Die Entdeckung der Textur: Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916 9783110916591, 9783484181342


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Table of contents :
Einleitung: Die Entdeckung der Textur Zur Begrifflichkeit und Methode der Untersuchung
1. Unverständlichkeit. Eine Hinführung
2. Unverständlichkeit - systematisch und historisch
3. Der historische Aspekt: Text und Diskurs
a) Zur Methode
b) Zum zeitlichen Rahmen
4. Der systematische Aspekt: Struktur und Textur
a) Einführung der Begriffe
b) Texte, die nicht verschwinden
5. Zur Gliederung
1. Kapitel: Paralyse Zur Genealogie moderner Prosatextur
1. Simulation und Referenz
a) Simulierter Wahnsinn im Text (Müller)
b) Heteronomie: Textur vs. Struktur (Sack)
c) Referenzlose Simulation (Adler)
2. Auswertung: Autonomie der Textur
2. Kapitel: Die Komplementärfarbe wird siegen Zum systematischen Ort des Unverständlichen im Programmdiskurs der Moderne
1. Einleitung (Klee)
2. An der Spitze des geistigen Dreiecks (Kandinsky)
3. Simultaner Historismus und Totalität des Kunstwerks (Einstein)
4. Blöcke von Irrationalem in die Wirklichkeit (Einstein)
5. Ausweitung und Auswertung
3. Kapitel: Das Sternspiel Vom Wuchern der Textur (Däubler)
1. Die Textur der >Schraube
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Die Entdeckung der Textur: Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916
 9783110916591, 9783484181342

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band 134

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Moritz Baßler

Die Entdeckung der Textur Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Die Arbeit wurde gefördert mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Meinem Vater

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur : Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916/ Moritz Bassler. - Tübingen : Niemeyer, 1994 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 134) NE:GT ISBN 3-484-18134-6

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Es war, als hätten sie urplötzlich vieles, vieles überhaupt noch nie begriffen. (Robert Waiser, Der Räuber)

Inhalt EINLEITUNG:

Die Entdeckung der Textur Zur Begrifflichkeit und Methode der Untersuchung 1. Unverständlichkeit. Eine Hinführung

i

2. Unverständlichkeit - systematisch und historisch

4

3. Der historische Aspekt: Text und Diskurs

7

a) Zur Methode b) Zum zeitlichen Rahmen

4. Der systematische Aspekt: Struktur und Textur a) Einführung der Begriffe b) Texte, die nicht verschwinden

5. Zur Gliederung

7 IO

12 12 16

20

i. KAPITEL:

Paralyse Zur Genealogie moderner Prosatextur 1. Simulation und Referenz

23

a) Simulierter Wahnsinn im Text (Müller)

23

b) Heteronomie: Textur vs. Struktur (Sack) c) Referenzlose Simulation (Adler)

26 29

2. Auswertung: Autonomie der Textur

32

2. KAPITEL:

Die Komplementärfarbe wird siegen Zum systematischen Ort des Unverständlichen im Programmdiskurs der Moderne 1. Einleitung (Klee) 2. An der Spitze des geistigen Dreiecks (Kandinsky)

39 40

3. Simultaner Historismus und Totalität des Kunstwerks (Einstein) . .

46

4. Blöcke von Irrationalem in die Wirklichkeit (Einstein)

51

5. Ausweitung und Auswertung

56 VII

3· KAPITEL: Das Sternspiel Vom Wuchern der Textur (Däubler) 1. Die Textur der >Schraube
Schraube
Aktion< 1914 (Schaefer, Hardenberg, Hubermann) c) Auswertung d) Spuren der Ich-Textur (Kafka, Trakl, Benn)

93 99 102

5. KAPITEL

Der Pinguin-Effekt 1. Einführung des Begriffes (Th. Mann)

108

2. Beispiele (Waiser, Lasker-Schüler)

no

6. KAPITEL Seifenblasen Textur und Feuilleton 1. Seifenblasen (Musil, Kafka, Waiser)

114

2. Ein Sprengungsversuch (Döblin, Flake, Altenberg)

122

VIII

3- Expressionistisches Feuilleton (Großberger)

128

4. Auswertung

131

7. KAPITEL Rhetorischer Katalog 1. Historistischer und rhetorischer Katalog

136

2. Betitelt: Die Verlassenen. Rhetorischer Katalog und Interpretation (Waiser)

141

3. Produktiver Nihilismus (Ehrenstein, Benn)

148

a) Zusammenhang aus Nichtigkeiten (Ehrenstein)

148

b) Grüne Klöße für das Ich (Benn) b) Rönne - Subjekt und Textur (Benn)

150 155

8. KAPITEL Apodiktische Facetten Textur im diskursiven Text 1. Einführung

158

2. Der Snobb (Einstein)

162

a) Katastrophal sprechen: Revolteur und Snobb b) Zur Semiosis der apodiktischen Facetten c) In Dodekaedern denken: Neues diskursives Schreiben

162 164 168

3. Enharmonische Verwechselungen oder: Die Liebe in den Zeiten des historistischen Relativismus

i/o

4. Schluß

172

9. KAPITEL:

Zur Forschungslage 1. Der Historismus, die klassische Moderne und wir

173

2. Historismus und Textverfahren

177

3. Der Krisendiskurs. Zur Expressionismus-Forschung

179

4. Formale Ansätze zur Prosa der Moderne

184

5. Zur methodischen Abgrenzung

191

6. Schluß: Vom Verstehen der Textur

193 IX

Bibliographie

197

Primärliteratur

197

1. Texturierte Prosa 1910-1916 2. Weitere zitierte und verwendete Primärliteratur

197 201

Sekundärliteratur

204

Personen- und Werkindex

212

Textbeilage

215

EINLEITUNG DIE ENTDECKUNG DER TEXTUR Zur Begrifflichkeit und Methode der Untersuchung

i. Unverständlichkeit. Eine Hinführung »Na, was bedeutet das?« fragte das Ladenmädchen. Man hatte ihr eine kleine Tuschzeichnung gezeigt, und sie hatte irgendein Suchbild, eine versteckte Katze oder auch eine Anzüglichkeit darin vermutet, das Bild genau untersucht, sogar gegen das Licht gehalten, aber nichts gefunden. »Es bedeutet nichts Besonderes«, antwortete ich. »Es ist nur eine Landschaft. Da ist Boden und dort ist Himmel, und dort ist ein Weg...Ein gewöhnlicher Weg...« »Ja, das kann ich wohl sehen«, zischte sie in recht unfreundlichem Ton; »aber ich will wissen, was es bedeutet.«1

Sie fühlt sich verspottet und gerät in Wut, aber der Protagonist bleibt um die verlangte Bedeutung verlegen - »denn es bedeutete ja nichts!« Die Erzählung von Hjalmar Söderberg, in der sich all dies abspielt (>Die Tuschzeichnungs 1898), läßt dagegen an ihrer Bedeutsamkeit vom ersten Satz an keinen Zweifel: »An einem Apriltag vor vielen Jahren, in jener Zeit, da ich noch über den Sinn des Lebens grübelte [...]« - das Leben, so die Botschaft, ist so bedeutungslos wie die Tuschzeichnung; der gleichnamige Text allerdings - und hier geht die Fin de siecle-Erzählung nicht auf - hat einen höchst eindeutigen Sinn. - Gut zehn Jahre später hätte der schwedische Decadent seine Erzählung schon nicht mehr schreiben können. Das Ladenmädchen, dem sein Protagonist, sagen wir: ein abstraktes Aquarell von Kandinsky vorgelegt hätte, hätte vermutlich keine verborgene Bedeutung hinter Boden, Himmel und Weg mehr gesucht, sondern nach einem kurzen Blick auf Farben, Punkte, Linien und Flächen souverän geurteilt: moderne Kunst. Die Hermetik moderner Literatur ist ein Gemeinplatz. Was aber den gewöhnlichen Leser schrecken mag - daß er nämlich zunächst nichts versteht -, ist dem Literaturwissenschaftler vielmehr Anreiz und Einladung, ja sichert ihm geradezu seine Existenzberechtigung. Vor dem unverständlichen Text kann er

1

Hjalmar Söderberg, Die Tuschzeichnung [1898], in: H. S., Erzählungen, aus dem Schwedischen von H. Oplatka, S. 5-7; dort alle Zitate.

sein gelerntes Geschäft, die Interpretation, beginnen als »eine beständige Bewegung wachsender Vertraulichkeit und des Zuhauseseins. Obscuritas ist [ihm] selbst nichts anderes als die Einladung zu solcher Einhausung.«1 Gegen Hermetik gibt es Hermeneutik, Dunkelheit ist nur die Einladung zur Aufklärung, und noch der verschlossenste Text der Moderne läßt sich entschlüsseln, um hinfort einem professionellen Verstehen (oder Verstandenhaben) als Behausung zu dienen. Erheblich kühner ist demgegenüber die Behauptung, bestimmte Texte der klassischen Moderne seien eigentlich, d. h. ihrem Wesen nach, unverständlich.3 Wer diese These hält, gerät in Legitimatonszwänge. Er muß nicht nur das eigene Nicht-Verstehen thematisieren, sondern auch das vermeintliche Verständnis seiner Vorgänger relativieren. Als Beispiel mag die Forschung zu Carl Einstein dienen.4 Die Fachliteratur hat seit dem Ende der sechziger Jahre eine Fülle von Informationen zur Biographie dieses lange vernachlässigten Autors erarbeitet, Paraphrasen seiner Kunsttheorie, Thesen zu seiner Stellung innerhalb der deutschen und europäischen Avantgarde und Deutungsvorschläge vor allem zum >Bebuquin< vorgelegt. Über Carl Einstein ist also inzwischen einiges bekannt, manches steht zur Diskussion, die Forschungslage ist gut.5 Nur daß ihre Kenntnis den Leser genaugenommen nicht in die Lage versetzt, auch nur einen einzigen der schwierigen Texte Einsteins in seiner Gesamtheit wirklich zu verstehen. Die professionelle Lektüre ist, thesengeleitet, meist sehr selektiv verfahren; es wird exemplarisch zitiert, interpretiert, was gerade ins Konzept paßt, und anderes beiseite gelassen. Das ist arbeitspraktisch natürlich kaum anders möglich, bei jedem Gegenstand; dennoch scheint dieses Vorgehen gerade dem revolutionär Neuen, das den einzelnen Forscher an Einstein begeistert hatte, nicht gerecht zu werden. Dieses Neue liegt, so scheint es rückblickend, weniger in den erarbeiteten Ideen als vielmehr in der neuen Machart seiner Texte, in ihrer formalen Qualität, die zugleich bis heute das Verständnis so erschwert.

2

Hans-Georg Gadamer, Lyrik als Paradigma der Moderne [1968], in: H. G., Kleine Schriften IV: Variationen, Tübingen 1977, S. 249-255; S. 252. 3 So Gotthart Wunberg in: Hermetik - Änigmatik - Aphasie. Zur Lyrik der Moderne, in: D. Borchmeyer (Hg.), Poetik und Geschichte. Victor Zmegac zum 60. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 241-249; S. 241. Der Hofmannsthal-Forscher bezeichnet vor allem das >Lebensliedmessias neuer realitaetIndex Expressionismus< (Bibliographie der Beiträge in den Zeitschriften und Jahrbüchern des literarischen Expressionismus. 1910-1925, Hg. P. Raabe, 18 Bde.; Bd. 17/18, Nendeln 1972) als nützliches Hilfsmittel. Dort sind über 300 (!) Gattungen aufgelistet, in der Mehrzahl kurze Prosaformen; als besonders ergiebig erwies sich die Restkategorie »Prosa«. Hier ist auf Titel aus der jeweiligen Forschungsliteratur angespielt, speziell auf: Helmut Heißenbüttel, Ein Halbvergessener, Carl Einstein, in: H. H., Über Literatur, Ölten 1966, S. 40-46; und: Walter Huder, Eise Lasker-Schüler und Theodor Däubler. Zwei tragische Monster des poetischen Expressionismus, in: Neue Deutsche Hefte 31/1984, S. 696-716. Unter dieser Rubrik hatte nach 1945 Carola Giedion-Welcker einige dieser Autoren wieder publiziert (Poetes ä l'Ecart. Anthologie der Abseitigen, Bern 1946). Das Textkorpus erfaßt die angehängte Bibliographie texturierter Prosa 1910-1916.

2. Unverständlichkeit - systematisch und historisch Obwohl es weiterhin sinnvoll scheint, methodisch zwischen systematischen und historischen Fragestellungen zu unterscheiden, kann im Zuge eines allgemeinen Historismus, den auch die Postmoderne nicht dispensiert, sondern eher verabsolutiert hat, in unserer eigenen historischen Situation also, von einer strengen systematischen Trennbarkeit beider Kategorien nicht (oder nicht mehr) die Rede sein: kein System, das nicht seinen historischen Ort hätte, und keine Benennung eines historischen Zusammenhanges ohne systematische Differenzierung. Der Begriff der Unverständlichkeit, oben zunächst als empirisch gegebenes Rezeptionsphänomen eingeführt und instrumentalisiert als heuristisches Kriterium zur Auswahl des Textkorpus, ist darüber hinaus methodisch nur fruchtbar zu machen, wenn er sich als systematische und historische Kategorie darstellen läßt. Systematisch bedeutet Unverständlichkeit einen Störfall im Verstehensprozeß, ein Versagen der eingeführten Methode des Verstehens, der Hermeneutik. Vor einem unverständlichen Text ist offenbar der hermeneutische Zirkel zwischen dem ganzheitlichen Vorverständnis und der Läuterung zum adäquaten Verständnis durch die systematische Integration der Einzelbefunde irgendwo blockiert. Entweder bildet sich gar nicht erst ein Vorverständnis oder — wahrscheinlicher - die Teile sperren sich ganz oder teilweise der aufhebenden Integration durch einen zentralen Gesamtsinn. Im Gefolge des Poststrukturalismus haben sich nun mehrere theoretische Schulen etabliert, die der Hermeneutik ihr elementares Dogma, die Annahme jenes übergreifenden Gesamtsinnes, der bei jeder, besonders aber jeder literarischen Äußerung vorauszusetzen sei, von vornherein bestreiten. Geht der Hermeneut im Grunde immer von einem - wenn auch virtuell unabschließbaren Textsinn aus, hinter dem immer auch die Idee eines einheitlichen - wenn auch ineffabilen - Autorsubjektes steht10 und den zu verstehen er »guten Willens« ist," so leugnet der Dekonstruktivist schon die bloße Möglichkeit einer eindeutigen Sinnfixierung im Medium Sprache, ja eines ein-deutigen Sinns, eines abgeschlossenen Sprachspiels überhaupt. Paul de Man liest insbesondere den literarischen Text immer wieder als »Allegorie seiner eigenen epistemologi-

Mit Luhmanns Systemtheorie gesprochen, beschränkt der Hermeneut den Text also auf seinen Aspekt als »Handlung«, allemal eine »Reduktion der Komplexität«. (Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie [1984], Frankfurt ^988; bes. S. 191-241). Das wird ausdrücklich in: Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft, München 1975. Der »gute Wille« ist ein Zentralbegriff in der Debatte zwischen Gadamer und Derrida, dokumentiert in: Philippe Forget (Hg.), Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte, München 1984.

sehen Unverläßlichkeit«,12 und Werner Hamacher benennt die antihermeneutische Position konzise wie folgt: Was ein literarischer Text sagt, ist nicht schon - und vielleicht nie - was er bedeutet.'3

Was ein Text »sagt«, seine Aussage, denkt die Hermeneutik als von seinem Autor kontrollierte, monologische Werkbedeutung. Erst der »Tod« dieses Autors, wie ihn die Poststrukturalisten verkünden, gibt Raum für die verschiedenen Modelle von Intertextualität. Hier erst wird das »Werk«, in emphatischer Aktualisierung der verblaßten Metapher vom Gewebe, zum »Text« im strengen Sinne: not a line of words releasing a single >theological< meaning (the >message< of the Author-God) but a multi-dimensional space in which a variety of writings, none of them original, blend and clash. The text is a tissue of quotations drawn from the innumerable centers of culture.'4

Die Fäden, die dieses Gewebe konstituieren, können dabei vor allem als andere literarische Texte gedacht sein, wie bei den Intertextualitätstheoretikerinnen im engeren Sinne (Kristeva, Lachmann), oder eher als Diskurse aus allen möglichen Bereichen des »texte general« (Derrida), wie bei den diskursanalytischen Ansätzen in der Nachfolge Foucaults, besonders im New Historicism - jedenfalls geht mit solchen Modellen stets eine Abwertung des intendierten einen Textsinnes und damit des hermeneutischen Verstehens einher. Stattdessen bemüht man sich um Strategien der Texterklärung, die der ungeheuren »Sinnkomplexion«'' gerecht werden könnten, der sich gegenübersieht, wer den Textsinn nicht länger als paraphrasierbare »Minimalsequenz (als endgültig abgeschlossene Einheit)«,16 als einheitliche Idee bzw. ideologische Einheit begreifen und darstellen kann oder will.'7 Der Anspruch dieses poststrukturalistischen Textbegriffes ist - wie derjenige der Hermeneutik - universal, entsprechend sind die ihm verpflichteten 11

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Werner Hamacher, Unlesbarkeit, in: Paul de Man, Allegorien des Lesens [1979], aus dem Amerikanischen von W. Hamacher und P. Krumme, Frankfurt 1988, 8.7-26; S. 14. Hamacher bezieht sich hier auf »Nietzsches Text«. Werner Hamacher, Unlesbarkeit, S. 9. Roland Barthes;, The Death of the Author [1968], in: R. B., Image - Music - Text, Hg. und aus dem Französischen von S. Heath, New York 1977, S. 141-148; S. 146. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt 1990; S. 57. Julia Kristeva, Der geschlossene Text, in: Peter Zima (Hg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt 1977, S. 194-229; S. 195. Dies ist auch die Prämisse der New Historicists: »In such a textual space, so many cultural codes converge and interact that ideological coherence and stability are scarcely possible«. (Louis Montrose, Professing the Renaissance: The Poetics and Politics of Culture, in: H.Aram Veeser (Hg.), The New Historicism, New York/London 1989,8. 15-3658.22).

Theorien generell auf alle Texte anwendbar. Das vorliegende Buch ist in Kenntnis solcher theoretischen Positionen entstanden und verdankt ihnen manche Anregung. Im Unterschied zu ihnen beruht mein methodisches Vorgehen jedoch gerade NICHT auf einer antihermeneutischen Vorentscheidung. Das hermeneutische Interesse daran, zu verstehen, was ein Text sagt, gilt hier weiterhin als grundlegend und legitim für die Interpretation literarischer Texte. Erst wenn ein Text unverständlich ist, also nichts einigermaßen Deutliches mehr sagt, stellt sich notwendig die Folge- bzw. Ersatzfrage, was er denn dann noch bedeute. Das Verfahren ist also ein induktives: erst der Befund, daß sich eine historisch und systematisch genau verortbare Sorte von Texten - in signifikanter Abweichung von anderen Texten - einem hermeneutischen Zugriff sperrt, d. h. unverständlich ist (und bleibt), hat mich dazu bewogen, die Frage, was diese Texte sagen, zu stornieren und vorerst zu untersuchen, wie sie verfahren. Die hier vorgeschlagene Methode will demnach nicht als Konkurrenz, sondern als notwendige Ergänzung zu hermeneutischen Deutungsweisen verstanden sein. Das oben angedeutete »Einheitlichkeitsmodell des Verstehens liegt ja sämtlichen Überlegungen zur Hermeneutik zugrunde, die daher« - so fordert es erst jüngst eine Monographie zum Roman der Moderne - »um eine entscheidend neue und ihnen entgegengesetzte ergänzt werden müßte«.'8 Eine solche materialspezifische Ergänzung der Hermeneutik müßte eben dieses Einheitlichkeitsmodell vor Texten aufgeben, die ihm in ihrer Machart nicht entsprechen. Sie dürfte dann durchaus über die Verfahrensanalyse hinaus in einem zweiten Schritt auch überlegen, was die neuen Schreibweisen bedeuten (um vielleicht in einem dritten zur Benennung neuer Formen von Semiosis zu gelangen). Noch einmal: die weitgehend nicht-hermeneutische Methode dieser Studie verdankt sich keiner theoretischen Vorentscheidung, sondern ist eine Reaktion des Interpreten auf ein bestimmtes Material, auf eine bestimmte Sorte von Texten der klassischen Moderne; und hier kommt nun die Unverständlichkeit auch als historische Kategorie ins Spiel. Jeder Text läßt sich dekonstruieren, intertextuell verorten und in die Diskurse auflösen, die ihn konstituieren. Die allermeisten Texte lassen sich darüber hinaus jedoch auch hermeneutisch interpretieren, d. h. auf einer zunächst oft ganz einfachen Ebene >verstehenRealismus< mimetischer Prosa als Struktureffekt bezeichnet wird, mag zunächst verwundern, wird jedoch u.a. von der Systemtheorie bestätigt: »Eine Struktur besteht«, nach Luhmann, »in der Einschränkung der im System zugelassenen Relationen«.35 Insofern ist es nicht abwegig, auch die unausgesprochenen lexikalischen und syntagmatischen Auswahlregeln unter dem Begriff der Struktur zu fassen, die eine mimetische Funktion des Textes gewährleisten, indem sie Sprache so verknüpfen, daß die Referenzen ein vorstellbares Bild der Welt geben. »Die vermeintliche Wirklichkeitsnahe der Prosa ist ein Effekt ihrer [...] eingängigeren Macbart. [...] Realismus kennzeichnet die Art und Weise - genauer: die Leichtigkeit -, mit der ein Text gelesen werden kann.« 36 Indem neuere Theorie dies betont, gewinnt sie endlich den Horizont einer klassischen Moderne zurück, der ein solcher »Realismus« historisch und damit ersetzbar geworden war. Im kunstprogrammatischen Diskurs der emphatischen Moderne ist diese eingängigere Machart schließlich die einzig nicht mehr erlaubte; es »versteht sich von selbst«, daß ein Buch, das der Expressionist Ernst Stadier 1913 seinen Avantgarde-Freunden guten Gewissens empfehlen kann (Einsteins >Bebuquintiefer< ansetzende Textlinguistik hat sich bei der Beschreibung der literarischen Texturen, um die es hier geht, als wenig hilfreich erwiesen. Für die allgemeine Verfahrensanalyse reichen die Begrifflichkeiten von Grammatik und Rhetorik aus, und die spezifischen Befunde, die das Ergebnis meiner Untersuchung sind, erfordern m. E. auch neue, spezifisch literaturwissenschaftliche Bezeichnungen. Dieses Buch stellt also zugleich mit seinen Befunden auch eine Reihe von terminologischen Vorschlägen zur Diskussion. Es gehört zum Begriff der Textur, daß sie sich nicht in einer narrativen Struktur repräsentieren läßt. Deshalb läßt sich Paraphrase für die Zwecke dieser Untersuchung wie folgt instrumentalisieren: was paraphrasierbar ist an einem Text, soll als Struktur, was nicht paraphrasierbar ist, als Textur bezeichnet werden. Eine solche Paraphrase-Probe hat sich als eine Art Lackmus-Test für Verständlichkeit/Unverständlichkeit bewährt.4' Wenn auch generell gilt, daß 59 40

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Klaus Weimar, Enzyklopädie der Literaturwissenschaft, München 1980; § 294. »Unter Kode [wird in der Informationsästhetik] nicht allein ein Set von Kombinationsregeln verstanden (syntaktischer Kode), sondern auch das vorstrukturierte Inventar oder Repertoire von Zeichen (semantischer Kode)«. (Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 33). Auch Bode schlägt den »Versuch einer Inhaltsangabe oder Nacherzählung« vor, es sei dies ein »ganz unwissenschaftlicher, aber praxiserprobter >acid test« der Effektivität mimetischer Lesarten« (Ästhetik der Ambiguität, S. 63). Ich halte die ParaphraseProbe dagegen für nicht weniger wissenschaftlich als andere interpretative Operationen (Vgl. auch Klaus Weimar, Enzyklopädie der Literaturwissenschaft, § 304-306).

Strukturen und Texturen gemeinsam für traditionelle wie für moderne Texte konsekutiv sind, ist eine Abwertung der Struktur und gleichzeitige Aufwertung der Textur in der Moderne doch offensichtlich: die Paraphrase von >Madame Bovary< oder vom >Schimmelreiter< - etwa in einem Romanführer kann diese Werke zwar nicht hinreichend beschreiben, bietet aber doch eine Annäherung an ihre Textgestalt, die adäquater scheint als vergleichbare Inhaltsangaben von Werken wie dem >Ulysses< oder Kafkas >Schloßreine Texturnormalen< Textbauweisen und den an ihnen geschulten Rezeptionsweisen zu einer Blockade des Verständnisses führt und damit den Text »als Text, als >gewobenes Gemachtes«43 (d. i. als Textur) erst sichtbar macht, ist dabei durchaus noch hermeneutisch gedacht; denn dem Hermeneuten bedeutet »Verständnis eines Textes«: »den Leser für das einzunehmen, was der Text sagt, der eben damit selber verschwindet.«44 Erst ein Absehen vom Inhalt, d. h. eine »Besinnung auf den Text selbst, den modernen Prosa-Text wohlgemerkt, und seine Verfaßtheit öffnet« nun aber »den Zugang zu seinem ästhetischen Verständnis.«45 Das weiß natürlich auch Gadamer, wenn er sagt: Aber da gibt es die Literatur: Texte, die nicht verschwinden [...]. Sie sind immer erst im Zurückkommen auf sie eigentlich da. Das heißt aber, daß sie in ursprünglichem und eigentlichem Sinne Text sind.46

Nur zieht er daraus, soviel ich sehe, nirgends den konsequenten Schluß, daß die hermeneutische Lektüre einen Text eben niemals in seiner (material-) 42

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45 46

16

Gadamer sagt unmißverständlich: »auch wenn die Flucht aus dem Vorgeformten mit dem Grenzereignis der Unverständlichkeit ihr Spiel zu treiben beginnt, [...] [die] hermeneutische Aufgabe gegenüber Bild und Gedicht, die mit solchen Reizeffekten arbeiten, besteht eben gar nicht in der deskriptiven Erfassung dieser Reize, sondern in der deskriptiven Erfassung [...] [der] Implikation der Sinnerwartung, die mit jedem Sprachgebilde [...] wie eh und je gegeben ist.« (Lyrik als Paradigma der Moderne, S. 251, collagiert). Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 97. Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, in: Philippe Forget (Hg.), Text und Interpretation, S. 24-55; S. 46. Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 150. Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, S. 46.

ästhetischen Qualität, sondern immer (bloß) in seiner Qualität als Aussage erschließt. Man kann sogar noch radikaler formulieren: Der Hermeneutik kommt gerade in ihrer Fixiertheit auf Aussagen der Text überhaupt nur als unverständlicher vor. Im erfolgreichen Vollzug der hermeneutischen Methode, im Verstehen des Textes als Aussage verschwindet dieser nämlich. »Nur [...] wo das Verständnis nicht gelingen will« - im unverständlichen Text also »wird nach dem Wortlaut des Textes gefragt«, nach seiner Textur.47 Direkter Effekt der Unverständlichkeit ist somit die Aufhebung der »Sprachvergessenheit«, die für gewöhnlich »den Verständigungsvollzug trägt«.48 Erst Texte, die nicht mehr vorwiegend einer Aussage, einem >Inhalt< dienen, erst Texturen also, sind dem Hermeneuten überhaupt Texte - und zugleich das Ende seines Lateins. Woraus das Paradox folgt, daß der Hermeneut nur dort dauerhaft benötigt wird, wo er nicht mehr zuständig ist. Dies ist vor allem in jenem Sektor der Gutenberg-Galaxie der Fall, der »literarische Moderne« heißt. Texte außerhalb der klassischen Moderne fungieren wesentlich auch als Aussagen, Identifikationsmuster, übertragbare Strukturen und mimetische Darstellungen. Diese Qualität ist von ihrer ästhetischen Dimension nicht zu trennen,49 der Verzicht auf ein hermeneutisches Verstehen der Textaussage wäre der spezifischen Machart, sagen wir: eines Romanes von Fontäne oder Seghers ganz unangemessen. Unsinn produziert eine hermeneutische Lesart erst, wenn sie auf Texte angewandt wird, die so gemacht sind, daß sie als Aussagen nicht mehr funktionieren. »Ein Prosa-Text, der sich gegen mimetische Lesung sperrt, signalisiert mit jeder Schwierigkeit, die er vor dem >realistisch< lesenden Leser auftürmt, daß er auf etwas anderes hinaus wz'//.«5° Dieses Signal übersehen bis heute die zahllosen ein-deutigen Interpretationen von kanonischen Werken der klassischen Moderne (z. B. Kafkas oder Rilkes). Sie scheitern infolgedessen an den Klippen einer neuen, modernen Semiosis des Kunstwerks und türmen sich mit der Unzahl ihren konkurrierenden Gegenstücke zu jener Wreckage auf, die man Sekundärliteratur nennt. Es besteht die Hoffnung, daß die Entdeckung der Untiefen der Textur zu einer neuen

47 48 49

50

Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, S. 37. Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, S. 36/37. Nämlich praktisch. Systematisch nimmt schon Kants »Kritik der Urteilskraft« diese Trennung vor, nach der die ästhetische Qualität der allermeisten Kunstwerke unter den Begriff der »pulchritudo adhaerens« fällt, im Gegensatz zur »pulchritudo vaga«, die »keinen Begriff« (d. i. keinen Inhalt!) voraussetzt und von Kant nur als ornamental gedacht werden kann. (KdU § 16). Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 60. Ahnlich intentional drückt Wunberg den Sachverhalt aus: »[Texte wie Trakls «Klage» oder Bechers «Verfall»] behindern das Verständnis ihrer selbst mehr als Goethes «Füllest wieder Busch und Tal...», oder Mörikes «Auf eine Lampe». (Gotthart Wunberg, Hermetik - Änigmatik - Aphasie, S. 241).

Kartographierung der klassischen Moderne beitragen und den Interpreten in erfolgversprechendere Fahrwasser leiten könne. Von einer Entdeckung der Textur läßt sich mithin gleich in mehrfacher Hinsicht sprechen. Sie erfolgt erstens in der Literatur der klassischen Moderne als eine Verabschiedung >realistischer< Techniken und eine Besinnung auf das künstlerische Material. Die literarischen Versuche mit texturierter Prosa um 1910 lassen sich darin durchaus als Parallelerscheinungen zum vielbesprochenen Rückgang auf das Material in den anderen Künsten (Farbe, Werkstoff, Ton) lesen. Sie erfolgt zweitens in heutiger Theorie infolge der Einsicht in die begrenzte Zuständigkeit hermeneutischer Methodik. - Diese beiden Entdekkungen sind miteinander vermittelbar, und zwar über die Reaktualisierung eines Theoriestranges, der seinen Ausgang im russischen Formalismus der zehner Jahre nimmt. Autoren und Interpreten dieser Schule entdeckten simultan die »Kunst als Verfahren«. 5 ' Diese formalistische Linie setzt sich über den tschechischen, französischen und amerikanischen Strukturalismus fort bis in den Poststrukturalismus unserer Tage. Christoph Bode hat in seiner »Ästhetik der Ambiguität« eine umfassende Sichtung und Auswertung dieser Theorien mit spezifischer Ausrichtung auf die Kunst der klassischen Moderne im Geiste eines aufgeklärten Formalismus vorgenommen, auf die als theoretische Grundlegung hier ausdrücklich verwiesen sei.52 Ich versuche mit vorliegender Untersuchung eine historische und systematische Spezifizierung seiner Hauptthese, die da lautet: Ambiguität, so läßt sich hypothetisch formulieren, ist das Echtheitsmerkmal des modernen Sprachkunstwerks, Mal seiner Materialspezifik.55

Dabei ist »Ambiguität« vielleicht nicht der glücklichste Ausdruck für das Gemeinte, d. i. zur »Bezeichnung der Effekte noch nicht ausgemachter Semiosis« moderner Schreibweisen.54 Die Beschreibung solcher Effekte bleibt bei Bode (legitimerweise) exemplarisch, deduktiv, historisch wenig spezifiziert und sehr schematisch (seine Beispiele beschränken sich auf Joyce und Beckett). Ausgehend von seiner theoretischen Grundlegung muß die Devise im folgenden heißen: zurück zum Material, in diesem Fall zu den Texten der Avantgardezeit-

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Dokumentiert in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 3 i98i; darin: Viktor Sklovskij, Die Kunst als Verfahren [1916], aus dem Russischen von R. Fieguth, S. 5-35. s1 Bode diskutiert die Ergebnisse der formalistischen Tradition zusätzlich im Vergleich mit anderen wichtigen ästhetischen Theorien des Jahrhunderts (z. B. Semiotik, Informationsästhetik, Hermeneutik, Kritische Theorie, Konstanzer Schule u.a.) und legt damit eine Summa moderner Ästhetik vor, die als Grundlage zukünftiger Diskussionen dienen kann und sollte. 53 Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 81. 54 Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 142. 18

Schriften der zehner Jahre, um an ihnen die Verfahren und semiotischen Effekte dieser neuen Schreibweisen so präzise wie möglich zu beschreiben. Nun ist schon zu vermuten, daß die Hinwendung von der reinen Lehre zum konkreten historischen Text nicht gleich völlig neuartige Gebilde zutage fördert, reine Texturen, mit denen ein traditionelles Verständnis aber auch gar nichts mehr anzufangen wüßte. Schon das Spezifische von Literatur als SprachKunst im Unterschied zu den anderen Künsten spricht dagegen. Was heute als kanonische Malerei der klassischen Moderne gilt, ist bekanntlich wenigstens zum Teil wirklich >abstraktUlysses< und >Das Schloß< ja immerhin noch im Romanführer paraphrasiert (und sogar verfilmt), von den zahlreichen hermeneutischen Lektüren, die sie provozieren, ganz zu schweigen. Die meisten Autoren und Texte, von denen dieses Buch handelt, erscheinen demgegenüber in der Literaturgeschichte wenn überhaupt, dann als Marginalien, auch wenn sie die Avantgardezeitschriften ihrer Zeit füllten. Offenbar eignet sich Prosa also nicht in gleicher Weise zur >Abstraktion< wie Malerei oder selbst Lyrik. Stark texturierte Texte bieten dem Leser wenig Anschlußmöglichkeiten und haben sich auf Dauer nicht in gleicher Weise durchgesetzt wie abstrakte Techniken in der bildenden Kunst. Wenn es jedoch stimmt, daß solche >abstrakten< Texte ein notwendiges Durchgangsstadium moderner Prosaliteratur waren, dann ist ihre Beschreibung ein echtes Desiderat und verspricht mehr als nur Aufschluß über eine vergessene Art von Texten um 1910. Wenn die Entdeckung der Textur die Bedingung auch solcher modernen Prosa ist, die - trotzdem oder wieder - mit Strukturen arbeitet, könnte sich die systematische Auseinandersetzung mit solchen scheinbar marginalen Texten als Bedingung der Möglichkeit eines adäquaten Verständnisses von moderner Prosa überhaupt erweisen. Diese Hinweise sollen freilich weder Werturteile vorwegnehmen - woher wollte man den Mut nehmen, Texte zu werten, die man nicht versteht? - noch soll hier einfach eine historische Stufenfolge (etwa von der Art traditionelle Struktur - Textur - neue Struktur^ behauptet werden. Vermutlich verhalten sich die Dinge komplizierter: Strukturen büßen im Verlaufe einer Zeitspanne, die länger ist als die fünf, sechs Jahre, auf die sich diese Untersuchung konzentriert, bestimmte überkommene Funktionen ein und gewinnen andere Bedeutungen neu. Mischformen und Ungleichzeitigkeiten aller Art sind zu erwarten. In jedem Fall bleibt so etwas wie eine >reine TexturDie Schraube< ein typisches Beispiel eines durchgängig texturierten Textes vor; dabei stellt sich durchaus auch die Frage, in welcher Form Strukturelemente hier noch eine Rolle spielen, vor allem bei der Bestimmung möglicher Rezeptionsweisen. Kapitel 4 liest einen bestimmten Typus von Textur als Lösungsversuch zum erzähltechnischen Grundproblem, wie es sich aus dem kunstprogrammatischen Diskurs der emphatischen Moderne (Kapitel 2) ergibt. Das kurze fünfte Kapitel ist dem »Pinguin-Effekt« gewidmet, dem Minimalereignis von Textur im strukturierten Text. Zum systematischen Kern des Textur-Problems gelangen dann die Kapitel 7 und 8. An Texten Waisers, Benns und Einsteins werden hier die Verfahren der asyndetischen Reihung und apodiktischen Setzung auf ihre semantischen Effekte hin untersucht, wie sie auf die eine oder andere Weise — für alle Texturen konstitutiv sind.

5. Zur Gliederung Die Einleitung hat in Begrifflichkeit und Methode der Untersuchung jetzt soweit eingeführt, daß Kapitel i gleich medias in res beginnen kann. An dieser Stelle wird also auf den üblichen Forschungsüberblick verzichtet, er wird am Schluß des Buches nachgeholt (Kapitel 9). Es erwies sich als sinnvoll, These und Ansatz zunächst in extenso durchzuführen, um dann erst darzustellen, wie sich die bisherige Literatur dazu verhält. Diese Reihenfolge entspricht der Entstehung der Studie - ihre Thesen sind von Anfang an im Umgang mit den Texten und vor allem angesichts von Schwierigkeiten entwickelt worden, die in der verfügbaren Literatur kaum als solche benannt waren. Auch für den Leser dürfte es sich bewähren, von einer Diskussion anderslautender Ansätze solange verschont zu bleiben, bis er den Standort des Verfassers kennt und beurteilen kann. Konstitutive Literatur geht natürlich ohnehin laufend in den Haupttext ein und wird dort kommentiert.55 Die Kapitel i bis 8 fächern den Gegenstand dieser Studie nicht streng systematisch auf, etwa im Sinne einer Typologie, sondern nähern sich ihm von je verschiedenen Seiten. Jedes Kapitel setzt neu und an einer anderen Stelle an, um einen bestimmten Aspekt der Form und Semiosis texturierten Schreibens zu explizieren. Die einzelnen Aspekte müssen sich dabei gegenseitig ergänzen, ss

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Wer dennoch den orthodoxen Aufbau bevorzugt, lese nach der Einleitung zuerst Kapitel 9 und setze dann mit Kapitel i fort.

um sich nach und nach zu einem inhaltlich gefüllten Begriff von Textur zu runden. Die Anordnung ist also nicht zufällig, auch wenn die Kapitel zunächst nicht streng stufenweise aufeinander aufbauen.56 Nachdem die Gliederung oben schon einmal nach historischen und systematischen Schwerpunkten aufgeschlüsselt wurde, folgt hier abschließend eine Gesamtübersicht. Kapitel i (»Zur Genealogie moderner Prosatextur«) zeigt, wie in >strukturiertertexturierteUnverständlichkeit< in dieser Programmatik einen konstitutiven Ort einnimmt. Damit ist dieser Programmdiskurs dazu prädestiniert, selektiv die Produktion und Publikation unverständlicher Texturen zu befördern. Kapitel 3 (»Vom Wuchern der Textur«) demonstriert die Eigenschaften texturierter Prosa an einem einschlägigen Beispiel, mit besonderer Berücksichtigung ihrer möglichen Rezeption. Expliziert und belegt wird die These, daß texturierte Prosa nicht zentral inhaltlich konstituiert ist, sondern das Ergebnis eines Verfahrens, nach dem sich prinzipiell unendlich viele Texte generieren lassen. Die nachträgliche Sinnbelegung in der Rezeption erweist sich als vorhersagbar, aber problematisch. Kapitel 4 (»Die Ich-Textur«) deutet ein kleines Korpus texturierter Texte als Lösungsversuch zu dem systematischen Problem, das GANZ ANDERE zu erzählen. Expliziert und belegt wird die These, daß diese Texte zugleich das Subjekt und das Objekt der Erzählsituation auflösen wollen, ein Projekt, das jedoch aufgrund des doppelten Status des Subjektes als Erzählfunktion und Erzählgegenstand nicht gelingen kann. Ergebnis ist ein besonders obskurer Typ unverständlicher Textur. Nebenbei wird ein Überblick über das literarische Werk Heinrich Schaefers gegeben. Kapitel 5 (»Der Pinguin-Effekt«) schlägt einen Begriff für das Minimalereignis von Textur in einem Text vor. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten. Kapitel 6 (»Textur und Feuilleton«) verfolgt ein anderes Rezeptionsmuster für texturierte Prosa als Kapitel 2, das >ungleichzeitige< Muster >Feuilletonfehlverstandene< avantgardistische Versuche zurückgewiesen werden konnten. Kapitel 7 (»Rhetorischer Katalog«) präsentiert mit dem Katalog ein besonders einfaches, seit dem Fin de siecle verbreitetes Textverfahren. Expliziert und belegt wird die These, daß das Katalogverfahren in seiner >rhetorischen< Verwendung in der emphatischen Moderne paradigmatisch für texturiertes Schreiben überhaupt wird. In der Diskussion der Semiosis dieses Verfahrens in Abgrenzung zu seiner negativen Semantisierung in der Forschung kulminiert die Hauptthese dieses Buches. Kapitel 8 (»Textur im diskursiven Text«) demonstriert die - zunächst unwahrscheinliche - Möglichkeit einer diskursiven Verwendung texturierter Schreibweisen. Expliziert und belegt wird die These, daß eine spezifische Textur den überkommenen Regeln diskursiven Argumentierens zwar hohnspricht, aber eine dem transzendentalen Horizont umfassender Relativität angemessene diskursive Schreibweise darstellt. Hier wird schließlich auch der Begriff der »enharmonischen Verwechselung« erklärt. Kapitel 9 konfrontiert das bis dahin Erarbeitete mit dem Forschungsstand, womit die These der Untersuchung ihre endgültige Kontur gewinnt. Im Anhang finden sich eine Bibliographie texturierter Prosa der Jahre 1910 - 1916 sowie eine weitere Primär- und eine Sekundärbibliographie. Ein Personen- und Werkindex soll die Studie auch nach der Lektüre operabel halten. »Interpretieren sollte man nicht allein«, heißt der weiseste Paragraph in der »Enzyklopädie der Literaturwissenschaft«.57 Ich hatte das Glück, daß ich es nicht mußte. Dieses Buch zehrt von den Beiträgen, Gedanken und Diskussionen aller, die sich in Bayreuth, Berkeley, Burg/Dithmarschen, Campill, Paris und natürlich vor allem in Tübingen lebhaft mit dem Projekt auseinandergesetzt haben. Auch ihnen gehören die folgenden Seiten.'8

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Klaus Weimar, Enzyklopädie der Literaturwissenschaft, § 309. Die entstehende Arbeit haben die Freunde Christoph Brecht, Burkhard Schäfer und Marion Vogelsang kritisch gelesen und kommentiert. Freund Jan M. Peters weiß um den Geist, der hier einging. Meine Eltern Hans und Kati Baßler und Prof. Dr. Gotthart Wunberg waren immer und in allen Belangen für mich da. Allen sei hier und wird zu gegebener Zeit andernorts herzlich gedankt!

i. KAPITEL PARALYSE Zur Genealogie moderner Prosatextur der nerv dernervdernerv daswortdaswort dernervdaswort das wort (Ernst Jandl)

i. Simulation und Referenz a) Simulierter Wahnsinn im Text (Müller) Moderne Prosa hat viele Gestalten und noch mehr Vorläufer. Obwohl die Programmatik der Avantgarde um 1910 den radikalen Bruch mit der Tradition oft emphatisch fordert,1 kann natürlich keine Rede davon sein, daß moderne Prosatexturen einfach aus dem Nichts entstanden wären. Im folgenden wird anhand von drei Beispieltexten der Versuch unternommen, einen unter mehreren genealogischen Strängen texturierter Prosa nachzuzeichnen. Dabei geht es jedoch nicht um die Suche nach thematischen, programmatischen oder formalen Vorläufern, vielmehr soll modernen Texturen dort nachgespürt werden, wo sie in der Literatur der Jahrhundertwende erstmals als solche auffällig werden. Heuristischer Leitbegriff ist dabei zunächst wie gesagt die Unverständlichkeit: wo die strukturierte Paraphrase als Instrument des Verstehens beginnt, an Grenzen zu stoßen, wird die Suche nach entstehenden neuen Textverfahren zweckmäßig ansetzen können. Robert Müllers Erzählung >Das Grauen< (191l)1 erzählt von dem Arzt Heilemann, dessen Haus abbrennt. Nachdem er darin die halbverkohlte Leiche seiner jungen Frau gefunden hat, irrt er unter Schock durch die Nacht. Später wird er in eine Anstalt eingewiesen und bekannt als ein Verächter der Vernunft. Nach seiner Entlassung erliegt er bei Anlaß eines harmlosen Brandgeruches einem Schlaganfall. 1 2

Vgl. dazu ausführlich Kapitel 2. Robert Müller, Das Grauen, in: Der Brenner 2/1912, S. 752-766; hier zit. nach Michael Winkler (Hg.), Phantastische Erzählungen der Jahrhundertwende, Stuttgart 1982, S. 243-256. - Zu Robert Müller siehe: H. Kreuzer/G. Helmes (Hg.), Expressionismus - Aktivismus - Exotismus. Studien zum literarischen Werk R. Ms. (18871924), Paderborn '1989.

