Kästners Antwort auf Unzer verschiebt sich die Auseinandersetzung. Kästner versteht dessen Thesen als materialistische Auffassung von der Seele und versucht, sie paradoxerweise mit sensualistischen Argumenten zu entkräften.41 Unzer hingegen scheint schlagartig bewusst geworden zu sein, dass er sich mit seiner Idee einer ›denkenden weißen Wand‹ auf Glatteis begeben hat und beendet in einer weiteren Antwort ausweichend »diese[] kleine[] Streitigkeit«.42 Die Auseinandersetzung der beiden Autoren und die Behandlung des Problems des ›aufrechten Sehens‹ im 17. und 18. Jahrhundert zeigen beispielhaft, dass die Anatomie des Auges zwar bekannt war, der Vorgang der visuellen Wahrnehmung aber zum großen Teil im Dunkeln lag. Das umgekehrte Bild birgt zugleich für die aufklärerische Epistemologie und deren Leitmetaphern des Lichts und des klaren Blicks ein erhebliches Irritationspotential und ist von bildlicher und symbolischer Kraft (eine Welt ›auf 37 Vgl.
Berkeley: An Essay Towards a New Theory of Vision, S. 133–138. Ähnlich vertritt dies auch Le Cat: Traité des sens, S. 198–203; vgl. auch Leclerc de Buffon: Histoire naturelle, générale et particulière. Tome Troisième. Paris 1749, S. 306–309. Buffon folgert, dass Säuglinge die Welt auf dem Kopf sehen, da erst die Erfahrung des Tastsinns die Seele vom Gegenteil überzeuge. Anders Albrecht von Haller: Grundriß der Physiologie für Vorlesungen. o. O. 1784, S. 429 [§ 553]; vgl. ebd., S. 427 [§ 548]. 39 Johann August Unzer: Sendschreiben an Herrn Professor Kästnern, worinn die Aehnlichkeit des Auges mit einem verfinsterten Zimmer vertheidiget wird. In: Hamburgisches Magazin, oder gesammlete Schriften, zum Unterricht und Vergnügen 9 (1752), S. 29–37, hier: 31. 40 Ebd. 41 Vgl. Abraham Gotthelf Kästner: Erinnerungen gegen Vorhergehendes, von der Aehnlichkeit des Auges mit einem verfinsterten Zimmer. In: Hamburgisches Magazin, oder gesammlete Schriften, zum Unterricht und Vergnügen 9 (1752), S. 38–48, hier: 41 f. 42 Johann August Unzer: Fortsetzung von der Aehnlichkeit des Auges mit einem verfinsterten Zimmer, an Herrn Prof. Kästnern. In: Hamburgisches Magazin, oder gesammlete Schriften, zum Unterricht und Vergnügen 10 (1752), S. 67–75, hier: 67. 38
Narration, Sinneswahrnehmung und aufrechtes Sehen in der Optik
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dem Kopf‹). Narrative Elemente dienen als Überbrückung des Nicht-Wissens und verweisen zugleich auf einen Bereich hinter dem Auge, der nur der Einbildungskraft und damit auch narrativen Elementen zugänglich ist. Diese entfalten – vor allem durch die Personifizierung der Seele – eine Eigendynamik, die im Sinne der strukturalistischen Narratologie den Übergang von der Deskription zur Narration markiert. Charakteristisch für die Optik des 18. Jahrhunderts scheint weder die Analogie ›Camera obscura – Auge‹, noch die Fassung des Sehvermögens als eines analogen Übertragungsvorgangs, sondern die Frage, inwiefern Wahrnehmung als eine Empfindung der Seele oder des Geistes erst erlernt und also prozessual gedacht werden muss. Das Problem des umgekehrten Bildes entwickelt im 18. Jahrhundert deswegen eine solche Relevanz, weil der direkte Zugang zur Welt durch die Sinne – und insbesondere das Auge – gleichbedeutend zu sein scheint mit der Möglichkeit ihrer wahren Erkenntnis. Kepler und Descartes (und auch nicht wenige Autoren des 18. Jahrhunderts, wie das Beispiel Kästner zeigt) sehen dieses Problem noch nicht, gehen sie doch von einer mehr oder weniger von den Sinnen unabhängigen Erkenntnisfähigkeit aus. Die optischen Schriften des beginnenden 19. Jahrhunderts sehen dieses Problem nicht mehr, denn die Verbindung von Sehen und Erkennen wird zunehmend gelockert. Johannes Müller beispielsweise argumentiert, dass der Mensch ja alles auf dem Kopf sehe und diese Art der Wahrnehmung folglich problemlos, da in sich stimmig sei. Das Bild selbst und die durch es hervorgerufenen Nervenreize müssen also gar nicht der Wahrheit entsprechen. Entscheidend ist für Müller, dass nicht nur ein Teil, sondern die gesamte gesehene Welt auf dem Kopf steht, eine Vorstellung, mit der die Optiker des 17. und 18. Jahrhunderts vermutlich ihre Mühe gehabt hätten.43
43 Vgl.
Johannes Müller: Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen. 2 Bde. Bd. 2. Coblenz 1840, S. 357–359.
Tanja van Hoorn
Affektregie Schillers Verbrecher aus Leidenschaft In dem Steckbrief, mit dem das Amt Göppingen im Jahre 1758 den berühmtberüchtigten Sonnenwirt sucht, heißt es über den »famosen Bößwicht[] Friderich Schwahnen«: Dieser Räuber und Mörder ist 27. Jahr alt, kurzer Statur, und nur 5. Fuß 7. Zoll lang, dabey aber besezt, eines starcken Kopfs, weissen und saubern Angesichts, dicker rother Backen, braun- oder vielmehr gelblechter kurzer glatter Haaren, schwarzbrauner Augen, breiter Schultern, und starcker Waaden. […] Seine Sprache ist angenehm, und sein Umgang also schmeichelnd, daß er einen jeden, der ihne nicht kennet, dergestalten einzunehmen weißt, daß man seinem fälschlichen Vorgeben vollkommenen Glauben beymisset. Wobey noch anzumercken, daß er sich zu Zeiten starck bezeche, und volltrincke, also zwar, daß er hernach auf dem Feld, und zwar zur Sommers-Zeit in Früchten, oder auf dem Graß verliegen bleibt.1
Dass Friedrich Schiller den authentischen Fall des Johann Friedrich Schwan als Vorlage für seine zuerst 1786 anonym unter dem Titel Der Verbrecher aus Infamie erschienene Erzählung verwendet, ist bekannt. Bekannt ist auch, dass er die his torischen Fakten verändert – so heißt Friedrich Schwan nun Christian Wolf. Der Name erinnert nicht nur an den Halleschen rationalistischen Philosophen und Erfinder der empirischen Psychologie. Er markiert den Protagonisten zudem widersprüchlich als Teil der Herde Jesu und als reißend-gefährliches Raubtier, mithin – ganz im Sinne der dritten Schillerschen Dissertation – in seiner geistig-tierischen Doppelnatur.2 Ein Trinker, der seinen Rausch in den Obstplantagen ausschläft, ist Schillers Sonnenwirt nicht. Er sieht auch ganz anders aus, hat keineswegs gelbliche glatte Haare, sondern, wie es in der Erzählung heißt, »kraußes Haar von einer unangenehmen Schwärze« sowie »eine plattgedrückte Nase und eine geschwollene Oberlippe«.3 Seine offenbar an Schwarzafrikaner angelehnte, negativ bewertete Physiognomie teilt Christian Wolf mit Franz Moor aus den Räubern. Sein Problem ist jedoch nicht, dass er nur der Zweitgeborene ist; sein Problem ist, dass die, wie es heißt, ›Weiber‹ ihn aufgrund seiner Häßlichkeit fliehen. Dass er mit gestohlenen 1
Steckbrief zur Ergreifung von Friedrich Schwan (1758). In: Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Studienausgabe. Hrsg. v. Alexander Košenina. Stuttgart 2014, S. 95 f. 2 Grundlegend hierzu Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der Philosophischen Briefe. Würzburg 1985. 3 Schiller: Verbrecher, S. 12.
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Liebesgaben erreichen will, was ihm sonst unerreichbar scheint, erweist sich als Anfang vom Ende. Vom Wilddieb wird er zum Mörder und zum Anführer einer Gaunerbande. Er stellt sich, wird gefoltert, stirbt auf dem Schafott. Der Titel der 1792 erschienenen Buchfassung annonciert die Geschichte als eine vom Verbrecher aus verlorener Ehre.4 Das Motiv spielt fraglos eine Rolle. Entwickelt wird das Schicksal des Sonnenwirts aber weniger am Leitfaden der Ehre, sondern eher am Leitfaden der Affekte: Christian Wolf wird gezeigt als Spielball der Leidenschaften.5 Seine Wandlung am Ende ist nichts anderes als ein Durchbruch zur Affektregulierung. Damit weist der Verbrecher aus Leidenschaft werkgeschichtlich voraus auf einen expliziten Stoizismus, wie er sich beim klassischen Schiller in der Abhandlung Über das Pathetische und in dem Drama Maria Stuart artikuliert. Dies sei in drei Schritten skizziert.6
I. Traditionell ist die Affektenlehre eine Lehre von den Arten und den Wirkungen der Affekte: Liebe, Haß, Zorn, Mitleid usw. werden unterschieden und es wird danach gefragt, welchen Nutzen oder Schaden sie anrichten. Ein derartiges Wissen von den Affekten ist seit der Antike zentraler Bestandteil der Rhetorik. Quintilian etwa unterscheidet drei Aufgaben des Redners: docere, delectare und movere; unterrichten, erfreuen, bewegen. Das movere zielt auf das Pathos, die Gemütserreg4 Zum
Textvergleich von erster Journalfassung und überarbeiteter Buchfassung Alexander Košenina: Überlieferung und Varianten. In: Schiller: Verbrecher, S. 38–42. Košenina bietet eine auch gegenüber der Nationalausgabe verbesserte, genauere Textfassung, die daher hier zugrunde gelegt wird. 5 Als Leidenschafts-Erzählung ist Schillers Verbrecher-Geschichte das männliche Pendant zu Diderots Erzählung Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache. Letztere hatte Schiller mit einer kurzen Anmerkung im Eröffnungsheft seiner Thalia präsentiert. Der Verbrecher aus Infamie folgte unmittelbar im zweiten Heft. Bei Diderots Erzählung handelt es sich um einen (die Sterneschen Elemente vermissen lassenden und insofern geglättet wirkenden) Ausschnitt aus dem ›AntiRoman‹ Jacques le Fataliste et son Mâitre, deutsch komplett zuerst 1792, französisch komplett zuerst 1796. Im Zentrum steht eine reiche Witwe, die beschließt, »eine Rache zum Schrecken aller Männer, die sich gelüsten lassen, eine Frau von Ehre zu betrügen« zu üben (Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache. [Aus einem Manuskript des verstorbenen Diderot gezogen.] In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Wolfgang Riedel. 5 Bde. Bd. 5. München 91993, S. 183–219, hier: 188). Auch Diderot verknüpft in seiner moralischen Erzählung mithin Leidenschaften und Ehrbegriff. Für diesen Hinweis danke ich einer mir leider namentlich nicht bekannten Besucherin der DGEJ-Tagung 2015. 6 Man könnte das Feld auch aus der Perspektive der kognitiven Emotionstheorie und kognitiven Narratologie aufrollen (vgl. hierzu zusammenfassend Gesine Lenore Schiewer: Studienbuch Emotionsforschung. Theorien – Anwendungsfelder – Perspektiven. Darmstadt 2014, S. 64–69) – eine Anschlussmöglichkeit, die hier immerhin angedeutet sei.
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barkeit des Zuhörers. Quintilian ist davon überzeugt, dass der Redner, um bewegen zu können, selbst die Gemütsbewegungen zeigen müsse, die er bei seinen Zuhörern erregen wolle.7 An diese rhetorische Affektenlehre knüpft Schiller in der programmatischen Vorrede zu seiner Kriminalgeschichte ausdrücklich und zwar abgrenzend an. Sogar die besten Geschichtsschreiber des Altertums hätten das »Herz ihres Lesers durch hinreißenden Vortrag bestochen«.8 Der Bestechungs-Strategie einer Affekterregung durch emphatischen Duktus will Schiller nicht folgen. Seine Verbrecher-Erzählung soll sich nicht am rasenden Täter, sondern umgekehrt an der ruhigen Gelassenheit des Lesers orientieren. Schillers bekannte Formel dafür lautet: »Der Held muß kalt werden wie der Leser«.9 Zunächst scheint zwischen der vorangestellten poetologischen Selbstverpflichtung auf ein Programm der Kälte und der tatsächlichen Erzählpraxis ein gewisser Widerspruch zu bestehen. Denn durch Perspektivwechsel auch in die 1. Person Singular des Sonnenwirts, durch Variationen im Erzähltempo zwischen raffendem Erzählerbericht und zeitdeckenden szenischen Dialogszenen sowie durch Psychonarration entsteht eine spannende Geschichte, in deren Verlauf uns dieser Held näher und näher rückt.10 Tatsächlich ist gerade dies der beabsichtigte Effekt einer Sympathiewerbung, die die Entwicklungsgeschichte eines Menschen hin zum Verbrecher erzählt.11 Dabei gleicht der Erzähler den Helden insofern der ›Kälte‹ des Lesers an, als er ihn sozusagen auf normaler Betriebstemperatur abholt. Schiller selbst erläutert: »wir müssen mit ihm bekannt werden, eh’ er handelt, wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr, als an seinen Thaten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken, als an den Folgen jener Thaten.«12 Den Helden aus einer Perspektive der ›Kälte‹ darstellen heißt also im Sinne Blanckenburgs, seine innere Geschichte im Hinblick auf die Quellen der Gedanken, die zum Verbrechen führten, erzählen. Dieser innere Quellgrund aber liegt für den, 7
Vgl. hierzu überblickshaft J. Wisse: Art. Affektenlehre. B. I: Antike. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. 12 Bde. Bd. 1. Darmstadt 1992, Sp. 218–224; vgl. auch Tanja van Hoorn: Art. Affektenlehre. In: Das 18. Jahrhundert. Lexikon zur Antikerezeption in Aufklärung und Klassizismus. Hrsg. v. Joachim Jacob u. Johannes Süßmann. Stuttgart/ Weimar 2017 [in Vorbereitung]. 8 Schiller: Verbrecher, S. 10. 9 Ebd., S. 11. 10 Vgl. die narratologische Analyse von Achim Aurnhammer: Engagiertes Erzählen. Der Verbrecher aus verlorener Ehre. In: Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack (Hrsg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen 1990, S. 254–270. 11 Susanne Kaul: Wie der Leser mit dem Helden warm wird. Zu Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre. In: Claudia Hillebrandt u. Elisabeth Kampmann (Hrsg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Berlin 2014, S. 236–250. 12 Schiller: Verbrecher, S. 11.
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wie es heißt, »Menschenforscher« nicht in der Vernunft, sondern auf dem Feld der »Begehrungskraft«.13 Die beiden Termini, »Menschenforscher« und »Begehrungskraft«, markieren das Feld einer affektzentrierten Anthropologie, die Schiller in seiner Verbrecher-Erzählung narrativ sondiert. In der programmatischen Vorrede wird ganz in diesem Sinne eine Taxonomie der Leidenschaften eingeklagt: Stünde einmal, wie für die übrigen Reiche der Natur, auch für das Menschengeschlecht, ein Linnäus auf, welcher nach Trieben und Neigungen klaßifizierte, wie sehr würde man erstaunen, wenn man so manchen, dessen Laster in einer engen bürgerlichen Sphäre, und in der schmalen Umzäunung der Gesetze jezt ersticken muß, mit dem Ungeheuer Borgia in einer Ordnung beysammen fände.14
So manch wohlsituierter Bürger gehört also hinsichtlich seiner Triebnatur in ein Taxon mit so manchem Verbrecher, er hat nur einfach mehr Glück. Das zu zeigen, dazu dient die Erzählung.
II. Um dieses didaktische Ziel zu erreichen, erzählt der Anthropologe Schiller die Geschichte des Sonnenwirts als Geschichte eines Menschen und zwar eines empfindsamen Menschen im Kampf mit den Leidenschaften. So sehr er also die AffektBestechungsstrategie der antiken Rhetoriker in poetologischer Hinsicht ablehnt, so sehr setzt er im narrativen Nachvollzug des gescheiterten Lebens auf eine seismographische Aufzeichnung der Affekte. Dazu organisiert er seine Erzählung durch eine Regie, die die Stationen des Leidens- und Lebensweges als Affektsituationen zeigt. Den sozusagen ›kalten‹ Einstieg bildet eine Sozialanamnese und ein Blick auf die anthropologische Grundausstattung des Helden: Der aus armen Verhältnissen stammende, vaterlos aufgewachsene Christian Wolf wird, weil die Wirtschaft schlecht läuft, schon als Bub zu einem frechen Müßiggänger.15 Die Natur hat ihn
13
Ebd., S. 9.
14 Ebd. 15
Ganz anders übrigens als der historische Sonnenwirt, dessen »ausserordentliche[] Anlagen des Geistes« Schillers Lehrer Jacob Friedrich Abel (dessen Vater Konrad Ludwig Abel mit dem Fall zu tun hatte) in seinem Bericht ausdrücklich hervorhebt. Auch werden die Eltern von Abel als zunächst liebevoll und treusorgend charakterisiert. Schließlich ist bei Abel der Sonnenwirt keineswegs vaterlos aufgewachsen, vielmehr wird gerade der Vaterkonflikt zu einem wichtigen movens der Verbrecherkarriere; vgl. Jacob Friedrich Abel: Lebens-Geschichte Fridrich Schwans (1787). In: Schiller: Verbrecher, S. 57–94, hier: 58, zum (erst nach seiner Kehrtwende gemäßigten) Hass Schwans auf den Vater S. 60, 63, 67 u. 90.
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fataler Weise nicht nur hässlich, sondern ausdrücklich auch »sinnlich« ausgestattet.16 Das ist die Ausgangslage – Phase 1. Als nun das Mädchen, in das der Sonnenwirt sich verliebt, den Bewerber ablehnt, sollen Geschenke helfen, wo Geld, sie zu kaufen, fehlt. Was tut der Mensch? Er sucht einen möglichst bequemen Weg und rechtfertigt diesen vor sich selbst mit einer kleinen Notlüge. Konkret: er wird Wilddieb, nennt das aber »honett […] stehlen« – soll wohl heißen: mit guten Gründen, nicht aus purer Langeweile oder Böswilligkeit – Phase 2.17 Der Erzähler, ganz Psychologe, diagnostiziert beim Sonnenwirt eine Mischung aus Bequemlichkeit, Unwissenheit, Stolz und Weichlichkeit.18 Noch aber ist Christian Wolf ganz ruhigen Blutes. Als die angebetete Johanne sich dem freigiebigen Wildbret-Gönner zuwendet, bringt dies den Konkurrenten Robert, einen Jägerburschen, auf den Plan. »Eifersucht und Neid[]« nennt der Psychologen-Erzähler als dessen affektgeladene Motivation, dem Sonnenwirt nachzuspionieren.19 Mit Erfolg: der Wilddieb wird enttarnt, verliert sein ganzes bescheidenes Vermögen und das Mädchen dazu. Die hämische Schadenfreude Roberts angesichts seines Triumphs wird personal aus der Sicht des »Jägerpurschen« erzählt.20 Gleich darauf wechselt die Perspektive wieder zum Protagonisten: Der »kannte seinen Feind, und dieser Feind war der glückliche Besitzer seiner Johanne«.21 Den verzweifelten Sonnenwirt präsentiert die Erzählung nun ganz als Sklaven seiner Affektnatur, als ein seinen Leidenschaften ausgeliefertes subiectum – Phase 3. Die Impulse, die ihn in gegensätzliche Richtungen zerren, werden in ein flirrendes Hinein und Hinaus dynamisiert. Der fundamentale Angriff auf die Seele, das Bedrängende, das ›die-Luft-Abschnüren‹, das von den Affekten ausgeht, wird zudem durch einen Wechsel des Erzähltempus mitten im Satz vom Präteritum zum Präsens unterstrichen: »Drückendes Gefühl des Mangels 16 Schiller:
Verbrecher, S. 12. Ein »angebohrnes[s] Feuer[]« konstatiert auch Abel; vgl. Abel: Lebens-Geschichte, S. 60. 17 Schiller: Verbrecher, S. 13. 18 »Zu bequem und zu unwissend, seinem zerrütteten Hauswesen durch Spekulation aufzuhelfen, zu stolz, auch zu weichlich, den Herrn, der er bisher gewesen war, mit dem Bauer zu vertauschen, und seiner angebeteten Freyheit zu entsagen, sah er nur einen Ausweg vor sich« (ebd.). 19 Ebd. 20 »Robert triumphierte. Sein Nebenbuhler war aus dem Felde geschlagen, und Hannchens Gunst für den Bettler verloren.« (ebd.) Die abschätzige Einschätzung Wolfs als einem »Bettler« macht nur aus Roberts Perspektive Sinn. Der Blick auf die Frau, um die sich die beiden streiten, ist über die Bezeichnung als »Hannchen« (aus der Sicht Roberts) bzw. »Johanne« (aus der Sicht des Sonnenwirts, vgl. ebd., S. 13 u. 17) ebenfalls genau personalisiert. Diesen subtilen Einsatz moderner psychonarrativer Erzähltechniken hat aufgezeigt Aurnhammer: Engagiertes Erzählen, S. 264. 21 Schiller: Verbrecher, S. 13. Der Perspektivenwechsel wird, wie Aurnhammer: Engagiertes Erzählen, S. 264 gezeigt hat, insbesondere durch die Spannung zwischen dem Wort »Besitzer« und dem Possessivpronomen deutlich, in der sich Mangelerfahrung des Sonnenwirts artikuliert.
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gesellte sich zu beleidigtem Stolze, Noth und Eifersucht stürmen vereinigt auf seine Empfindlichkeit ein, der Hunger treibt ihn hinaus in die weite Welt, Rache und Leidenschaft halten ihn fest.«22 Dass der Sonnenwirt »zum zweytenmal Wilddieb« wird, wie der nachfolgende Satz berichtet, macht diese Erzählweise als etwas Unausweichliches einsichtig. Auch die weitere Laufbahn wird präsentiert als Folge emotionaler Verletzungen. Als Wolf nach einem Jahr Gefängnis in die Stadt zurückkehrt, flieht nicht nur Johanne ihn, es gibt ihm auch niemand Arbeit. Also wird er ein drittes Mal Wilddieb und zum dritten Mal verrät ihn Robert. Dass die Richter auch im dritten Prozess nur in das Buch der Gesetze, nicht aber in die, wie es heißt, »Gemüthsfassung des Beklagten« blicken, wird ausdrücklich moniert – kein Psychologe in Sicht bei Gericht.23 Was die nun folgende dreijährige Festungshaft bei Christian Wolf anrichtet, darf er in einer eingeschobenen Ich-Erzählung selbst berichten. Weil er die Einsamkeit nicht aushalten kann, macht er sich gemein mit den Leidensgenossen im Kerker. Emotionale Verwahrlosung diagnostiziert er selbst als Folge. Sein Herz – immer ist es das Herz, an dem der Zustand sich ablesen lässt – ist voller Hass.24 Als sich bei einem Streifzug im Wald unverhofft die Gelegenheit zur Rache ergibt (er hat die Flinte im Anschlag und mit einem Mal steht Robert mit dem Rücken zu ihm), erlebt er dies als eine Ausnahmesituation: »Der Arm zitterte mir, […] meine Zähne schlugen zusammen wie im Fieberfrost, und der Odem sperrte sich erstickend in meiner Lunge.«25 Die starke körperliche Reaktion gestaltet Schiller ganz im Einklang mit der zeitgenössischen medizinischen Affektenlehre etwa eines Johann August Unzer. Der hatte bereits 1746 in seiner Neuen Lehre von den Gemütsbewegungen den psychophysischen Charakter von Affekten festgehalten: »Weil die Bewegung der Nerven, des Herzens, des Bluts und der äussern Gliedmassen desto vermehrter sind, je grösser der Affect ist […], so muß man schließen können, daß ein Affect desto grösser sey, je mercklicher alle diese Bewegungen von statten gehen.«26 Mit Unzers Semiotik gelesen befindet sich der Sonnenwirt in äußerstem Affekt. Und tatsächlich notiert auch die Erzählung, hastig voranschreitend, dass der körperlichen Not eine seelische entspreche, was sich in fataler Weise entlade: »Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewanns, und der Jäger lag todt am Boden.«27 Hatten ihn zuvor »Rache und Leidenschaft« festgehalten, so ist der Sonnenwirt nun 22
Schiller: Verbrecher, S. 13 f. Ebd., S. 14. 24 Vgl. ebd., S. 16. 25 Ebd., S. 19. 26 Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemütsbewegungen. Halle 1746, S. 18. 27 Schiller: Verbrecher, S. 19. 23
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nicht länger nur Sklave seiner Affekte. Er ist – Phase 4 – auch grammatisch gar nicht mehr handelndes Subjekt, sondern zum reinen Schauplatz eines Zweikampfes geworden, eines Zweikampfes zwischen Rache und Gewissen, zwischen Leidenschaft und Moral.28 Die Leidenschaft gewinnt, er begeht – im Affekt – den Mord. Anschließend wird er (ebenfalls aus Leidenschaft, nämlich aufgrund seiner Wollust, die er selbst seine »wütendste Neigung« nennt) zum Räuber.29 Wenig überraschend geschieht auch seine Umkehr im Zeichen der Affekte – Phase 5: Ausschlaggebend ist nämlich die Erkenntnis, dass in der Räubertruppe allein »Neid, Argwohn und Eifersucht«, mithin negative, feindliche Leidenschaften regierten: Einsam und misstrauisch geworden, findet Christian Wolf nachts keinen Schlaf mehr, »ewige Todesangst zerfraß seine Ruhe, das gräßliche Gespenst des Argwohns rasselte hinter ihm«.30 Er geht durch eine Zeit der, wie es heißt, »knirschende[n] Verzweiflung«, und »[er] fühlte […], wie tief er gefallen war«.31 Der tatsächliche Durchbruch ist dann markiert als der in einen völlig neuartigen Gefühlszustand: Der knirschenden Verzweiflung weicht – Phase 6 – »ruhigere Schwermut«.32 Statt Raserei Gefasstheit, statt Wut Traurigkeit: Der Sonnenwirt verlässt die Räuberbande. Freilich kommt diese neue, »ruhigere Schwermut« nicht sofort im Körper an. Gerade dass sich, im Gegenteil, die Geschichte seiner Leidenschaften tief in seine Physiognomie eingegraben hat, wird ihm zum Verhängnis: Ein Torschreiber an einer Stadtgrenze hält den Sonnenwirt aufgrund seiner Visage fest. Auf dem Gesicht Christian Wolfs zeichneten sich nämlich »so viele wüthende Affekte« ab, wie »verstümmelte[] Leichen auf einem Wahlplatz«.33
III. Kündet der Körper also noch von den vergangenen heftigen Leidenschaften, so ist Christian Wolf gleichwohl innerlich mit der »ruhigeren Schwermut« in einem neuen Seelenzustand der Affektüberwindung angekommen. Barbara Neymeyr hat gezeigt, dass Schiller seine Maria Stuart in den Akten 1 bis 4 als emotional aufs äußerste angespannte, ihren Leidenschaften ausgelieferte 28 Eigentlich
ist es sogar die »Flinte«, an die der Sonnenwirt die Entscheidung delegiert, so der Hinweis von Claudia Liebrand: »Ich bin der Sonnenwirt«. Subjektkonstitution in Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre. In: Roland Borgards u. Johannes Friedrich Lehmann (Hrsg.): Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800. Festschrift für Heinrich Bosse. Würzburg 2002, S. 117–129, hier: 126. 29 Schiller: Verbrecher, S. 27. 30 Ebd., S. 29. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 31.
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Heldin konzipiert, deren Geschichte dann im 5. Akt die eines Durchbruchs zur ataraxia, der Unerschütterlichkeit der Seele wird. Neymeyr ist den Spuren der Leidenschaft insbesondere im Nebentext nachgegangen und hat insofern von einer »Affektregie« gesprochen.34 Eine derartige Affektregie bestimmt auch bis in die dramatische Schlussszene die Verbrecher-Erzählung. Denn als der Oberamtmann, der ihn hat festsetzen lassen, sich bei ihm für sein ruppiges Benehmen entschuldigt, entscheidet sich der Sonnenwirt nach einem, wie es heißt, »heftigen« inneren Kampf, sich zu stellen.35 Der Zustand des ehemals Blindwütigen nähert sich damit in einem Akt der Selbstüberwindung dem, was der klassische Schiller ›Seelenstärke‹ nennen wird. Mit Neymeyr kann man dies in den Kontext des stoischen Ideals der Affektkontrolle stellen. Schiller war mit der antiken Stoa gut vertraut. Entscheidend dürfte auch hier der Einfluß seines Lehrers Jacob Friedrich Abel gewesen sein, der 1777 eine Rede zum Thema Seelenstärke ist Herrschaft über sich selbst hielt – Bezug nehmend u. a. auf Ciceros De Officiis, worin es bekanntlich um Tapferkeit und Seelengröße im Kontext stoischer Schmerzüberwindung und Todesverachtung geht. Bei Abel findet sich im Abschnitt »Herrschaft über seine Leidenschaften« aber auch folgendes konkretes Beispiel: »Robert[,] Herzog der Normandie[,] belagerte seinen Bruder Heinrich, und hatte ihn schon bis zu dem äussersten Mangel an Wasser gebracht, Rache, Ehrgeiz, alles kämpfte in Roberts Seele gegen den unglücklichen Bruder, aber die Liebe erhebt sich, und Robert schickt ihm Wasser und Wein in die Vestung.«36 Der Einfluss von Abels Seelenstärke-Konzept auf Schillers VerbrecherErzählung ist hier mit Händen und im Wortlaut greifbar: Bis in die Syntax, den Tempuswechsel und das entscheidende »aber« ist bei Abel genau die Situation vorgebildet, die Schiller den Sonnenwirt in der Sekunde vor dem Mord durchleiden lässt. Nur besteht Christian Wolf die Prüfung eben gerade nicht, bei ihm regiert hier noch keine »Seelenstärke«, sondern er wird von seinen Leidenschaften zur Untat getrieben.37 Anschließend nimmt die Verbrecher-Erzählung, wie gezeigt, dann den Verlauf einer Läuterungserzählung, und zwar der Läuterung eines ganz der Affektnatur un34 Barbara
Neymeyr: »Seelenstärke« und »Gemütsfreiheit«. Stoisches Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama Maria Stuart. In: Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur und Politik. 2 Bde. Bd. 2. Berlin/New York 2008, S. 897–926, hier: 917. 35 Schiller: Verbrecher, S. 34 f. 36 Jacob Friedrich Abel: Rede [Seelenstärke ist Herrschaft über sich selbst] [1777]. In: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie. Hrsg. v. Wolfgang Riedel. Würzburg 1995, S. 221–236, hier: 232 (Herv. d. Verf.). 37 Interessant immerhin, dass auch bei Abel weniger das Subjekt, als vielmehr »die Liebe« agiert (ebd.).
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terworfenen Subjekts hin zu einer ethisch motivierten Affektkontrolle. Der Blick in den Spiegel der von selbstbezogenen Leidenschaften determinierten Räuberbande motiviert den Protagonisten zur Umkehr und beschert ihm seinen neuen Seelenzustand als den einer Hinwendung zu Ruhe und Vernunft. Nun ist er, mit Seneca gesprochen, zu einem »tapfre[n] Geist, im Kampf mit der Widerwärtigkeit« geworden und erreicht damit auch moralisch eine neue Stufe.38 Eben diesen stoischen Zusammenhang von Ethik und Affektkontrolle hatte, worauf schon Wolfgang Riedel hingewiesen hat,39 Johann Friedrich Zückert in seiner Abhandlung Von den Leidenschaften unterstrichen: Allein das heißet Tugend, wenn man seine Lieblings-Neigungen und die angebohrnen Leidenschaften, durch eine lange Uebung, durch Verleugnung seiner selbst, durch Gottseeligkeit und strenge Achtsamkeit auf seine Handlungen, zu bezwingen lernet und dadurch zu derjenigen Gemüthsruhe gelanget, um deren Besiz Fürsten ihre Kronen vertauschen mögten.40
In seiner Schrift Über das Pathetische entwickelt Schiller die These, dass eine Tragödie den mühsamen Weg eines empfindsamen Individuums zu einer derartigen Gemütsruhe gestalten müsse: »Man gelangt also zur Darstellung der moralischen Freiheit nur durch die lebendigste Darstellung der leidenden Natur, und der tragische Held muß sich erst als empfindendes Wesen bei uns legitimiert haben, ehe wir ihm als Vernunftwesen huldigen und an seine Seelenstärke glauben.«41 Nun ist Christian Wolf kein großer tragischer Held, sondern, auf Deutsch gesagt, ein armes Schwein. Dennoch greift bereits hier, beim frühen Schiller, derselbe Mechanismus: Weil wir ihn als empfindsame Seele kennengelernt und auf seinem konsequenten Weg abwärts als einem Weg immer tiefer hinein in eine ganz den Leidenschaften ausgelieferte Natur begleitet haben, bewegt uns seine Umkehr, bewundern wir seinen Entschluss, blicken wir mit Hochachtung in seine nun große, ruhige, starke Seele. Das ist der Sonnenwirt!
38 So
zitiert Schiller selbst Seneca, Friedrich Schiller: Über das Pathetische. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 5 Bde. Bd. 5. München 91993, S. 512– 537, hier: 527. 39 Vgl. Wolfgang Riedel: Weltweisheit als Menschenlehre. Das philosophische Profil von Schillers Lehrer Abel. In: Jacob Friedrich Abel: Quellenedition, S. 377–450, hier: 438–440; vgl. auch ebd., S. 574. 40 Johann Friedrich Zückert: Von den Leidenschaften. Berlin 21768, S. 167. 41 Schiller: Über das Pathetische, S. 513.
Anthony Mahler
Die Kunst, die Lebensgeschichte zu verlängern Zur narrativen Einheit der Diät in Hufelands Makrobiotik Wenige Diskurse haben das Erzählen der Aufklärung vom Körper, dem Alltag und dem Selbst – von den unteren Erkenntnisvermögen, den Verhaltensweisen und der Seele – so sehr geprägt wie die Diätetik. Als Topoi der Beobachtung und Mäßigung des eigenen Körpers verordneten die sex res non naturales (Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen und Affekte) professionelle Pathographien wie Fallgeschichten sowie Selbsterzählungen in Form von Tagebüchern oder Briefen.1 Zudem gehören seit der Antike Diät, verstanden als »Lebensordnung«2 , ebenso wie die diätetische Tugend der Mäßigung zu den loci a persona der biographischen Gattungen.3 Darüber hinaus kann gezeigt werden, dass sich die Herausbildung narrativer Techniken der Introspektion und die des diätetischen Diskurses während der Aufklärung gegenseitig bedingen: Während Fokalisierung und indirekte Rede die narrativen Verfahren zur Verfügung stellten, zeigte die Tradition der Diätetik den Zusammenhang zwischen Lebensführung und Geräuschen der Eingeweide oder besorgniserregenden Ausscheidungen. Statt jedoch die Diätetik in einer konkreten Erzählung der Aufklärung zu untersuchen, geht es mir im Folgenden umgekehrt um die Erzählung als implizites Konzept, das Christoph Wilhelm Hufelands diätetischem Handbuch Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (1797) zugrunde liegt. Hufeland, der im Jahr 1801 der erste Direktor der Charité werden sollte und der zu dieser Zeit Professor in Jena und herzoglicher Leibarzt in Weimar war, hatte großen Erfolg mit der Veröffentlichung seines medizinischen Vademecums. Innerhalb eines Jahrzehnts wurde Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern dreizehn Mal neu gedruckt, 1 Vgl.
E.C. Spary: Eating the Enlightenment. Food and the Sciences in Paris, 1670–1760. Chicago 2012, S. 243–289; Michel Foucault: Über sich selbst schreiben. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Hrsg. v. Daniel Defert et al. 4 Bde. Bd. 4. Frankfurt a. M. 2005, S. 503–520; Daniel Schäfer: Langlebige Beispiele. Überlegungen zur Funktion und Gestaltung historischer Exempla für ein hohes Alter in der diätetischen Literatur der frühen Neuzeit. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 22 (2003), S. 188–203; Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt a. M. 2001, S. 96–117. 2 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. 4 Bde. Bd. 1. Leipzig 1774, S. 1957 f. 3 Siehe beispielsweise Quintilian: Institutio oratoria III,7.12–15 u. V,10.25 ff. Die diätetischen Topoi sind außerdem eine so gängige Technik der Charakterisierung in Erzählungen der Aufklärung, dass Laurence Sterne diese Praxis in seinem Tristram Shandy parodiert. New York 1980, S. 54 f.
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in elf Sprachen übersetzt und von einer Menge anderer Handbücher in deren Titel als Autorität heranzitiert.4 Hufelands Handbuch ist vor allem für sein Konzept der Lebenskraft bekannt. Darunter versteht Hufeland die vitale Energie, die dem Leben eine teleologische Form und Substanz verleiht und es dadurch von toter Materie unterscheidet,5 welche im Gegensatz dazu lediglich auf mechanische Art und Weise physikalischen und chemischen Gesetzen gehorcht.6 Jeder einzelne Organismus hat demzufolge eine Art Batterie von Lebenskraft, eine Gesamtsumme vitaler Energien. Alle organischen Vorgänge – von denen des vegetativen Nervensystems bis hin zur Reproduktion und zum spekulativen Denken – benötigen eine »Äußerung der Kraft« und reduzieren damit die Gesamtsumme.7 Aus diesem Grund ist eine gemäßigte Diät notwendig, die den Abbau der Lebenskraft ökonomisch steuert. Hufeland nennt eine solche Diät »extensiv«, da sie lebensverlängernd wirkt, während eine intensive Lebensweise Energie rasch verbraucht: »Je mehr ein Wesen intensiv lebt, desto mehr wird sein Leben an Extension verlieren«.8 Ein diätetisches Leben hingegen, das nach den Vorgaben des Handbuchs geführt wird, verzögert nicht nur den Abbau der Lebenskraft, sondern versucht darüber hinaus die verfügbare Gesamtsumme zu ändern und vor allem den Vorrat wiederherzustellen und zu regenerieren. Im Folgenden werde ich zeigen, dass Hufelands extensive Diät – die Lebenskraft erhaltende Lebensweise – auf einer normativen Vorstellung vom guten Leben als einer in sich geschlossenen Erzählung basiert.9 Diese Behauptung mag auf den ersten Blick nicht intuitiv erscheinen, da es sich um ein physiologisches Konzept handelt. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass Hufelands Konzept der Lebenskraft auf keinen empirischen Gegenstand verweist. Sieht man von den empirischen Versuchen in seiner Jugendzeit ab, geht es ihm nicht darum, die physiologische Substanz ausfindig zu machen, die die Kommunikation zwischen Körper und Geist ermög4 Zu
Hufeland und schwerpunktmäßig zu seiner Autobiographie siehe Stefan Goldmann: Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis. Eine psychoanalytische Studie zur Autobiographie und ihrer Topik. Stuttgart 1993. 5 Christoph Wilhelm Hufeland: Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. 2 Bde. Bd. 1. Berlin 41805, S. 48. 6 Ebd., S. 35. 7 Ebd., S. 46 f. 8 Ebd., S. 54. Hufeland rät jedoch nicht zu einem behüteten Leben der Muße. Ganz im Gegenteil gehören für ihn Intention, verstanden als Wille, und Arbeit zur menschlichen Existenz. Aufgrund dessen schlägt er ein dynamisches Leben zwischen Intention und Extension vor, das jedoch hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Vgl. Günter Oesterle: »Kunststück« Alter(n). Christoph Wilhelm Hufeland und Immanuel Kant. In: Ders. u. Gerhard Neumann (Hrsg.): Altersstile im 19. Jahrhundert. Würzburg 2014, S. 57–72. 9 Zu aktuellen Positionen, die die Erzählung als Grundlage einer Einheit des Selbst beschreiben (wie Alasdair MacIntyre, Charles Taylor und Jerome Bruner), siehe Dieter Thomä: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. München 1998.