Schon diese knappe Paraphrase der Handlung läßt den Skopus der Erzählung erahnen: >Das Grauen< steht hier nicht für einen übersinnlichen Gruselanlaß, sondern für den medizinischen Befund des Schocks. Der Text ist um literarisches Beschreiben und Verstehen eines pathologischen Symptoms bemüht, und zwar auf dem Niveau nicht nur der Nervenheilkunde, sondern auch der >Seelenprosa< der Jahrhundertwende mit ihrem Fokus auf den etats d'ames.3 Das Symptom erfährt a) eine psychophysikalische Beschreibung, b) eine introspektive Simulation und c) eine theoretische Reflexion und Ausdeutung. Weder diese drei Modi noch auch die Erzählhaltungen (auktorial - personal), in denen sie gegeben werden, sind dabei im Text klar getrennt, die psychophysikalische, die introspektive und die ganz traditionelle auktoriale Beschreibung gehen vielfach ineinander über. Daß der Kranke, Heilemann, zugleich Arzt ist, macht auktoriale und personale Diagnose gleichwertig. So kann die Erzählung mit einer Sentenz des Erzählers beginnen und mit einer gleichsinnigen des Protagonisten enden. Für Doktor Heilemann führt die veränderte Wahrnehmung unter Schock zur theoretischen Konsequenz, zum »Kurssturz der Vernunft« (254), der Erzähler verfährt genau umgekehrt: er illustriert die These von der Marginalität der menschlichen Alltagsvernunft durch die Darstellung der Perzeption eines Wahnsinnigen. Die psychophysikalischen Passagen vermitteln beide Seiten, indem sie psychische Vorgänge als unpersönliche, d. h. vom bewußten Subjekt nicht kontrollierte darstellen, wie in folgender Passage: Er stürmte bergauf, bergab, merkte es nicht, seine Kniekehlen federten elastisch und mühelos, ein explosiver Bewegungstrieb pfropfte ihn rücksichtslos durch Gestrüpp und Laubwerk. Sein Gedächtnis lahmte, es sah keine zwei Sekunden hinter sich. Die Apperzeptionsspulen liefen ab wie ein Uhrwerk, der Zeiger glitt über die Eindrücke hin, die Feder schnappte ein, schnurrte ab, aber das Bewußtsein schlug nicht an. Der große Transmissionsriemen, der zum Zentrum führte, hing schlaff, nur die äußeren Bestandteile funktionierten in einem wirkungslosen Automatismus. Der Kleinbetrieb des Vorstellungsverlaufes vollzog sich sozusagen in einer Filiale der Erfahrung. Die von der Umgebung abgezielten Impressionen reihten sich auf, Stück um Stück, kristallisierten sich nicht um die Kontinuität persönlichen Erlebens. (246)

»Er«, der Protagonist, tritt, da er nicht »merkte«, was er tat, als handelndes und alsbald auch grammatikalisches - Subjekt ab und wird ersetzt durch seine physischen (Kniekehlen) und psychischen (Bewegungstrieb, Gedächtnis) Organe. Deren Automatismus wird ins Bild der Maschinerie gefaßt und schließlich rezeptionspsychologisch benannt. Das ist eine genaue literarische Umsetzung zeitgenössischer Psychophysik und als solche verständlich, wenn auch die Bilder an - literarischer, nicht medizinischer - Kühnheit nichts zu wünschen lassen. 3

Vgl. hierzu: Jens Malte Fischer, Fin de siecle. Kommentar zu einer Epoche, München 1978; bes. S. 71-78.

Anders ist es um die sprachliche Kühnheit der introspektiven Passagen bestellt, die die Visionen des Kranken personal wiedergeben: Der Boden unter den Füßen formte sich, wuchs, Schröbe wischten über die dämmerverhangenen Sträucher [...]. Sie flatterten auf, reihten sich an, eingesogen wie von einem rhythmischen Luftstrudel. Ein Strom gepferchter Gliedmassen ward von dem unsichtbaren Trichter glatt und stetig verschluckt. Es war das beständige Schließen und Schlucken eines runden Fischmaules, die langsam unaufhaltsame Kontraktion einer muskulösen Öffnung. [...] Plötzlich aber sprang es um. Über die Ränder des Trichters quoll es, unaufhörlich, unerschöpflich, spie einen glatten stetigen Strom gepferchter Gliedmassen aus, wuchs, überschwemmte, erstickte, weitete sich, wurde immer mächtiger und ungeheurer, und kam doch nicht näher, sondern löste sich in die Nacht hinein auf. Es schäumte über, flutete über mit einem stummen rhythmischen, behenden Brausen und brandete bis zu Heilemann heran, dem es die Brust abdrückte. (250)

Diese Passage nähert sich (wie schon eine ähnliche auf S. 246/247) der Unverständlichkeit insofern, als der Leser nicht weiß, was hier eigentlich beschrieben wird. Zwar wird er darüber informiert, daß Heilemann Angst und Brechreiz verspürt, aber die Passage bietet nicht, wie oben, die psychophysikalische Beschreibung eines solchen Zustandes, sondern sie simuliert die Wahrnehmung des Protagonisten, wie dieser - und nur dieser, daher der personale Modus sie hätte verbalisieren können. Neu und irritierend daran ist jedoch, daß gerade die Innensicht jenes Subjektes simuliert wird, dessen Funktionsweise die erste Passage ins Bild der (bewußtlosen) Maschinerie gefaßt hatte - personale Erzählung eines depersonalisierten Erlebens. Während in der ersten Passage die kühnen Bilder legitime erzählerische Mittel sind, einen pathologischen Seelenzustand zu beschreiben, dienen sie hier der Simulation eines solchen Zustandes. Soviel versteht man. Was man aber nicht recht versteht, ist, welcher Art die »von der Umgebung abgezielten Impressionen« (246) sind, die in dieser spezifischen »Folge der Bilder« (248) umgesetzt werden, unklar bleibt also der >Inhalt< der Fischmaul-Vision. Sie wird ausgegeben als introspektive Mimesis von Wahnsinn, dadurch aber in ihrer spezifischen Textur, im Gegensatz zur Automatismus-Passage, nicht verständlich. Im Symptom des Schocks, so behauptet die Erzählung, zeigt sich dem Betroffenen und dem, der ihn versteht, eine Wahrheit, die der gemeinen Vernunft abgeht.4 In traditioneller Prosa kann eine solche Wahrheit nur behauptet, aber nicht demonstriert werden. Die Erweiterung des Begriffes von Wirklichkeit durch die Psychophysik macht in fiktionaler Prosa daher neue Texturen erfor4

In Robert Müllers Roman >Tropen< (1915) ist diese Wahrheit den >primitiven Rassen< zugeschrieben: »Bei ihnen ist das Bewußtsein noch nicht im Gehirn vergesellschaftet, und Ihr erkennt es nicht, weil es keine Großstadt bildet, sondern als Provinzialismus in den einzelnen Gliedern sitzt. Dabei haben sie sich ein Element der Lust bewahrt, das Ihr drangegeben habt. Das Grauen.« (R. M., Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs, Hg. G. Helmes, Paderborn '1991; S. 69).

derlich, und zwar gerade weil sie ihre mimetische Funktion, die Abschilderung von Welt, weiter erfüllen will. Fast unmerklich schleicht sich dabei eine Aushöhlung eben dieser mimetischen Funktion ein, und zwar genau dort, wo eine Simulation abnormer Geisteszustände versucht wird. Robert Müller fügt in seinen Text eine Textur ein, die nicht nur unverständlich ist im Sinne der Frage, was denn hier beschrieben sei, sondern die gleichzeitig vom Ganzen der Erzählung aus nurmehr als ganze Passage, aber nicht mehr in ihrer spezifischen Gestalt funktionalisierbar ist. Ganz entgegen der Absicht und zunächst vermutlich unbemerkt tendiert eine bestimmte Erweiterung des deskriptiven Instrumentariums moderner Literatur der Jahrhundertwende also zu Texturen, die mimetische Funktion und hermeneutische Verstehbarkeit suspendieren. Am Rande sei bemerkt, daß die ungewöhnliche Textur einer »Folge der Bilder«, die sich als anschlußfähig für expressionistische Prosa erweisen wird, in diesem Text ausgelöst ist von einem »unsäglich entsetzlichen Bilde«, das ganz traditionell als Fin de siecle-Tableau gegeben wird: Da stand er, hatte einen bewegungslosen noch warmen Arm in seiner Hand und vor ihm lag ein unkenntlicher Frauenkörper, mit einem winzigen, unversehrt gebliebenen Restchen Leinwand, an dem noch die Glut fraß, bedeckt, während Haupt und linke Brust und Schulter, verbrannt und stellenweise ganz verkohlt, zerbröckelnd am Boden schleiften. (245)

Es sei festgehalten, daß es nicht nur die Seelenschilderung der Decadence-Literatur ist, die hier im frühen österreichischen Expressionismus so seltsame Blüten treibt, sondern auch ihre Tendenz zum ästhetisierten grausigen Tableau.5 b) Heteronomie: Textur vs. Struktur (Sack) Texturen der Art, wie sie in Robert Müllers Erzählung den Modus der Introspektion bestimmten, nehmen in frühexpressionistischer Prosa signifikant zu, wobei sich auch ihr Stellenwert allmählich wandelt. Sie werden durch Textsignale deutlich vom übrigen Text als etwas >anderes< abgesetzt und nehmen größeren Raum ein. Ihre Desintegration wird dadurch auffälliger, es kommt zu Spannungen in der Konzeption des Gesamttextes. Ein Beispiel: In Gustav Sacks Erzählung >Das Duell< (ipiq.)6 fordert ein junger Mann, der sich von der Geliebten eines älteren auf dessen Kosten hat aushaken lassen, ' Zur Illustration vgl. z. B. die Tote in Beer-Hofmanns >Tod Georgss das zweite >Interieur< in den >Farbenträumen< von Felix Dörmann, Stefan Georges >AlgabalSalammbö< her und wirkt noch fort in Werken wie Ernst Jüngers >In StahlgewitternDie ZerpressungIn der Strafkolonieanderen< Sprechen, auf das es dem Avantgardeautor Sack eigentlich ankommt. Dafür spricht weiter, daß die Passage auch Teil des nachgelassenen Romanfragmentes >ParalyseDuell< als Textschalter fungiert.8 Dieser Schalter scheint die ungewöhnliche, quasi-lyrische und kaum verständliche Textur in die Rahmenhandlung zurückzubinden, indem er sie als mimetisch, als Simulation sentimentaler Rede bestimmt. Diese Resemantisierung geht jedoch nicht auf, und so läßt sich umgekehrt sagen, daß der Schalter gerade dazu dient, in einer traditionellen Erzählung eine >de-semantisierte< Prosa freizusetzen. Die Gesamtkomposition der Erzählung wird damit heteronom, ihre Bedeutung äquivok: der traditionelle Rahmen qualifiziert die »Lyrismen« als sentimentalen Unsinn, diese den Rahmen jedoch als veraltete Prosa ab.9 Anders als in Robert Müllers >Grauen< trägt hier die mimetische Funktion nicht mehr die ganze Erzählung. Während Müllers Interesse der literarisch präzisen Deskription und Simulation des Schockzustandes galt, sprengt bei Gustav Sack die lyrische Textur ihre vorgeschobene Funktion als Mimesis von Sentimentalität und bekommt selbständige Bedeutung als ein literarisch willkommenes anderes Sprechen^ Das bedeutet nicht nur eine Akzentverschiebung von Inhaltlichem zu Formalem, sondern vor allem eine radikale Problematisierung der traditionellen 7

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Gustav Sack, Paralyse/Der Refraktär, Neuausgabe des Romanfragments und des Schauspiels mit einem Anhang von Karl Eibl, München 1971; die bewußte Passage findet sich auf den Seiten 13/14. In >Paralyse< endet das Kapitel »Das Turkosgrab« mit dem im >Duell< unterbrochenen Satz, und zwar wie folgt: »[...] bis in einer stolzen Kugel rötlichen Goldes der Tag über die Nebellachen rollt, die sich schwer und trag über die Lechauen gelagert haben und aus denen die Baumwipfel hervorlugen wie Klippen alten Basalts.« (Gustav Sack, Paralyse, S. 14). Auch hierzu die systemtheoretische Parallele: faßt man Rahmentext und Lynsmen als zwei Systeme auf, so bedeutet die Penetration des einen aus der Sicht des jeweils anderen »unfaßbare Komplexität, also Unordnung«. Ihre »Elemente bedeuten daher, obwohl sie als Ereignisse identisch sind, in den beteiligten Systemen verschiedenes. Sie wählen jeweils andere Möglichkeiten aus und führen zu jeweils anderen Konsequenzen.« (Luhmann, Soziale Systeme; S. 391 u. 393).

Erzählstruktur. Im >Grauen< greift und befriedigt die Einordnung der unverständlichen Textur als Simulation einer psychischen Defizienz, weil die Gesamtstruktur des Textes in einer Deskription und Ausdeutung solcher Symptome problemlos aufgeht. Im >Duell< dagegen führt, wie wir sahen, die immanente, vom Rahmentext vorgegebene Deutung der »Lyrismen« zu einer unbefriedigenden Interpretation. Wertet man daraufhin diese Textur um zum eigentlichen Skopus der Erzählung, kommt man zu einem gegenteiligen Ergebnis: jetzt scheint der Rahmentext redundant. Die bloße Präsenz der Textur entwertet sozusagen die Struktur der ganzen Erzählung. Eine Entscheidung und damit eine eindeutige, zwingende Interpretation des Textes ist nicht mehr möglich. Mit anderen Worten: mit hermeneutischer Auslegung wird man Robert Müllers Erzählung in ihrem Skopus gerecht, Gustav Sacks Erzählung dagegen nicht. Die Entdeckung, daß solcherart als Mimesis von Bewußtsein eingeführte Textur zu zwei möglichen, aber einander ausschließenden Lesarten des Textes führt, ist nicht identisch mit Paul de Mans These, daß es zu jedem Text »zwei völlig kohärente, aber völlig inkompatible Lektüren« gebe.10 De Man beschreibt die lectio difficilior für jeden literarischen Text, die hier vorgetragene These dagegen einen historisch-systematischen Befund auf einer einfacheren Ebene, auf der Gustav Sacks Erzählung z. B. problemlos interpretierbar wäre, wären da nicht die anderthalb Seiten nicht-traditioneller Textur eingefügt. Es ist also die spezifische Machart dieses Textes, die ihn uneindeutig werden läßt, und diese Machart hat einen historisch bestimmbaren Ort. Es mußten zuerst in der Literatur der Jahrhundertwende Befunde der Psychophysik in Texturen umgesetzt werden. Als Simulation bestimmter Symptome von Nervenkrankheiten wurde mit diesen Texturen eine neue Art von Rede literaturfähig, mit deren Möglichkeiten alsbald unabhängig von ihrer Mimesisfunktion experimentiert werden konnte. Das >Paralysenur noch Textur< sind. Tatsächlich ist für 10

Paul de Man, Semiologie und Rhetorik, in: P.d.M., Allegorien des Lesens, Frankfurt 1988, S. 31-5158. 42.

die Avantgardezeitschriften des Frühexpressionismus eine Kurzprosa charakteristisch, die sich als literarisches Experiment mit texturierten Schreibweisen beschreiben läßt. Im Jahre 1916 veröffentlicht Paul Adler in der Aktion >Zwei Aufzeichnungen zu seinem ein Jahr zuvor erschienenen Buch >Nämlich.erwiesenen< Theorien hielten.« (Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, S. 37). 24 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, S. 36-43. Kandinsky widmet hier charakteristischerweise eine Fußnote solchen Naturwissenschaftlern von Rang, die 47

linearen Abfolge, die im Kapitel »Geistige Wendung« in Form einer Narration dargestellt ist. Dabei steht die Überlegenheit der eigenen Position an der Spitze des Dreiecks außer Frage. Für Einstein dagegen ist die avancierteste Haltung angesichts des positivistisch-relativistischen Historismus die des »Snobbs«. O entsetzliche Langeweile des Kreises, der alle Verschiedenheiten tötet, alles Gleiche als unendlich Verschiedenes bezeichnen läßt. Langeweile, die uns zur zerreißenden Differenzierung führt, entsetzliche Einsicht, daß alles nur Perspektive ist.2'

Die historistische Egalisierung der Fakten, so ließe sich paraphrasieren, verbunden mit dem Bewußtsein der Künstlichkeit aller Kategorien, mit deren Hilfe man »Gleiches« ordnen könnte, produziert Langeweile, ennui. Alles ist gleich viel und also gleich wenig wert. Der »Snobb« wählt nun selber und künstlich aus, macht Differenzierungen, stilisiert sich und die Fakten in eine bestimmte, aber beliebige Richtung. Dennoch kann er sich der Einsicht nicht entziehen, »daß alles nur Perspektive ist.« Es ist ohne weiteres klar, daß der systematische Ort dieser Überlegungen bei Nietzsche zu suchen ist. Der »Snobb« ist als derjenige, der sich in der absoluten Relativität eingerichtet hat, gleichsam die armselige Realausführung des Übermenschen. Einstein selber ist ein »Snobb« und sein Text bewußt ein Ergebnis des eben beschriebenen künstlichen Eklektizismus: Sind diese geschriebenen Worte nicht ein Beweis solch seelischer Verzerrung, wo alles von einem Punkt gesehen wird, wo der Reichtum zur Armut des einstelligen Schauens zwingt, wo die Masse der Erinnerung jagt und quält zum Originellen.1*

Dieses Bewußtsein macht den Text selbst natürlich zu einer höchst problematischen Angelegenheit: alle Aussagen werden relativiert, ja zurückgenommen, und noch meine mühsamen Paraphraseversuche zu den obigen Zitaten täuschen schwerlich darüber hinweg, daß der Text alles andere als diskursiv-eindeutig ist. Seine Dunkelheit ist dabei nicht wie bei Kandinsky das Ergebnis mangelnder begrifflicher Sorgfalt, sondern konsequent konstruierte Textstrategie. Kapitel 8 (»Apodiktische Facetten«) wird sich dieser Textur ausführlich widmen, an dieser Stelle der Arbeit müssen wir jedoch so tun, als könnten wir die Textaussagen auf traditionelle Weise ablesen und diskutieren. Meine

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sich ernsthaft mit spiritistischen Phänomenen auseinandergesetzt haben. (S. 41) Vgl. dazu ausführlich: Moritz Baßler, Lehnstühle werden verrückt, I.e. Carl Einstein, Der Snobb, in: Hyperion 8/1909, S. 172-176, Wiederabdruck in: Die Aktion 6/1916, Sp. 405-408 und in C. E., Anmerkungen, Berlin 1916; zit. nach C. E., Werke Bd. I, S. 23-27; S. 23. Carl Einstein, Der Snobb, S. 23/24; will sagen: Die Stoffülle des positivistischen Historismus (»Reichtum«, »Masse der Erinnerung«) zwingt den Snobb zur willkürlichen Beschränkung (»Armut des einstelligen Schauens«, »zum Originellen«), wenn Sinn entstehen soll.

Paraphrasen dienen dazu, die jeweiligen Zitate im diskursiven Zusammenhang dieses Kapitels operabel zu machen, wobei zugleich die Lesart präsentiert und zur Diskussion gestellt wird, in der sie diesem Zusammenhang eingefügt werden. Kandinsky stellt den Materialismus als bereits überwundenen, Einstein den Historismus als allererst zu überwindenden dar. Seine Diagnose des »Snobbismus« als einzig ehrliche Lebenshaltung des avantgardistischen Künstlers in der historistischen Situation führt zur Formulierung einer kunstprogrammatischen Aporie: Ein Gesetz, ein sichtbares, ist zu konstruieren, das uns trennt, das uns Glaube gibt, trotzdem es unsere Konstruktion ist.17

Paraphrase: Es ist Aufgabe des Künstlers, ein Kunstgebilde in die Welt zu setzen, das gesetzgebende Kraft hat, Wahrnehmung neu und verpflichtend zu organisieren (»das [für] uns trennt«) und Sinn zu stiften (»das uns Glaube gibt«). Wie kann es aber die zur Überwindung des Historismus nötige Autorität erlangen, da es ja »unsere Konstruktion« bleibt? Hier liegt offensichtlich ein Paradox vor, d. h. dieser Glaube an das eigene Gebilde ist nur durch eine (Selbst-) »Überrumpelung«28 möglich, indem man nämlich die Beliebigkeit seiner eigenen Auswahl und Organisation vergißt, deren Resultat das Kunstwerk ist. Eine zumindest theoretische Lösung dieses Problems bietet Einstein in einigen Texten an, die 1914 in der >Aktion< erscheinen (>Das GesetzTotalitätverstehen< Däublers Prosa hier, weil sie auf eine vergleichbare Weise unverständlich ist wie die Bilder Klees, auf die sie referiert. Dabei fällt auf, daß Däubler diese Bilder in der Beschreibung dynamisiert: »Rote Knospen [...] sind auf einmal da. [...] sie steigen bloß empor und sind schon Zwiebeltürmchen [...] geworden.« [Hervorhebungen M. B.]. D.h. er löst ihre einmalig so und so gegebene Gestalt, die in räumlichen Termini zu beschreiben wäre, in den Vorgang ihres Entstehens auf, in das Verfahren, nach dem sie zustandegekommen sind. Dabei ist dieses Verfahren im Text nicht auf ein bestimmtes Bild bezogen, sondern auf Klees Werk insgesamt. Däublers texturierte Einlassung auf die bildnerischen Verfahren Klees repräsentiert damit auch ein Hauptproblem des Texturbegriffes selbst.

3. Textur, Strukturen und Rezeptionsmuster in der >Schraube< Eine Textur ist beschreibbar über das Verfahren ihrer Herstellung. Dazu definiert man einen Thesaurus und Verknüpfungsregeln, wie oben für die >SchraubeDie Schraube< ist bereits ein extrem texturierter Text. Anders als die anderen zitierten Däublertexte wird er nicht mit einer verständlichen Passage eingeleitet, die den Referenzbezug sichern würde. >Die Schraube< beginnt schon als Textur. Um so dringender bleibt die Frage, wovon dieser Text denn nun eigentlich handelt oder was er soll. Eine Bestandsaufnahme der Worte, die in seine Textur verwoben sind, ergab wie gesagt einen begrenzten Thesaurus, dessen zentrale Elemente clusterartig die einzelnen Abschnitte dominieren. Insbesondere die drei Vokabeln STERN, FLÜGEL und SCHRAUBE mit ihren Ableitungen bestimmen weite Passagen, genauer die Abschnitte I, III, IV, VI und VII. Ergibt ihre ostinate Verwendung und Kombination mittels des beschriebenen Verfahrens über die vagen Gestaltähnlichkeiten hinaus irgendwelche inhaltlichen Aussagen, die festzuhalten wären? Es gibt ja durchaus Sätze, die formal über das rein Thetische hinausgehen, Konstruktionen wie die folgende: Es gibt Sterne mit vielen Flügeln, denn die Flügelzahl verändert sich, weil sie Tatsachen entscheidet, ( )

Es liegt ein hypotaktisches Gebilde mit zwei Kausalsätzen vor: A (HS), denn B (kausaler HS), weil C (kausaler NS). A ist eine thetische Setzung im beschriebenen Sinne. Diese Setzung wird nun, trotz des kausalen Modus, durch B in keiner Weise plausibler. Die »Flügelzahl verändert sich« ist eine weitere freie Setzung, ebenso C, sie entscheide Tatsachen. Die komplexe grammatische Struktur ist semantisch nicht gedeckt. In Abschnitt II herrscht ein signifikant anderes Vokabular vor als in den übrigen Teilen (Zentralbegriffe MÜHLE und MOND). Auch die Sprechweise scheint zu wechseln: Um alte Mühlen spukts, oft tuts der tote Müller selbst, auch der Böse hat dabei sein Spiel, weil der Wind mit dem Kreuze scherzt, weil ers umkehrt, auf den Kopf stellt (102)

Die Wendungen klingen volkstümlicher (»tuts«, »der Böse«) als die übrige Diktion, Begriffe und Fügungen stammen aus dem Bereich des Aberglaubens 67

und der Sage. Dennoch bleibt das Textverfahren unverändert, die Setzungen bleiben willkürlich, die komplexeren Verknüpfungen, etwa die temporalen und kausalen im obigen Zitat, grammatische Hülsen ohne Referenz. Sie haben keine systematische Bedeutung für den Text über den Satz hinaus, den sie konstituieren. Die Rede von verschiedenen Sprechweisen ist bei einem Text wie der >Schraube< also wenig hilfreich. Hier liegt keine Heteroglossie im Bakhtinschen Sinne vor, schon weil überhaupt keine Subjekte auszumachen sind, von denen aus die Textur organisiert wäre. Die Abschnitte I und II haben keine verschiedenen >SprecherSinn< zentral organisiert, weder von einem Subjekt noch von einem System aus. Erneut ist diese These von der Umfasserenden These poststrukturalistischer Theoretiker wie Barthes und Foucault abzusetzen, die das Autorsubjekt als zentrales, sinnstiftendes Prinzip des Textes, als Ursprung des Werkes, längst und generell verabschiedet haben.12 Der Texturbegriff beschreibt demgegenüber eine spezifische Verfahrensweise bestimmter moderner Literatur, zu deren Analyse u.a. der Subjektbegriff nicht mehr tauglich ist, und zwar gerade im Gegensatz zur traditionellen Literatur etwa des 19. Jahrhunderts. Wie stark jedoch die vorherrschende Auffassung von Texten auch in diesem Punkt vom Verständnis eben dieser traditionellen Literatur geprägt ist, zeigt der Begriff des »impliziten Autors«, in die Erzähltheorie eingeführt, um Strukturen von Erzähltexten zu beschreiben, die nicht (mehr) von einem Erzähler her organisiert sind. Booth definiert den impliziten Autor als das Selektionsprinzip des Textes: »The >implied author< chooses, consciously or unconsciously, what we read; [...] he is the sum of his own choices.«13 Das SubjektKontinuum, das über Figur und Erzähler aus dem Text hinaus zum Autor reicht, hat sich spätestens in dieser Hilfskonstruktion zum Dogma verselbständigt. Das beschriebene Selektionsprinzip konstituiert eben kein Subjekt, sondern eine Textur. Ich halte dafür, Subjektbegriffe wie »Erzähler« und »Autor« nur dort als textanalytische Begriffe zu verwenden, wo im Text tatsächlich ein Subjekt konstituiert wird, das als solches Gegenstand der Analyse sein soll. In allen anderen Fällen sind neutrale Verfahrensbegriffe zu bevorzugen. Textur besetzt traditionelle syntaktische Gefüge und wird von ihnen getragen. Dabei wird die semantische Komponente der Gefüge, z. B. daß Kausal12

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Roland Barthes, The Death of the Author [1968], in: R. B., Image-Music-Text, Hg. Stephen Heath, New York 1977, S. 142-148; Michel Foucault, Was ist ein Autor? [1969], in: M. F., Schriften zur Literatur, Frankfurt 1988, S. 7-31. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago/London 1961; S. 74/75.

sätze Begründungszusammenhänge stiften oder ein Personalpronomen eine Person konstituiert, weitgehend außer Kraft gesetzt. Damit ist eine wesentliche Eigenschaft der Textur benannt, mit der jedoch das individuelle Prosastück >Die Schraube< noch nicht zureichend beschrieben ist. Der ausführlich dargestellte konfigurative Nexus des Däublerschen Textverfahrens wird nämlich an einigen Stellen ergänzt und überlagert durch einen zweiten, vage finalen Nexus. Dem »Sternspiel« end- und richtungsloser Verknüpfung der Gestalten bzw. Worte wird im Text immer wieder eine Dynamik unterstellt und ein Vektor zugeordnet. Textsignal hierfür sind die Verbalsubstantive auf -ung. Den traditionellen Fundus (z. B. Hoffnung, Erwartung, Erfindung, Zielverheissung) ergänzen Neologismen Däublers wie »Sternverzackung«, »Tierung«, »Wesung« oder, besonders inflationär gebraucht, »Sternung«. Nun aber verheißt der Mensch ein eignes Sternbild: alle Wirbel der Schraube heißen Sternung: sämtliche Flüge über den Ozean heißen Sternung: unsre Flügelschläge durch die Luft heißen Sternung. (103)

Wiederum bleibt die semantische Bedeutung der auffälligen syntaktischen Fügung, hier über die Doppelpunkte, unklar. Das Wort »Sternung« ist eher als Nomen acti zu lesen denn als Nomen actionis: die Dynamik ist immer schon eine nominalisierte, nur als solche kann sie in Däublers statischem Stil figurieren, in einer Textur repräsentiert sein, die sich über Substantivzuordnungen konstituiert. Es ist bezeichnend, daß der dichteste Cluster solcher Nomina gerade im V. Abschnitt auftritt, der ganz aus Fragen besteht, dessen Setzungen also am wenigsten autoritär daherkommen. Das dynamische Moment, der Vektor, schlägt auch in Ansätzen zu rhetorischen Strukturen durch: wo von Verheißung, vom »Ende der Höllenangst«, von vorbedeuteter Ewigkeit (103) die Rede ist, werden Formen einer bekannten ideologischen Rhetorik zitiert, an die eine >gläubige< Lesart anknüpfen könnte. Solche Textsignale häufen sich am Ende der >SchraubeNordlichtNordlicht< in der Epentradition zu deuten. Q. S., Theodor Däubler. Zu Däublers Vorlesung am 22. November, in: Der Brenner 3/1912.3, S. 120-127). Arthur Moeller van den Brück, Gestaltende Deutsche (= Die Deutschen. Unsere Menschengeschichte, Bd. V), Minden o.J. [1907]; 8.298-304. - Carl Schmitt, Theodor Däublers »Nordlicht«. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes, München 1916, Neudruck Berlin 1991. Am ausführlichsten: Erhard Buschbeck, Die Sendung Theodor Däubler. Eine Streitschrift, Wien/Prag/Leipzig 1920. - Däubler war bei den deutschen Expressionisten

z. T. kaum verständliche Texte hervorgebracht, die sich zwar als Deutungen, als Exegese verstehen, den Däublerschen Text jedoch im wesentlichen als Ausgangspunkt und Zitatensteinbruch für die eigenen weltanschaulichen Entwürfe benutzen. Einzelinterpretationen, Interpretationen des Textes, gibt es in diesen Schriften kaum. Die gläubige Lesart ist aber keineswegs allein Sache der Zeitgenossen. Auch neuere Autoren schließen hier an, so deutet Rudolf Eppelsheimer noch 1968 ausführlich die »kosmische[ ] Christologie« Däublers,JO und erst vor kurzem hat Harald Kaas im Nachwort eines harmlosen Lyrik-Bändchens versucht, »Däublers gnostische Gleichung Licht = Weltinstinkt = Geist = Liebe« in einem breiten kulturellen Kontext plausibel zu machen.31 Das klingt dann z. B. so: Ständig vom Reichtum seiner eigenen unausschöpfbaren Kindheit zehrend, durchmaß er die Äonen zwischen Menschheitskindheit und Menschheitsende, Alpha und Omega gnostisch vereinigend - ein unter Taube verschlagener Sänger, ein Prophet unter Hartherzigen mit verschlossenen Ohren.32

Nur Theodor Sapper33 und Herbert Wehinger34 widmen sich genauer der Analyse sprachlicher Mittel, allerdings fast ausschließlich am Beispiel der Lyrik. Es wäre ein eigenes Projekt, die z. T. absurden Volten im einzelnen nachzuvollziehen, die die hermeneutischen Auslegungsversuche zu Däubler im Laufe der Rezeptionsgeschichte geschlagen haben. Nahezu alle Interpreten gehen jedoch, so groß die Unterschiede sonst sein mögen, von der Annahme eines zentralen Sinns aus, einer »Privatkosmogonie des Dichters«, die im »Mittelpunkt« aller seiner Texte stehen soll und die Beschäftigung mit ihnen motiviert.35

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allgegenwärtig. Die >Aktion< widmete 1916 »ein ganzes Heft dem großen Theodor Däubler« (Die Aktion 6/ 1916; Sp. 131). Rudolf Eppelsheimer, Mimesis und Imitatio Christi bei Loerke, Däubler, Morgenstern, Hölderlin, Bern 1968; S. 115. Harald Kaas, Aurora Borealis und Gnosis. Zur Dichtung Theodor Däublers, in: T. D., Der sternhelle Weg und andere Gedichte, Hg. H. K., München 1985; S. 127-142; S. 132. Harald Kaas, Aurora Borealis und Gnosis, S. 141. Theodor Sapper, Alle Glocken dieser Erde. Expressionistische Dichtung aus dem Donauraum, Wien 1974; darin: Die Lichtwelt Theodor Däublers, S. 45 - 59. Vom gleichen Autor: Einleitung, in: Theodor Däubler, Echo ohne Ende, Graz/Wien 1956, S. 5-27. Herbert Wehinger, Mythisierung und spekulative Vergeistigung. Anmerkungen zum Sprachstil Theodor Däublers, in: W. Methlagl (Hg.), Untersuchungen zum »Brenner«, Salzburg 1981, S. 201-217. Herbert Wehinger, Mythisierung und spekulative Vergeistigung, S. 201. Zu nennen wären noch die Dissertationen von Hannelore Wegener (Gehalt und Form von Theodor Däublers dichterischer Bilderwelt, Diss. Köln 1962), Reinhold Lohn, (Der bildhafte Ausdruck in den Dichtungen Theodor Däublers, Diss. Bonn 1957), Hans Eicke (Das Symbol bei Theodor Däubler, Diss. Berlin 1954). 75

Texturen haben keinen Mittelpunkt. Sie wuchern, d. h. sie breiten sich flächig und dezentral aus.36 Strukturen, wie sie dennoch in Texten wie denen Däublers immer vorhanden sind, erweisen sich als sekundär, weil das Vorverständnis, das sich an ihnen konstituiert, nicht qua Durchgang durch den hermeneutischen Zirkel zum Verständnis zu läutern ist. Sie strukturieren nicht den Text, sondern transportieren und gliedern nur die Textur. Zugleich provozieren sie traditionelle Lesarten, die aber von der Textur unterlaufen werden und daher letztlich inadäquat sind. Von den Interpreten haben vor allem Hanns Ulbricht und Thomas Rietzschel diese Strukturschwäche des Däublerschen Werkes erkannt und von einer gläubigen Lesart Abstand genommen. Sie schlagen statt dessen eine selektivästhetische Lektüre vor: [...] es müssen alle Interpretationen fehlgehen, die, auf die Bedeutung der Worte fixiert, m die verwirrenden Verse dunklen Tiefsinn zu legen suchen, statt in Rechnung zu stellen, daß sie oft nichts außer Musikalität, Klangharmonie erstreben.37

Alle Texte Däublers erwiesen sich, so Rietzschel, »am Ende als lyrischer Gemütsausdruck des künstlerischen Subjekts«.38 Der Vorschlag, dementsprechend die schönen Stellen aus diesem Werk zu seligieren und Däubler gegen den Strich als >Lyriker< (was immer darunter genauer zu verstehen sei) zu lesen,39 verzichtet natürlich ebenfalls auf eine umfassende Untersuchung der Textphänomene, insbesondere der irritierenden. Eine solche Lektüre muß für den Literaturwissenschaftler unbefriedigend bleiben, so legitim sie sonst für den Leser sein mag. Spannender wird die Lyrik-These schon, wenn man bedenkt, wie es immer wieder >lyrische< Texturen waren, die den Ort jenes anderen Sprechens bezeichneten: Klees reimende Unverständlichkeit, Sacks »Lyrismen«, die Gedichte im >Nämlich< Adlers und die Irrengesänge in Einsteins >G. F. R. G.lyrischen< Rede eine Affinität, die näher zu untersuchen wäre. Rietzschel hat an anderer Stelle die These aufgestellt, expressionistische Prosa sei »meist erzählende Lyrik oder lyrisierendes Erzählen«.40 Er begründet dies jedoch nicht anhand spezifischer Textverfahren, sondern nach den Hegeischen Gattungsbegriffen anhand der Sprechhaltung der Texte; die Expressionisten hätten demnach »die lyrische Methode im Hegeischen Sinne konsequent und besonders augenfällig auf ein 36

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Darin trifft sich der Textur-Begriff mit dem des »Rhizoms« bei Deleuze/Guattari (Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt 1976); vgl. ausführlich Kapitel 9. Thomas Rietzschel, Theodor Däubler, S. 58. Thomas Rietzschel, Theodor Däubler, S. 15. vgl. Thomas Rietzschel, Theodor Däubler, S. 115. Thomas Rietzschel, »Prosa wird wieder Dichtung«. Die lyrische Tendenz expressionistischen Erzählens, in: Weimarer Beiträge 25/1979.3, S. 75-89; S. 79.

episches Genre« übertragen, weil sie auch in der Prosa vorrangig ihre »subjektive Beziehung zu den Dingen« gestalteten.4' Dieser Argumentation entgeht, daß gerade texturierte Texte nicht mehr personal, d. h. als unmittelbarer Ausdruck eines Textsubjektes strukturiert und lesbar sind. Als »erzählende Lyrik« erscheinen Rietzschel neben texturierten Texten denn auch z. B. die Novellen Edschmids und Sternheims oder die Kurzromane Klabunds, für meine Begriffe deutlich strukturierte und verständliche Texte, die durchaus in der erzählepischen Tradition zu deuten sind. Rietzschels Begriff trägt damit zur Klärung der spezifischen Differenz, um die es hier geht, wenig bei. Dennoch ist Rietzschel diese Differenz aufgefallen. Autoren wie »Heym, Sack, Rheiner, Benn, Becher oder Lasker-Schüler überwinden« seiner Ansicht nach »das >Inkubationsstadium< fast nie«, wie Döblin die unbewußte erste Gestaltungsphase des Textes bezeichnet hat. Ihre Gestaltung bleibe so auf der Stufe des unbewußten Subjektiven stehen, während Autoren wie »Klabund, Edschmid, Kafka oder Meyrink« ein Mehr an objektivierender Gestaltung gelinge.42 Angesichts texturierter Texte verlegt sich Rietzschel auf die besondere Variante gläubiger Lesart, die in den Texturen das Abbild einer psychologischen Primärwirklichkeit sieht. Auch Däublers Prosaband >Mit silberner SichelDie Schraube< stammt, bezeichnet Rietzschel als »eine Folge lyrischer Impressionen«.43 Obwohl aber das Textverfahren Däublers durchaus mit lyrischen Mitteln wie Assonanzen arbeitet, kann man diese Gattungsbezeichnung für den Text nicht gelten lassen. Weder gibt er erkennbar einen Eindruck wieder, noch liegt es nahe, ihn als Ausdruck eines spezifischen »Unterbewußten« zu lesen. Was für eine Art von Lektüre kann man also den selektiven Lesarten gläubiger oder ästhetischer Spielart entgegenhalten? >Die Schraube< ist ein Prosatext, der ein spezifisches Vokabular in einem spezifischen Verfahren zu einer Textur verknüpft, die von rhetorischen Strukturen überformt ist. Diese sind jedoch nicht stark genug, die Texturphänomene in ein hermeneutisches Verstehen rückzubinden. Die thetischen Setzungen sind im einzelnen oft nachvollziehbar, stiften aber keine systematischen Konstrukte über den Satzzusammenhang hinaus. Die Einheit des Textes liegt demnach in diesem Verfahren und nicht in irgendeinem Signifikat (z. B. einem Inhalt, einem Subjekt, einer Theorie), auf das er verwiese. Das Verfahren der >Schraube< verweigert überkommene (kausale, psychologische, beschreibende) Zusammenhänge und stiftet neue. Ohne ideologische Botschaft, ohne programmatischen Subtext fällt dabei jeder so gestiftete Zusammenhang aus seiner momen41 42

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Thomas Rietzschel, »Prosa wird wieder Dichtung«, S. 83 und S. 79. Thomas Rietzschel, »Prosa wird wieder Dichtung«, S. 91; mit Bezug auf Alfred Döblin, Der Bau des epischen Werks [1929]. Thomas Rietzschel, Theodor Däubler, S. 158.

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tanen inhaltlichen Bedeutung gleichsam im Weiterlesen zurück in eine rein formale. Die Semiosis trägt immer nur einen Satz weit. So setzt der stark texturierte Text ein Spiel mit Unverständlichkeit und Verstehen in Gang, indem er zu bestimmten Lesarten verführt, nur um sie gleich wieder zu enttäuschen. Texturierte Texte, so mag das Zwischenergebnis lauten, eignen sich daher im Grunde nur für eine Rezeption in progress. Bei aller aufblitzenden Bedeutsamkeit und aller ästhetischen Kohärenz bleiben sie letztlich doch immer frappierend unverständlich.