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licht, das commercium mentis et corporis.10 Ganz im Gegenteil ist Lebenskraft »ein äusserst anspruchloses und an und für sich gar nichts bestimmendes Wort, und eben deswegen […] äusserst philosophisch«.11 Es fungiert als heuristischer Begriff, der eine moralische Bewertung des Lebens ermöglicht, indem er eine Verbindung zwischen Lebensführung und Gesundheitszustand (zu) leicht nachvollziehbar macht. Die Lebenskraft von beobachtbaren physiologischen Phänomenen loszulösen ist typisch für die spekulative Medizin der Romantik – eine Bewegung, die Hufeland mehrfach zu mäßigen versuchte. Diese Loslösung hat jedoch auch für Hufelands Begriff weitreichendere Konsequenzen. Denn in der Aufklärung umfassten Konzepte des Lebens weit mehr als bloß die Physiologie; sie stellten beispielsweise oft die Grundlage der Identität und Einheit des Selbst dar.12 So verwendet Hufeland zuweilen den Begriff »stamen vitae« oder »Lebensfond«, der an frühere Konzepte der stamina anknüpft.13 In den Präformationstheorien bezeichnet stamina die kleinsten physischen Teilchen, die als Sitz der Seele galten und die einheitliche Identität des Selbst in physischer Materie garantierten, und zwar vom Samen bis hin zum Tod (daraus erklärt sich zum Teil Hufelands Interesse an der Aufbewahrung der Samenflüssigkeit). Eine ähnliche Bedeutung besitzt Lebenskraft in Hufelands Verständnis vom Selbst. Die Lebenskraft ist, schreibt er, »der Grund der Eigenthümlichkeit einzelner Arten, ja jedes einzelnen Individuums«,14 und er nennt sie sogar »eine[n] wahre[n] ewige[n] Hauch der Gottheit«.15 Die Erhaltung der Lebenskraft – so meine These – konstituiert sich daher für Hufeland in reziproker Beziehung mit der narra tiven Konstruktion der Einheit und Identität des Selbst. In einem ersten Schritt werde ich ausführen, inwiefern die Erhaltung der Lebenskraft eine Voraussetzung für narrative Einheit ist, um mich dann in einem zweiten Schritt der Erhaltung der Lebenskraft durch Erzählen zu widmen.
10 Zur
Suche nach der empirischen Lebenskraft, die den gegenseitigen Einfluss von Körper und Seele vermitteln sollte, vgl. Jörg Jantzen: Theorien der Lebenskraft. In: Ders., Manfred Durner u. Francesco Moiso (Hrsg.): Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797–1800. Stuttgart 1994, S. 498–565, bes. 560–565. 11 Christoph Wilhelm Hufeland: Mein Begriff von Lebenskraft. In: Journal der practischen Arzneykunde 6.1 (1798), S. 785–796, hier: 788. 12 Vgl. Udo Thiel: The Early Modern Subject. Self-Consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume. Oxford 2011, S. 315–342. 13 Zum Begriff der stamina vgl. Fernando Vidal: Brains, Bodies, Selves, and Science. Anthropologies of Identity and the Resurrection of the Body. In: Critical Inquiry 28 (2002), S. 930–974, bes. 962–965. 14 Hufeland: Makrobiotik. Bd. 1, S. 35. 15 Ebd., S. 32.
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I. Der ganze Mensch gilt seit Langem als Schlüsselkonzept der anthropologischen Aufklärung. Es beruht auf der Vorstellung eines gegenseitigen Einflusses von Körper und Geist und der daraus folgenden Notwendigkeit für beide zu sorgen, mit dem Ziel sie jeweils zu perfektionieren. Hufeland jedoch richtet den Fokus auf ein anderes Ganzes: nicht die räumliche Gesamtheit von Körper und Seele, sondern die zeitliche Gesamtheit eines Menschenlebens, wie sie durch Verlängerung erreicht wird, ein Ganzes, auf das bereits der Titel Makrobiotik verweist. Ein makros bios ist wörtlich übersetzt ein großes oder langes Leben, und es ist eben dieser Fokus auf dem Umfang des Lebens, wodurch sich die Makrobiotik von »der gewöhnlichen Medizin oder medizinischen Diätetik«16 unterscheidet: »Der Zweck der Medizin ist Gesundheit, der Makrobiotik hingegen langes Leben; die Mittel der Medizin sind nur auf den gegenwärtigen Zustand und dessen Veränderung berechnet, die der Makrobiotik aber aufs Ganze«.17 Die unterschiedlichen zeitlichen Bezugsrahmen von Medizin und Makrobiotik – Erstere zielt auf unmittelbare Veränderung eines aktuellen Zustands, Letztere berücksichtigt das Leben in seiner zeitlichen Gesamtheit – erfordern je spezifische Behandlungsweisen, die sogar in direktem Widerspruch zueinander stehen können: Was eine Krankheit im gegenwärtigen Moment heilt, kann beispielsweise die Gesamtdauer des Lebens verkürzen. Aus der Makroperspektive der Makrobiotik kann möglicherweise sogar die Krankheit oder »Schwächlichkeit« ein »Verlängerungsmittel« des Lebens sein.18 Der Umfang, der ein Leben zu einem Ganzen macht, ist nicht abhängig von Geburts- und Sterbedaten. Ganzheit ist nach Hufeland vielmehr ein normativer Wert, der ein Mindestmaß an Länge voraussetzt. Diese Forderung postuliert ein epigenetisches Verständnis des Lebens. Epigenetische Theorien gehen davon aus, dass eine Lebensform nicht bereits vollständig vorgeformt im Samen existiert, sondern sein Reifeziel erst durch Entwicklung erreicht – ein Prozess, der auch von kontingenten äußeren Einflüssen abhängig ist.19 Hufeland betont, dass zum Erreichen der endgültigen Form durch epigenetische Entwicklung nicht nur Lebensenergie, sondern auch Zeit notwendig ist: 16 Ebd.,
S. VI. Die Verlängerung des Lebens ist jedoch kein neues Ziel innerhalb der Medizingeschichte, auch wenn Hufeland es als solches auszugeben versucht. Vgl. Gerald J. Gruman: A History of Ideas about the Prolongation of Life. The Evolution of Prolongevity Hypotheses to 1800. In: Transactions of the American Philosophical Society 56.9 (1966), S. 1–102. 17 Hufeland: Makrobiotik. Bd. 1, S. VI (Herv. d. Verf.). 18 Ebd., S. VI u. 55. 19 Vgl. Helmut Müller-Sievers: Self-Generation. Biology, Philosophy, and Literature around 1800. Stanford 1997.
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Zu allen Operationen der Natur gehört nicht allein Energie, die intensive Kraft, sondern auch Extension, Zeit. Man gebe einer Frucht noch einmal soviel Wärme und Nahrung, als sie im natürlichen Zustand hat; sie wird zwar in noch einmal so kurzer Zeit eine scheinbare Reifung erhalten, aber gewiß nie den Grad von Vollendung und Ausarbeitung, den die Frucht im natürlichen Zustand, bey halb soviel intensiver Wirksamkeit und noch einmal so viel Zeit erlangt hätte.20
An dieser Stelle lässt Hufelands Wortwahl eine starke Anbindung an die aristotelische Entelechie erkennen, ein Konzept, das die epigenetischen Theorien des 18. Jahrhunderts beginnend mit Leibniz stark beeinflusst hat. Entelechie verweist auf den ausgewachsenen Zustand eines Organismus: das Telos des Organismus und den Aufwand, der notwendig ist, es aufrechtzuerhalten. Hufelands Rede der »Vollendung« und »Ausarbeitung« des Organismus zieht ein Konzept der Entelechie heran. Die Passage verweist außerdem auf den aristotelischen Binarismus von ener geia und entelechia, Potenz und Akt, Energie und Erfüllung. Für Hufeland kann »Energie« lediglich »eine scheinbare Reifung« hervorbringen, den bloßen Anschein von Erfüllung. Um sein wahres Telos zu erreichen benötigt ein Organismus Energie und Zeit. Wenn sich Hufeland von Organismen im Allgemeinen dem menschlichen Organismus im Besonderen zuwendet, dann wird die biologische Norm, die »Vollendung« zu erreichen, zudem auch eine ethische.21 Sofern die Makrobiotik Wege aufzeigt, das Leben zu verlängern, sodass das Telos menschlichen Lebens erreicht werden kann, ergibt sich daraus die moralische Pflicht, seine Empfehlungen zu befolgen. Wir müssen es [das menschliche Leben, Anm. d.Verf.] als ein zusammenhängendes Ganzes, als einen großen Reifungsprozeß ansehen, dessen Zweck möglichste Entwicklung und Vollendung der menschlichen Natur an sich und völlige Ausfüllung seines Standpunkts im Ganzen ist. Nun ist aber Reifung und Vollendung nur das Produkt von Zeit und Erfahrung, und es ist also unmöglich, daß ein Mensch, der nur 30 Jahre gelebt hat, gesetzt, er habe auch in der Zeit doppelt soviel gearbeitet und gethan, eben die Reifung und Vollendung erhalten könne, als ein Zeitraum von 60 Jahren gibt. […] Er erfüllt also, weder in Absicht auf sich selbst, noch auf andere, die Bestimmung und den Zweck seines Lebens vollkommen, unterbricht den Lauf seiner Tage, und bleibt immer ein feiner Selbstmörder.22
Es wird deutlich, dass Hufeland unter Leben mehr versteht als allein das biologische. Das Telos des speziell menschlichen Organismus umfasst auch kulturelle 20 Hufeland:
Makrobiotik. Bd. 1, S. 206. Michel Foucault: Einführung in Kants Anthropologie. Übers. v. Ute Frietsch. Frankfurt a. M. 2010, S. 38–41. 22 Hufeland: Makrobiotik. Bd. 1, S. 206. 21 Vgl.
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Errungenschaften; es beinhaltet alles, was der Mensch durch Arbeit, Zeit und Erfahrung anstrebt und erreicht. Nicht einmal durch sehr harte Arbeit könne jemand in einem kurzen Leben dasselbe erreichen, was ein langes Leben durch Erfahrung, schon allein die Verfügbarkeit von Zeit und die »völlige Ausfüllung seines Standpunkts im Ganzen« gestattet. Ein ausreichend langes Leben ist somit eine Voraus setzung Bildung zu verwirklichen, sowohl in biologischer wie auch kultureller Bedeutung. Wenn Hufeland von der »Vollendung« oder »Ausarbeitung« des Lebens als »zusammenhängendes Ganzes« spricht, dann liegt der Verwendung dieser Begriffe ein implizites Konzept narrativer Einheit zugrunde. Dieses Konzept geht davon aus, dass das Leben nur dann seine Erfüllung erreicht, wenn seine Handlungen auf ein übergeordnetes teleologisches Ziel hin ausgerichtet sind. Um diese These zu stützen, lohnt sich erneut ein Blick auf Aristoteles. In seiner Poetik bestimmt Aristoteles die teleologische Einheit lebender Organismen als Norm tragischer und epischer Handlungsstrukturen. Der Stoff müsse »eine ganze und vollständige Handlung darstellen […], die Anfang, Mitte und Ende hat, damit sie [die epische Darstellung, Anm. d. Verf.], wie ein Thier, ein vollendetes Ganze [sic] ausmache, und das ihr eigenthümliche Vergnügen bewirke«.23 Indem er die Handlungsstruktur mit einem Tier oder Lebewesen vergleicht, fordert Aristoteles nachdrücklich, dass die einzelnen Teile der Handlung integrale Bestandteile eines teleologischen Ganzen sein sollten. Analog einer organischen Entwicklung soll die Entelechie der Handlung Anfang, Mitte und Ende auf schlüssige Weise in einer einzigen Geste verbinden, die in sich selbst geschlossen ist. Wenn Aristoteles narrative Einheit anhand des Vergleichs mit der organischen Entelechie definiert, ließe sich im Umkehrschluss ebenso sagen, er definiert die organische Entelechie über die Metapher narrativer Einheit. Für Aristoteles ist es die teleologische Erzählstruktur von Entwicklung, die das Leben definiert und es von nicht-organischer Substanz unterscheidet. Aus diesem Grund sind sowohl lebende Organismen als auch einheitliche Handlungsstrukturen schön und erzeugen Genuss. Wenn Hufeland im Rückgriff auf epigenetische und aristotelische Konzepte sowohl das organische als auch das gute menschliche Leben als Kulminationspunkt oder Artikulation eines kohärenten Ganzen zu bestimmen versucht, setzt er damit die narrative Einheit als das entscheidende Kriterium für deren ethische Bewertung fest. Narrative Einheit ist, für Hufeland ebenso wie für Aristoteles, vom Umfang der Geschichte abhängig. Auch wenn Aristoteles zwischen der narrativen Integration epischer Darstellung von der bloßen Wiedergabe der Ereignisse innerhalb eines 23 Aristoteles:
Über die Kunst der Poësie. Hrsg. v. Johann Gottlieb Buhle. Berlin 1798, S. 101 [1459a17–22]. Meine Lesart von Aristoteles’ Poetik in diesem Kontext ist Jacob Sider Jost geschuldet: Prose Immortality, 1711–1819. Charlottesville 2015, S. 107–110.
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gewissen Zeitraums in der Geschichtsschreibung unterscheidet, macht er somit den zeitlichen Umfang zu einer notwendigen Bedingung dieser Integration: »[…] da jedes Schöne, sey es ein Thier, oder irgend ein anderes Object, aus gewissen Theilen besteht, so müssen diese nicht nur in richtiger Ordnung und Verhältnisse zu einander seyn, sondern auch eine angemessene, nicht jede beliebige Größe haben; denn das Schöne liegt in der bestimmten Größe und Ordnung«.24 Wie bereits erwähnt führt Hufeland ein ähnliches Argument ins Feld und macht die Zeit zu einem Mittel, das notwendig ist, um das Telos des Lebens als Ausdruck eines kohärenten Ganzen zu erreichen. Das Streben nach einem langen Leben ist somit ein Trieb nach narrativer Vervollständigung, deren teleologisches Ziel nur in einer verlängerten Lebensspanne vollständig realisiert werden kann. Für Hufelands ethische Bewertung des Lebens als narrative Einheit ist die Integration – das Konstruieren einer einheitlichen, einzigen Handlung – nicht nur von den Verbindungen, die das Erzählen der Handlung schlägt, abhängig, sondern auch vom Umfang der Geschichte, also der Dauer der erzählten Ereignisse, die ein Leben umfasst. Nur ein ausreichend langes Leben kann Anfang, Mitte und Ende haben – und so zu einer in sich geschlossenen Erzählung werden, in der das Leben seine Bestimmung findet. Ist die erzählte Zeit also ein Mittel, die ethisch gebotene narrative Einheit des Lebens zu erreichen, dann wird es entsprechend zur ethischen Pflicht, die erzählte Zeit durch eine Verlängerung des Lebens auszudehnen.25
II. Narrative Einheit ist nicht nur konstitutiv für das gute Leben, sondern besitzt nach Hufeland darüber hinaus einen »moralisch-diätetisch-ästhetische[n]« Effekt.26 Aristoteles macht die narrative Einheit zu einer Bedingung von Schönheit und somit auch zu einer Bedingung vom Genuss, den Schönheit bereitet. Für Hufeland ist 24 Aristoteles:
Über die Kunst der Poësie, S. 55 f. [1450b34–37]. Definition der Erzählung als Konstruktion einer einheitlichen Handlung ist auch in der modernen Narratologie noch von Relevanz. Mieke Bal spricht beispielsweise davon, dass eine Geschichte eine kohärente Einheit aus den vielen Strängen der fabula schaffen sollte, und zitiert Claude Bremonds 1973 erschienene Studie Logique du récit: »A narrative consists of a language act by which a succession of events having human interest are integrated into the unity of this same act«. Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto 32009, S. 83 u. 198. Auch von Bedeutung ist an dieser Stelle der epigenetische Rest in Bals klassifizierender Unterscheidung in lange und kurze fabulae; lange fabulae zeichnen sich dadurch aus, dass sie die »duration of development« besitzen (ebd., S. 209 ff.). 26 Zur Verknüpfung der Ethik und Diätetik mit der Aufklärungsästhetik vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. M. 2002, S. 39–188, hier: 14; sowie Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008, S. 137–208. 25 Aristoteles’
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dieser Genuss der Effekt, den ein Objekt auf die Sinne des Rezipienten ausübt. Der Genuss bildet Tugend und Lebenskraft aus. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich Hufelands Darstellung seines eigenen Handbuchs heranziehen, das, obwohl es selbst kein narrativer Text ist, eine Vielzahl kurzer Erzählungen und weitere unzusammenhängende Teile systematisch zu einer Einheit zusammenfügt, die einem Lebensfaden gleicht und dadurch Genuss erzeugt. [D]iese Arbeit [das Schreiben der Makrobiotik wurde, Anm. d. Verf.] unvermerkt ein Archiv, in welchem ich mehrere meiner Lieblingsideen niederlegte, bey welchem ich mich auch wohl zuweilen mancher kosmopolitischen Digression überließ, und mich freute, diese Idee an einen so schönen, alles verbindenden Faden, als der Lebensfaden ist, anreihen zu können.27 Im kompositorischen Prozess wird Hufelands diätetischer Text zu einem Archiv seiner »Lieblingsideen«, die voneinander unabhängig sind und sogar von der übergeordneten Stoßrichtung des Textes abzuweichen scheinen. Folglich besitzt das Archiv ein organisatorisches Prinzip, das fähig ist, divergente Inhalte zu absorbieren und sie entlang des »Lebensfadens« zu verknüpfen, jenem mythischen Faden der Schicksalsgöttinnen, den zu verlängern Telos des Handbuchs ist und der deshalb auch im Titelkupfer erscheint. Der lebende Organismus als Metapher für die narrative Einheit wird damit auf die Makrobiotik als Text übertragen. Die Verlängerung des Lebens als übergeordnetes Ziel, das den Text rahmt, vereint die zerstreuten Ereignisse und Ideen des Handbuchs und damit auch der Lebensspanne und lässt sie zusammen zu einer Lebensform werden. Weil es Leben und Gedanken vereint, besitzt das Schreiben der Makrobiotik einen diätetisch-ästhetischen Effekt, so Hufeland: »[I]n den zeitherigen traurigen und menschenverschlingenden Zeiten fand ich meine beste Tröstung und Aufheiterung darin, an der Aufsuchung der Mittel zur Verlängerung des Lebens zu arbeiten«.28 Wie wir später im Handbuch erfahren, sind die »Heiterkeit« und »Zufriedenheit des Gemüts«, die durch das Konstruieren von Selbsterzählungen aus der Erinnerung heraus zustande kommen – hier greift Hufeland mit großer Wahrscheinlichkeit auf Plutarchs Moralia zurück, die er als »die hellsten und naturgemäßesten Ideen über die Erhaltung und Verlängerung des Lebens«29 lobt –, die zuverlässigsten Mittel das Leben zu verlängern.30 Dieselben Effekte schreibt Hufeland auch ästhetischen 27 Hufeland: 28 Ebd.
29 Ebd.,
Makrobiotik. Bd. 1, S. IX.
S. 7. Hufeland wiederholt insbesondere die diätetischen Effekte der Selbsterzählung aus De tuenda sanitate praecepta 473b–474b. Zu dieser Passage bei Plutarch siehe Richard Sorabji: Self. Ancient and Modern Insights about Individuality, Life, and Death. Chicago 2006, S. 172–180. 30 Hufeland: Makrobiotik. Bd. 2, S. 292 f.
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Objekten zu, die, wenn maßvoll genossen, das Leben durch eine gesteigerte »Wirksamkeit der ganzen Maschine« verlängern, indem sie »die wichtigsten Organe der Restauration, die Verdauungs-, Cirkulations- und Absonderungswerkzeuge in regere Thätigkeit« versetzen.31 Das Handbuch zu schreiben – also »an der Aufsuchung der Mittel zur Verlängerung des Lebens zu arbeiten« – wird somit selbst zum Mittel das Leben zu verlängern, insofern es dem Selbst Trost und Zuspruch spendet. Allgemeiner gefasst sieht Hufeland die eigentliche Leistung diätetischer Sorge darin, dass sie selber einen positiven diätetischen Effekt besitzt: Die diätetische Lebensform – also die Selbstbeobachtung und -mäßigung sowie der Versuch, die eigene Langlebigkeit zu erhöhen – leitet bereits eine Lebensverlängerung ein, da allein die Selbstsorge an sich eine einheitliche Erzählung des Selbst konstruiert und so diesem zuspricht und es tröstet.32 Hufeland war nicht der einzige, der den diätetischen Effekt der Form seines Handbuchs anmerkte. Einige seiner berühmtesten Leser fanden diesen Zusammenhang ebenso naheliegend. Georg Christoph Lichtenberg – der Mentor Hufelands während der Göttinger Zeit und Widmungsträger der Erstausgabe der Makrobiotik – beschreibt einen ähnlichen Effekt in einem Brief an Hufeland. Neben der persönlichen Hingabe, schreibt er, ist es die Form des Handbuchs selbst, die wesentlich zur diätetischen Prophylaxe beiträgt: Wahrlich, ich glaube auch nicht, theuerster Freund, daß in dem ganzen Vorrat physischer Ammunition, womit Sie die Kranckheiten so glücklich bekämpfen, irgendetwas anzutreffen ist, das für mich armen Nervenkrancken so restaurirend hätte seyn können, als die Zeilen, die Sie mir da [in der Zuschrift, Anm. d. Verf.] geschrieben, ich möchte fast sagen, die Sie mir da verordnet haben. Ein seltner Fall, daß selbst die Dedication schon durch ihre Einwirkung keinen geringeren Teil dessen durch die That bestätigt, was der Titul des Buchs verspricht, was aber das Buch selbst auch treulich hält. Für mich wenigstens ist nicht bloß die Materie heilsam, sondern selbst die Form hat mich erquickt.33
Ähnlich identifiziert auch Kant die systematische, umfassende Form des Handbuchs als ebenso diätetisch wie seine Inhalte.34 Ein Handbuch über die Verlänge31
Ebd., S. 236. Christiane Frey: Schlechte Laune. Zur moralischen Menschenkunde um 1800. In: Bernhard Kleeberg (Hrsg.): Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750–1900. Berlin 2012, S. 117–129. 33 Georg Christoph Lichtenberg an Christoph Wilhelm Hufeland, 9. Januar 1797, in: Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Hrsg. v. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne. 5 Bde. Bd. 4. München 1992, S. 675. 34 »[V]ornehmlich da ich das, was ich aus Ihren Schriften nur fragmentarisch gelernt hatte, jetzt systematisch vor mir liegen habe; welches einem alten Kopf sehr zuträglich ist, um das Ganze übersehen zu können«. Immanuel Kant an Christoph Wilhelm Hufeland, nach dem 32 Vgl.
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rung des Lebens zu lesen, in dem alle Teile zu einem organischen Ganzen gehören, verlängert selbst das Leben. Obwohl Hufelands Makrobiotik also selbst keine Erzählung ist, so propagiert sie doch ein Konzept von narrativer Einheit, die sowohl Ziel der Lebensverlängerung ist – das Leben erreicht sein narratives Telos nur durch Verlängerung – als auch selbst Mittel der Verlängerung. Um mit Jacob Sider Josts Analyse der moralischen Lebensführung im Spectator zu sprechen, ist der Erzählbogen der Makrobiotik nicht im Handbuch selbst zu finden »but in the reader, who […] is to be informed, delighted, and above all improved«, indem er Hufelands diätetische Vorschriften befolgt.35 Indem der Leser Tag für Tag die Lebensordnung der Makrobiotik schrittweise realisiert, spart er Lebenskraft, verlängert sein Leben und realisiert somit auch das Telos der menschlichen Lebensform, die Ausbildung eines hygienischen und moralischen Charakters. Bei Hufeland wird so eine moralisch aufgeladene Lebensgeschichte zum vermittelnden Konzept zwischen zwei anderen Lebensinstanzen, der diätetischen Lebensordnung und der biologischen Lebenskraft. Das Leben als Erzählung vereint das ethische Leben mit dem biologischen Leben in der menschlichen Lebensform. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Cornelia Pierstorff
15. März 1797, in: Immanuel Kant: Kant’s Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 22 Bde. Bd. 12. Berlin 1902, S. 148. 35 Jost: Prose Immortality, S. 21–36, hier: 23.
Jürgen Meyer
›Senti-mental‹? Theories of Mind in englischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts 1. Lesen und Schreiben denken: Kognitionsforschung als Schlüssel zur literarischen Rezeption Die folgenden Ausführungen schlagen eine Brücke von einem kontrovers diskutierten Gebiet der gegenwärtigen Literatur- und Kulturwissenschaft zur Mentalitätsgeschichtsschreibung der Aufklärung: Es geht dabei um die Möglichkeiten und Grenzen der Empathieforschung als einem konstitutiven Teil der kognitivistischen Narratologie, die sich seit den 1990er-Jahren nach der Proklamation des »cognitive age« etabliert hat. Die einflussreichsten Standardwerke der anglophonen Cognitive Literary Studies wenden sich allerdings den drei traditionellen Genres der Literatur zu – mit einer quantitativ überragenden Akzentuierung des Romans.1 In vielen dieser Untersuchungen wird vor dem Hintergrund aktueller kognitionswissenschaftlicher (oft auch neuro-pathologischer) Erkenntnisse versucht, Rückschlüsse einerseits auf den Rezeptionsprozess mit seiner Überbrückung der ontologischen Differenzen zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit z. B. mit Hilfe des Empathievermögens zu ziehen und andererseits auf das Verhalten und Denken fiktionaler Charaktere zu schließen. Beide Ansätze sind nicht unwidersprochen hingenommen worden: Oftmals anachronistisch und synkretistisch angelegte Argumente rufen wohl die größten Vorbehalte gegen den kognitivistischen Ansatz hervor, und auch die Erkenntnisse innerhalb der Neurowissenschaften sind nicht unbestritten.2 Der vorliegende Beitrag geht maßgeblich auf ephemere Erzählformen des 18. Jahrhunderts in England als Medium zur Darstellung von Bewusstseinsakten oder von Empfindungen ein. Bislang unberücksichtigt in der Forschung erschei1 Stellvertretend
für die Vielzahl an Publikationen zu diesem Ansatz seien David Herman (Hrsg.): The Emergence of Mind. Representations of Consciousness in Narrative Discourse in English. Ohio 2011; Suzanne Keen: Empathy and the Novel. Oxford 2007; Liza Zunshine: Why We Read Fiction. Theory of Mind and the Novel. Ohio 2006; Alan Palmer: Fictional Minds. Lincoln/London 2004 und Patrick Colm Hogan: Cognitive Science. Literature, and the Arts. A Guide for Humanists. London 2003 hervorgehoben. 2 Vgl. beispielsweise Meir Sternberg: Universals of Narrative and Their Cognitivist Fortunes. Teil 1. In: Poetics Today 24.2 (2003), S. 297–395, und Teil 2 in: Ebd., 24.3 (2003), S. 517–638. Sternberg kritisiert darin die Anleihen der kognitivistischen Literaturwissenschaft bei älteren Literaturtheorien. Eine Kritik der Diskussionen innerhalb der naturwissenschaftlichen Leitdisziplin liefert Gregory Hickok: The Myth of Mirror Neurons. The Real Neuroscience of Communication and Cognition. New York 2014.
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nen nämlich solche Gegenstände, die dem umfangreichen Bereich der englischen Zeitschriftenliteratur einerseits und andererseits dem Genre des Essays zuzurechnen sind. Ein Grund hierfür mag sein, dass der Essay als literarische Kunstform lange Zeit gering geschätzt wurde.3 Das Potenzial vor allem des literaturkritischen, urteilenden Essays liegt gleichwohl in der konstruierten wie authentischen Repräsentation von Rezeptionsakten. In der Tat handelt es sich beim Essay um ein multifunktionales Genre, das oftmals experimentell wie referentiell, diskursiv wie (auch in Versform) narrativ, explorativ wie demonstrativ arbeitet.4 Insbesondere die periodical essays des 18. Jahrhunderts beschreiben häufig kognitive und emotionale Zustände, sei es auf repräsentativer, sei es auf performativer Ebene. Der daraus resultierende hohe Grad an Pseudo-Referenzialität und die Erzeugung von Authentizität gegenüber den Schrifterzeugnissen früherer Epochen bedeutet, dass hier eine Inszenierung von Affekten und die Simulation von gedanklicher Reflexion den narrativen Diskurs bestimmen. In seiner Geschichte des Essays legt Christian Schärf anhand einiger Bemerkungen zu den innovativen Leistungen der beiden Hauptvertreter dieser literarischen Form im frühen 18. Jahrhundert Englands, Joseph Addisons und Richard Steele, dar, dass sie »eine Dynamisierung der öffentlichen Diskurse […] in einer keineswegs dogmatischen Setzung, sondern als skeptisch relativierendes Spiel mit den Ebenen des Wissens und seinen Gegenständen« bewirkten: »Bereits bei Addison und Steele war der Essay das Medium einer im Rahmen der Epoche erregend unmittelbaren Kommunikationsform des Schriftlichen«.5 Ungeachtet dieser sozialen, dialogischen Dimension weist Schärf auf folgenden psychologischen, gleichwohl stark autorzentrierten Effekt hin: »Der Essay fordert seinen Autor immer wieder dazu heraus, seine eigene Stellung und seine eigenen Ansichten zu überprüfen und damit zwangsläufig zu relativieren«.6 Ein Autor wird so zum ersten Beobachter und Kritiker seines eigenen Denkens beim Schreiben. Eine solch kognitivierende Attitüde mit ihrer selbstreflexiven Wechselwirkung von Denken, Schreiben und Lesen als wesentliches Charakteristikum insbesondere der kritischen Literatur des 18. Jahrhunderts (›kritisch‹ meint hier im etymologischen Wortsinne »auf das Denken bezogen«) soll unten an einigen Textbeispielen demonstriert und kategorisiert werden. Als Bezugspunkt dienen dafür unterschiedliche Literaturkritiker wie John Dennis und Samuel Johnson, die trotz ihrer ganz verschiedenen Ansichten darüber, welche Faktoren das Denken bestimmen (Dennis war ganz anders als Johnson ein Anhänger der Klimatheorie), immer wieder ihre Denk- und 3
Vgl. Graham Good: The Observing Self. Rediscovering the Essay. London 1988, S. VII. Vgl. Paul Tankard: Essays. In: Jack Lynch (Hrsg.): Samuel Johnson in Context. Cambridge 2012, S. 191–199, hier: 191. 5 Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999, S. 81. 6 Ebd. 4
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Leseprozesse näherungsweise, d. h. essayistisch, reflektieren und dabei narrativ gestalten. Gleiches gilt für die schon erwähnten Addison und Steele, die mit ihren Zeitschriften The Tatler und The Spectator überhaupt erst das publizistische Forum des Essays schafften und darin das Denken und Fühlen im Schreiben und Lesen zu einem zentralen Thema machten. Die folgende Betrachtung der unterschiedlichen Quellen hilft dabei, erzeugen ein kognitionsgeschichtliches Mikro-Narrativ zur Aufklärung zu isolieren, das seinerseits einen literaturgeschichtlich wichtigen Vorläufer in einem kurzen Beitrag findet, den T. S. Eliot am 20. September 1921 in The Times Literary Supplement drucken ließ. Dieser Beitrag begründet geradezu in Auseinandersetzung mit Johnson ein eigenes apodiktisches Aufklärungsnarrativ, das eine hohe Dichte kognitivistischer Operationen inszeniert. Vor der Analyse der Materialien in ihrem historischen Kontext macht es Sinn, sich zunächst dieses spezifische Aufklärungsnarrativ zu vergegenwärtigen und mit Hilfe der konkreten Lektüren in seiner Stichhaltigkeit zu überprüfen.
2. Eine Lektüre von T. S. Eliots Lektüre von Dr. Johnsons Lektüre der metaphysical poets Der insbesondere seit der Reformation favorisierte plain style mit einem programmatischen Verzicht auf einen mit rhetorischem Zierat aufgeladenen Stil erlaubt all diesen Publikationsorganen keine Formulierungen im Sinne des rhetorischen genus gravis. Komplexe Sprachbilder früherer Epochen, wie z. B. in John Donnes Gedicht A Valediction of Weeping (1607), sind diesen Texten wesensmäßig fremd:7 Dort wird eine Träne zur konventionellen literarischen Allegorie und versinnbildlicht dabei, sehr verkürzt ausgedrückt, neben dem literalen Schriftsinn zugleich tiefsten persönlichen Schmerz (moralischer Schriftsinn), das kugelförmig gedachte Universum als den Ort menschlichen Leidens (tropologischer Schriftsinn) sowie, in heilsgeschichtlicher Perspektivierung, schließlich eine Wiederholung der Sintflut (anagogischer Schriftsinn).8 Solche Bilder kennzeichnen einen hypertrophen Dichtungsstil, den Samuel Johnson in der berühmten Digression über »the race of metaphysical poets«9 7
Zu den inneren Widersprüchen der Reformations-Rhetorik vgl. aber Thomas Luxon: Literal Figures. Puritan Allegory and the Reformation Crisis in Representation. Chicago 1995. 8 Vgl. John Donne: A Valediction of Weeping. In: Colin Burrow (Hrsg.): Metaphysical Poetry. London 2006, S. 19: »So doth each tear,/ Which thee doth wear,/ A globe, yea world, by that impression grow,/ Till thy tears mixed with mine do overflow / this world, by waters sent from thee, my heaven dissolved so« (V. 14–18). 9 Samuel Johnson: Life of Cowley [1779]. In: The Yale Edition of the Works of Samuel Johnson. Hrsg. v. John H. Middendorf. 23 Bde. New Haven 1958 ff. [im Folgenden: YE], hier: YE 21, 30. Alle folgenden Zitate aus den Werken Johnsons beziehen sich auf die Yale Edition.
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zu seiner biographischen Skizze Abraham Cowleys als Teil seines Werkes Lives of the Poets (1781) definiert und kritisiert: Er moniert besonders die Paradoxie in vielen Stilelemente als »discordia concors« (YE 21, 26) im Sinne einer logischen Inkommensurabilität und intellektuellen Überforderung. Eliots Rezension wiederum wendet sich anscheinend der 1921 von Herbert J. C. Grierson herausgegebenen Lyrik-Anthologie mit ›metaphysischen‹ Gedichten des 17. Jahrhunderts zu.10 Abgesehen von einigen pauschal lobenden Formulierungen des Verfassers zur Leistung des Herausgebers erfährt man jedoch über Aufbau und Zusammenstellung der Sammlung fast nichts. Offenkundig ist diese Ausgabe nicht mehr als der oberflächliche Schreibanlass für Eliot; sein eigentlicher Gegenstand ist jedoch die kontroverse Auseinandersetzung mit Johnsons Exkurs im »Life of Cowley«. Auf wenigen Druckseiten hatte Johnson darin gezeigt, inwieweit die meta physische Dichtung gegen alle gültigen (neo-)klassizistischen poetischen Konventionen verstößt: So gestaltete sie auf bildlicher wie auf syntaktisch-formaler Ebene logische wie stilistische Brüche, die die von Johnson angenommene Leserschaft ästhetisch vor den Kopf stießen oder sie intellektuell überforderten. Eliot zieht dieses Leseerlebnis in Zweifel. Seine Rezension erreichte wirkungsgeschichtlich denn auch eine enorme Aufwertung der englischen Lyrik des 17. Jahrhunderts, die nun erst nach einer langen Phase der Vernachlässigung in den Kanon der britischen Literaturgeschichte zurückfand. In einer polemischen Argumentation revidiert er Johnsons harsche Kritik an der Lyrik des 17. Jahrhunderts, die Johnson in seinem Cowley-Aufsatz einflicht. Eliot zitiert Johnsons bekannte Phrase von den »most heterogeneous ideas […] yoked by violence together«11 und entkräftet diese als Vorwurf formulierte Charakterisierung mit dem Plausibilitätsargument, dass dieser Einwand auch gegen Johnsons eigene Poesie sowie gegen einen Großteil von Lyrik überhaupt gerichtet werden könnte: »a degree of heterogeneity of material compelled into unity by the operation of the poet’s mind is omnipresent in poetry«.12 Eliot erzeugt mit seinem kurzen Essay ein ausgesprochen ehrgeiziges Narrativ, das in der metaphysischen und in der modernistischen Lyrik seiner Gegenwart grundlegende stilistische wie gedankliche Homologien erkennt: »we get, in fact, a method curiously similar to that of the ›metaphysical poets‹, similar also in its use of obscure words and of simple phrasing«.13 Dreh- und Angelpunkt ist Eliots Begriff des refinement, einer ›hochauflösenden Empfindsamkeit‹, das in der Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts überakzentuiert und sentimentalisiert worden
10
Vgl. T.S. Eliot: Metaphysical Poetry. In: Ders.: Selected Prose of T.S. Eliot. Hrsg. v. Frank Kermode. London 1975, S. 59–67. 11 Eliot: Metaphysical Poetry, S. 60; vgl. zuerst YE 21, 26. 12 Eliot: Metaphysical Poetry, S. 61. 13 Ebd., S. 65.
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sei: »while the language became more refined, the feeling became more crude«.14 Der stark konzeptualisierende stilistisch-poetische Ausdruck romantischen Sentiments gewinnt Oberhand gegenüber einer zuvor noch möglichen, authentischen sensuellen Erfahrbarkeit von Dichtung als verbalisiertem Gefühl. Die von Eliot favorisierte Dichtung ist von stilistischem Anspielungsreichtum, semantischer Indirektheit und eben durch die gleichermaßen sensuelle (emotionale) wie rationale (kognitive) Komplexität gekennzeichnet. Dieser »Witz« ist somit im Wortsinne ein ›senti-mentales‹ Konzept, das der metaphysischen Dichtung ihren Reiz verleiht. Trotz solcher Kontraste in neoklassizistisch-ästhetischer perspicuitas hier und frühneuzeitlich-rhetorischer Opazität dort lassen sich beide Phänomene unter dem Begriff wit führen. Eliot inszeniert den »Witz« der Metaphysiker im Zuge einer »dissociation of sensibility«15 als verloren gegangene holistische Norm, die entweder den Verstand über die Empfindsamkeit (Aufklärung) stellte oder diese Hierarchie vermeintlich umkehrte (Romantik). Er behauptet, dass sich seit der Aufklärung eine zunehmende, weniger stilistische als vielmehr ideengeschichtliche Abstumpfung der Dichtungssprache etabliert habe, die im paradoxen Unterfangen, durch gedankliche Reflexion dem unmittelbaren Gefühlsempfinden sprachlichen Ausdruck zu verleihen, das genaue Gegenteil dessen erreicht habe, was ihr Ziel hätte sein sollen: »The poets revolted against the rationative, the descriptive; they thought and felt by fits, unbalanced; they reflected«.16 In Konsequenz aus dieser unausgewogenen poetologischen wie mentalgeschichtlichen Gemengelage schlägt Eliot ein literaturkritisches Forschungsprojekt vor: »One must look into the cerebral cortex, the nervous system, and the digestive tracts«.17 Weniger metonymisch ausgedrückt heißt dies, dass kognitive, affektive und sogar physiologisch-vegetative Aspekte der Dichtung durch die Literaturkritik berücksichtigt werden sollten. Just auf diesem Gebiet aber operierten viele Texte gerade der von Eliot kritisierten Aufklärung; seine Verabsolutierung von Johnsons Exkurs in der Cowley-Werkbiographie reduziert die Komplexität, die die aufklärerische Literaturkritik an den Tag legte, in unzulässiger Weise. Im Folgenden sollen daher an exemplarischen, aber paradigmatischen Beispielen die textlichen Reflexe mentaler Operationen nachvollzogen werden, mit verschiedene Autoren das Denken übers Schreiben inszenierten.
14
Ebd., S. 64.
15 Ebd.
16 Ebd., 17
S. 65. Ebd., S. 66.
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3. Fallbeispiele Die folgenden Ausführungen können nur einige wenige diskursive Facetten eines ganzen Kaleidoskops von Szenen mit kognitiven und metakognitiven, emotionalen und meta-emotionalen Beschreibungen liefern. Aus dem unüberschaubaren Material der englischen Zeitschriftenliteratur des 18. Jahrhunderts, in dem Daniel Defoes Review, Jonathan Swifts Examiner, Oliver Goldsmiths The Bee Seite an Seite mit weniger prominenten periodicals wie The Guardian, The Medley oder The Monthly Review stehen, werden im Folgenden vor allem die Leuchttürme dieser Zeit ausgewählt: The Tatler, der maßgeblich von Richard Steele gestaltet wurde, Samuel Johnsons Rambler sowie seine Idler-Kolumne (ursprünglich publiziert in der Zeitschrift Universal Chronicle); als Beispiel für den publizistischen Mainstream fungiere hier The Critick. Bei der Mehrzahl dieser Publikationsorgane handelt es sich um kurzlebige Zeitschriften mit einer überschaubaren Produktionsdauer von wenigen Monaten bis wenigen Jahren. Und doch verbinden sie alle die Eigenschaft, dass in ihnen unzählige Gedankenspiele und Gefühlszustände aus der Sicht der Autoren von literarischen Werken, ihren Kritikern nicht zuletzt auch der ›gewöhnlichen‹ Leserschaft (Johnsons prototypischem bildungsbürgerlichen »common reader«) gleichermaßen simuliert, illustriert und repräsentiert werden. Das soziale Kommunikationsfeld, das diese Essays aufspannen, kann mit Blick auf solche Darstellungsverfahren auf eine immer nur unzureichend darstellbare, innere, kognitivierende Perspektive verengt werden. a) Meta-Kognition Ein einfaches Beispiel für die Darstellung einer meta-kognitiven Reflexion findet sich im Tatler No. 98, wo die eponymische Persona über die kreative Vorstellungkraft des Bewusstseins räsonniert: »The most active Principle in our Mind is the Imagination: To it a good Poet makes his Court perpetually, and by this Faculty takes Care to gain it first. Our Passions and Inclinations come over next; and our Reason surrenders it self with Pleasure in the End«.18 Hier stehen Vorstellungskraft, Gefühle und Haltungen (»passions and inclinations«) sowie den Verstand gegenüber; das Verhältnis, das diese drei ›Kräfte‹ in Beziehung zueinander setzt, ist eines, das auf Macht beruht, denn gegenüber der Vorstellungskraft und den Gefühlen gibt der Verstand nach. Der Tatler gießt diese Bestandteile des Bewusstseins am Ende in die Metapher der Kapitulation, des »surrender«, während am Beginn des Zitats noch eine andere Macht-Beziehung als Bildspender dient, nämlich die Liebeswerbung (der Dichter muss seiner Vorstellungskraft den »Hof machen«). Ein anderes 18 [Richard
Steele:] The Tatler, No. 98, Saturday, November 24, 1709. In: Donald F. Bond (Hrsg.): The Tatler. 3 Bde. Bd. 2. Oxford 1987, S. 103–108, hier: 106.
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Beispiel für die Repräsentation eines solchen meta-kognitiven Vorgangs findet sich in The Critick No. 10, wo der Herausgeber folgende Bemerkung über die Schreib situation macht und sich somit im Auswahl- und Anordnungsvorgang bezüglich des zuvor erörterten Themas selbst beobachtet: I should add some Thoughts of my own upon this Subject, but that too much Room is already fill’d by the Extracts I have made. ’Tis probable therefore I may resume it in one other Paper; and will now content Myself in putting a Conclusion to this (according to a Custom which I am a little fond of) with a very remarkable Passage.19
Dieser rationale Gedankengang wird auch von emotionalen, zumindest affektiven Aspekten durchstochen: namentlich durch den Einschub, in dem der Verfasser seine eigene Vorliebe für ein klimaktisches Ende bekundet. Er behält damit einerseits die volle Kontrolle über seinen Text, indem er sich an schon formulierte Passagen ebenso wie an äußere Faktoren wie den Textumfang erinnert, bezieht sich aber auch auf den gegenwärtigen Zeitpunkt des Schreibens, der weitere argumentative Details nicht mehr zulässt. Schließlich wirft er einen Blick in die Zukunft, wenn er andeutet, »wahrscheinlich« einmal das entstandene Manko zu beheben. Damit sind alle drei Zeitebenen erfasst, über die das aktive Bewusstsein verfügt; des Weiteren findet sich eine affektive Komponente im Verweis auf das Spannungselement in seinen Texten – nämlich das Zitat einer »remarkable Passage« aus Philip Sidneys Defence of Poesie (1580, gedr. 1595), die erst noch anschließt. Nicht nur rekurriert der Verfasser hier auf seinen eigenen Selektions- und Kompositionsprozess, sondern er greift auch auf die Reaktion der Rezipienten voraus, was in den anschließenden Beispielen verstärkt ausgeführt wird. b) Mind-Reading‹ / ›Folk-Psychology‹ Ein drittes Beispiel führt zu dem Verfahren, das in der englischsprachigen kognitiven Literaturwissenschaft als ›mind reading‹ oder ›Folk-Psychology‹ bezeichnet wird – das menschliche Bedürfnis, die Gedanken eines Gegenübers zu erfassen, indem man deren gestische, mimische, artikulatorische und ähnliche paralinguistische Signale zu lesen und dabei sich in andere hineinzuversetzen sucht. Derlei Prozesse finden sich in Leseransprachen, die man auch aus den Paratexten zu Romanen des 18. Jahrhunderts kennt und in denen der Autor-Erzähler durch die Spekulation über mögliche Leserreaktionen vorgibt, wie der Text zu rezipieren sei. Hier ein Auszug aus Johnsons Zeitschrift The Idler No. 67, in dem ein fiktiver Korrespondent der Herausgeber-Persona die Aufzeichnungen eines anderen Trödlers zur Verfügung 19
The Criticks [sic]: Being Papers Upon the Times. London 1719, S. 102. English Short Title Catalogue (ESTC) P2225.
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stellt. Dieser fiktive Korrespondent beginnt mit einer metakognitiven Bemerkung, die in den Entschluss mündet, dem Idler das Material zuzusenden: »I […] resolved to send it [my friend’s journal] to you, imagining, that if you think it worthy of appearing in your Paper, some of your Readers may receive entertainment by recognizing a resemblance between my friend’s conduct and their own«.20 Es findet sich in diesem Passus eine verschachtelte Argumentation, in deren Zuge der fiktive Absender die Wahrscheinlichkeit darlegt, dass die Herausgeber-Persona erwöge, ob diese Einsendung von der Lesergemeinde als nützlich erachtet würde. Dementsprechend sind auf zeitlicher und ontologischer Ebene komplexe mentale Operationen zu identifizieren, die Urteilskraft, Gedächtnisleistung und Vorstellungskraft erfordern: Erkennen, Wiedererkennen, Beurteilen in den unterschiedlich markierten Modi des Indikativ, Potenzialis und Irrealis. Die explizite Zuordnung einzelner Haltungen zu den jeweiligen kognitiven Instanzen wird von Zunshine als »tagging«21 bezeichnet. Dieses ›mind-reading‹ verrät also die vielfach gestaffelte Schichtung eines in die Rahmenkonstruktion eingebetteten fiktiven Absenders, der sich an die imaginäre Herausgeber-Persona (›Tatler‹) des realen Publizisten Johnson wendet und die hypothetische (antizipierte) Leserschaft als in enger Beziehung zueinander stehende denkende agencies konzeptualisiert.
c) Trügerisches Glücksempfinden Ein letzter Aspekt, der die senti-mentality im hier konstruierten Zusammenhang verstärkt, ist die Konvergenz von Verstand und Gefühl. Johnsons Rambler No. 47 charakterisiert einmal das Verhältnis von Bewusstsein, Schmerz und Zeitrelation: »Sorrow is properly the state of the mind in which our desires are fixed upon the past, without looking forward to the future, an incessant wish that something were otherwise than it has been«.22 Dies stimmt im Grundsatz mit der Haltung dessen überein, was in Idler No. 72 zum Ausdruck gebracht wird, wo die Autorfigur über die Möglichkeit sinniert, Erinnerungen aktiv zu filtern, d. h. bewusst zu steuern: It would add much to human happiness, if an art could be taught of forgetting all of which the remembrance is at once useless and afflictive, if that pain which never can end in pleasure could be driven totally away, that the mind might perform its functions without incumbrance, and the past might no longer encroach upon the present.23 20 The
Idler No. 67, Saturday 28 July, 1759, in: YE 2, 211. Why We Read Fiction, S. 47. 22 The Rambler No. 47, Thursday, 28 August 1750, in: YE 3, 254. 23 The Idler No. 72, Saturday, 1 September 1759, in: YE 2, 226. 21 Zunshine:
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Der Verfasser zeichnet hier das positive Bild eines Phänomens, das viel später auch die Freudsche Traumforschung zum Gegenstand macht: nämlich die Verdichtung und Verschiebung eines prägenden negativen (»afflictive«) Erlebnisses. Diese ›Kunst‹, von Johnson nur als hypothetisch-utopische Bewusstseinsstrategie präsentiert, erzeugt jedoch alles andere als einen Zustand des unbekümmerten Glücks (»happiness«), sondern hat im Gegenteil zur Folge, dass sich klinische Probleme mentalen Ursprungs nicht nur auf psychischer Ebene, sondern bis hin zu dissoziativen (neuropathologischen) Störungen, die Motorik und Sensorik betreffen, manifestieren. Johnson erweist sich durchaus auch als Kritiker eines ›kulturindustriell‹ erzeugten Glückszustandes. Diese Einstellung führt dazu, dass bei Veranstaltungen im öffentlichen Raum die bloße Illusion eines positiven Gefühls, »pleasure« (im Gegensatz zur wahren »happiness«), generiert wird. Deswegen dürfe man dort keine authentischen Gefühlsbekundungen erwarten, weder auf der Bühne noch im Zuschauerraum, denn in jedem Grinsen spiegele sich die Blödigkeit aller anderen, die ebenfalls versuchen, der Alltagsrealität zu entfliehen: »In time, all are deceived by the cheat to which all contribute«.24 Der eskapistische Glückszustand wird, in formaler Homologie zu wichtigen Argumentationsoperationen einer viel späteren ›Dialektik der Aufklärung‹ (Adorno/Horkheimer), nicht als echtes Empfinden beurteilt, das durch die kritisch-reflektierte Betrachtung des Bühnengeschehens entstehen könnte, sondern als blöde massenhafte Autosuggestion seitens der Betrachter, welcher man mit vernunftgesteuertem Misstrauen zu begegnen habe.
4. Schlussbemerkungen: Kognitive Literaturwissenschaft und die Narrative der Aufklärung An Eliots modernistischem Schlüsseltext ließ sich in den voranstehenden Ausführungen aus der Perspektive der kognitionswissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft überprüfen, inwieweit sein einflussreiches Narrativ von der »dissociation of sensibility« während der Aufklärung in England zu angemessenen Urteilen über diese Epoche kam. Ähnliche Revisionen ließen sich, wie die letzten Bemerkungen zeigten, auch für das Aufklärungsnarrativ der Kritischen Theorie durchführen, und sind schon an anderen Erzählmustern dargelegt worden.25 Vor einem stärker systematisierten kognitionsgeschichtlichen Hintergrund wird sich jenes transdisziplinäre Desideratum beseitigen lassen, das die Historikerin Ute Frevert formuliert hat: 24 The
Idler No. 18, Saturday, 12 August 1758, in: YE 2, 58. die Beiträge in Elisabeth Décultot u. Daniel Fulda (Hrsg.): Sattelzeit. Historiographische Revisionen. Berlin/Boston 2016. 25 Vgl.
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Today’s experimental cognitive and neurosciences lack depth by comparison: When they address emotions, they do so as a rule in ignorance of their predecessors who, as philosophers, physicians, and psychologists, studied human emotions for centuries. […] At most, only historians of science and sociologists of knowledge have taken interest in this, but even they have hardly begun to explore the topic of emotions [and cognition, Anm. d. Verf.].26
Die wenigen Beispiele für geschriebenes Denken übers Schreiben, die hier mit einigen essayistischen Entwürfen an der ontologisch-generischen Grenze zwischen erlebter Imagination und erschriebener Realität zur Sprache gebracht werden konnten, seien daher als Appell und Plädoyer für eine systematische Untersuchung kognitionsgeschichtlicher Aspekte im »(literatur-)kritischen« Diskurs des 18. Jahrhunderts verstanden – sowohl im einzelphilologischen als erst recht auch im komparatis tischen und interdisziplinären Kontext der europäischen Aufklärungsforschung.
26 Ute
Frevert: Defining Emotions. Concepts and Debates over Three Centuries. In: Ute Frevert et al. (Hrsg.): Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000. Oxford 2014, S. 1–32, hier: 2.
9 . se k t ion E r z ä h l e n i n de n W i s se ns c h a f t e n – w i s se ns c h a f t l ic h e s E r z ä h l e n
Anita Traninger
Erzählen in den Wissenschaften – wissenschaftliches Erzählen Einleitung
A
ls Prämisse der folgenden Sektion steht außer Frage, dass ›Erzählen‹ nicht ausschließlich in die Domäne der Literatur und schon gar nicht der belles lettres fällt. Mit Blick auf epistemische Prozesse werden darunter alle Arten narrativer Textkonstitution gefasst, denen ein in der Zeit sich erstreckendes Handlungssubstrat zugrunde liegt. Die strukturelle Differenz zwischen dieser histoire und dem dazu durchaus in Spannung stehenden, erzählerisch vermittelnden discours sei als Definiens des Erzählbegriffs gesetzt. Über Länge, Ästhetik und funktionale Bindung ist damit zunächst nichts gesagt. Ebenso ist der narrative Modus nicht an Fiktionalität gebunden. Umgekehrt meint ›Wissenschaft‹ im 18. Jahrhundert nur zum Teil, und nicht einmal zum größten Teil, Naturwissenschaft. Die in dieser Sektion behandelten Gegenstände erstrecken sich dementsprechend von der Vor- und Frühgeschichte über die Historiographie und die Theorie der Ökonomie zur Medizin und schließlich zur Geologie und zur Optik. Gemeinsam ist den in dieser Sektion versammelten Beiträgen die übergeordnete Frage, welcher methodische Status dem Erzählen in den verschiedenen Disziplinen zukommt. Natürlich legen die Transformationsprozesse im System der Gelehrsamkeit im 17. und 18. Jahrhundert einen neuen Begriff von Wissenschaft nahe; doch folgen die Praktiken anderen Rhythmen der Veränderung: Textwissenschaft und Empirie, Autoritätenmanagement und Experiment treten in je spezifische Kombinationen ein. Auf welcher Seite das Erzählen jeweils veranschlagt wird, ist eine Frage, die in den Beiträgen durchaus unterschiedlich beantwortet wird, ebenso wie jene nach dem epistemologischen Status des Erzählens. Die Frage ist, inwiefern und wenn ja, in welcher Weise die Narration als Teil eines methodisch gesteuerten und gesicherten Prozesses der Wissensgenerierung gefasst wurde oder werden kann – oder ob sie gerade als dessen Anderes gesehen wurde. Unter der Annahme, dass ›Erzählen‹ das Gegenteil von ›Erklären‹ sei, wurde die Narration in der Wissenschaftsgeschichte lange Zeit als der wissenschaftlichen Empirie wenn nicht entgegengesetzt, so aber doch als in Spannung zu ihr stehend aufgefasst. Insbesondere die unhintergehbare Differenz zwischen der histoire, die der Versprachlichung zugrunde liegt, und dem gestaltenden discours wurde nur widerstrebend reflektiert. Wenn ›Wissenschaft‹ die objektive Darstellung der Verhältnisse erfordert, dann ist die Brechung durch Sprache ein schwierig zu integrie-
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rendes Faktum. Oder anders gesagt, wenn die gute wissenschaftliche Praxis die getreue Dokumentation des Experimentalprozesses gebietet, dann mag unter diesem Vorzeichen die Illusion sich aufdrängen, dass die Versprachlichung der Chronologie der Arbeitsschritte ein transparentes Fixierungsverfahren sei. Kurz: Erzählen ließ sich leicht als dem der explikatorischen Aufgabe der Naturwissenschaft entgegenstehend auffassen. Seit den 1980er-Jahren treten die Praktiken der Wissenschaft und damit auch das Verhältnis von Forschungsprozess und narrativer Darstellung verstärkt ins Zentrum des Interesses.1 Dass das Erzählen dabei mit zu bedenken ist, wurde bereits von Michel de Certeau eingefordert, weil »eine Theorie der Erzählung untrennbar von einer Theorie der Praktiken ist, da sie gleichzeitig deren Bedingung und Produktion ist«.2 Die Hinwendung zum Erzählen unter der Prämisse einer kritischen Befragung des Repräsentationsanspruchs freilich bediente sich eines sehr weiten Narrationsbegriffs, der kaum mit den Ergebnissen der literaturwissenschaftlichen Narratologie kurzgeschlossen wurde. Auch die in der Literaturwissenschaft bereits ausgearbeitete, differenzierte Terminologie blieb in diesen Ansätzen nicht nur unreflektiert, sondern wurde gänzlich ignoriert. »Narrativ« ist dann nahezu jedes »ordnungsstiftende Muster« oder aber »storytelling« im allgemeinsten Sinn.3 Das Interesse liegt auf den Funktionen des Erzählens, wobei eine Vielzahl von Perspektiven unter ›Narration‹ verbucht wird, freilich gerade nicht das, was die Narratologie bevorzugt bearbeitet: die Pragmatik der Narration, Zeitgestaltung, Mittelbarkeit, Fokalisierung sowie die Insertion eines Beobachterstandpunkts. Umgekehrt wurde der Fiktionsverdacht geäußert, sobald generische Muster, die aus der Literatur herstammen, als fundierend für faktuale Textsorten identifiziert wurden – so prominent im Gefolge von Hayden White, der die in der Literatuwissenschaft heute teils längst als problematisch erkannte generische Schemata als Strukturmuster des emplotment unterschiedlicher Typen von Geschichtsschreibung identifizierte.4 Ähnlich argumentiert Rom Harré, der im (natur-)wissenschaftlichen Aufsatz einen idealisierenden Spannungsbogen zwingend präsent sieht. Den Aufsatz sieht er als Textsorte, »in which the plot of a human drama culminating in a scienti1 Vgl.
Frederic L. Holmes: Argument and Narrative in Scientific Writing. In: Peter Dear (Hrsg.): The Literary Structure of Scientific Argument. Historical Studies. Philadelphia 1991, S. 164–181. 2 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Übers. v. Ronald Vouillé. Berlin 1988, S. 157. 3 Christina Brandt: Wissenschaftserzählungen. Narrative Strukturen im naturwissenschaftlichen Diskurs. In: Christian Klein u. Matías Martínez (Hrsg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart 2009, S. 81–109, bes. 82–85, dort auch weiterführende Literaturhinweise. 4 Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore u. a. 1973. Zur Kritik der kategorischen Scheidung von novel und romance siehe Margaret Anne Doody: The True Story of the Novel. New Brunswick 1996, S. 1.
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fic discovery is unfolded«, weshalb die Erzählung ins Reich der Fiktion weise.5 Dass faktuale Texte Strategien der Narrativität unterwofen sind, stellt allerdings deren Wahrheitsanspruch oder assertiven Gestus, auf dem Faktualität als pragmatische Kategorie ja beruht, nicht in Frage. Erzählen und Wissenschaft sind mit Blick auf das 19. Jahrhundert durchaus mit Aufmerksamkeit bedacht worden, insbesondere dort, wo die Literatur sich am experimentellen Diskurs orientiert oder auch reibt. In der Tat konzentriert sich die historische Forschung auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert oder aber auf die frühen Experimentalberichte aus dem Umfeld der Royal Society im 17. Jahrhundert. Die Aufklärung gerät, obwohl sie beispielsweise literarische Formen wie den conte ganz neu im Dienste eines neuen Wissenschafts- und Wissensverständnisses funktionalisiert, in den Studien zur Wissenschaftsgeschichte und zur historischen Epistemologie insgesamt verhältnismäßig wenig in den Blick. Medizinisches Erzählen ist mit Blick auf Texte aus der frühen Neuzeit und dann wiederum aus dem 19. und 20. Jahrhundert Jahrhundert in den letzten Dekaden einigermaßen intensiv erforscht worden.6 Marie-Theres Federhofer zeigt in ihrem Beitrag, wie das in der Aufklärung neue Medium des Rezensionsjournals zu einem Ort medizinischer Kommunikation wurde. Sie untersucht eine ab 1777 publizierte Reihe von Erfahrungsberichten von Gelehrten und Schriftstellern, die als Betroffene, aber zugleich als medizinische Laien die Geschichte ihrer Augenkrankheiten erzählen. Dabei erweist sich, dass dieser Gesprächsfaden zwar sowohl Wissen über ein bestimmtes Krankheitsbild als auch konkrete praktische Ratschläge zum Umgang mit der Beeinträchtigung vermittelt, aber vor allem eines leistet: ein kollektives Selbstbewusstsein von Gelehrten herzustellen. Im Wesentlichen verweist dies auf die Praxis der Wissenschaft und die zentrale Bedeutung, die dem Sehen im Berufsalltag der Gelehrten zukam. Zugleich inszenieren die Texte eine Art von Kompetenzkonkurrenz, indem ärztlichem Versagen die gelehrte Selbstermächtigung als Experte der eigenen Krankheit gegenübergestellt wird. Federhofer verweist nicht zuletzt auf einen Effekt der longue durée, indem sie die Textsorte mit den observationes der Frühen Neuzeit kurzschließt. Bettina Noak widmet sich dem Werk des niederländischen Anatomen Frederik Ruysch (1638–1731), der vor allem deshalb zu Berühmtheit gelangte, weil er zwischen 1665 und 1717 mehr als 2000 anatomische Präparate anfertigte, die er 1717 5 Rom
Harré: Some Narrative Conventions of Scientific Discourse. In: Christopher Nash (Hrsg.): Narrative in Culture. The Uses of Storytelling in the Sciences, Philosophy, and Literature. London/New York 1990, S. 81–101, hier: 87. 6 Siehe nur z. B. Yvonne Wübben u. Carsten Zelle (Hrsg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur. Göttingen 2013; Gianna Pomata: Sharing Cases. The Observationes in Early Modern Medicine. In: Early Science and Medicine 15.3 (2010), S. 193– 236; Marc Föcking: Pathologia Litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert. Tübingen 2002.
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an den Zaren Peter den Großen verkaufte. Die Fallgeschichte spielt auch hier eine Rolle, in seinen Hundert anatomischen Anmerkungen legt Ruysch medizinische Fall geschichten aus der Praxis vor, die immer wieder in den Dienst des Kampfs gegen abergläubische Überzeugungen gestellt werden. Ein anderer Typus von Narration prägt hingegen seinen Thesaurus Anatomicus: Dort beschreibt Ruysch selbst seine Präparate, in denen er u. a. Fötenskelette, Blasensteine und anderes organisches Material zu Landschaften zusammengefügte. Diese Kompositionen waren mit Subscriptiones versehen, welche die Arrangements formal in die Nähe der Emblematik rücken. Die von Ruysch selbst gewählte Metapher hierfür ist die Schaubühne, und es ist eher das Tableau als die verbalisierte Narration, die diese Inszenierungsform von empirischer Wissenschaft prägt. Medizin im übertragenen Sinn spielt eine Rolle im Beitrag von Bastian Ronge zu Adam Smiths 1776 erschienener Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Ronge geht es nicht um die kanonische Lesart als Gründungstext der Wirtschaftswissenschaften, sondern um eine therapeutische Funktion, die sich im Text realisierte. Diese sieht Ronge als das eigentliche Skandalon an, durch das der Text den Zeitgenossen revolutionär erschien. Erzählen führt hier zur Formation von Gedankenbildern – wie jenem der Stecknadelfabrik zur Illustration von Arbeitsteiligkeit, der Idylle des Marktes oder der unsichtbaren Hand zur Illustration des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft –, die dem Leser nachhaltig als ›Griffbereitschafen‹ zur Beruhigung angesichts der Irritation durch den rasanten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel zur Verfügung stünden. Das zweite große Themengebiet, das die in dieser Sektion versammelten Beiträge behandeln, ist die Geschichtsschreibung. Martin Gierl widmet sich mit Johann Christoph Gatterer einem der führenden Vertreter der im 18. Jahrhundert als Wissenschaft sich neu erfindenden Historiographie. Als Professor für Geschichte in Göttingen legte Gatterer zehn Kompendien zur Universalgeschichte sowie Arbeiten über Geographie, Genealogie und Diplomatik vor, die bis in das 19. Jahrhundert hinein vielzitierte Referenzwerke blieben. Die Frage nach dem historischen Zusammenhang, die Gatterers Herangehensweise an die Geschichte prägt, legt eine Reflexion auf das Erzählen als solches nahe. Die fundierende Kategorie ist unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr die Chronologie, sondern das System. Doch auch wenn dies die Geschichtsschreibung näher an die Strukturierungskonventionen fiktionalen Erzählens heranrückt, so ist doch, wie Gierl zeigt, die Erzählung nicht das epistemologische Modell für Gatterers Historiographie – vielmehr sind es sequenzialisierte Karten, die auf einen spatiotemporalen Zusammenhang abzielen, der die Grundlage jeder darauf aufsetzenden Narrativierung darstelle. Die Zeit um 1800 beschäftigt Norman Kasper in seinem Beitrag zu Konzepten des menschlichen Anfangs und den Diskursmustern von Weltgeschichte, Menschheitsgeschichte und früher Paläologie. Das 18. Jahrhundert ist umgetrieben von der
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Frage nach einer alternativen Erzählung zur biblischen Schöpfungsgeschichte, und man entwickelt mit Konzepten wie Urwelt, Vorwelt und Vorgeschichte Modelle für eine Geschichte vor der Geschichte. Norman Kasper fragt nach den je spezifischen Verknüpfungslogiken, die mit diesen Begriffen transportiert werden. Neben August Ludwig Schlözer und Johann Gottfried Herder ist es insbesondere der Frühpaläontologe Johann Georg Justus Ballenstedt, dem Kaspers Aufmerksamkeit gilt. Ballenstedts als Kritik an La Peyrère formulierter ›neuer‹ Präadamismus setzt eine biologische Entwicklungsgeschichte voraus, die den Menschen in der ›Urwelt‹ vor Adam erscheinen lässt. ›Vorwelt‹ und ›Vorzeit‹ bezeichnen in seinem Schema hingegen die Zeit von Adam bis zur Sintflut – es sind freilich durchaus erst im Prozess der Klärung befindliche Begrifflichkeiten, die Ballenstedt hier mit Entschiedenheit setzt. Kasper zeigt, dass die so konturierten ›Epochen‹ aber gerade nicht in ein übergeordnetes Narrativ münden: ein geschichtlicher Verlauf wird behauptet, aber eben nicht erzählt. Das ›Urgestein‹ der geologischen Theorien des 18. Jahrhunderts schlechthin, der Granit, verbindet schließlich den Beitrag von Sebastian Meixner mit Kaspers Überlegungen zur Ur- und Vorzeit. Der Granit wurde als Schlüssel zum Verständnis des Ursprungs der Welt aufgefasst: »Die Entstehung des Granits zu erklären heißt also: die Entstehung der Welt zu erklären.«7 Die Schrift Granit II ist einer von drei frühen Texten Goethes zur Naturwissenschaft, die Meixner behandelt. Den Ausgang nimmt seine Betrachtung von Goethes Der Versuch als Mittler von Objekt und Subjekt (1792) und der an diesem Beispiel formulierten Hypothese, dass Erkenntnis dort grundsätzlich narrativ inszeniert werde, und zwar auf doppelte Weise: zum einen mit Blick auf den dem Text vorausgehenden Versuch, der als in der Zeit sich vollziehendes Ereignis vorläufig besicherte Erkenntnis schafft; und zum anderen als konzeptionell offenes Darstellungsverfahren. Die Metamorphose der Pflanzen und die Beiträge zur Optik bilden weitere Eckpunkte der Diskussion. Insgesamt seien die Schriften zur Naturwissenschaft, so Meixner, narrative Experimente, die das Verhältnis von Erkennen und Erzählen ausloten. Insgesamt zeigen die Beiträge in dieser Sektion, dass die Erforschung des Erzählens in den Wissenschaften der Aufklärung noch ganz am Anfang steht. Als Perspektivbegriff ermöglicht die Narration die Betrachtung ganz unterschiedlicher Disziplinen und Fragestellungen, doch nicht immer sind die Befunde positiv. Die Frage nach dem Erzählen erweist zuweilen auch, dass es zwar perspektivisch reflektiert, aber nicht praktisch implementiert wird. Es sind dies ex negativo fruchtbare Erkenntnisse, die der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Aufklärung wesentliche Impulse zu geben vermögen. 7
Sebastian Meixner: Erkenntnis erzählen. Goethes frühe naturwissenschaftliche Schriften, S. 622.
Marie-Theres Federhofer
Der erzählende Patient Narrative von Augenkranken in Aufklärungszeitschriften* 1794 veröffentlichte die Medicinisch-chirurgische Zeitung die Besprechung einer Krankengeschichte: Winke aus der Geschichte eines Augenkranken zu besserer Behandlung schwacher und noch gesunder Augen. Verfasser dieser autobiographischen Erzählung ist der heute vergessene Johann Samuel Fest (1754–1796), Prediger, Schriftsteller und Zeitschriftenherausgeber. Er schildert in dieser Schrift den Verlauf seiner Augenkrankheit und gibt auf der Grundlage eigener Erfahrungen Ratschläge für deren Behandlung. Anerkennend bescheinigte ihm der anonyme Rezensent, »daß es ein Verdienst des Verfassers« sei, die »ungemein vielen […] Fälle in der Anwendung [von Vorsichtsregeln, Anm. d.Verf.] aufgesucht und dargestellt zu haben […].«1 Die in Salzburg erscheinende Medicinisch-chirurgische Zeitung war im deutschsprachigen Raum das seinerzeit führende Rezensionsorgan für in- und ausländische Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Medizin und Gesundheitsvorsorge – das Fachjournal erschien von 1790 bis 1839 und wurde dann ab 1840 unter dem Titel Neue medicinisch-chirurgische Zeitung weitergeführt – und wandte sich vor allem an Ärzte. In diesem Kontext dürfte die Besprechung einer Krankengeschichte aus der Perspektive eines Patienten, also eines »weder von einem Arzte, noch für Aerzte geschriebenen Buche[s]«2 überraschen. Man könnte die Entscheidung, die Schrift eines Laien in einer sich hauptsächlich an Experten wendenden Zeitschrift zu rezensieren, als Beleg für den Interessen- und Informationswert von Fests Krankenerzählung verstehen. Man könnte darin weiterhin ein Indiz für die um 1800 noch nicht vollzogene Spezialisierung des medizinischen Diskurses sehen, der durchlässig war für die Stimmen von Nicht-Spezialisten. Wie auch immer man die Publikation ein*
Die Beschäftigung mit Patientenerzählungen des 18. Jahrhunderts ist eines der Interessenfelder der interdisziplinären Forschungsgruppe an der Universität Tromsø, Health, Art, Society. Die aus Medizinern, Soziologen und Literaturwissenschaftlern bestehende Gruppe arbeitet innerhalb des weiten und expandierenden Gebietes Narrative Medicine und hat ins Zentrum des Forschungsinteresses Patiententexte gestellt, also von Patienten verfasste Texte über ihre Krankheit, darüberhinaus Texte, die ohne literarischen Anspruch auftreten. Das Rubrum »Patiententexte« ist historisch bewusst weit gefasst: Blogs, Interviews mit Patienten oder Patientenjournale zählen ebenso dazu wie Erzählungen von Betroffenen aus früheren Zeiten. 1 Der genaue Titel lautet: Leipzig in der Weidmannschen Buchhandlung: Winke aus der Geschichte eines Augenkranken zu besserer Behandlung schwacher und noch gesunder Augen. Von Joh. Sam. Fest, Prediger zu Hayn und Kreudniz unweit Leipzig. 1793. In: Medicinischchirurgische Zeitung 1.12 (1794), S. 205–207, hier: 205. 2 Ebd., S. 206.
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schätzen mag: Die Rezension stellte den Endpunkt eines Rezeptionsprozesses dar, der 1776 mit dem Erfahrungsbericht eines Augenkranken einsetzte, der in den Jahren zwischen 1778 und 1793 zu weiteren autobiographischen Krankenerzählungen anderer Augenleidenden führte – die heute bekanntesten Verfasser dürften Joachim Heinrich Campe und Leopold Friedrich Günther von Göckingk sein –, und 1794 Georg Christoph Lichtenberg zu einer Schrift Ueber einige Pflichten gegen die Augen inspirierte. Seinen Abschluss fand dieser Rezeptionsvorgang mit der genannten Rezension in der Medicinisch-Chirurgischen Zeitung, die aus einer Meta-Perspektive auf jenes Ensemble individueller Krankheitsgeschichten zurückblickt: »Es wird daher Niemand reuen, wer auch schon Göckingk, Campe und Büsch über diesen Gegenstand [d. h. die Behandlung von Augenkrankheiten, Anm. d.Verf.] gelesen hat, […] diese Bogen durchgegangen zu haben.«3 Man könnte dieses Textensemble als eine Erzählkette bezeichnen, in der eine Erzählung die nächste Erzählung generiert und in der die späteren Erzählungen auf die früheren explizit Bezug nehmen. Die Erzählungen führen weiterhin zu Kommentaren und Ratgeberliteratur – etwa Lichtenbergs Schrift oder die eingangs erwähnte anonyme Rezension –, erzeugen also andere Textsorten. Will man die an literarischen Texten gewonnene Terminologie Gérard Genettes auf diese Gruppe nicht-literarischer Texte übertragen, so ließe sich sagen, dass das Ganze durch unterschiedliche transtextuelle Beziehungen, nämlich intertextuelle wie metatextuelle Relationen, zusammenhängt und miteinander vernetzt ist.4 Allerdings zeichnen sich diese Erzählungen nicht nur durch rein textuelle Beziehungen untereinander aus. Sie stehen auch in einem besonderen Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit, auf die sie referieren und die sie zugleich mitkonstituieren. Im Folgenden möchte ich dieses Textensemble kurz beschreiben und historisch kontextualisieren. Vorgestellt werden sollen die Akteure und ihre Krankheitsgeschichten, das gewählte Publikationsmedium und die Beweggründe für die Veröffentlichung. Kurz: es geht um den soziokulturellen und pragmatischen Kontext des Erzählens. Daran schließt sich die Frage an, ob den Einzelgeschichten, die sich formal und inhaltlich sehr voneinander unterscheiden und jeweils von singulären Ereignissen berichten, eine Art Muster zugrunde liegt, ob sie formale Ähnlichkeiten mit anderen Textsorten haben oder dort Anleihen machen. Dieser Versuch muss hier notwendigerweise oberflächlich und skizzenhaft bleiben, da ich die Erzählungen nicht im Detail präsentieren kann. Er orientiert sich an Christian Kleins und Matías Martínez’ Ausführungen zu faktualen Erzählungen als »Wirklichkeitserzählungen«, denen bei aller Formenvielfalt der »Anspruch auf unmittelbare Veran3
Ebd., S. 207. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993, S. 9–13. 4
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kerbarkeit in der außersprachlichen Wirklichkeit« und »kein […] hohe[r] Grad an Poetizität«5 gemeinsam sind. Im Rückgriff auf Niklas Luhmanns und Pierre Bourdieus Theorien zur gesellschaftlichen Differenzierung erproben Klein und Martínez eine Typologie faktualen Erzählens. Sie verorten dieses in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen – Medizin, Politik, Recht, Religion, Wirtschaft, um nur einige Felder zu nennen –, d. h. Wirklichkeitserzählungen sind an einen sozia len Kontext gebunden und erfüllen innerhalb der verschiedenen Teilbereiche eine jeweils spezifische kommunikative Funktion.6 Patientengeschichten sind so gesehen dem Teilbereich Medizin zuzuordnen und orientieren sich an der leitenden Frage nach »gesund / krank« bzw. »lebensförderlich / lebenshinderlich«7. Weiterhin handelt es sich bei den hier vorzustellenden faktualen Krankheits erzählungen um autobiographische Dokumente, die mit dem Anspruch auftreten, tatsächlich Erlebtes zu schildern. Sie schließen, narratologisch gesprochen, »mit ihren Lesern einen Faktualitätspakt.«8 Das Textensemble unterscheidet sich allerdings in einem wichtigen Punkt von dem Quellenmaterial, das medizin- und sozialhistorische Studien bevorzugt heranziehen, die sich mit der Darstellung von Krankheitsverläufen aus der Perspektive von Patienten befassen – zu nennen sind hier etwa die Arbeiten von Barbara Duden, Francisca Loetz, Marion Maria Ruisinger oder Michael Stolberg.9 Ich meine den Erzählanlass bzw. Entstehungskontext. Denn während es sich bei den Patiententexten, auf die sich die genannten Forschungsarbeiten stützen, hauptsächlich um gedruckte oder ungedruckte Briefe von Patientinnen und Patienten an Ärzte, mithin um sog. »Konsiliarkorrespondenz« handelt, sind die hier in Frage stehenden Krankheitserzählungen anders modelliert. Wie in Patien tenbriefen werden zwar auch in diesen Krankheitsnarrativen mehr oder weniger 5
Christian Klein u. Matías Martínez: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. In: Dies. (Hrsg): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart 2009, S. 1–13, hier: 6. 6 Vgl. ebd., S. 7–12; vgl. auch Brigitte Boothe: Erzählen im medizinischen und psychotherapeutischen Diskurs. In: Klein u. Martínez (Hrsg.): Wirklichkeitserzählungen, S. 51–80. 7 Klein u. Martínez: Wirklichkeitserzählungen, S. 11. 8 Matías Martínez: Narratologie als interdisziplinäre Forschungsmethode. Eine Beispielanalyse autobiographischer Holocaust-Darstellungen (Ruth Klüger: weiter leben, Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur, Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke). In: Susanne Knaller u. Doris Pichler (Hrsg.): Literaturwissenschaft heute. Gegenstand, Positionen, Relevanz. Göttingen 2013, S. 179–190, hier: 180. 9 Vgl. Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987; Francisca Loetz: Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850. Stuttgart 1993; Marion Maria Ruisinger: Patientenwege. Die Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683–1758) in der Trew-Sammlung Erlangen. Stuttgart 2008; Michael Stolberg: Homo Patiens. Köln 2003; ders.: »Mein äskulapisches Orakel«. Patientenbriefe als Quelle einer Kulturgeschichte der Krankheitserfahrung im 18. Jahrhundert. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996), S. 385–404.