4- KAPITEL GESICHTE(R) Die Ich-Textur Es geht doch meinerseel darum, mit Hilfe und aus einer Sache die Sache zu machen, die nur mit Hilfe dieser und aus dieser Sache heraus die Sache wäre, um die es ginge, wenn es Majestät nicht darum ginge, daraus eine Seele zu machen. (Oskar Pastior)

i. Die Aporie des setzenden Ich (Einstein) Der kunstprogrammatische Diskurs der emphatischen Moderne fordert vom Künstler mit dem Produzieren absoluter, völlig eigengesetzlicher Gebilde das Unmögliche. Die Aporie liegt darin, daß der Künstler aktiv nur an Be- und Erkanntes anknüpfen könnte, was er nicht soll, während das absolut Andere nur medial empfangen werden kann, wobei der Künstler passiv bliebe. Bereits im Ansatz jeden Versuches, im Sinne dieser paradoxen Programmatik praktisch zu werden, stößt der Prosaautor auf das Problem des Subjektes, das die »Blöcke von Irrationalem« gestalten soll. Ohne dieses Problem der formenden Instanz wäre die Produktion von eigengesetzlichen sprachlichen Gebilden eine weitgehend konstruktiv lösbare Aufgabe. Im Erzähltext entspricht dieser Instanz das Personalpronomen des erzählenden Ich oder auch eines personalen Er oder Sie. Damit ist traditionellerweise ein Subjekt repräsentiert, wobei als im Prinzip bekannt vorausgesetzt ist, was ein Subjekt sei. Erst von diesem oft unscheinbaren, aber immer sicheren und definierten Grund eines erzählenden Subjekts aus läßt sich im Erzähltext eine wie immer phantastisch und neu gestaltete Objektwelt setzen. Diese traditionelle Form des Subjekts als konsumtiver Bestandteil des Textes wird aber zum Hemmnis, sobald die Forderung nach dem Kunstwerk als formgewordene Transzendenz ergeht. Spielarten phantastischer Literatur, wie sie auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Konjunktur haben, lassen das erzählende Subjekt generell intakt und beschränken sich auf eine freie, eben >phantastische< Neugestaltung der Objektwelt.1 Gleiches gilt im Prinzip für Texte in der grotesken Tradition; 1

Tzvetan Todorov stellt ganz allgemein fest, daß »die Kategorie des Realen für [eine] Definition des Fantastischen grundlegend« ist. »Der Leser und der Held müssen [...] entscheiden, ob dieses oder jenes Phänomen der Realität oder dem Imaginären angehören, ob es also real ist oder nicht.« (T. T., Einführung in die fantastische Literatur [1970], aus dem Französischen von K. Kersten u.a., München 1972; S. 148) Eine fantastische Objektwelt fällt unter seine »du-Themen« (S. 112-125 u. S. 141/142). 79

da jedoch doch zu ihren Topoi immer schon die Verfremdung auch von Körperlichkeit gehört, kann hier das erzählende Subjekt bereits zum Gegenstand von Verwicklungen werden, sofern es auch als handelnde Figur im Text auftritt. Der Körper ist in solchen Fällen der Anteil des Subjektes an der verfremdeten Objektwelt. Phantastische und groteske Literatur können also Unverständliches präsentieren, das für den kunstprogrammatischen Diskurs um 1910 interessant ist, ohne dabei grundsätzlich mit traditionellen Erzähltechniken zu brechen.2 Der nächste, deutlich radikalere Schritt besteht darin, die Psyche des erzählenden Subjektes als anormale zu setzen, also z. B. ein geisteskrankes, träumendes oder berauschtes Subjekt zur Erzählinstanz zu machen.3 Diese Strategie führt zu Techniken der Simulation. Die in Kapitel i vorgeführten Beispiele konnten sowohl die radikalen erzähltechnischen Konsequenzen als auch die grundsätzlichen Schwierigkeiten einer Prosa skizzieren, die so verfährt. Das in seiner Rede simulierte >anormale< Subjekt bleibt eben in seiner Definition von einem >normalen< Subjektbegriff abhängig, die neuen Texturen bleiben als mimetische Repräsentationen (von Krankheit, Traum, Rausch) verständlich, auch wenn, wie gezeigt, eine referenzlose Simulation eine solche Lektüre im Grunde schon unterläuft. Zur unlösbaren Aporie wird das Problem der referenzlosen Simulation aber vor allem auf der Produzentenseite: wenn der Autor nicht selber die »Technik der Trance« beherrscht, mittels derer man das absolut Andere empfängt, wie kann er solche Zustände simulieren ohne Referenz auf das, was er vorgängig als Merkmale von Wahn, Traum oder Rausch erkannt hat? Letzlich geht die Forderung eben doch nicht nach Simulation, sondern nach form- und gesetzgebender Wirklichkeit des ganz Anderen. Carl Einstein, der konsequenteste Programmatiker dieser Aporie, hat sie im >Bebuquin< (1906—op)4 bereits früh auch literarisch gestaltet. Die »Dilettanten des Wunders«, Bebuquin und die übrigen Figuren des Romans, spielen sämtliche Alternativen durch, die der Zeit und besonders der Boheme nach 1900 zur überkommenen Wirklichkeit einfielen: Rausch, Traum, Wahnsinn, Artistik, Religion, Philosophie etc. Dabei ist der Romantext selbst immer gleich der Prüfstein, ob damit das absolut Andere als Kunstwerk jeweils gelungen ist oder nicht. So wird der Roman zur Repräsentation seines eigenen Scheiterns. Keiner 2

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Das gilt z. B. für die in zahlreichen expressionistischen Zeitschriften gedruckten Grotesken Mynonas. Dies entspräche in Todorovs Kategorien des Fantastischen in etwa den »ich-Themen« (Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, S. 97- 111 u. S. 141 / 142). Carl Einstein, Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, in: C. E., Werke Bd. I, S. 73-114. Der Roman wurde »geschrieben 1906/09« (S. 73). Die Kapitel 1-4 erschienen erstmals in: Die Opale 2/1907, S. 169-175, der erste vollständige Abdruck erschien in der Aktion 2/1912 (vgl. nähere Angaben S. 114) und gleichzeitig als Buch im Verlag Die Aktion, Berlin 1912.

Figur gelingt auf der Handlungsebene das Wunder, und folgerichtig weist der Text auch formal über eine allerdings außerordentlich groteske Prosa nicht hinaus. Ein kurzer Blick auf die Schmerzkakadu-Episode am Ende des achten Kapitels mag das verdeutlichen. Im Alkoholrausch gelingt einer Bargesellschaft ein kurzer Moment eines kollektiven >anderen< Zustandes: Jetzt bist du in die Träume gezogen. Schmerzkakadu los!< Der Giebel des Büfetts färbte sich bunt. Vogelaugen starrten, die Wände der Bar überzogen sich mit Vogelfedern, und man hörte ein Gerattel von Flügeln, man spürte, es wird geflogen, höher, wilder in den Wahnsinn. Die Schauspielerin schrie: >Drehbühne! Shakespeare bei Reinhardt!< und hielt krampfhaft ihre Handtasche. Die Flügel des Kakadu wurden mit Menschen angefüllt. [...] >Wir müssen auf die SinneKinder, im Himmel gibt's nur verzückte Augen. Wir müssen so genau sehen, daß darin alles Wissen steckt.< Aufgeregt starrte das Volk auf der Straße nach dem großen Tier, das in der Luft torkelte, und schrie: >Es kommt der Lebendigem Der Vogel schrie in Graurot: >Ich bin ein Beweis, es kann auch anders zugehen.< [...] Aber selbstverständlich, man fliegt nicht immer. Beim vierten Glas rohen Wiskys sitzt man wieder schwer.'

Die Gestaltung dieses Zustandes bedient sich traditioneller Mittel der Phantastik: es wird die metamorphotische Verwandlung der Bartheke in einen Vogel beschrieben, die durch eine Art Zauberformel ausgelöst wird (»Schmerzkakadu los!«). Der auktonale Erzähler berichtet die phantastischen Vorgänge als objektive, die kollektiv (durch »das Volk«) wahrnehmbar sind. Zugleich sind sie aber auf Figuren- und Erzählebene immer schon eingeordnet: es geht »in die Träume«, »in den Wahnsinn«, wiedergegeben ist also eine Vision, an deren Ursache das ernüchterte (und ernüchternde) Ende keinen Zweifel läßt. Diese traditionelle Konstellation von realistischem Rahmen und phantastischer Erzählung wird nun satirisch gebrochen durch die interpretierenden Ausrufe der Figuren. Böhms Insistieren auf der Bedeutsamkeit der Vision (»darin alles Wissen steckt«) als Transportmittel des ganz Anderen repräsentiert den Anspruch der Einsteinschen Programmatik: »im Himmel«, d. h. im Transzendenten, »genau sehen«, also visionär Formen schöpfen. Diese Interpretation, die ja die ersehnte wäre, wird jedoch konterkariert durch ihre - auch systematische Stellung zwischen den Deutungen der Schauspielerin und des Volkes. Fredegonde Perlenblick sieht in der Rauschvision den Triumph einer Illusionstechnik, die ihr vom zeitgenössischen Theater vertraut ist (»Shakespeare bei Reinhardt«), und das Volk glaubt gleich an die Ankunft des Messias (»Es

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Carl Einstein, Bebuquin, S. 91/92. 8l

kommt der Lebendige!«).6 Genau hier, zwischen artistischem Schein und religiöser Erfüllung, wäre das neue Kunstwerk anzusiedeln, das jedoch eben ausbleibt (wie der Messias), es sei denn als kurzfristige Illusion (wie im Theater). Die Vision selbst interpretiert sich zwar als »Beweis, es kann auch anders zugehen«, doch tut sie das in Form einer schlappen Synästhesie (»schrie in Graurot«), die schon 1906 kaum noch als sprachliche Kühnheit gelten kann, eben weil es hier keineswegs »anders zugeht« als in zahllosen Texten des Fin de siecle. Kühn montiert, von überraschenden Bildern, Aphorismen und sprachlichen Idiosynkrasien durchsetzt, ist der >Bebuquin< zwar mit Sicherheit die avancierteste Prosa, die in Deutschland vor 1910 zu lesen war, aber die formgewordene Transzendenz, das radikal neugesetzliche Kunstgebilde, wie es Einstein andernorts fordert, ist er nicht. Mit Bebuquin bleibt auch sein Autor, zumindest nach dem Maßstab seiner eigenen Kunsttheorie, ein »Phantast mit unzureichenden Mitteln«7 und ist sich dessen bewußt. Eine Passage zu Beginn des vierten Kapitels gestaltet in absurder, aber konsequenter Reduktion die paradoxe Situation des (Künstler-) Subjekts bei seiner Anstrengung, das ganz Andere aus sich heraus zu setzen. Seit Wochen starrte Bebuquin in einen Winkel seiner Stube, und er wollte den Winkel seiner Stube aus sich heraus beleben. [...] Aber sein erschöpfter Wille konnte nicht ein Stäubchen erzeugen, er konnte mit geschlossenen Augen nichts sehen.8

Die artistische creatio ex nihilo findet nicht statt. Natürlich wäre es auch hier ein Leichtes gewesen, ein phantastisches Wesen (etwa von der Art Nebukadnezar Böhms) in der Zimmerecke entstehen zu lassen, aber das bliebe eben erzählerisch im Rahmen traditionellster Phantastik. Die textuelle Repräsentation jenes Wesens, das Bebuquin erzeugen will, müßte aber als irrationaler Block die traditionelle Textur noch des phantastischen und grotesken Erzählens radikal sprengen. Einstein ist an dieser Aufgabe immer wieder gescheitert.9 Doch mangelt es im literarischen Archiv der zehner Jahre nicht an Texten, bei denen es sich im Winkel der Stube zu regen beginnt. Wo immer solche Texte über phantastisches Erzählen hinausweisen, wird mit der Objektwelt auch das betrachtende Subjekt und sein Bezug zu ihr problematisch.

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Subtext ist hier natürlich Flauberts >Coeur simples wo für Felicite, die Frau aus dem Volke, der Papagei Lulu zum Ebenbild des heiligen Geistes wird (bzw. sogar umgekehrt). Carl Einstein, Bebuquin, S. 81. Carl Einstein, Bebuquin, S. 80. vgl. noch einmal die Interpretation von >G. F. R.G.< in Kapitel 2. Einsteins Lebenswerk kann, wie im Kleinen schon der >BebuquinAktionIm Fenster erscheinendes Gesicht< (1914),'° reproduzieren die Stubenwinkelsituation auf das genaueste. Was will das Dach? Was hält mich fest? Was will im schiefen Dach das schwarze Öffnungsrund, mit blauem Blechtor überwölbt, das sich hinaus ins Wetter stemmt? Dort quillt und schwillt, dort schwimmt es, aus großen Wellenkreisen in immer kleinere sich ausziehend, zitternd herbei und will ins Rund, ins schwarze Fensterrund, donnernd getroffen zu sein vom blaugelben Lichtraum der besonnten Welt. Mein Kopf liegt fest. Mein Blick ist eingebannt. Dort nach dem schwarzen Fensterrund im schiefen Dache fiebert strömend hin die Luft und hält mich wehrlos gezogen. Ich brenne. Heiß wie Zinken der Pinzette stehen Strahlen meiner Augen, strecken hin und zögern her, strecken hin und zögern her, strecken hin und greifen spitz funkenklärend. (Z. 1-17)

Zunächst fällt auf, daß es hier, im Gegensatz zu anderen texturierten Texten, etwa der >SchraubebeschriebenIm Fenster erscheinendes Gesichtverstehen< (Dunkel vs. Licht, Erscheinung eines Gesichtes im Fenster), aber ihr Sinn bleibt ebenso dunkel wie der jener Motive, die man als blind bezeichnen müßte, wollte man den Text überhaupt als motivisch strukturierten lesen. Solche blinden Motive wären vor allem die Pinzettenstrahlen der Augen, das Brot und das brennende, festgebannte Ich. Dieses Ich taucht nach den ersten beiden Absätzen im Text nicht mehr auf. Dennoch bleibt das Geschehen als »Erscheinung« deutlich auf das Subjekt bezogen, dem es erscheint. Dem visionären, nicht-realistischen Geschehen korrespondiert ein visionäres, nicht-traditionelles Subjekt. Der Text hält zwischen beiden die Schwebe, indem er zwar die Konventionen des Erzählens formal einhält (ein Ich erzählt ein Geschehen), dabei aber nicht mehr auf eine >normale< Wirklichkeit rekurriert: weder begegnet hier ein normales Subjekt verwundert einer phantastischen Welt, noch wird das Subjekt als nicht-normales (wahnsinniges, träumendes, berauschtes) eingeführt, wodurch seine unkonventionelle Sicht der Objektwelt erklärbar würde. Genau dieser doppelte Referenzverzicht ist es, der den Leser so ratlos macht. Heinrich Schaefers >Im Fenster erscheinendes Gesicht< repräsentiert einen Typus unverständlicher Kurzprosa, der Mitte der zehner Jahre besonders in der >Aktion< stark vertreten ist. Ich bezeichne das Verfahren dieser Prosa als Ich-Textur. Es fällt auf, daß sich das generative Prinzip dieses Verfahrens nicht so einfach auf eine Formel bringen läßt wie das des Däublerschen Sternspiels. Der Grund dafür liegt in den relativ intakten Mustern traditionellen Erzählens: da es weiterhin so etwas wie eine epische Situation gibt, bestimmt diese einen Teil des Vokabulars (Dach, Fenster etc.), und da weiterhin eine Art Vorgang erzählt wird, bestimmt dieser zu einem Teil die jeweils vorgenommenen Verknüpfungen. Dennoch läßt sich ein texturtypischer Thesaurus in Ansätzen angeben: Körperteile, Farben, geometrische Formen und einfache Oppositionen (Licht/Dunkel) dominieren; und die Struktur des Erzählten trägt so wenig, daß die einzelnen Sätze in ihrer Fügung und die Verbindungen der Sätze untereinander immer den Charakter stipulativer Setzungen behalten, wenngleich deren Prinzip unklar bleibt. Chiffre für den Kollaps der Subjekt-Objekt-Konstellation in diesen Texten, die gleichwohl formal noch von einem Ich erzählt sind, ist mehrfach das se85

mantisch polyvalente Wort »Gesicht«.11 In Schaefers Text ist es mindestens dreideutig: erstens steht es als Synonym für »Erscheinung«, zweitens für das, was erscheint, ein Antlitz (»weißbleiches Gesicht, liderverwaschen und die roten Lippen verwischt in die weiße Bleiche«) - wobei das wiederholte Betonen des Verwischten auch für das Verwischen des Bedeutungsunterschiedes zwischen beiden steht -, und drittens bezeichnet »Gesicht« den Sinn, der die Erscheinung wahrnimmt, den Gesichtssinn des Ich, seine Augen, die im Text eine so unklare Rolle spielen. »Gesicht« meint also das Objekt des Textes (das erscheinende Antlitz), das Subjekt des Textes (den Sinn des Ich, dem es erscheint) und ihre Einheit (die Vision).12 Indem alle drei neuartig und ohne Referenz auf die traditionellen Formen von Welt, Subjekt und Wahrnehmung ausgeführt sind, bedeutet die »Gesicht«-Textur gegenüber phantastischem Erzählen und der Simulation der Rede irrer (etc.) Subjekte eine Radikalisierung. Mit dieser Textur ist die formale Gestaltung des ganz Anderen angestrebt, die Einlösung von Herwarth Waldens programmatischer Formulierung: Form ist die äußere Gestaltung der Gesichte als Ausdruck ihres inneren Lebens. [...] Ein Kunstwerk gestalten heißt ein Gesicht sichtbar machen.13

Damit ist allerdings noch keine Wertung ausgesprochen. Ein Gesicht ist kein Text; die neue Einheit im visionären Erlebnis verbleibt auf der Inhaltsebene, und es ist keineswegs klar, wie sich das hier gemeinte Neue zur Textur der Schaeferschen Prosa verhält. Die Beschreibung unklarer Vorgänge zwischen wabernden Gestalten und geometrischen Figuren bleibt formal eben doch eine traditionelle Beschreibung14 und reicht damit an die radikale Andersheit des Beschriebenen nicht heran. Den literarischen Gesicht-Texten fehlt jede Reflexion auf Schriftlichkeit, auf den eigenen Status als Text. Die stilistischen Auffälligkeiten der Textur, die Lyrismen und vor allem der exzessive Gebrauch des Partizip Präsens, wirken doch eher unbeholfen und jedenfalls als textuelle Repräsentationsformen eines ganz Anderen nicht ausreichend, also ungenügend. 11

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Vgl. zur Bedeutungsbreite von »Gesicht« das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 5, Leipzig 1897 (Nachdruck München 1984), Sp. 4087-4099. Buchstäblich enthält das Wort »Gesicht« außerdem sowohl das Personalpronomen des Subjekts (»GesICMt«) als auch dessen Reflexivum (»GeSICHt«). Herwarth Waiden, Das Begriffliche in der Dichtung, in: Der Sturm 9/1918, S. 66/67; zit. n. O. F. Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, S. 149-156; S. 149. Vgl. zu diesem Komplex auch das Kapitel >Augenmusik< in: Hermann Bahr, Expressionismus, S. 104-117. Das gilt vor allem im Gegensatz zu einer direkten optischen Umsetzung im Bild. Man könnte z. B. an Kandinskys zeitgleiche Bilder denken.

3- Das Unsagbare sagen. Zur Genese der Textur im Frühwerk Heinrich Schaefers MERKUR: Seit der vergangnen Woche fand ich keinen, Dem ich die Knochen hätte brechen können. [...] Halt dort! Wer geht dort? SOSIAS: Ich. MERKUR: Was für ein Ich * (Heinrich von Kleist, Amphitryon, 1,2)

Anhand der obsessiven frühen Prosatexte Schaefers läßt sich einiger Aufschluß über die Genese der Ich-Textur gewinnen, »...das Unsagbare sagen«, lautet schon das programmatische Motto der 1912/13 geschriebenen, aber erst 1918 erschienenen >Drei Erzählungen·«.I5 Die Erzählung >Augen< (S. 5-16) geht dieses Vorhaben zunächst mit den Mitteln konventioneller Phantastik an, wie bereits das Exordium deutlich macht: Sachlich will ich Bericht erstatten. Ich will das Wunderbare wunderbar sein lassen. (S. 5)

Ein intaktes Ich erzählt eine >erlebte< phantastische Begebenheit der spiritistisch-visionären Art. Die männliche Erzählerfigur entfremdet sich bei einem Vergnügungsabend in der Großstadt von ihrem sensiblen Freund, es kommt zum Zerwürfnis. Nachts im Bett (»>Zwölf - Uhr.normal< reflektierendem Ich und >anormaler< »Erscheinung der Außenwelt« (S. 8): Wie eine phosphorisch glänzende Halbmaske, hinter der ein Gesicht verborgen ist, hing die Erscheinung über mir. Ich wartete auf etwas Menschenähnliches. [...] Zwei helle Kugeln, beide mit einem schwarzen Fleck in der Mitte, schwebten über mir. Veränderung folgte auf Veränderung. Es war ein Gären und ein Kochen. Farben kamen auf. Die beiden dunklen Flecke blieben. Ein magischer Glanz lag auf den Seiten und verriet Wölbung. So schnell folgte Veränderung auf Veränderung, daß mein Blick sich verwirrte und mir nur die Ahnung eines ungeheuer ms Kleinste hinein geladenen Geschehens blieb und eines bösen Lauerns, das mir dort obenher drohe, und fragend erst, dann aber rufend, laut in mir das Wort rufend, kam mir die Erkenntnis: Augen! Das sind ja Augen! (S. 10)

So geht es, wie gesagt, über sechs Seiten. Die Ichkommentare halten den Text als phantastischen stets verständlich, wenn auch die ausgedehnte Beschreibung der Farben und Formen bereits erhebliche Eigendynamik entwickelt. Zur autonomen Textur führt dieses Verfahren erst in den späteren Kurztexten, die auf eine narrative Rahmung der »Gesichte« ebenso verzichten wie auf eine psychologische Motivation und Sinngebung und die vor allem das Ich aus seiner traditionellen berichtenden und kommentierenden Rolle weitestgehend befreien. Dieser Wegfall des konventionellen Rahmens bedeutet vor allem die Auflösung des ordnenden Erzählsubjekts und damit den Schritt von der strukturierten phantastischen Ich-Erzählung zu einer neuartigen Ich-Textur. >Das weiße Männchens die zweite Erzählung des Bandes (S. 17-28), beschreibt den Kampf des Ich-Erzählers mit seiner Ratio in Person eines kleinen weißen Männchens im eigenen Hirn; man könnte also Irren-Prosa erwarten, doch bleibt die Erzählung relativ intakt. »Das weiße Männchen sitzt im Hirngehäuse und hält die ganze vielverästelte Einrichtung in Ordnung.« (S. 20) Diese Ordnung wird als phantastische dreidimensionale Topographie ausführlich beschrieben, die entsprechenden Passagen sind, ähnlich den obigen Beschreibungen wabernder Visionen, als Vorläufer autonomer Texturen lesbar. Die Figur des kleinen Männchens, das in dieser überdimensionalen Körpertopographie waltet, steht in der grotesken Tradition.16 - Die dritte Erzählung, >Zerpressung< (S. 29-45), ist auktorial erzählt und erreicht den höchsten Abstraktionsgrad am Ende, wo nach Auslöschung der Person, eines von Wilden grausam gefolterten Weißen, die Zerpressung seines Körpers zu einem Ornament beschrieben wird. In allen drei frühen Erzählungen Schaefers sind es jeweils imaginierte Strukturen deformierter Körperlichkeit, deren obsessive Beschreibung texturnahe Prosa generiert. Die zerfließende, grotesk überzeichnete oder ornamental ver16

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Vgl. auch die Hirnlandschaft in Robert Musils gleichzeitigem Text >Über Robert Musils Bücher< (in: Der Lose Vogel 7/1913; auch in: R. M., Gesammelte Werke, Hg. Adolf Frise, Reinbek 1978, Bd. II, S. 995-1001).

formte Körperlichkeit steht metonymisch für die Deformation des erzählenden und erzählten Subjektes. Gerade weil es als Erzählfunktion doch immer noch intakt bleibt, muß es ersatzweise als objektivierter Erzählgegenstand (d. i. als Körper) neugesetzlich imaginiert werden. Daß diese neue Form dabei so oft in Gestalt grausamer Deformation eines Menschlichen daherkommt - »Ekelschwellen existieren für Schaefer nicht, oder werden lustvoll überwunden«' 7 mag auf seine Weise bezeichnend sein für ein artistisches Projekt, dessen erklärtes Ziel die radikale Neugestaltung des Humanen ist. Das »Unsagbare« liegt hier nah am Unsäglichen. Das gilt auch für Schaefers opus magnum, den Roman >Gefangenschaft< (geschrieben 1911-13, publiziert ebenfalls erst I9i8),' 8 ausgegeben als in der Todeszelle verfaßtes »autobiographisches Schriftwerk« eines Gattenmörders. Richard Grammen, ein Arzt, stolzer, aber verklemmter Egomane, wird mit einer Schauspielerin verheiratet, die sich als Nymphomanin erweist und ihn terrorisiert. Erst als er eine passendere Geliebte findet, ändert sich sein Verhältnis zur Sexualität. Als seine Frau schwanger wird, ermordet er sie brutal. Wieder wird die traditionelle Narration zum Transportmittel für Lust- und Gewaltphantasien, Visionen und pathologische Rede mit z. T. erheblichen sprachlichen Kühnheiten. »Schaefers Roman, ein ungeheuerlicher Solitär in der Prosa des Expressionismus, bleibt in seinem maniakalischen Wortwüten seinem Gegenstand nichts schuldig.«' 9 Das erzählende, im Kerker die eigene Geschichte niederschreibende Ich ist abwechselnd erinnerndes, träumendes, deutendes und zugleich erzähltes, erinnertes, geträumtes und gedeutetes Ich. Dabei wird an einigen reflektierenden Stellen nun auch der erkenntnistheoretische Ort der »Gesichte« oder, bescheidener, der bestimmende Einfluß einer Schopenhauer- und Nietzschelektüre auf Schaefers Prosa offensichtlich: Gelogen ist alles, was ich sage - Glaube mir keiner - Dunstnebel ist zwischen mir und den Dingen und quirlt mit Farben - Nichts weiß ich von den Dingen - Ich weiß nur meine Launen von den Dingen - Alle Dinge meines Bereiches haben das Gesicht von meinem Launenfarbennebel - - Weiter tragen - über alle Dinge werfen will ich den Machtbereich meiner Nebel - - - 20

Nun wird die Funktion der »Nebel« deutlicher, aus denen sich Heinrich Schaefers Gesichte(r) stets bilden.21 Sie meinen die Unzugänglichkeit der Dinge an 17

Jens Malte Fischer, Nachwort, in: Heinrich Schaefer, Prosa und Gedichte. Eine Auswahl, Hg. J. M. F., Siegen 1986 [= Vergessene Autoren der Moderne XX], S. 43-46; S. 45. Dieses Nachwort ist bis dato alles, was die Germanistik zu Heinrich Schaefer zu sagen hatte. 18 Heinrich Schaefer, Gefangenschaft, Berlin-Wilmersdorf 1918 [= Aktionsbücher der Aeternisten, Bd. 8]. 19 Jens Malte Fischer, Nachwort, S. 45. 2 ° Heinrich Schaefer, Gefangenschaft, S. 240. 11 Vgl. bes. Heinrich Schaefer, Aus Nebeln kommendes Gesicht, in: Die Aktion 6/ 1916, Sp. 549/550. Hier entspricht der Ablauf genau dem obigen Zitat: erst Nebel, dann 89

sich (Kant) und damit die Formbarkeit der Objektwelt durch den subjektiven Willen (Schopenhauer). Die so erfolgenden positiven Setzungen sind »Lügen« (Nietzsche). Auffällig an der zitierten Passage ist, daß der »Dunstnebel« das Ich zunächst passiv macht, indem er den Zugang zu »den Dingen« verwehrt. Im nächsten Schritt adaptiert das Ich dann aber den »Launenfarbennebel« als Teil seiner selbst, er bezeichnet jetzt den »Machtbereich« des aktiv setzenden Subjekts. Dieser Widerspruch verweist einmal mehr auf die Aporie des setzenden Ich: zwar hat es erkannt, daß die überkommene Dingwelt nicht die der Dinge an sich und also veränderbar, neu setzbar ist - der Wille dazu ist der »Wille zur Macht« des Avantgardisten -, aber es will ja gerade nichts bloß subjektiv Neues setzen, sondern etwas objektiv aus dem Primärwirklichen Empfangenes - wofür der passiv-kontemplative Kontakt zum Ding an sich eben doch Voraussetzung wäre. Zwischen dem inhibierenden »Dunstnebel« und dem »Launenfarbennebel« als Material subjektiver Gestaltung schwankt das gestaltenwollende Ich, zwischen einer Passivität, die doch nicht die des Visionärs ist, und einer Aktivität, die doch keine neuen Transzendenzen formt." Die erkenntnistheoretische Aporie des setzenden Ich wird auch schon im >Bebuquin< auf kantische Philosophie zurückgeführt. Das vierte Kapitel, das mit der gescheiterten Belebung des Stubenwinkels begann, endet mit einer Rede Böhms, der für weitere Versuche prophezeit: Kant wird gewiß eine große Rolle spielen. Merken Sie sich eins. Seine verführerische Bedeutung liegt darin, daß er Gleichgewicht zustande brachte zwischen Objekt und Subjekt. Aber eines, die Hauptsache, vergaß er: was wohl das Erkenntnistheorie treibende Subjekt macht, das eben Objekt und Subjekt konstatiert. Ist das wohl ein psychisches Ding an sich. Da steckt der Haken [.. .].23

Es ist immer wieder dasselbe Problem: wenigstens im Akt des visionären Erkennens eines Transzendenten müßte auch das setzende Ich die Qualität eines Dinges an sich haben. Schon das viel»gesichtige« Ich Crammens in >Gefangenschaft< verkörpert dieses Dilemma, seine Passivität (z. B. im Bett, im Gefängnis) wechselt immer wieder ab mit unerhörter Aktivität (z. B. Brutalitä-

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Farben, schließlich die Beschwörung durch das aktive Ich (»Es muß sein: Herauf! Herauf!«) und dann erscheint das »Gesicht«, im letzten Satz clusterartig sechsmal genannt. Vgl. auch die folgende Stelle in Robert Müllers >TropenWirklichkeit< des Beschriebenen bald ebenso müßig ist wie die nach der >wahren< Natur dieses Ich. »Gelogen ist alles, was ich sage«: das alte kretische Paradox enthebt Subjekt wie Objektwelt dem Legitimations- bzw. Referenzzwang einer Wahrheit gegenüber, die >an sich< nicht existiert. Noch die »Lüge«, das Setzen der Welt, erfolgt im Roman nicht durch ein souveränes Subjekt, sondern durch den »unreliable author« Grammen, der seine Autobiographie, bzw. seine Gesichte, in zweifelhafter Geistesverfassung im Gefängnis niederschreibt. In Jenseits von Gut und Böse< findet sich Nietzsches einschlägige Passage über das setzende Subjekt, des Inhalts, daß es eine Fälschung des Tatbestandes ist zu sagen: das Subjekt »ich« ist die Bedingung des Prädikats »denke«. Es denkt: aber daß dies »es« gerade jenes alte berühmte »Ich« sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine »unmittelbare Gewißheit«. Zuletzt ist schon mit diesem »es denkt« zu viel getan: schon dies »es« enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst.2*

Bei Heinrich Schaefer denkt es ohnehin eher selten und brüllt dafür um so mehr. Die Umsetzung dieser Philosophie in seinem frühen Roman setzt deshalb wiederum die gequälte Körperlichkeit für das Subjekt, zu dessen »Handlungen« auch der eigene Text gehört: Mein Leib ist die Erde. Einsam über der Erde steht mein Haupt. Dann steigt aus der Röhre, die aus meinem Leibe durch mein Haupt steht, Brüllen! Ich brüllt! Ich brüllt!

»Ich brüllt!« ist eine geeignete Kontamination im Sinne des Nietzsche-Aphorismus. Das Ich ist aktiv, aber in der dritten Person, also fremdbestimmt. Wenn sich dieses Paradoxon ereignet, kann das Ergebnis endlich auch ein neuartiges Wesen sein: Ich brüllt! Ich brüllt! Erst mädchenhaft schrill, dann mit männerhaftem Baß, dann tierisch und fremd und tierischer und fremder. Aus einem harten Baume fällt es auseinander, zersprengt sich und dehnt sich aus in einer Wolke und die Wolke regnet Wolken nieder. Plötzlich hat es sich losgerissen und ist ein Lebewesen für sich, mein Brüllen, und hält den gewölbelosen Raum über mir durchfüllt und liegt über mir als das Zweite, als das Fassende meines Hauptes und mein großer Freund. Fettig glänzt über mir sein rostig braunes Fell mit grünen Augen - 2 5

Aber das Tier, zu dem das Brüllen wird, bleibt ein unbeholfener Stellvertreter des Anderen (wie der Schoßhund Euphemias, der Böhm im >Bebuquin< aus dem Sprachrohr fällt, in das er »Ich suche das Wunder.« gebellt hatte);26 Cram-

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Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Erstes Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen, Aphorismus 17, in: KSA Bd. 5, S. 31. Heinrich Schaefer, Gefangenschaft, S. 273. Carl Einstein, Bebuquin, S. 75.

men muß eingestehen: »Ich kann das Schreien nicht schreiben. Es gibt keine Buchstaben dafür.«17 Das Brüllen als eigenes Wesen und die Gesichte(r) aus den Nebeln fungieren gleichermaßen als Stellvertreter der nicht-subjektiven Ich-Handlung, die der Text sein sollte. Heinrich Schaefer weiß, daß das nicht genügt, er ist durchaus auf der Suche nach »Buchstaben dafür«. >Gefangenschaft< steckt voller experimenteller Ansätze, auch sprachlich dem traditionellen Subjekt zu entkommen, um »das Unsagbare sagen« zu können. Das Ergebnis sind sprachlich-inhaltliche Monstrositäten, ein paar gute Ideen (»Ich brüllt!«) - und diese letzte Gestalt, in der ich stehe - ein sensibler Idiot - ah ba bi quo qua qua bi ba ba - Was weiter? - - -,28

4. Ich-Texturen a) Zusammenfassung Der Versuch, als »sensibler Idiot« sich selbst (Subjekt) und die Welt (Objekt) auf neuartige Weise in einer Erzählsituation zu vereinen, führt in der frühexpressionistischen Kurzprosa zu einer Reihe von Ich-Texturen, die allesamt als Lösungsversuche zum unlösbaren Problem jenes Subjektes zu lesen sind, das Subjekt und Objekt allererst und absolut neu setzen soll. Da für dieses »psychische Ding an sich« (Einstein) aber die »Buchstaben fehlen« (Schaefer), wird seine Repräsentation zum zentralen formalen Anliegen der Texte und zum Prüfstein ihres Gelingens. An Heinrich Schaefers Kurztext >Im Fenster erscheinendes Gesicht< wurden die typischen Merkmale der Ich-Textur demonstriert: - Es gibt eine epische Situation: das erzählende Ich ist Person im Text und verhält sich zum Erzählten. - Das GANZ ANDERE des Subjektes wird repräsentiert durch eine verfremdete Körperlichkeit. - Die Objektwelt wird entweder ebenfalls verfremdet (z. B. das gebärende Dach) oder durch abstrakte Formen und Farben repräsentiert. - Lyrismen und andere poetische Gestaltungsmittel geben dem Text, der inhaltlich auseinanderzufallen droht, ästhetische Kohärenz. Oft genug besteht der einzige >Inhalt< dieser Texte darin, daß Subjekt, Körper und Objekte sich anormal verhalten. So gerät die Erzählung zunächst inhaltlich in die Nähe unverständlicher Rede. Da Rahmungen wegfallen und die verbleibenden narrativen Elemente nicht tragen, überwiegen aber auch formal die 17 18

Heinrich Schaefer, Gefangenschaft, S. 173. Heinrich Schaefer, Gefangenschaft, S. 203.

texturtypischen Merkmale (unverständliche Fügungen, Wiederholung eines begrenzten Thesaurus, Lyrismen), und der Rezipient stellt sich die texturtypische Frage: Was soll das?29 Welche Lektüren lassen Texte wie >Im Fenster erscheinendes Gesicht< oder >Aus Nebeln erscheinendes Gesicht< zu? - Drei Antworten liegen nahe: man könnte sie erstens als moderne Version phantastischer Erzählungen lesen, zweitens als Ausdruck subjektiver Befindlichkeit oder drittens - wie vorgeführt - als Allegorie auf (bzw. Symptom für) ein erkenntnisoder kunsttheoretisches Dilemma. Die erste Lektüre, die auch von der Genese dieser Textsorte her naheliegt, stützt sich auf Worte wie »Gesicht« und »Erscheinung«, die das Dargestellte in einem bekannten phantastischen oder spiritistischen Kontext verorten. Damit wird das »Gesicht« vor allem als Objekt gelesen, die Aussage wäre etwa die, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gebe als eure Schulweisheit etc. Die zweite Lektüre stützt sich auf das im Text gegebene Ich und liest den Text als Erfahrungsbericht eines pathologischen, berauschten oder visionären Zustands. Die Dingwelt bliebe dann intakt, es würde vordringlich auf Abgründe des Subjekts hingewiesen; wir seien aus solchem Stoff wie dem zu Träumen etc. Die erste, phantastische Lektüre läßt das Subjekt, die zweite, psychologische, das Objekt im Prinzip intakt. Das skizzierte grundsätzlichere Darstellungsproblem ergibt sich erst, wenn man annimmt, daß sowohl Subjekt als auch Objektwelt neu konstituiert werden sollen, denn dann erhebt sich sofort die Frage: von wo aus und von wem? Die Antwort könnte wohl nur lauten: vom Kunstwerk, vom Text. Der Blick auf weitere Ich-Texturen der Zeit soll das Spektrum der in diesem Sinne angestrengten Lösungsversuche erweitern. b) Die Individualdeformation. Ich-Texturen in der >Aktion< 1914 (Schaefer, Hardenberg, Hubermann) Heinrich Schaefers erster publizierter Prosatext, Schöpferische Dehnung aus dem Dunkel< (1914), evoziert auf einer halben Spalte der >Aktion< eine Art Urknall des Ich (Beginn: »Auf Punkt, auf kleinstem Punkt zusammen mich einknüllend [...]«, Ende: »[...] und alles Ich die Welt —«).3° Was sich zunächst nach monistischer Allmachtsphantasie ä la Arno Holz anhört,3' erweist sich 29

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(im Gegensatz zur Frage des Hermeneuten [und des Ladenmädchens]: Was bedeutet das?). Heinrich Schaefer, Schöpferische Dehnung aus dem Dunkel, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 6Si. Gedacht ist an das Phantasus-Ich, das spätestens im Riesenphantasus die gesamte Erdund Menschheitsgeschichte durchläuft. Diese Tendenz, und mit ihr die zum Wuchern, ist aber schon im ersten Phantasus angelegt: »Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt

bei näherem Hinsehen als weitere Variation der »Gesicht«-Textur. Der »Dehnung« fehlt jede temporale (z. B. phylogenetische) Dimension, und das punktförmige Ich, das sich »schöpferisch« dehnt, ist nicht als etwas Geistiges repräsentiert, sondern wieder einmal als verfremdete Körperlichkeit: Der ich mich in mir vernichtet habe, alle Glieder, allen Leib und Eingeweide in mich zerbrochen und geballt - versteinter Ball mit allen zermahlenen Fleischsalzen, Knochenkörnern und Blutmehlen meiner selbst überall gleich gegenwärtig durchmischt Mich weiten nach allen Seiten mit gleicher Kraft [...].3* (Z. 18-24)

Das Ich ist sowohl in der vergangenen Ballung zum Punkt als auch in der aktuellen exzentrischen Weitung als das aktive Prinzip ausgewiesen. Wiederum bleibt aber die Frage, was dieses Ich denn sei. Als Gegenstand des Textes wird es zunächst mit Körperteilen identifiziert (»Ich gänzlich Mund - Ich gänzlich Brust -« etc., Z. 9/10). Wie schon im oben besprochenen Text changiert dabei auch hier die Rolle des Auges: es wird zunächst mit dem Ich gleichgesetzt (»Ich dunkles Auge gänzlich«, Z. 9) als wichtigstes Organ seiner Rezeptivität, das den Kontakt zu den »Formen der Dinge« garantiert,33 spielt dann bei der »schöpferischen Dehnung« des Fleischklumpensubjekts (Zitat oben) aber keine Rolle mehr; die Welt wird jetzt expansiv, nicht rezeptiv vereinnahmt. Dennoch erfolgt nicht etwa ein bloßer Umschlag vom Wahrnehmen zum Agieren. Das Verhältnis von Innen und Außen, des Ich zu den Dingen und des Körpers und seiner Sinne zum Ich bleibt unklar, obwohl offenbar zentrales Anliegen des Textes. Als Erzählfunktion dagegen bleibt das Ich intakt, auch wenn Schaefer gerade hier alles tut, um es seiner traditionellen Rolle zu entheben. Mit Hilfe seines notorischen Präsenspartizips verzichtet er weitgehend auf finite Verbformen - mit dem Effekt einer abgehackten Prosa voller Ellipsen. Doch diese äußerlichen Eingriffe tasten das Erzählprinzip nicht an. Ob es statt >ich runde mich< »mich rundend« heißt, bleibt letztlich unerheblich. In einem Satz wie »Und die Formen aller Dinge [...] sind Erinnerung mir und Hoffnung mir.« (Z. 12-17) entlarven sich die gezwungenen Avantgardismen schließlich als traditionellste Subjektprosa. Henriette Hardenbergs Prosastück >TröstungTröstungTröstung< ist keine allegorische Liebesgeschichte, obwohl Strukturansätze und Vokabular zunächst in diese Richtung deuten. Vielmehr liegt wieder ein unverständlicher Text vom Typ der Ich-Textur vor: intaktes Erzählen, ausgeführt von einem Ich, dessen Körper in eine unverständliche Landschaft mutiert ist, in der er sich von der übrigen, ebenso unverständlichen Welt nicht mehr deutlich unterscheiden läßt. Im Thesaurus überwiegen dementsprechend Körperteile und topographische Bestimmungen, als Besonderheit springen einige zusammengesetzte Neologismen ins Auge (»Strahlenwald«, »Sonnenfreund«, »Seidenauge«), und auch die bekannten einfachen Oppositionen finden sich wieder, wenn auch in der Gegenüberstellung oft leicht verschoben (gesund/das Kranke, Winter-Eisgefroren-kalt/warm-Sonne etc.). Die Erzähl- und Satzformen bleiben intakt, auf den Gesamttext bezogen aber funktional unterbestimmt; die einzelnen Aussagen ergeben kein Gesamtbild, sondern bleiben stipulativ und überraschend. Als besonders obskures Beispiel für die Ich-Textur sei schließlich Angela Hubermanns dreiteiliger Text >Das Gesicht< (i9i4) 35 vorgestellt. Eine Paraphrase erscheint unmöglich, es bleibt nach der ersten Lektüre ganz unklar, ob hier überhaupt etwas erzählt wird, geschweige denn welchen Inhalts. Erzählstrukturen sind kaum ausgebildet. - Wie orientiert man sich überhaupt in so einem Text? Zunächst prägen sich Auffälligkeiten des Thesaurus ein: wiederum sind Vokabeln der Körperlichkeit besonders prominent (Glieder, Magen, Nase, Leib, Kopf, Gedärme etc.), sodann religiöse Begriffe (Teufel, Gott, Buddhas, Christus etc.) und Begriffe zu Sinneswahrnehmungen (Licht), besonders aus dem Bereich der Musik (Ton, Töne, Harmonien, Orgelflöten, Tanz, Reigen, Akkorde, Symphonien etc.). Weiter merkt man sich einzelne eindrückliche Stellen, vor allem solche, die vorstellbare, wenngleich seltsame Bilder ergeben; z. B. die Stelle mit den Buddhas, die »so merkwürdig mit den Köpfen [wackeln], daß die Luft immer kälter wird und gefriert« (Z. 16-18), oder die von »den Gesichtern meiner Freunde, denen Flammenbündel aus den Mündern flössen« (Z. 22-24). Auch Cluster prägen sich ein, so der Absatz mit den »Ur-«worten (Z. 30/31), darüber hinaus bleibt der Eindruck einer unscharfen Dynamik, hervorgerufen durch Worte wie »Riesenwellen«, »Kaskade«, »Tanz«, »wirbelnde Kreise«, »Wirbel«, »wirbelnde Ekstasen« und zahlreiche Verben und Attribute aus den gleichen Wortfeldern. Riesenwellen wirft der Spiegel an den Rahmen, die mit schrillem Knall zerschellen. 35

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Angela Hubermann, Das Gesicht, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 553-555.