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elaboriert selbsterfahrene Krankheitsverläufe erzählt. Allerdings richten sich die Geschichten nicht an einen bestimmten Arzt, dem Krankheitssymptome und -verläufe geschildert werden und der um Rat gebeten wird. Da sie alle in Zeitschriften bzw. parallel dazu teilweise auch als selbstständige Publikation erschienen sind, visieren sie offensichtlich ein breiteres Publikum an. Die Krankengeschichten verdanken ihre Entstehung also nicht einer spezifischen, individuellen Patient-Arzt-Relation. Überspitzt könnte man vielmehr sagen, dass sie ihre Entstehung gerade umgekehrt einer gescheiterten bzw. nicht-existierenden Patient-Arzt-Relation verdanken, da in allen Fällen Ärzte zwar kosten- und schmerzintensiv, aber ergebnislos konsultiert worden sind. »[…] ich […] wurde also mein eigner Arzt«,10 resümierte einer der Verfasser seine Krankengeschichte. Die Erfahrung ärztlichen Versagens machte ihn zum Chronisten wie zum Experten seiner eigenen Krankheit. Die Verfasser der Geschichten über Augenleiden und Blindheit sind der Aufklärungspädagoge Joachim Heinrich Campe,11 der der Empfindsamkeit zuzurechnende Schriftsteller Leopold Friedrich Günther von Göckingk,12 der Rechtsgelehrte und Historiker Ludwig von Baczko13 und der bereits genannte Prediger Johann Samuel Fest.14 Erschienen sind ihre Erzählungen im Deutschen Museum und in den Beiträgen zur Beruhigung und Aufklärung, Auslöser dieser Serie von Erzählungen war eine Publikation des Hamburger Volkswirtes und Handelsakademie-Gründers Johann Georg Büsch, wie bei Campe nachzulesen ist: Das Beispiel des hamburgischen Professors, Herrn Büsch, welcher neulich […] die Geschichte seiner eigenen Hypochondrie beschrieb, hat mich an die Pflicht erinnert, 10 Ludwig
von Baczko: Geschichte meiner Augenkrankheit. In: Deutsches Museum 2 (1782), S. 337–344, hier: 340. Baczkos Krankengeschichte ist in jüngerer Zeit auch von der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung rezipiert worden. Vgl. Jens Lachmund u. Gunnar Stollberg: Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien. Opladen 1995, S. 219. 11 Vgl. Joachim Heinrich Campe: Geschichte meiner Augenkrankheit. In: Deutsches Museum 2 (1778), S. 67–83. 12 Vgl. Leopold F. G. von Göckingk: Meine Augenkrankheit. In: Deutsches Museum 1 (1779), S. 103–114. 13 Vgl. Ludwig von Baczko: Anthropologische Bemerkungen eines Blinden. In: Der Neue Teutsche Merkur 3 (1801), S. 256–272; ders.: Selbstbeobachtungen eines Blinden, zur Erleichterung eines ähnlichen Schicksals. In: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung 5 (1796), S. 141– 158; ders.: Fortsetzung der Lebens- und Blindheitsgeschichte des Herrn Ludwigs von Baczko in Königsberg. In: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung 4 (1795), S. 540–560; ders.: Lebensund Blindheitsgeschichte der Herrn L. von Baczko in Königsberg. In: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung 1 (1789), S. 560–623. 14 Johann Samuel Fest: Winke aus der Geschichte eines Augenkranken zu besserer Behandlung schwacher und noch gesunder Augen. In: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung 3 (1793), S. 535–659.
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den Dank, den ich der göttlichen Vorsehung für die Wiederherstellung einer zureichenden Brauchbarkeit meiner Augen schuldig bin, dadurch thätig zu machen, daß ich zum Trost und zum Unterricht derer, welche sich mit mir in Einem Falle befinden, so wohl das, was ich überstanden habe, als auch die Mittel beschreibe, wodurch es […] gemildert worden ist.15
Campes Erfahrungsbericht von 1778 veranlasste Göckingk ein Jahr später, 1779, die Geschichte seiner Augenkrankheit zu veröffentlichen: »Ich selbst weiß nicht, ob ich das Herz gehabt haben würde, die Geschichte meiner Augenkrankheit zu schreiben, wenn Freund Campe mit der seinigen nicht den Anfang gemacht hätte.«16 Auf Göckingks Erzählung folgte jene von Baczko – ihn ereilte unter seinen Leidensgenossen das verhängnisvollste Schicksal, da er völlig erblindete –, Baczkos Darstellung schließlich bewegte Fest dazu, seine Winke aus der Geschichte eines Augenkranken zu veröffentlichen, die er separat auch als Buch publizierte.17 Bei den Verfassern handelt sich soziokulturell gesehen um eine homogene Gruppe – Schriftsteller und Gelehrte –, die zudem durch eine miteinander verbrachte Studienzeit, ähnliche berufliche Projekte oder gemeinsam genutzte Publikationsforen gut miteinander vernetzt war: Campe und Göckingk studierten Ende der 1760er-Jahre an der Universität in Halle, Campe und Büsch dürften sich durch ihre pädagogischen Projekte in Hamburg gekannt haben. Eine Art Drehscheibe für die publizistischen Aktivitäten der vier Verfasser war das Deutsche Museum, in dem Ende der 1770er-Jahre und zu Beginn der 1780er-Jahre die Krankengeschichten von Campe, Göckingk, Baczko und Fest erschienen, später, Mitte der 1790er-Jahre, die Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung, die die Erzählungen Baczkos und Fests veröffentlichten. Man könnte hier von einer Gruppendynamik sprechen, die sich im Modus des Narrativen artikuliert. Die Erzählungen generieren gleichsam ein kollektives Selbstbewusstsein – das der Gelehrten. Dass gerade für diese Berufsgruppe die Beeinträchtigung oder – im Falle Baczkos – der vollständige Verlust der Sehkraft existentielle Folgen hatte, liegt auf der Hand. Es wundert daher nicht, dass der Darstellung der Lese- und Schreibpraxis viel Raum gegeben und die Krankheit in enger Relation zur beruflichen Tätigkeit beschrieben wird. Dieser Zusammenhang zwischen Krankheit und Berufsalltag wird von den Autoren entweder als eine Kausalbeziehung dargestellt, da sie das Studieren und immerwährende Lesen gerade nachts oder bei künstlichem Licht für die Sehbehinderung verantwortlich machen oder aber als ein Konzessivverhältnis, insofern sie trotz der körperlichen Einschränkung versuchen, weiterhin als Gelehrte aktiv zu bleiben, also zu lesen, 15
Campe: Geschichte meiner Augenkrankheit, S. 67. F. G. von Göckingk: Nachtrag zu Gökingks Geschichte seiner Augenkrankheit. In: Deutsches Museum 1 (1781), S. 458–464, hier: 464. 17 Johann Samuel Fest: Winke aus der Geschichte eines Augenkranken zu besserer Behandlung schwacher und noch gesunder Augen. Leipzig 1793. 16 Leopold
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zu schreiben, zu publizieren. Die Patientengeschichten Campes, Göckingks, Baczkos und Fests erzählen vor allem eins: man hat die Krankheit im Griff. Obwohl sich die Verfasser weitgehend selbst die Schuld an ihrer körperlichen Beeinträchtigung geben, positionieren sie sich als selbstbewusste Individuen, die nicht an ihrer Krankheit scheitern, sondern die im Lebensalltag ihre Krankheit zu bewältigen versuchen. Therapeutisch-diätetische Maßnahmen, etwa das Baden der Augen in kaltem Flusswasser18 oder das Lesen zu bestimmten Zeiten,19 technische Hilfsmittel wie Brille oder Lichtschirm 20 oder die Assistenz durch Vorleser 21 werden in diesen Geschichten dementsprechend ausführlich und detailliert geschildert. Erlebendwertender Mittelpunkt der Krankengeschichten ist das Subjekt, dessen Ängste und Schmerzen, soziale Ausgrenzung und Isolation hier artikuliert werden. Es sind stark individualisierende Geschichten, in denen die eigene Person nicht nur für die Gestaltung des Lebens, sondern sogar für die eigene Krankheit verantwortlich gemacht wird. Durch die Publikation ihrer Geschichten hatten die Verfasser ein Mittel, um der von ihnen allen schmerzlich erfahrenen, durch die Krankheit verursachten Vereinsamung und Ausgrenzung entgegenzuwirken: sie wurden zu öffentlichen Personen, deren Schicksal man Aufmerksamkeit schenkte, sei es, dass mitfühlende Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ihnen heilende Augentinkturen schickten,22 sei es, dass sich ihre berufliche Situation durch finanzielle Förderung verbesserte.23 Offensichtlich bemühen sich die Verfasser darum, ihrer Krankheit insofern Bedeutung zu verleihen, als sie zeigen, dass sie sie im Alltag bewältigen und integrieren. Diese Integrationsleistung manifestiert sich auf unterschiedlichen Ebenen. Sie dokumentiert sich im Modus des Narrativen, da Vorgänge durch narrative Bearbeitung eine sinnhafte Bedeutung erhalten und das Erzählen zwischen den einzelnen Begebenheiten und Ereignissen einen Zusammenhang rekonstruiert bzw. herstellt. Der Erkrankung, einem unvorhergesehenen, nicht-intendierten, unpersönlichen Geschehnis, wird durch narrative Techniken eine Funktion zugeschrieben, und sie wird kompatibel mit der Erfahrungswelt des Erzählenden. Doch diese Krankheitserzählungen stiften nicht nur innersprachlich, auf der rhetorisch-textuellen Ebene, einen Bedeutungszusammenhang. Sie beanspruchen darüber hinaus, sinnstiftend und nützlich für andere Leser zu sein, d. h. Einfluss auf die außersprachliche Welt zu nehmen. Die Erzählungen treten somit auch auf als ein Stück Ratgeberliteratur. 18 Vgl.
Campe: Geschichte meiner Augenkrankheit, S. 71 u. 82; Fest: Winke, S. 93. Vgl. Campe: Geschichte meiner Augenkrankheit, S. 80 f. 20 Vgl. ebd., S. 76; Göckingk: Meine Augenkrankheit, S. 111–113; vgl. auch Baczko: Lebensund Blindheitsgeschichte, S. 605, der mit Hilfe eines eigens angefertigten Wachsstücks eine Technik entwickelt, um alte Dokumente zu ›lesen‹. 21 Vgl. Baczko: Lebens- und Blindheitsgeschichte, S. 589, 601 u. 611. 22 Vgl. Göckingk: Nachtrag, S. 458–464; ders.: Rezept zu einem Augenwasser. In: Deutsches Museum 1 (1782), S. 94–98; Fest: Winke, S. 627 f. 23 Vgl. Baczko: Lebens- und Blindheitsgeschichte, S. 602. 19
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Nennt schon Büsch als Hauptbeweggrund für seine Publikation, Leidensgenossen durch eigene Erfahrungen Trost spenden zu wollen,24 so wird dieses Motiv in allen weiteren Erzählungen repetiert: Göckingk verspricht sich »einigen Nuzen davon, wenn ich […] meine Bemerkungen über einen der traurigsten Zufälle, die einem Gelehrten begegnen können, aus eigner Erfahrung mittheile […].«25 Baczko ist zwar »nicht so glüklich, […] einen Beitrag zur Heilungsgeschichte änlicher Krankheit zu liefern«,26 da in seinem Fall die Krankheit ja nicht geheilt werden konnte, sondern zur völligen Erblindung führte. Dennoch hofft er, dass »der Unglückliche in meiner Lage manches Hülfsmittel zur Erleichterung seines Schicksals von mir erlernen […] kann«,27 Fest verspricht sich, dass die »genauere Geschichte meiner Augenkrankheit und meiner dabei gemachten Erfahrungen sowohl denen meinen Krankheitsverwandten […] als auch manchen andern Unglücklichen dieser Art nicht unwillkommen sein […] sein dürfte.«28 Die Geschichten werden erzählt, um zu belehren, zu warnen, zu kommunizieren, sie wollen Einfluss nehmen auf die Alltagspraxis anderer. Gleichzeitig nehmen die Erzählungen aber auch Einfluss auf den Alltag der Erzählenden selbst: Campe und Göckingk erhielten wie erwähnt Augenwasser und -tinkturen, die ihnen wohlmeinende Leserinnen und Leser sandten und die in einigen Fällen auch geholfen haben sollen.29 Einschneidender dürfte sich Baczkos Situation durch das Erzählen seiner Krankengeschichte verändert haben. Er konnte dadurch einige nicht weiter genannte »edeldenkende Männer«30 auf sich aufmerksam machen, die ihm ein fünfjähriges Stipendium finanzierten, das ihn in die Lage versetzte, die Geschichte Preußens zu schreiben. Die Krankengeschichten Campes, Göckingks und Baczkos führten zu Handlungen in der Wirklichkeit, und mit dem Erzählen der eigenen Lebensgeschichten änderte sich der Verlauf eben dieser Lebensgeschichten. Man könnte hier mit dem Begriff des Philosophen Alasdair MacIntyre von einem Fall
24 Vgl.
Johann Georg Büsch: Geschichte meiner Hypochondie [sic], als Manuscript für meine Zeitgenossen, 1776. In: Ders.: Erfahrungen. 5 Bde. Bd. 5. Hamburg 1802, S. 331–400. Büsch beschreibt eingangs eigene Erfahrungen mit der tröstenden Funktion seiner Erzählung: »Wenige Tage darauf dankte mir sein Freund und Arzt, daß ich durch meine Erzählung diesem Manne neuen Muht [sic] wieder gegeben hätte […]. Dies ist nicht die einzige Erfahrung, deren ich mich freue, Personen, die an ähnlichen Nerven–Uebeln litten, durch Erzählungen desjenigen, was ich gelitten aufgerichtet […] zu haben […]. Schon oft ist mir die Versuchung entstanden, den Trost, den ich manchen meiner Zeitgenossen wirklich erteilen zu können glaube, durch den Druk [sic] allgemeiner zu machen.« Ebd., S. 334 f. 25 Göckingk: Meine Augenkrankheit, S. 103. 26 Baczko: Geschichte meiner Augenkrankheit, S. 337 f. 27 Baczko: Lebens- und Blindheitsgeschichte, S. 562. 28 Fest: Winke, S. 538. 29 Vgl. Anm. 22. 30 Baczko: Lebens- und Blindheitsgeschichte, S. 602.
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von »enacted narrative«,31 von einer ins Werk gesetzten Erzählung sprechen – das Erzählen wird zu einem Element von Praxis. Ich möchte mich abschließend kurz der Frage zuwenden, ob diese Patienten erzählungen über gemeinsame Merkmale verfügen und ob ihnen ein gemeinsames Muster zugrunde liegt. Als eine vorläufige These möchte ich formulieren, dass sie sowohl Elemente der Gelehrtenautobiographie als auch der sog. Observationes, also der von Ärzten verfassten Krankenberichten, enthalten. Die hier vorgestellten Patien tenerzählungen wählen – zumindest teilweise – ein Darstellungsmuster, das auch Berufs- und Gelehrtenautobiographien zugrunde liegt. »Lebenslauf, Charakteristik und Werkverzeichnis«32 sind Günther Niggl zufolge die durch Jahrhunderte stabilen Elemente dieser Autobiographien. Die beiden ersten Aspekte – Lebenslauf und Charakteristik, insbesondere die Schilderung körperlicher Eigenschaften – strukturieren ebenfalls die Erzählungen Campes, Göckingks, Baczkos und Fests. Wenn für die Gelehrtenautobiographien des 18. Jahrhunderts generell gilt, dass sie im Unterschied zu früheren Jahrhunderten stärker individualisiert sind und ihr Augenmerk dem »Kausalnexus der Lebensgeschichte«33 gilt, so trifft das ebenso auf die hier vorgestellten Patientengeschichten zu: sie bemühen sich, wie bereits dargelegt, die Augenkrankheit aus der eigenen Biographie heraus zu erklären und sie in die eigene Biographie zu integrieren. Es handelt sich bei den hier präsentierten Geschichten um Fälle der Selbstbeobachtung und Selbstexploration. Dieser Sachverhalt lädt dazu ein, einen vergleichenden Blick auf jene Textsorte zu werfen, die sich ebenfalls auf Empirie und Beobachtung beruft, eine Textsorte, die zwar auf eine lange Tradition zurückbli cken kann, die aber im 18. Jahrhundert, wie Carsten Zelle gezeigt hat,34 nach einer eigenen Topik bzw. Poetik modelliert wurde. Ich meine die sog. Observationes. Im Unterschied zu den hier vorgestellten Patientenerzählungen handelt es sich dabei um von Ärzten verfasste Krankenberichte. Die diskursiven Regeln, nach denen bei31 Alasdair
MacIntyre: After Virtue. London 1981; vgl. auch die fruchtbare Weiterentwicklung dieses Begriffs in der kulturwissenschaftlichen und organisationstheoretischen Theoriebildung: Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 32013; Barbara Czarniawska: Narratives in Social Science Research. London 2004. 32 Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, S. 15. 33 Ebd., S. 78. 34 Vgl. Carsten Zelle: Fall und Fallerzählungen in Friedrich Hoffmanns Medicina Consultatoria (1721–1739). In: Yvonne Wübben u. Carsten Zelle (Hrsg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur. Göttingen 2013, S. 348–373; ders.: »Die Geschichte bestehet in einer Erzählung«. Poetik der medizinischen Fallerzählung bei Andreas Elias Büchner (1701–1769). In: Zeitschrift für Germanistik 19.2 (2009), S. 301–316. Vgl. auch Gianna Pomata: Fälle mitteilen. Die Observationes in der Medizin der Frühen Neuzeit. In: Wübben u. Zelle (Hrsg.): Krankheit schreiben, S. 20–63.
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Aspekte · 9. Sektion · Marie-Theres Federhofer
spielsweise die Ärzte Friedrich Hoffmann und Andreas Elias Büchner ihre Krankenberichte schrieben, umfassten eine Darstellung des Kranken, eine ausführliche Krankheitsgeschichte und eine Beschreibung der Vorsorge und Therapie.35 Historia und Cura strukturierten also, vereinfacht gesagt, den Aufbau der Observationes. Meine Behauptung wäre, dass die hier vorgestellten Patientengeschichten, die wie gesehen nicht nur die eigene Krankheitsgeschichte ausführlich schildern, sondern auch Empfehlungen zur Behandlung geben, Anleihen bei diesem Textmuster machen. Diskursiv und alltagspraktisch wird in den Erzählungen Campes, Göckingks, Baczkos und Fests damit die Aufforderung zur Selbstsorge eingelöst, die der Arzt Friedrich Hoffmann bereits 1715 erhob: »ein jeglicher/dem sein Leben und Gesundheit lieb ist/[müsse] sein eigner Artzt seyn.«36 Die hier präsentierten Patientengeschichten arrangieren, strukturieren und rekonstruieren autobiographische Ereignisse und Beobachtungen, wobei sie sich bestimmter narrativer Textmodelle bedienen, die seinerzeit zur Verfügung standen und als verbindlich galten. Sie beziehen sich auf reale Sachverhalte in der außersprachlichen Welt und nehmen Einfluss auf die außersprachliche Welt, die in den Erzählungen dargestellt wird. Als Teil der narrativen Kultur der Aufklärung vermitteln diese Patientengeschichten zugleich handlungsorientierendes und praxis regulierendes Wissen.
35 Vgl.
Zelle: Fall und Fallerzählungen, S. 360. Hoffmann: Vorrede. In: Ders.: Gründliche Anweisung Wie ein Mensch von dem frühzeitigen Tod und allerhand Arten Kranckheiten durch ordentliche Lebens-Art sich verwahren könne. Halle 1715, n. pag., zit. nach Zelle: Fall und Fallerzählungen, S. 354. 36 Friedrich
Martin Gierl
Plan und Poesie Erzählte und konstruierte Geschichte bei Johann Christoph Gatterer Geschichte ist, wie schon Arnaldo Momigliano betonte, nicht aufgrund der philosophischen Diskurse Humes und Voltaires Wissenschaft geworden, sondern indem ihr Historiker wie Gibbon den angemessenen Fußnotenapparat beigefügt haben.1 Im deutschsprachigen Bereich ist das Johann Christoph Gatterer gewesen. Er war der führende deutsche Historiker der 1760er- und 1770er-Jahre: Weil er vierzig Jahre, von 1759 bis 1799, Geschichte als Geschichtsprofessor in Göttingen vertrat, weil er dort das erste Fachinstitut gegründet hatte, weil er als dessen Organe zwei frühe Fachzeitschriften edierte, die Allgemeine historische Bibliothek und das Historische Journal. Seine Handbücher zur Geographie, Genealogie und Diplomatik blieben bis ins 19. Jahrhundert viel benutzte Standards. Er publizierte nicht weniger als zehn Kompendien zur Universalhistorie. Seinem »Institut der historischen Wissenschaften« gehörten etwa 400 Mitglieder darunter Lichtenberg, Schlözer, Meiners, Schröckh, Meusel, Johannes von Müller und eine Vielzahl weiterer deutscher His toriker, Bibliothekare und Archivare an.2 Die Geschichte sei nun nicht mehr Regentengeschichte, sie sei vollständig geworden, beziehe Kultur, Verfassung, Institutionen mit ein, hatte Christian Gottlieb Heyne in der Institutseinweihungsrede verlautbart. Anthony Grafton pflichtete dem in unseren Tagen bei: Wenn man den institutionellen Neuanfang einer modernen Historie benennen müsse, dann sei das Gatterers Institut.3 Gatterers Motto war: ›Geschichte im ganzen Umfang‹ und seine Leistung, um die er sich mit Schlözer stritt, Geschichte zum System ge1 Vgl.
Arnaldo Momigliano: Ein Vorspiel zu Gibbon im 18. Jahrhundert. In: Ders.: Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. Hrsg. v. Glenn W. Most. 3 Bde. Bd. 2. Stuttgart 1999, S. 221–262, hier: 240–250. 2 Zu Gatterer vgl. Martin Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012; Horst Blanke u. Dirk Fleischer: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. 2 Bde. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 17; Hans-Jürgen Pandel: Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765–1830). Stuttgart 1990; Peter H. Reill: Art. Johann Christoph Gatterer. In: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Deutsche Historiker. 9 Bde. Bd. 6. Göttingen 1980, S. 7–22; ders.: History and Hermeneutics in the Aufklarung. The Thought of Johann Christoph Gatterer. In: The Journal of Modern History 45 (1973), S. 24–51. 3 Vgl. Antony Grafton: What was History? The Art of History in Early Modern Europe. Cambridge 2007, S. 190 f.
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Aspekte · 9. Sektion · Martin Gierl
macht zu haben. Geschichte war, wie die Historiken der Zeit Isidors Gemeinplatz aus dem Vergil Kommentar des Servius hundertfach wiederholten, die Erzählung der merkwürdigen Begebenheiten; sie war Darstellung und Zusammenhang. Neu war, dass man nun Darstellung und Zusammenhang auseinandernahm, weniger mit epistemologischem Tiefgang als vielmehr handwerklich praktisch, systematisch: Was bedeutete historischer Zusammenhang? Was bedeutete, den historischen Zusammenhang adäquat darzustellen? Ein Zentrum dafür war Gatterers Institut, die dortigen wöchentlichen Vorträge und seine Journale. Lichtenberg hielt drei Vorträge über historische Charakterdarstellung, Johann Christian Kestner, der Gatte von Goethes Lotte, einen über die Bildungsfunktion von Geschichte.4 Herder war durch die Lektüre der Allgemeinen historischen Bibliothek auf das Problem der Geschichtsdarstellung gestoßen, hatte selbst in dem Journal publizieren wollen, jedenfalls 1767 einen Brief dazu an Gatterer entworfen, bei dem es um den Zusammenhang von Fakt und Erzählung geht.5 Meusel veröffentlichte in der historischen Bibliothek Lucians Gedanken, wie man Geschichte schreiben müsse, und Dionysios von Halikarnassos Analyse der thukydideischen Darstellungskunst. Eyring und vor allem Gatterer selbst rekapitulierten in den ersten Bänden der Bibliothek den Plan des Herodot, den Plan des Trogus und Justin und den Plan des Diodor, so die Titel.6 Gatterers zu Klassikern der deutschen Historik avancierte Abhandlungen Von der Evidenz in der Geschichtskunde und Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen leiteten 1767 die Bemühungen des Instituts um Darstellung und Zusammenhang von Geschichte ein.7 In beiden Texten geht es dem Titel nach und dann tatsächlich um Konstruktion: um die sachlichen, aber auch epistemologischen Baupläne von Historiographie. In beiden Texten geht es jedoch auch um Dichtung. Noch vor der Historie habe bei den Alten die Poesie 4 Vgl. Gierl: Geschichte, S. 16–30; Lothar Kolmer: G. H. Lichtenberg als Geschichtsschreiber. Pragmatische Geschichtsschreibung und ihre Kritik im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 65 (1983), S. 371–417; Hans Goetting: Geschichte des Diplomatischen Apparats der Universität Göttingen. In: Archivalische Zeitschrift 65 (1969), S. 11–46. 5 Vgl. Gierl: Geschichte, S. 382. 6 Vgl. Martin Gierl: Kommunikation, Institution und Fach. Die Allgemeine historische Bibliothek und das Historische Journal Johann Christoph Gatterers und die Entwicklung von Fachzeitschriften in der Geschichtswissenschaft. In: Steffen Hölscher u. Sune Erik Schlitte (Hrsg.): Kommunikation im Zeitalter der Personalunion (1714–1837). Göttingen 2014, S. 151–177. 7 Vgl. Johann Christoph Gatterer: Vom historischen Plan. In: Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767), S. 15–89; ders.: Vorrede von der Evidenz in der Geschichtkunde. In: Friedrich Eberhard Boysen (Hrsg.): Die Allgemeine Welthistorie, die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten ausgefertiget worden. In einem vollständigen und pragmatischen Auszuge. Alte Historie. 10 Bde. Bd. 1. Halle 1767, S. 1–38. Diskutiert bei: Gierl: Geschichte, S. 30–43; Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart 1991, S. 180 ff.; Friedrich Hauer: Johann Christoph Gatterers »Historischer Plan«. Wie schreibt man Geschichte? In: Herbert Hörz (Hrsg.): Historiographiegeschichte als Methodologiegeschichte. Berlin 1991, S. 106–111.
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Geschichtsvermittlung meisterlich getragen, und erst die Entwicklung von Sprache und Begrifflichkeit habe zu deren Schwester der Geschichtsschreibung geführt, so Gatterer einleitend zum historischen Plan.8 Frage man nach der Beweisfähigkeit von Geschichte, frage man nach historischer Evidenz, d. h. der Evidenz individueller Sachverhalte, setze sich somit »anschauende Erkenntnis« zum Ziel und damit »Dichtungskraft« voraus.9 Auch Kleio dichtet: Das hat bereits Gatterer gewusst. Es ist für ihn ein zeitgenössischer Gemeinplatz gewesen und doch schon hochproblematisch, bevor es Hayden White nach 200 Jahren wieder problematisierte. Zu den Punkten, die Gatterer interessant sein lassen, gehört, dass der vormoderne Historiker auf dem Sprung zur Moderne die Große Erzählung und ihr Narrativ zum Konstruktionskern einer projektierten ebenso wissenschaftlichen wie Nation bildenden Historiographie machte, wie dann mit völlig geändertem Vorzeichen der Poststrukturalismus wieder. Das hat zunächst mit der für Gatterer unausweichlichen Verbindung von Rhetorik und Historik zu tun. Aber nicht nur: Es leitet sich aus einem wesentlich allgemeineren Zusammenhang ab: der Erkenntnis, dass Wissensproduktion Kommunikation und damit dem zeitgenössischen Entwicklungsstand folgend Sachsprache, Medien, aber auch Institutionen und eine Situationistik bedeutet, in deren Rahmensetzungen Wissen verhandelt wird. Erstens ist Geschichtsschreibung vor ihrer professionellen Institutionalisierung notwendig ein persönlicher Vermittlungsvorgang und auf persönliches Verstehen angewiesen, in Zeiten aufklärerischer Bildungsansprüche zumal. So lautet die auf persönliche Vermittlung bezogene gatterersche Hauptregel historischer Evidenz: »Man erwecke bey dem Leser ideele Gegenwart der Begebenheiten, oder mit andern Worten, man erzähle so lebhaft und anschauend, daß der Leser gleichsam zum Zuschauer werde.«10 Zweitens jedoch erschien Gatterer die Literaturentwicklung der Geschichtsentwicklung voraus. Gatterers programmatischer Text Vom historischen Plan ist erst die zweite Abhandlung im Auftaktband der historischen Bibliothek. Im ersten Beitrag erzählt Gatterer die Geschichte eines germanophilen französischen Generals – es ist Gatterers einziger literarischer Ausflug überhaupt – der seinen Freunden stolz seine deutsche Bibliothek als Abbild deutscher nationaler Identität, Größe und Leistungskraft zeigt mit bereits ansehnlich gefüllten Regalen aller Arten von Dichtung, aber noch leeren zur Historiographie.11 Tatsächlich ging es Gatterer nicht darum, die Erzählung zur 8
Vgl. Gatterer: Plan, S. 16. Zum Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Erzählung bei Gatterer vgl. Wolfgang Rapp: Sprachdeuteleyen. Mikrologische Aufsätze zum Schreibverfahren Karl Philipp Moritz. Konstanz 1999, S. 70 ff.; Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin 1996, S. 157 ff.; Hilmar Kallweit: Szenerien der Individualisierung. In: Manfred Frank u. Anselm Haverkamp (Hrsg.): Individualität. München 1988, S. 383–420. 9 Gatterer: Evidenz, S. 8, 20 u. 21. 10 Ebd., S. 11. 11 Vgl. Gierl: Geschichte, S. 353.
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Historiographie zu bringen, sondern umgekehrt darum, eine wissenschaftlich operierende Historiographie zur sprachlich und medial schon entfalteten literarischen Erzählung, um damit das individuelle Erzählen mit dem historiographischen Erzählen des Individuellen zu ergänzen. Es geht um die »Wahrheit der Romane«, wie eine vielzitierte Wendung Gatterers lautet.12 Wenn Gatterer historisches Erzählen zu einem historiographischen Grundproblem machte, dann nicht um zu literarisieren, sondern um Geschichte, Geschichten und Geschichtchen historiographisch zu zähmen. Was ich im Folgenden zeigen will ist, in aller Kürze, erstens, dass ein direkter Zusammenhang zwischen zeitgenössischen Kommunikationsnotwendigkeiten, d. h. auf Erzählung zu rekurrieren, und der epistemologischen Charakterisierung von Wissen besteht, d. h. zwischen dem, wie man Wissen formuliert, und dem, was Wissen sein soll. Zweitens soll es um Gatterers Versuch gehen, eine Masternarrative vorzulegen. Gatterer hatte eine wissenschaftliche Historiographie in Form einer fortgesetzt objektivierten Geschichtsdramaturgie im Sinn. Es ging ihm um den objektivierbaren Plot. Drittens und als erweiterte These: Gatterers Versuch, individuelles Erzählen in einer Architektur historischer Gegenstände und ihrer vorgegebenen Anordnung zu domestizieren, verweist auf das Auseinandertreten von Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung als wesentliche Entwicklung spätaufklärerischer Historiographie. Erstens: Wer Geschichte nur erzählend beschreiben kann, vermitteln will und vermitteln zu können glaubt, kommt nicht umhin anzunehmen, dass Geschichte Eigenschaften besitzt, die nur derart zur Geltung gebracht werden können. Er geht davon aus, dass Geschichte ein Ganzes ist und als Ganzes Sinn besitzt. Das Problem Geschichtserzählung ist direkt mit der Entstehung des unhintergehbaren Kollektivsingulars Geschichte im 18. Jahrhundert verbunden. So redete Gatterer dort, wo er von Dichtungs- und Einbildungskraft redet, wie Koselleck später von Geschichtsbewusstsein und -erwartung, geradezu obsessiv vom Ganzen.13 Die Dichtungskraft füge die Erfahrungen des realen Ganzen zum Ganzen eines ideelen Ganzen und in Verbindung von realem und ideelem Ganzen zum ganzen Ganzen zusammen.14 Achtmal benutzt Gatterer den Begriff in einem Absatz. Als Herder Schlözers an Gatterers Ideen angelehnte Vorstellung seiner Universalgeschichte von 1773 verriss, die den Übergang von der alten chronistischen Universalhistorie zur Menschheitsgeschichte propagierte, ist es wiederum das Ganze und sein Sinn, der 12 Gatterer:
Evidenz, S. 22. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik vergangener Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 349 ff. 14 Vg. Gatterer: Evidenz, S. 8 f. 13 Vgl.
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es Herder leicht machte, die Universalhistorie und mit ihr Schlözer und Gatterer ins Abseits antiquierter Faktenhuberei einer leblosen tabellarischen Geschichte zu stellen. Schön und gut, vom Zusammenhang der Geschichte zu reden: »wo steht der Eine große Endpfahl? Wo geht der gerade Weg zu ihm? Was heists ›Fortgang des menschlichen Geschlechts‹?«15 Wo anders konnte die Antwort zu finden sein als in der Erzählung und Argumentation verbindenden Geschichtsphilosophie, hatte Herder dick zwischen die Zeilen geschrieben. Und wie nicht, könnte man hinzufügen, sollte es mit der Geschichte als Ganzer aufklärerisch um das Ausbuchstabieren von Prozess und Fortschritt gehen. Setzt man aufs Ganze, kommt man nicht um die Erzählung herum. Ein wesentlicher Unterschied heutiger Historiographie zu der erzählungsverpflichteten Aufklärungs- und historistischen Geschichtsschreibung scheint mir darin zu liegen, dass die moderne Historie angesichts diversifizierter Darstellungsmodi, Gegenstandsfelder und Erkenntnisinteressen jenseits und gegen die Vorstellung einer teleologisch, holistischen Geschichte operiert. Zweitens: Gatterer nahm das Problem der Geschichte als einen zu erfassenden Fortgang auf. Seine Antwort lautete: präzisierte Dramaturgie und objektivierter Plot. Programmatisch einleitend heißt es in seiner Universalhistorie von 1771: Begebenheiten sind der eigentliche Gegenstand der Geschichte: man liest aus der unübersehlichen Menge derselben nur die merkwürdigen aus, beweist ihre Wirklichkeit aus den Quellen, und erzählt sie auf eine gute Art und im Zusammenhang. […] Die Universalgeschichte soll sich [dabei] zu den Specialhistorien ungefähr, wie [… eine Weltkarte] zu den übrigen Karten verhalten. Eigentlich ist sie die Historie der größern Begebenheiten, der Revolutionen: sie mögen nun die Menschen und Völker selbst, oder ihr Verhältnis gegen die Religion, den Staat, die Wissenschaften, die Künste und Gewerbe betreffen.16
Die Erde ist wie ein Theater: die Menschen treten auf demselben als Acteurs hervor. [… Man muss] zuerst das Theater selbst, den Erdboden, wie er zu allen Zeiten beschaffen war, kennen lernen. Hierauf richtet man seine Aufmerksamkeit auf die Acteurs, die Menschen, und kennt man diese überhaupt, alsdenn macht man sich ihre Rollen, oder ihre merkwürdigsten Handlungen und Begebenheiten bekannt, die aus ihrem Verhältnis gegen den Staat, die Religion, und die Künste und Wissenschaften entstanden.17
Revolutionen im Erdtheater: Die Dramatisierung des Geschichtsepos, Gatterers episches Theater vor Brecht, war nicht nur Theatrum mundi Metapher. Im Rah15
Johann Gottfried Herder: A. L. Schlötzers Vorstellung seiner Universalhistorie. In: Frankfurter gelehrte Anzeigen 60 (1772), S. 473–478, hier: 473 f.; vgl. Gierl: Geschichte, S. 375 f. 16 Johann Christoph Gatterer: Einleitung in die synchronistische Universalhistorie, zur Erläuterung seiner synchronistischen Tabellen. 2 Bde. Bd. 1. Göttingen 1771, S. 1. 17 Ebd. Bd. 1, S. 12.
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men seiner historischen Geographie legte er einen Mittelalterentwurf als Drama der Völkerwanderung vor. Er teilte dies in fünf Akte und 24 Auftritte – so die Bezeichnungen Gatterers – von den Hunnen bis zum Ende Rom, dem Aufstieg der arabischen Reiche, dem Fränkischen Reich, Dschingis Khan und schließlich dem Osmanischen Reich ein. Der Schauplatz der Welt habe sich in dieser Zeit 24 Mal geändert. Gatterer fasste das in 24 historische Weltkarten: Es war der erste sequentielle Mittelalteratlas überhaupt.18 Tatsächlich handelt es sich bei Gatterers berühmter Reflexion Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen nicht um Geschichtstheorie, sondern um Anweisungen einer wissenschaftlichen Geschichtsdramaturgie, schon vom Titel her. »Die erste Sorge eines Verfassers der Universalhistorie muß ohne Zweifel auf die Stellung der Nationen gehen: hernach kan er seine Gedanken auf die Anordnung einzelner Begebenheiten und Merkwürdigkeiten richten. Die Zusammenfügung der Erzählungen wird sich zuletzt leicht von sich selbst geben«, schrieb er.19 Während er Biographien als Menschen- und nicht Geschichtsbeschreibungen aus der Historie ausschließen will, sind ihm Charakterzeichnungen und Remarken als Ausdruck höchster historiographischer Meisterschaft willkommen: Charaktere sollen ihm dabei geradezu sein, was Definitionen in Wissenschaften sind. Remarken seien hingegen äußerst sparsam zu gebrauchen, da es bei der Geschichtswissenschaft doch nicht um eine »syllogistische Vorbuchstabirung, sondern eine enthymematische Entwicklung des Triebwerks« gehe.20 Dies führt zum zentralen Punkt: Geschichtsschreibung wird als objektivierter Plot und zugleich objektiviertes Lehrstück zur eigentlichen Wissenschaft, zur pragmatischen Historiographie. Sie gibt den Blick frei auf die Geschichte als System: »Die erste Regel«, schrieb Gatterer, »besteht darin: Man soll Begebenheiten, die zusammen ein System ausmachen, nicht in der Erzählung trennen.«21 Das Neue war, man solle nicht nach Chronologie, Geographie oder Klassen von Begebenheiten ordnen, sondern »nach Systemen; die Ursachen gehen voran, die Wirkungen folgen, und der Geschichtschreiber der so verfährt, ist pragmatisch.«22 Pragmatische Geschichtsschreibung war das historiographische Paradigma der Zeit und Gatterers Ideal.23 Für Gatterer war Geschichte als Herrschaftsgeschichte geopolitisch objektivierbar. Er teilte sie in eine vornationale Phase, eine Phase der »Systeme der Unterwürfigkeit« mit antiker Nationenbildung und mittelalterlicher Völkerwande18 Vgl.
Gierl: Geschichte, S. 295–299; zu Gatterers Atlas vgl. Walter Goffart: The Plot of Gatterer’s Charten zur Geschichte der Völkerwanderung. In: Dagmar Unverhau (Hrsg.): Geschichtsdeutung auf alten Karten. Archäologie und Geschichte. Wiesbaden 2003, S. 213–220. 19 Gatterer: Plan, S. 38; vgl. ebd., S. 23. 20 Ebd., S. 89. 21 Ebd., S. 80. 22 Ebd. 23 Zum zeitgenössichen Konzept einer pragmatischen Geschichtsschreibung vgl. Thomans Sturm: Kant und die Wissenschaften vom Menschen. Paderborn 2009, S. 305–366.
Erzählte und konstruierte Geschichte bei Johann Christoph Gatterer
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rung und eine neuzeitliche Phase der »Systeme der Bündnisse und Systeme der Unterwürfigkeit« ein.24 Zu vermerken ist zweierlei: Gatterers geopolitische Dramaturgie leitete ihn zu geschichtsimmanent geschiedenen Geschichtsepochen, und dazu, Geschichte und ihre Epochen nach geschichtsimmanenten Gründen zu definieren statt durch formale, theologische oder philosophische Unterscheidungen zu setzen. Das bedeutete nicht weniger als Geschichte als selbständigen Gegenstand zu definieren und in Konsequenz Geschichtsschreibung als autonome Disziplin einzuführen. Wenn Gatterer dabei imperiale Herrschaftsgeschichte zur dramaturgischen Leitlinie machte, ist das von der Vier-Reiche-Lehre bis hin zur eurozentrischen Geschichtsschreibung (und deren heutigem Verdikt) historiographisches Urgestein. Geschichte sollte – positivistisch wie dramaturgisch sofort einsehbar – um die herrschenden Nationen herum angeordnet werden. Derart wurde die Auf- und Entfaltung synchroner Vielfalt im diachronen Verlauf zum Problem – und entsprechend von Gatterer als das Hauptproblem einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung betrachtet. Es erstaunt so nicht mehr, wenn Gatterer der Einschaltung von »Episoden« als historiographischer Technik, d. h. der Erörterung abseitiger Reiche und Kriege, aber auch der Rekurse auf Kulturentwicklungen, eine dem ersten Anschein nach bizarre Aufmerksamkeit beigemessen hat.25 Und es erstaunt angesichts der Idee, eine positivistische, quellengestützte Geschichtsdramaturgie zum Erkenntnisschlüssel einer systemisch sich entwickelnden Geschichte zu machen, nicht mehr, wenn Gatterer und andere in der Allgemeinen historischen Bibliothek, statt zu argumentieren und analysieren, die schiere Wiedergabe der Kapitel- und Gegenstandsfolgen, die Folge der Szenen also, bei den antiken Klassikern als Plan des Herodot etc. in bis zu 100 Seiten langen Abhandlungen publizierten.26 Um hiervon und insbesondere über das handwerklich Praktische von Gatterers Konzept einen Eindruck zu vermitteln, ein längeres Zitat: Über das zweite Buch der Historien Herodots schreibt Gatterer zum Beispiel: Das ganze zweyte Buch ist eine Episode. Es handelt von den Egyptern. In Neben episoden wird theils von den Colchieren und bey dieser Gelegenheit überhaupt von Völkern geredet, bey denen die Beschneidung eingeführt war (C. 97–99). […] Weil die Egypter vom Cambyses, des Cyrus [über den das erste Buch geht] Sohne und Nachfolger bezwungen worden, so steht die Episode von Egypten am rechten Orte. Die Zusammenfügung der Episode mit den vorhergehenden geschieht durch folgenden Eingang: ›Nachdem nun Cyrus mit Tode abgegangen war, so kam das Reich an den Cambyses, dessen […] Sohn, [der …,] weil er die Jonier und Aeolier als vom Vater geerbte Knechte angesehen, […] einen Kriegszug gegen die Egyptier 24 Vgl.
Gierl: Geschichte, S. 302–314. Gatterer: Plan, S. 63 u. 75. 26 Vgl. Johann Christiph Gatterer: Von dem Plan des Herodot. In: Allgemeine historische Bibliothek 2 (1767), S. 46–126; Gierl: Kommunikation. 25 Vgl.
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mit Truppen [unternahm], die er theils unter andern ihm unterwürfigen Völkern, theils insbesondere unter den Griechen […] anwerben lassen. Die Egyptier aber u.‹ Mit diesem Anfange der Episode verdient der Beschluß derselben […] wodurch die durch die Episode unterbrochene Folge der Geschichte wieder hergestellt wird, verglichen zu werden. ›Wider diesen Amasis (K. von Egypten) nun zog Cambyses, Cyri Sohn, mit einem, so wol unter andern ihm unterthänigen Völkern, als auch unter den Griechen, den Joniern und Aeoliern angeworbenen Kriegsheere um dieser Ursache willen zu Felde‹.27
Wie hat Herodot Geschichte aufgebaut, die Linien mit Standardinformationen und -formulierungen verschraubt? Gatterer führte Episoden, Ein- und Rückblendungstechniken bis hin zu den Einleitungsformeln vom ersten bis letzten Buch der herodotschen Historien vor. Das Mechanisch-formalistische des gattererschen Geschichtshandwerks scheint das glatte Gegenteil historischer Erzählkunst zu sein. Dies führt zu meinem dritten und letzten Punkt. Wofür Gatterer steht ist nicht eine Literarisierung der Historiographie, wie man sie bei Geschichtsliteraten und Geschichtsphilosophen schillerscher und herderscher Prägung und dem sich frühneuzeitlich entfaltenden Fächer der Geschichte, Geschichten und Geschichtchen zu Markte tragenden Text- und Mediengenres findet. Gatterer steht als Vertreter und Ingenieur der Fachhistorie vielmehr für das Auseinandertreten von Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung. Gatterers Abhandlung zur Evidenz in der Geschichtskunde lag die Frage zugrunde, ob Geschichte wie andere Wissenschaften demonstrationsfähig sei. Direkt nach den Bemerkungen zur historischen Erzählung fährt Gatterer fort: »Für empfindende Leser wirkt also schon die evidente Erzählung Ueberzeugung: allein critische Leser müssen durch Beweise befriediget werden.«28 Dies ist nicht weniger als die Trennung von Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung, die Trennung des alten Begriffs von Wissenschaft, der Kenntnisbesitz meinte, von einem neuen, Gatterer spricht von »eigentlichen Wissenschaften«, der Beweisfähigkeit impliziert.29 »Begebenheiten werden bewiesen, wenn man ihre einmal da gewesene oder wenigstens geglaubte Existenz aus Grundsätzen darthun kann. Was ich Grundsätze nenne, das nennt man sonst mit einem noch verblümtern Worte Quellen.«30 Geschichte bleibt als Wissen von der Vergangenheit durch Demonstration, d. h. Erfassung, Validierung und Verarbeitung der Quellen, durch Quellenkritik also wissenschaftsfähig. Wissenschaftliche Geschichtsschreibung basiert auf eigentlichen Wissenschaften wie der Diplomatik, Statistik und historischen Geographie. Die 27
Gatterer: Herodot, S. 69 f. Evidenz, S. 22. 29 Ebd., S. 23. 30 Ebd. 28 Gatterer:
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Wahrheit der Romane wird gerade nicht durch Erzählung, sondern durch Demonstration erzeugt, die die Begebenheiten in der Verarbeitung ihrer Überlieferung nicht zuletzt auch quantifizierend und mathematisierend präzisiert. Der wissenschaftliche Status der Historiographie ist nicht eine Frage der Erzählung, er ist eine Frage historischer Konstruktion. Das epistemologische Modell ist – wie in anderen Wissenschaftsfeldern auch – nicht die Erzählung, sondern die vervollständigte, präzisierte und in sequentieller Reihe animierte Karte, das also, was Gatterer in dem zum Mittelalteratlas umgesetzten Völkerwanderungsdrama realisierte.31 Dass die Erzählung Medium der Stunde, dabei jedoch nur ein Geschichtsermittlungs- und -vermittlungsorgan im Rahmen der nun neuen systematischen Geschichtserfassung mit ihrer notwendigen ineinandergreifenden Vielzahl von Geschichtsorganen ist, war Gatterer bewusst: »Aus dem, was bisher gesagt worden ist«, schrieb er, folge, dass erzählerische Evidenz »nur eine Eigenschaft ausführlicher Geschichtbücher, und nicht der Compendien und Auszüge sey.«32 Diese hätten andere Funktionen zu tragen. Auch der Mitwelt war bewusst, dass Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung auseinandergetreten waren. Gatterer sei ein »Epochenmann«, hieß es in der Gatterer-Rezeption, jeder Geschichtsforscher, müsse von ihm lernen, aber er, der es nie zu einer Geschichtserzählung brachte, sei doch vorzüglicher in der »Geschichtsforschung« als in der »Geschichtsschreibung« gewesen.33 Geben wir Gatterer das letzte Wort. 1772, fünf Jahre nach den Arbeiten zum historischen Plan und der historischen Evidenz, schrieb er: Die reine lautere Wahrheit halten wir für das Wesen der Geschichte: eine gute Einkleidung nur für eine nüzliche und wünschenswerthe, aber doch an sich und wenn es seyn muß entbehrliche Zugabe. Da die historische Bibliotheck [so] anfieng [so], hielten wir es für nöthig, unsern historischen Landsleuten den guten Geschmack der Alten anzupreisen. Die Umstände haben sich inzwischen verändert, theils zum Vor theil, theils zum Schaden der Geschichtkunde. Neben einigen, aber in der That wenigen guten Schriftstellern, flattern um den historischen Helikon lächerliche Dinger herum: affektirte Humechen, oder Robertsonchen, teutsche Voltärchen. Diese Insekten wollen wir ohne Schonung aller Orten, wo wir sie antreffen, verfolgen: sie könten schädlich werden, wie alle Insekten.34
31 Vgl.
Gierl: Geschichte, S. 283–313. Evidenz, S. 21. 33 Carl August Malchus: Art. Johann Christoph Gatterer. In: Friedrich Cramer (Hrsg.): Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken. 18 Bde. Bd. 2. Leipzig 1816, S. 184–207, hier: 189; Friedrich August Koethe: Einleitung zu Art. Johann Christoph Gatterer. In: Cramer: Zeitgenossen. Bd. 2, S. 179–183, hier: 179. 34 Johann Christoph Gatterer: Vorrede. In: Historisches Journal 1 (1772), n. pag. 32 Gatterer:
Norman Kasper
Urwelt – Vorwelt – Vorgeschichte Konzepte des menschlichen Anfangs in Weltgeschichte, Menschheitsgeschichte und früher Paläontologie 1770–1820 Mit Urwelt, Vorwelt (Vorzeit) und Vorgeschichte sind jene Ordnungskonzepte aufgerufen, die zwischen 1770 und 1820 in unterschiedlichen – historiografischen und naturgeschichtlichen – Gewändern Verwendung finden, wenn es um eine Bestimmung des menschlichen Anfangs geht. Die Konzepte selbst können als Ausdifferenzierung der Frage nach dem geschichtlichen Anfang gelten; einer Frage also, die zweifelsohne das gesamte 18. Jahrhundert unter den Vorzeichen einer Ablösung oder Umcodierung der biblischen Schöpfungsgeschichte beschäftigt.1 Die Beobachtung, dass Vorstellungen von der Urwelt, Vorwelt und Vorgeschichte innerhalb verschiedener, oft miteinander nicht kompatibler menschlicher Ursprungsdebatten für notwendig erachtet und mit unterschiedlichen Konnotationen belegt werden, möchte ich zum Ausgangspunkt nehmen, um die je eigenen narrativen Verknüpfungslogiken näher zu untersuchen. In gleichem Maße, in dem die weltgeschichtliche Betrachtung, die philosophisch orientierte Menschheitsgeschichte und die sich paläontologisch formierende Naturgeschichte mit verschiedenen Interessen an den Anfang des Menschen herangehen, unterscheiden sich sowohl die narrativen Strukturen des ›Ur‹ und ›Davor‹ (mikro-narratologischer Fokus) als auch die argumentativen Orte, an denen Urwelten, Vorwelten und Vorgeschichtliches innerhalb der präsentierten Gesamterzählung aufgerufen werden (makro-narratologischer Fokus). Die wissenspoetologische Maxime, dass »das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung«2 begriffen werden muss, ist ein deutlicher Hinweis auf den narrative impact, der bei der Konstitution prähistorischer Wissensfelder in Rechnung zu stellen ist. Im Kern geht es hierbei also darum, die »inhärente Verknüpfungslogik von Einzelbefunden«, wie sie sich in den drei angesprochenen Wissensfeldern zeigt, auf ihre »narrative Struktur«3 zurückzuführen. Hinsichtlich einer Analyse ›vorge1 Vgl. zur Entdeckung der Erdgeschichte als Entwicklungsprozess grundlegend: Paolo Rossi: The Dark Abyss of Time. The History of the Earth and the History of Nations from Hooke to Vico [1979]. Übers. v. Lydia G. Cochrane. Chicago/London 1984. 2 Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 7–16, hier: 13. 3 Albrecht Koschorke: Wissen und Erzählen. In: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 6 (2010), S. 89–102, hier: 89.
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schichtlichen‹ Denkens im Schnittpunkt von »historischer Epistemologie und Narratologie« sind bereits erste Schritte gemacht,4 z. B. in Richtung einer Diskussion des Vermittlungsproblems von ›Vorgeschichte‹ und ›Geschichte‹5 oder von ›Vorgeschichte‹ und ›Urgeschichte‹.6 Deutlicher als bisher erfolgt, möchte ich im Folgenden die Diskursgeschichte des ›Davor‹ als Zusammenspiel von wortgeschichtlich fundierter Begriffs- und konzeptgeschichtlich konturierter Wissensgeschichte rekonstruieren. Fluchtpunkt dieser Rekonstruktion ist die ab etwa 1820 sichtbar werdende proto-disziplinäre Unterteilung in Paläontologie und Frühgeschichte. Noch ein paar kurze Bemerkungen zu den diskursiven Gewändern, in denen ich den Bedeutungen der Konzepte eines ›Ur‹ und ›Davor‹ nachgehen möchte. Die Diskurskonstellation von Universalgeschichte und philosophischer Menschheitsgeschichte übernehme ich von Helmut Zedelmaier.7 Verbinden lässt sie sich mit den Namen August Ludwig Schlözer und Johann Gottfried Herder. Hinzufügen möchte ich die Perspektive der frühen Paläontologie. Dadurch ändert sich die von Zedelmaier präsentierte Diskursordnung grundlegend. Bei ihm wendet sich die sich disziplinär konsolidierende historische Forschung von der philosophischen Menschheitsgeschichte ab und schließt deren Frage nach dem Anfang des Menschen vor der Geschichte, d. h. vor dem Zeitraum überlieferter schriftlicher Quellen, als unbeantwortbar aus dem Kreis der sie interessierenden Objektbereiche aus. Damit ist Schlözers Konzept der Vorgeschichte »eine bloße Leerstelle, ein Effekt des neuen historisch-kritischen Wissenschaftsparadigmas« 8. Die popularphilosophische Menschheitsgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts widmet nun jenem aus methodischer Raison ausgegrenzten Wissensbestand vermehrt ihre 4 Vgl.
Maximilian Bergengruen, Roland Borgards u. Johannes F. Lehmann: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnittpunkt von Erzählordnung und Wissensformation. Freiburg i.Br. u. a. 2012, S. 9–21, hier: 13. 5 Vgl. Johannes F. Lehmann: Geschichte und Vorgeschichte. Zur historischen und systematischen Dimension einer Unterscheidung. In: Bergengruen, Borgards u. Lehmann (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte, S. 23–47. 6 Vgl. Cornelia Zumbusch: Urgeschichte. Erzählungen vom Vorvergangenen bei Herder, Engels, Freud und Benjamin. In: Tobias Döring u. Michael Ott (Hrsg.): Urworte. Zur Geschichte und Funktion erstbegründender Begriffe. München 2012, S. 137–153, bes.: 138 f. 7 Vgl. Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003, S. 133–183 u. 245–298. Im Vergleich von Schlözers Vorstellung seiner Universalhistorie (1772) und Isaak Iselins Philosophische Muthmaßungen über die Geschichte der Menschheit (1764) skizziert Zedelmaier die grundsätzlichen Unterschiede im Geschichtsverständnis: Während es Iselin um die Entwicklung der »Gattung Mensch bzw. der Natur des Menschen« geht, interessiert sich Schlözer für die Entwicklung von Staaten und ihren Beziehungen; vgl. Helmut Zedelmaier: August Ludwig Schlözer und die Vorgeschichte. In: Heinz Duchhardt u. Martin Espenhorst (Hrsg.): August Ludwig (von) Schlözer in Europa. Göttingen 2012, S. 179–195, hier: 187–192, Zitat: 189. 8 Zedelmaier: Schlözer und die Vorgeschichte, S. 192.
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Aufmerksamkeit.9 Wie ich zeigen möchte, sieht sich die frühe Paläontologie nicht nur in der Tradition Herders; sie rückt auch – und das ist für die hier in Rede stehenden Veränderungen hinsichtlich der Ordnung des Erzählens viel wichtiger – die Diskussion um den menschlichen Anfang von der Peripherie, die sie noch bei Herder einnahm, in den Mittelpunkt des Interesses. Dass sie hierbei mit ›Urwelt‹ und ›Vorwelt‹ Begriffe adaptiert und umcodiert, die sich auch in Schlözers Konzept der ›Vorgeschichte‹ finden, verweist bereits auf den Nexus von epistemischer und narra tiver Ordnung hinsichtlich prähistorischer Wissenskonfiguration. In narratologischer Hinsicht lässt sich die Entwicklung der hier diskutierten Positionen von Schlözer (I.) über Herder (II.) bis zum Frühpaläontologen Johann Georg Justus Ballenstedt (III.) folgender Maßen skizzieren: Existiert bei Schlözer das Vermittlungsproblem von mikro-narrativer Ebene der Konstitution eines ›Ur‹ und ›Davor‹ auf der einen mit der weltgeschichtlich orientierten Gesamterzählung auf der anderen Seite nicht, da die Vorgeschichte nur ex negativo von der Geschichte abgegrenzt wird, so gewinnt bei Herder die mikro-narrative Ebene vorweltlicher Wissensbegründung ein Eigenleben. Dieses Eigenleben bedroht jedoch nicht die Kohärenz der makro-narrativen Struktur seiner philosophischen Menschheitsgeschichte. Denn der menschliche Anfang wird von Herder zwar als Wissensproblem reflektiert, er wächst sich jedoch deshalb nicht zu einem narrativen Ordnungsproblem aus, da nicht die Anthropogenese, sondern die Kulturalisation des Menschen im Mittelpunkt steht. Für Schlözer wie für Herder gilt, dass die Kohärenz ihrer Texte nicht davon abhängt, ob sie das Anfangsproblem lösen, sondern allein davon, ob sie es organisatorisch in den Griff bekommen und damit anschlussfähig an die gebotenen Deutungsmuster halten. Bei Ballenstedt schließlich rückt die biologische Entwicklungsgeschichte des Menschen in den Mittelpunkt. Die mikro-narrative Ebene der Konstitution eines ›Davor‹ ist hier mit der makro-narrativen der Gesamterzählung kongruent. Damit werden Wissens- auch deutlich als Erzählprobleme kenntlich.
I. Wer zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Schulbank drücken musste, hatte wohl gute Chancen, die Bekanntschaft mit August Ludwig Schlözers bereits seit 1779 mehrfach aufgelegter Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder zu machen. Im zweiten Teil des Werkes können die Zöglinge Bekanntschaft mit »der Urwelt, bis zur 9
Vgl. Helmut Zedelmaier: Vor- und Frühgeschichte als Problembezirk historischen Wissens im 18. Jahrhundert. In: Dietrich Hakelbeck u. Ingo Wiwjorra (Hrsg.): Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewusstseins in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 2010, S. 93–206, hier: 93.
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Sündfluth« und dem »Anfang der Dinge«10 machen; wobei Schlözer sein Verständnis von ›Vorgeschichte‹ – wie er es in der Vorstellung seiner Universalhistorie (1772) und deren Umarbeitung zur WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen (1785) entwi ckelt11 – in den Geschichtsunterricht einfließen lässt. Die »synchronistische Anordnung der Weltgeschichte, nach den Zeitaltern«, trennt die »Vorgeschichte« von der »eigentliche[n] Weltgeschichte« ab und gliedert erstere in zwei Abschnitte: »1. Von der Schöpfung bis zur Sündflut«, »2. von der Sündflut bis Troja, bis Mose, und bis Rom«12 . Der Begriff ›Urwelt‹ taucht hier noch nicht auf. Er findet sich erst in der differenzierteren Konzeption von ›Vorgeschichte‹ in der WeltGeschichte und bezeichnet hier den Zeitraum von »Adam bis Noach«. Als erster Phase der Vorgeschichte wird der »UrWelt« (»Orbis nascens«13) zwar zugestanden, dass es »zweifelsohne schon SchreibKunst« gab: »aber ob auch Geschichte? wenigstens ist keine Zeile, kein Denkmal mer, vorhanden.«14 Ähnlich schriftlos oder zumindest schriftarm verhält es sich in den weiteren zwei Abschnitten der ›Vorgeschichte‹: der »[d] unkle[n] Welt« (»Orbis renascens«), die »noch die Fabel- und SagenWelt« umfasst, »bis zur Erscheinung des ersten noch vorhandenen Geschichtsschreibers«15 (Moses), sowie der »VorWelt« (»Orbis primavus«, »von Moseh bis Kyrus«16). Dass Schlözer dennoch ein ganzes Buch mit seinem ›vorgeschichtlichen‹ Wissen füllen kann, liegt daran, dass er zum einen über weite Strecken »Begebenheiten« präsentiert, die von historiographisch unzuverlässigen »Dichter[n]«17 stammen. Zum anderen referiert er zu Beginn ausführlich Erdentwicklungstheorien und Mutmaßungen über den »Anfang des MenschenGeschlechts«. Dieses bleibt jedoch von einer Entwicklung ausgenommen, »denn von einem älteren, zerstörten, MenschenGeschlecht, hat sich, bis auf den heutigen Tag, nicht die geringste Reliquie gefunden.«18 Mit anderen Worten: Schlözer hält an der biblischen Schöpfungsgeschichte fest und liest diese wie Buffon in seinen Epoques de la Nature sinnbildlich, so dass biblisches und naturwissenschaftliches Wissen aufeinander verweisen. In weltgeschichtlicher Perspektive gibt es demnach auch keine Vorgeschichte des Menschen. Dieser entschlüpft bei Schlözer am siebten Tag – wie bei Buffon auch, der Schöpfungstage als Erdentwick10 August
Ludwig Schlözer: Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder. 2. Theil. Urwelt, bis zur Sündflut. Anfang der Dinge, mehr Raisonnement, als Geschichte. Göttingen 1806. 11 Diese Veränderungen skizziert Zedelmaier: Schlözer und die Vorgeschichte, S. 193. 12 August Ludwig Schlözer: Vorstellung seiner Universalhistorie. Göttingen/Gotha 1772, Inhaltsverzeichnis, n. pag., vgl. S. 59–68. 13 August Ludwig Schlözer: WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange. 2 Bde. Bd. 1. Göttingen 1785, S. 94. 14 Ebd., S. 125. 15 Ebd., S. 95. 16 Ebd., S. 96. 17 Ebd., S. 99. 18 Ebd., S. 32.
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lungsperioden interpretiert – »dem Hause Adams«19. Doch eben jene Abkunft des Menschen ist im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts umstritten. Dass die philosophische Menschheitsgeschichte an dieser Frage nicht vorbeikommt, bedeutet zwar noch nicht, dass sie sie in den (Erzähl-)Mittelpunkt rückt. Auf der mikro-narrativen Ebene anthropogenetischer Wissensbegründung lässt sie sich gleichwohl deutlich erkennen.
II. Herder geht in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit der Frage nach der Menschwerdung aus dem Weg. Mit Buffon kann er von Katastrophen ausgehen, die das Antlitz der Erde derart verändert haben, dass angenommenen biologischen Neuschöpfungen keine genealogischen Bezüge zu vergleichbaren vormaligen Lebensformen attestiert werden müssen. »Es kümmert mich also nicht: ob große Thiergattungen untergegangen sind? Ging der Mammuth unter, so gingen auch Riesen unter; es war ein anderes Verhältniß zwischen den Geschlechtern.«20 Und dieses Verhältnis, so kann man hinzufügen, interessiert Herder nicht, da es keinen Aufschluss über die »Geschichte seiner [der menschlichen, Anm. d. Verf.] Kultur« (SWS 13, 62) liefert. Herders »Ankömmlinge des Menschengeschlechtes« sind schon immer Gattungswesen, das heißt vernunftfähig und auch vernunftbegabt. »Ist nehmlich die Vernunft keine abgetheilte, einzelwürkende Kraft, sondern eine seiner Gattung eigne Richtung aller Kräfte, so muß der Mensch sie im ersten Zustande haben, da er Mensch ist.«21 Herder spricht vom Menschen zwar als dem »gewordene[n] Geschöpf«, jedoch heißt das auch, dass er »gleich vom Ersten Momente an kein Thier […] zwar noch kein Geschöpf von Besinnung, aber schon von Besonnenheit« (SWS 5, 94 f.) gewesen sei. ›Vorgeschichte‹ ist bei Herder also schon immer Erzählung vom Menschen, nicht von der Menschwerdung.22 Über die »ersten Momente der Sammlung muß freilich die schaffende Vorsicht gewaltet, haben« (SWS 5, 95). Dass die Philosophie, wie er schreibt, für diese Frage nicht zuständig sei, schafft das Interesse für diese »ersten Momente der Sammlung« allerdings nicht vom Tisch. Gegenüber Johann Georg Hamann lässt Herder seiner Faszination für diese Frage freien Lauf: 19
Ebd., S. 35. Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 1. u. 2. Teil [1784/85]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877– 1913 [im Folgenden: SWS], hier: SWS 13, 61. 21 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772]. In: SWS 5, 31. 22 Vgl. zur ›Vorgeschichte‹ bei Herder: Lehmann: Geschichte und Vorgeschichte, S. 32–36; Ralf Simon: Zur Genese der Denkfigur ›Vorgeschichte‹ bei Johann Gottfried Herder. In: Bergengruen, Borgards, Lehmann (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte, S. 50–76. 20 Johann
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In der Reihe unsrer Betrachtungen über die sich aus einander wickelnden Zustände der Menschen fanden wir nirgends so sehr eine Lücke, als: wie wurden wir aus einem Geschöpf Gottes, das, was wir jetzt sind, ein Geschöpf der Menschen? Da unser jetzige Zustand doch wahrhaftig nicht der ursprüngliche seyn kann, wie ward er?23
In dem Maße, wie für die Menschheitsgeschichte als Gattungsgeschichte »der erste Gedanke in der ersten menschlichen Seele« mit »dem letzten in der letzten menschlichen Seele« zusammenhängt, gibt es jedoch in erzähllogischer Hinsicht keine Notwendigkeit, ein ›Davor‹ anzunehmen, dass ein eigenständiges Konzept erfordern würde. Die »Basis der Menschheit« bleibt für Herder letztendlich »unaussprechlich« (SWS 5, 100). – Und was nicht ausgesprochen werden kann, das braucht auch nicht erzählt zu werden.
III. Johann Georg Justus Ballenstedt veröffentlicht 1818 das dreibändige Werk Die Urwelt oder Beweis von dem Daseyn und Untergange von mehr als einer Vorwelt. Der studierte Theologe knüpft darin, angeregt durch Funde in den Salinen und Braunkohlebergwerken nahe seiner Heimatstadt Schöningen, an Vorstellungen einer präadamitischen Existenz des Menschen an, wie sie von Isaac de La Peyrère im 17. Jahrhundert in seinem Buch Prae-Adamitae entworfen wurde. Im Gegensatz zu La Peyrère, dessen Thesen er für unhaltbar hält, argumentiert Ballenstedt auf empirischer Basis. Die Gliederung der drei Bände in einen archäologischen, einen geologisch-naturhistorischen und einen historisch-antiquarischen Teil täuscht eine Systematik vor, die einer Prüfung am Text nicht standhält. Denn alle Teile liefern Forschungsreferate, Versatzstücken eigener Theoriebildung und Bewertungen aktueller und historischer Fallgeschichten besonderer Funde, ohne dass die beanspruchte Systematik ordnungsrelevant wäre. Anmerkungen zur frühen Kulturgeschichte – etwa zu Architektur, Bestattungsriten und Schmuckherstellung – wie sie sich auch in philosophischen Menschheitsgeschichten finden, stehen neben Anmerkungen zu Ammoniten und anderen Fossilien. Dass die Heterogenität der einzelnen Wissensbestände sich nur schwer in den Apodiktik suggerierenden Gestus überkommener Klassifizierungsmuster pressen lässt, ist wohl – neben der ständig wachsenden Zahl an Ausgrabungsfunden – der ausschlaggebende Punkt, die Erforschung der ›Urwelt‹ mit einem Zeitschriftenprojekt fortzusetzen. Das gemeinsam mit Johann Friedrich Krüger herausgegebene Ar23 Herder
an Hamann (Brief vom April 1768). In: Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe. Hrsg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. 10 Bde. Bd. 1. Weimar 1977, S. 97–102, hier: 97.
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chiv für die neuesten Entdeckungen aus der Urwelt (1819–1824) dokumentiert dann die ganze Breite der Forschungsaktivitäten im narrativ nur schwer zu überbrückenden Spannungsfeld von empirischer Fülle und ideellem Ordnungs-, d. h. Ganzheitsbewusstsein. Ballenstedts moderner Prä-Adamismus geht von einer biologischen Entwicklungsgeschichte des Menschen aus. Für ihn gab es demnach bereits Menschen in der Urwelt, die sich von der Ausstattung des heutigen Menschen signifikant unterschieden, jedoch genealogisch mit diesem verbunden sind.24 »So, wie Thiere schon in der Urwelt in ihren Vorfahren und Urbildern vorhanden waren; eben so konnten auch schon Geschöpfe unserer Art; wenn gleich noch nicht so vollkommen ausgebildet, in der Vorwelt leben, woraus sich unser jetziges eminentes Geschlecht gebildet hat.«25 Die »Urform« des Menschen war »vermuthlich eben eine solche unförmliche Fleischmasse, wie die Mammuths, Elenn- und Faulthiere der Urwelt«26. Eine solche Analogie in der Gestaltbildung von Vor-Mensch und Tier hatte auch Herder mitgetragen, nur gab es für ihn keine genealogische Verbindung zur Jetztschöpfung, weswegen er diesen Umstand in menschheitsgeschichtlicher Perspektive auch als irrelevant einschätzte.27 Ballenstedt zieht es also als durchaus möglich in Betracht, dass der Mensch und einige Tierarten »Reste der vorweltlichen […] Schöpfung« seien, weil, so meint er, »die Schaffungskraft schon vom Anfange in die Fortpflanzungskraft übergegangen, folglich der vorhanden gewesene Urstoff gleichsam schon verarbeitet war.«28 Er lehnt sich hier wohl an Johann Friedrich Blumenbach an, der bereits 1790 in einem gleichnamigen Aufsatz die Umschaffung der Vorwelt in den Blick genommen hatte, wobei ›Vorwelt‹ – im Gegensatz zu Schlözers Verwendung des Begriffes – einen lediglich über die Analyse von Versteinerungen zugänglichen Zeitraum meint, der weit vor der Entstehung des Menschen liegt. Blumenbach macht in diesem kurzen Aufsatz hinsichtlich der Veränderung der Arten den »Bildungstrieb« geltend, der nach großen Katastrophen »wohl bey Erzeu 24 Bisher
wird diese Einsicht in die 1860er-Jahre datiert. Peter Schnyder verweist z. B. auf Charles Lyells Geological Evidences of the Antiquity of Man (1863) und die fünfte Auflage von Louis Figuiers’ La terre avant le Déluge (1866); vgl. Peter Schnyder: Paläontopoetologie. Zur Emergenz der Urgeschichte des Lebens. In: Bergengruen, Borgards, Lehmann (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte, S. 109–131, hier: 129–131. 25 Johann Georg Justus Ballenstedt: Neuer Beweis des Daseyns von Riesen-Menschen in der Urwelt. In: Archiv für die neuesten Entdeckungen aus der Urwelt 1.1 (1819), S. 48–62, hier: 59. 26 Ebd., S. 61. 27 Vgl. zu Ballenstedts Herder-Kritik, dem er jedoch grundsätzlich verpflichtet ist: Johann Georg Justus Ballenstedt: Bemerkungen über Herders Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit. In: Ders.: Die Vorwelt und die Mitwelt, wie auch Nachträge zur alten und neuen Welt. 2 Bde. Bd. 2. Braunschweig 1824, S. 158–194. 28 Ballenstedt: Aphorismen über die Urwelt. In: Archiv 2.1 (1820), S. 211–229, hier: 220.
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gung der neuen Gattungen eine von der vormaligen mehr oder weniger abweichende Richtung hat nehmen müssen«29. Die von Ballenstedt angenommene »Schaffungskraft« steht in der Tradition dieses Bildungstriebes, nur dass er nicht mehr wie Blumenbach (und Herder) von Totalkatastrophen ausgeht, die die Annahme einer völlig neuen Entfaltung des Bildungspotentials notwendig machen würden. Stattdessen bleibt der »Urstoff« – einmal in der Welt – für neuartige Zeugungen disponibel. Die Unterschiede in der Verwendung des Begriffes ›Vorwelt‹ bei Schlözer und Blumenbach sind ein erster Hinweis darauf, dass an dieser Stelle Klärungsbedarf herrscht. Einen weiteren Hinweis auf eine notwendige Begriffsdiskussion bekommt man zudem, wenn man die fehlende Trennschärfe der Begriffe ›Vorwelt‹ und ›Urwelt‹ bei Ballenstedt in den Blick nimmt. Selbstkritisch räumt dieser 1824 ein, dass er »den Unterschied zwischen beyden noch nicht recht ins Auge gefaßt«30 habe. Doch das ist nicht ganz richtig. Denn bereits in einem Beitrag zum Archiv macht er einen Differenzierungsvorschlag, dessen Tragweite kaum überschätzt werden kann. Mit »Urwelt« und »Urzeit« will er die »Zeit vor Adam«, mit »Vorwelt« und »Vorzeit« hingegen »die Zwischenperiode zwischen Adam und der Sündfluth«31 bezeichnet wissen. Mit der biblischen Schöpfungsgeschichte hat diese Einteilung nichts gemein, denn »[f]reilich war Adam nur ein mythischer oder idealischer Mensch, so, war die Sündfluth nur eine partiale Fluth.«32 Im Ergebnis trennt er die biologische Entwicklungsgeschichte des Menschen, die in der »Urwelt« statthatte, vom Auftauchen des »jetzige[n] vollkommnere[n] Menschengeschlecht[s]«, dem er die »Vorwelt« oder »Vorzeit«33 zuweist. – Der Nutzen dieser Differenzierung besteht in Folgendem: Wer sich für die »Urwelt« interessiert, fragt nach dem Menschen von ›unten‹, d. h. ihm geht es um seinen genealogischen Status in Beziehung zur Entwicklung der geologischen und pflanzlichen, vor allen Dingen aber der tierischen Welt. Wer hingegen den Menschen der »Vorzeit« oder »Vorwelt« in den Blick nimmt, betrachtet ihn von ›oben‹, d. h. hinsichtlich seiner potentiellen Anschlussfähigkeit an die frühen Schrift- und Hochkulturen. Die erste Fragerichtung könnte man als paläontologisch, die zweite als ur- und frühgeschichtlich-archäologisch interessiert deuten. Ballenstedts Unterscheidung in Ur- und Vorwelt ist im Kern das Ergebnis einer veränderten epistemischen Konstruktion des ›Davor‹, die in unterschiedliche narrative Ordnungen mündet: Je nach dem, von wo man auf den Menschen schaut – ob von ›unten‹ oder von ›oben‹ –, erzählt man andere Geschichten von ihm. 29 Johann Friedrich Blumenbach: Umschaffung der Vorwelt. In: Ders.: Beyträge zur Naturgeschichte. Erster Theil. Göttingen 1790, S. 24–27, hier: 25. 30 Ballenstedt: Einleitung. In: Ders.: Die Vorwelt und die Mitwelt. Bd. 1, S. 1–28, hier: 1. 31 Ballenstedt: Bemerkungen zu Dr. Molls Nachtrag zu meinem Beweise vom Daseyn der Menschen in der Urwelt. In: Archiv 2.2 (1821), S. 314–322, hier: 320. 32 Ebd. 33 Ebd.
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IV. In Schlözers und Herders großen Erzählungen stellt die Konstitution eines urweltlichen Raumes des ›Davor‹ auf der mikro-narrativen Ebene ein offen ausgestelltes Problem dar. Da dieses Wissensproblem jedoch innerhalb der modellierten epistemischen Kontexte keine Hauptrolle spielt, ist die makro-narrative Ebene davon nicht betroffen. Bei Ballenstedt sieht das anders aus. Er liefert viele kleine Erzählungen, die Anleihen bei unterschiedlichen Gattungen machen: bei dem popularphilosophischen Essay, dem Forschungs- und Reisebericht, der (aufklärerischen) Fallgeschichte, dem Naturgemälde (inkl. Bild, Ansicht und Tableau), der Anekdote und dem Aphorismus. Die je eigenen narrativen Logiken dieser Gattungen werden jedoch nur unzureichend auf die übergeordnete Erzähllogik – wie sie durch die sys tematische Unterscheidung von Ur- und Vorwelt angezeigt ist – verpflichtet. Die Begriffe Ur- und Vorwelt entlehnt Ballenstedt historiographischen (Schlözer) und naturkundlichen (Blumenbach) Konzepten; in der Vervollkommnungsidee ist er Herder verpflichtet. Im Ergebnis wird man hier wohl nicht von einer geglückten Synthese sprechen können. Die behauptete Konsekutivität von ›Ur‹ und ›Vor‹ und die damit verbundenen differierenden forschungsmethodischen Erfordernisse werden nämlich erzähllogisch nicht fruchtbar gemacht: Ballenstedt erzählt keine Geschichte, die durch die Wissensfelder Paläontologie (Urwelt) und Vorgeschichtsforschung (Vorwelt) strukturiert wäre, er behauptet sie lediglich; oder anders gesagt: seine Struktur mündet in keinen plot. – Doch vielleicht ist diese Einschätzung zu negativ. Ist es nicht womöglich angemessener, in den vielen kleinen, bei unterschiedlichen Gattungen Anleihen machenden Erzählsequenzen eine Art experimentelle Versuchsanordnung auszumachen, die an der differenzierenden Formierung des ur- und vorweltlichen Wissens beteiligt ist, ohne es schon systematisch präsentieren zu können?
Sebastian Meixner
Erkenntnis erzählen Goethes frühe naturwissenschaftliche Schriften »Sie lassen sich nicht festhalten, und doch soll man von ihnen reden.«1 Mit diesem Paradox beschreibt Johann Wolfgang Goethe in seiner Farbenlehre von 1810 das zentrale Dilemma seiner naturwissenschaftlichen Versuche, deren Gegenstände eine adäquate Beobachtung und Darstellung verlangen.2 Bereits in Goethes frühen naturwissenschaftlichen Schriften geht mit experimentellen Anordnungen die Suche nach einer angemessenen Darstellungsweise nicht nur ihrer Ergebnisse, sondern ihrer Erkenntnisprozesse einher. Damit werden die Schriften selbst – darin besteht die These meines Beitrags – zu narrativen Experimenten, die versuchen, ihr Erkenntnissubjekt als erzählendes Ich in die narrative Struktur zu integrieren. Das hat weitreichende Folgen sowohl für die Darstellungsform als auch für den Erkenntnismodus, weil ›Erkenntnis erzählen‹ damit heißt, die wechselseitige Abhängigkeit von Erkennen und Erzählen auszuloten. Diese wechselseitige Abhängigkeit untersuche ich erstens an Goethes Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt von 1792. Dort wird der Versuch verdoppelt, indem er sowohl Erkenntnisinstrument als auch Darstellungsverfahren bezeichnet. Anschließend skizziere ich eine Linie in Goethes frühen naturwissenschaftlichen Schriften, die sich an dieser Verdoppelung auf der Darstellungsebene abarbeitet. Dabei lässt sich in den drei Hauptabteilungen der Schriften eine Entwicklung konstatieren: Geologie, Botanik und Optik beschreiben eine Folge, die vom Festesten – dem Urgestein Granit – über eine sich wandelnde morphologische Reihe – dem Wachstum der Pflanze – bis hin zum Flüchtigsten, weil im subjektiven Auge entstehenden Phänomen – den Farben – reicht.
1. Doppelte Versuche: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (1792) Zentral für Goethes frühe naturwissenschaftliche Schriften ist der Begriff des Versuchs, den Goethe 1792 in seinem Essay Der Versuch als Vermittler von Objekt und 1 Johann
Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Richter. 33 Bde. München 1985–1998 [im Folgenden: MA], hier: MA 10, 226. 2 Vgl. Stephan Kammer: »Eins und doppelt«. Goethes Poetik der Ambiguität. In: Frauke Berndt u. ders. (Hrsg.): Amphibolie, Ambiguität, Ambivalenz. Würzburg 2009, S. 157–182, bes. S. 162 f.