Geheimnisse, wie große Katzen, laufen geduckt und leicht durch die Menschen. Die Lichter der Liqueure schießen in Streifen durch die Luft. Ich denke meinem Blute nach, und wie toll stürzt die Kaskade in mein Herz. (Z-i-7)

Gleich zu Beginn werden die typischen Merkmale der Ich-Textur exponiert: eine verfremdete, sich selbständig gebärdende Objektwelt Bebuquinscher Provenienz, in der allerdings auch geistige Dinge (»Geheimnisse«) rangieren, dann Auftritt des erzählenden Ich, das sich als Körper denkt (häufige Fügung: Körperteil mit Possessivpronomen); dazu rhythmische, bildhafte Sprache voller Alliterationen und Vokalismen. Das erzählende Ich in seiner verfremdeten Körperlichkeit ist wieder passiv (den »Teufel[n]«, vor allem aber dem Treiben der eigenen autonomen Teile gegenüber) und aktives, absolutes Schöpfungsprinzip zugleich: Teufel beklopfen meine Glieder, werfen sich der Länge nach über sie, und mein Magen ist die Sonne, die ihren Tanz bestrahlt, die mit ihren Lichtfingern meine Nase umschließt, daß aus dem Kopfende der Urton quillt. Meine Hände sind Gotteshände, und alles ist erschaffen von mir, aber meine Ohnmacht ist die Ohnmacht des Gottes, der seine Gedanken in Buddhas schließen muß. (Z. 8-16)

Welches »Gesicht« dieses aktiv-passive Ich aber diesmal hervorbringt, bleibt im Gegensatz zu den Schaefer-Gesichten in Hubermanns extrem texturiertem Text undeutlich. Auch hier gibt es eine zentrale Passage im Präteritum, in der sich die Wirbel-Vokabeln häufen und offenbar eine Art Erscheinung evozieren sollen (schon Z. 24-33, dann Z. 48-96): Flimmerndes Lichtfluten drang auf mich ein, bis ich leiser Töne gewahr wurde, die den wirbelnden Kreisen entblühten. Das Denken machte sie groß und mächtig, so daß ich meinen Kopf immer mehr meinen Schultern anvertraute und im stummen Erstaunen den Tanzfuß meines Herzens der grausigen Musik folgen ließ. Doch nur teilweise neigte dies jenem Reigen zu, jeder Teil an mir wollte sein Recht, und die Gedärme wirbelten wie Fahnenbänder um meine Seele, die hinter dem Magenberg ängstlich geduckt ihren Morgen erwartete. (Z. 48-59)

Reize der Außenwelt (»Lichtfluten«, »Töne«) affizieren das Ich. Sie entstammen, noch einmal kantisch gesprochen, auf eine ungeklärte Weise der Welt des Dinges an sich, was der ersten Bedeutung der Nebel (Schaefer) bzw. Wirbel (Hubermann) entspricht. Sogleich übernimmt jetzt das Subjekt die Initiative 97

(»Das Denken machte sie groß und mächtig«), gestaltet sozusagen aktiv die direkte Empirie der Vision. Doch was ist dieses Subjekt? Es zerfällt in Körperund andere Teile und wird dabei selbst Teil des Wirbels, den es erfährt und erzeugt (»und die Gedärme wirbelten wie Fahnenbänder um meine Seele«). Unbeteiligt ist allein die traditionell (selbst-)beobachtende Ratio: »nur der Kopf sollte leer ausgehn« (Z. 62). Manche dieser Bilder (»Flammenbündel aus den Mündern«, »Töne aus Orgelflöten ziehen wie Bänder«, »Strahlen, die von Gottes Thron uns treffen«) lassen eine mittelalterliche Ikonographie assoziieren, in der solche »grotesken« Bilder auch schon die Funktion hatten, die Wirkungen einer transzendenten Wirklichkeit in der irdischen zu repräsentieren.36 Wieder einmal nimmt der >Bebuquin< diesen Bezug vorweg, wenn Böhm den Helden belehrt: Vor allen Dingen wissen die Leute nichts von der Beschaffenheit des Leibes. Erinnern Sie sich der weiten Strahlenmäntel der Heiligen auf den alten Bildern und nehmen Sie diese bitte wörtlich.37

In einem Nachlaßfragment hat Einstein »Groteske« in genau diesem Sinne definiert und mit dem Grundanliegen seiner Kunstprogrammatik identifiziert: »die groteske durch verbinden des transvisuellen mit dem sehen, au fond in jedem modernen bild ein groteskes element - DIE INDIVIDUALDEFORMATION.«38 Diese Neubestimmung des Begriffes scheint mir für die Anschlußfähigkeit der grotesken Tradition für die Avantgarde um 1910 entscheidend. Auch in Hubermanns Text steht die Erscheinung des Transzendenten ins Haus; wiederum wird das »Gesicht« zu einer Geburt: aus den »Symphonien des Gebarens« (Z. 68) erscheint niemand Geringeres als »Christus« (Z. 70), doch macht dieses scheinbar vereindeutigende Textsignal den Rest des Textes keineswegs deutlicher (»nicht etwa, daß er Klarheit schaffte.« Z. 60/61), nicht einmal hier wird zu einer gläubigen Lesart eingeladen. Das Ich taucht im III. Teil (ab Zeile 60) nicht mehr auf, was zur Folge hat, daß sich die grammati-

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Man könnte auch an die Bilder des niederländischen Symbolisten Jan Toorop (i8j81928) denken (z. B. Orgelklänge, 1890; Gesang der Zeiten, 1893). Vgl. Carel Blotkamp, Annunciation of the New Mysticism. Dutch Symbolism and Early Abstraction, in: M. Tuchman et.al. (Hg.), The Spiritual in Art. Abstract Painting 1890-1985, New York 1986, S. 89-111. - Ein weiterer Bildkomplex dieser Art, der in moderner Dichtung wieder Konjunktur hat, sind die Engel. Carl Einstein, Bebuquin, S. 81. Natürlich ist hier auch an die Aura-Lehren der Anthroposophie etc. zu denken, die auch z. B. bei Kandinsky eine Rolle spielen. Carl Einstein, Pariser Nachlaß, zit. n. Heidemarie Oehm, Die Kunsttheorie Carl Einsteins, München 1976; S. 50. Oehm paraphrasiert geeignet: »Kunst nimmt immer dann groteske Züge an, wenn sich das Realitätsmaximum in einen der empirischen Anschauung nicht mehr zugänglichen Bereich verlagert« (I.e.).

sehen Anschlüsse immer mehr verwischen.39 Die grammatischen Formen bleiben inhaltsleere Hüllen zum Transport der unverständlichen Textur, der Text zerfällt endgültig in asyndetische Einzelbilder: »Alles nehmen und den Scherben sanfte Trauer hinterlassen« (Z. 97/98). Im >Gesicht< verschmilzt das erzählende und erzählte Subjekt endgültig mit der Textur. Angela Hubermann gelingt so von den in diesem Kapitel besprochenen Autoren die konsequenteste Ausführung der Ich-Textur. c) Auswertung Die Ich-Textur kennzeichnet ein kleines Korpus merkwürdig heterogener Texte, die so unbekannt und von der Literaturgeschichte unbeachtet geblieben sind wie ihre Autoren. Weder zu Schaefer noch zu Hardenberg oder Hubermann lassen sich bisher auch nur Ansätze einer Rezeptionsgeschichte aufweisen. In der spezifischen Textur ihrer Prosa fehlen eben weitgehend Textsignale wie die Mythologeme, das Verkündigungspathos und die netzartigen Verweisstrukturen, die in Däublers Textur die Ansatzpunkte zu Verabsolutierungen und damit zu gläubigen Lesarten bieten. Die »Gesichte« bleiben flüchtig, es gelingt ihnen auch formal keine Setzung neuer Qualitäten, die Dauer verspräche. Was man an Strukturen isolieren kann, bleibt entweder obsolet (wie die Visionen) oder hat im Literatursystem allzu mächtige Konkurrenz in der Lyrik (wie die subjektive Befindlichkeit des Ich). Vor allem bleiben auch die lyrisierenden Versuche, den inhaltlich zerfallenden Texten poetische Kohärenz zu verschaffen, oft unbeholfen und jedenfalls hinter den revolutionären Entwicklungen der zeitgleichen Lyrik zurück. Daneben fehlt den »Gesichten« von 1914 aber auch das theoretische und sprachreflexive Element, das z. B. Carl Einsteins Texte auszeichnet (und in jeder literarischen Avantgarde erneut zum Geheimtip werden läßt). Dennoch verdienen auch die »Gesichte(r)« Beachtung, schon wegen ihrer auffälligen Präsenz in der bedeutendsten Avantgardezeitschrift der Zeit. Heinrich Schaefer hat ausschließlich im Verlag der Aktion publiziert, die ihm 1916 ein ganzes Heft widmete.40 Henriette Hardenberg (Pseudonym für Margarete Rosenberg, ab 1916 mit Alfred Wolfenstein verheiratet) debütierte in der >AktionOffenbarung und Untergangs das Ich zur Textfigur wird, spiegeln sich seine texturbestimmten Aufhebungen und Neusetzungen in der Chiffre vom Gesicht bzw. »Antlitz«. Ich werde mich hüten, den hier eingeführten Texturbegriff vorschnell auch auf die Lyrik der Moderne zu übertragen. Wenn ich zum Abschluß dieses Kapitels über Ich-Texturen auch auf Lyrik Gottfried Benns verweise, übersehe ich nicht deren hohe formale und thematische Komplexität; doch mögen auch hier gewisse Aspekte deutlicher Kontur gewinnen, wenn man mit einem am Problem der Ich-Textur geschulten Auge liest. Daß Benn mit seiner Programmatik von der »formfordernden Gewalt des Nichts« in den beschriebenen Diskurs gehört, ist bekannt, ebenso daß eine seiner immer wieder besungenen Strategien zur primären Schöpfung im »Ich-zerfall«, in der Ausschaltung der zerebralen Kontrolle liegt. Das Dichten des ganz Anderen jenseits der rationalen Kontrolle des Ich begegnet dabei dem gleichen Problem wie in der besprochenen Ich-Prosa: das lyrische Ich soll einerseits zerfallen, um dem Anderen Raum zu geben, muß aber andererseits als Textinstanz weiter fungieren, wenn 54

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»Antlitz« gehört mit 60 Belegstellen zu den häufigsten Substantiven in Trakls Dichtungen überhaupt. Vgl. Index zu Georg Trakls Dichtungen, S. 169. »In blauen Schauern kam vom Hügel der Nachtwind, die dunkle Klage der Mutter, hinsterbend wieder und ich sah die schwarze Hölle in meinem Herzen« (Z. 9-11). Deutlicher als sonst bei Trakl ist hier der romantische Subtext zu bestimmen: Mörikes Gedicht >An eine Äolsharfe* (1837). 105

das Gedicht zuende gebracht werden soll. >CocainDer Prinz von Theben< (i9i4). 6 Die »Geschichten« des Bandes sind in einer zeitlich und räumlich höchst unbestimmten orientalischen Welt angesiedelt. Maria von Nazareth (Antike) tritt ebenso selbstverständlich auf wie Kreuzritter (Mittelalter) und englische Ladies (Neuzeit), die Orts- und Namensangaben reichen vom Sudan über die Türkei, Palästina und den vorderen Orient bis in den indischen Raum. Christentum, Islam, Judentum und andere Religionen gehen merkwürdige Verbindungen ein. Dennoch hat diese Phantasiewelt zunächst ihre eigene Homogenität und daher auch Akzeptanz: in diesem »Orient« ist das Märchenhafte, Phantastische und Grausame ebenso erwartbar wie Haremserotik, Marienlieder oder frei erfundene genealogische Kataloge. Wer aber diesen so gestalteten »Orient« dann auch als Orient versteht, d. h. mit einer wirklichen Weltgegend und -kultur identifiziert (und dann etwa einen Sinn wie Versöhnung der großen Religionen o.a. herausinterpretiert), hat den Pinguin-Effekt überlesen. Am Hofe Abigails des Dritten erscheint nämlich eines Tages auch »ein alter freundlicher Siouxindianer, der in Verehrung für den ersten Judenmelech Saul entbrannt war.«7 Der Sioux paßt nicht in einen noch so großzügig verstandenen Orient und verweist gerade dadurch auf die artifizielle Natur des literarischen Raumes. Nicht über historische oder kulturelle Koordinaten ist Lasker-Schülers Orient bestimmt, sondern über ein komplexes Textverfahren, als dessen Grundlage ein spezifischer Thesaurus fungiert. In diesen Thesaurus paßt alles, was über Trivialvorstellungen, Märchen-, Kinder- und Abenteuerbücher, Bibel, Karl 6

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Eise Lasker-Schüler, Der Prinz von Theben. Ein Geschichtenbuch, Leipzig 1914, zit. n. E. L., Der Prinz von Theben und andere Prosa, München 1986. Eise Lasker-Schüler, Der Prinz von Theben, S. 120. III

May und Tausend-und-eine-Nacht auch nur entfernt mit dem Orient assoziierbar ist. Nicht nur Vokabeln, sondern auch Gattungen und inhaltliche Topoi sind Teile dieses großen Baukastens, mit dem Eise Lasker-Schüler dann in kühnen Spielanordnungen ihre zahlreichen Texte generiert. Der Sioux am Hofe Abigails des Dritten zu Theben ist als Loch in einer inhaltlichen Orient-Vorstellung gerade Chiffre für diesen Thesaurus, für das sprachlich-literarische Spielmaterial, mit dem der >Prinz von Theben< arbeitet, für die Herkunft dieses Materials aus den Trümmern jugendlicher Lektüre. Er verdankt seine Zulassung in Lasker-Schülers Theben seiner Eigenschaft als längst literarisiertes Klischee, gleichrangig mit den Scheiks, Sultanen, Derwischen, Fakiren, Eunuchen, Odalisken etc., die diesen Ort (oder besser: Topos) sonst bevölkern.8 Als echter Pinguin-Effekt verweist er auf die Texturiertheit dieser Prosa überhaupt. Der Pinguin sitzt, wie die Beispiele gezeigt haben, stets im Detail. Im Detail beginnt die unterminierende Wirkung einer autonom werdenden Textur virulent zu werden, die geeignet ist, eine ganzheitliche, inhaltsorientierte hermeneutische Lektüre zu untergraben. Wiederum ist die Entsprechung zur kunstprogrammatischen Forderung deutlich, »Blöcke von Irrationalem in die Wirklichkeit« einzuführen. Die gemeinte überkommene, scheinbar selbstverständliche Wirklichkeit ist in jedem Erzähltext als unausdrückliche Rezeptionsvorgabe gegenwärtig, deren Gestalt noch durch Gattungsvorgaben spezifiziert ist. In einem >historischen< Roman wie den Josephsbrüdern ist das historische Umfeld des alten Ägypten eine solche Rahmenvorgabe, in einer Gesellschaftsparodie wie >Blumentage< ist es einfach die normale Gestalt der Dinge um uns, in der dann erst die groteske Übertreibung (der feiertäglichen Verhaltensweisen) parodistisch wirken kann, und noch in der märchenhaften Orientwelt des >Prinzen von Theben< ist es die Festlegung auf orientalische und märchenhafte Topoi. Der Pinguin-Effekt durchbricht diese Vorgaben und stellt damit die grundsätzlichste Ebene des gewohnten Textverständnisses in Frage, die traditionsbestimmte gattungsspezifische Vorselektion von Wirklichkeit.9 >Wirklich< ist an einem solchen Text zunächst einmal sein Material, seine willkürliche Machart. Die freie Verfügbarkeit sprachlichen Materials und literarischer Techniken weist Inhalten und Strukturen, jedenfalls zunächst, sekundäre 8

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Am Sioux-Indianer läßt sich ablesen, wie rasend schnell Protagonisten gerade der amerikanischen Geschichte (Cowboys, Indianer, Trapper) um die Jahrhundertwende als Topoi, ja Klischees europäischer Trivialkultur festgeschrieben wurden. Die Vernichtung des Sioux-Volkes unter Sitting Bull in der selbst längst legendären Schlacht am Wounded Knee Creek erfolgte erst im Jahre 1890 (!). Eise Lasker-Schüler war damals 21 Jahre alt. Hier ist eine Parallele zum Verfremdungseffekt des epischen Theaters zu sehen, der ja ebenfalls die literarische Illusion durchbrechen und Signal für den Spielcharakter des Gezeigten sein soll, wenn auch in ganz anderer, nämlich didaktischer Absicht, die den hier präsentierten Texten völlig abgeht.

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Bedeutung zu. Sie werden in texturierten Texten zu bloßen und unbeständigen, meint: in keiner hermeneutischen Deutung festschreibbaren Effekten des Textverfahrens.

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6. KAPITEL SEIFENBLASEN Textur und Feuilleton

Der systematische Ort von Unverständlichkeit im kunstprogrammatischen Diskurs der emphatischen Moderne macht die Publikation unverständlicher Prosa in den Avantgardezeitschriften und -Verlagen des expressionistischen Jahrzehnts plausibel. Programmatik und Publikationsort scheinen dem Leser eine hinreichend deutliche Rezeptionsanweisung vorzugeben: der texturierte Text als Repräsentant des absolut Anderen. Freilich wird diese avantgardistische Rezeptionsvorgabe selten rein erhoben oder befolgt, zumal es auch in anderen Diskursen Bestimmungen von Unverständlichkeit gibt, die über bloße Defizienzbehauptungen hinausgehen. Zu jeder Zeit gibt es ja eine gewisse Vielfalt an parallelen neuen wie auch überlebten Diskursen, die in der Einordnung und Bewertung bestimmter Gegenstände konkurrieren.1 Um solchen alternativen Bestimmungen texturierter Prosa und ihrer rezeptionssteuernden Wirkung nachspüren zu können, muß das Kapitel den selbstgesetzten Zeitrahmen folglich etwas überschreiten. Dies geschieht in beide Richtungen: nach hinten über eine Rezension von Texten, die z. T. schon vor der Jahrhundertwende entstanden, und nach vorn mit einer literarischen Debatte aus dem Jahre 1919.

i. Seifenblasen (Musil, Kafka, Waiser) Im August 1914 rezensiert Robert Musil in der Neuen Rundschau zwei Bücher mit neuer Kurzprosa, Robert Waisers >Geschichten< (Kurt Wolff Verlag, 1914) und Franz Kafkas >Betrachtung< (Ernst Rowohlt Verlag, 1913). Kafkas Prosa wird von ihm gelesen wie ein Spezialfall des Typus Waiser [...]. Auch hier Kontemplation in einer Art, für die ein Dichter vor fünfzig Jahren sicher den Buchtitel Seifenblasen erfunden hätte/

Kafkas dunkle und schwierige Kurzprosa mit »Seifenblasen« zu überschreiben, mutet heute als einigermaßen erstaunlicher Vorschlag an. Musils Rezension 1

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Siegfried Kracauer hat das die »Koexistenz des Gleichzeitigen und des Ungleichzeitigen« genannt (Hans Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968; S. 569). Robert Musil, Literarische Chronik, in: Die Neue Rundschau, August 1914, zit. n. R. M., Ges. Werke Bd. II, Hg. A. Frise, Reinbek 1978, S. 1465-1471; S. 1468.

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von Kafkas Erstling dokumentiert offenbar einen ästhetischen Horizont, der vom heute festgeschriebenen Kafka-Verständnis ebenso deutlich abweicht wie vom oben noch einmal rekapitulierten Rezeptionsmuster unverständlicher Texturen im Avantgarde-Diskurs. Musil sieht die Kurztexte Waisers und Kafkas als Vertreter eines gemeinsamen »Typus« - schon das ist besonders festzuhalten, weil sich der Blick für das hier gemeinte Gemeinsame im Verlauf der Rezeption expressionistischer Prosa deutlich getrübt hat.3 Über den Status dieses Typus gerät er allerdings in Verlegenheit: Mir scheint trotzdem, daß die Sonderart Waisers eine solche bleiben müßte und nicht geeignet ist, einer literarischen Gattung vorzustehn.4

Er konstatiert zwar das Neu- und Andersartige der Walserschen Texte, doch ein zweiter »Waiser« ist ihm schon zuviel, eine Gattung möchte er aus dieser neuen Schreibweise nicht entstehen sehen - und muß doch feststellen, daß etwas in dieser Richtung geschieht. Statt also eine neue Gattung vorzuschlagen, die es nicht geben soll, assoziiert Musil eine alte, die keine war: »Seifenblasen«, »Geschichten«, »Betrachtung« - gemeint ist das Feuilleton. Bei näherem Hinsehen legen nicht nur die Titel diese Assoziation nahe. Zumindest die Texte Waisers waren ja tatsächlich zunächst als Feuilletons erschienen, die meisten in der >SchaubühneSonntagsblatt des Bund< oder >Die Rheinlande< sind als Publikationsorte genannt,6 andere Texte von ihm erschienen z. B. in der Vossischen Zeitung ganz traditionell »unterm Strich«.7 Das Feuilleton war offenbar schon länger der Ort eines >anderen< Schreibens gewesen, und wenn dieses feuilletonistische Schreiben, gemessen am Anspruch der avantgardistischen Kunstprogrammatik, auch eher un-

3

Repräsentativ für die germanistische Rezeption ist bis heute die Bemerkung Durzaks, »daß einige Epiker, deren Schaffenszeit sich in etwa mit der chronologischen Entwicklungskurve des literarischen Expressionismus berührt [!], durch ihr individuelles Werk eine Bedeutung erlangt haben, die die Reflexion des literarischen Zeitzusammenhangs überflüssig werden ließ. Das gilt für Autoren wie Kafka, Robert Musil und eingeschränkt auch für Robert Waiser.« (Manfred Durzak, Flake und Döblin. Ein Kapitel in der Geschichte des polyhistorischen Romans, in: Germanisch-romanische Ms., NF 20/1970, S. 286-305; S. 286). 4 Robert Musil, Literarische Chronik, S. 1468. ! »Schaubühnenleser! Dies Buch ist Euer!«, schreibt Kurt Tucholsky in seiner Rezension der »Geschichten«. (K. T., Der Dreischichtedichter, in: Über Robert Waiser, Bd. i, Hg. K. Kerr, Frankfurt 197«; S. 87/88; S. 88). 6 Vgl. Robert Waiser, Geschichten (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben, Hg. J. Greven, Bd. 2), Zürich/Frankfurt 1985; S. 139/140. 7 Zur Rezeption Waisers als Feuilletonist s. Fritz Hacken, Robert Waiser, Feuilletonist, in: Provokation und Idylle. Über Robert Waisers Prosa (= Der Deutschunterricht 23 / 1971, Beiheft i), S. 7-27.

spektakulär auftrat, so schien es doch geeignet, ein Rezeptionsmuster für das Neuartige der Texte Kafkas und Waisers bereitzustellen. »Feuilleton« hat die doppelte Bedeutung einer Zeitungsrubrik und einer Textgattung: »Im Feuilleton kommen Reportagen, Geschichten, Erzählungen, Kritiken, Anekdoten und Nachrichten aus dem Reich aller Künste zum Abdruck. Außer diesen aber Feuilletons.«8 Das >Handbuch des Feuilletons< versucht eine Gattungsdefinition unter der Rubrik »Die kleine Form«: »Feuilletons sind [...] keine Kurzgeschichten - und nichts dergleichen. Sie bilden eine ganz besondere Gattung«.9 Als Gattungsmerkmale werden angeführt: Prosa, Kürze (»kleine Form«), Fehlen einer Handlung, Fehlen einer inhaltlichen Pointe, Ausgehen von einem nebensächlichen »Einfall« - im Gegensatz zu anderen Kurzprosaformen sei das Feuilleton nicht inhaltlich, sondern wesentlich formal bestimmt: Die Pointen des Feuilletons werden vom Stil, von der besonderen Art der Aussage, von der feineren Delikatesse der Wortwahl wie des Satzbaues erbracht.10

Diese Definition geht - in unserer Terminologie - auf das Fehlen von Strukturelementen und die Betonung der Textur. In gleichem Sinne argumentiert 1911 ein polemischer Aufsatz von Adolf Grabowsky im >TürmerGeschichten> demonstriert: >Der GreifenseeBrenner< 1912: »da bildet und dichtet die Sprache sich selbst, ohne der Dinge zu achten«; vgl. Kapitel 3. 16 Robert Musil, Literarische Chronik, S. 1467/1468. 17 Robert Waiser, Der Greifensee, in: R. W, Geschichten, I.e., S. 32-34; Erstdruck Juli 1899 im »Sonntagsblatt des Bund« (gilt als erste Prosapublikation Waisers überhaupt).

akut: das erlebende Ich (»ich denke«) wird zum erzählenden Ich (das den »geneigten Leser« anspricht) und dieses dann zur (eigenen) Erzählung (»meiner Beschreibung«) als dem Modus, in dem allein erzählendes und erlebendes, d. i. erzähltes Ich ja vorkommen. Die Stelle im Zusammenhang: [...] ich denke, das ist mein See, zu dem ich gehen muß, zu dem es mich hinzieht. Auf welche Weise es mich zieht, und warum es mich zieht, wird der geneigte Leser selber wissen, wenn er das Interesse hat, meiner Beschreibung weiter zu folgen, welche sich erlaubt, über Wege, Wiesen, Wald, Waldbach und Feld zu springen bis an den kleinen See selbst, wo sie stehen bleibt mit mir und sich nicht genug über die unerwartete, nur heimlich geahnte Schönheit desselben verwundern kann. Lassen wir sie doch in ihrer althergebrachten Überschwenglichkeit selber sprechen:'8

Wer versuchen wollte, nur etwa die Erzählfunktionen einen ganzen kurzen Waiser-Text lang analytisch auseinanderzuhalten, müßte verzweifeln: das Spiel mit den Erzählmitteln strukturiert den Text nicht, es ist der Text.'9 Der Inhalt - jemand wandert zum Greifensee, geht dort schwimmen, bleibt bis zum Abend und geht nochmal schwimmen - ist sekundär: zwar strukturiert er den Text durchaus, aber er steht in keiner Weise für die Volten ein, die die Textur schlägt.20 Die Pointen werden in der Tat »von der besonderen Art der Aussage, von der feineren Delikatesse der Wortwahl wie des Satzbaues erbracht«. Wenn z. B. die Beschreibung »sich erlaubt, über Wege [etc.] zu springen bis an den kleinen See selbst, wo sie stehen bleibt mit mir«, so heißt das: die Beschreibung überspringt einen Teil des Weges, den das (beschreibende) Ich geht; oder auch: die Beschreibung geht mit ihrem Ich, das z. B. über den Waldbach springt (oder auch ein Springinsfeld ist), und nimmt (aufzählend) an dessen Erlebnis Anteil; oder vielmehr: beides. Jedenfalls wird die »Beschreibung« zu einer zunächst figurativen, dann personifizierten Abspaltung des Ich, das seinerseits als Erzählfunktion und erzähltes Ich schon keineswegs eindeutig war. Hier wird

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Robert Waiser, Der Greifensee, S. 33. Dierk Rodewald beginnt seine Monographie (Robert Waisers Prosa. Versuch einer Strukturanalyse, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970) mit einer sorgfältigen Lektüre des >Greifensee< als »Versuch, den poetischen Text in seinem Vollzug poetologisch zu begründen« (8.7-15; S. 7). Rodewalds normative Erwartung, Waisers Engführung von Beschreibung und Spaziergang müsse zu einer eindeutigen Textstruktur führen, wird durch das durchgehaltene Präsens enttäuscht, entsprechend hält er den Text für »gescheitert« (S. 12). Texte, die die Differenzen über Tempuswechsel markieren, hält er dagegen für »ungemein geglückt[ ]« (S. 196). Angelika Wellmann will am Beispiel des >Greifensee< »die literarische Technik einer Transformation empirischer Gegenstände in eine verbale Fläche« demonstrieren. In diesem Text fielen »der erzählte Gang und der Gang des Erzählens in eins«. Das ist richtig, bleibt aber als Befund hinter der Komplexität des Textes weit zurück (A. W, Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes, Würzburg 1991; zu Waiser S. 169-194; Zit. S. 173 u. 182).

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virtuos mit den Möglichkeiten von Sprache, Fiktion und Erzählen gespielt. Musil: Daß das keine Spielerei sei, möchte ich eigentlich gar nicht behaupten, aber es ist jedenfalls - trotz [!!!] der ungemeinen Wortbeherrschung, in die man sich vernarren könnte, - keine schriftstellerische Spielerei, sondern eine menschliche.21

Solche Äußerungen rechnen auf Evidenz; gemeint ist jedenfalls, daß die prinzipiell geteilten - Aversionen der Feuilleton-Kritiker ä la Grabowsky gegen die Verselbständigung des Textverfahrens den Spezialfall Waiser - der den Tatbestand >Spielerei« durchaus erfüllt - nicht treffen, weil hier etwas mehr im Spiel ist, aufs Spiel gesetzt wird, als »schriftstellerische«,22 soll heißen: formale Mittel. - Die oben beschriebene Abspaltung der »Beschreibung« als personifizierte Textfunktion bliebe in diesem Sinne eine formale, vielleicht noch poetologische Spielerei, wenn sie nicht sofort, wenn auch kurzfristig, noch weiter funktionalisiert würde - für ein anderes Sprechen: Lassen wir sie [die Beschreibung] doch in ihrer althergebrachten Überschwenglichkeit selber sprechen: Es ist eine weiße, weite Stille, die wieder von grüner, luftiger Stille umgrenzt wird; es ist See und umschließender Wald; es ist Himmel, und zwar so lichtblauer, halbbetrübter Himmel; es ist Wasser [...]; es ist süße blaue warme Stille und Morgen; ein schöner, schöner Morgen/ 3

Plötzlich, über den Textschalter »die Beschreibung spricht« (und nicht mehr ich, der Erzähler), eine neue Diktion: eindringlich, wie zum ersten Mal, werden Dinge benannt, ja gesetzt: »es ist See«. Die »althergebrachte Überschwenglichkeit«, wie der Erzähler das distanzierend nennt,14 charakterisiert eine Diktion des auratischen Momentes (die Dinge werden wie neu gesehen und benannt), der zugleich ein Moment der Schöpfung ist (die Dinge treten als benannte in die Existenz) - beides steckt in der Wendung »es ist x«. 2J Beide, die rezeptive wie die produktive Primärsituation, entsprechen natürlich gerade keiner »Be-

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Robert Musil, Literarische Chronik, S. 1468. Im Wort »Schriftsteller« (gegenüber »Dichter«) schwingt hier immer noch eine abwertende Konnotation mit, ersterer hat teil an der »Zivilisation«, letzterer an der »Kultur«. Robert Waiser, Der Greifensee, S. 33. Rodewald übernimmt diese Wertung und liest die Stelle als »erstarrte« Rollenprosa aber welche Tradition wäre hier zitiert? (Dierk Rodewald, Robert Waisers Prosa, S. 11/12). Vergleichbar verfährt etwa der Beginn von Trakls >Psalm< [1913]: »Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat. Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt. Es ist ein Weinberg verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen. Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben. [...]« (zit. n. Georg Trakl, Dichtungen und Briefe Bd. i, S. $5). - Vgl. auch den Beginn der ersten Kaffeehauspassage in Einsteins >G. F. R.G.Über das Geistige in der KunstGegen den Strich< dienen:6 für den Romanhelden Des Esseintes kommen zur ornamentalen Ausschmückung des goldgefärbten Panzers seiner Riesenschildkröte im Prinzip alle möglichen Edelsteine in Betracht. Der dreiseitige Katalog erschöpft somit wenn nicht wirklich, so doch ideell den Begiff »seltene Edelsteine«. Die Aufzählung ist dann nach Unterbegriffen eingeteilt: zunächst nennt er die Steine, die bereits »zu zivilisiert und bekannt« sind, um Des Esseintes' Snobismus genügen zu können, dann führt er die Steine der engeren Wahl auf, sortiert nach den Farben der Bildvorlage, die sie ausfüllen sollen, eines Blumengebindes. Und so komponierte er nun sein Blumengebinde: die Blätter sollten aus einem hervorstechenden und ganz bestimmten Grün bestehen: aus spargelgrünen Chrysoberyllen, lauchgrünen Chrysolithen und olivgrünen Olivinen und sich auf diese Weise von den Zweigen aus Almadin und rotviolettem Uwarowit abheben, die den spröden Paillettenglanz des Weinsteinglimmers haben, der innen in Holzfässern glitzert. Für die abseits vom Stiel und entfernt vom Garbenbund stehenden Blüten verwendete er Bergblau [...]/

Der Effekt dieser Art von historistischem Katalog, der aus dem Inhaltsverzeichnis eines Edelsteinlexikons abgeschrieben sein mag,8 ist in der Tat die Entwertung des Einzellexems; zumindest der gewöhnliche Leser vermag mit Chrysoberyllen, Almadin oder Uwarowit nicht mehr zu verbinden als eine gewisse exotische Erlesenheit des Namens. Wunbergs These ist also zuzustimmen, daß mit einem solchen Wortgebrauch die Lizenz entsteht, derart >kostbare< Worte hinfort als eben solche und nicht mehr als Begriffe zu verwenden, die auf Tatsächliches referieren. Es kommt jedoch darauf an, diesen Effekt als Effekt der Textur des historistischen Katalogs zu beschreiben. Auch früher hat es Texte voller seltener und unbekannter Worte gegeben, man denke z. B. an Passagen aus >Faust IIEkkehardÄgyptische Königstochter^ hebt die »jeweils ad vocem beigezogene wissenschaftliche Begründung [...] die annotierte Stelle des Haupttextes als unverständliche hervor; sonst bedürfte 6

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Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich [A Rebours, 1884], aus dem Französischen von B. Restorff, Hg. U. Momm, Bremen 1991; S. 57-60. Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, S. 58. Z. T. lassen sich solche Praktiken bei Huysmans und Holz nachweisen. Flaubert macht das »Abschreiben« mit seinen dilettierenden Positivisten >Bouvard und Pecuchet< thematisch.

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sie nicht der wissenschaftlichen Erklärung.« 9 Nicht so bei Huysmans. Eine positivistische Erläuterung seiner zahlreichen exotischen Lexeme wäre dem Text ganz unangemessen. Chrysoberyllen, Chrysolithen und Olivinen versammeln sich im historistischen Katalog unter dem Begriff der seltenen, grünfarbigen Edelsteine, transportieren den Hauch der Erlesenheit eines decadenten Snobismus - und damit ist ihre Funktion vollständig beschrieben. Die Lexeme wären in diesem Rahmen austauschbar. Der Effekt dieser endlosen Kataloge in >A Rebours< (oder im späten >Phantasus< etc.) auf einen Leser, der nach Inhalt und Bedeutung sucht, statt sich an der Textur zu berauschen, ist der der Langeweile. Daraus folgt eine Technik des Überlesens: hat man den Begriff des Kataloges erfaßt, kann man dessen konkrete Textur überspringen; man konstatiert: drei Seiten Edelsteine, neun Seiten exotischer Blumen, siebzehn Seiten entlegener antiker Literatur — und blättert weiter, denn was sich innerhalb dieser Kataloge abspielt, ist für die Struktur des Romans völlig irrelevant. Was nichts weiter bedeutet, als daß Kataloge dieser Art Texturen im strengen Sinne sind, wenn auch ihr Verfahren in einem einfachen Begriff zu beschreiben ist, der wiederum Teil einer ganz traditionellen Struktur sein kann. Bei Huysmans ist diese Struktur die erzählte Biographie eines exemplarischen Snobs, bei Holz die intakte syntaktische Struktur des ursprünglichen >Phantasusorganische< durch eine artifizielle Zusammensetzung ersetzt. Im ersten Stück der >Geschichten< Robert Waisers wird >Von einem Dichter< erzählt, der über das Wesen seiner Gedichte grübelt. Er scheitert am Problem der referentiellen Benennung seiner Kunstwerke, die sich solcher begrifflichen Festlegung - durchaus traditionellerweise - entziehen: »es bleibt alles, wie es ist, nämlich dunkel.« Unausweichlich stellt sich der traditionelle Effekt des Ineffabilen ein: Melancholie. An dieser Stelle personifiziert sich der Walsersche Erzähler (als alter ego des Dichters?) und nimmt die Sache selbst in die Hand: Dagegen beuge ich mich nun, der Schelm von Verfasser, über sein Werk und erkenne mit unendlich leichtem Sinn das Rätsel der Aufgabe. Es sind ganz einfach zwanzig Gedichte, davon ist eines einfach, eines pompös, eines zauberhaft, eines langweilig, eines rührend, eines gottvoll, eines kindlich, eines sehr schlecht, eines tierisch, eines befangen, eines unerlaubt, eines unbegreiflich, eines abstoßend, eines reizend, eines

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Gotthart Wunberg, Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne, in: Hofmannsthal-Jb. zur europäischen Moderne i / 1993, S. 309-350; S. 324.

gemessen, eines großartig, eines gediegen, eines nichtswürdig, eines arm, eines unaussprechlich und eines kann nichts mehr sein, denn es sind nur zwanzig einzelne Gedichte, welche aus meinem Mund eine, wenn nicht gerade gerechte, so doch schnelle Beurteilung gefunden haben, was mich immer am wenigsten Mühe kostet.10

Benennen? Kein Problem! Der »Schelm von Verfasser« legt den klassisch-tiefen Duktus des »Dichters« ab und besinnt sich auf das zugehörige Verfahren, die Prädikation. Zwanzig Stücke sind mit Attributen zu versehen, also verfertigt man einen Katalog: »eines a, eines b, eines c usw.«. Die Relation von Prädikat und Subjekt ist eine rein formale, weil das Subjekt im Text niemals anwesend sein kann, es wird vertreten durch den Platzhalter »eines«. Die Verknüpfungsregel ist damit klar, es handelt sich um eine Reihung einfacher Aussagesätze; als Thesaurus für die Attribute wird der Vorrat feuilletonistischer Literaturkritik genutzt: fertig ist der Katalog, die einfachste der Texturen. Die »Beurteilung« mag keine »gerechte« sein, d. h. das Attribut muß keine wahre Referenz zu irgendetwas außerhalb des Textes herstellen; das »Rätsel der Aufgabe« ist gelöst durch das Anleiern des entsprechenden Textverfahrens, was »immer am wenigsten Mühe kostet«. Es ist schon erstaunlich: ganz nebenbei wird in diesem kleinen Text die traditionelle Genieästhetik mit ihrer Vorstellung vom ineffabilen Kunstwerk als ästhetische Idee abgelöst oder doch konterkariert durch einen modernen Verfahrensbegriff. Der »Dichter« verzweifelt, weil sein Werkbegriff immer noch nach Referentialität verlangt, die er aber im konkreten Fall nie einlösen kann - der »Verfasser« triumphiert, weil er sich, unbekümmert um Referentialität (»mit unendlich leichtem Sinn«), auf die Verfahren des Schreibens besinnt und ihm so der geforderte Text gelingt. Indem jedoch so ausdrücklich und großzügig auf Referenz verzichtet wird, stellt sich ein merkwürdiger Effekt ein: der Begriff dessen, was der Katalog der Attribute ausfüllen soll, bleibt völlig leer. Ein Edelsteinkatalog erfüllt tendenziell vollständig - den Begriff des Edelsteins. Der Walsersche Katalog ergibt überhaupt keinen Begriff. »Tierisch«, »zauberhaft«, »unerlaubt« - die einzelnen Attribute sind völlig willkürlich gesetzt und haben außer ihrer Wortart nichts gemeinsam; grüne Edelsteine hätte sich der Leser auch noch selbst aus dem Lexikon suchen können, was Waiser ihm da vorsetzt, muß er als Setzung hilflos hinnehmen. Im historistischen Katalog ging die Referentialität des Einzellexems verloren, gerade weil die Referentialität des Katalogbegriffs intakt blieb. Bei Waiser wird dieser Oberbegriff an keiner Stelle mehr deutlich, mit dem Ergebnis, daß der Katalog nicht länger in eine inhaltsbestimmte Textstruktur zu integrieren ist. Er wird zur Demonstration seines Verfahrens.

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Robert Waiser, Von einem Dichter, in: R. W., Geschichten, S. 7/8.

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Zunächst scheint der Effekt dem strukturgewohnten Leser der gleiche: nach zwei, drei Attributen hat man das Prinzip des Kataloges durchschaut und tendiert dazu, die folgenden Zeilen zu überspringen. Aber der texturierte Text weiß um sein Verfahren und kann es deshalb zu einer typischen Waiser-Pointe nutzen: zwanzigmal war »eines« zu attributieren, der Erzähler läßt die virtuell unendliche Textur jedoch weiterlaufen bis einundzwanzig und foppt so den unaufmerksamen Leser, der auf der Suche nach dem nächsten Strukturelement die Katalogtextur übersprungen hatte. »Zwanzig Gedichte«, das ist der letzte Rest von Referenz, dem dieser Katalog verpflichtet ist, und in seinem Namen wird mit dem Leser gleichsam auch die Textur zur Ordnung gerufen, als sie sich noch über diesen Rest hinwegsetzen will." Im strukturierten Text bildet der historistische Katalog eine Enklave reiner Textur, im texturierten Text kann der Katalog dagegen Träger einer begrenzten Struktur, z. B. einer Pointe werden. Funktionalisierbar für den Gesamttext ist im ersten Falle der Begriff, im zweiten die Textur des Katalogs. Für diesen zweiten Fall schlage ich die Bezeichnung »rhetorischer Katalog« vor. Die Folge seiner Bestandteile ist weniger vorhersagbar, eben weil der rhetorische Katalog im Gegensatz zum historistischen von keinem Begriff bestimmt ist, dessen Inhalt außerhalb seiner definiert wäre. Der historistische Katalog ist prinzipiell (und oft auch faktisch) enzyklopädischer Natur; sobald man das Stichwort erraten hat, wird er uninteressant. Der rhetorische Katalog verweigert diesen induktiven Schluß, er ist nicht bloß Textur, sondern insistiert gleichsam auf seinem texturierten Charakter: ihn überlesen hieße den Text nicht lesen, weil er in keine Struktur rückgebunden ist. Gerade in der Willkür seiner Abfolge betont der rhetorische Katalog den stipulativen Charakter seiner Setzungen; wo sie aus keinem Gesamtsinn mehr ableitbar scheinen, wird ihre Genese unverständlich und sie werden als apodiktische Setzungen empfunden.

2. Betitelt: Die Verlassenen. Rhetorischer Katalog und Interpretation (Waiser) Robert Waisers >Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselsteins dessen Publikationsort oben schon ausführlich diskutiert wurde (Kapitel 6), arbeitet auf zwei Ebenen mit dem Stilmittel des rhetorischen Katalogs. Zunächst auf der Strukturebene: die Struktur des Textes ist durch die Überschrift vollständig repräsentiert, wobei das grammatisch korrekte »und« allerdings den betont asyndetischen Charakter der Reihe verdeckt. Vier Absätze, deren jeder einem

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' Wäre dieser Rückruf, der hier die Pointe ist, nicht erfolgt, so läge ein Pinguin-Effekt vor. 141

der genannten Gegenstände gewidmet ist, folgen mit Übergängen aufeinander, die ihre eigene Beliebigkeit ostentativ betonen: Hat sich von den hochverehrten Herrschaften, die dies lesen, eine oder die andere schon einmal auf einen Reisekorb niedergesetzt [...]. Doch was höre ich jetzt mit einemmal Neues und Unerhörtes?: Tick, tack macht es dicht neben mir. Das wird wohl die fleißige und pünktliche Taschenuhr sein. [...] Nun gelange ich mit der ebenso höflichen wie ergebenen Frage an den Leser, ob er vielleicht das eine oder das andere Mal schon mit der flachen Hand auf ein Stück Wasser geschlagen hat. [...] Schon beschäftigt mich ein neuer, frappanter Gegenstand, nämlich der Kieselstein [...].»