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Aspekte · 9. Sektion · Sebastian Meixner
Subjekt reflektiert.3 Der Versuch hat hier zwei Bedeutungen, die nur auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Erstens bezeichnet der Versuch ein erkenntnisgenerierendes Verfahren im Sinne des Experiments: Der Versuch als Experiment schafft Wissen und generiert dabei ein Ergebnis – er zeigt damit eine Figuration der Schließung, und sei diese noch so vorläufig. Zweitens bezeichnet der Versuch aber auch spätestens seit Montaignes Essais ein bestimmtes Darstellungsverfahren, das der Ergebnisoffenheit seiner Überlegungen Rechnung trägt. Als solches inszeniert Goethe den tendenziell unabschließbaren Vorgang des Erkenntnisgewinns durch Reihenbildung, und zwar in der Figuration einer reihenden Fortsetzung.4 Diese Inszenierung erfolgt bei Goethe – darin besteht meine Hypothese – grundsätzlich narrativ. Unter Narrativität fasse ich in diesem Zusammenhang zwei Merkmale, die einerseits die temporale Struktur des Textes und andererseits die Vermittlung der dargestellten Gegenstände betreffen.5 Zum einen kennzeichnet narrative Texte eine doppelte Zeitlichkeit: Mindestens zwei Ereignisse müssen auf der Ebene der erzählten Zeit in ein temporales Verhältnis, meistens eine Sukzession, gestellt werden. Dieses Verhältnis kann auf der Ebene der Erzählzeit umgestellt werden: Vorgriffe und Rückgriffe, Einschübe und Auslassungen können auf dieser Ebene die Darstellung kennzeichnen. Mit der doppelten temporalen Struktur bezeichne ich also die prinzipielle Eigengesetzlichkeit dieser beiden Ebenen.6 Das zweite Merkmal der Narrativität betrifft die Vermittlung der erzählten Gegenstände. Jeder Erzähltext erlaubt zumindest prinzipiell die Bestimmung eines Standpunktes in der erzählten Welt, von dem aus die erzählten Gegenstände vermittelt werden. Dieser Standpunkt verdoppelt also auf dem Feld der Stimme gewissermaßen die Beobachterposition analog zur Verdoppelung von Erzählzeit und erzählter Zeit.7 Damit thematisiert jede Erzählung den Vorgang der Beobachtung; sie ist folglich immer auch die Darstellung einer Beobachtung zweiter Ordnung.8
3
Ob der Titel von Goethe stammt, ist allerdings zweifelhaft (vgl. MA 4.2, 1077). James van der Laan: Über Goethe, Essays und Experimente. In: Marcus Krause u. Nicolas Pethes (Hrsg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005, S. 243–250. 5 Vgl. Peter Lamarque: On Not Expecting Too Much from Narrative. In: Mind and Language 19 (2004), S. 393–408, bes. S. 394 f.; H. Porter Abbott: Art. Narrativity. In: The Living Handbook of Narratology (http://www.lhn.uni-hamburg.de, Aufruf 27. 02. 2016), bes. Abschnitte 16–19 und 24–31. 6 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. München 21998, S. 21 f.; Günther Müller: Erzählzeit und erzählte Zeit. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1968, S. 268–286. 7 Bereits Günther Müller weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass erzählte Zeit »stets ausgewählte Zeit« ist. Müller: Erzählzeit, S. 276. 8 Vgl. exemplarisch: Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 22012, S. 298 f. 4 Vgl.
Goethes frühe naturwissenschaftliche Schriften
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Dass Vermittlung im Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt eine große Rolle spielt, indiziert bereits der Titel, zeigt sich aber auch besonders in der Modellierung seiner Aussageinstanzen. Der Essay beginnt in der dritten Person, indem er sich im generalisierenden Singular den subjektiven Beobachtungen des Menschen widmet. Dadurch, dass sich der Mensch zum Maßstab seiner Naturbeobachtungen macht, sind diese notorisch unzuverlässig; sie führen zu »tausend Irrtümern« (MA 4.2, 321), weil der Mensch mit seiner Einbildungskraft und seinem Witz voreilig Schlüsse zieht, die an den Phänomenen vorbeigehen. Im zweiten Absatz stellt Goethe dieser subjektiven Beobachtung eine objektive entgegen, die allerdings nicht weniger unbefriedigend ist. In der dritten Person Plural erkunden Naturforscher die Natur, ohne sie auf sich selbst zu beziehen, und sollen zu »gleichgültige[n] und gleichsam göttliche[n] Wesen« (MA 4.2, 322) werden. Diese Objektivierung ist aber für Goethe undenkbar. Deshalb arbeitet sich der Essay im Folgenden an einer Vermittlung zwischen subjektiver und objektiver Betrachtung ab: Sobald wir einen Gegenstand in Beziehung auf sich selbst und in Verhältnis mit andern betrachten und denselben nicht unmittelbar entweder begehren oder verabscheuen: so werden wir mit einer ruhigen Aufmerksamkeit uns bald von ihm, seinen Teilen, seinen Verhältnissen einen ziemlich deutlichen Begriff machen können. (MA 4.2, 322, Herv. d. Verf.)
Die Vermittlung erfolgt also in der ersten Person Plural. Die damit verbundene Epistemologie, die zwischen unvoreingenommener Betrachtung und vorläufiger Begriffsbildung oszilliert, wird Schiller später im Briefwechsel mit Goethe als »rationelle[ ] Empirie« (MA 4.2, 1076) bezeichnen. Mir geht es an dieser Stelle um die Mittelbarkeit, die diese Oszillation transportiert. Sie schützt nämlich vor den Irrtümern des subjektiven Beobachtens, weil sie zum Ausgangspunkt einer narrativen Reihe avanciert. Der »ziemlich deutliche[ ] Begriff« ist dabei eine nur vorläufige Schließung; bei der »Prüfung geheimer Naturverhältnisse« (MA 4.2, 323) stößt die Form der Naturbeobachtung schnell an ihre Grenzen. Der Essay antwortet auf diese Grenzen des Erkennens mit narrativer Reihenbildung. Diese Reihenbildung führt zu Goethes Definition des Versuchs: »Wenn wir die Erfahrungen welche vor uns gemacht worden, die wir selbst oder andere zu gleicher Zeit mit uns machen, vorsätzlich wiederholen und die Phänomene die teils zufällig teils künstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen wir dieses einen Versuch« (MA 4.2, 325). Der Versuch generiert für Goethe keine Erfahrungen, er wiederholt sie und stellt sie wieder dar. Mit Wiederholbarkeit ist hier nicht nur die Reproduzierbarkeit einer Erfahrung gemeint, sondern auch und vor allem ihre Darstellung. Ob Darstellung an dieser Stelle allerdings heißt, dass der Versuch als Darstellung funktioniert oder ob der Versuch selbst eine Darstellung braucht, ist an dieser Stelle unentscheidbar. Diese Unentscheidbarkeit führt aber – wie Eva Geulen bemerkt – zumindest dazu,
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dass Darstellung »mit bedacht sein [will] bei Versuchen und Versuchen über Versuche«9. Diese Darstellung erfolgt narrativ durch Reihenbildung, also über geordnete Vervielfältigung. Aber der Versuch ist auch im Plural notorisch unzuverlässig, wenn aus ihm Schlüsse gezogen werden, weshalb Goethe ein Paradox aufstellt: Ich möchte zur Warnung dieser Gefahr [aus Versuchen zu schließen] […] hier eine Art von Paradoxon aufstellen, um eine lebhaftere Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wage nämlich zu behaupten: daß Ein Versuch, ja mehrere Versuche in Verbindung nichts beweisen, ja daß nichts gefährlicher sei als irgend einen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen. (MA 4.2, 326, Herv. d.Verf)
Worin liegt dieses Paradox? Wie Wolfgang Krohn ausführt, handelt es sich hier um ein Paradox der Ähnlichkeit, die sowohl die Unterschiede der ähnlichen Phänomene als auch ihre Gleichheit betont.10 Dabei läuft der Experimente anstellende Beobachter Gefahr, die Phänomene »für näher verwandt zu halten als sie sind« (MA 4.2, 327), das Paradox der Ähnlichkeit also über Analogiebildung vorschnell aufzulösen. Weil aber die »Neigung zu Hypothesen, zu Theorien, Terminologien und Systemen« (ebd.) nicht aus der menschlichen Epistemologie wegzudenken ist, muss Goethe sie in seine Epistemologie integrieren.11 Sein Ansatzpunkt für diese Integration liegt wieder in der Mittelbarkeit. Nur »unmittelbar« können Versuche nichts beweisen, mittelbar aber durchaus.12 Um das zu illustrieren, bedient sich Goethe eines in seinen Konsequenzen meist überlesenen Gegennarrativs. Dieses Gegennarrativ vermittelt die erste Opposition zwischen subjektiver und objektiver Epistemologie mit 9
Eva Geulen: Funktionen von Reihenbildung in Goethes Morphologie. In: Bettine Menke u. Thomas Glaser (Hrsg.): Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität. München 2014, S. 209–222, hier: 217. Vgl. auch Eva Geulen: Keeping it Simple, Making it Difficult. Morphologische Reihen bei Goethe und anderen. Paper auf dem DFGSymposium ›Komplexität und Einfachheit‹. Villa Vigoni, September 2015. Typoskript: 20 S., hier: 4 f. Eva Geulen sei an dieser Stelle herzlich für die Überlassung des Typoskripts gedankt. Zu einer Möglichkeit diese Reihenbildung narrativ zu denken vgl. Fabian Sturm: Das »Blätterwerk« der Kunst. Auf den Spuren eines morphologischen Narrativs in Goethes ›Novelle‹. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 59 (2015), S. 156–179. 10 Wolfgang Krohn: Goethes Versuch über den Versuch. In: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur. München 1998, S. 399–413, hier: 407–409. Zugleich gilt für die Semantik des Paradoxes um 1800, dass es – wie Anita Traninger für die frühe Neuzeit bemerkt – nicht umstandslos mit der logischen Paradoxie gleichgesetzt werden darf, sondern vor allem als rhetorisches Paradox den »Widerspruch gegen eine etablierte Meinung« bedeutet. Anita Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus. Stuttgart 2012, S. 216. 11 Allgemein zu Goethes Epistemologie vgl. David Wellbery: Romanticism and Modernity. Epistemological Continuities and Discontinuities. In: European Romantic Review 21 (2010), S. 275–289. 12 Vgl. Geulen: Keeping it Simple, S. 10.
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einer zweiten Opposition zwischen vermeintlich subjektiver Kunst und vermeintlich objektiver Wissenschaft. Wie ich an den Einsätzen dieses Gegennarrativs zeigen werde, kollabieren diese Oppositionen aber schließlich und ebnen dem Ziel des Aufsatzes – den Erfahrungen höherer Art – den Weg. An drei Stellen definiert Goethe die Naturwissenschaft in Abgrenzung zu Kunst: zunächst zur Kunst im Allgemeinen, dann zur Literatur und schließlich zur Rhetorik. Diese Definitionen ex negativo zeigen den Punkt, an dem der Text gewisser maßen von Erkenntnistheorie in Ästhetik umschaltet. Damit reflektiert er sein Verfahren als doppelten Versuch. Die erste Opposition operiert mit dem Begriff der Ganzheit. Der Künstler soll nur ein fertiges Ganzes vorlegen; der Wissenschaftler muss dagegen jede einzelne Erfahrung öffentlich machen, also mit offenen Karten spielen, weil er allein gar kein Ganzes bilden kann. Die zweite Opposition variiert diese Gegenüberstellung mit dem Begriff der Vermannigfaltigung – und zwar in vertauschten Rollen. Während der »Schriftsteller[ ], der unterhalten will«, bewusst Lücken in seinen Texten als Einfallstore der Einbildungskraft belassen muss und damit eben gerade kein Ganzes im Sinne von Vollständigkeit vorzulegen hat, soll der Naturforscher so arbeiten, als ob er der wissenschaftlichen community »nichts zu tun übrig lassen wollte« (MA 4.2, 329). Indem er also die Erfahrungen mit anderen unmittelbar angrenzenden Erfahrungen verbindet und so die einzelne Erfahrung vermannigfaltigt, schafft er Erfahrungen »von einer höhern Art« (MA 4.2, 330). Diese Erfahrungen müssen in einer lückenlosen Reihe dargestellt werden. Sie umkreisen dabei eine einzige Erfahrung, sie machen »gleichsam nur Einen Versuch« aus, sie stellen »nur Eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten Ansichten« dar (ebd.). Das »Nächste aus dem Nächsten zu folgern« ist also die Pflicht des Naturforschers, der darin der Mathematik folgt (ebd.). Doch auch die Mathematik führt – ganz ähnlich wie der Versuch – keine Beweise, sie legt nur dar, sie rekapituliert. Das ist der Einsatz für die dritte Variation des Gegennarrativs: Der kluge Redner nämlich stiftet Verbindungen zwischen isolierten Phänomenen durch »Witz und Einbildungskraft« und kann Beweise aus Argumenten generieren, wo der redliche Naturforscher nur Reihen bilden kann (ebd.). Die Lücken zwischen den Phänomenen werden also durch die Verbindungen des Redners gefüllt. Spätestens an dieser Stelle kollabieren allerdings die eingeführten Oppositionen. Denn den höheren Erfahrungen ist ohne Einbildungskraft und Witz – den prototypischen Vermögen der Kunst – nicht beizukommen, auch sie müssen wiederum in eine Reihe gebracht werden. »Hat man aber eine Reihe Erfahrungen der höheren Art zusammengebracht, so übe sich alsdann der Verstand, die Einbildungskraft, der Witz an denselben wie er nur mag. Dieses wird nicht schädlich, ja es wird nützlich sein« (MA 4.2, 331). Goethe nimmt also eine mittlere Position zwischen subjektiver und objektiver Methode ein. Diese Positionierung erfolgt narrativ, und zwar im doppelten Sinn. Erstens ist der Essay narrativ im engeren Sinn, weil seine lineare Anordnung nicht
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beliebig ist, sondern einem bestimmten Ziel dient: der Vermittlung von Objekt und Subjekt. Dazu etabliert Goethe ein Gegennarrativ, das die Naturforschung zunächst ex negativo definiert. Am Schluss erlaubt es aber gerade dieses Gegennarrativ, die Einbildungskraft und den Witz in den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess zu integrieren und durch die Erfahrungen höherer Art gewissermaßen unschädlich zu machen. Dergestalt sind die subjektive und objektive Methode vermittelt. Zweitens führt der Essay auch mit Hilfe der Modellierung seiner Aussageinstanzen vor, was er theoretisch fordert: Statt einen unerreichbaren »gleichsam göttliche[n]« (MA 4.2, 322) Standpunkt der reinen Objektivität zu veranschlagen, wählt Goethe die Form des Essays mit variablen Aussageinstanzen. Dementsprechend variiert der Versuch zwischen erster und dritter Person sowie zwischen Singular und Plural und betont damit, dass es sich um eine Beobachtung zweiter Ordnung handelt – auch wenn der Essay gar kein Objekt der Natur zum Gegenstand hat, sondern seine eigene Methode. Dass sich dieses Verfahren noch verschärft, wenn sich Goethe mit Naturgegenständen beschäftigt, will ich im Folgenden zeigen.
2. Das Urgestein erzählen: Granit II (1784) Dass Granit II – ein nicht von Goethe selbst betitelter Text – in der Münchner Ausgabe unter den naturwissenschaftlichen Schriften rubriziert wurde, ist keineswegs unumstritten. Denn – wie Peter Schnyder zusammenfasst13 – ist sich die Forschung alles andere als einig, wie sie diesen Text mit seinen disparaten Darstellungsverfahren fassen soll: Sie hat ihn als Aufsatz oder Bericht, als Essay und Versuch, als Fragment oder sogar als Hymne an den Granit gelesen. Diese Probleme der Einordnung führe ich auf sein Darstellungsverfahren, genauer: seine narrative Struktur zurück. Denn in kaum einem zweiten naturwissenschaftlichen Text schlägt Goethe dera rtige Volten, was seine narrativen Verfahren angeht.14 Doch diese Volten sind nötig für eine Beschreibung des Granits, der kein unschuldiges Gestein ist, sondern in den geologischen Theorien des 18. Jahrhunderts als das Urgestein schlechthin gilt: als Schlüssel zum Ursprung der Welt. Die Entstehung des Granits zu erklären heißt also, die Entstehung der Welt zu erklären.15 13
Peter Schnyder: Grund-Fragen. Goethes Text ›Über den Granit‹ als »Ur-Ei« der Wissensrepräsentation. In: Barbara Naumann u. Margrit Wyder (Hrsg.): »Ein Unendliches in Bewegung«. Künste und Wissenschaften im medialen Wechselspiel bei Goethe. Bielefeld 2012, S. 245–263, hier: 249. 14 Vgl. Gabriel Trop: Poetry and Morphology. Goethe’s ›Parabase‹ and the Intensification of the Morphological Gaze. In: Monatshefte 105 (2013), S. 389–406, hier: 396. 15 Vgl. Rüdiger Görner: Granit. Zur Poesie eines Gesteins. In: Ders.: Goethe. Wissen und Entsagen aus Kunst. München 1995, S. 50–62, hier: 53.
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Der Text beginnt mit der Geschichte des Granits als einer Geschichte seiner Benennung, die schnell an die Grenzen des Wissens um die Entstehung des Granits führt. Diesen Grenzen des Wissens entspricht das Paradox des Granits: Denn obwohl er »die Grundfeste unserer Erde« darstellt, zeigt jeder »Weg in unbekannte Gebürge […] daß das Höchste und das Tiefste Granit sei« (MA 2.2, 504). Die Geschichte der Benennung wird im Folgenden durch einen Reisebericht abgelöst, der »die Würde dieses Gesteins […] endlich befestigt« (ebd.). Seine Entstehung bleibt dennoch ein Geheimnis, ebenso seine vielfältigen Variationen: Der Granit ist »[a]us bekannten Bestandteilen auf eine geheimnisreiche Weise zusammengesetzt« und erscheint »[h]öchst mannigfaltig in der größten Einfalt« (ebd.). Wie ist diesem Gestein zu begegnen, das einerseits die Basis der Welt bildet und andererseits so schwer zu fassen ist? Goethe ändert seinen Erkenntnismodus und damit einhergehend seinen Darstellungsmodus: Und so wird jeder der den Reiz kennt den natürliche Geheimnisse für den Menschen haben, sich nicht wundern daß ich den Kreis der Beobachtungen den ich sonst betreten verlassen und mich mit einer recht leidenschaftlichen Neigung in diesen gewandt habe. Ich fürchte den Vorwurf nicht daß es ein Geist des Widerspruches sein müsse der mich von Betrachtung und Schilderung des menschlichen Herzens des jüngsten mannigfaltigsten beweglichsten veränderlichsten, erschütterlichsten Teiles der Schöpfung zu der Beobachtung des ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der Natur geführt hat. (MA 2.2, 504 f., Herv. d. Verf.)
Goethe wechselt im Folgenden in das Register einer leidenschaftlichen Hymne. In der Reihe von superlativischen Gegensatzpaaren wird am Punkt dieses Wechsels deutlich, dass es ausschließlich dieser »Geist des Widerspruches« ermöglicht, dem Granit auf die Schliche zu kommen. Ausgerechnet das Herz wird so zum erkenntnisstiftenden Sinnesorgan, und zwar dezidiert als Gegenteil des Erkenntnisobjekts: Nur das veränderlichste Organ kann das festeste Gestein erkennen. Nicht zu übersehen ist dabei die Asymmetrie der Gegenüberstellung von Herz und Granit, die aber auf ihren gemeinsamen Nenner hinweist. Denn wo das Herz am »mannigfaltigsten« ist, ist es der Granit keineswegs weniger. Deshalb fehlt das Gegenstück in der Reihe von Superlativ-Attributen. In der Mannigfaltigkeit besteht der gemeinsame Nenner, der dahin führt, dass »alle natürlichen Dinge« – das heißt selbst Herz und Granit – »in einem genauen Zusammenhange stehen« (MA 2.2, 505). Aus der Naturbeschreibung wird folglich ein Hymnus an die Natur, der Granitformationen direkt als »würdigste[ ] Denkmäler der Zeit« (ebd.) adressiert. Doch der Hymnus bricht nicht mit den zuvor erzählten Wissensbeständen, er greift sie in veränderter Form wieder auf. Von der Expedition ins Gebirge übernimmt er den Standpunkt: »Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend« kann sich der Erzähler den Grund vorstellen, der »bis zu den tiefsten
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Orten der Erde hinreicht« (MA 2.2, 505). Hier sind Höchstes und Tiefstes imaginativ vereint und hier kann das erzählende Ich »die ersten festesten Anfänge unsers Daseins« fühlen (MA 2.2, 506). Aus dem Hymnus ist eine Schöpfungsgeschichte geworden, die – nun in der dritten Person – sogar die beiden konkurrierenden Theorien zur Entstehung des Granits, Vulkanismus und Neptunismus, in der Erzählung als aufeinander folgende Stadien vereint und so in eine Reihe setzt. Schließlich kehrt das erzählende Ich – nun in der ersten Person Plural – in die Studierstube zurück und schlägt »die Bücher unserer Vorfahren« auf (MA 2.2, 507). Dort findet es allerdings nur widersprüchliche Hypothesen und schließt: »Wie vereinigen wir alle diese Widersprüche und finden einen Leitfaden zu ferneren Beobachtungen« (ebd.). Das ist – wie das Satzzeichen unmissverständlich indiziert – keine Frage, sondern eine Feststellung. Denn Goethe hat diese Widersprüche bereits vereint: in den narrativen Volten seines Textes. So endet der Text auch mit einer Warnung, den Granit als Urgestein nicht mit anderen Gesteinsarten zu verwechseln: Ist doch einzig der Granit »mannigfaltig in der größten Einfalt« (MA 2.2, 504).
3. Übergänge erzählen: Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790) Das Urgestein zu erforschen, heißt also seine Entstehung zu narrativieren und damit epistemologisch zu vervielfältigen. Während Goethe bei der Erforschung des Granits verschiedene Darstellungsformate miteinander verschaltet, funktioniert die Erforschung der Pflanze – auf dem zweiten, botanischen Schauplatz seiner frühen naturwissenschaftlichen Schriften – anders, nämlich indem sie sich an der Widersprüchlichkeit von Reihung und Schließung abarbeitet.16 Das Konzept der Urpflanze hat Goethe 1790 im Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären bereits fallen gelassen – zugunsten eines dynamischeren Modells, das seine Aufmerksamkeit auf die Übergänge zwischen den verschiedenen Stadien des Pflanzenwachstums lenkt.17 Es geht Goethe in der Beschreibung der Pflanze darum, die »geheime Verwandtschaft der verschiedenen äußern Pflanzenteile« zu erläutern (MA 3.2, 319). Dazu erzählt er in 123 Paragraphen vorwiegend in der ersten Person Plural die Geschichte der einjährigen Pflanze vom Samenkorn über die verschiedenen Stadien bis hin zu den Früchten und Samen. Dass er dabei narrativ vorgeht, ist keineswegs banal. Denn lediglich eine Erzählung kann die Übergänge 16 Vgl.
Geulen: Keeping it Simple, S. 3 f.; Michael Bies: Im Grunde ein Bild. Die Darstellung der Naturforschung bei Kant, Goethe und Alexander von Humboldt. Göttingen 2012, S. 162–176; Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre. München 2006, bes. S. 122–126. 17 Vgl. Manfred Wenzel: Art. Urpflanze. In: Ders. (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Supplemente 2. Naturwissenschaften. Stuttgart/Weimar 2012, S. 678–680.
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der einzelnen botanischen Stadien – die »Stufenfolge des Pflanzen-Wachstums« (MA 3.2, 321) – veranschaulichen und so die Lücken der Reihe füllen. Damit stellt Goethes Text nicht nur einen Paradigmenwechsel dar, indem er das statische Modell der Taxonomie, wie es Linné in seinem systema naturae prägt, durch ein dynamisches Modell der Metamorphose ersetzt.18 Darüber hinaus braucht dieser Paradigmenwechsel eine angemessene narrative Darstellungsform, die das Modell der Reihe oder Stufenfolge mit einem zyklischen Modell verbindet: von den Samen zu den Samen. Doch bevor Goethe in den Kreis der einjährigen Pflanze eintritt, differenziert er zwischen drei Arten der Metamorphose. Neben der regelmäßigen Metamorphose, die das stufenweise Fortschreiten, die regelmäßige Reihe mit linearer Abfolge bezeichnet, braucht Goethe die unregelmäßige oder rückschreitende Metamorphose. Die Pflanze ist also in der Lage, die Richtung ihrer Entwicklung umzukehren. Diese Inversion ist aber für Goethe kein Problem. Im Gegenteil: Sie ist der Ort, an dem er enthüllen kann, »was uns die regelmäßige [Metamorphose] verheimlicht« (MA 3.2, 320). Die dritte Art – die zufällige Metamorphose – dagegen gefährdet das Erkennen wie das Erzählen, sie leitet uns »von dem einfachen Wege« ab und zeigt mit ihren »monströsen […] Auswüchsen« die Fragilität des Systems (ebd.). Die regelmäßige Metamorphose erzählt Goethe in der Form einer doppelten Sequenz; er verwendet dafür den Begriff der Folge. Der sukzessiven Metamorphose der Pflanze – die Entwicklung verschiedener Elemente in einer ersten Folge auseinander – hat also die Folge der Paragraphen – die zweite Folge der Darstellung nacheinander – zu entsprechen. Umso mehr gilt das für die simultane Metamorphose: Wo die Pflanze mehrere Elemente gleichzeitig umformt, kann Goethe dies nur sukzessive darstellen (vgl. MA 3.2, 364). Die Bedeutung der doppelten Folge zeigt sich darüber hinaus in den vielen Verweisen auf »in der Folge« der Darstellung noch zu leistende Analysen (MA 3.2, 326); Analysen freilich, die in der Folge des Versuchs größtenteils ausbleiben. In Zusammenfassungen wechselt Goethe schließlich ins Präteritum und in den Konjunktiv. Die Pflanze wird zum Anlass der Beschreibungen alternativer Entwicklungen im Potentialis, den allein die narrative Form leisten kann: Auf diese Weise bildete also die Natur den Kelch […]. Wäre durch zudringende überflüssige Nahrung der Blütenstand verhindert worden; so würden sie alsdann aus einander geruckt, und in ihrer ersten Gestalt erschienen sein. Die Natur bildet also im Kelch kein neues Organ, sondern sie verbindet und modifiziert nur die uns schon bekannt gewordenen Organe, und bereitet sich dadurch eine Stufe näher zum Ziel. (MA 3.2, 332, Herv. d. Verf.)
18 Vgl.
Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre, S. 130–132.
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Hier zeigt sich, dass die narrative Form entscheidend für den Erkenntnisprozess ist. Dass die Prämissen des Schlusses im Konjunktiv stehen, verhindert nicht die Konklusion im Indikativ. Im Gegenteil macht der Potentialis den Schluss erst möglich und führt zum Ziel des Pflanzenwachstums. Dieses Ziel allerdings ist nicht so ohne weiteres definierbar. An der Stelle, an der sich normalerweise die Samenknospen befinden, entwickelt die durchgewachsene Blume eine weitere, so genannte Tochterblume. An dem Punkt, an dem die Natur also »gewöhnlich in […] ihre[m] Wachstum schließ[t]«, verweigert die durchgewachsene Blume den Zyklus und setzt die Reihe »ins Unendliche« fort (MA 3.2, 358).19 Dieses potentielle Ausgreifen ins Unendliche irritiert die narrative Form nachhaltig, die mit dem Referieren der Linné’schen Theorie der Antizipation auch in ihrer Darstellung die Flucht nach vorne antritt. Die Fortsetzung, der Zweite Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, bleibt Fragment. Es bleibt festzuhalten: Der Versuch ist weniger die Beschreibung einer spezifischen botanischen Versuchsanordnung, sondern ein narrativer Essay, der mit den Metamorphosen der Pflanzen die Übergänge zwischen verschiedenen Entwicklungsstadien in den Blick nimmt. Dafür arbeitet er sich an den Operationen von Reihung und Schließung ab. Das tut der Text – im Gegensatz zu Granit II – mit einer stabilen vermittelnden Aussageinstanz in der ersten Person Plural.
4. Farben sehen erzählen: Beiträge zur Optik (1791/92) Auf das Urgestein Granit und die durch die Metamorphose abgelöste Urpflanze folgt das Urphänomen der Farben. Auch wenn Goethe den Begriff erst in seiner Farbenlehre unter den ›physischen Farben‹ bildet (vgl. MA 10, 74), beschreibt er bereits in den Beiträgen zur Optik das Phänomen.20 Dieses Phänomen ist deshalb so schwierig zu erfassen, weil es im Auge entsteht und nur bedingt objektivierbar ist: Farben müssen erfahren werden. Um diese Erfahrung zu vermitteln, bedient sich Goethe verschiedener narrativer Verfahren.21 Wie Goethe in seiner Ankündigung expliziert, behandeln die Beiträge zunächst die »reine[n], ursprüngliche[n] Farben«, die paradoxerweise »an völlig ungefärbten Körpern« wahrzunehmen sind (MA 4.2, 19 Vgl.
Jocelyn Holland: German Romanticism and Science. The Procreative Poetics of Goethe, Novalis, and Ritter. New York/London 2009, S. 45. 20 Vgl. Sabine Schimma: »So sehr ich die Unvollkommenheit jenes ersten Versuches fühlte und fühle«. Die Medien und ihr Eigenleben in Goethes Farbstudien. In: Goethe-Jahrbuch 129 (2012), S. 21–29; Dieter Borchmeyer: Goethe und die moderne Naturwissenschaft. Einführung. In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 25 (2011), S. 63–73, hier: 65 f. 21 Die Forschung attestiert Goethe hierbei rhetorisches Geschick. Vgl. Manfred Wenzel: Art. Farbenlehre. In: Ders. (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Supplemente 2. Naturwissenschaften. Stuttgart/Weimar 2012, S. 81–142, hier: 84 f.
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262). Dementsprechend geht es Goethe in seinen Beiträgen um die Produktion dieser Farben. Als Hilfsmittel, ohne das die Beiträge zur Optik nicht funktionieren, dient das von Goethe entworfene optische Kartenspiel, dessen erste Karten größtenteils aus Schwarz-Weiß-Abbildungen bestehen.22 Mit einem Prisma sind – den Anleitungen der Beiträge gemäß – die reinen Farben herzustellen: Farben also, die auf den Spielkarten nicht zu sehen sind, sondern im Auge des Betrachters entstehen und die von der zeitgenössischen Forschung noch als falsche oder phantastische Farben diskreditiert werden, wie Goethe selbst in seiner Farbenlehre anmerken wird (vgl. MA 10, 64). Die Beiträge zur Optik belassen es aber nicht bei der bloßen Produktion der reinen Farben, sondern ordnen die Versuche narrativ. Mit 32 von insgesamt 88 Paragraphen wendet der Text für die Erläuterung des Reizes der Farben erhebliche Energie auf, um anschließend die verschiedenen Farberfahrungen »in einer gewissen Ordnung vorzutragen, so daß eine durch die andere gewissermaßen erklärt werde« (MA 4.2, 263). Die Grundsätze der Optik bzw. Chromatik werden also nicht zunächst thesenartig präsentiert und anschließend durch Beispiele belegt.23 Im Gegenteil: die Farberfahrungen werden produziert, in eine Reihe gestellt und »durch Theorie und Hypothese« verbunden (ebd.). Der Modus der Produktion von Farberfahrungen und Regeln ist die Beschwörung im auffordernden Konjunktiv: Man nehme also zuerst das Prisma vor, betrachte durch dasselbe die Gegenstände des Zimmers und der Landschaft, man halte den Winkel, durch den man sieht, bald oberwärts, bald unterwärts, man halte das Prisma horizontal oder vertikal und man wird immer dieselbigen Erscheinungen wahrnehmen. […] ich wünsche, daß man diese Erscheinungen so lange betrachte, bis man selbst ein Verlangen empfindet, das Gesetz derselben näher einzusehen und sich aus diesem glänzenden Labyrinthe herauszufinden. (MA 4.2, 276)
Der auffordernde Konjunktiv erzwingt in der Logik des Textes ein bestimmtes Verlangen nach Regel. Der Text etabliert also ein ziemlich detailliertes Aufmerksamkeitsregime, das die folgenden Farberfahrungen anleitet. Darüber hinaus traut Goethe seinen Lesern offenbar nur bedingt, weshalb er Lösungskarten beilegt. Damit sind die Farberfahrungen der Beiträge maximal gesteuert – und das zeigt sich wiederum in der narrativen Struktur, weil die Farberfahrungen zunehmend komplexer und damit zunehmend steuerungsbedürftig werden. Dementsprechend muss Goethe die Lösungskarten vervielfältigen. Ist den ersten beiden Karten noch gar keine Lösung beigegeben und den darauffolgenden zunächst nur eine einzige Lösung, so muss Goethe der siebten Karte zwei Lösungskarten beilegen. Die Ergeb22 Vgl.
Farbbogen in MA 4.2. Friedrich Steinle: »Das Nächste ans Nächste reihen«. Goethe, Newton und das Experiment. In: Philosophia Naturalis 39 (2002), S. 141–172. 23 Vgl.
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nisse werden also zunehmend vielfältig und weisen doch alle auf ein Gesetz – das Urphänomen avant la lettre – hin: Die Farben entstehen aus dem Gegensatz von Licht und Schatten (vgl. MA 4.2, 289–291). Gerade die Vermehrung der Lösungskarten zeigt, dass Goethe – wie er im Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt schreibt – seinen Lesern in einer geschlossenen narrativen Reihe tatsächlich »nichts zu tun übrig« lässt (MA 4.2, 329).
5. Fazit: Vom Urgestein über die Urpflanze zum Urphänomen Meine Analyse hat gezeigt, dass Erkennen und Erzählen in Goethes frühen naturwissenschaftlichen Schriften wechselseitig voneinander abhängig sind. Der Einsatz des Erzählens erfolgt an den Grenzen der Erkenntnis und umgekehrt führt die Reflexion der Erkenntnis an die Grenzen des Erzählens. Im Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt integriert Goethe die Kunst in den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess, indem er eine Erfahrung höherer Ordnung beschreibt. In Granit II untersucht Goethe das Urgestein ausgehend von seinem Gegenteil: dem maximal veränderlichen Herzen. Konsequenterweise springt der Text von einem Register ins nächste und kombiniert so verschiedenste Erzählperspektiven und -verfahren. Im Versuch die Metamorphose der Pflanze zu erklären braucht Goethe eine narrative Struktur, um die sukzessive Folge des Pflanzenwachstums zu beschreiben. Hier sind es in Gestalt der durchgewachsenen Blumen ausgerechnet die Abweichungen und Fehlbildungen, die dann konsequenterweise den narrativen Text in seiner Reihe und Schließung bedrohen. In den Beiträgen zur Optik ersetzt schließlich die Folge der Versuche die Metamorphose der Pflanzen, wobei die Farberfahrung der ›physischen Farben‹ maximal gesteuert wird. In Goethes Spätwerk werden sich diese Darstellungsformate radikal ändern. Deshalb haben seine frühen naturwissenschaftlichen Schriften einen Eigenwert; ihr Potenzial liegt in der wechselseitigen Abhängigkeit von Erkennen und Erzählen.
Bettina Noak
Medizinisches Erzählen bei Frederik Ruysch (1638–1731) 1. Einleitung Die Frage, inwieweit die strengen (literaturwissenschaftlichen) Maßstäbe des Erzählbegriffs an medizinische Texte und ästhetisierende menschliche Präparate im Stile barocker Wunderkammern angelegt werden können, wurde auf dem Kongress »Aufklärung als Erzählung« kontrovers diskutiert. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass nicht jede Beschreibung von Wissensproduktion als Erzählung dargestellt werden kann. Andererseits zeigt die jüngere Forschung zur medizinischen Fallgeschichte, dass die Fallbeschreibungen, insbesondere des 18. und 19. Jahrhunderts, eine große Nähe zur Gattung der Novelle aufweisen, folglich sehr wohl mit literaturwissenschaftlich-analytischen Methoden erschlossen werden können.1 Im folgenden Beitrag soll das Werk des niederländischen Anatomen Frederik Ruysch (1638–1731) auf erzählerische Elemente hin untersucht werden. Damit will der Artikel die existierende Ruysch-Forschung ergänzen, die sich bisher vor allem auf die medizin- und kunsthistorische Untersuchung seines Wirkens und seiner Präparate richtete.2 Ohne an dieser Stelle die vielfältigen erzähltheoretischen Ansätze rekapitulieren zu wollen, wird zu zeigen sein, dass Ruyschs Erzählungen mindestens die 1 Zu
medizinischen Fallgeschichten siehe: Susanne Düwell (Hrsg.): Fall – Fallgeschichte – Fallstudie. Theorie und Geschichte einer Wissensform. Frankfurt a. M. 2014; Yvonne Wübben u. Carsten Zelle (Hrsg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur. Göttingen 2013; Nicolas Pethes: Ästhetik des Falls. Zur Konvergenz anthropologischer und literarischer Theorien der Gattung. In: Sheila Dickson, Stefan Goldmann u. Christof Wingertszahn (Hrsg.): Fakta und kein moralisches Geschwätz. Zu den Fallgeschichten im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793). Göttingen 2011, S. 13–32. Zur Diskussion um den Begriff der Fallgeschichte siehe Stefan Goldmann: Siegmund Freud und Hermann Sudermann. Oder die wiedergefundene, wie eine Krankengeschichte zu lesende Novelle. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 58 (2009), S. 11–35. 2 Dazu siehe Gijsbert van de Roemer: From Vanitas to Veneration. The Embellishments in the Anatomical Cabinet of Frederik Ruysch. In: Journal of the History of Collections 22 (2010), S. 169–186; Dániel Margócsy: Advertising Cadavers in the Republic of Letters. Anatomical Publications in the Early Modern Netherlands. In: British Journal for the History of Science 42 (2009), S. 187–210; Rina Knoeff: Animals Inside. Anatomy, Interiority and Virtue in the Early Dutch Republic. In: Medizinhistorisches Journal 43 (2008), S. 1–19; Gijsbert van de Roemer: Het lichaam als borduursel. Kunst en kennis in het anatomische kabinet van Frederik Ruysch. In: Ann-Sophie Lehmann u. Herman Willem Roodenburg (Hrsg.): Body and Embodiment in Netherlandish Art. Zwolle 2008, S. 216–241.