Das Prinzip dieses kleinen Kataloges, sein Oberbegriff, bleibt unklar. Die Zusammenstellung der bezeichneten Gegenstände bleibt heterogen.13 Die Abfolge der vier Absätze wird vom Leser folglich als apodiktische Setzung empfunden. Die überleitenden Passagen sind zwar im Ton ausgesprochen verbindlich, ihr verbindender Duktus bleibt aber inhaltlich völlig ungedeckt. Der »Schelm von Verfasser« setzt das formale Mittel des überleitenden Satzes in bekannter Manier ohne Rücksicht auf Referentialität ein, was ihn schließlich »immer am wenigsten Mühe kostet.« Auch auf Texturebene kommt der rhetorische Katalog ausführlich zum Einsatz: Schon als Sitzgelegenheit betrachtet, erregt der Reisekorb unser Entzücken, und was ist er erst als Versorgungsgegenstand wert! In einem mittelgroßen Reisekorb liegen verborgen: eine alte Öllampe, Schiller, Goethe, Shakespeare, ein oder zwei Fenstergarnituren, ein Stuhlbein, eine Kollektion von japanischen Holzschnitten, ein Kupferstich im Rahmen, betitelt: >Die Verlassenem, eine Kaffeemaschine, drei bis vier dicke, längst verschlungene Schund- und Schauerromane, wovon einer vielleicht heißt: >Die Gräfin mit dem TotenkopfReisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein< ähnelt in ihrer apodiktischen Willkür zwar der des rhetorischen Katalogs unter »Reisekorb«, steht aber für dessen konkrete Gestalt weiter nicht ein - nur dadurch wirkt der Katalog dann auch so apodiktisch. In dieser Willkür versteckt sich übrigens auch die Unverständlichkeit, die oben als Kennzeichen texturierter Texte eingeführt wurde. Noch dieser geradezu ostentativ verständliche Text, an dem jeder einzelne Satz unmittelbar einleuchten mag, ist unverständlich, weil das umfassende Prinzip unklar bleibt, dem gemäß seine Elemente gefügt sind. Eine bloß morphologische Teil-GanzesRelation ermöglicht noch kein >Verstehen< im Sinne der Hermeneutik. Kurzum: die scheinbar traditionelle Struktur ist gar keine solche insofern, als sie nicht von einem (>inhaltlichenorganischen< Textganzen das täte. Insofern hat es eine gewisse Berechtigung, das Textverfahren zum Sinn eines solchen Textes zu erklären, doch ist der Text damit eben nicht hermeneutisch erschöpfend erschlossen. »Reine Selbstreferenz im Sinne eines >nur und ausschließlich sich auf sich selbst Beziehens< ist unmöglich.«16 - diese elementare systemtheoretische Einsicht gilt für das sprachliche Kunstwerk in besonderer Weise, da es schon materialbedingt nie gänzlich auf (Fremd-) Referenz verzichten kann. »Faktisch kommt daher Selbstreferenz nur als ein Verweisungsmoment unter anderen vor«,17 d. h. Poetologie kann immer nur Teil einer Textaussage sein. 16 17

Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 604. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 605.

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Es muß immer wieder betont werden, daß die Beschreibung von Textverfahren eine Interpretation im klassischen Sinne weder ist noch ersetzt. Texturierte Texte, so die These, widersetzen sich einem einfachen hermeneutischen Zugriff durch die spezifische Art ihrer Fügung, die in diesem Kapitel unter dem Begriff des rhetorischen Kataloges erneut in den Blick kommt. Das bedeutet wie gesagt nicht, daß es an texturierten Texten nichts zu verstehen gäbe. Die Effekte ihrer neuartigen Semiosis sind im Gegenteil vielfältig und aufregend und harren erst ihrer begrifflichen Bewältigung. Die hier vorgeschlagene Verfahrensbeschreibung versteht sich als ein erster, wenngleich elementarer Schritt in diese Richtung. Eine poetologische Lesart, wie sie oben von Waisers Texten angeboten wird, geht über die Beschreibung des Textverfahrens hinaus und ist hermeneutischer Natur, nur beschreibt sie nicht den einen Textsinn und befreit den Text nicht von seiner spezifischen Unverständlichkeit. In dieser Art gibt es gerade an Waisers Kurztexten virtuell unendlich viel zu verstehen, obwohl sie so offensichtlich durch ihr Verfahren geprägt sind. Daß ihre Pointen im wesentlichen solche der Textur sind, schließt auch intertextuelle, biographische und sonstige >inhaltliche< Bezüge keineswegs aus. >Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein< ließe sich z. B. als HorrorText lesen. Unter der verbindlichen und immer positiven Diktion verbirgt sich eine Kette von Alptraum-Motiven: das Krächzen und Ächzen des Reisekorbs; die absurde Vorstellung, auf dem Ding stillzusitzen und eben nicht mit ihm zu reisen, wie es doch seiner Bestimmung entspräche; das unausweichliche Ticken der Uhr und das knuspernde Mäuschen als traditionelle memento mori-Motive; scheinbar beiläufig kommt die grausige Vorstellung von einem Kopf »dort, wo ein Kopf nicht sein soll«, ins Spiel, ebenso der Alp, zu laufen, als wolle man »reißaus nehmen; bleibt aber immer hübsch am Ort«; der Inhalt des Reisekorbs umfaßt nicht nur »Schauerromane« wie >Die Gräfin mit dem TotenkopfDie Verlassenem, Uhren, die Totenmaske); schließlich das Fremdwerden des Vertrautesten beim Wasser und das Abweisende, ja Böse der anorganischen Welt beim Kieselstein.'8 Daß diese Motive als solche zum Tragen kommen, ist vom Textverfahren nicht ganz unabhängig: erst die Leere der positiven Äußerungen, z. B. zur Taschenuhr, setzt die verborgene Bedeutung frei, und erst die Isolation der Lexeme im rhetorischen Katalog macht die Präsenz der Gegenstände zu einer unheimlichen. Das Fehlen des geistigen oder In dieser Lesart wären die abstrusen Vorschläge zum Flirt mit dem Kieselstein geradezu paradigmatischer Ausdruck eines existentialistisch gefaßten Absurden, denn, so Camus: »Das Absurde entsteht aus dieser Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt. Das dürfen wir nicht vergessen.« (Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde [1942], Hamburg '1980; S. 29). 145

menschlichen Bandes, so könnte man folglich interpretieren, ist die eigentliche Ursache des Grauens, und die Motive wirken bloß verstärkend.19 Die Isolation der gesetzten Lexeme wäre dann referentiell zu lesen als Zeichen für die Isolation der Dinge in der entfremdeten Welt der Moderne. Interessanterweise gibt der Linguist Eugenio Coseriu in seiner >Textlinguistik< ein frappant ähnliches Beispiel. Ein Schüler liefert einen Aufsatz - Fritz Kocher läßt grüßen - zum Thema »Was ich alles auf dem Ausflug gesehen habe«: Ich habe Häuser gesehen, ich habe Wälder gesehen, ich habe einen Fluß gesehen, ich habe Menschen gesehen, ich habe Tiere gesehen.20

Der Linguist konstatiert hier »eine hilflose Aufzählung einiger willkürlich herausgegriffener Gegenstände ohne geistiges Band«, fährt aber fort: Nun kann man jedoch dieser Aufzählung etwas hinzufügen und ihr damit einen inneren Zusammenhang und auch einen anderen Sinn, einen poetischen Sinn verleihen: >Ich habe Häuser gesehen, ich habe Wälder gesehen, ich habe einen Fluß gesehen, ich habe Menschen gesehen, ich habe Tiere gesehen, Gott habe ich nicht gesehen, ich habe den Tod gesehen.TropenDiesen Hut muß ich schon irgendwo gesehen habenTotalität< »zweifellos der dunkelste theoretische Text Einsteins«, was an »terminologischen Inkonsequenzen« und daran liege, daß »sich die Definitionsversuche [...] im Kreis [drehen]«. Die Logik dieser Unlogik bekommt Krämer nicht in den Blick. (T. K., Carl Einsteins >BebuquinDer Snobb< (1909), Einsteins erster veröffentlichter Text mit diskursivem Charakter, enthält im Kern bereits die Formulierung dieses Problems und die formale Lösung seiner Repräsentation. Der Text beginnt mit der vertrauten These vom Wert- und Wahrheitsverlust im Zuge des Historismus: Wir haben keine Wahrheit mehr [...]. Man lernte die Gebundenheit zugleich als Wille verstehen, und da man alles wollen konnte, verloren wir die Werte. -''

Diese Prämisse wird ganz traditionell eingebettet in eine Nietzsche verpflichtete Philosophie von Ding und Wort als interpretatorischen Petrifizierungen eines »elementaren Erlebnisses« (23). Man darf nun die Angabe eines Rezeptes erwarten, mit dem diesem wohlformulierten Zustand der Wertkrise abzuhelfen wäre. Diese Systemstelle nimmt im >Snobb< die (oben bereits zitierte) paradoxe Forderung ein: Ein Gesetz, ein sichtbares, ist zu konstruieren, das uns trennt, das uns Glaube gibt, trotzdem es unsere Konstruktion ist. (23)

Diese Forderung unterscheidet sich scheinbar nur unwesentlich von anderen Vorschlägen zur Überwindung des Historismus, wie sie um die Zeit grassieren, als da etwa wären: Rückbesinnung auf alte religiöse oder kulturelle Werte, Orientierung an sozialen Fragen, revolutionäre Agitation, Bildung neuer Glaubensgemeinschaften etc.12 Solche dogmatischen Forderungen geben Rezepte an, was geschehen müsse und was daher zu tun sei. Einsteins Forderung gibt nun zwar ebenfalls an, was geschehen müsse, jedoch nur in Form einer paradoxen Formel, der keine mögliche Verhaltensweise entspricht. Sie hat, in seiner

Carl Einstein, Der Snobb, in: Hyperion 8 /1909, S. 172 -176; wiederabgedruckt in: Die Aktion 6/1916, Sp. 405-408; zit. n. C. E., Werke Bd. i, S. 23-27; S. 23. Seitenangaben hieraus fortan in Klammern im Haupttext. Vgl. Lothar Köhn, Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933, in: DVjs 48/1974, S. 704-766, und 49/1975,5.94-16$. 162

eigenen Terminologie, den Status der »Revolte«. Der Unterschied liegt in der Praktikabilität des Geforderten: Revolte ist undogmatisch, denn das Dogma gibt stets der Idee die Fassung einer gewünschten Wirklichkeit. Der Revolteur besitzt einen Begriff, den er stets transzendental erfaßt, das heißt für sich abgelöst. Er glaubt an eines nicht, das ist die Bereicherung der Ideen durch den funktioneilen Zusammenhang. [...] Er ist Metaphysiker [...] und Metaphysik ist unanwendbar.' 3

Dogmen schreiben Verhaltensweisen vor, Einsteins zentrale Forderung dagegen hat nicht »die Fassung einer gewünschten Wirklichkeit«. Sie stellt die absurde Tatsache einer ethischen Maxime dar (ethisch im weiten Sinne einer Antwort auf die Frage >Was soll ich tun?< verstanden), der keine mögliche Wirklichkeit entspricht und die daher »unanwendbar« ist. Der »Begriff«, über den der Revolteur verfügt, ist »für sich abgelöst« (deutsch für: absolut), und das heißt amimetisch in Potenz: er bildet nicht nur nichts Wirkliches ab, sondern beschreibt nicht einmal ein Mögliches. Die zentrale These des Textes ist nicht nur unabgeleitet, sondern auch unanwendbar, d. h. in den überkommenen »funktioneilen« Weltzusammenhang weder kausal integriert noch final zu integrieren. Es folgt also nichts aus der programmatischen Forderung, mit der >Der Snobb< auf die festgestellte Wertkrise reagiert, jedenfalls nichts Praktikables. Es gibt keine Vorschläge und Verhaltensregeln, die hier folgerichtig anschlössen; keinerlei Entwicklung ist angelegt. Der Text könnte dementsprechend nach einer halben Seite zu Ende sein und ist es in gewisser Weise auch, nämlich nach Maßgabe seines Anspruchs auf traditionelle Sachvermittlung. Bis zur zitierten Stelle gibt er sich souverän: er drückt eine Überzeugung aus, die sich als vermeintlich notwendige Pointe der Geistesgeschichte bis zu diesem Punkt darstellt. Mit dieser Argumentationsfigur steht er fest in der Tradition des 19. Jahrhunderts, und noch mit den Nietzsche-Allusionen markiert er einen historischen und diskursiven Ort, den er mit vielen zeitgleichen Texten teilt;14 auf hohe Akzeptanz bei den Lesern etwa des >Hyperion< darf gerechnet werden. Mit der Forderung nach dem zu konstruierenden Gesetz jedoch bricht diese argumentative Entwicklung jäh ab; der souveräne Autor, der Positionen entwickelt, tritt ab, das Wort erhält der »Fanatism« des Revolteurs, »bemüht, sich katastrophal auszusprechen, gänzlich

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Carl Einstein, Revolte, in: Die Aktion 2/1912, Sp. 1093 f., zit. n. C. E., Werke Bd. I, S. 122/12}.

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Kontrastiv vergleiche man etwa den zeitgleichen Text >Zehn Jahre nach Nietzsche< (1910) von Samuel Lublinsky, Grundhaltung: »Wir wissen, was wir ihm [Nietzsche] verdanken, und darum ist es an der Zeit, zu erkennen, was er uns zu tun noch übrigliess.« (zit. n. Bruno Hillebrand (Hg.), Nietzsche und die deutsche Literatur Bd. i, Tübingen 1978, S. 160-162; S. 161) Auf »erkennen« folgt hier immer »tun«, Theorie versteht sich als Propädeutikum zur Praxis. 163

primitiv und undialektisch«.15 Folgende Passage schließt unmittelbar an die These an: Der Snobbismus, in welcher Gestalt er auch auftreten mag, ist aus solchen [Gesetzen? Konstruktionen? M. B.] erwachsen. Sind diese geschriebenen Worte nicht ein Beweis solch seelischer Verzerrung, wo alles von einem Punkt aus gesehen wird, wo der Reichtum zur Armut des einstelligen Schauens zwingt, wo die Masse der Erinnerung jagt und quält zum Originellen. (23/24)

Spät genug wird hier der Titelbegriff des Textes eingeführt, und der Anschluß an das vorher Dargelegte ist schon grammatisch völlig unklar. Ist der Snobbismus bereits die (versuchte? gelungene?) Erfüllung der Forderung nach dem absoluten, gleichwohl konstruierten Gesetz? Das entspräche der erwartbaren Wendung ins Praktische, doch anstatt nun folgerichtige Verhaltensweisen zu propagieren, wendet sich der Text auf sich selber, definiert sich selbst als snobbistischen, d. h. als gefangen in der paradoxen Forderung, die er selbst eben »katastrophal« — ausgesprochen hatte. Der diskursive Text versteht sich selbst als eine Handlung innerhalb der von ihm beschriebenen paradoxen Situation des totalen Historismus, als die Handlung eines »Revolteurs«, der zugleich »Snobb« ist. Er - der Text - sieht »alles von einem Punkt« aus, zwingt sich also unter gewaltsamer Absehung von der »Masse der Erinnerung« zu einer einzigen Perspektive, die er verabsolutiert und apodiktisch setzt. Er konstruiert ein Gesetz, heißt das, ganz nach der eigenen paradoxen Forderung; nur kann er eben nicht vergessen, daß dieses Gesetz seine eigene »Konstruktion« ist, und vermag dementsprechend nicht, bedingungslos daran glauben. b) Zur Semiosis der apodiktischen Facetten Zu beschreiben ist also das Verfahren eines diskursiven Textes, der nicht an seine eigene Aussage glaubt. Man könnte zunächst meinen, ein solches Verfahren müsse ein dialektisches sein, aber gerade zur dialektischen Selbstaufhebung ist immer die überlegene, synthesefähige Instanz vonnöten, die hier fehlt. Daß >Der Snobb< seiner eigenen Aussage nicht »glaube«, besagt ja nichts anderes, als daß er sie (und damit sich) nicht in einen Kontext oder »funktioneilen Zusammenhang« stellt, in dem diese Aussage einen Sinn macht. Sie soll keinen Sinn in Bezug auf etwas anderes herstellen, sondern - wenn überhaupt - absolut, an und für sich selbst. Wider Erwarten ist es also nicht das dialektische Verfahren, sondern im Gegenteil das der apodiktischen Setzung, das hier in der Konsequenz eines radikalen historistischen Relativismus liegt. »Gänzlich primitiv und undialektisch« kommt im folgenden Textverlauf jede einzelne Aussage daher, vier Seiten lang isolierte Facetten über den Snobb. Ein Zusammenhang mit unmittel15

Carl Einstein, Revolte, S. 122.

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bar benachbarten Sätzen fehlt mitunter in solchem Maße, daß man vergeblich nach den grammatischen Anschlüssen z. B. der Pronomina sucht, von übergreifenden semantischen Strukturen ganz zu schweigen. Diese Isolierung der Facetten wiederholt auf Satzebene die Isolierung des Gesamttextes, die je einzelnen »Totalitäten« verweigern den »funktioneilen Zusammenhang« mit dem texte general. Eine Lektüre wird weiter dadurch erschwert, daß diese Isolierung der Einzelthesen offenbar keine aphoristische ist. Die Facetten, in die der Text zerfällt, erlauben ein isoliertes Zitieren viel weniger als Stellen aus argumentativen Texten. Das geläufige Verfahren einer Sekundärliteratur, die selektiv einzelne, >verständliche< Äußerungen herausgreift, in die eigene Darstellung von Einsteins >Kunsttheorie< integriert und dabei letzterer einen kompatibel diskursiven, d. h. argumentativ geschlossenen und widerspruchsfreien Charakter stillschweigend unterstellt, verfehlt das Spezifische der Textur solcher Texte. Isoliert man etwa eine Äußerung wie die folgende: Der Mensch, der hier zerschnitten und belebt wird [d. i. der Snobb; M. B.], ist ganz und gar Wille, er schätzt nur Gewölkes und wird darum die Groteske des ihn täuschenden Willens. (24),

so wird man ungefähr verstehen: Einstein kritisiert im Typus des Snobb eine Spielart des nietzscheanischen Willensmenschen, der aus Verkennung der Bedeutung von >realen< Außeneinflüssen grotesk wirkt - Selbstüberschätzung aus übertriebener Hypostasierung der eigenen Innerlichkeit. Das isolierte Zitieren einer anderen Facette dagegen Der Wert liegt [für den Snobb; M. B.] im Ding. Denn Wertung darf keine Kraftleistung sein, sondern der Schatten eines passiven Genusses. Die Dinge müssen entgegenkommen, so leise, daß sie immer da sind, wie Frauen. (24) -

ließe einen wohl verstehen: Einstein kritisiert im Typus des Snobb den passiv genießenden Decadent, der sich völlig von den Moden, Reizen und Stimmungen seiner Zeit bestimmen läßt, ohne selbst Werte zu definieren, sein Leben aktiv in die Hand zu nehmen.'6 Beide Bestimmungen sind einander inhaltlich diametral entgegengesetzt; so wie sie hier präsentiert sind, ist ihnen jedoch auch etwas gemeinsam: sie sind Ergebnisse einer unreflektierten rezeptionsästhetischen Vorentscheidung, die den Text als traditionell diskursiven einstuft. Eine solche Lektüre rechnet mit

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So versteht z. B. Heidemarie Oehm den >SnobbDer Snob< [sie] zugrunde liegt.« Der Snob sei »dem Kult der Originalität verfallen« und gelte »Einstein als ein Prototyp des bürgerlichen Liberalismus«. Die Pauschalierung verführt hier zur trivialisierten Vereinnahmung Einsteins für die Auffassung der Autorin selbst (H. O., Die Kunsttheorie Carl Einsteins, München 1976; S. in u. 158). 165

der gewohnten integralen Struktur eines Sinnganzen und der funktioneilen Zuordnung der Teile. Sie kann gar nicht anders, als in jedem einzelnen Zitat bereits die Essenz des Sinnganzen zu vermuten - eine Zitierpraxis, die einer Überprüfung in diesem Sinne nicht standhielte, gälte als inkorrekt. Zwei Zitate entgegengesetzten Inhalts stellen eine solche Leseerwartung aber schon vor Probleme: eins von beiden, denkt man, könne doch wohl nur gemeint sein, vielleicht auch ein Drittes, eine Synthese. Eine solche wird aber vom Textzusammenhang des >Snobb< eben verweigert, beide Zitate stehen dort gerade nicht in einem »funktionellen Zusammenhang«, etwa von These und Antithese - den bekommen sie erst durch die Präsentation hier in dieser Arbeit. Bei Einstein stehen sie gleichwertig nebeneinander als apodiktisch gesetzte Thesen mit absolutem Wahrheitsanspruch, die miteinander nicht einmal in der Weise interagieren, daß sie einen Widerspruch bilden könnten. Von der Einführung des »Snobbismus« an hat beinahe jeder Satz des Textes die Form »Der Snobb ist ...«, und die wenigen Statements, die rein grammatisch außerhalb dieser Prädikation liegen, müssen sofort ergänzt werden im Sinne von »[das gilt für den Snobb]«. Schematisiert sieht das so aus (S. 24/25): Der Snobb hat alles erkannt [...]; denn in unserem Menschen liegt [...] Dem Snobb ist [...]. Der Wert liegt [dem Snobb; [M. B. ..., s.o.]. Der Wert ist dem Snobb [...]. Eine betrachtende Güte [eignet dem Snobb; M. B.] [...]. Denn er ist immer in sich [...]. Er sieht sich fast immer zu [...]. Der Snobb ist nicht aus essentieller Nötigung so oder so [...]. Er haßt [...]. Der Beginn muß ihm [...] sein. Der Anfang bedeutet für ihn [...]. usw. usf.

Diese Textur ist unschwer zu erkennen als eine Variante der im letzten Kapitel besprochenen Katalogtextur. Sie bestimmt die gesamten vier Seiten von der These bis zum Textende. Außer dem »Snobb« - auch als »er«, »der Unsere« und »mein Lieber« angesprochen - kommen als Textsubjekte nur noch das »Gesetz«, der »Stil« und die »Liebe« vor - drei Begriffe, die unmittelbar als Prädikate des Snobbs ausgewiesen sind. Indem der Katalog von Prädikationen sich nach der Exposition als Textverfahren derart verabsolutiert, ergibt sich ein statisches Gebilde von Parallelismen, nebengeordneten Aussagesätzen, die scheinbar immer wieder das Gleiche sagen; allerdings mit Abweichungen, die - konfrontiert man isolierte Passagen - bis zu Widersprüchen führen. Diese Textur macht, wie gesagt, die klassische diskursive Struktur eines linearen argumentativen Ablaufs unmöglich, ohne dabei jedoch in aphoristische Splitter zu zerfallen. Die einzelnen Prädikationen fügen sich jedenfalls nicht komplementär zu einem runden Begriff »Snobb« zusammen, mit dem dann auf Strukturebene weiter zu operieren wäre. Es handelt sich also in meiner Terminologie nicht um eine historistische, sondern um eine rhetorische Katalogtextur. 166

Die quasi räumliche Nebenordnung apodiktischer Facetten konstituiert eine neue Art von semantischem Feld nach dem Verfahren des rhetorischen Kataloges. Dem Leser wird zugemutet, zwischen den einzelnen, jeweils apodiktisch absolutgesetzten Äußerungen selber Bezüge herzustellen, die ihm von keiner argumentativen Struktur, auch nicht von einer verborgenen oder zu ergänzenden, vorgeschrieben werden. Insofern hat Einstein ganz recht, gerade das Undogmatische seiner apodiktischen Textur zu betonen. Idealtypisch gesprochen entwirft jeder Satz die vollständige Definition des Gemeinten, wobei seine Erkenntnisleistung - programmgemäß - rein stipulativ bleibt.'7 Zahlreiche Facetten dieser apodiktischen Art definieren denn auch kumulativ als ein Text gelesen keinen Begriff traditioneller Art mit Oberbegriff und spezifizierenden Prädikaten, sondern etablieren ein Sprachspiel ohne fest umrissene Grenzen, wie es Wittgenstein sehr viel später in den philosophischen Diskurs eingeführt hat.18 Ein traditioneller Begriff ist auf seinen Sachgehalt hin transzendent und insofern als funktioneller Bestandteil traditioneller (z. B. mimetischer, präskriptiver, dogmatischer) Diskurse operabel. Aber - und das ist hier die Pointe - auch ein Sprachspiel ist eine Praxis, und zwar zunächst eine textuelle. Einstein etabliert mit seinem >Snobb< ein Textverfahren. Wer oder was ein Snobb sei, kann man nach der Lektüre des Artikels zwar nicht im Sinne einer deduktiven Logik auf den Begriff bringen (»Wer so und so ist, ist ein Snobb; XY ist so und so; also ist XY ein Snobb.«) - der Text verweigert entsprechend konsequent jegliches Beispiel -, aber man hat gelernt, Sätze zum Thema »Der Snobb« zu generieren, ein Spiel mit Signifikanten zu spielen, die sich - so die Hoffnung — die ihnen gemäße Wirklichkeit schon konstituieren werden. Nach traditionellen Begriffen macht die Textur der apodiktischen Facetten natürlich jede Lektüre von Grund auf problematisch: ohne übergreifenden argumentativen Zusammenhang ist der Status der einzelnen Äußerung - ob sie z. B. als positive Aussage, als Handlungsanweisung oder gerade im Gegenteil als Kritik, Karikatur oder Darstellung eines negativen Fakts verstanden sein will - nach gewohnten texttheoretischen Maßstäben schlicht nicht zu entscheiden. Der elementaren Einsicht zufolge, daß eine Äußerung nur Sinn innerhalb eines gegebenen Zusammenhanges mache, kann ein diskursiver Text, der den Regeln der Diskursivität hohnspricht, zunächst nur als polemische Kommunikationsverweigerung gelesen werden - es sei denn, es gelänge ihm, ein neues Sprachspiel zu etablieren. Eben darin aber - in der (polemischen) Verweigerung der gewohnten Verknüpfungsgesetze und dem (konstruktiven) Versuch,

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»Wir betonen, daß Erkennen nicht ein kritisches Verhalten ausmache, vielmehr ein Schaffen von geordneten Inhalten, d. h. totalen Systemen bedeutet.« (Carl Einstein, Totalität, S. 226). Vgl. hierzu und zum folgenden: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt '1980; bes. Teil I, Nr. 68-71 (S. 58-60). 167

über völlig eigengesetzliche Texturen neue Gesetze zu etablieren19 - besteht ja der ausdrückliche Skopus der Einsteinschen Kunsttheorie. Das geforderte »Gesetz« hat in diesem Fall die Form einer textuellen Praxis, eines neuen Sprachspiels. Von ihm wird die Potenz (Nietzsche und Foucault würden sagen: die Macht) erwartet, Diskurse zu etablieren, d. h. das Schreiben, und damit das Denken und letztlich die Wirklichkeit auf neue Weise »gesetzmäßig zu ordnen«.20 c) In Dodekaedern denken: Neues diskursives Schreiben Es ist also durchaus auch im Falle des >Snobb< noch sinnvoll, von einem »diskursiven Text« zu reden. Jedenfalls verbietet es sich, Texte der apodiktischen Facettentextur - wie bis heute üblich - einfach als traditionelle, aber defizitäre theoretische Texte zu lesen. Das Neue erweist sich auch hier als das Andere; neue Textverfahren erfordern neue Verfahren der Lektüre, andernfalls ist jede Rezeption zum Scheitern verurteilt. Carl Einstein hat die Schreibweise, für die hier die Bezeichnung »apodiktische Facetten« vorgeschlagen wird, in seinen wichtigsten diskursiven Texten bis hin zu den großen Texten der 3oer Jahre, dem >Georges BraqueSnobbgibt< es, man ist es langsam gewohnt, zunächst nur in der Form des Textes mit Namen >Der SnobbSnobb< als Text verwiesen, sobald man nach dem Ort dieses Typus fragt. Der Text als enharmonische Verwechselung des Snobb ist »tot«, d. h. er steht außerhalb des »funktionellen Zusammenhanges« des sonstigen Lebens. In dieser Lesart leuchten die Prädikationen auch unmittelbar ein: arrogante Ausschließlichkeit, Konstanz (besser: Ostinato) und ein absoluter Glaube der apodiktischen Setzung an sich selbst, das Fehlen jeder »kritischen« Distanz, das sind die Merkmale der apodiktischen Facetten-Textur. Diese Schreibweise repräsentiert einen Horizont allgemeiner Interpretativität, vor dem das Durchführen eines >richtigen< Argumentes, die Behauptung eines >wahren< Standpunktes und die Verabschiedung eines >falschen< obsolet erscheinen. Die einzelne Behauptung wird von keinem übergeordneten Standpunkt getragen und kreiert sofort ein Feld paralleler, z. T. differierender Setzungen, in dem allein sie bestehen kann. Etwas Vergleichbares verkündet der Erzähler in Robert Müllers >TropenDer Snobb< (27), und damit ist es an der Zeit, diese hier bereits mehrfach verwendete Gedankenfigur ausdrücklich einzuführen. Der Begriff stammt aus der musikalischen Harmonielehre und bezeichnet dort die Umdeutung einer Tonart in eine völlig andere, nach der diatonischen Logik weit entfernte Tonart, die aber, jedenfalls in der standardisierten modernen Klavierstimmung, genau gleich klingt (so wäre z. B. die Umdeutung von Gis-Dur nach As-Dur eine enharmonische Verwechselung). In seiner hier vorgeschlagenen übertragenen Verwendung meint der Begriff die Uminterpretation eines Phänomens bei seiner Übertragung von einem Bezugsrahmen (z. B. diskursiver Kontext, Sprachspiel, Interpretation) in einen anderen. Gegen diese Formulierung ließe sich einwenden: da Dinge nur als wahrgenommene, interpretierte, verstandene etc. überhaupt sind, können sie ohnehin niemals identisch sein, wenn sie in unterschiedlichen Bezugsrahmen stehen. Das ist ebenso richtig wie der Einwand des Musikers, daß ein Gis kein As sei. Dennoch treten diese Verwechselungen in der Praxis auf, und zwar überall dort, wo Paradigmen radikal wechseln. Zu beschreiben sind sie als Rezeptionsphänomen: etwas sieht aus wie ein vertrautes X und wird zunächst in dessen überkommenem Zusammenhang verstanden; erst indem der Kontext offensichtlich immer weniger zu diesem X passen will, ergibt sich schließlich die oft schmerzhafte Notwendigkeit, dieses X als etwas völlig anderes anzusehen, das man bisher nicht gewohnt war. Schon ein Wortspiel kann eine solche enharmonische Verwechselung inszenieren. »Es ist überhaupt meinem Lieben eigentümlich, Elementares als Schmuck und Letztes zu benutzen«, heißt es im >Snobb< (27). Der folgende Satz - »Da er von keinem Prinzip überfallen wird, saugen ihn die Dinge ein.« - deutet die mißverständliche Form »meinem Lieben« als Dativ zu »mein Lieber« [d. i. der Snobb]. Dann aber setzt scheinbar unmotiviert der nächste Absatz fort: »Und gäbe es ein geringeres Element als die Liebe?«(27). Da formal ein Anschluß vorliegt, ist zu vermuten, daß hier die Umdeutung von »meinem Lieben« als Dativ zu »mein Lieben« [im Sinne von: meine Liebe] zugrundeliegt. Diese letzten drei Absätze, in denen es um die Liebe geht, sind wohl die rätselhafteste Passage des Textes. Wovon ist hier eigentlich die Rede? Lesen wir den >Snobb< wie vorgeschlagen als Chiffre für die isolierte apodiktische 170

Facette, so thematisiert wohl die »Liebe« des Snobbs die Form der Interaktion mit anderen Facetten. Einem wesentlich kontextlosen Gebilde ist eine solche Interaktion freilich unmöglich; jede Facette setzt ja ihren eigenen Bezugsrahmen absolut: etwa vom Leser herangezogene andere Facetten können allein innerhalb dieser Setzung mit Sinn besetzt werden. Im Bild der Liebesbeziehung heißt das: Der zweite Mensch muß sich auflösen zur zierenden Floskel, sichtbarer Körper eines Stilgedankens werden, vielleicht den Stil fast restlos repräsentieren. (27)

D.h. aber, der oder das Andere kommt als Anderes, Zweites, Gleichberechtigtes gar nicht vor, sondern immer nur als Prädikat des Einen, des Snobbs. Als dessen »verantwortungsvolle Anstrengung«, d. i. apodiktische Setzung, schließt solche »Liebe« entsprechend die Möglichkeit »geschlechtlichen Verkehrs« aus: von »Einswerden« kann nicht die Rede sein, wo immer schon nur Eines ist (27). Soviel versteht man nach allem, was gesagt wurde. Jetzt aber, im zweitletzten Satz, kommt es scheinbar zu einem Bruch: die Perspektive des Snobbs wird verlassen, die des »zweiten Menschen« - den es doch gar nicht geben soll - eingenommen: Jeder ist irrational genug, sich gegen die Vollkommenheit einer theoretischen Form zu wehren, besonders wenn dies nichts ist als ein verblüfftes, das ist individualisiertes Gesetz. (27)

Das anfangs geforderte Gesetz, »das uns Glaube gibt, trotzdem es unsere Konstruktion ist«, ist als realisiertes stets ein »individualisiertes«, ein snobbistisches Gesetz. Seine Geltung entspricht dem absoluten Anspruch einer einzigen Facette, das »uns« kann immer nur ein Pluralis majestatis sein, allerdings einer Majestät ohne Volk, denn »jeder«, d. i. jeder Andere, entzieht sich dieser Autorität, so wie sich die letzten beiden Sätze des Textes dem »durchfurchenden verallgemeinernden Prinzip« des >Snobb< entziehen. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar. Denn auch dieser Schluß hebt die vertrackte Korrelation von Relativität und Absolutheit nicht auf. Relativieren kann sich das absolutgesetzte »Gesetz« des >Snobb< nur - im Bezugsrahmen eines anderen, ebenso absolut gesetzten »Gesetzes«. Perspektive erscheint als Perspektive nur aus einer anderen, aber für den Moment ebenso absoluten Perspektive. Jede Interpretation setzt sich selbst apodiktisch und absolut; aber Aber vielleicht gab der Snobb sich den Ändern nur als Reiz, denn wir sind enharmonische Verwechselungen. (27)

Dem Snobb ist jeder andere nur Reiz, d. h. Prädikat seiner selbst, und er ist jedem anderen nur Reiz, weil jeder andere ebenfalls Snobb ist. Unter den Bedingungen des historistischen Relativismus haben Bezugssysteme keine Autorität mehr, die sich aus etwas anderem speisen könnte als ihrem selbstgesetzten

apodiktischen Anspruch auf umfassende Gültigkeit und absolute Macht.13 Bezugssysteme (Sprachspiele, Interpretationen, Ideologien, »Gesetze« etc.) - so die Konsequenz - interagieren unter diesen Prämissen miteinander nur noch im Modus der enharmonischen Verwechselung.

4. Schluß Diskursive Texte verweisen auf Sachverhalte, d. h. sie sind wesentlich referentiell. Referentialität gibt es aber nur innerhalb von geltenden Bezugssystemen, d. h. innerhalb eingeführter Sprachspiele. Die Textur der apodiktischen Facetten setzt mit jedem Satz ein Bezugssystem, von dem aus sich Referentialität organisieren kann. Der Fülle der Facetten entspricht eine Fülle von Bezugssystemen und damit von möglichen Weisen der Referentialität, von möglichen Diskursen, die untereinander nicht hierarchisiert sind, sondern im Modus der enharmonischen Verwechselung miteinander interagieren. Diese Facettentextur repräsentiert damit den transzendentalen Horizont des relativistischen Historismus in seiner ganzen Radikalität. Sie erweist sich unter seiner Prämisse als die avancierteste der möglichen diskursiven Schreibweisen.

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Entsprechend sind die radikalsten Relativisten zugleich auch die Theoretiker eines generellen Machtprinzips (Nietzsche, Foucault).

9- KAPITEL ZUR FORSCHUNGSLAGE The method employed I would gladly explain, While I have it so clear in my head, If I had but the time and you had but the brain But much yet remains to be said. (Lewis Carroll/The Hunting of the Snark)

i. Der Historismus, die klassische Moderne und wir Es ist die Zeit für eine (Wieder-) Entdeckung der Textur. Die Möglichkeiten einer dezentralen Semiosis, die von keinem »durchfurchenden« Prinzip des Glaubens, der Vernunft oder des Fortschritts mehr bestimmt wird, gehören nicht nur wieder zu den Denkbarkeiten zeitgenössischer Theorie, »seit Lacan Freud, Foucault Nietzsche und Derrida Heidegger wiederholt haben«;1 sie gehören auch zu den Erfahrungen unserer gegenwärtigen Lebenswelt. An kleinen und kleinsten Aufgaben und Sinnangeboten ist kein Mangel, dagegen erscheint suspekt, wer den einen, ausschließlichen Sinn propagiert. Metanarrationen und Monokulturen aller Art gelten theoretisch und praktisch als obsolet. Das gestattet uns, an einen transzendentalen Horizont wieder anzuschließen, der für die klassische Moderne bestimmend war, mit ihrem Ende in den 2oer Jahren für den Mainstream europäischen Denkens aber weitgehend verloren ging. Dieser Horizont ist geprägt von einem historistischen Relativismus, der seine gültige philosophische Form im Theorem einer umfassenden Interpretativität bei Nietzsche gefunden hat.2 Für die Forschung kam er bis in die jüngste Zeit bestenfalls als historisch-obsoleter in den Blick. Das gilt noch für Lothar Köhns grundlegende Arbeit zur »Überwindung des Historismus< (1974/75), die die »zentrale bürgerliche Denkstruktur« des Historismus - verstanden als »Auflösung der Metaphysik, Historisierung und Individualisierung des Wahrheitsbegriffs (vor allem zunächst in bezug auf Geschichte und Gesellschaft selbst) und der Wertbegriffe (Handlungs- und Orientierungsnormen

1 2

Norbert Bolz, Philosophie nach ihrem Ende, 1992; S. 8. Entsprechend läßt sich die Konjunktur des hier gemeinten Horizontes am Grad der Wertschätzung ablesen, der sich Nietzsches Philosophie in den verschiedenen Phasen unseres Jahrhunderts erfreute. 173

einschließlich religiöser Bindungen)«3 - nachdrücklich als den transzendentalen Horizont identifiziert, »von dem her [...] die Literatur der Epoche als >Einheit< - in der Vielzahl ihrer widersprüchlichen >Tendenzen und Traditionen< [...] - begriffen werden kann«.4 Gemeint sind hier die 2oer Jahre, doch muß man die These Köhns wohl auf die Gesamtheit der klassischen Moderne seit Nietzsche ausdehnen, um ihr heuristisches Deutungspotential auszuschöpfen (und kann dies m. E. auch tun, ohne daß sie in ihrer Spezifität Schaden nähme). Sie lautet dann: Die heterogene Literatur der klassischen Moderne läßt sich als ein Spektrum von Lösungsversuchen zum Problem einer »Überwindung des Historismus« lesen. Die oben behandelten Programmatiker des frühen Expressionismus, Kandinsky und Einstein, fügen sich dieser These problemlos, bestätigen sie sogar ausdrücklich.* Wie dargelegt, beruht das spezifische »Überwindungs«-Konzept der emphatischen Moderne auf einer Gedankenfigur, die den Bezug auf eine vorbegriffliche und außerhistorische Primärwirklichkeit bemüht. Ein solcher Rekurs auf ein »begriffstranszendentes Absolutum« verfällt aber für Köhn sofort dem Verdikt der »Ideologie«, und zwar - und hier liegt die Pointe gerade qua Historismus: Darin erst zeigt sich vollends, daß >dieser Prozeß der Historisierung nicht rückgängig zu machen ist< (Schulz), weil er prinzipiell auch alle Überwindungsversuche, alle Fixierungen des Übergeschichtlichen historisiert und >ideologisiertIdeologie< aber fällt die Klappe der >clöture Vgl. Kapitel 2. 6 Lothar Köhn, Überwindung des Historismus, S. 751. 1/4

eine »Rückkehr zu naiver Ungeschichtlichkeit«7 zu betreiben. Er braucht dieses begriffstranszendente Absolutum vielmehr - und hier wird es doch erst spannend - als Funktionsstelle in seinem Diskurs. Gerade weil der Historismus als universales Konzept für uns unhintergehbar ist, ordnen sich die historischen Überzeugungen - als Interpretationen - für uns systematisch nebeneinander, sie sind unmittelbar wo nicht zu Gott, so doch zum Interpreten. Somit verbietet sich gerade unter historistischem Vorzeichen ein derogativer Ideologiebegriff, oder besser: der Begriff >Ideologie< schließt nicht länger Probleme ab, sondern öffnet sie erst. Es ist den New Historicists zuzustimmen: A closed and static, singular and homogeneous notion of ideology must be succeeded by one that is heterogeneous and unstable, permeable and processual.8

II n'y a pas de hors-ideologie, könnte man sagen. Die Frage geht daher sinnvollerweise immer nach der Funktion der jeweiligen >ideologischen< Setzung. Und da haben wir gesehen, daß das Ideologem eines visionären Kontaktes zu einem nicht (und zwar prinzipiell nicht) näher bestimmbaren Absoluten gerade keine Ideologie im schlechten Sinne eines dogmatischen Systems mit autoritären Handlungsanweisungen produziert, sondern einzig und allein die abstrakte Forderung, künstlerisch das ANDERE hervorzubringen. Praktisch bedeutet das die Lizenz, unverständlich zu malen und schreiben. Nun gilt nach wie vor das Diktum Carl Einsteins, daß »jede Zeit [...] sich ihre Geschichte durch die ihr gemäße Auswahl [schafft]«, und so erscheint uns heute die Geschichte der klassischen Moderne, wie sie die bisherige Forschung erzählt, in mehrerlei Hinsicht als unbefriedigend und jedenfalls im Mißverhältnis zur ungebrochenen ästhetischen Herausforderung, die von ihren Werken ausgeht. Entweder bleibt der transzendentale Horizont ganz außer acht, womit der klassischen Moderne ein konstitutiver Faktor in ihrer Darstellung fehlt; oder er wird als obsolet und nicht anschlußfähig gewertet, wodurch die klassische Moderne als defizient in ihrer eigenen ideologischen Bedingtheit erscheint. Noch in der Postmoderne-Diskussion der vergangenen Jahre wurde die klassische Moderne ihrem Begriffe nach meist einer (sozusagen nach-klassischen) Moderne überlassen - vielfach zu Unrecht, m. E. Eine >texturierte< Moderne, wie diese Arbeit sie entwirft, entspricht in wesentlichen Merkmalen, vor allem aber in den Prinzipien ihrer Semiosis, eben nicht mehr den Kriterien, die in unserer >postmodernen< Zeit für Modernität stehen (wie Linearität, Aufklärung, Fortschritt, Metanarrationen, >form follows function< etc.), sondern denen, über die sie sich selbst definiert. 7 8

Lothar Köhn, Überwindung des Historismus, S. 751. Louis Montrose, Professing the Renaissance, S. 22.

Köhn hat gar kein Problem mit dem Historismus, weil er ihn mit der Metanarration linearer Geschichte verwechselt, die ihm ohnehin selbstverständlich ist. Diesem Fehler entgeht man mit einem differenzierteren Begriff von Historismus, wie ihn Herbert Schnädelbach expliziert hat. Schnädelbach sieht den Komplex »Historismus« zusammengesetzt aus zwei Faktoren. Da ist zunächst der Positivismus der Geisteswissenschaften: die wertfreie Stoff- und Faktenhuberei ohne Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, die aber gleichwohl mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität auftritt,

und erst auf dieser gleichsam materiellen Grundlage wird der zweite Faktor eigentlich zum Problem, nämlich der Historismus als historischer Relativismus [...], d. h. als eine philosophische Position, die mit dem Hinweis auf das historische Bedingtsein und die Variabilität aller kulturellen Phänomene absolute Geltungsansprüche - seien sie wissenschaftlicher, normativer oder ästhetischer Art - zurückweist.9

Die historistische Situation besteht also in einer virtuell unendlichen Fülle von Daten (historistischer Positivismus) ohne ausgezeichnete Ordnungsmuster (historistischer Relativismus). Ich erinnere an Einsteins gleichsinnige Bestimmung eines »simultanen Historismus«.10 In dieser wesentlichen Bestimmung ist die >postmoderne< Situation mit der historistischen in der Tat durch Wiederholung verklammert." Dementsprechend kann den Lösungsversuchen zu diesem Problem in der Kunst der klassischen Moderne, die zuvor nur als Ideologeme in den Blick kommen konnten, neuerdings wieder ein Interesse an ihrer formalen Dimension entgegengebracht werden.

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Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. Carl Einstein, Verkündigung, in: Werke I, S. 63 (Vgl. Kapitel 2). 1 ' Insofern halte ich auch - im Gegensatz zu seinen Vertretern - den New Historicism für einen >echten< Historismus. Greenblatts Abgrenzung, »the earlier historicism tends to be monological; that is, it is concerned with discovering a single political vision [that] can serve als a stable point of reference, beyond contingency«, trifft eben nicht das Historismusproblem der klassischen Moderne, z. B. Nietzsches. (Stephen Greenblatt, The Power of Forms in the English Renaissance, Introduction, S. 3-6; S. 5 [collagiert]).

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2. Historismus und Textverfahren Eine gesunde Antwort schlägt Wurzeln in der Frage. Die Frage ist ihr Nährboden. Gewöhnlich glaubt man, sie schaffe die Frage aus der Welt. Tatsächlich scheinen in den sogenannten glücklichen Epochen nur die Antworten lebendig. Doch läßt diese affirmative Zufriedenheit bald nach. Die authentische Antwort bedeutet stets das Leben der Frage. Sie kann die Frage fest umschließen, doch tut sie das nur, um sie zu bewahren, indem sie sie offenhält. 12

Wenn das Verhältnis von Historismus und literarischer Moderne als ein Verhältnis von Frage und Antwort, von Problem und Lösung rekonstruiert wird, so kann behauptet werden, daß in den Antworten, die die literarische Moderne ausmachen, die Frage, das Problem des Historismus virulenter ist, als es im Historismus selbst je der Fall war. Das 19. Jahrhundert war eine dieser »glücklichen Epochen«, von denen Blanchot spricht, seine Antwort, sein Absolutes war die Geschichte, beinah durchweg interpretiert als Fortschritt: biologisch, technologisch, ökonomisch und sozial. Kunst war demgegenüber, mit Hegel gesprochen, nicht mehr in der Lage, »Absolutes« zu stiften, gab es auf zu konkurrieren und wurde folgerichtig zu einem »Ding der Vergangenheit«.'3 Erst in der Wendung des Historismus gegen sich selbst wurde Geschichtlichkeit wieder fragwürdig im doppelten Wortsinn. Geschichte als Problem ist damit konstitutiv für die Moderne, um die es hier geht: erst in dem Moment, wo Geschichte selbst historisiert, d. h. nicht mehr als Absolutum, sondern als ein Relatives begriffen werden konnte, konnte Kunst an sich selbst wieder ernsthaft den Anspruch nach Absolutheit richten. Dieser Anspruch fungiert nun in der Programmatik der emphatischen Moderne wie gesagt nicht als Lizenz einer wie immer gearteten dogmatischen Festlegung, sondern legitimiert im Gegenteil eine radikale Freisetzung der Kunst von traditionellen Bindungen, insbesondere vom Anspruch auf Mimesis und Kommunikabilität.' 4 Erst mit dieser Lizenz zur Unverständlichkeit als ideologischer Voraussetzung kann die Entdeckung der Textur zu neuen Textverfahren führen, die dann auch als literarische Akzeptanz finden. Eine zweite, eher materiale Voraussetzung dieser Entdeckung der Textur hat neuerdings Gotthart Wunberg in die Diskussion gebracht. Seine These lautet, daß die Literatur des späten 19. Jahrhunderts 12

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»Une reponse juste s'enracine dans la question. Elle vit de la question. Le sens commun croit qu'elle la supprime. Dans les periodes dites heureuses, en effet, seules les reponses semblent vivantes. Mais ce bonheur de l'affirmation deperit bientöt. La reponse authentique est toujours vie de la question. Elle peut se refermer sur celle-ci, mais pour la preserver en la gardant ouverte.« (Maurice Blanchot, L'Espace Litteraire, Paris '195$; S. 219 [Übersetzung M. B.]). Vgl. Blanchot, L'Espace Litteraire, S. 221. Mit Deleuze/Guattari könnte man diese Funktion als »deterritorialisierende« bezeich-

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in der Auseinandersetzung mit historischen Stoffen und zugleich der direkten Aneignung von wissenschaftlich-historischen Techniken auf quasi-historistischem Wege ein sprachliches Verfahren [entwickelt hat], das schließlich für sich selbst stehen [...] kann."

Hier wird also mit Bezug gerade auf den positivistischen Aspekt des Historismus argumentiert: die von der Wissenschaftspraxis des 19. Jahrhunderts und ihren Popularisierungen bereitgestellte Flut an neuen Lexemen soll eben die Tendenz zu einer Autonomie der Lexeme wesentlich befördert haben, deren Effekt Nietzsches nun schon mehrfach zitierte Definition von Decadence beschreibt. Das neue, seltene, exotische, kostbare Wort, zunächst noch als Garant mimetischer Wahrheit und Echtheit auf dem neuesten historischen, archäologischen, ethnologischen etc. Stand gedacht, »wird souverain und springt aus dem Satz hinaus«, d. h. entfaltet eine Semiosis jenseits seines ursprünglichen Referenzsystems. Dabei lockert sich insbesondere die Beziehung zwischen seinem Klang- und Schriftkörper einerseits und seiner lexikalischen Bedeutung andererseits; von daher, so Wunbergs These, nehme die moderne Literatur seit dem Fin de siecle die Lizenz zu ihren neuen, anti-referentiellen und damit tendenziell unverständlichen Textverfahren. Man mag hier noch ein methodisch stringentes Modell (z. B. intertextueller Prozesse) vermissen, nach dem genau diese Entwicklung - wenn es denn eine ist - von der Wissenschaftsprosa über den Professorenroman zur Literatur des Naturalismus und der Wiener Moderne beschrieben werden kann - in jedem Falle gelingt es Wunberg, in einer kühnen Synopsis der klassischen Moderne einige überraschende Schaltstellen dieser Entwicklung zu zeigen, die seine These vorerst ausgesprochen plausibel erscheinen lassen.16 Der Rückbezug auf den historistischen Positivismus ist jedenfalls geeignet, zu demonstrieren, wie die >Frage< des Historismus in den >Antworten< der Literatur der klassischen Moderne weiterlebt (im Sinne Blanchots), und zwar in ihrem Material, in ihrer Machan und ihren Textverfahren, kurz: in ihrer Textur. Damit ist der forschungsgeschichtliche Ort dieser Arbeit benannt.17 Im Kontrast dazu gilt es im folgenden, die Gültigkeit der Ergebnisse einer Expressionismusforschung in Frage zu stellen, die die Literatur der emphatischen Moderne - im Rückgriff immer nur auf den relativistischen Aspekt des 15 16

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Gotthart Wunberg, Historismus und Fin de siecle, S. 13. Solche Schaltstellen sind z. B. die Katalogtexturen in der Prosa von Flaubert bis Huysmans (vgl. Kapitel 7). Die Arbeit entstand im Kontext eines deutsch-französischen Forschungsprojektes zum Thema »Historismus und literarische Moderne«. Einige der hier vorgelegten Gedanken und Formulierungen sind in enger Zusammenarbeit mit den Tübinger Projektteilnehmern, namentlich Christoph Brecht, Dirk Niefanger, Burkhard Schäfer und Gotthart Wunberg entwickelt worden, die ihre Ergebnisse andernorts vorlegen oder vorgelegt haben.

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Historismus - beinahe ausschließlich und jedenfalls primär als ein Spektrum von Ideologemen bzw. Existenzialen betrachtet hat.

3. Der Krisendiskurs. Zur Expressionismus-Forschung Mit der souveränen Geste des erfahrenen Germanisten verweist Richard Brinkmann noch 1980 den Forschungsgegenstand »Prosa des Expressionismus« von wenigen »großen« Autoren abgesehen - an den unteren Rand der Agenda seines Faches.'8 Schon seinen ersten Historiographen hatte der Expressionismus in diesem Sinne als eine marginale, äußerst zeitgebundene und etwas pubertäre Kunst gegolten, die dringend von einer neuen »männlichen Literatur« abgelöst werden müsse: »Freunde, nicht diese Töne!«'9 Die Prosa wiederum gilt als die marginale Gattung der Epoche: kaum ein Roman, nur die obskure Kurzprosa der Zeitschriften, die unser Gegenstand war - wir sprechen hier wahrlich nicht von >großer< Literatur im Sinne des Kanons. Dennoch liegen einige Versuche zu Gesamtdarstellungen vor, zunächst Walter Sokels Ansatz zu einer Typologie von 1969.*° Sokel will eine »Döblinsche« Richtung, die eine »objektivierende Erzählperspektive« (155) bevorzuge, von einer »Einsteinschen« unterscheiden, der es »nicht um Literarisches, sondern um Weltanschaulich-Ideelles« gehe (156). Der »knappe, parataktische Stil« der

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»Wenn man einige Forscher liest, die sich mit der expressionistischen Prosa eingelassen haben und die für ihr Gebiet aus nachfühlbaren Motiven eine gewisse Importanz beanspruchen müssen, gerade wo sie nicht mit einem der großen wie Kafka, Musil, Trakl, Brecht oder auch Döblin zu tun haben, könnte man meinen, alles >Eigentliche< zur Erzählkunst im Expressionismus stände noch bevor, der Anfang sei kaum gemacht. Wer viele Texte der Zeit und viel Forschung und Kritik dazu gelesen hat [...], wird die Hoffnungen dämpfen und sich überdies bei manchem Verschollenen beruhigen. [...] Oft ist der Mantel des Vergessens auch von einer eher gnädigen Geschichte ausgebreitet worden.« (Richard Brinkmann, Expressionismus. Internationale Forschung zu einem internationalen Phänomen [DVjs-Sonderbd.], Stuttgart 1980; darin Prosa S. 265-272; S. 272). So Kurt Pinthus schon 1919 im Vorwort der >Menschheitsdämmerung< (Eine Symphonie jüngster Dichtung, Berlin 1920; Neuausgabe: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, Hamburg 1986; S. 31). Vorher Bezug auf: Kurt Pinthus, Männliche Literatur, in: Das Tagebuch 10/1929.1, S. 903-911. Walter H. Sokel, Die Prosa des Expressionismus, in: Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, Hg. W. Rothe, Bern/München 1969, S. 153-170 (Seitenangaben hieraus im folgenden im Text in runden Klammern). Brinkmanns Forschungsbericht kann außerdem nur noch auf Armin Arnold zurückgreifen (Prosa des Expressionismus. Herkunft, Analyse, Inventar, Stuttgart u.a. 1972). Arnold widmet sich jedoch nur wenigen, immerhin entlegenen Autoren (Franz Jung, Curt Corrinth) und gibt keine Gesamtdarstellung. Verdienstvoll ist seine Bibliographie der Primärliteratur nach Erscheinungsjahr.

ersteren neige zur »Aneinanderreihung« oder »Ellipsis« (157), in der zweiten erfahre der »Ideengehalt [...] unmittelbare Formulierung« (162), sie neige daher mehr zur »Aphoristik« (157). Dabei stellt Sokel Döblin in eine Reihe mit Flaubert, Spielhagen, Henry James, den Naturalisten, den Futuristen sowie Heym, Kafka und Edschmid (155), während Einstein, von der Romantik, Nietzsche und Andre Gide herkommend, mit dem Dadaismus, Musil, Benn und Otto Flake eine Gruppe bildet (156). Man ist versucht, diese Kataloge als rhetorische zu lesen (nach dem Motto: Eins von diesen Dingen ist nicht so wie die ändern ... 2I )> doch kann zumindest die erste Gruppe einigermaßen homogenisiert werden: hier ist offensichtlich ein Impersonales Erzählen in der Tradition Flauberts gemeint, d. h. grundsätzlich verständliche, nicht-texturierte Texte. In der zweiten Gruppe sammelt sich dann ein heterogener Rest, zu dem mit dem Gide der >PaludesBebuquinVerständnis< eines angeblich Gemeinten, eines Inhalts, zu gelangen. Literarisches Verfahren als eigenständiger oder gar primärer Gegenstand kommt dabei nicht in den Blick. Wilhelm Krull, der 1984 einen Forschungsbericht zur >Prosa des Expressionismus< vorgelegt hat,23 ist bereits Sokels Versuch, »die expressionistische Prosa nach Erzählstrukturen und -per11

Herrliche Kataloge dieser Art auch bei Erich von Kahler, dessen Beitrag ich hier, auf Anraten Brinkmanns (Expressionismus, S. 268), vergessen habe. " Daß Sokel hier allerdings so ausführlich auf Flake eingeht (und noch dazu die Futuristen auf die »objektivierende« Seite schlägt), weist darauf hin, daß seine Einteilung sich im wesentlichen an Döblins eigener Programmatik orientiert, ohne an den Texten selber zu überprüfen, was Döblin mit dem geschätzten Marinetti und Flake mit der emphatischen Moderne, auf die er sich beruft, denn tatsächlich verbindet (vgl. auch Kapitel 6). 13 Wilhelm Krull, Prosa des Expressionismus, Stuttgart 1984. 180

spektiven zu typologisieren«, zu formalistisch. Er verstelle die Möglichkeit, »die literarische Praxis expressionistischer Schriftsteller als Resultat der Bearbeitung verschiedener Stoffe unter den Bedingungen einer besonderen historischen Denkform zu begreifen«,24 eine Möglichkeit, die dafür die meisten anderen Forscher munter wahrnehmen. Die »historische Denkform« ist dabei stets als Diskurs einer Krise gedacht: Welt, Wahrnehmung, Subjekt und Sprache werden den Autoren problematisch, ihre Texte sollen dies ausdrücken25 bzw. gerade in ihrer eigenen Krisenhaftigkeit belegen. Dietrich Krusche sieht in seiner methodikbetonten Arbeit die »Gefährdung der Intersubjektivität« als den Problemhorizont der klassischen Moderne.26 Mit dem von Jauß und Iser bereitgestellten Arsenal der Rezeptionsästhetik analysiert er erzählende Kurzprosa zwischen 1910 und 1933 vor allem auf ihre »Kommunikationsstrukturen« hin. So diagnostiziert er bei Ehrensteins Tubutsch und Benns Rönne eine (krisenhafte) »Isolierung der Subjektposition«.27 - Thematisch ähnlich (»Problems of Integration«, »Problems of Autonomy«, »Autistic Worlds«) gliedert die Arbeit von Augustinus P. Dierick ihren Gegenstand.28 Dierick plauscht allerdings ganz erheblich, schert sich - trotz des Untertitels - wenig um Theorie und Methodik und bekennt schon im Vorwort, daß ihn ästhetische und formale Kriterien wenig kümmern: »aesthetic and formal criteria are not primary ones in my approach«.29 Der Grund dafür ist, daß er die Schreibweisen, den »Stil« des Expressionismus für wenig signifikant hält — »Indeed, many critics have despaired about the possibility of talking about style at all.« - im Vergleich zum alles bestimmenden Zeitgeist (»spirit of the times«).30 Seine Analysen sind denn auch mehr oder weniger Paraphrasen, die von >Tubutsch< etwa mündet in die Erkenntnis, daß dem Protagonisten mit der äußeren Welt auch sein Selbst abhanden gekom-

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Wilhelm Krull, Prosa des Expressionismus, S. 3. Hier lebt die alte, von Anfang an obsolete Definition von Expressionismus als »Ausdruckskunst« im typologischen Gegensatz zum Impressionismus als »Eindruckskunst« weiter. Dietrich Krusche, Kommunikation im Erzähltext, Bd. i: Analysen. Zur Anwendung wirkästhetischer Theorie, München 1978. Dietrich Krusche, Kommunikation im Erzähltext, S. 51-69. Typologisch davon unterschieden werden die »Entgrenzung der Subjektposition« bei Sternheim, Heym, Weiß und Frank, die »Polarisation« bei Mann, Musil und Broch und schließlich die »Dekomposition von Bewusstsein« bei Benn und Döblin. Augustinus Petrus Dierick, German Expressionist Prose. Theory and Practice, Toronto/Buffalo/London 1987. Augustinus P. Dierick, German Expressionist Prose, S. xi. Augustinus P. Dierick, German Expressionist Prose, S. 31. Dierick merkt wohl, daß sich mit dieser formalen Attributlosigkeit auch sein Gegenstand zu entziehen droht, doch er verzweifelt nicht: »Our faith in expressionism is tested in the process of reading, just as our faith in God is tested in living.« (S. 5).

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men sei.3' Müßig zu betonen, daß Studien dieser Art hinter der formalen Komplexität ihrer Gegenstände weit zurückbleiben. - Einen weiteren Versuch einer Typologie unternimmt Joseph L. Brockington.32 Er greift Sokels Polarisierung auf - Einstein steht für einen »Expressionismus des sprachlich Dargestellten«, Döblin für einen »der Handlung« - und ergänzt sie um die »Pole« Edschmid (»Expressionismus der Sprache«) und Stramm (»Expressionismus des Erzählens«). Die Einteilung bleibt willkürlich, formal unbegründet und heuristisch denkbar fruchtlos.33 Es überrascht nicht, daß diese formal uninteressierten Arbeiten wenig Gattungsspezifisches zutage fördern. Die gängigen Positionen des Krisendiskurses, der hier verhandelt wird, sind denn auch im wesentlichen bereits in den Standardwerken zur Epoche Expressionismus abgesteckt.34 Krise ist dabei immer die Krise eines Autors, seiner Figur, seiner Zeit oder eines anderen Individualoder Kollektivsubjektes. In der monographischen Forschung zu den einzelnen Autoren - die hier im einzelnen zu besprechen nicht der Ort ist35 - liegt daher die Betonung eher noch stärker auf den persönlichen und repräsentativen Krisen als in der übergreifenden Literatur - mit anderen Worten, Texte kommen dort als Texte tendenziell noch weniger in den Blick als ohnehin schon.36

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»The examination of Ehrenstem's work has shown that the subjective viewpoint tends to create a kind of autistic world, in which the isolated self, lacking the corrective of an objective viewpoint and the mitigating force of distance which could create irony, is thrown upon itself not as a free agent but as an absurd, highly vulnerable entity. Under these circumstances every reference to the outside world becomes a source of uncertainty. Loss of self is intensified by the loss of external reality.« (Augustinus P. Dierick, German Expressionist Prose, S. 124) Je nun! Joseph L. Brockington, Vier Pole expressionistischer Prosa. Kasimir Edschmid, Carl Einstein, Alfred Döblin, August Stramm, Bern / Frankfurt 1987. Einsteins Prosa etwa sei »unoptisch« (Joseph L. Brockington, Vier Pole, S. 90/91); der >Bebuquin< »ein Roman über subjektive Wahrnehmungen und Erfahrungen« (S. 116). Das ist nicht mehr bloß unergiebig, es ist schlicht Unsinn. Vgl. auch den Verriß von Klaus Siebenhaar (in: Germanistik 30/1989, Nr. 1345). Vor allem: Silvio Vietta/Horst Kemper, Expressionismus, München ^985 ['1975]; Problem- und Analyseteil der Monographie orientieren sich an der »Zentralkategorie der Dissoziation« (des Ich, der Wirklichkeit) (S. 215). Vgl. auch: Walter H. Sokel, The Writer in Extremis, Stanford 1959; Christoph Eykman, Denk- und Stilformen des Expressionismus, München 1974; Thomas Anz, Literatur der Existenz. Literarische Pathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus, Stuttgart 1977. Ich verweise auf die Literaturangaben in den jeweiligen Kapiteln und die dort bezeichneten weiterführenden Bibliographien. Das gilt für die Literatur (soweit existent) zu den meisten der hier behandelten Autoren, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Besonders kraß ist es bei Ehrenstein (Vgl. Armin A. Wallas, >Von der Nacht beschienene Forschungsbericht: Neue Literatur über Albert Ehrenstein, in: Sprachkunst 19/1988, S. 175-186). Zur Däubler-Literatur wurde oben genug gesagt. Bei Benn geht man die >existentielle< Krise eher philosophisch an, bei Einstein steht zumeist die >Kunsttheorie< im Vordergrund. Nur in der

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Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, Texte kriseln nicht. Wer die moderne Literatur primär als Ausdruck einer oder mehrerer Krisen versteht, liest — bewußt oder nicht - a) ihre Textverfahren als defiziente Modi traditioneller Textverfahren und b) diese Defizienz wiederum als mimetische Abbildung der Defizienz eines Subjektes bzw. der modernen Welt. Dieses Rezeptionsmuster mag nahe genug liegen und hat zunächst auch seine Berechtigung. Reden in diesen Texten nicht ständig Irre, Gestörte und Autisten? Und folgt daraus nicht, daß hier Autoren mehr oder minder bewußt defiziente Texte konstruieren, um daran die zerstörerischen Defekte der modernen Welt zu demonstrieren? Das ist richtig, jedoch eben nur, soweit man den Standard mimetischen, >realistischen< Erzählens des 19. Jahrhunderts voraussetzt, an den ja auch die Prosa der Neuen Sachlichkeit und der Nachkriegszeit wieder anknüpft. Vor allem in den Kapiteln i und 7 konnte aber gezeigt werden, daß gerade in der Prosatextur der zehner Jahre eine enharmonische Verwechselung stattfindet, an deren Ende der Irrsinn nicht mehr ist, wonach er aussieht.37 Was sich zunächst (und vielfach auch weiterhin) als Mimesis von defizienten Zuständen im Sinne des Krisendiskurses ausgibt, kann sich plötzlich als autonomes Textverfahren etablieren, das sich ganz unabhängig von den alten Überschriften fortschreiben läßt und ganz neue Formen von Semiosis in Gang setzt. Die Entdeckung der Textur löst das Dargestellte, den >Inhalt< (Objekt und Subjekt) als strukturbestimmendes Paradigma des literarischen Textes ab zugunsten des Verfahrens, der >FormWirklichkeit< auf wie die Bilder Klees, Kandinskys oder Braques in einer Bestimmung als defiziente gegenständliche Malerei des 19. Jahrhunderts. Wer den Krisendiskurs perpetuiert, bleibt bei Lord Chandos stehen: dort ist Krise, aber eben noch im alten Textverfahren. Wer den Krisendiskurs als vorrangiges Interpretationsmuster fortschreibt, läßt also gerade das Neue und Wesentliche an der emphatischen Moderne außer Betracht, ihr produktives Potential; er rekurriert immer bloß auf den Sinn und die Wirklichkeit, die sie negiert, ohne zu dem Sinn und der Wirklichkeit durchzudringen, die sie setzt. Was natürlich auch einfacher ist, denn der alte Sinn und seine Gefährdung sind längst formuliert,38 während die Verfahren und Möglichkeiten der neuen Semiosis erst zu beschreiben und auszuloten wären. Der Krisendiskurs hat die klassische Moderne verpaßt und bis heute überlebt. Setzen wir ihn aus! Auch späte Einsicht ist oft noch schön.

4. Formale Ansätze zur Prosa der Moderne Es wäre ganz verfehlt, die hier thematisierte obskure Kurzprosa um 1910 als vom Kanon zu Unrecht vergessene »große« Literatur zu beklagen oder anzupreisen (insofern hat Brinkmann recht). »Der Glanz einer solchen Literatur ist gerade, daß sie >klein< ist«, nämlich in dem von Gilles Deleuze und Felix Guattari bestimmten Sinne: Große oder etablierte Literaturen folgen einer Linie, die sie vom Inhalt zum Ausdruck führt: Sie müssen für einen gegebenen Inhalt in gegebener Form die passende Ausdrucksform finden, entdecken, sehen. Was man gut begriffen hat, kann man auch gut sagen. - Die »kleine« oder revolutionäre Literatur indessen beginnt mit dem Sagen und sieht oder begreift erst später.39

Anders gesagt: »der Ausdruck prescht vor, er geht den Inhalten voraus«.40 Sowohl mit dieser allgemeinsten Bestimmung einer »litterature mineure« als auch mit ihrem Begriff des »Rhizoms«4' sind die beiden Autoren ganz nah am hier vorgeschlagenen Begriff einer texturierten Prosa. Kafkas Text lesen sie als

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Es sei nur an das hinlänglich oft bemühte Schlagwort von der »transzendentalen Obdachlosigkeit« (Lukäcs) erinnert. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur [Kafka. Pour une litterature mineure, Paris 1975], aus dem Französischen von Burkhart Kroeber, Frankfurt 1976; zum Begriff einer »litterature mineure« S. 24-39; Zitate S. 28 u. 40. Deleuze/Guattari, Kafka, S. 118. Deleuze/Guattari, Kafka, S. 7.

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das Produkt »wuchernder Serien«, ein »Kontinuum aus lauter Kontiguitäten«.42 Was da in Kafkas Prosa wuchert, ist allerdings wenn nicht inhaltlich bestimmt, so doch jedenfalls in der Texthierarchie auf höherer Ebene angesetzt als das, was hier Textur heißt: es geht um Konfigurationen, Topographien und Maschinen, die letztlich doch auch deutbar erscheinen. Das ist legitim und liegt nicht nur am spezifischen Erkenntnisinteresse der Verfasser, eines Philosophen und eines Psychiaters, sondern trifft wohl auch eine Eigenart der Kafkaschen Prosa (besonders der Romane), die hier unberücksichtigt bleiben muß. Die texturierte Prosaliteratur des frühen Expressionismus ist demgegenüber womöglich noch >kleinerSinn< des Ganzen belastet ist, mit Foucault gesprochen also einer »positiv(istisch)en« Beschreibung. Wenn man an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen stellt, ist man ein Positivist, nun gut, ich bin ein glücklicher Positivist, ich bin sofort damit einverstanden.44

Das bedeutet nicht, daß man die Frage nach der Bedeutung ausschließt, nur, daß man ihr den Rang zuweist, der ihr vor dem Gegenstand texturierter Prosa zukommt: den zweiten. Eben diese elementare Bereitschaft, zunächst einmal »Positivist« zu sein, Befunde zu sammeln angesichts eines Gegenstandes, der sich der Einordnung in tradierte Kategorien nicht recht fügen will, fehlt aber der Forschung in der Regel. Eine Ausnahme findet sich an unerwarteter Stelle, nämlich in der Gattungsdiskussion um das Prosagedicht. Ulrich Fülleborn hat seit 1970 den Versuch unternommen, diese Gattung zu definieren,45 ja allererst textlich zu konstituieren - ein eingestandenermaßen schwieriges Unterfangen, da das Prosagedicht, »weil immer aufs neue mit Traditionen brechend, nur eine schwache eigene

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Deleuze/Guattari, Kafka, S. 74 u. 71. Kafka konnte es ja immerhin geschehen, von Forschung und Rezeption - gegen seinen Willen, und Deleuze/Guattari würden sagen: irrtümlicherweise - zum »großen« Autor gemacht zu werden, vor allem wohl auf Grund seiner Romane. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, aus dem Französischen von Ulrich Koppen, Frankfurt 4i99o; S. 182. Ulrich Fülleborn, Das deutsche Prosagedicht. Zu Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1970. 185

Tradition ausbildet.«46 Ganz ähnlich wie in der Diskussion um das Feuilleton47 gilt auch hier das Primat der Form als das Differenzkriterium zur übrigen Prosaliteratur: das Prosagedicht tendiere dazu, auf sich als sprachliches Gebilde zu zeigen, indem es die ästhetischen Elemente sowie die gedanklichen und sachlichen Inhalte zurücktreten läßt zugunsten der formalen Seite der Sprache.*8

Auch Fülleborn schlägt daher eine Art Paraphraseprobe vor, um den »Gedichte-Charakter von Prosa zu bestimmen: Bei einem Prosagedicht [...], mag in ihm auch die potentielle Fabel einer Kurzgeschichte als Gestaltungsanlaß erkennbar bleiben, dürfte es ebenso unmöglich sein wie beim Versgedicht, einen Inhalt herauszulösen und nachzuerzählen. Hier wie dort hat sich die Wiedergabe strikt an den Wortlaut, die geprägte Form, zu halten. Wendet man ein, dasselbe gelte auch für manche Kurzgeschichten Hemingways, so erklärt man diese indirekt zu Prosagedichten.49

Ich weiß nicht, wieso nun gerade Hemingway, aber der >Ulysses< z. B. wäre nach dieser Definition das perfekte Prosagedicht. Und eine weitere texturtypische Eigenschaft, die pararhetorische Verwendung bestimmter grammatischer bzw. rhetorischer Fügungen, demonstriert Fülleborn ausgerechnet am >WertherSchraubeIndex Expressionismus< erscheinen die meisten Texte dieser Art - deutlich eine Verlegenheitslösung - in der Restkategorie »Prosa«, die oben diskutierten Gattungsvorschläge (Prosagedicht und Feuilleton) haben sich als ungeeignet erwiesen, und wenn man etwa übereingekommen ist, bei Benn von »Novellen« oder bei Kafka von »Parabeln« zu sprechen, dann hat man speziell für diese Autoren zumindest neue Unterabteilungen innerhalb dieser Gattungen eröffnet. Schon Musil stellte sich aber die Frage, ob die texturierte Kurzprosa, wie sie mit Robert Waisers Texten aufkommt und um 1910 prominent wird, nicht vielmehr eine neue Gattung begründe. Einer solchen Gattung kleiner Prosa wäre außer der hier behandelten vor allem die in mancherlei Hinsicht vergleichbare Kurzprosa bestimmter Autoren nach 1945 zuzurechnen, etwa Günter Eichs >MaulwürfeProsa wird wieder Dichtung« (vgl. dazu ausführlich Kapitel 3). Vgl. z. B. Leonie Marx, Die deutsche Kurzgeschichte, Stuttgart 1985, S. 84-92. Auch Ludwig Rohners Begriff »Kürzestprosa« trifft nur einen Teil der Sache (und manches daneben, s. L. R., Theorie der Kurzgeschichte, Frankfurt 1973, S. 253-265). Für Fülleborn sind das alles ebenfalls Prosagedichte. Dies ist, soweit ich sehe, bei den Autoren nach 1945 nur sehr sporadisch der Fall, z. B. nimmt Heißenbüttel Bezug auf Einstein (H. H., Ein Halbvergessener, I.e.), Eich auf Georg Christoph Kulka (>Dem Libanons vgl. Günter Eich, Gesammelte Werke Bd. i, Frankfurt 1991, S. 531).

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Autoren unabhängig voneinander auf die kleine Prosa >unterhalb< definierter Gattungen als geeignetes Medium verfallen, wenn sie neue Textverfahren erkunden. Zum ändern gibt es unter der gattungsunspezifischen Kurzprosa auch ganz andere Erscheinungen als die hier gemeinte texturierte Prosa, man denke an die deutlich strukturierten, aber dennoch neuartigen »Grotesken« Mynonas oder an Scheerbarts »Novelletten«. Und zum dritten beschränkt sich das, was hier texturiertes Schreiben heißt, letztlich eben keineswegs auf Kurzprosa, sondern prägt zeitweise und in unterschiedlichem Maße auch die anderen Gattungen der literarischen Moderne. Die Texturiertheit von Texten ist also im Kern kein Gattungsproblem, sondern ein Problem von Textverfahren, die im Prinzip universal und daher im weiteren Rahmen der Semiosis moderner Kunstwerke überhaupt zu diskutieren sind. In einigen wesentlichen Punkten trifft sich Peter Bürgers >Theorie der Avantgarde< (1974) mit dem hier vorgelegten Konzept. Bürgers Überlegungen zur Semiosis des avantgardistischen Kunstwerks orientieren sich vor allem an den papiers colles der Kubisten und am Surrealismus, stehen also unter der Überschrift »Montage«. 55 Das collagierte Werk »negiert nicht Einheit überhaupt [...], sondern einen bestimmten Typus von Einheit, den das organische Kunstwerk charakterisierenden Bezug von Teil und Ganzem«.'6 So kommt schon Bürger zu der Einsicht, man müsse angesichts avantgardistischer Kunst die Sinnsuche suspendieren und seine Aufmerksamkeit auf die die Werkkonstitution bestimmenden Konstruktionsprinzipien richten, um in ihnen einen Schlüssel zu finden für die Rätselhaftigkeit des Gebildes.57

Doch deutet schon das Wort von der »Rätselhaftigkeit« darauf hin, daß der »Verzicht auf Sinndeutung«,58 den Bürger hier meint, sich wesentlich an Gedanken aus Adornos >Ästhetischer Theorie« orientiert,59 und in der Tat folgt dem oben zitierten Aufruf zur Verfahrensanalyse keine solche, sondern eine Fortführung der alten Frankfurter Diskussion, ob und inwiefern ein solches

" Bürger bezieht den Begriff der Montage auf Benjamins Allegoriebegriff: »Der Allegoriker reißt ein Element aus der Totalität des Lebenszusammenhangs heraus. Er isoliert es, beraubt es seiner Funktion.« Dann fügt er »die so isolierten Realitätsfragmente zusammen und stiftet dadurch Sinn« (Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 93/94 [collagiert, versteht sich]). '* Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 77. 57 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 109. 58 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 109. »Grundsätzlich ist es problematisch, einer Verfahrensweise eine feste Bedeutung zusprechen zu wollen.« (S. 106) Das gesamte »Montage«-Kapitel (S. 98-116) ist hier einschlägig. " Vgl. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, bes. S. 81 - 86, mit Bezug auf Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1973, bes. S. 31-56; zum Rätselcharakter der Kunst vgl. auch S. 182-193. 188

Werk denn nun politisch sei oder nicht.60 Und da ist von Verfahren nicht mehr die Rede, vielmehr die Sinnsuche für das »avantgardistische Strukturprinzip des Nichtorganischen« in vollem Gange; diskutiert wird die Alternative, a) dieses Prinzip »selbst zur politischen Aussage zu erklären« (im Sinne Adornos), oder aber b) es als die Möglichkeit zu begreifen, das »politische Motiv«, das in traditioneller Kunst eben immer noch künstlerisch eingebunden war, endlich »unmittelbar« freizusetzen und wirken zu lassen. Die erste Option ist sozusagen die kritische Spielart des Krisendiskurses: Adorno sieht die »Unverständlichkeit neuer Kunst« als deren notwendige Gestalt in der »verwalteten Welt«,6' notwendig, um den Kunstcharakter einer (scheinhaften) Harmonie vor einer Vereinnahmung durch die Ideologie bürgerlicher Gesellschaft zu retten und damit auch im falschen Leben als Möglichkeit zu bewahren.61 Geradezu perfide ist aber die zweite Option: geht sie doch von der avancierten Einsicht in die Kontiguität als Konstruktionsprinzip »montierter« Texte aus, nur um das autonome Lexem - sofern es sich um ein »politisches Motiv« handelt - jetzt plötzlich als Aussage zu begreifen, die »unmittelbar« 63 wirke. Damit wird der vorher beschworene Verfahrenscharakter moderner Kunst, das Primat der Form, völlig zurückgenommen - das nicht-organische Kunstwerk soll auf einmal gar keine neue, artifizielle Semiosis mehr in Gang setzen, sondern einfach dazu dienen, politische Aussagen direkt, d. h. ohne störende Einbindung in einen hermeneutisch zu erschließenden Kunstzusammenhang, unter die Leute zu bringen. Der Irrtum liegt zutage: auch und gerade ein nicht-organischer Zusammenhang ist ja ein artifizieller Zusammenhang; das letzte, was ein in ihm freigesetztes bzw. eingebundenes Lexem tut, ist zurückfallen in seinen >natürlichenÄsthetischer Theorie< für moderne Kunst s. Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne, S. 42-44. Doch, so steht es da: »unmittelbar«...(Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 127). 189

»unreduzierbar auf ihre eigene Bedeutung und auf jede andere«.*4 Unmittelbarkeit liegt hier ferner denn je. In seiner >Prosa der Moderne< (1988) setzt Bürger leider gerade diesen Ansatz fort. Literatur verfolge auch in der Moderne »das mimetische Ausdrucksprojekt«;65 ausgerechnet von Joyce etwa heißt es: »Vermittlungslose Darstellung des Wirklichen, so ließe sich sein Projekt umreißen«.66 Formale Ansätze, z. B. Todorovs oder Tapias, werden zurückgewiesen.67 Das Moderne der Prosa wird damit im Ansatz verfehlt; das Projekt der Moderne erfüllt sich sowenig im Stilprinzip wie in der Epoche eines »Naturalismus«, den Jürgen H. Petersen mit einem glücklichen Ausdruck das »Mißverständnis der Moderne« genannt hat.68 Petersens Monographie >Der deutsche Roman der Moderne< (1991) will denn auch endlich mit der »Realitätsversessenheit der bisher herrschenden Kunst- und Literaturwissenschaft« brechen, weil in der Kunst der Moderne »das sinnliche Erscheinen des gänzlich Unbestimmten, nämlich der reinen Möglichkeit selbst, das Wesen des Artistischen« ausmache.69 In seiner »Grundlegung« entwickelt er den geschichtsphilosophischen Gedanken einer spezifisch modernen Wirklichkeit, die a) nur als Setzung und b) nur als »reine Möglichkeit« gedacht werden könne. Moderne Kunst setze eben solche Wirklichkeit. Petersen fordert darum einen »durch die Kunst der Moderne erzwungenen Paradigmawechsel bei der ästhetischen Exegese«,70 nämlich eine neuartige Hermeneutik, die dem »gänzlich Unbestimmten« als semiotischem Skopus dieser Kunst gerecht werden kann. Auf den einen Sinn müßte eine solche Hermeneutik verzichten: Die Wortautonomie [...] wird in einer auf Sinnenthüllung abzielenden Interpretation völlig verfehlt; an ihre Stelle hat deshalb eine das Assoziationsgefüge, d. h. das polyvalente und unscharfe Bedeutungsgeflecht nachzeichnende Deskription zu treten.7'

Dieses »polyvalente und unscharfe Bedeutungsgeflecht« scheint genau die Textur zu meinen. Wer allerdings glaubt, dieses in der »Grundlegung« festgeschriebene Projekt liefe auf eine formale Beschreibung von Textverfahren hinaus, sieht sich bald getäuscht. In der »Typologie« gerät Petersen die deskriptive Nachzeichnung des »Bedeutungsgeflechtes« doch wieder nur zur Paraphrase 64

So Yves Bonnefoy, zit. n. Patrick Waldberg, Der Surrealismus, aus dem Französischen von R. Henry, Köln 1965, S. 29. *' Peter Bürger, Prosa der Moderne, unter Mitarbeit von Christa Bürger, Frankfurt 1988; S. 271. 66 Peter Bürger, Prosa der Moderne, S. 325. 67 Vgl. Peter Bürger, Prosa der Moderne, S. 160 u. 319. 68 Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung - Typologie Entwicklung, Stuttgart 1991; S. 36. 69 Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne, S. 45 u. 38. 70 Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne, S. 40/41. 71 Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne, S. 39. 190

von Inhalten (z. B., in einer reizvollen Engführung, des >Malte< und des >Bebuquindie ModerneWirklichkeitmodernes Kunstwerk = Setzung< lauten müssen, daß er folglich keine psychoanalytische o.a. Interpretation betreiben werde, da eine solche dem Setzungs-Charakter unmöglich gerecht werden könne - eine methodisch korrekte und sinnvolle Konsequenz. Auch die vorliegende Studie war zunächst als eine Typologie projektiert, eine Typologie unverständlicher Schreibweisen in expressionistischer Kurzprosa. Auch ein Typus kann jedoch sinnvollerweise nur als heuristischer Begriff verstanden werden, wenn man ihn nicht zur historischen Entität verabsolutieren will. Gerade heuristisch erwies es sich aber als wenig ergiebig, mit einiger Gewalt streng abgegrenzte Typen von Textur zu isolieren;74 ich entschied mich stattdessen dafür, je verschiedene Aspekte unverständlicher Textur, ihrer Entstehung, diskursiven Besetzung, Rezeption und Semiosis in den Mittelpunkt einzelner Kapitel zu rücken und so die >Entdeckung< der Textur in möglichst vielen ihrer systematischen Dimensionen darzustellen. Diese 73 74

Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne, S. 41. Eben diese heuristische Fruchtbarkeit lassen m.E. auch die oben vorgestellten Typologien weitgehend vermissen.

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Aspekte durchdringen sich im je konkreten Text auf vielfältige Weise und sind daher nicht hierarchisierbar - weshalb hier zwar eine systematische Untersuchung vorgelegt wird, aber keine Typologie.