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Anforderungen an eine Geschichte erfüllen: eine bestimmte Ereignisfolge, die einen zeitlichen und kausalen Zusammenhang aufweist.3 Zunächst einige Bemerkungen zu Frederik Ruysch. Der aus einer hochgestellten Familie stammende Gelehrte promovierte 1664 in Leiden und veröffentlichte 1665 eine aufsehenerregende Studie zu den Klappen in den Lymphgefäßen (Dilucidatio valvularum in vasis lymphaticis, et lacteis. Den Haag 1665).4 1666 wurde er Praelector Anatomiae in Amsterdam, eine Funktion, die er 65 Jahre lang ausübte. Außerdem hatte er seit 1672 die Aufsicht über die Amsterdamer Hebammen inne. Die Bedeutung von Frederik Ruysch liegt jedoch vor allem darin, dass er zwischen 1665 und 1717 mehr als 2000 anatomische Präparate anfertigte. Sie waren dazu bestimmt, direkt eine Abbildung des ›Buches der Natur‹ zu geben.5 Auf diese Weise konnte jeder wissenschaftlich Interessierte unmittelbar zum Zeugen in Sachen Anatomie werden. Ruysch stellte sein anatomisches Kabinett unentgeltlich Kollegen und Studenten zur Verfügung, empfing jedoch auch prominente Besucher und zahlende Gäste. Im Jahre 1717 verkaufte Frederik Ruysch seine anatomische Sammlung an Zar Peter den Großen, der ihn zuvor in Amsterdam mehrfach besucht hatte und sehr unter dem Eindruck seiner Präparierkunst stand. Der Zar richtete in Sankt Petersburg mit den Präparaten eine Kunstkammer ein, die auch Lehrzwecken dienen sollte. 916 dieser Präparate blieben in St. Petersburg bis heute erhalten und werden nun in einem niederländisch-russischen Kooperationsprojekt aufs Neue wissenschaftlich ausgewertet.6 Im Folgenden sollen verschiedene Werke Ruyschs im Mittelpunkt stehen: Die Hondert anatomische en chirurgicaale aanmerkingen (Observationum anatomico-chirurgicarum centuria; lat. 1721; nied. 1744), eine Fallgeschichtssammlung aus Ruysch praktischer Tätigkeit in Amsterdam, kleinere Schriften zur menschlichen Empfängnis und schließlich der auf lateinisch und niederländisch erschienene Katalog seiner anatomischen Sammlung, Thesaurus Anatomicus – Anatomisch Cabinet (1701–1728).7
3 Vgl.
Matías Martínez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München S. 25. 4 Zu Ruysch Luuc Kooijmans: De doodskunstenaar. De anatomische lessen van Frederik Ruysch. Amsterdam 2004 (engl.: Death Defied. Leiden 2011). 5 Zum Begriff des ›Buches der Natur‹ vgl. Eric Jorink: Reading the Book of Nature in the Dutch Golden Age, 1575–1715. Leiden 2010. 6 Siehe dazu die Seite http://ruysch.dpc.uba.uva.nl/, Aufruf 27. 02. 2016. 7 Benutzt wurde die niederländische Gesamtausgabe von 1744: Frederik Ruysch: Alle de ontleed- genees- en heelkundige werken. Amsterdam 1744 [im Folgenden: AW] (http://www. dbnl.org/tekst/ruys009alle01_01, Aufruf 27. 02. 2016). Die Übersetzungen der niederländischen Zitate stammen von mir.
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2. Die anatomischen Anmerkungen Zur Kennzeichnung seiner Fallgeschichten benutzt Frederik Ruysch in seinen Hondert anatomische en chirurgicaale aanmerkingen den Begriff der ›Historie‹ (vgl. AW, 98).8 Dabei begreift er diese Erzählungen, in Nachfolge des Aristoteles, als Berichte von in seiner Praxis vorgekommenen Fällen, die der Medizin eine empirische Basis geben und durch ihren exemplarischen Charakter zur Belehrung beitragen können. In der Vorrede an den Leser beruft er sich auf die Autorität des Hippokrates, der schon bemerkt habe, dass die Erfahrung die notwendige Grundlage der Medizin sei (vgl. AW, 35 f.). Erfahrung aber, so bemüht er außerdem Galen, sei Anmerkung und Gedächtnis dessen, was man vielfältig in der Praxis gesehen habe. Demnach werden die Fallgeschichten zur Grundlage der medizinischen Wissenschaft. Die anatomischen Anmerkungen befördern jedoch auch den Ruhm des Autors, der sich mit der Herausgabe der Fallgeschichten gegen Nachahmer und Kritiker wehren kann. Der moralische Nutzen liegt auf der Hand. Dem Leser wird empfohlen, sich an dem Leid der Kranken zu spiegeln, dabei seine menschliche Schwäche zu überdenken und die Wunderwerke Gottes in der Natur zu preisen.9 In Ruyschs Fallgeschichten tritt ein Ich-Erzähler auf, der mit nahezu aussichtslosen Fällen konfrontiert wird, die er im günstigen Falle zu lösen vermag. Dabei stehen ihm oft medizinische Spezialisten zur Seite, die auch als Zeugen seiner besonderen Behandlungsmethoden auftreten. Als Augenzeugen des Geschehens finden sich daneben häufig Hebammen, die gelegentlich ebenfalls mit Namen genannt werden. Die behandelten Patienten stehen im Allgemeinen unter einem ungeheuren Leidensdruck. Daher handeln sie manchmal auch äußerst emotional, wie im Fall der 80jährigen Frau, die seit zwanzig Jahren an einem Uterusvorfall und äußerst schmerzhaften Blasensteinen litt. Als sie hörte, dass die notwendige Operation bis zum nächsten Tag verschoben werden sollte, begann sie zu bitten und rief: »O ich Elende. Sie werden nicht wiederkehren, sie werden mich verlassen«! Die anwesenden Mediziner wurden daraufhin von Mitleid erfüllt und vollbrachten die Operation noch am gleichen Tag (AW, 45–48). Manchmal erregt das Leid der Patienten auch die Anteilnahme fremder Mitmenschen. Eine Gebärende, deren ›Arbeit‹ nicht 8
Bei Aristoteles bedeutet der Begriff der ›Historia‹ eine Erzählung über einzelne Sachverhalte in einer gewissen Zeitspanne. Dabei handelt es sich nicht allein um geschichtliche oder politische Ereignisse, sondern auch naturgeschichtliche Phänomene, also empirisches Wissen. Vgl. Mirjana Gross: Von der Antike bis zur Postmoderne. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung und ihre Wurzeln. Wien/Köln/Weimar 1998, S. 18. Die Historie eignet sich also zur Beschreibung des Singulären, vgl. Rüdiger Landfester: Historia Magistra Vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts. Genf 1972, S. 143. 9 Ruyschs Aanmerkingen ordnen sich in die Tradition der observationes medicorum ein. Siehe dazu Gianna Pomata: Sharing Cases. The Observationes in Early Modern Medicine. In: Early Science and Medicine 15 (2010), S. 193–236.
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vorangeht, schreit in ihrer Verzweiflung so laut, dass die Passanten entsetzt vor ihrem Fenster stehenbleiben (vgl. AW, 66). Gelegentlich weigern sich die Kranken zunächst, dem Rat des Arztes zu folgen. Bei einem Herrn Panhuysen, Brauer in Dordrecht (Ruysch bemerkt selbst, dass er die Namen der Patienten nur in besonderen Fällen nennt), wurde nach einem Aderlass ein Aneurisma im rechten Arm festgestellt. Da die Geschwulst immer größer wurde, rieten verschiedene Mediziner zur Operation. Der Patient jedoch, »sonst sehr mutig«, konnte sich zunächst nicht entschließen, bis ein Platzen der Schlagader den Eingriff in letzter Minute notwendig machte (AW, 48–51). Andere Historien dienen Ruysch dazu, verbreitete Irrtümer aufzuklären. Ruysch, der seit 1672 die Aufsicht über die Amsterdamer Hebammen führte und zu deren Bildung beitrug, richtete sich ganz besonders gegen den Aberglauben, die Molae wären belebte, missgestaltete Wesen, auch ›Sauger‹ (›oder Wechselbalg‹) genannt.10 Er berichtet, wie er den Hebammen befohlen hätte, ihm die bei Fehlgeburten abgehenden, aus der Plazenta entstehenden Gebilde zu bringen, die häufig für den Unkundigen ganz merkwürdige Formen annähmen, etwa eines Frosches oder eines Maulwurfs (vgl. AW, 71 f.). Genaue Untersuchungen zeigten aber, dass es sich hierbei um verformtes Gewebe handle. Allzu leichtgläubige Frauen behaupteten, dass sie lebendige Wechselbälge, ja sogar fliegende ›Sauger‹ geboren hätten und ermahnten andere Schwangere, sich vor ihnen zu hüten, da sie sich oft unter den Kleidern versteckten. Ruysch nennt dies »Altweibergeschwätz« (AW, 70–72). Manchmal bringen ihm die Hebammen auch geronnenes Blut, das sie als ›Sauger‹ ansehen. Andererseits hat die Befragung zahlreicher Hebammen ergeben, dass die sogenannten ›Sauger‹ nie belebt waren. Daher glaubt Ruysch, dass es sich bei ihnen um krankhafte Verformungen der Plazenta handelt, und sie nicht durch eine verfehlte Befruchtung entstanden (vgl. AW, 73 u. 99 f.). Vergleicht man Ruysch Fallgeschichten mit denen anderer Mediziner, etwa des Humanisten Johan van Beverwijck (1594–1647) und des Cartesianers Steven Blankaart (1650–1704), so ergibt sich bei ihm ein eigenes Schema.11 Hatte van Beverwijck noch auf biblische, mythologische und historische Exempla zurückgegriffen, so betont Ruysch den Wert der Emiprie und will mit seinen Fallgeschichten gerade medizinische Erfahrungen wiedergeben. Unbestritten sind diese jedoch weniger 10 Zu
diesem Aberglauben in der frühen Neuzeit vgl. Barbara Duden: Zwischen ›wahrem Wissen‹ und Prophetie. Konzeptionen des Ungeborenen. In: Barbara Duden, Jürgen Schlumbohm u. Patrice Veit (Hrsg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.–20. Jahrhundert. Göttingen 2002, S. 11–48. 11 Zu diesen Autoren siehe Bettina Noak: Der Kampf mit den Autoritäten – Cornelis Bontekoe und Steven Blankaart als Gegner der etablierten Medizin. In: Virus. Beiträge zur Sozial geschichte der Medizin 13 (2015), S. 15–33; Bettina Noak: Samen und Worte – sprachliche und natürliche Zeugung bei Johan van Beverwijck und Jacob Cats. In: Lydia Bauer u. Antje Wittstock (Hrsg.): Text-Körper. Anfänge – Spuren – Überschreitungen. Berlin 2014, S. 35–57.
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sachlich und schematisiert als die case histories Blankaarts, der den Patienten keine eigene Stimme oder emotionale Reaktionen zubilligt. Eher ließen sich Ruyschs Fallgeschichten mit den Erzählungen des Arztes und Romanciers Nicolas Heinsius (1656–1718) vergleichen, der in seinen Berichten von Syphilis-Fällen ausführlich die näheren Lebensumstände der Patienten, ihr Ringen mit der Krankheit und ihre Gefühle wiedergibt.12
3. Der menschliche Zeugungsvorgang Mit seiner Präparatesammlung war es Frederik Ruysch möglich, die körperliche Entwicklung des Menschen vom frühen Embryonalstadium bis in nahezu alle Einzelheiten des erwachsenen Körpers zu demonstrieren. Im Verlauf seiner Arbeiten, vor allem auch, wenn man ihn als Geburtshelfer hinzuzog, wurde Ruysch mit der Erscheinung missgebildeter Kinder oder was man dafür hielt, konfrontiert. Obwohl es sich gelegentlich wirklich um Missbildungen handelte, war Ruysch bestrebt, an dieser Stelle zunächst Aufklärungsarbeit zu leisten. So etwa versicherte er den Eltern, die von einer Fehlgeburt betroffen waren, dass die Kinder eigentlich wohlgeschaffen und vollkommen gewesen waren und lediglich durch die zu frühe Geburt nicht lebensfähig. Aus diesem Grunde präparierte er die tot geborenen Kinder, um sie ihren Eltern vor Augen zu stellen, als wären sie lebendig. Von dieser ästhetischen Leistung verspricht er sich auch eine positive Auswirkung auf den Zeugungsvorgang, die mit seit der Antike auftretenden Vorstellungen von der Imagination als schöpferischer Kraft übereinkommt: Wenn die Eltern glaubten, sie hätten eine Missgeburt hervorgebracht, müssten sie vielleicht später immer daran denken und würden tatsächlich missgestaltete Kinder zeugen (vgl. AW, 1022 f.). Trotz dieser Anklänge an ältere Auffassungen war Ruysch aufgrund seiner anatomischen Studien im Grunde davon überzeugt, dass die Embryonalentwicklung des Menschen weitgehend ohne den direkten Einfluss der elterlichen Imagination vonstattengeht, die Entstehung und Entwicklung menschlichen Lebens mithin unverfügbar ist. Gerade Erkenntnisse zu diesem Thema waren jedoch wegen der Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Konventionen und die Schicklichkeit schwer zu erlangen. Zudem handelte es sich um Vorgänge im Inneren des menschlichen Körpers, die für die Anatomen äußerst selten zu beobachten waren. In einer Darstellung im dritten Teil seines Gesamtwerks schildert Ruysch, wie er zu entscheidenden Einsichten auf diesem Gebiet gekommen sei. Es handelt sich um eine nahezu skandalöse Geschichte, die Ruysch ausführlich wiedergibt (vgl. 12 Vgl.
Nicolas Heinsius: De kwynende Venus, ofte een korte doch naukeurige verhandeling van de pokken. Amsterdam 1697 (dt.: Schmachtende Venus. Leipzig 1700).
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AW, 938 f.): Ein starker junger Mann, blühender Gesundheit von etwas unter dreißig Jahren habe, so Ruysch, die Bekanntschaft einer sehr hübschen Amsterdamer Hure gesucht. Nach vollbrachter Liebestat schnitt er ihr allerdings unversehens die Kehle durch, so dass bei ihr sofort der Tod eintrat. Frederik Ruysch, der als amtierender Gerichtsmediziner zur Leichenschau befohlen wurde, sah in diesem Fall eine einzigartige Chance. Nachdem er mit Kollegen die eigentlich tödliche Halswunde inspiziert hatte, nahm er die Gelegenheit zur Obduktion auch der Geschlechtsorgane des Opfers wahr – bei einer Prostituierten war dies offenbar ohne weiteres möglich. Er fand sowohl in den Eileitern als auch in der Gebärmutter den Samen des jungen Mannes. »Daher habe ich«, so Ruysch: nachdem diese wunderbare Erscheinung von allen [anwesenden Zeugen] gründlich betrachtet worden war, alles sofort in meine Balsamierflüssigkeit gelegt, wodurch, wie ich es den berühmten Herrn bereits vorausgesagt hatte, der Same an den genannten Stellen aushärtete, so dass er auch nun noch sehr deutlich ohne irgendwelche Veränderungen sichtbar ist, weil er durch die Kraft dieser Flüssigkeit ausgehärtet wurde. (AW, 938 f.)
Gleiches traf er im toten Körper einer Frau an, die von ihrem Mann mit ihrem Liebhaber auf frischer Tat ertappt und ebenfalls ermordet worden war. Auch hier wurde Ruysch zeitnah hinzugezogen und konnte die entsprechenden Organe obduzieren. Seine Schlussfolgerung lautet, dass bei einer fruchtbaren Empfängnis der männ liche Samen direkt im Eileiter bzw. der Gebärmutter empfangen wird und nicht in der Gestalt von »Zeugungsgeistern« dorthin gelangt, die William Harvey (1578– 1657) noch als verantwortlich für die Empfängnis annahm. In der Ablehnung von Harveys Meinung weiß Ruysch sich einig mit Gabriele Fallopio (1523–1562) und Reinier de Graaf (1641–1673), die er hier als Autoritäten anführt (vgl. AW, 939). Wie gezeigt wurde, handelt es sich bei Ruyschs Fallgeschichten um wirkliche Erzählungen im Sinne einer zeitlichen und kausalen Handlungsabfolge. In Hinsicht auf den Zeugungsvorgang, der in der frühen Neuzeit noch immer als geheimnisvoll wahrgenommen wird, verlässt der Gelehrte den Rahmen der gewöhnlichen Krankengeschichte mit ihrer Konzentration auf die Symptome der Krankheit, die Diagnose und Therapie. Im Gegensatz dazu werden skandalöse Mordgeschichten herangezogen, um Evidenz für neue Erkenntnisse zu gewinnen.
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4. Die emblematische Sprache der Präparate Der Thesaurus Anatomicus, den Ruysch ausdrücklich einen Katalog nennt, lässt sich nicht ohne weiteres als große Erzählung von der Wissensgewinnung verorten.13 Dennoch enthält er einige erzählerische Elemente, etwa in seinen emblematischen Darstellungen.14 Die emblematische Bedeutung vieler Exponate liegt auf der Hand, sie wird durch die beigefügten Devisen unterstützt. In dieser Hinsicht ist Ruyschs ›Buch der Natur‹ also noch ganz der frühneuzeitlichen Naturforschung verhaftet. Derartige emblematische Vorstellungen lassen sich im Thesaurus sehr zahlreich finden. Angeführt sei hier das Beispiel eines Präparates aus dem IV. Kabinett. Laut Beschreibung birgt es: Eine Flasche mit Flüssigkeit, in der ein [ungeborenes] Kind von etwa sechs Monaten aufbewahrt wird, das in seiner rechten Hand einen Zweig des Passionsblumengewächses hält, das von Herrn Piso mit dem Namen Murucuja beschrieben wird. Außerdem trägt es auf seinen Schultern den Mutterkuchen. Das Häuptlein ist mit dem Chorion [Zottenhaut] eines Schweines bedeckt, in dem einige Vertiefungen gesehen werden können, die man Acetabula nennt. Diese sind nicht größer als Stecknadelköpfe. Die Aufschrift [des Präparates] lautet: ›Alle Erdbewohner, ob arm oder reich, können Charons Boot nicht entgehen‹. (AW, 611)
Der Katalog bietet zu dieser Erklärung keine Illustrationen an. Der Leser ist also ganz auf sein eigenes Vorstellungsvermögen zurückgeworfen. Dabei lassen sich an diesem Zitat einige typische Methoden des Autors zeigen: Als aufsichtsführender Arzt über die Amsterdamer Hebammen gelangte Ruysch an außerordentlich viel Material der menschlichen Fortpflanzungsorgane, Föten usw. Häufig präparierte er Föten im Zusammenhang mit (Teilen) der Gebärmutter, um ihre natürliche Umgebung zu demonstrieren. Gleichzeitig sind diese Wesen jedoch oft in einer lehrenden Position dargestellt. So klein wie sie sind, können sie die Erwachsenen über zentrale naturwissenschaftliche und theologische Glaubenssätze aufklären. Hier wird zudem noch eine Passionsblume sowohl im kolonialen als auch im emblematischen Bezug eingesetzt – das Leben des Menschen ist Leiden. Die Mischung von tierischem mit menschlichem Organmaterial ist ebenfalls typisch, ebenso die Bekleidung des Fötus. Diese kann mit textilem oder eben organischem Material geschehen, wie hier 13 Ruysch zum Zweck des Thesaurus: »Nun gebe ich wohl zu, hiermit ein weites Feld zu eröffnen, tiefer darin einzudringen, ist allerdings nicht meine Absicht, denn ich meine, dass diese Beschreibungen allein für einen Katalog meiner Kabinette gehalten werden sollen. Deshalb genügt es, wenn ich hier und da einiges von dem einfüge, was ich beobachtet habe und auch zeigen kann« (AW, 681–682). 14 Für die Poetik des Emblems siehe insgesamt: Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin 2002.
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mit dem Chorion. Die Aufschrift schließlich bietet die Subscriptio an: das übliche ›memento mori‹. Eher in die Richtung der künftigen Physikotheologie führt den Leser ein anderes Präparat: »Eine Flasche mit Flüssigkeit, die einen Teil der Lungenschlagader, gefüllt mit gelbem Wachs, enthält. Ihre Verästelungen sind so zahlreich, dass es für diejenigen, die es gesehen haben, beinahe unglaublich zu sein schien, denn sie stellen gleichsam einen kleinen Wald dar« (AW, 579). Ruysch beschreibt in den Anmerkungen zu diesem Exponat seine außerordentliche Kunst, alle Aderverästelungen dieser Schlagader in ihren kleinsten Verläufen präpariert und sie zudem noch von den Lungenbläschen getrennt zu haben. Gegenüber alten wie neuen Autoren äußert er sich selbstbewusst: »Diese Vielheit an Verästelungen haben uns die Autoren nirgendwo in ihren Figuren gezeigt«. Seine Schlussfolgerung lautet: »[Wir] sind gezwungen, mit dem Apostel Paulus auszurufen: ›O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!‹«15 (ebd.) Am bekanntesten sind wohl Ruyschs Landschaften aus Blasensteinen, Fötenskeletten und anderem Organmaterial geworden. Sie stellen wahrhaft eine »öffentliche Schaubühne« dar.16 Hier soll nur auf einen Aspekt eingegangen werden, der mit den Narrationen des Kataloges zu tun hat. Obwohl die Landschaft aus Blasen-, Gallen-, Nieren- und anderen Steinen zunächst ästhetisch wirken soll, erzählt der Katalog zumindest teilweise davon, wie die Objekte gewonnen wurden, gibt also Einblick in Krankengeschichten. Verschiedene Blasensteine einer ›Landschaft‹ zum Beispiel stammen von der alten Frau von 80 Jahren, die bereits oben vorgestellt wurde. Im Thesaurus verweist Ruysch auf die Erzählung dieses Falles in seinen Hondert anatomische en chirurgicaale aanmerkingen, wo, wie gezeigt wurde, dieser »wunderbare Steinschnitt« gleich als erster Fall beschrieben ist (vgl. AW, 45–48 u. 490 f.). Mit dieser Darstellung ordnet sich Ruysch in verschiedene Traditionen ein. Es war in Europa Sitte, dass die fahrenden Steinschneider ihre Dienste auf öffent lichen Plätzen, also jedermann zugänglichen ›Schaubühnen‹, anpriesen. Gleichzeitig wurden erfolgreiche Steinoperationen und ungewöhnliche Steingebilde beispielsweise auf Flugblättern oder Gemälden bekannt gemacht.17 Ruysch geht noch einen Schritt weiter, indem er die Steine mit anderem anatomischen Material zu neuen Kunstwerken zusammenfügt. Aus Schmerz entsteht Ästhetik. Die Empathie mit dem leidenden Menschen steht auch an dieser Stelle im Vordergrund.
15 Röm
11,33. Begriff der »öffentlichen Schaubühne« (»publiek schouwtoneel«) benutzt Ruysch selbst (AW, 602 f.). 17 Jürgen Konert: Zwischen Mythos und Realität. Urologisches aus der Frühen Neuzeit. In: Jürgen Konert u. Holger Dietrich (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der Urologie. Berlin/Heidelberg 2004, S. 39–92. 16 Den
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5. Schluss Das Erzählen in Ruyschs Werk ist vielgestaltig. Es hat seinen selbstverständlichen Raum in den Fallgeschichten der Hondert anatomische en chirurgicaale aanmerkin gen. Aber auch in seinem Thesaurus Anatomicus finden sich erzählerische Elemente. Wie in Ruyschs realen Vorlesungen tritt im Katalog ein Ich-Erzähler auf, der den geneigten Leser durch die Sammlung führt, Stück für Stück aus Regalen und Schub laden nimmt und in einem Licht betrachtet, das anders als bei den tatsächlichen anatomischen Demonstrationen, im Katalog immer günstig ausfällt.18 Selbstbewusst kann dieser Erzähler dem Leser seine (übrigens geheime) Präpariermethode empfehlen, die die Präparate wirklich für die Ewigkeit und in aller Lebendigkeit konserviert. An zahlreiche Stücke knüpfen sich Erläuterungen, gelegentlich Anekdoten, Krankengeschichten, aber auch Polemiken mit den wissenschaftlichen Gegnern. Da seine Fallgeschichten nahezu vollständig aus der eigenen Praxis stammen und auf die Empirie gertichtet sind, steht Ruysch außerhalb der älteren Tradition der humanistischen medizinischen Exempelliteratur. Im Gegensatz zu den cartesianischen Ärzten haben bei ihm jedoch die Stimmen der Patienten auch einen Platz. Damit begründet er eine eigene Tradition der medizinischen Fallgeschichte in der niederländischen Literatur.
18 Zur
Bedeutung des Lichts siehe Rina Knoeff: Touching Anatomy. On the Handling of Preparations in the Anatomical Cabinets of Frederik Ruysch (1638–1731). In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 49 (2015), S. 32–44.
Bastian Ronge
Philosophia oeconomiae medicans Zur ethopoetischen Funktion von Adam Smiths Wealth of Nations1
Das Jahr 1776 besitzt in der Geschichte des ökonomischen Denkens eine besondere Bedeutung. In diesem Jahr erscheint Adam Smiths Wealth of Nations. Viele Zeitgenossen nehmen die Veröffentlichung als ein ›rupture épistémologique‹ (Gaston Bachelard) wahr, als eine grundlegende Zäsur innerhalb des Nachdenkens über das Ökonomische. Die Zeitgenossen feiern den wissenschaftlichen Durchbruch, der Smith mit seinem Wealth of Nation gelungen ist.2 Das Urteil der Zeitgenossen hat sich im Laufe der Zeit zu einem Allgemeinplatz verfestigt. Es gehört zum Selbstverständnis der modernen Wirtschaftswissenschaften, ihren wissenschafts geschichtlichen Ursprung auf das Jahr 1776 zu datieren.3 Die Auseinandersetzung mit Adam Smith besitzt daher immer auch wissenschaftspolitische Brisanz. Wer sich mit Smith beschäftigt, bezieht nolens volens Stellung, bestätigt oder bezweifelt die Selbstdarstellung der Wirtschaftswissenschaften als Wissenschaft. Im folgenden Aufsatz möchte ich zeigen, dass der Wealth of Nations nicht nur ein wissenschaftlicher Text ist, sondern auch eine politisch-rhetorische und eine therapeutische Textdimension besitzt. Meine These ist, dass die therapeutische Dimension dafür verantwortlich ist, dass der Wealth of Nations von den Zeitgenossen 1
Die Arbeit an diesem Aufsatz wurde durch ein Postdoc-Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung ermöglicht. 2 So schreibt beispielsweise Edward Gibbon, einer der führenden Protagonisten der europäischen Aufklärung, in einem Brief an Adam Ferguson: »What an excellent work is that with which our common friend Mr. Adam Smith has enriched the public! An extensive science in a single book, and the most profound ideas expressed in the most perspicuous language« (zit. nach John Rae: Life of Adam Smith. New York 1965, S. 287). Das Revolutionäre des Wealth of Nations wird häufig dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Smith bzw. der Wealth of Nation mit Montesquieu und seinem wegweisenden Werk über den Geist der Gesetze verglichen wird, vgl. hierzu den Kommentar von Hugh Blair: »Your work ought to be, and I am perswaded will in some degree become, the Commercial Code of Nations. […] I am Convinced that since Montesquieu’s Esprit des Loix, Europe has not received any Publication which tends so much to Enlarge and Rectify the ideas of mankind« (Adam Smith: The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith. Hrsg. v. Ernest Campbell Mossner et al. 6 Bde. Oxford 1975–1987 [im Folgenden: GE], hier: GE 6, 188). Oder auch von John Millar: »The great Montesquieu pointed out the road. He was the Lord Bacon in this branch of philosophy. Dr. Smith is the Newton« (zit. nach Ronald Meek: Smith, Marx, & After. Ten Essays in the Development of Economic Thought. London 1977, S. 21, Anm. 15). 3 Vgl. hierzu exemplarisch Michael Fry: Adam Smith’s Legacy. His Place in the Development of Modern Economics. London/New York 1992.
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als wissenschaftliche Revolution wahrgenommen wurde und bis heute als Gründungsdokument der modernen Wirtschaftswissenschaften gilt. Diese provokante These kann in dem hier gesetzten Rahmen nicht gebührend entwickelt, sondern nur plausibel gemacht werden. Dazu werde ich zunächst, (1.) Smiths therapeutisches Philosophieverständnis vorstellen, bevor ich (2.) die drei Textdimensionen des Wealth of Nations herausarbeite und schließlich (3.) die ›ethopoetische Funktion‹ des Textes anhand einiger ausgewählter Beispiele illustriere (nämlich am Bild der Stecknadelfabrik, der Theorie des natürlichen Preises und der Metapher der unsichtbaren Hand). Der von Michel Foucault entlehnte Begriff der ›ethopoetischen Funktion‹ ist meines Erachtens gut geeignet, um die therapeutische Wirkung des Textes zu erfassen. Foucault verwendet den Begriff, um die Verwandlung von »Wahrheit in Ethos« mit Hilfe von bestimmten Lese- und Schreibtechniken zu benennen.4 Indem der folgende Aufsatz an dieser therapeutischen Sicht auf Texte und Textgebrauch anknüpft, leistet er zwar keinen unmittelbaren Beitrag zur Narrativitätsforschung des 18. Jahrhunderts, nimmt aber eine ebenfalls textzentrierte Perspektive ein, die den Urtext der modernen Wirtschaftswissenschaften in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt.
1. Adam Smiths therapeutisches Philosophieverständnis Seit der Antike gibt es ein Verständnis von Philosophie, das man als therapeutisches bezeichnen kann. Philosophie ist als ›philosophia medicans‹ (Marcello Gigante) eine Praxis, die den Menschen von seinen Ängsten befreien und ihm zu einem guten und glücklichen Leben verhelfen soll. Folgt man Pierre Hadot und Michel Foucault, fällt die Hochzeit dieser therapeutischen Philosophietradition in die Epoche des Hellenismus. Die Philosophien von Seneca, Epiktet oder auch Marc Aurel drehen sich maßgeblich um die Frage, wie sich der Mensch gut um sich selbst sorgen kann.5 Seit der Neuzeit wird diese therapeutische Tradition von einem anderen, ›wissenschaftlichen‹ Philosophieverständnis überlagert. Hier besteht die Hauptaufgabe der 4 Michel
Foucault: Über sich selbst schreiben. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M. 2005, S. 503–520, hier: 506; vgl. hierzu auch ausführlich: Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen 2006, S. 69 ff. 5 Vgl. hierzu: Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/82. Frankfurt a. M. 2004; Pierre Hadot: Die innere Burg. Anleitungen zu einer Lektüre Marc Aurels. Frankfurt a. M. 1996; ders.: Die Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Berlin 1991; ders.: Überlegungen zum Begriff der »Selbstkultur«. In: Francis Ewald u. Bernhard Waldenfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt a. M. 1991, S. 219–228; Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. Frankfurt a. M. 21986.
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Philosophie, grob gesagt, darin, vom Gesichtspunkt der Rationalität her, die Welt zu beschreiben und unsere moralische Stellung in ihr zu bestimmen.6 Smith ist mit der therapeutischen Tradition des Philosophierens wohl vertraut. Einerseits hat er seine Studienjahre in Oxford im Wesentlichen damit verbracht, die antiken Texte aus der Blütezeit der therapeutischen Philosophietradition zu studieren.7 Andererseits hat sein akademischer Lehrer Francis Hutcheson die erste englische Übersetzung von Marc Aurels ›Τα εις εαυτον‹ übersetzt; ein Text, der gemeinhin als Höhepunkt der Philosophie der Selbstsorge gilt.8 Es ist daher wenig überraschend, dass Smiths eigenes Philosophieverständnis maßgeblich von der therapeutischen Philosophietradition beeinflusst ist, wie sein Aufsatz über die History of Astronomy belegt. Dort beschreibt Smith das Verhältnis zwischen Mensch und Welt als ein konstitutiv krisenhaftes: Die Welt konfrontiert uns immer wieder »with events which appear solitary and incoherent with all that go before them« und stört auf diese Weise das »easy movement of the imagination«.9 Sich als Mensch in der Welt zu bewegen, bedeutet Welt-Wahrnehmungs-und-Deutungs-Krise zu durch leben, die gewohnte Wahrnehmungs- und Denkmuster zur Disposition stellen. Laut Smith besitzt die Philosophie die Aufgabe, dem Menschen bei der Überwindung dieser wiederkehrenden Krisen zu unterstützen. Das »ultimate end of philosophy« besteht laut Smith darin, »the repose and tranquillity of the imagination« wiederherzustellen (GE 3, 61). Anders gesagt: Für Smith ist Philosophie in erster Linie Arbeit an der Imagination, das heißt an jener kognitiven Instanz, die für die Wahrnehmung und Deutung unserer Sinneseindrücke wesentlich verantwortlich ist. Philosophie soll dabei helfen, die auftretenden Wahrnehmungs- und Deutungs-Krise zu bemeistern und ein harmonisches, nicht-krisenhaftes Verhältnis zur Welt zu restituieren. Doch wie soll die Philosophie diese Aufgabe erfüllen? Philosophy, by representing the invisible chains which bind together all theses disjointed objects, endeavours to introduce order into this chaos of jarring and discordant appearance, to allay this tumult of the imagination and to restore it […] to that 6 Auch
wenn diese Art und Weise des Philosophierens seit der Neuzeit dominiert, so ist die therapeutische Tradition nie ganz verschwunden wie die Philosophien von Ludwig Wittgenstein oder Stanley Cavell beweisen. Vgl. hierzu auch Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Frankfurt a. M. 2014. 7 Smiths beschäftigt sich in seiner Studienzeit in Oxford so intensiv mit den antiken Texten, dass er sie noch Jahre später auswendig kennt. Vgl. hierzu: »He continued his study of the Classics, and it is from the Oxford period that he derived a knowledge and appreciation of Greek and Latin literature for which there had not been time during his three years at Glasgow. This is shown by the way he spent blank halfhours at the Custom House in Edinburgh, when he and another Commisioner were accustomed to quote from memory long passages of the classics« (William Scott: Adam Smith as Student and Professor. New York 1965, S. 40). 8 Vgl. hierzu Hadot: Die innere Burg. 9 Adam Smith: The History of Astronomy. In: GE 3, 45.
Zur ethopoetischen Funktion von Adam Smiths Wealth of Nations
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tone of tranquillity and composure, which is both most agreeable in itself, and most suitable to its nature.10 (GE 3, 45 f.)
Philosophie kann und soll Krisenerfahrungen überwinden helfen, indem sie die ›unsichtbaren Ketten‹ (invisible chains) benennt, welche die scheinbar so divergenten Sinneseindrücke zusammenhalten. Sie kann und soll die nicht-wahrnehmbaren, unsichtbaren Kräfte aufspüren und repräsentieren, mit deren Hilfe wir die Ungereimtheiten in unserer Weltwahrnehmung harmonisieren können.11 Dieses therapeutische Philosophieverständnis beeinflusst auch seine philosophische Auseinandersetzung mit dem Ökonomischen. Tatsächlich besitzt der Wealth of Nation nämlich nicht nur eine wissenschaftliche und eine politisch-rhetorische Text dimension, sondern auch eine ethopoetische Funktion, die bislang übersehen wurde.
2. Die drei Textdimensionen des Wealth of Nations In seinen Lectures on Rhetoric and Belles Lettres bestimmt Adam Smith die ›newtonsche Methode‹ als die wissenschaftliche Methode par exellence. Jede wissenschaftliche Untersuchung sollte mit einer Erläuterung desjenigen Prinzips beginnen, mit dessen Hilfe das empirische Phänom (anschließend) in allen seinen Facetten erklärt werden kann (vgl. GE 4, 145–147). In seiner Theory of Moral Sentiments geht Smith genau nach dieser Vorgehensweise vor: Er beginnt mit einer Erläuterung der Prinzips der ›sympathy‹, bevor er das zu untersuchende Phänomen unserer moralischen Beurteilungspraxis in seinen verschiedenen Dimensionen ausleuchtet (wie urteilen wir moralisch über andere Menschen, wie urteilen wir über unser eigenes Verhalten usw.). Im Wealth of Nations weicht Smith von dieser wissenschaftlich gebotenen 10 Vgl. hierzu auch: »[I]t must be the business of philosophy, that science which endeavours to connect together all the different changes that occur in the world, to determine wherein the specific Essence of each object consists, in order to foresee what changes or revolutions may be expected from it« (Adam Smith: The History of the Ancient Logics and Metaphysics. In: GE 3, 119). 11 Es gibt eine längere Kontroverse innerhalb der Forschung darüber, ob Smiths Philosophieverständnis ihn auf eine realistische oder anti-realistische Position verpflichtet. Für das hier vorgetragene Argument ist diese Frage letzten Endes irrelevant. Denn egal, ob Smith glaubt, dass die von der Philosophie repräsentierten unsichtbaren Kräfte und Ketten auch tatsächlich existieren müssen (realistische Position) oder er damit zufrieden ist, dass sie den Zustand von bloßen Als-Ob-Fiktionen besitzen (antirealistische Position) – in jedem Fall ist sein Philosophieverständnis ein therapeutisches. Philosophie soll die ›unsichtbaren Ketten‹ benennen, mit denen wir unsere Welt-Wahrnehmungen und Deutungen (wieder) zu einem reibungslosen Ablauf bringen können. Man könnte argumentieren, dass diese Harmonisierung nur funktionieren kann, wenn wir an die Existenz der unsichtbaren Ketten auch tatsächlich glauben, d. h. wir selbst eine realistische Position einnehmen. Das würde einem ›therapeutischen Realismus‹ gleichkommen; eine Position, die in der bisherigen Debatte meines Wissens noch nicht vertreten wurde.
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Methode ab. Zwar beginnt er auch hier mit einem Prinzip, nämlich dem Prinzip der Arbeitsteilung und zeigt auf, wie Arbeitsteilung wirkursächlich für gesellschaft lichen Reichtum ist, doch ist dieses explanatorische Projekt bereits mit dem dritten Kapitel des ersten Buches beendet. Danach nimmt sich Smith andere erklärungsbedürftige Phänomene des Wirtschaftslebens vor, um sie mit anderen explanatorischen Prinzipien zu erläutern: Warum sparen Menschen? Wegen ihres natürlichen Strebens nach einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen (›principle of bettering our condition‹).12 Warum spezialisieren sich Menschen auf bestimmte Tätigkeiten? Wegen ihrer natürlichen Neigung, zu feilschen und zu tauschen (›propensity to truck, barter and exchange‹).13 Mit anderen Worten: Im Unterschied zur Theory of Moral Sentiments bietet der Wealth of Nation keine einheitliche wissenschaftliche Theorie an, sondern stellt eher eine Aneinanderreihung von Erklärungsstücken dar. Hier wie dort verfolgt Smith allerdings dasselbe Ziel: Er will seinen Beitrag zu dem von David Hume ins Leben gerufene Projekt einer neuen ›science of man‹ leisten. In der Theory of Moral Sentiments erkundet Smith die menschliche Natur anhand der moralischen Beurteilungspraxis; im Wealth of Nation beleuchtet er die ökonomische Natur des Menschen: Wie und warum tauschen Menschen? Warum können sie, im Unterschied zu den Tieren, so gut miteinander kooperieren? Der Wealth of Nation besitzt also zweifellos eine ›wissenschaftliche Dimension‹. Doch diese Dimension bestimmt nicht den ganzen Text. Vielmehr gibt es noch zwei weitere Dimensionen: Eine ›rhetorisch-politische Dimension‹, die auch von vielen Smith-Forschern und Forscherinnen (an)erkannt wird und eine ›therapeutische Dimension‹, die bis heute weitestgehend ignoriert wird, obwohl sie – so meine weiterführende These – maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass der Wealth of Nation seiner Zeit als theoretischer Durchbruch wahrgenommen wurde und zum Urtext der modernen Wirtschaftswissenschaften avancieren konnte. Bevor ich ausführlicher auf die therapeutische Dimension des Textes zu Sprechen komme, möchte ich kurz auf die rhetorisch-politische Dimension des Textes eingehen. Smith schreibt im Wealth of Nation gegen die merkantilistische Wirtschaftspolitik seiner Zeit an. Er selbst macht daraus keinen Hehl. In einem Brief an den 12 Smith
schreibt hierzu: »But the principle which prompts to save, is the desire of bettering our condition, a desire which, though generally calm and dispassionate, comes with us from the womb, and never leaves us till we go into the grave. In the whole interval which separates those two moments, there is scarce perhaps a single instant in which any man is so perfectly and completely satisfied with his situation, as to be without any wish of alteration or improvement, of any kind« (GE 2, 341). 13 Vgl.: »This division of labour, from which so many advantages are derived, is not originally the effect if any human wisdom, which fore sees and intends that general opulence to which it gives occasion. It is the necessary, though very slow and gradual consequence of a certain propensity in human nature which has in view no such extensive utility; the propensity to truck, barter and exchange one thing for another« (GE 2, 25).