6. Schluß: Vom Verstehen der Textur Schließlich wollte auch ich wissen, was diese unverständlichen Kurztexte denn nun besagen wollen. Der Befund, daß dieses ihr Besagen jedenfalls nicht in einer paraphrasierbaren noch auch einer hermeneutisch erschließbaren Aussage besteht, führte mich allererst zu dem, wovon diese Arbeit handelt, zur Entdekkung der Textur. Das Primat des (formalen) Verfahrens in dieser spezifischen Prosa verlangt für die Interpretation das entsprechende einer formalistisch ausgerichteten Verfahrensanalyse. Bei Christoph Bode ist dafür, wie gesagt, der methodische Grund gelegt. Die Erkenntnis, daß Machart und Semiosis emphatisch moderner Kunst keine Defizienzformen der traditionellen Muster sondern Erscheinungen sui generis sind, verlangt die Anstrengung eines neuen Prinzips interpretatorischen Verstehens. Sapere aude, heißt es schließlich. Zu beschreiben sind also die »Effekte noch nicht ausgemachter Semiosis« in texturierten Texten der emphatischen Moderne, jener »unabstellbaren«, d. h. in den jeweiligen Textverfahren festgeschriebenen »Mehrdeutigkeit«, der »als systematisch begriffenem Phänomen der Rang einer zentralen Kategorie literaturwissenschaftlicher Analyse (von Texten dieser Epoche) zukommen [sollte]«.7* Das Verstehen, das diese Semiosis (nach-) vollzieht, muß dabei (entgegen verbreiteter Auffassung 76 ) keineswegs notwendigerweise das Ergebnis einer methodischen Vorentscheidung zur Dekonstruktion und damit gegen Hermeneutik sein. Texturierte Prosa ist im Gegenteil für eine dekonstruktive Lektüre ganz ungeeignet: wie soll man schmelzen, was längst flüssig ist? Die Entdeckung der Textur setzt das hermeneutische Erkenntnisinteresse voraus. Erst indem die spezifische Machan texturierter Texte die hermeneutische Strukturerwartung enttäuscht, wird die Textur zum Gegenstand literatur75 76

Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 142 u. 384 [collagiert]. Karlheinz Stierle etwa benennt solche Semiosis, kann sie sich aber nur als Ergebnis einer (für ihn fragwürdigen) Methode, nicht als Effekt eines bestimmten literarischen Materials vorstellen: »Indem der Text zur Szene einer unbegrenzten und nicht arretierbaren Semiose wird, in der Figuren der Bedeutung sich bilden und zerfallen, wird die Abenteuerlichkeit eines jeden Werks, seine Offenheit, Unabgeschlossenheit, Vielschichtigkeit, Mittelpunktlosigkeit herausgetrieben von einem Verstehen, das sich selbst als dekonstruktives Verstehen weiß und sich als solches in einem Text zur Darstellung bringt, der jede Üblichkeit argumentativer wissenschaftlicher Rede sprengt.« (K. S., Dimensionen des Verstehens. Der Ort der Literaturwissenschaft, Konstanz 1990; S. 20). 193

wissenschaftlichen Interesses.77 Im Zuge des Paradigmenwechsels in den Künsten um 1910 nehmen solche unverständlichen, texturbestimmten Kurztexte in den Zeitschriften der literarischen Avantgarde signifikant zu. Diese Untersuchung hat für den Umgang mit ihnen ein methodisches und begriffliches Instrumentarium entwickelt und stellt es hiermit zur Diskussion. Texturen lassen sich beschreiben als Ergebnis eines Textverfahrens. Dazu bestimmt man ihr lexikalisches Material, den Thesaurus, und die Regeln seiner (syntagmatischen, rhetorischen, poetischen) Verknüpfung. Erstes Ergebnis ist, daß sich auf diese Weise unterschiedliche Typen von Textur benennen lassen. Texturen unverständlicher Texte sind begrifflich, nicht bloß deiktisch, zu unterscheiden und zu benennen. In diesem Sinne näher untersucht wurden Däublers »Sternspiel«, die Ich-Textur, rhetorische Katalog-Texturen und die Textur apodiktischer Facetten. Zu einer begrifflich bestimmten Textur läßt sich dann auch - sinnvoller als zum unverständlichen Einzeltext - fragen, was sie bedeute. Texturen sind keine Aussagen; dadurch entfällt die Antwort auf die Bedeutungsfrage jedoch nicht, sie wird bloß komplexer. Es gibt Antworten ganz verschiedener Qualität. Man kann eine Textur verstehen, indem man feststellt, wie sie jeweils referentialisiert ist (z. B. als Irrenrede, als Traum, als Vision). Man kann sie verstehen, indem man ihren Strukturresten, ihrem Gestus, glaubt und ihr eine Bedeutung (z. B. als Verkündigung, als neuer Mythus) unterlegt, die sie - jedenfalls als Denotat - nicht transportiert. Dafür wurde der Begriff einer gläubigen Lesart vorgeschlagen. Gläubige Lesarten lassen sich ihrerseits literaturwissenschaftlich beschreiben. Man kann sie verstehen, indem man ihre diskursive Besetzung feststellt. Unverständlichkeit hat einen genau bestimmten systematischen Ort im Programmdiskurs der literarischen Moderne, spielt aber z. B. auch im zeitgenössischen Verständnis von Feuilleton eine Rolle. Auch >hermetische< Kunstwerke sind diskursiv eingebunden, daher ist eine diskursanalytische Methode wie der New Historicism in seinem Material auch nicht auf Inhalte beschränkt: Kunstwerke werden diskursiv in ihrer Form. Man kann sie verstehen, indem man die erkenntnistheoretischen oder kunstprogrammatischen Fragen bestimmt, auf die sie in ihrer Form antwortet oder zu antworten versucht (z. B. die simultane Auflösung von Erzählsubjekt und erzähltem Objekt in der Ich-Textur; die diskursive Argumentation unter Berücksichtigung eines umfassenden Relativismus in der Textur der apodiktischen Facetten). 77

Vorher ist sie nur für den Linguisten interessant.

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Und schließlich kann man Texturen verstehen, indem man sich auf die mikrosemiotischen Prozesse einläßt, die sich im je konkreten texturierten Text zwischen seinen Elementen abspielen bzw. inszenieren lassen. Erst das zuletzt genannte Verstehen wendet sich wieder dem konkreten, individuellen Text zu. Hier also wäre der Ort, an dem eine neuartige hermeneutische Methodik einsetzen müßte. Am Beispiel der Katalogtexturen Waisers und Benns und am Beispiel der apodiktischen Facetten in Einsteins >Der Snobb< wurden verschiedene Möglichkeiten einer dezentralen Semiosis aufgewiesen. Die Praktikabilität und methodische Disziplinierbarkeit eines entsprechenden interpretatorischen Nachvollzugs muß sich erst noch und vermutlich immer wieder neu erweisen. Gelingt dies, so werden sich neue Aspekte auch für das Verständnis solcher moderner Literatur ergeben, die um die Möglichkeiten der Textur weiß, aber noch oder wieder mit Strukturen arbeitet/8 Texturierte Texte machen Sinn. Sie machen Sinn auf eine Weise, die unsere gewohnten Sinnerwartungen unterläuft. Ihre Bedeutung läßt sich immer nur für Momente feststellen, nie auf Dauer festlegen. Damit bleibt die Kunst der klassischen Moderne für uns eine intellektuelle und ästhetische Herausforderung. »Noch viel verborgne Unverständlichkeit wird ausbrechen müssen«,79 bis wir wirklich in der Lage sind, sie uns produktiv anzuverwandeln.

78

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Ich denke hier ganz unbescheiden z. B. an das Werk Rilkes, an Kafkas Romane, aber auch an Texte Musils, des mittleren und späten Benn etc., kurz: an die >großen< Texte der klassischen Moderne. Friedrich Schlegel, Über die Unverständlichkeit [1800], in: F. S., Schriften zur Literatur, Hg. W. Rasch, München ^1985, S. 332-342; S. 341. 195

BIBLIOGRAPHIE Primärliteratur

i. Texturierte Prosa 1910-1916 Ich füllte anderer Leute Lücken mit Prosastücken. (Roben Waiser)

Diese Bibliographie erfaßt die Materialbasis der Untersuchung. Das Korpus ist, wie schon die im Haupttext berücksichtigten Beispiele zeigen, in vielerlei Hinsicht heterogen. Manches wird bei näherer Betrachtung vielleicht zu streichen sein, manches ist sicherlich zu ergänzen. Zweck dieser Bibliographie ist es, einen lange übersehenen Zweig moderner Prosaliteratur mit der spezifischen Eigenschaft >Unverständlichkeit durch Texturiertheit< für die Forschung zu erschließen und zur Diskussion zu stellen. In Büchern publizierte Prosastücke sind, mit Ausnahme der im Text behandelten, nicht besonders aufgeführt, auch wenn sie zusätzlich in Zeitschriften erschienen sind. Buchpublikationen sind kursiv gedruckt. Titel vor 1910 sind aufgenommen, wo sie zum Korpus beitragen, Titel nach 1916, wo sie offensichtlich früher entstandenes Material enthalten. Die zahlreichen Einzelpublikationen Robert Waisers hätten den Rahmen dieser Bibliographie gesprengt, aufgeführt sind nur seine Bücher bis 1917 und behandelte Einzeltexte. Adler, Paul: Nämlich, Hellerauer Verlag: Dresden-Hellerau 191) - Zwei Aufzeichnungen zu »Nämlich«, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 359-362 Alscher, Otto: Muskeln, in: Die Aktion 3/1913, Sp. 964-969 [Anonym], Der Gotteshund und die Gottestochter, in: Der Orkan i / 1914, S. 19-21, 3740, 49-51, 64-67, 72-74, 84/85 - Der verbrämte Mensch, in: Der Orkan 1/1914, S. 26/27 - Das bunte Leben, in: Der Orkan 1/1914, S. 87/88 Bapum, Um zu erheitern, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 189-191 Barlach, Ernst: Die Fiedel, in: Pan 1/1910-11, S. 311-313 Baum, Peter: Tiefen, in: Die Aktion 2/1912, Sp. 790-792 Benn, Gottfried: Nocturne, in: Der Sturm 3/1912-13, S. 254 Benn, Gottfried: Heinrich Mann. Ein Untergang, in: Die Aktion 3/1913, Sp-43i-433 - Gehirne, in: Die Weißen Blätter II.2/ 1915, S. 210-214 - Die Eroberung, in: Die Weißen Blätter II.8/ 1915, S. 950-956 - Gehirne, Kurt Wolff Verlag: Leipzig 1916 - Die Phimose in: Die weißen Blätter V. 3/1918, S. 139-154 Beyer, Paul: Schaffensstadien, in: Die Aktion 5/1915, Sp. 111-113 197

Blumberg, Ernst: Verzweiflung, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 41 - Bilder, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 237/238 Borsch, Rudolf: Revolution, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 427 - Traum, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 23/24 - Gespräche, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 409 - Angst, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 436/437 - Ekstase der Sehnsucht, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 193 Boldt, Paul: Mondschein, in: Die Aktion 3/1913, Sp. 412 Buber, Martin:[Gewalt, einbrechende Gewalt], in: Zeit-Echo 1/1914-15.7, S. 90/91 Cahen, Fritz Max: Der Dichter in Paris, in: Die Bücherei Maiandros, Buch 6/1913 (Beiblatt 1.9.1913), S. i / 2 Däubler, Theodor: Die Schraube, in: Sirius i / 1915- 16, S. 98-100 - Mit silberner Sichel, Hellerauer Verlag: Dresden-Hellerau 1916 - Der neue Standpunkt, Hellerauer Verlag: Dresden-Hellerau 1916 - Paul Klee, in: Das Kunstblatt 2 /1918, S. 24-27 Ehrenstein, Albert: Tubutsch, mit 12 Zeichnungen von Oskar Kokoschka, Jahoda & Siegel: Wien/Leipzig 1911 - Der Selbstmord eines Katers. Erzählungen, Georg Müller Verlag: München/Leipzig 1912 - Nicht da, nicht dort, Erzählungen, Kurt Wolff Verlag: Leipzig 1916 - Arahar, in: A. E., Ritter des Todes. Erzählungen 1900-1919, Berlin 1926 - Wudandermeer, in: A. E., Bericht aus einem Tollhaus, Leipzig 1919 Einstein, Carl: Verwandlungen. Vier Legenden, in: Hyperion 5/1908, S. 14-18 - DerSnobb, in: Hyperion 8/1909, S. 172-176, Wiederabdruck in: Die Aktion 6/1916, Sp. 405-408 - Die Verkündigung, in: Die Gegenwart 8o/1911, S. 850-852 - Revolte, in: Die Aktion 2/1912, Sp. 1093/1094 - Über den Roman. Anmerkungen, in: Die Aktion 2/1912, Sp. 1264-1269 - Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, Verlag Die Aktion: Berlin 1912 - [Pseudonym: Sabine Ree], Parafrase, in: Die Aktion 3/1913, Sp. 469-471 - [Pseudonym: Sabine Ree], Der Tapezier, in: Die Aktion 3/1913, Sp. 529/530 - G. F. R.G., in: C. E., Der unentwegte Platomker, Leipzig 1918, Vorabdruck einzelner Teile jedoch schon in der Aktion 3/1913 (Sp. 452-459) - Das Gesetz, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 117/118 - Die Mißgeburt [Pseudonym: Urian], in: Die Aktion 4/1914, Sp. 188-191 - Totalität, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 277-279, 345-347, 476 478 - Negerplastik, Verlag der Weißen Bücher: München 191) - Anmerkungen, Verlag Die Aktion: Berlin 1916 - Franz Blei, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 128/129 - Paul Adler, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 208 - Der unentwegte Platomker, Kurt Wolff Verlag: Leipzig 1918 Ferl, Walter: Klage in den Mond, in: Die Aktion 5/1915, Sp. 567/568 Fliess, Charles: Meine Skizzen, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 36-40 Friedrich, Victor: Die Verbannten. Gespräch im Dunkeln, Aus einem Brief, in: Saturn 4/ 1914, S. 60-63 Goll, Iwan: Die letzten Tage von Berlin. Romanfragment, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 421-423 Großberger, Herbert: Die Pantöffeichen. Kleine Geschichten, Saturn-Verlag: Heidelberg 1912 - Wie ich es sah, in: Saturn 2/1912, S. 18-20 - Meine Geschichten, in: Saturn 2/1912, S. 72-74

198

- Opus 47, in: Saturn 2/1912, S. 180-182 - Die Reise in die Lunge und andere Märchen, Saturn-Verlag: Heidelberg 1913 Guttmann, Simon: Traum, in: Die Aktion 3/1913, Sp. 1190 Hardekopf, Ferdinand: Lesestücke, Verlag Die Aktion: Berlin-Wilmersdorf 1916 Hardenberg, Henriette: Tröstung, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 192 - Ein Schulaufsatz, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 551-553 Hegner, Jakob: Frei erfundenes Bildnis des Marcel Schwob und seine Grabschrift, in: Neue Blätter 1/1912, S. 28-31 Herrmann-Neiße, Max: Kreuzweg, in: Sirius 1/1915-16 Heynicke, Kurt: Briefe. An Frauen und an eine Frau, An manchen Tag, in: Der Sturm 6/ 1915-16,5.45/46 Hinze, Richard: Sokrates unter uns! Autobiographische Apokrypha, in: Wiecker Bote i / 1913-14.4,8.4-8 - Erlebnis-Protokoll (Glossolalie einer weltunweisen Seele im Aphelium), in: Wiecker Bote 1/1913-14.2, S. 1-4 Hoddis, Jakob van: Der Feind (Eine Tirade), in: Die Aktion 4/1914, Sp. 140-142 Hubermann, Angela: Das Gesicht, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 553-555 - Die Arabeske, in: Die Aktion 5/1915, Sp. 23/24 - Der Weg, in: Sirius 1/1915-16, S. 6 Hubermann, Leopold: Boheme, in: Saturn 3/1913, S. 31-42 u. 192-198 Hülsenbeck, Richard: Toledo, in: Die Revolution 1/1913.5, S. 7 Hyan, Hans: Bourgeoisie, in: Pan 2/1911-12, S. 642-645 Jung, Franz: Du bist nicht krank!, in: Freie Straße 1/1915, S. 4- 5 - Reden gegen Gott, in: Freie Straße i / 1915, S. 5-8 - Feinde ringsum, in: Freie Straße 1/1915, S. 14 Kafka, Franz: Gespräch mit dem Beter, in: Hyperion 2/1909, S. 126-131 - Gespräch mit dem Betrunkenen, in: Hyperion 2/1909, S. 131-133 - Beschreibung eines Kampfes [Fassung A], in: F. K., Sämtliche Erzählungen, Hg. P. Raabe, Frankfurt 1970; S. 197-232 - Betrachtung, Ernst Rowohlt Verlag: Leipzig 1913 Kersten, Kurt: Morgen, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 652 Koch, Hans: Der Mondsiedel, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 316/319 - Das Steinhaus und der Rosenbusch, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 358/359 - Zwei Schicksale, in: Die Aktion 6/ 1916, Sp. 436 Koch, Hermann: yxEx = Nx=z=Nz/Dx, in: Der Sturm 2/1911-12, S. 525/526 - Taaus Anfang, in: Der Sturm 3/1912-13, S. 179 Kölwel, Gottfried: Der Figurenstand, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 509 Kronberg, Simon: Chamlam erzählt sich Märchen, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 695/696 Lasker-Schüler, Eise: Das Peter Hille-Buch, Axel Juncker Verlag: Stuttgart/Berlin [1906] - Die Nächte Tino von Bagdads, Axel Juncker Verlag: Berlin/Stuttgart/ Leipzig [1907] - Gesichte. Essays und andere Geschichten, Kurt Wolff Verlag: Leipzig 19 rj - Der Prinz von Theben. Ein Geschichtenbuch, Verlag der Weißen Bücher: Leipzig 1914 Leybold, Hans: Der Tod des Menschen, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 594/595 Lichnowsky, Mechtilde: Ein Garten singt, in: Die Weißen Blätter 2/1915, S. 940-942 - Gott betet, Leipzig 1917 Lichtenstein, Alfred: Geschichten, Hg. Kurt Lubasch, Georg Müller Verlag: München 1919 Linden, Eise: Ich, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 281/282 Meidner, Ludwig: Sehnsüchte des Malers, in: Die Aktion 5/1915, Sp. 59-61 Müller, Robert: Das Grauen, in: Der Brenner 2/1912, S. 752-766 - Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs, Hugo-SchmidtVerlag: München 191; 199

Oehring, Richard: Gespräch in mir, in: Freie Straße 3/1916, S. 13-14 Reimann, Hans: Die Dame mit den schönen Beinen und andere Grotesken, Georg Müller Verlag: München 1916 - Kobolz. Grotesken, Kurt Wolff Verlag: Leipzig 19 ij Reimer-Ironside, Edmund: Die Magie der sieben Todsünden, in: Saturn 2/1912, S. 101103, 119/120, 143/144, 166/167, 190-193 Rudolph, Georg: Blauer Tag aus »die Insel der Seligen«, in: Wiecker Bote 1/1914-15, S-H Sack, Gustav: Der Rubin, in: Kritische Rundschau, München, 14. Juli 1914 - Das Duell, in: Die Ähre, 26. Juli 1914 - Lerchen, in: Kulturkorrespondenz (Hg. v. Hoerschelmann), Berlin, Juli 1916 - Ein Namenloser. Roman, S. Fischer Verlag: Berlin ig ig - Paralyse, in: G. S., Paralyse/Der Refraktär. Neuausgabe des Romanfragments und des Schauspiels mit einem Anhang von Karl Eibl, München 1971 Schaefer, Heinrich: Schöpferische Dehnung aus dem Dunkel, in: Die Aktion 4/1914, Sp.682 - Im Fenster erscheinendes Gesicht, in: Die Aktion 4/ 1914, Sp. 722/723 - Sehnsucht, in: Die Aktion 6/ 1916, Sp. 374-376 - Flaneur. Eine Dithyrambe, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 503-517 - Nächtliche Szene, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 523/524 - Aus Nebeln kommendes Gesicht, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 549/550 - Drei Erzählungen, Verlag die Aktion: Berlin-Wilmersdorf 1918 [Der Rote Hahn Bd. 18] - Gefangenschaft, Verlag die Aktion: Berlin-Wilmersdorf 1918 [Aktionsbiicher der Aeternisten, Bd. 8] Schickele, Rene: Idyll, in: Die Aktion 1/1911, Sp. 950 - Vision, in: in: Die Aktion 3/1913, Sp. 1547/1548 Schreiber, Andreas: Opium, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 282-285 Schreker, Franz: Die blaue Blume oder das Herz des Pierrot. Ein tragische Pantomime, in: Der Ruf 1/1912-13, S. 7-10 Stoessl, Otto: Der Traum des Verlobten, in: Saturn 1/1911, S. 42-45 Striepe, Kurt: Reflexionen eines Armen im Geiste, in: Der Sturm 4/1913-14, S. 206 Tesar, Ludwig Erik: Ein Traum, in: Der Brenner 3/1912-13, S. 87/88 Thom, Andreas: Die Geburt des Weibes, in: Neue Blätter 3/1913.5, S, 11-20 Tichauer, Grete: Aus einem Gelächter Zyklus, in: Der Sturm 3/1912-13, S. 116 Trakl, Georg: Verwandlung des Bösen, in: G. T, Sebastian im Traum, Kurt Wolff, Leipzig 1914, 5.23-25 - Winternacht, in: G. T., Sebastian im Traum, Kurt Wolff, Leipzig 1914, S. 59/60 - Traum und Umnachtung, in: G. T, Sebastian im Traum, Kurt Wolff, Leipzig 1914, S. 79-88 - Offenbarung und Untergang, in: Der Brenner, Jb. 1915, S. 56-59 Turk, Beatus: Vom brutalen Männchen, in: Saturn 2/1912, S. 168-170 Waiser, Robert: Der Greifensee, in: Sonntagsblatt des Bund, Bern, 2. Juli 1899, Nr. 27, S. 213/214 - Von einem Dichter, in: Die Insel 11.4/1901, S. 217 - Fritz Kochers Aufsätze, Insel Verlag: Leipzig 1911 - Blumentage, in: Die Neue Rundschau 22, April 1911, S. 1175/1176 - Grün, in: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für Kunst und Kunstgewerbe, Berlin (Cassirer), 9/1911, S. 574-578 - Aufsätze, Kurt Wolff Verlag: Leipzig 1914 - Geschichten, Kurt Wolff Verlag: Leipzig 1914 2OO

-

Kleine Dichtungen, Kurt Wolff Verlag: Leipzig Prosastücke, Verlag Rascher: Zürich 1916 Kleine Malerei, in: Vossische Zeitung, Mi., 12. Januar 1916, Abendausgabe, S. 2 Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein, in: Vossische Zeitung, Mi., 12. Januar 1916, Abendausgabe, S. 2 - Der Spaziergang, Huber Verlag: Frauenfeld/ Leipzig 1917 - Kleine Prosa, Verlag von A. Francke: Bern 1917 Weiss, Carl: Der große Schrei, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 393/394 Weißenstein, Carl: Die Niederträchtige, in: Die Aktion 5/1915, Sp. 186-187 Wetzel, Hellmuth: Lied an La'is, in: Die Aktion 3/1913, Sp. 1209-1211 - Der große Exquisite vom Jahr danach, in: Die Aktion 6/1916, Sp. 704-706 Wolfenstein, Alfred: Fragment eines Daseins, in: Die Aktion 4/1914, Sp. 238-241 Zweig, Arnold: Quartettsatz von Schönberg >Op. 7 d-moll, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. Joachim Ritter, Bd. 3, Darmstadt 1974, Sp. 1141-1147 Schulz, Walter: Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972 Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt 1955 Sklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren, aus dem Russischen von R. Fieguth, in: J. Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München '1981, S. 5-35 Sokel, Walter H.: The Writer in Extremis, Stanford 1959 - Die Prosa des Expressionismus, in: Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, Hg. W. Rothe, Bern/München 1969, S. 153-170 Steifen, Hans (Hg.): Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten, Göttingen 1965 Stein, Gerd-Dieter (Hg.): Kafka-Nachlese, Stuttgart 1988 Steinmetz, Ralf-Henning: Kafkas neuer Advokat, in: Wirkendes Wort 1/1991, S. 72-80 Stenzel, Jürgen: Literaturgeschichte als Wertungsgeschichte, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 37/1987, S. 361-375 Stierle, Karlheinz: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft, München 1975 - Dimensionen des Verstehens. Der Ort der Literaturwissenschaft, Konstanz 1990 Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 3 i98i Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, aus dem Französischen von K. Kersten u.a., München 1972 Ulbricht, Hanns: Theodor Däubler. Eine Einführung in sein Werk und eine Auswahl (Reihe: Verschollene und Vergessene), Wiesbaden 1951 Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Leipzig I0 i927 [Neudruck Aalen 1986] Vietta, Silvio/Kemper, Horst (Hg.): Expressionismus, München ^983 Völker, Ludwig: Gottfried Benn. Sprache - Form - Wirklichkeit. Zwei Vorträge, Münster 1990 Vollmer, Hartmut: »Wir werden herrlich aus Wunsch nach Freiheit«. Einige Gedanken zu Leben und Werk Henriette Hardenbergs, in: H. H., Dichtungen, S. 111-140 Waldberg, Patrick: Der Surrealismus, aus dem Französischen von R. Henry, Köln 1965 210

Wallas, Armin .: »Von der Nacht beschienen«. Forschungsbericht: Neue Literatur über Albert Ehrenstein, in: Sprachkunst 19/1988, S. 175-186 Wegener, Hannelore: Gehalt und Form von Theodor Däublers dichterischer Bilderwelt, Diss. Köln 1962 Wehinger, Herbert: Mythisierung und spekulative Vergeistigung. Anmerkungen zum Sprachstil Theodor Däublers, in: W. Methlagl (Hg.), Untersuchungen zum »Brenner«, Salzburg 1981, S. 201-217 Weimar, Klaus: Enzyklopädie der Literaturwissenschaft, München 1980 Wellershoff, Dieter: Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde, München 1976 Wellmann, Angelika: Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes, Würzburg 1991 White, Alfred D.: The Grotesque and its Applications. The Example of Albert Ehrenstein, in: New German Studies 1/1973, S. 150-162 Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt '1980 Wunberg, Gotthart: Hermetik - Änigmatik - Aphasie. Zur Lyrik der Moderne, in: D. Borchmeyer (Hg.), Poetik und Geschichte. Victor Zmegac zum 60. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 241-249 - Historismus und Fin de siecle. Zum Decadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende, in: Actes du colloque international. La Litterature de Fin de siecle, une Litterature Decadente?, Luxembourg 1990, S. 13-47 - Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne, in: Hofmannsthal-Jb. i / Zimmermann, Hans-Dieter: Der babylonische Dolmetscher. Zu Franz Kafka und Robert Waiser, Frankfurt 1985

211

Personen- und Werkindex Adler 65, 76, 183 - Nämlich 29-37 Adorno 188-189 Altenberg 127, 131 - Wie ich es sehe 127 Bachofen 109 Bahr 7 Bakhtin 68 Ball 12 Barlach 72 Barthes 14, 68 Becher 77 - Verfall 17 Becker 187 Beckett 18 Beer-Hofmann - Der Tod Georgs 26 Benjamin u 6, 188 Benn 3, 20, 65, 77, 105-106, 123-124, 150-157, 180-183, 187, 195 - Cocain 105-107 - Curettage 106 - Die Eroberung 150-152

- Der Geburtstag 153-157 - Gehirne 153 - O, Nacht 106 Blei 46 Böcklin 45 Booth 68 Bourget 31, 165 Braque 65, 168, 184 Breton /Eluard - Possessions 33 Broch 181 Camus 145 Cezanne 45, 65 Coseriu 146-148, 155 Däubler 3, 10, 20, 56, 60-77, 85, 99, 104, 182 - Mit silberner Sichel 60, 63, 66, 77 - Nordlicht 73-74 - Paul Klee 65-66 - Die Schraube 20, 60-78, 83 - Wir wollen nicht verweilen 73-74 Darwin 41 de Man 4, 29 Delaunay 65 212

Derain 65 Derrida 4, 5, 158, 173 Döblin 59, 122-132, 180-182 - Reform des Romans 122-128 Dörmann - Farbenträume 26 Ebert - Ägyptische Königstochter 138 Edschmid j6, 64-65, 77, 180, 182 Ehrenstein 3, 123, 148-150, 153, 181183 - Tubutsch 148-150, 181 - Wudandermeer 148 Eich 187 Einstein 2-3, 8, 10, 14, 20, 45-59, 76, 80, 92, 98-99, 123, 126, 132, 159-168, 174-176, 180-183, 187, 191, 195 - Anmerkung zum Roman 126 - Bebuquin 2, 14, 46, 54, 80-82, 9091, 97-98, 182 - Das Gesetz 49 - Der Snobb 48, 158-172, 195 - G. F. R. G. 52-54,76, 119, i3 2 — Negerplastik 5 5 - Paul Adler 33 - Totalität 49-50, 160-161 Fechter 116-117, I2 9 Flake 122-132, 180 - Die Stadt des Hirns 122-128 Flaubert 137, 178, 180 - Bouvard und Pecuchet 138 - Le Coeur simple 82 - Madame Bovary 16 - Salammbo 26 Fliess - Meine Skizzen 128 Fontäne 17 Foucault 5, 8, 33, 68, 168, 173, 185 Frank 181 Freud 173 Freytag - Die Journalisten 132 Frisch 191 Gadamer 4, 16, 70, 158-159 George - Algabal 26 Gide 180

Gleizes 65 Goeritz 72 Goethe 126, 142, 143 - Faust 124 - Faust II 138 - Füllest wieder Busch und Tal ... 17 Grabowsky 116, 119 Großberger 128-131 - Meine Geschichten 128-131 - Opus 47 128-129 - Wie ich es sah 128-131 Hardenberg 94, 96, 99 - Tröstung 94-96 Hatvani 56 Hegel 41, 61, 76, 177, 191 Heidegger 158, 173 - Der Ursprung des Kunstwerkes 43 Heißenbüttel 187 Hemingway 186 Hermann-Neisse 54 Herzog 57 Heym 77, 180-181 Hey nicke 56 Hiller 46 Hölderlin 31, 3 j - Hyperion 126 Holz 93, 137-139 - Phantasus 139 Hubermann 10, 96-100, 106 - Das Gesicht 96-100 Huysmans 137-139, 154, 178 - A Rebours 138-139 Isou 136 Jakobson 15 James 180 Joyce 18, 190 - Ulysses 16, 19, 186 Jünger - In Stahlgewittern 26 Kafka 3, 16, 17, 65, 77, 102-103, 114116, 122, 131, 180-187, I 9 I » 95 - Beschreibung eines Kampfes 102103 - Betrachtung 114 - Das Schloß 16, 19 - In der Strafkolonie 26 Kandinsky i, 6, 8, 10, 40-51, 56, 66, 123, 132, 159, 160, 174, 184 - Über das Geistige in der Kunst 40f « > 55. 123 Kant 17,37,53,90,97,101,151,154

Kassner 165 Keller - Der Landvogt von Greifensee 121 Klabund 77 Klee 36, 39-40, 42, 54, 57-58, 65-66, 76, 184 - Tagebuch 39-40 Kracauer 114 Kulka 187 Kunert 187 Kupka 6 Lacan 173 Lasker-Schüler 3,77,111-112,183 - Der Prinz von Theben 111-112 Lautreamont 189 Lublinsky 163 Lukäcs 184 Malewitsch 6 Mann 108, 181, 191 - Joseph und seine Brüder 108-110, 112

Marc 44 Marinetti 122, 180 Marlitt 58 Marx 41, 43 Matisse 45 May i i 2 Mayröcker 187 Mehring 71 Metzinger 65 Meyrink 77 Moeller van den Brück 74 Mörike - An eine Äolsharfe 105 - Auf eine Lampe 17 Mondrian 6 Morgenstern 121 - Das ästhetische Wiesel 122 Müller 23-26, 28, 29, 33, 35-37, 169

- Das Grauen 23-26, 28, 29, 33, 36 - Tropen 25, 90, 146, 169 Musil 2, 88, 114-122, 127, 131, 180181, 187, 191, 195 Mynona 3, 80, 188 Neugebauer 72, 117 Nietzsche 5, 31, 42, 48, 62, 89-91, 117, 136-137, 150-152, 156, 158, 162-163, 168, 173-174, 178, 180 - Jenseits von Gut und Böse 91 Otten 56 Pannwitz 74 213

Passarge 134 - Im feindlichen Heerlager 134-135 Pastior 187 Pfemfert 99-100 Picard 57 Picasso 45, 65 Pinthus 57 Proust 62 Raabe 137 Ramm 99 Ranke 43 Reimann - Scherze 128 Reinhardt 81 Rheiner 77 Rilke 17, 66, 191, 195 - 2. Duineser Elegie 50 Rosetti 45 Sack 26-29,32-33,35-36,52,54,7677 - Das Duell 26-29, 31» 33> 3^, 5* - Paralyse 28, 29, 35 Schaefer 10,21,83-99,106 - Aus Nebeln erscheinendes Gesicht 89, 93 - Die Zerpressung 26, 88 - Drei Erzählungen 87-89

- Gefangenschaft -

89-92

Im Fenster erscheinendes Gesicht 83-86, 92, 93 - Schöpferische Dehnung aus dem Dunkel 93-94 Scheerbart 188 Scheffel - Ekkehard 138 Schiller 142-143 Schlaf 74 Schlegel 49, 195 Schmitt 74 Schopenhauer 89-90, 150

214

Schreyer 57 Segantim 45 Seghers 17 Serner 60 Shakespeare 142—143 Sitting Bull 112 Söderberg - Die Tuschzeichnung i Spielhagen 180 Stadier 14 Steiner 44 Sternheim 77, 123, 181 Stifter 61-62 Storm - Schimmelreiter 16 Stramm 182 Tappert 99 Toorop 98 Trakl - Klage 17 - Offenbarung und Untergang 104105 - Psalm 119 Tucholsky 115 von Kalckreuth 133 von Wedderkop 132 Waiden 56, 86 Waiser 3, 10, 20, 65, no, 114-121, 129, 131. 133-135. I39-MI» I44-I4J, 147, 182-183, l87, 195 - Blumentage 110-112, 133 - Der Greifensee 117-121,133,135 - Geschichten 114, 139 - Grün 133 - Kleine Malerei 133 - Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein 133, 141-146 - Von einem Dichter 139-141 Weiß 181 Wittgenstein 167 Wolfenstein 99

TEXTBEILAGE

Hjalmar Söderberg Gustav Sack Paul Adler Theodor Däubler Theodor Däubler Heinrich Schaefer Heinrich Schaefer Heinrich Schaefer Henriette Hardenberg Angela Hubermann Robert Waiser Robert Waiser Robert Waiser Robert Waiser Carl Einstein Textnachweise

Die Tuschzeichnung Das Duell Aufzeichnung I zu >Nämlich< Die Schraube Paul Klee Im Fenster erscheinendes Gesicht Schöpferische Dehnung aus dem Dunkel Aus Nebeln kommendes Gesicht Tröstung Das Gesicht Der Greifensee Blumentage Von einem Dichter Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein Der Snobb

216 218 222 224 227 23 1

232 234 235 237 239 24I

242 244

249

Um die schnelle Auffindbarkeit bestimmter Textstellen zu ermöglichen, wurden in längeren Texten die Seitenzahlen der im Haupttext zitierten Fassung in eckigen Klammern an den Rand gestellt.

215

Die Tuschzeichnung

An einem Apriltag vor vielen Jahren, in jener Zeit, da ich noch über den Sinn des Lebens grübelte, ging ich in ein kleines Zigarrengeschäft in einer Nebenstraße, um eine Zigarre zu kaufen. Ich wählte eine dunkle, kantige El Zelo aus, stopfte sie in mein Futteral, bezahlte sie und machte mich zum Gehen bereit. Aber plötzlich fiel es mir ein, dem jungen Mädchen, das im Laden stand und bei dem ich oft meine Zigarren zu kaufen pflegte, eine kleine Tuschzeichnung zu zeigen, die ich zufälligerweise in meiner Brieftasche aufbewahrte. Ich hatte sie von einem jungen Künstler erhalten, und nach meinem Empfinden war sie sehr schön. »Schauen Sie her«, sagte ich und reichte sie ihr, »was halten Sie davon?« Sie nahm das Bild mit neugierigem Interesse in die Hand und betrachtete es sehr lange und aus der Nähe. Sie wendete es von einer Seite zur anderen, und ihr Gesicht erhielt einen Ausdruck angestrengten Nachdenkens. »Na, was bedeutet das?« fragte sie schließlich mit einem wißbegierigen Blick. Ich war leicht betreten. »Es bedeutet nichts Besonderes«, antwortete ich. »Es ist nur eine Landschaft. Da ist Boden und dort ist Himmel, und dort ist ein Weg ... Ein gewöhnlicher Weg ...« »Ja, das kann ich wohl sehen«, zischte sie in recht unfreundlichem Ton; »aber ich will wissen, was es bedeutet.« Ich stand ratlos und verlegen; es war mir nie eingefallen, daß es etwas bedeuten sollte. Aber ihre Idee war nicht zu erschüttern; sie bildete sich nun einmal ein, daß das Bild eine Art »Wo ist die Katze?« sein müßte. Warum sollte ich es ihr sonst gezeigt haben? Schließlich hielt sie es an die Fensterscheibe, um es durchsichtig zu machen. Man hatte ihr wohl einmal eine eigentümliche Art von Spielkarten gezeigt, die bei gewöhnlicher Beleuchtung die Neun oder den Buben, gegen das Licht gehalten jedoch etwas Unanständiges darstellen. Aber ihre Untersuchung blieb ohne Resultat. Sie gab mir die Zeichnung zurück, und ich wollte gehen. Da wurde das arme Mädchen plötzlich feuerrot, und mit Tränen in der Stimme brach es aus ihr heraus: »Pfui, das ist richtig garstig von Ihnen, mich so zum Narren zu halten. Ich weiß sehr wohl, daß ich ein armes Mädchen bin, das es sich nicht hat leisten können, 216

sich etwas Bildung zu verschaffen; aber deshalb brauchen Sie mich wohl nicht zum Narren zu machen. Können Sie mir nicht sagen, was Ihr Bild bedeutet?« Was sollte ich antworten? Ich hätte viel darum gegeben, ihr sagen zu können, was es bedeutete; aber das konnte ich nicht, denn es bedeutete ja nichts! Ja, seither sind mehrere Jahre vergangen. Ich rauche nun andere Zigarren und kaufe sie in einem anderen Geschäft, und ich grüble nicht länger über den Sinn des Lebens; aber nicht deshalb, weil ich glauben würde, ihn gefunden zu haben. Hjalmar Söderberg

217

Das Duell

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Da es Sommer werden wollte, hatte er seinen Mantel, sein letztes Verkaufbares, verkauft, und nun stach ihn die Nacht mit tausend feinen Nadeln in die Hand und ließ ihn durch das dünne, prickelnde Dunkel in einem seltsam stelzbeinigen Gange weitereilen. Und da der Wind aus dem Osten durch die Straßen blies, zwar nicht schwer und metallen, wie er im Winter weht, aber mit einer schweigenden, boshaft tastenden Ironie, gelangte er immer weiter in den nun ganz menschenleer werdenden Nordteil der Stadt - dieses mitleidlos steinernen Kraken, der sich an den Ufern der Seine hingelagert hat und seinen Atem in die Nacht brausen läßt: Not, Brot und Brunst, wir sind die Welt! - Und während ihn bei dem stundenlangen Gehen auf den sechzig Grad schiefen Absätzen seiner dünnen Schuhe die Waden zu schmerzen begannen und während er gedachte: Oh! verflucht! verflucht! ward er sich klar, daß ihn jemand verfolge; blieb er stehen, so schwiegen die tapsenden Schritte hinter ihm, und bog er aus den windstillen Straßen, aus den Straßen, in denen der Wind nur wie ein dünnes Schneegestöber sein Prickeln von oben auf ihn niederstreute, so daß er sich dicht an die Häuser duckte, in eine Querstraße ein und stemmte sich dort dem fegenden Prickeln und Brennen der Nacht entgegen, richtig: so folgte er ihm und, wie es schien, in dem gleichen frierenden, seltsam stelzbeinigen Gang. Schließlich wandte er sich um und traf seinen Verfolger, der an einer Ecke stehengeblieben war und ebenfalls die Hände in den Taschen einen Bilderladen betrachtete. »Ah! Du!« Und das war ein junger, noch hübscher Bengel, etwas verkommen, etwas leidend, und, wie man annehmen durfte, mit den gleichen sechzig Grad schiefen Absätzen, auf denen er schon seit Wochen durch die Straßen lief; der zog mit einer müden, chevaleresken, doch etwas ängstlichen und dadurch unendlich liebenswürdigen Verbeugung seinen Hut und sagte, während er den anderen mit dem Stock für einen Augenblick leise gegen die Brust stieß: »Es wird Sie höchlichst verwundern - ah, was soll das zwischen uns! Sie müssen mit mir fechten; ich kann nicht fort von hier, als bis Sie mir diesen Wunsch erfüllen. Fechten Sie mit mir, wenn Sie mich vor mir retten wollen.« Und da der nur einen Blick überlegenen Spottes über ihn herabfallen ließ, stieß er ihn wieder leise mit dem Stock gegen die Brust und fuhr fort, mit seiner durchdringlichen Knabenstimme auf ihn einzureden: 218

»Sie haben gewiß recht. Ich habe mit meinen roten Apfelbacken und meiner faden Dummenjungenmelancholie Ihnen ein Weib geraubt und noch schlimmer, ich habe ihr Vermögen, das Sie an Marion verschwendeten, bis auf den letzten Heller in meine Tasche gesteckt und dann an Ihre Freunde verspielt. Aber sie mag mich nicht mehr, sie hat mich eben nie gemocht, sie hat nur aus einem ohnmächtigen Haß auf Sie, weil sie Sie mit einer fanatischen Anbetung liebte und sich dieser Liebe schämte - ich bitte Sie, lachen Sie nicht, denn so etwas muß es gewesen sein -, Sie vernichten wollen, und ich war ihr Werkzeug, ihr Werktier dazu und bekam nichts als mein Futter. Nun hat sie es erreicht, Sie laufen frierend durch die Straßen und können sie nicht mehr mit Ihrer Großmut peitschen, und ein Werkzeug, das man gebraucht hat und verbraucht hat -. Und daß ich das war und es durchschaute und es dennoch blieb, es blieb des armseligen, süßen Futters wegen - verachten Sie mich nicht, lassen Sie diesen Teufel wenigstens nicht zwei zugrunde richten, lassen Sie uns zusammenhalten, lassen Sie sie doch wenigstens nur ein Opfer haben, fechten Sie mit mir, und geben Sie mir dadurch meine Scham vor mir und eine Lebensmöglichkeit zurück! Sie sind sich zu gut, Sie sind vielleicht zu müde oder zu misanthrop, ein Leben zu retten? Oder sind Sie so kleinlich und rächen sich auf diese Weise an mir? Nein, nein, verachten Sie mich nicht! So rächen Sie sich doch lieber an ihr. Vielleicht hat sie mich doch geliebt, vielleicht liebt sie mich noch, gewiß, sie liebt mich noch.« Aber da er immer noch schwieg und sich mit einem Kopfschütteln von ihm wenden wollte, schlug er ihn jäh ins Gesicht; ängstlich, aber gerade die Angst gab dem Schlag eine Kraft, daß der andere zur Seite taumelte und sich dann mit gehobenem Stock auf ihn stürzte; als er aber sah, wie er sich duckte und den Arm abwehrend über den eingezogenen Kopf hob, ließ er von ihm. »Kommen Sie mir nach.« »Nein, gehen wir zu mir, ich habe Waffen zu Hause und«, mit einem Versuch zu scherzen, »wenn Sie wollen, die schweren Schlagprügel der Deutschen. Und«, nun mit einem krampfhaften Auflachen, »Zeugen brauchen wir wohl nicht.« Dann gingen sie zurück in die Stadt; zuerst einer hinter dem anderen, aber der Jüngere holte den langsam vor ihm Hergehenden bald ein, und so stapften sie miteinander durch die Nacht, den Stock unter dem Arm und die Hände in den Taschen ihrer abgeschabten Röcke, beide in einem frierenden, seltsam stelzbeinigen Gang. »Sehen Sie«, begann nach einer Weile der ältere, »die Sterne haben sich verkrochen und lassen einen silbernen Schleier unter sich fallen, und eine Brücke bauen sie unter sich, eine Hängebrücke von weißen Wolken, geradewegs über den Zenith eine Wogenwolkenbrücke, eine geschwungene Silberwolkenleiter. Wissen Sie, ich wandere auf ihr, das Gewehr geschultert, mit weitem hallenden Schritt und in den Gliedern den schütternden Frost. 219

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So wandere ich nun, und wenn ich zähle, so zähle ich: es fehlt nicht viel an dreißig Jahren - was sind wir nur? Sind wir nicht Wolkensteiger mit dem ewig haftenden Blick in die Tiefe, trotz der Erkenntnis der nie zu überbrückenden Entfernung bis zu dieser Tiefe? Wir sehen Farben, und seltsame Klänge dringen zu uns, und wir wissen doch, daß wir nie zu den Dingen, zu den spöttischen Malern und Sirenen-Müttern, gelangen, von denen jene zu uns kommen. Warum können wir nicht zu ihnen stürzen, warum können wir nicht auf unserer Wolkenleiter wandern, ohne zu ihnen hinabsehen zu müssen voll kindlichweiser, voll kindlich-törichter Sehnsucht? Und warum wandern wir allein? Es gibt so viele Wolkenleitern, hohe und niedrige und solche, auf denen das Blut zu kristallenen Nadeln gefriert; aber sie sind einander fremd und laufen alle nach verschiedenen Winden; sie kreuzen sich wohl, und wenn ihre Wanderer sich begegnen, so sehen sie sich wohl groß und mit einem traurigen Lächeln an, und sie grüßen sich, aber sie verstehen einander nicht und gehen ihre Straße weiter, allein und nie verstanden. Und sollten sie sich und ihre Schatten, denn auch ihre Schatten wandern auf ihnen ewig und ernst, auch die Hand reichen und auf dem schmalen Punkte stehenbleiben und ihre Glieder schmerzlich süß umeinander schlingen - sie kennen sich nicht und erkennen sich nicht, sie bleiben zwei Welten mit undurchdringlichen Grenzmauern und reichen sich die Hände wieder und gehen ihre Straße fort, allein und nie verstanden -. Hallo! die Leiter bricht, und der Morgen braust! Aber wir werden sentimental, und es ist auch wohl zu kalt zum Reden, eine verfluchte Nacht! Sehen Sie, die Sprossen der zerbrochenen Leiter - denn die Morgenkälte knickte sie wie Glas - sind herabgefallen und liegen leuchtend wie aufgehäufter Silberschutt am Horizont. Aber die Nacht formt sich einen Fächer daraus und hebt ihn und hält ihn abwehrend gegen die gelben und braunen Bänke, die langsam aus dem Osten klettern. Dunkler wird sie und drohend leuchtender und wölbt sich noch einmal über uns in ihrer verführerischen Majestät: bleiben wir in ihr, halten wir uns an sie und flüchten mit ihr blindlings in rauschende maestosos sostenutos? Den letzten Schleier zieht sie fort von den uralten Nägeln, die wir in sie geschlagen, den letzten Wolkenschimmer streift sie fort von ihrem Samt und ihren schwarzen Sammetfransen, und tiefer hängt sie ihre leuchtende Mondampel, aber stärker und sonnenbrauner wird der junge Tag, den Silberfäeher reißt er aus ihrer steif gefrorenen Hand und wischt sie fort wie einen heiligen Spuk. Die Elfenbeinrippen seiner zärtlichen Waffe färbt er rosenrot, Hörner und Zungen und drohende Papageienschnäbel schießen aus ihr hervor und stechen in die kopflos flüchtende Nacht, bis in einer stolzen Kugel rötlichen Goldes der Tag - zum Kuckuck! Sie machen mich sentimental und lassen mich Lyrismen produzieren; aber wir sind angelangt, voilä, gehen Sie vor.« Dann gingen sie eine Stiege hoch, in der noch der Geruch geschmorter Zwiebeln vom Abend her hängengeblieben war, und traten in sein Zimmer, ein mittelgroßes, etwas muffiges Gemach, wie man es an >bessere Herren< zu 220

vermieten pflegt und das ein verblichener Glanz von Seidenmöbeln und allerhand Tändeleien und Familienerinnerungsfirlefanz, der an den Wänden und auf den Schränken sich verstauben ließ, nur noch muffiger aussehen machte; durch zwei niedrige Fenster fiel das gelbliche Licht des Morgens, und einige Floretts und Korbdegen standen in einer Ecke neben einer mit Leder überzogenen Holzpuppe, einem Phantom, wie man diese augenlosen Puppen nennt, an denen man seine Fechtkünste zu vervollkommnen sucht. »Ich habe noch einen Rest Burgunder, von dem ich einmal mit Ihrer Marion zechte. Trinken wir?« Der aber zog schweigend Rock, Weste und Hemd aus, wählte fröstelnd einen der schweren Säbel und stellte sich in die Mitte des Zimmers, das Fenster im Rücken. Und der jüngere folgte ihm ganz ruhig und sachlich, aber mit einer Angst, die ihm hörbar bis an die Kehle schlug, und stellte sich ihm gegenüber. »Ich schlage Brusthiebe, mein Freund, sehen Sie sich vor.« Im zweiten Gange zog sich durch die Brust des jüngeren ein schmaler roter Strich, der sich plötzlich zu einem handbreit klaffenden, gelblich-roten Spalt öffnete. »Weiter.« Im nächsten Gang fuhr der Säbel in denselben Spalt, durchschlug die Rippen und brach in die Lunge - nach einigen Minuten verschied er, nachdem er noch vorher mit einer letzten Bewegung nach einem Schrankladen gedeutet hatte. In dem lagen sorglich nebeneinander gefügt Scheine und Louisdors und ein Zettel dabei: »Von Marion.« Er überzählte die Summe, und sie mochte ungefähr das Vermögen betragen, das er an Marion vergeudet hatte. »Armer Teufel, wie kann man so sentimental sein.« Er nahm das Geld zu sich, weckte den Hausherrn, denn es war noch immer früh am Morgen, und verließ dann das Haus, um mit einem etwas pomphaften Schreiben sein wiedererlangtes Vermögen dem städtischen Armenpfleger zu übersenden; nun würde der Klatsch schon das Weitere tun; darauf stellte er sich dem Gericht. Und als er nach dem Urteilsspruch, der ihn mit einer leichten Freiheitsstrafe belegte, seine Wohnung aufsuchte, lag dort weiß und duftend und in einem köstlichen Spitzenhemd in seinem Bette Marion; und man erzählt sich - denn diese Geschichte ist wirklich passiert -, daß diese Marion noch jahrelang - solange ein Weib Geliebte sein kann - die einzige Geliebte dieses Mannes war und darauf in einem Kloster ein gottseliges Ende nahm. Gustav Sack

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Zwei Aufzeichnungen zu >Nämlich


Lassen die Flieger den Lüften den Eindruck zu ihrem Kometen? Zu einem ganz besondern? Sollen bewußte Luftschlangen aufkommen? Sollten sich zwei Wesungen dort trennen? Die eine in Geräusche, die andre mit der Bewegung? Und unsre Begeisterung, unsre Erwartung und Beharrlichkeit vor einem Flug, hat sie nicht andre Erseelungen im Menschen angeregt? Wird nicht die Frage überhaupt, die Frage über unsre Zeit ein Feuersein? .·;-

Die Sterne werfen ihren Samen über reiche Länder, auf das tote Meer; damit

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wirs wirklich sehn und glauben, gibts auch einen Sternschnuppenfall. Dort, wo die Sterne Fluren fruchtbar machen, werden Pflanzen, glauben Bäume; wo die Sterne ihre Bäume fruchtbar machen, zwitschern Vögel um den Wald, in dem sie singen lernen. Und aus dem Walde Sternen Augen, wittern urbestirnte Tiere. Darum gibts ja Tierbilder dort oben. Wo die Sterne zu den Gletschern kommen, steht der Mensch auf und erkennt des Einzigen Einsamkeit. Wenn die Sterne über Wüsten schreiten, kommen Götter ewig angegangen; doch die Sterne auf dem alten Meere lehren die beseelten Fluten beten, beten zu den Göttern, flehen um das Weib. «·.