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dänischen Handelskommissar Andreas von Holt bekennt Smith, dass seine Untersuchung vor allem ein »very violent attack […] upon the whole commercial system of Great Britain« (GE 6, 251) ist. Tatsächlich lassen sich viele Passagen im Wealth of Nation nur angemessen verstehen, wenn man sie vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen ›didactic discourse‹ und ›rhetorical discourse‹ liest, die Smith in seinen bereits erwähnten Lectures on Rhetoric and Belles Lettre macht. Dort erklärt Smith, dass der didactic discourse darauf abzielt, dem Lesenden sämtliche Pro- und Contra-Argumente für eine bestimmte These zu präsentieren und zwar gemäß ihrer tatsächlichen Überzeugungskraft. Der rhetorical discourse hingegen will die Leserschaft um jeden Preis von einer bestimmten These überzeugen. Er überzeichnet dafür Pro-Argumente und schwächt oder verschweigt mögliche Gegenargumente (vgl. GE 4, 62). Tatsächlich liest sich der Wealth of Nation in weiten Teilen wie ein rhetorical discourse. Smith will seine Leser unbedingt von der These überzeugen, dass der Merkantilismus in Theorie und Praxis falsch ist und Großbritannien dringend eine wirtschaftspolitische Wende (hin zu einer agrarkapitalistischen Wirtschaftsordnung) benötigt.14 Dass seine zeitgenössischen Leser dazu tendieren, diese rhetorisch- politische Dimension zu überlesen bzw. ausschließlich die wissenschaftliche Qualität des Wealth of Nations zu loben, irritiert Smith. In dem bereits erwähnten Brief an Andreas von Holt schreibt er über die Rezeption seines Buches: I have however, upon the whole been much less abused than I had reason to expect; so that in this respect I think myself rather lucky than otherwise. A single, and as, I thought a very harmless Sheet of paper, which I happened to Write concerning the death of our late friend Mr Hume, brought upon me ten times more abuse than the very violent attack I had made upon the whole commercial system of Great Britain. (GE 6, 251)
Doch warum übersehen Smith’s Zeitgenossen weitestgehend die rhetorisch-politische Dimension des Welath of Nations und heben stattdessen auf seine wissenschaftliche Novität ab, obwohl Smiths wissenschaftliche Einsichten zu diesem Zeitpunkt alles andere als innovativ oder originell gewesen sind.15 Meine These ist, dass die ethopoetische Funktion des Textes dafür verantwortlich ist, dass der Wealth of Nations von den Zeitgenossen als ›rupture épistémologique‹ wahrgenommen wird und 14 Vgl.
hierzu ausführlicher Bastian Ronge: Das Adam-Smith-Projekt. Wiesbaden 2015, S. 237 ff. 15 Vgl. hierzu das Urteil von Joseph Schumpeter: »The fact is that The Wealth of Nations does not contain a single analytic idea, principle, or method that was entirely new in 1776« (Joseph Schumpeter: History of Economic Analysis. New York 1954, S. 185). Vgl. hierzu auch das aufschlussreiche ›Working Paper‹ von Andreas Ortmann u. David Baranowski: Schumpeter’s Assessement of Adam Smith and The Wealth of Nations. Why He Got It Wrong (http://home. cerge-ei.cz/ortmann/Papers/09SchumpeterWrongYK.pdf, Aufruf 05. 03 .2016).
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bis heute als Gründungsdokument der modernen Wirtschaftswissenschaften gilt. Diese provokante Behauptung kann in dem hier gesetzten Rahmen nicht umfänglich untersucht werden. Stattdessen möchte ich mich darauf beschränken, die Annahme einer solchen therapeutischen Textdimension zu plausibilisieren und anhand von einigen Beispielen aus dem Wealth of Nation zu illustrieren.
3. Die therapeutische Textdimension des Wealth of Nations Das Schottland des 18. Jahrhunderts macht einen rasanten ökonomischen Transformationsprozess durch. Seit der ›Union‹ mit England im Jahr 1707 wächst die schottische Wirtschaft rapide. Vor allem Glasgow, die Stadt, in der Adam Smith lebt und lehrt, verändert ihr Gesicht. Die Vertiefung des River Clyde macht Glasgow zu einem der wichtigsten Häfen im Dreieckshandel zwischen Großbritannien, Afrika und den amerikanischen Kolonien. Schottische Schiffe laden Sklaven an der Westküste Afrikas und bringen sie in die amerikanischen Kolonien, von wo aus sie mit Tabak und anderen Kolonialgütern nach Glasgow zurückkehren. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um sich auszumalen, wie die gewohnten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Smith’s Zeitgenossen durch diesen ökonomischen Wandel herausgefordert wurden: Plötzlich wachsen mitten in der Stadt riesige Tabaklagerhäuser in die Höhe, plötzlich werden Haussklaven in der Zeitschrift per Annonce zum Verkauf angeboten, plötzlich bestimmen Nachrichten aus fernen Ländern das Stadtgespräch. Welche Aufgabe hat in solch einer Situation die philosophische Reflexion? Legt man das therapeutische Philosophieverständnis zu Grunde, dann ist die Antwort eindeutig: Die Philosophie hat die Aufgabe, den Menschen bei der Verarbeitung dieser neuen ökonomischen Erfahrungen zu unterstützen. Sie muss die ökonomische Phantasie in die Lage versetzen, die verschiedenen ökonomischen Wahrnehmungen zu harmonisieren und zwar dadurch, dass sie die ›unsichtbaren Ketten‹ erkennt und benennt, die der ökonomischen Erfahrungswelt zugrunde liegen. So lässt sich das Arbeitsprogramm einer Philosophie des Ökonomischen skizzieren, die sich an der therapeutischen Tradition des Philosophierens orientiert. Und tatsächlich verfolgt Smith im Wealth of Nation (unter anderem) dieses Arbeitsprogramm: Er leistet Arbeit an der ökonomischen Phantasie, damit die Lesenden sich einen Reim auf die verschiedenen Eindrücke der neuen ökonomischen Erfahrungswelt machen können. Diese dritte Textdimension des Wealth of Nations, möche ich anhand von drei prominenten Beispielen aufweisen: (i.) Smiths Illustration seiner Theorie der Arbeitsteilung mit Hilfe des Bildes der Stecknadelfabrik, (ii.) die von ihm gezeichnete ›Idylle des Marktes‹ im Rahmen seiner Theorie des natürlichen Preises und schließlich (iii.) sein Gebrauch der Metapher der ›invisible hand‹.
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i. Gesellschaftlichen Reichtum verstehen: Die Stecknadelfabrik Wie bereits erwähnt wurde, beginnt Adam Smith den Wealth of Nation mit einer Darlegung des Prinzips der Arbeitsteilung als Ursache für wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand. Je arbeitsteiliger eine Gesellschaft organisiert ist, desto reicher wird sie. Denn Arbeitsteilung führt dazu, dass in derselben Zeit mehr Produkte hergestellt werden können – durch Zeiteinsparungen, durch Anreize für Innovationen und vor allem durch Spezialisierungseffekte. Diesen makroökonomischen Zusammenhang, der für die rasante wirtschaftliche Entwicklung Schottlands verantwortlich ist (denn die ›Union‹ mit England und der lukrative Dreieckshandel sind nichts anderes als Beispiele für internationale Arbeitsteilung), veranschaulicht Smith mit einem ebenso einfachen wie eindrucksvollen Vorstellungsbild: der Stecknadelfabrik. In einer viel zitierten Passage rechnet Adam Smith vor, wie viel mehr Stecknadeln durch die arbeitsteilige Produktionsweise in einer Stecknadel-Manufaktur hergestellt werden können – im Unterschied zu einer nicht-arbeitsteiligen Herstellungsweise.16 Auf die rhetorische Funktion dieser Passage ist in der Forschung bereits hingewiesen worden. Was bislang wenig beachtet wurde, ist die Begründung, die Smith für die Wahl des eher außergewöhnlichen Beispiels der Stecknadelfabrikation gibt. Smith wählt das Beispiel des Stecknadelfabrizierens nicht wegen seiner volkswirtschaftlichen Relevanz, sondern weil hier das Phänomen der Arbeitsteilung auf einen Blick erfasst werden kann. Während in vielen anderen Bereichen des Wirtschaftslebens, die miteinander kooperierenden Akteure über Raum und Zeit verstreut sind, sind sie im Fall der Stecknadelfabrikation »all into the same workhouse« versammelt und somit »placed at once under the view of the spectator« (GE 2, 14). Der Beobachter kann, ebenso wie der Leser des smithschen Textes, den Prozess der Arbeitsteilung auf einen Blick erfassen und sich mit einem einzigen Gedankenbild vergegenwärtigen. Gerade dies ist aber von höchster Bedeutung, weil es ein leichteres Verständnis des makroökonomischen Phänomens der Arbeitsteilung ermöglicht.17 Smith rüstet den Leser des Wealth of Nations also mit einem kognitiven Werkzeug aus, mit dessen Hilfe er sich beruhigen kann, wenn er sich das nächste Mal über das Ausmaß an Produktivität und materiellem Wohlstand wundert. 16
»I have seen a small manufactory […] where ten men only were employed, and where some of them consequently performed two or three distinct operations. […] Those ten persons […] could make among them upwards of forty-eight thousand pins in a day. Each person, therefore, making a tenth part of forty-eight thousand pins, might be considered as making four thousand eight hundred pins in a day« (GE 2, 14 f.). 17 »The effects of the division of labour, in the general business of society, will be more easily understood, by considering in what manner it operates in some particular manufactures« (GE 2, 14).
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Das Gedankenbild der Stecknadelfabrik funktioniert dabei wie die ›Griffbereitschaften‹ aus der antiken Exerzitienliteratur: Es soll dafür sorgen, dass der rettende Gedanke sofort ›ad manum‹ ist und »im Bedarfsfall, in kritischer Verwickelung des Lebens sofort, blitzschnell, spontan, automatisch in Wirkung« tritt.18 Dieselbe ethnopoetische Funktion besitzt Smiths idyllische Beschreibung des Marktes im Rahmen seiner Theorie des natürlichen Preises.
ii. Preisschwankungen verstehen: Die Theorie des natürlichen Preises In seinem viel beachteten Buch Das Gespenst des Kapitals beschreibt Joseph Vogl die »Idylle des Marktes«, die Smith im Wealth of Nations zeichnet.19 Der Markt erscheint bei Smith als ein wundersamer Ort, an dem Angebot und Nachfrage beständig ausgeglichen werden und sich die Waren unentwegt ihrem natürlichen Preis annähern. Diese Sichtweise auf Smiths Theorie des Marktes ist nicht falsch, aber sie ist auch nicht ganz richtig. Tatsächlich umfasst Smiths Theorie nämlich zwei Teile. Im ersten Teil führt Smith dem Leser die beschriebene Idylle des Marktes vor Augen, wo die Preise ihre engen Bahnen um das Gravitationszentrum des natürlichen Preises ziehen. The natural price, therefore, is, as it were, the central price, to which the prices of all commodities are continually gravitating. Different accidents may sometimes keep them suspended a good deal above it, and sometimes force them down even somewhat below. But whatever may be the obstacles which hinder them from settling in this center or repose and continuance, they are constantly tending towards it. (GE 2, 75)
Im weiteren Verlauf des Textes fertigt Smith aber noch eine andere, viel weniger idyllische Beschreibung des Marktes an.20 Nun wird deutlich, dass unzählige Faktoren, die natürliche Bewegung des Preises behindern: Weder können Arbeiter so schnell ihre Beschäftigung wechseln wie es für das freie Spiel von Angebot und Nachfrage notwendig wäre, noch die Landwirte die Bewirtschaftung ihrer Felder. Nur das Kapital ist so flexibel, wie die Theorie des natürlichen Preises verlangt. Es drängt sich die Frage auf, warum Smith überhaupt jenes ideale Modell des Marktes entwickelt, an dessen Realitätsgehalt er selbst offensichtlich nicht glaubt? 18 Paul
Rabbow: Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike. München 1954, S. 124; vgl. ausführlich hierzu: ebd., S. 234 ff. 19 Vgl. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010, S. 31–52. 20 Die Idylle des Marktes zeichnet Smith im 7. Kapitel des 1. Buches des Wealth of Nations, während er sich in den darauffolgenden vier Kapiteln mit den empirischen Abweichungen von diesem Modell auseinandersetzt.
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Unterstellt man dem Wealth of Nation teilweise eine ethopoetische Funktion zu besitzen, ist eine Antwort schnell bei der Hand: Smith nutzt das Modell, um dem Leser die unsichtbaren Ketten vor Augen zu führen, die den empirischen Preisschwankungen zugrunde liegen. Die Preise bewegen sich in den Bahnen der unsichtbaren Gravitationskräfte, die von ihrem natürlichen Preis ausgehen. Mit der »Idylle des Marktes« besitzt der Leser eine weitere ›Griffbereitschaft‹, die es ihm erlaubt, die beständigen Preisschwankungen auf dem Markt wahrzunehmen, ohne an den Gesetzen und der allgemeinen Funktionsfähigkeit des Marktes zu zweifeln. Volatilität muss dem Marktbeobachter ebenso wenig Angst einflößen wie die Bewegung des Mondes am Nachthimmel.21
iii. Den Zusammenhang von Mikro- und Makroebene verstehen: Die unsichtbare Hand Bis heute ist die Metapher von der unsichtbaren Hand auf das Engste mit dem Namen Adam Smith verbunden.22 Doch wie genau die unsichtbare Hand interpretiert werden soll, ist bis heute umstritten. Manche Forscher glauben, dass in Smiths Rede von der unsichtbaren Hand die theologische Fundierung seiner volkswirtschaftlichen Theorie zum Ausdruck kommt.23 Andere Wissenschaftler sehen in der unsichtbaren Hand den theoretisch verkürzten Ausdruck der Gleichgewichtstheorie des Marktes.24 Andere Interpreten wiederum weisen darauf hin, dass die Metapher der unsichtbaren Hand nur dreimal im Werk von Smith vorkommt und bezweifeln, dass sie überhaupt einen systematischen Wert besitzt.25 Weitgehend unbemerkt blieb 21 Der
Postkeynsianer Hyman Minsky kann in dieser Hinsicht als der Anti-Smith verstanden werden insofern sein theoretisches Hauptanliegen darin besteht, die absolute Kontingenz von Preisentwicklungen zu beweisen, vgl. hierzu Hyman Minsky: Can ›It‹ Happen Again? Essays on Instability and Finance. Armonk 1982; und vor allem ders.: Stabilizing an Unstable Economy. New Haven 1986. 22 Eine durchaus zweifelhafte Ehre, wenn man bedenkt, das mit dem Begriff der unsichtbaren Hand gemeinhin eine Theorie des Marktes gemeint ist, die behauptet, dass der Markt dann am besten funktioniert, wenn keinerlei politische Eingriffe vorgenommen werden. Dass Smith keineswegs ein Verfechter der von den Physiokraten vertretenen Laisser-faire-Politik gewesen ist, ist in der Forschung inzwischen bekannt und wird auch aus Smiths expliziter Abgrenzung gegenüber der physiokratischen Theorie im 9. Kapitel des 4. Buches des Wealth of Nations ersichtlich. 23 Vgl. hierzu stellvertretend, weil umfassend Alexander Rüstow: Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus. Marburg 2001, S. 50 ff. 24 Vgl. hierzu prominent Kenneth Arrow u. Frank Hahn: General Competitive Analysis. San Francisco 1971, S. 1; aber auch Mark Blaug: Economic Theory in Retrospect. Cambridge 1998, S. 57; Milton Friedman: Adam Smith’s Relevance for 1976. In: Fred Glahe (Hrsg.): Adam Smith and the Wealth of Nations. 1776–1976. Boulder 1978, S. 1–19, hier: 17. 25 Vgl. exemplarisch: »The conclusion is that the invisible hand was an unimportant constit-
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bislang die auffallende Ähnlichkeit zwischen der Formulierung ›invisible hand‹ im Wealth of Nations und der wissenschaftstheoretisch gehaltvollen Redeweise von den ›invisible chains‹ in Smiths History of Astronomy. Tatsächlich erfüllt Smiths Figur der unsichtbaren Hand im Wealth of Nation auf geradezu paradigmatische Weise jene Funktion, die Smith einer therapeutischen Philosophie zuschreibt. Die unsichtbare Hand benennt eine unsichtbare Kraft, deren unterstellte Existenz es ermöglicht, den kognitiv unzugänglichen Zusammenhang von Mikro- und Makroökonomie zu verstehen. Die Annahme einer unsichtbaren Hand erlaubt es, die volkswirtschaft lichen Folgen des individuellen, ökonomischen Verhaltens zu beschreiben, ohne sich wirklich mit der Frage belasten zu müssen, wie das eigene ökonomische Verhalten und das globale Ganze zusammenhängen.26 Es mag an dieser Stelle angebracht sein hervorzuheben, dass Smith keineswegs an die unwiderstehliche Macht der unsichtbaren Hand glaubt. Damit nutzen-maximierendes Verhalten auf Seiten des Individuums zu Nutzenmaximierung auf Seiten der Gesellschaft führt, bedarf es bestimmter wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen, wie sie laut Smith beispielsweise in den nordamerikanischen Kolonien realisiert sind. In der durch den Merkantilismus korrumpierten Wirtschaftsordnung Europas bewirkt individueller Eigennutz hingegen das glatte Gegenteil: Es verzerrt die ohnehin schon verzerrte Wirtschaftsordnung und reproduziert ein System, in dem Händler und Hersteller auf Kosten der restlichen Bevölkerung leben. Die Redeweise von der unsichtbaren Hand besitzt daher auch eine politisch-rhetorische Funktion. Sie soll Smiths These stärken, dass der Merkantilismus in Theorie und Praxis falsch ist und dass die Wirtschaftspolitik dringend eine agrarkapitalistische Wende vollziehen muss. Darüber hinaus besitzt die Rede von der unsichtbaren Hand aber eben auch eine ethopoetische Funktion. Mit ihrer Hilfe kann sich der Leser klarmachen, welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen sein individuelles ökonomisches Verhalten hat. Genauer gesagt: Die Rede von der unsichtbaren Hand dient dazu, die menschliche Phantasie auszubremsen, damit sie sich nicht die unzähligen Konsequenzen ausmalen muss, die mit einer einzelnen ökonomischen Handlung einhergehen; damit sie nicht in unentwegtes Staunen darüber geraten muss, uent of Smith’s thought. The idea of the invisible hand, like the word in which it is described, is un-Smithian, and unimportant to his theory« (Emma Rothschild: Economic Sentiments. Adam Smith, Condorcet, and the Enlightenment. Cambridge, S. 13). 26 Murray Milgate und Shannon Stimson erkennen diese therapeutische Wirkung, sehen aber nicht den Zusammenhang zu Smiths Philosophieverständnis: »[W]hen Smith argued that an individual who acts intending his own gain ›is in this, as in many other cases led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention,‹ he was explaining how common men might perceive and speak of the mechanism of market as being veiled. Generally speaking, ordinary people would not pause […] to see behind the curtain or consider the causal links of the market mechanism« (Murray Milgate u. Shannon Stimson: After Adam Smith. A Century of Transformation in Politics and Political Economy. Princeton/Oxford 2009, S. 93).
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wie eine einzelne Konsumentscheidung in das Leben unzähliger anderer Menschen interveniert, wie eine einzelne Investitionsentscheidung das Leben auf der anderen Seite der Erde beeinflusst usw. Fortan genügt es, sich die Existenz einer unsichtbaren Hand vorzustellen, um den undenkbaren Übergang von ökonomischer Mikro- zur Makroebene kognitiv zu bewältigen. Dies scheint der wahre Grund zu sein, warum sich die Metapher bis heute eine so großer Beliebtheit erfreut und immer zur Hand ist, sobald es um die notorisch schwierige Frage des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft geht. Die Rede von der unsichtbaren Hand erfüllt dieselbe ethopoetische Funktion wie die Idylle des Marktes oder das Gedankenbild der Steck nadelfabrik – all diese Gedankenbilder ermöglichen es, dass sich der Leser inmitten einer ökonomisch verwirrenden Welt beruhigen kann; heute ebenso wie vor rund 240 Jahren.
PERSONENR EGISTER
A Abbé Saint-Pierre 103 Abbt, Thomas 292 Abel, Jacob Friedrich 557, 561 Addison, Joseph 574 f. Adelung, Johann Christoph 451, 498 Adolf, Gustav 292 f. Adorno, Theodor W. 32 – 35, 183 f., 190 f., 581 Apollonius von Tyana 527 – 530, 533 – 535 Archytas 112, 114 f. Arendt, Hannah 130, 224 Aristoteles 194, 196, 631 Ascher, Saul 158 Austin, John 466 f. B Bacon, Francis 385 Baczko, Ludwig von 593 – 598 Ballenstedt, Johann Georg Justus 610, 613 – 616 Bannet, Eve Tavor 311 Barthes, Roland 151 Bartlett, Frederic 73, 88 Bartsch, Wilhelm 177, 181 Basedow, Johann Bernhard 73 f., 442 Batteux, Charles 394 Baumbach, Gerda 451 Baumgarten, Alexander Gottlieb XX – X XII, 216, 298, 539, 540 Bayle, Pierre XXVIII, 13, 332 Bazcko, Ludwig 295 Beaufort, Louis de 229 Becattini, Francesco 121 Bechstein, Johann Matthäus 444 Benhabib, Seyla 130 Benjamin, Walter 69 Bentham, Jeremy 477 Bergerac, Cyrano de 404
Berndt, Frauke 425, 461, 483, 617 Bertuch, Friedrich Justin 442, 447 f. Bertuch, Karl 72 Bettelheim, Bruno 77 Beverwijck, Johan van 632 Bibiena, Galli de 17 f. Biran, Manie de 9 Blair, Hugh 638 Blanckenburg, Christian Friedrich von XX – X XIII, 539, 556 Blanckenburg, Friedrich von 102 Blatter, Christoph XXIII Blount, Charles 527 Blumauer, Alois 122 Blumenbach, Johann Friedrich 73, 614 – 616 Blumenberg, Hans 377 – 379, 381, 394 f., 438 Boccaccio, Giovanni 56 Bodmer, Johann Jakob 297, 501 Bohse, August 513 Boileau, Nicolas 154 Booth, Wayne XXIV Bordes, Charles 228 Born, Ignaz von 122 Bossuet, Jacques Bénigne 226 Bougainville, Louis Antoine de 365 – 373 Bourdieu, Pierre 592 Boureau-Deslandes, André-François 15 – 18 Bowen, Scarlett 311 Brainerd, David 315 Brandstetter, Alois 177, 180 Braunschweig-Wolfenbüttel, Maximilian Julius Leopold von 293 Breithaupt, Fritz XXV, 489, 535 Breitinger, Johann Jakob 297 f., 378, 501 Bremer, Thomas 119 Brenner, Peter 348 f.
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Personenregister
Brentano, Clemens 70 Brockes, Barthold Heinrich 429 – 439 Broughton, Thomas 271 f., 276, 279 – 284 Bruner, Jerome 87, 323 Buch, Hans Christoph 430 Büchner, Andreas Elias 598 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 4, 10 f., 13 – 15, 19 Bunyan, John 310, 317 – 319 Bürger, Gottfried August 55 Burnham, Michelle 310 Büsch, Johann Georg 591 – 596 C Cagliostro, Alessandro 359 Calderón de la Barca, Pedro 25 Campanella, Tommaso 385 Campe, Joachim Heinrich 72, 74 f., 80, 82, 87, 591 – 598 Carpzovs der Jüngere, Johann Benedikt 304 Cassirer, Ernst 32 Cassius, Johann Ludwig 292 Castillon, Jean de 527 Cavell, Stanley 640 Caylus, Comte de 38, 46 – 49 Certeau, Michel de 586 Champollion, Jean-François 356 f. Cicero 561 Cohn, Dorrit XXIV Comenius, Johann Amos 440 Condillac, Étienne Bonnot de 4, 8 – 10, 15, 18 f., 208, 475 f. Condorcet XV, 141 – 1 48 Cook, James 347 – 355 Cowley, Abraham 576 f. Crébillon, Prosper Jolyot 17 Crome, August Friedrich Wilhelm 137 D D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 4 – 6, 17 f. Dalibard, Thomas-François 330 Darwin, Charles 214
David 503 f., 506 Décultot, Elisabeth XXV Defoe, Daniel 310, 578 Delon, Michel XXV Dennis, John 574 Deprun, Jean 12 Derrida, Jacques 132 Descartes, René 166 f., 170, 208 Diderot, Denis XV, 6, 14 – 18, 178, 333, 365 – 373, 391 – 402, 412 – 4 20, 465 – 472, 555 Dilthey, Wilhelm 24 – 30, 33 Diodor 358 Doležel, Lubomír XXII Dominikus 123 Donne, John 575 Douglas, John 352 f., 355 Drewermann, Eugen 84 Dreyßig, Friedrich Christoph 443, 445, 447 f. Droysen, Johann Gustav 54, 70 Dubos, Jean-Baptiste 394, 400 E Edelstein, Dan XIV f., 149, 157 Ekhof, Conrad 452 – 456 Eliot, Thomas Stearns 575 – 577, 581 Engel, Johann Jakob XX – X XIV, 540 Epiktet 197, 639 Erasmus von Rotterdam 383 f. Erhardt, Christian 515 Eybl, Franz M. XXV F Falconet, Étienne-Maurice 17 Fallopio, Gabriele 634 Faure, Giambattista 123 Fénelon, François 329, 331, 511 – 523 Fest, Johann Samuel 590, 593 – 598 Fielding, Henry XV Fischer, Johann Ernst 445 Fischer-Lichte, Erika 467 Flasch, Kurt 291 Flesch, William 78 – 80
Personenregister
Flögel, Karl Friedrich 137 Fludernik, Monika 543 Fontane, Theodor 70 Fontenelle, Bernard de Bovier de 408 Forster, Edward Morgan XXIII Forster, Georg 349, 351 Forster, Johann Reinhold 443 f. Foucault, Michel 112, 187 f., 477, 639 Fragonard, Jean-Honoré 391, 402 Francke, August Hermann XIX Fréret, Nicolas 230 Freud, Sigmund 72, 75, 477, 581 Frevert, Ute 581 Friedrich der Große 125 Friedrich II. 522 f., 527 Frisi, Paolo 124 G Galilei, Galileo 403 Garden, Alexander 313 Garrick, David 454 Gatterer, Johann Christoph 136 – 1 41, 148, 599 – 607 Gautier, Joseph 228 Gedike, Friedrich 440 f. Genette, Gérard XXIII, 426, 591 Geulen, Eva 619 Gibbon, Edward XVI, 106, 229, 599, 638 Girard, René 502 Glavinic, Thomas 175 Göckingk, Leopold Friedrich Günther von 591 – 598 Goethe, Johann Wolfgang XV, XX f., XXV, 27, 30, 52 – 70, 100, 115 f., 155, 157, 180 f., 207, 360, 440, 617 – 628 Goeze, Johann August Ephraim 444 Goodman, Nelson 378 Gottsched, Johann Christoph 55, 61, 378, 501, 521 Goulemot, Jean Marie 6 Graaf, Reinier de 634 Graffigny, Mme de 330 Grätz, Manfred 71, 72 Gray, Richard 185
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Grierson, Herbert J. C. 576 Griewank, Karl 157 Grillparzer, Franz 181 Grimm, Jacob 28, 71 f., 89 Grimm, Melchior 391, 402 Grimm, Wilhelm 71 f., 89 Gruber, Johannes Nepomuk 120 Grüne, Matthias XX GutsMuths, Johann Christoph Friedrich 447 f. H Habermas, Jürgen 130 Hadot, Pierre 639 f. Haller, Albrecht von 519 Hamann, Johann Georg 30, 165 – 173, 612 Harré, Rom 586 Hawkesworth, John 350 Hebel, Johann Peter 179 Hecke, Johann Valentin 344 f. Heinse, Wilhelm 412 – 4 20 Heinsius, Nicolas 633 Held, David 130 Helvig, Amalie von 295 Hempfer, Klaus 467 Herder, Johann Gottfried XV, XX, 27, 38, 46, 48 f., 68, 72, 100, 166, 202 – 215, 285, 290, 298, 358, 600, 602 f., 606, 609 – 616 Herman, David XIX, XXIV, 541 Herodot 358, 475 Heyne, Christian Gottlieb 599 Hierokles 529 Hippias 110, 114 Hofer, Andreas 293 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 75 Hoffmann, Friedrich 598 Hogarth, William 268 – 284 Hohndorff, Fabian Wilhelm von 292 Hölderlin, Friedrich 158 Homer 513, 516 Horkheimer, Max 32 – 35, 183, 184, 190 f., 581 Hufeland, Christoph Wilhelm 563 – 572
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Personenregister
Humboldt, Wilhelm von 155 Hume, David 165 – 168, 599 Hutcheson, Francis 110 I Iffland, August Wilhelm 456 Ilive, Jacob 272, 284 Inchofer, Melchior 286 Iselin, Isaak 141, 144 – 1 48 Israel, Jonathan 23 J Jauß, Hans Robert 149, 152, 438 Johnson, Samuel 574 – 581 Jordan, Wilhelm 342 – 344 Joseph II. 124 f. Joseph, Maximilian 120 Jost, Thomas Aquinas 118 – 120, 123, 125 Jung-Stilling, Johann Heinrich 72 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 519 – 524 K Kammer, Stephan 461, 483 Kant, Immanuel XX, 127 f., 131 – 134, 138, 166, 169 – 172, 177, 180 f., 202 – 215, 216, 221, 357, 420, 478, 571 Kaschuba, Wolfgang 98 – 100 Kaunitz-Rietberg, Wenzel Anton von 124 Kehlmann, Daniel 175, 183, 190 f. Keller, Gottfried 291 Kepler, Johannes 403 Kestner, Johann Christian 600 Klopstock, Friedrich Gottlieb 297, 491 – 499 Klügel, Georg Simon 443 Koehn, Johanna XVIII Kohl, Helmut 115 Konersmann, Ralf 165 Korn, Christoph Heinrich 519 Körner, Theodor 293 Koschorke, Albrecht XIV, 235, 357 Kosegarten, Ludwig Gotthard 295 – 297 Koselleck, Reinhart 53, 388
Kritzinger, Friedrich Adolph Audemaur 474 Krüger, Johann Friedrich 613 Kundera, Milan 99 Kuznair, Alice 502 L La Bruyère, Jean de 226, 400 La Condamine, Charles Marie de 330, 368 Lady Bradshaigh 487 Lahontan/La Hontan 333, 369 Lämmert, Eberhard XXIII Langen, August 429, 432 Lange, Samuel Gotthold 500 – 509 La Peyrère, Isaac de 613 La Rochefoucauld, François de 400 Le Cat, Claude-Nicolas 228 Leeuwenhoek, Antoni van 403 Lehr, Thomas 175 Leibniz, Gottfried Wilhelm 110, 172, 377, 378, 412 – 4 14 Le Nain de Tillemont, Louis-Sébastien 39 Leopold II. 124 Lessing, Gotthold Ephraim XV, XX, 26, 27, 61, 423 – 4 26, 429, 430, 433 – 435, 450 – 454, 488 f. Le Vaillant, François 444 Levinas, Emmanuel 326 Lewis, David XXII Lewitscharoff, Sibylle 175 Lichtenberger, Gertraude 474 Lichtenberg, Georg Christoph 454, 571, 591, 599 f. Lieberkühn, Philipp Julius 441 f. Liebrand, Claudia 486, 488 Lignac, Lelarge de 15 Linck, Catarina Margaretha XVIII Linné, Carl von 122, 625 f. Liversedges, Michael 268 Locke, John 3 – 5, 9, 12 f., 220, 411, 441 Loen, Johann Michael von 513 – 519 Lotman, Juri Michailowitsch 434
Personenregister
Ludwig II. XVIII Ludwig XIV. 153 f. Luhmann, Niklas 151, 155, 592 Luise von Preußen 293 Lukian 492 Lukrez 524 Luther, Martin 285 Lützeler, Paul Michael 98, 100 Lyotard, Jean-François 473, 480 M Mabillon, Jean 38 – 40 MacIntyre, Alasdair 596 Mallet, Edme-François 36, 38 Marc Aurel 197, 639, 640 Marivaux, Pierre Carlet de 17 Marmontel, Jean-François 329 – 337 Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 407 McMurran, Mary Helen 311 Meckel, Albrecht August 181 Meier, Georg Friedrich 216 – 223, 298 Meiners, Christoph 599 Meinicke, Karl Eduard 341 Meixner, Sebastian XX Melchior, Albert 242 – 253 Melville, Herman 373 Mendelssohn, Moses 211 Mercier, Louis-Sébastien 385 – 388 Mesmer, Franz Anton 182 Michelangelo 156 Migazzi, Christoph Anton von 125 Mika, Johann Marian 250 – 253 Millar, John 638 Mitterand, François 115 Montaigne, Michel de 226, 618 Montesquieu 404 Montfaucon, Bernard de 38 – 4 4, 49, 51 Mora, Terézia 175 Moreau, Pierre Louis 478 More, Thomas 336 f., 382 – 388 Moretti, Franco 107 Moritz, Karl Philipp 75, 78, 202 – 215, 540 Motte-Fonqué, Baron de la 295 Mozart, Wolfgang Amadeus 360
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Mügge, Theodor 342 – 345 Musäus, Johann Karl August 72, 295 Mylius, Christlob 450 f. N Naubert, Benedikte 360 Neuhaus, Nikolaus Poda von 122 Neumeister, Erdmann 301 – 307 Newton, Isaac 166, 169 f., 212, 409 Neymeyr, Barbara 560 f. Nicolai, Friedrich 120, 254 – 267, 285, 453 f. Niebuhr, Carsten 358 Nietzsche, Friedrich 204 f., 420 Nohl, Herman 29 f., 33 Norden, Frederik Ludvig 358 Norton, Robert E. XXV Novalis 359 O Occom, Samson 314 Olavide, Pablo de 118, 125 Ott, Karl-Heinz XVII, 177 – 180 P Pagden, Anthony 98 Paolo Sarpi 124 Pascal, Blaise 226, 409 Paul III. 123 Paulson, Ronald 268 f., 275, 278 – 280 Perrault, Charles 153 f. Pestalozzi, Johann Heinrich 74 Philippi, Karl Ferdinand 342 – 344 Philostratos, Flavius 528 f. Planck, Max 477 Platon XX, 111 f., 194 – 200, 383 Plutarch 358 Pococke, Richard 358 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 345 Preußer, Heinz Peter 190 Prévost d’Exiles, Antoine François 330 Propp, Wladimir 89 Pross, Wolfgang 104 Purmann, Johann Georg 292 Pyra, Immanuel Jakob 500 – 509
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Personenregister
Q Quaque, Philip 313 Quesnay, François 330 Quintilian 394, 555 f. R Raabe, Wilhelm 70 Raffael 156 Rajewsky, Irina 425 – 4 27, 444 Rambach, Eberhard 356 f., 360 – 364 Ramsay, Andrew Michael 513, 517 Ranke, Leopold von 70 Raphael 271 Ratschky, Joseph 122 Rautenstrauch, Franz Stephan 252 Raynal, Guillaume Thomas François 330 Reilly, Matthew 311 Reinhold, Johann 349 Reinhold, Karl Leonhard 213 Reitemeier, Johann Friedrich 137 Riccoboni, Francesco 450 Richardson, Samuel 396, 400, 465, 482 – 490 Richter, Joseph 290 f. Richter, Peter 483 Ricœur, Paul 37, 226 Ridinger, Johann Elias 429 – 439 Riedel, Wolfgang 562 Riemer, Friedrich Wilhelm 155 Robertson, William XVI Robespierre, Maximilien de 159 Röhling, Johann Christoph 360 Rolland, Romain 116 Rousseau, Jean-Jacques XV, XVII, 19, 74, 154 f., 177 – 179, 333, 465, 474, 480 Rouvillois, Frédéric 7 Ruysch, Frederik 629 – 637 Ryan, Marie-Laure XXII S Sainte-Albine, Pierre Rémond de 450 Saint-Pierre, Abbé de 408 Salzmann, Carl 74 Sauder, Gerhard 152
Sauer, August 500, 503, 508 f. Savary, Claude Étienne 358 Schäffter, Ortfried 349 Schapps, Wilhelm 173 Schärf, Christian 574 Scherer, Wilhelm 28 f. Schiller, Friedrich XV, 56 – 59, 66, 158, 181, 210, 360, 540, 543, 554 – 562, 606 Schirren, Thomas 528 Schlegel, Friedrich 155 Schlözer, August Ludwig von 599, 602 f., 609 – 611, 614 – 616 Schmid, Wolf 430 Schneider, Eulogius 248 Schneiders, Werner 22 f., 33 Schönwerth, Franz Xaver von 89 Schopenhauer, Arthur 412 Schöttker, Detlev 52 Schröckh, Johann Matthias 447 Schuhbauer, Thomas Joachim 120, 123 Schummel, Johann Gottlieb 72 Schumpeter, Joseph 643 Schütz, Philipp Balthasar Sinold von 510 – 525 Schwarz, Gottfried 286 f. Sedgwick, Eve Kosofsky 502 Seneca 562, 639 Sergeant, John 315 Séroux d›Agincourt, Jean Baptiste Louis Georges 38, 46, 49, 50 Shaftesbury 110, 192 – 201 Shakespeare, William 25, 199 Shaw, Thomas 358 Shelly, Mary 10 Sherlock, Thomas 271 f., 275, 284 Sidney, Philip 579 Siegrist, Christoph 501 Siskin, Clifford 235 Sloterdijk, Peter 183 – 189 Smith, Adam 638 – 648 Sokrates 196, 198 Solbrig, C. F. 295 Soni, Vivasvan 79 Sophokles 516
Personenregister
Spieß, Christian Heinrich 356 f., 360 – 364 Spittler, Ludwig Timotheus von 124 Stanislaw II. August 125 Stanzel, Franz XXIII Steele, Richard 574 f., 578 Steidele, Angela XVIII Sterne, Laurence XV Stiening, Gideon 482 f. Stingeder, Franz 240, 242 Storm, Theodor 70 Stoy, Sigmund 442 Strabo 358 Stuve, Johann 441, 445 Sulzer, Johann Georg 167 f., 450 Süskind, Patrick XVIII, 183 – 186, 189 Suttner, Bertha von 116 Swift, Jonathan 578 T Telemann, Georg Philipp 299 – 308 Ter-Nedden, Gisbert 482, 484, 486, 489 Terrasson, Jean 359, 513, 517, 519 Tezel, Johann 123 Theodor, Karl 120, 125 Thomasius XV, XIX Tieck, Ludwig 360, 362 Tiedemann, Dietrich 74 Tonger-Erk, Lily 425 Tufayl, Ibn 311 Turgot, Anne Robert Jacques XV U Unger, Rudolf 30 – 34 Unzer, Johann August 559 V Vega, Garcilaso Inca de la 330 Vellusig, Robert 483 Vergil 513
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Vico, Giambattista 100 Volney, Constantin François 159 Voltaire 38, 156 f., 230 f., 330, 403 – 4 11, 412 – 4 20, 522, 599 Voß, Julius von 342 W Wackenroder, Wilhelm Heinrich 360 Walser, Alissa 182 f., 188, 189 Walzel, Oskar 378 Warner, William 235 Weißhaupt, Adam 118 Wellbery, David 620 Wesley, Charles 279 Wessenberg, Ignaz Heinrich von 286 Wezel, Johann Karl 412 – 4 20 Whitefield, George 313, 315 White, Hayden 37 Wieland, Christoph Martin 72, 360, 382 – 390, 412 – 4 20, 510 – 525, 526 – 535, 529, 542 f. Winckelmann, Johann Joachim 38, 43 – 51, 149, 156 f., 358 Winkfield, Unca Eliza 310, 315 – 317 Wittgenstein, Ludwig 640 Wolff, Christian 217 – 223 Woolston, Thomas 271, 275 Wundt, Max 218 X Xenophon 511 Z Zaupser, Andreas Dominikus 118 – 125 Zedler, Johann Heinrich 356 – 359 Zigler und Kliphausen, Heinrich Anselm von 516 Zschokke, Heinrich 346 Zückert, Johann Friedrich 562