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Die Erde ist der Wunsch des Menschen: und der Wunsch des Menschen ist von sich aus regsam und belebend, leichterweckt und schwankend: es gibt gar keine Erde, sondern bloß ein Erdbeben. Auf dem Wunscheswesen, das wir selber sind, besteht aber der stille Stern, dem wir, aus uns hervorgewünscht, fern zufluten, den wir, innerlichst stumm, umgluten. Alle Sternschiffahrt über uns führt und sprüht nur mit einem Wunsche fort, hinter dem der Zielstern leuchtet. Aber er zittert noch im Ich. Darum führen alle Wanderringe bloß zum Wandernden zurück. Laßt sie fliegen, eure Drachen, gebt euch auf in Pilgerstimmen! was ihr freigebt, will, weil wunschgewesen, doch nach Haus zum Sterne, und der Stern ist deine Zielverheißung tief im Ich. Theodor Däubler

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Paul Klee (1918)

Vor Paul Klees Werk gilt mir folgender Ausspruch von Martin Buber: »Die obere Einfachheit ist erreicht!« Diese Bemerkung trifft besonders bei seinen Zeichnungen zu. Wenn man nämlich solche scheinbar unbeholfenen Arbeiten aus Haarstrichen eingehend betrachtet, so kann man bald feststellen: hier ist nichts kindlicher Versuch geblieben! Im Gegenteil: die geringsten Zufälligkeiten sind ausgeschieden; alles was Klee gibt, muß vollgekonnte männliche Kunst genannt werden. Die obere Einfachheit liegt nun darin, daß seine ganze Schulung und kräftige Überlieferung, kurz die verblüffende Virtuosität des Künstlers, ins Nervische übergegangen ist. Folglich hat Klee in einem entscheidenden Augenblick gewußt, sich von allerhand herkömmlichem Können frei zu machen, das bereits Geleistete durch genialen Entschluß zu überflügeln. Nachdem er seine Meisterschaft erschaut hatte, brauchte sich sein Gedächtnis nicht mehr anzustrengen. Er mußte es sogar wagen, alle Speicher voll von akademischen Belastungen im Stich zu lassen, denn er wandelte ja auf jungerschlossenen absoluten Wegen. Sein Erinnern war abgründig geworden: es brauchte keine Lehrer mehr, wer den Wächter in sich selbst aufgerufen hatte. Ein unheimliches Labyrinth lockte ihn an. Mit dem Griffel tastete er sich hinein. An die Linien, die dabei entstanden, wollte er sich halten. Die würden ihn ganz sicher bis in die unbekanntesten Räume begleiten, das wußte er! Durch Haarstriche sollte er sich immer wieder zurechtfinden und schließlich das Tageslicht der objektiven Welt erreichen. Einmal, es war Klees Feiernacht, legte er an geheimster Stelle den Keim zu seinem selbstbeschlossenen Ich. Von damals an wurden alle Fäden, die er zu spannen gesonnen war, zu zarten Würzelchen. Und was er seitdem seiner Seele zu erzeichnen vermag, wird Wurzelung. Er sollte sein Sonnenjahr in Tunis erleben. Sofort schoß die Pflanze schlank empor. Nun trägt sie Blüten: seine feurigen Aquarelle. Das Ich entfaltet sich aber weiter: Wenn Paul Klee zeichnet, so treibt es neue Wurzeln; und bunte Blumen strahlen auf, wenn er malt, in Farben dichtet. Eigenartige Geschehnisse, beinahe durch ihre Pflanzenhaftigkeit faßbar, gibt es in seinem Innern. Haarstrichblaue Wurzelwesen ereignen sich in der Seele: sein bewußter Wille kann ihr Wachstum fördern, unerwartete Blütenentfaltungen behüten. Das kaum bestimmbare Hin- und Hergeranke im Gewirr der Griffelstriche klärt sich im Schütze seiner geübten Augen und behutsamen Hand. Oh, da künden Gespensterchen oder aufbrechende Wanderstämme ihr tatsächliches 227

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Erscheinen in der Welt künstlerischer Möglichkeiten an. Dann verschwinden sie wieder: im Wirrwarr von Erinnerungen. Oder ein Gesicht gibt Klee sein eigenes Geträumtsein unbedingt wieder. Ein Anderserwachen nach vollbrachtem Werk steht neben dem Künstler, verläßt ihn nicht; auch wenn er klarsehend sich, mit anderen wachen Menschen, der Bedingtheit im Alltag hingibt. Auch obere Wesenheiten sehnen sich zu uns herab. Klee kann sie festbannen. Als zitternde Blättergerippe rieseln sie vor seinen Blicken nieder. Wie fein sie wird. Und wie beibehaltenswert. Klee muß sich entschließen, sie aufzuzeichnen. Aber Herbstblätter scheinen es keinesfalls zu sein. Vielleicht nicht einmal verpflanzbare Geister in gewahrbarer Traumgewandung. Oft kommen auch unselige Wesenlein und Seelchen Abgeschiedener zu ihm. Wie Schneewittchen dem Tisch der sieben Zwerge, so nähern sie sich dem rechteckigen Blatt Papier. Sie möchten von Künstlerhand festgehalten werden, um auch vom Lebenskelch zu nippen. Nur noch zum letztenmal, denn die Weltenesche hat sie bereits abgestreift: sie, die Menschen waren, sind ja allerdings verherbstet. Darum beben sie auch so. Sie versuchen es aber dennoch, etwas vom Sonntag der Erde zu erfahren; nur beim Maler, der wie ein Kind im Mannesalter schaut, kann es gelingen. Und so beruhigt er denn seine allerzartesten Gästlein, indem er sie am Papier haften läßt; und das verschafft ihm selber Frieden. Eine Woche lang. Dann, unbemerkt, geht der neue Mond auf. Schwächlich, hegenswert und sacht. Gebilde, die auf dem Papier verwurzelt zu sein schienen, stehen auf; vom Mond, der beruhigend, wie alles was selbstverständlich bleibt, emporsteigt, mit in die Höhe genommen. Ganz einwandfrei ist das festzustellen. Also Klees Zeichnungen erwachen. Sie fügen sich in ein planetenhaftes Getragenwerden. Schon sind sie Wirklichkeit, steil über früherm undeutlich Geträumtsein durch einen Künstler. Auch seine Bauwerke sind in Kristallen verzauberte Träume. Einige Reste von Kindlichkeit bleiben in allen Erwachsenen rege: wenn wir schlafen oder zu dichten anfangen, knospen sie auf. Aus grünem Moos, das so weich wie Schlaf ist. Rote Knospen, schwach betaut, sind auf einmal da. In unserm Traumbereich. Doch sie werden nicht aufblühen: sie steigen bloß empor und sind schon Zwiebeltürmchen, Kupferkapseln auf Minaretten einer östlichen Stadt geworden. Aller Tau hat in die Weite geschleiert, dafür zittert aber leiser Perlmutterglanz, mit einer Sternperle in der Mitte, durch das morgenländische Seelenereignis. Die Häuser werden nur sichtbar etwas fester gefügt. Reihen von teppichbunten Flächen stapeln sich selber übereinander: Wie von Kindeshand lustig ausgebreitet. Wenn Klee Akrobaten zeichnet, so läßt er Erdenkinder wieder zu Sternbildern werden. Fast immer sind es zwei Figuren, die in der Kuppel arbeiten; denn dort oben, auf dem Trapez, soll der Mensch seine Gleichgewichtssehnsucht in Tatsachen umgesetzt, die Verheißungen höchster Gewandtheit erfüllt 228

sehen. Trapezkünstler stehen im Zeichen der Zwillinge. Beim Gehen erhält sich der Herr der Erde gewissermaßen durch Ruderarbeit beider Arme in seiner ebenmäßig gewordenen Einrenkung in die Lotrechte, die seinen Planeten mit Sonnen und Gestirnen verknüpft. Fliegen möchte der Mensch wesentlich allein: allerdings auf ein Ziel zu. Traumhaft schweben kann er, in ein Anderssein hineingewandelt; aber eine sinnfällige Einsternung, als feste Punkte im All, können wir uns am ausgesprochensten paarweise erturnen. Darin liegt die eigentliche Bedeutung akrobatischer Kunststücke. Ich wollte bis jetzt vornehmlich über Paul Klees Zeichnungen sprechen, dabei habe ich jedoch durch meine Darstellung auch Farbe gebracht. Und zwar von Klee. Anders lassen sich aber seine Farben nicht eindringlich veranschaulichen. Man muß sie sozusagen sich selbst und dem, der sie mitempfinden will, durch stilistisches Jonglieren vorgaukeln, denn sie sind bereits mehr entirdischtes Flammen und Verfahlen, knapp über uns, als eine Eigenschaft oder selbst das Kennzeichen von Dingen vor uns. Klee hat keine Sucht nach Neuerung: es ist aber in ihm eine Reinheit, die ihn alles, was er nicht selbst erlebt, geschaut und jungbeschwingt hat, verschmähen heißt. So wurde er denn aus Unberührbarkeit so unsagbar anders wie alle schöpferisch Begabten unserer Tage. Er kann ganz ehrlich nur fünfte Essenz von seinen Erlebnissen in kleinem Format geben. Aber was sind das für letzte Ausdrucksmöglichkeiten: alle Farben, jedes Atömchen Farbe Feuer! Jeder Haarstrich haarscharf angebracht. Das Blatt Papier vor ihm (also der Raum), auf das sein Künstlerblick, sowie er darauf sein Werk gestalten will, losblitzt, wird sofort unter seinen Fingern von sichersten Linien überzuckt. Er verpflanzt somit, um einen schon früher versuchten Vergleich nochmals aufzunehmen, seine Gesichte in den Raum. Etwa so wie man einen Keim in den Blumentopf versenkt. Dann hegt er jedes Würzelchen, das sich einkerbt mit behutsamster Vorsicht. Seine Eingebung bewahrt er andauernd von allem Übermaß. Jede Eitelkeit bleibt ausgeschlossen. Seine Seele blüht, zugleich mit der Arbeit, die herrlich zu gedeihen beginnt, auf. Nun leuchten aber schon die überirdischen Farben, der Hand ist ein blaues, jetzt auch ein grünes Blitzlein, entzischt. Er zeichnet aber desto aufmerksamer weiter: mehr Wurzelung braucht seine bunte Vision; er wird sie ihr schaffen! So vielen Raum hat er von Anfang an aufgegeben, denn man muß beim Schöpfer Opfer bringen! Und schon fruchten sie: aus dem kleinen Format ergibt es sich, daß der Arbeit unglaublich viel Anmut innewohnt, daß sie ganz neues Entflammtsein verstrahlt. Und schon wieder zittert ihm ein unheimliches Flämmchen auf: in seine lila Seligkeit griffelt er schwarz einen Viertelmond hinein. Ganz genau und mehr als zart, so wie es vor ihm noch keinem Menschen gelungen ist. Also seine beiden Trapezkünstler, Farbe und Zeichnung, leisten gute Arbeit; in inniger Verschwisterung, aber nicht Vermengung, zeigen sie, durch gemeinsamen Auftakt und doch voneinander getrennt, also wohl sich immerfort ergänzend nie229

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mals jedoch, wie in der Überlieferung, sich gegenseitig dienend, mit allergrößter Fertigkeit ihre gewagtesten Kunststücke. Wollen sie ihm übrigens davonfliegen, Klees Visionen? Hinaus in den Raum, zu den Gestirnen? Unermüdlich sehen wir ihn, seine Einzeichnungen von Ideen, die farbigen Kostüme der Einfalle, hoch oben und doch wieder ganz nahe bei uns, in die Kuppel seiner Welt hineintürmen, sich gegenseitig erhäschen und wieder niederneigen lassen, bis sie, noch einmal hochfliegend, als Zwillinge eingesternt, des Künstlers Werk zur Vollendung gebracht haben. Theodor Däubler

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Im Fenster erscheinendes Gesicht

Was will das Dach? Was hält mich fest? Was will im schiefen Dach das schwarze Öffnungsrund, mit blauem Blechtor überwölbt, das sich hinaus ins Wetter stemmt? Dort quillt und schwillt, dort schwimmt es, aus großen Wellenkreisen in immer kleinere sich ausziehend, zitternd herbei und will ins Rund, ins schwarze Fensterrund, donnernd getroffen zu sein vom blaugelben Lichtraum der besonnten Welt. Mein Kopf liegt fest. Mein Blick ist eingebannt. Dort nach dem schwarzen Fensterrund im schiefen Dache fiebert strömend hin die Luft und hält mich wehrlos gezogen. Ich brenne. Heiß wie Zinken der Pinzette stehen Strahlen meiner Augen, strecken hin und zögern her, strecken hin und zögern her, strecken hin und greifen spitz funkenklärend. Wilder schlagen die Wellen. Dunkle Bogen fliegen fallend durch die Luft, und krampfend wallt und wirft sich die gebärende Decke des Daches, und in Zacken rings ausschaukelnd leckt der Rand des schwarzen Rundes in das schwarze Dunkel. Und die Erscheinung geschah. Wie friedsam geschah sie inmitten zwischen dem weißkochenden Aufruhr! Das schwarze Rund, es ist nicht mehr: Gesicht erglänzt im Widerschein des Lichtraums der besonnten Welt. Im schiefen Dache grade stehend, von blauer Blechwölbung behütend überdeckt, weißbleiches Gesicht, liderverwaschen und die roten Lippen verwischt in die weiße Bleiche, anlegend sich an das liebe Licht, erwärmend sich an das liebe Licht, in finstrer Lichtarmut nach Licht schrecklich erblichen, von Dunkel unernährt aus dem Dunkel wie ein toter, aber immer luftgefüllter Ball hochgetrieben, stoßend an die dunkle Wandung innen, lange suchend, endlich springend in die einzige rundkleine Öffnung und erschienen, erschienen sich erstärkend, sich erbräunend an dem lieben Licht wie das warm gebackene fruchtbar gebildete Brot. Heinrich Schaefer

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Schöpferische Dehnung aus dem Dunkel

Auf Punkt, auf kleinsten Punkt zusammen mich einknüllend, Kopf in die Brust gedrückt und die Beine rippenverstrickt, und mich rundend und auf innerlichsten Kern mich verhärtend harte Schale um harte Schale, ruhen punktdunkel dunkel dunkel Trübe liegt kaltgläsern dunkelgrüne Wasserwand stechend rings auf meinem dunklen Auge rings - Ich dunkles Auge gänzlich - Ich gänzlich Mund - Ich gänzlich Brust - Ich gänzlich Bein Und die Formen aller Dinge, Tulpen, Stühle, Türen, Röhren, Bäume und die Schorne der Fabriken sind zwecklos langsam schwimmend in der steifen dunkelgrünen Wasserwand leblos gläserne Fische um mich her und sind Erinnerung mir und Hoffnung mir. Der ich mich in mir vernichtet habe, alle Glieder, allen Leib und Eingeweide in mich zerbrochen und geballt - versteinter Ball mit allen zermahlenen Fleischsalzen, Knochenkörnern und Blutmehlen meiner selbst überall gleich gegenwärtig durchmischt - Mich weiten nach allen Seiten mit gleicher Kraft kugelrundhinaus strahlenstützend mich weiten - und Tafeln meiner sonnensilbernen Schalenrinde sind der Wald und die grüne Wiese mit den weißen Blumenschirmen und das Häusergeacker der Städte und das Wellenmeer und alles Ich die Welt - Heinrich Schaefer

Aus Nebeln kommendes Gesicht Ein Raum Nebel - Und in dem Nebel ziehen Nebelstreifen, ziehen Kreise, schieben weiße Scheiben durch die schwarzen Balken. Perlenwände steigen, Perlenwände sinken und ein Meer von Milch ruht undurchdringlich scheinend. Heere dicker Wolken kommen angerollt und wälzen sich und traben, werfen Beine, schießen Lanzen und jagen hin mit schweren Wagen wie zu Taten. Doch es steigen rasend harte Kugelbälle und stoßen sprengend in sie ein, daß sie zerspellt in Fetzen fliegen. - Und von unbekannten Sonnen schillern Farben. Blau begehrt nach Grün und durch Gilbe wandert suchend Röte und verwirrt schwankt Weiß in allen Dunkeln. 232

O Lust der Dehnung, Lust des allen Stoff Aufkochens in der Dehnung und des ungestützten, alles Leben hochhebenden Schwebens! O Lust des Kraft sich in sich ausreckenden Chaos! Und Elend, Elend des dünnen Verschwächens an den Rändern und des ohne Halten suchend in sich suchenden Fügens und Lösens und des hilflos riesenhaften Liegens vor dem kleinen Tor der Erscheinung. Es muß sein - donnernd auf Leben oder Tod erbarmungslos grausam gesagt und getan - Es muß sein. Herauf! Herauf! Du bist gefährdet! Banne Dich! Mit einem einzigen Donnerschlag gehämmert sei, eisenschwarz mit Glanz am Abhang verdunkelnder Gruben und mit Kanten, die sich unzerbrechlich bukkelnd biegen - Seiend und nicht durch Füllung entstandene Form - und mit gepreßten Lippen von dem Genuß der Härte die Wangen geschwellt: so komme, komme, das in den Nebeln war erlösbar, Gesicht, das sich aus Nebeln zieht, Gesicht, das aus Nebeln sich erbildend Nebel ist, aber Gesicht, enges, rundes, aus allen Nebeln sich erspeisendes Gesicht - Geburt, Kristall, Tat und gespiene Blüte aller Nebel, Gesicht, mit starkem Bug die Nebel teilend, Gesicht, komme, immer komme, immer Dich heraus mit Flatternebelhaaren, Flatternebelschleichern Dich bewegend komme Heinrich Schaefer

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Tröstung

Die Kröten schreien im Teich, sie müssen schlafen, es ist Winter. Meine Haut ist starkes Eis, viele Meter um mich herum liegt es einsam, und der Kopf hängt darüber hinaus und schlägt nach allen Seiten auf. Ich denke ganz Bestimmtes, ganz Dasselbe, und der Kopf schlägt langsamer, heftiger. Weit hinten seh ich einen hellen Morgen gehen, der sollte zu mir mit seinem Licht, den Strahlenwald durch meine toten Berge führen, den armen Kopf in seine warmen Täler legen, obgleich es ihnen wehe tut, den abgeschnittenen Stumpf in ihrem frischen Schoß zu halten. Gesund zu wachsen würde er mir helfen, Glieder bewegen, Gedanken rühren in meiner Körperkraft. Der Sonnenfreund war dicht zu meinem Königshaupt gekommen, und als er das Kranke sah, zog er seine schützenden Tücher auf meinem gefrorenen Körper aus und sagte: ich will auf deinen kalten Flächen gehen, bis du die Arme zu mir legen kannst, bis dein dunkel Seidenauge, in seinen grünen Sümpfen verloren, mir seine Schmerzen zu tragen erlaubt. Das war meine Liebe, die aus Enge gewachsen war, die herausstieß, die weiter wurde als meine riesenkalten Flächen, die mich einmal besiegte. Blut fließt, und Menschen, die vorübergehen, schütteln sich. Henriette Hardenberg

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Das Gesicht

Riesenwellen wirft der Spiegel an den Rahmen, die mit schrillem Knall zerschellen. Geheimnisse, wie große Katzen, laufen geduckt und leicht durch die Menschen. Die Lichter der Liqueure schießen in Streifen durch die Luft. Ich denke meinem Blute nach, und wie toll stürzt die Kaskade in mein Herz. Teufel beklopfen meine Glieder, werfen sich der Länge nach über sie, und mein Magen ist die Sonne, die ihren Tanz bestrahlt, die mit ihren Lichtfingern meine Nase umschließt, daß aus dem Kopfende der Urton quillt. Meine Hände sind Gotteshände, und alles ist erschaffen von mir, aber meine Ohnmacht ist die Ohnmacht des Gottes, der seine Gedanken in Buddhas schließen muß. Diese wackeln so merkwürdig mit den Köpfen, daß die Luft immer kälter wird und gefriert, bis ich zu tanzen beginnen muß, immer um meinen Magen herum, und, ein Loch tanzend, darin versinke, mit meinen Haaren die Luft erfüllend. Wie mein Feuer sich entzündete an den Gesichtern meiner Freunde, denen Flammenbündel aus den Mündern flössen, und wir uns vergeblich bemühten, die zu ersticken. Doch die Großartigkeit und Wildheit begann die Verwirrung zu vergrößern, und wir drehten uns im Kreise, um die Flamme gerade und lohend zu Gottes Thron steigen zu lassen. Unser Gelächter war urböse, doch göttlich heiter, gespeist von dem Urquell des Unmotivs, und wir versuchten vergebens, den Schutzherrn unseres Gemütes zu betrüben. II Mit bangem Ton neigen sich die schmalen Häuser tief in die dunkle Straße, und Tränenbäche fallen von ihren müden Stirnen. Ihr Inneres entsendet zitternde Harmonien, und Töne aus Orgelflöten ziehen wie Bänder durch alle Fenster. Mein Leib verfließt im Dunkel, und nur die Hände tasten sich durch schwere Tücher, die vom Himmel senkrecht niederfallen und als seltsame Hügelreihen die Erde bedecken. Sehnsüchtig und mühsam beginne ich in den Bergen zu suchen, die wie Gräber die Länge erfüllen, bis mich immer heißere Müdigkeit und Schwere der Tiefe und Last unterliegend vermählen, und ich traurig versinkend meiner Seele nachsinne. 235

Ill Flimmerndes Lichtfluten drang auf mich ein, bis ich leiser Töne gewahr wurde, die den wirbelnden Kreisen entblühten. Das Denken machte sie groß und mächtig, so daß ich meinen Kopf immer mehr meinen Schultern anvertraute und im stummen Erstaunen den Tanzfuß meines Herzens der grausigen Musik folgen ließ. Doch nur teilweise neigte dies jenem Reigen zu, jeder Teil an mir wollte sein Recht, und die Gedärme wirbelten wie Fahnenbänder um meine Seele, die hinter dem Magenberg ängstlich geduckt ihren Morgen erwartete. Und dieser sollte kommen, nicht etwa, daß er Klarheit schaffte. Befriedigung war das Ziel aller, und nur der Kopf sollte leer ausgehn, er, der die Freude des Zuschauers genoß, jene ach so bescheidene Freude, aus Hochmut und Unverstand gepaart. Tiefer zogen die Massen ihre Wirbel, und nur die Beine allein, ihre Spielgenossen, warfen verächtliche Akkorde in die Symphonien des Gebarens, bis sie gekreuzt und lahm entschliefen. Christus war aus ihnen geboren und schrie jammervoll ihrem Kopf entgegen, der vergebens seine Diener sammeln wollte, die ihren Unmut in leisen Blutstropfen seeig niederfallen ließen, dessen schwerbewegte Oberfläche an das Blut gemahnte, rosenfarbig und voll süßen Dufts, auferstehungssüchtig und voll Himmelfahrtsgedanken. Und wie Weiden aus dem tiefsten Schlamm standen ihre Leiber krumm, und die Liebe sproßte tausenderlei Gefühle. Wilde Lüste pfiffen schrill und frech diese Melodie des Herzens auf den Blättern ihrer schmalen Seele. Wogender und frühlingshafter kam dies zum Bewußtsein ihres Leidens, und die Risse waren Furchen und Bewahrer tiefen Samens, banger Hoffnung. Bis der reifen Früchte Fallen Wunden schlug, denen leise bange Tropfenreihen sacht entfielen - Saat und Samen wehmutsstarker Hoffnungstage. Die begannen mit dem starren Volksentsetzen, dessen Denken schroff geschlagen in den Rahmen des Erschauens und des Todes. Der, allein, war der Herr ihres Daseins und erfüllte mit Geraune ihre Nächte und zerbrach die Puppen ihres Spiels - und was sollte da ein Königtum bewerten? Alles nehmen und den Scherben sanfte Trauer hinterlassen, wie die müdgeweinten Augen armer Kinder heilig sind in seinem Namen. Traurigkeiten spinnen feine Netze duftender Mimosen über die geheimen Wissen unsrer Sinne, deren wirbelnde Ekstasen brunnentiefe Höhlen bohren zum Bewahren lichter Strahlen, die von Gottes Thron uns treffen - denen Schlummerlieder, leise Töne, sanft entblühen. Angela Hubermann

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Der Greifensee

Es ist ein frischer Morgen und ich fange an, von der großen Stadt und dem großen bekannten See aus nach dem kleinen, fast unbekannten See zu marschieren. Auf dem Weg begegnet mir nichts als alles das, was einem gewöhnlichen Menschen auf gewöhnlichem Wege begegnen kann. Ich sage ein paar fleißigen Schnittern »guten Tag«, das ist alles; ich betrachte mit Aufmerksamkeit die lieben Blumen, das ist wieder alles; ich fange gemütlich an, mit mir zu plaudern, das ist noch einmal alles. Ich achte auf keine landschaftliche Besonderheit, denn ich gehe und denke, daß es hier nichts Besonderes mehr für mich gibt. Und ich gehe so, und wie ich so gehe, habe ich schon das erste Dorf hinter mir, mit den breiten großen Häusern, mit den Gärten, welche zum Ruhen und Vergessen einladen, mit den Brunnen, welche platschen, mit den schönen Bäumen, Höfen, Wirtschaften und anderem, dessen ich mich in diesem vergeßlichen Augenblick nicht mehr erinnere. Ich gehe immer weiter und werde zuerst wieder aufmerksam, wie der See über grünem Laub und über stillen Tannenspitzen hervorschimmert; ich denke, das ist mein See, zu dem ich gehen muß, zu dem es mich hinzieht. Auf welche Weise es mich zieht, und warum es mich zieht, wird der geneigte Leser selber wissen, wenn er das Interesse hat, meiner Beschreibung weiter zu folgen, welche sich erlaubt, über Wege, Wiesen, Wald, Waldbach und Feld zu springen bis an den kleinen See selbst, wo sie stehen bleibt mit mir und sich nicht genug über die unerwartete, nur heimlich geahnte Schönheit desselben verwundern kann. Lassen wir sie doch in ihrer althergebrachten Uberschwenglichkeit selber sprechen: Es ist eine weiße, weite Stille, die wieder von grüner luftiger Stille umgrenzt wird; es ist See und umschließender Wald; es ist Himmel, und zwar so lichtblauer, halbbetrübter Himmel; es ist Wasser, und zwar so dem Himmel ähnliches Wasser, daß es nur der Himmel und jener nur blaues Wasser sein kann; es ist süße blaue warme Stille und Morgen; ein schöner, schöner Morgen. Ich komme zu keinen Worten, obgleich mir ist, als mache ich schon zu viel Worte. Ich weiß nicht, wovon ich reden soll; denn es ist alles so schön, so alles der bloßen Schönheit wegen da. Die Sonne brennt herab vom Himmel in den See, der ganz wie Sonne wird, in welcher die schläfrigen Schatten des umrahmenden Lebens leise sich wiegen. Es ist keine Störung da, alles lieblich in der schärfsten Nähe, in der unbestimmtesten Ferne; alle Farben dieser Welt spielen zusammen und sind eine entzückte, entzückende Morgenwelt. Ganz bescheiden ragen die hohen Appen-

zellerberge in der Weite, sind kein kalter Mißton, nein, scheinen nur ein hohes, fernes, verschwommenes Grün zu sein, welches zu dem Grün gehört, das in aller Umgebung so herrlich, so sanft ist. O wie sanft, wie still, wie unberührt ist diese Umgebung, wird durch sie dieser kleine, fast ungenannte See, ist selber also so still, so sanft, so unberührt. - Auf eine solche Weise spricht die Beschreibung, wahrlich: eine begeisterte, hingerissene Beschreibung. Und was soll ich noch sagen? Ich müßte sprechen wie sie, wenn ich noch einmal anfangen müßte, denn es ist ganz und gar die Beschreibung meines Herzens. Auf dem ganzen See sehe ich nur eine Ente, welche hin und her schwimmt. Schnell ziehe ich meine Kleider aus und tu wie die Ente; ich schwimme mit größter Fröhlichkeit weit hinaus, bis meine Brust arbeiten muß, die Arme müde und die Beine steif werden. Welch eine Lust ist es, sich aus lauter Fröhlichkeit abzuarbeiten! Der eben beschriebene, mit viel zu wenig Herzlichkeit beschriebene Himmel ist über mir, und unter mir ist eine süße, stille Tiefe; und ich arbeite mich mit ängstlicher, beklemmter Brust über der Tiefe wieder ans Land, wo ich zittere und lache und nicht atmen, fast nicht atmen kann. Das alte Schloß Greifensee grüßt herüber, aber es ist mir jetzt gar nicht um die historische Erinnerung zu tun; ich freue mich vielmehr auf einen Abend, auf eine Nacht, die ich hier am gleichen Ort zubringen werde, und sinne hin und her, wie es an dem kleinen See sein wird, wenn das letzte Taglicht über seiner Fläche schwebt, oder wie es sein wird hier, wenn unzählige Sterne oben schweben - und ich schwimme wieder hinaus. Robert Waiser

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Blumentage

Am Kornblumemag, wo alles in blau einherstolzierte, hat es sich so recht gezeigt, wie sehr sich Verfasser gegenwärtiger wissenschaftlicher Abhandlung als das gute, unschuldige Kind seiner Zeit fühlt. In der Tat, ich habe alle und jede artige und unartige Kornblumendummheit mit Lust, Liebe und Wonne mitgemacht, und ich muß mich, glaube ich, sehr komisch benommen haben. Einige stolze und ernste Nichtbeteiligte haben mir einen strengen Blick zugeworfen, ich aber, ich Glücklicher, ich war wie berauscht, und ich bin, muß ich, indem ich erröte, gestehen, von Destille zu Destille gepilgert, indem ich überall, von der Münz- bis zur Motzstraße, patriotische Blumen aufkaufte. Von unten bis oben ganz in blaue Farbe gehüllt, kam ich mir sehr graziös vor, im übrigen aber fühlte ich mich auf das Allerlebhafteste als ein wohlanständiges Mitglied der besseren Kreise. O dieses süße Gefühl, wie benebelte es mich, und wie beglückt mich der schöne, ja vielleicht sogar, unter Umständen, erhabene Gedanke, daß ich nach links und nach rechts unter sehr anmutvollen Bewegungen, Groschen, gesunde, treuherzige, redliche, ehrliche, brave und gute Groschen, habe auswerfen und dadurch ein gutes Werk habe verrichten dürfen. Jetzt mag auf mich Schlucker immer hinzukommen, was da will: ich bin von ganzer Seele zufrieden mit mir selber, und ein Ruhegefühl beherrscht mich, mit keinem gesuchten und ungesuchten Wort vermag ich es auszudrücken. In der Hand oder Faust hielt ich einen dicken, mächtigen und offenbar imponierenden Strauß von frisch gepflückten Papierblumen, deren Duft mich bestrickte. Ich habe, nebenbei bemerkt, in Erfahrung gebracht, daß das Dutzend solcher Blumen seine sieben Pfennige kostet. Ein ebenso ehrlicher wie dummer Kellner, der immer »schön« sagt, wenn er einen Befehl bekommt, hat es mir unter geheimnisvollem Geflüster anvertraut. Ich bin mit Kellnern und dergleichen Volk immer sehr vertraulich. Dies nebenbei. Was nun die Blumentage im allgemeinen betrifft, so müßte ich ein herzloser Wicht sein, wenn ich nicht den edlen Zweck sogleich anerkennen wollte, auf welchem sie beruhen, und ich springe deshalb auch so rasch wie möglich herbei und rufe laut aus: Ja, es ist wahr, Blumentage sind himmlisch. Sie sind durchaus nicht komisch, sondern sie tragen meinem Empfinden nach einen durchweg edlen und ernsten Charakter. Allerdings gibt es leider Gottes unter uns Kerls oder Mitmenschen immer noch ein paar vereinzelte und, wie es scheint, sehr eigensinnige Menschen, die es verschmäht haben wollen, an einem Frieden- und FreudenBlumentag ihre Lust-Blume im Seelen-Knopfloch zu tragen. Daß doch solche 239

Menschen recht bald eines Edleren und Bessern belehrt werden möchten. Ich selber, darf ich glücklicherweise aussagen, strahle an Blumentagen vor lauter blumiger und blümlicher Genugtuung, und ich bin einer der Verblümtesten unter den Verschönerten, Geschmückten und Beblümten. Mit einem Wort, ich bin an solch einem Pflanzentag wie eine schwankende, zarte Pflanze, und an dem in Aussicht stehenden reizenden Veilchentag werde ich, das weiß ich gewiß, wie ein bescheidenes und verborgenes Veilchen selber in der Welt auftreten. Einem großherzigen Zwecke zuliebe vermag ich mich sogar in eine Gänseblume zu verwandeln. Es stecke und klemme doch in Zukunft, möchte ich hiermit herzlich bitten, jedermann seine Butterblume zwischen die aufgeworfene oder finster zusammengebissene Lippe. Auch Ohren sind ja ein vortrefflicher Blumenständer. Am Kornblumentag hatte ich hinter meinen drei Ohren je eine Kornblume heften, und es kleidete mich ausgezeichnet. Entzückend sind wieder Rosen und baldige Rosentage. Sie sollen nur auf mich loskommen, diese ausgeprägten Tage, ich will mein Heim schon mit Rosen schmücken, und ich will mir, so wahr ich ein Zeitgenosse bin, der seine Zeit versteht, eine Rose in die Nase stecken. Auch für die Margeritentage kann ich mich recht lebhaft erwärmen, wie mich denn überhaupt jede beliebige Mode sogleich zum Knecht, Sklaven und Untertanen stempelt. Aber ich bin glücklich so. Nun, solche Käuze, die keinen Charakter besitzen, muß es eben auch geben. Hauptsache ist: ich will mich meines bißchen Lebens, so gut und so lang ich kann, freuen, und wenn einer sich amüsiert, macht er von Herzen gern jeden Unsinn mit, aber jetzt komme ich auf das Schönste, auf die Frauen. Für sie, einzig für sie, sind ja die holdseligen Blumentage erfunden, komponiert und gedichtet worden. Wenn ein Mann in Blumen schwelgt, so ist das ein wenig unnatürlich; einer Frau hingegen steht es in jeder Hinsicht an, Blumen ins Haar zu stecken und Blumen an den Mann zu tragen. So eine Dame oder jungfräuliche Blume braucht nur zu deuten, zu winken, und sogleich werfe ich mich ihr zu Füßen, frage sie, indem ich am ganzen Leib vor Glück erbebe, wie viel sie kostet und kaufe sie ihr ab. Und ganz blaß im Gesicht, hauche ich einen glühenden Kuß auf das schelmische Händchen und bin bereit, das Leben für sie zu lassen. Jawohl, so und entsprechend ähnlich benehme ich mich an Blumentagen. Von Zeit zu Zeit, um mich zu erfrischen, stürze ich allerdings in die Schnellimbißhalle und schleudere ein Schabefleischbrötchen an Ort und Stelle hinunter. Ich schwärme für Schabefleisch, doch ich schwärme auch für Blumen. Ich kann ja nun schon für sehr viel schwärmen. Immerhin, es soll einer seine Bürgerpflicht tun, es soll keiner das Gesicht verziehen, und es soll sich einer nicht so vorkommen, als habe er das Recht, im stillen über die Blumentage zu lächeln. Sie sind Tatsache; Tatsachen aber soll man ehren. Wirklich? Robert Waiser

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Von einem Dichter

Ein Dichter beugt sich über seine Gedichte, deren er zwanzig gemacht hat. Er schlägt eine Seite nach der anderen um und findet, daß jedes Gedicht ein ganz besonderes Gefühl in ihm erweckt. Er zerbricht sich mit großer Mühe den Kopf, was das wohl für ein Etwas ist, das über oder um seine Poesien schwebt. Er drückt, aber es kommt nichts heraus, er stößt, aber es geht nichts hinaus, er zieht, aber es bleibt alles wie es ist, nämlich dunkel. Er legt sich ganz auf das geöffnete Buch in seine verschränkten Arme und weint. Dagegen beuge ich mich nun, der Schelm von Verfasser, über sein Werk und erkenne mit unendlich leichtem Sinn das Rätsel der Aufgabe. Es sind ganz einfach zwanzig Gedichte, davon ist eines einfach, eines pompös, eines zauberhaft, eines langweilig, eines rührend, eines gottvoll, eines kindlich, eines sehr schlecht, eines tierisch, eines befangen, eines unerlaubt, eines unbegreiflich, eines abstoßend, eines reizend, eines gemessen, eines großartig, eines gediegen, eines nichtswürdig, eines arm, eines unaussprechlich und eines kann nichts mehr sein, denn es sind nur zwanzig einzelne Gedichte, welche aus meinem Mund eine, wenn nicht gerade gerechte, so doch schnelle Beurteilung gefunden haben, was mich immer am wenigsten Mühe kostet. Eins aber ist sicher, der Dichter, der sie gemacht hat, weint noch immer, über das Buch gebeugt; die Sonne scheint über ihn; und mein Gelächter ist der Wind, der ihm heftig und kalt in die Haare fährt. Robert Waiser

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Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein

Hat sich von den hochverehrten Herrschaften, die dies lesen, eine oder die andere werte Persönlichkeit schon einmal auf einen Reisekorb niedergesetzt, und hat sie, während sie das tat, beobachtet, wie der Korb dabei seufzte, krächzte und ächzte? Schon nur als Sitzgelegenheit betrachtet, erregt ein Reisekorb unser Entzücken, und was ist er erst als Versorgungsgegenstand wert! In einem mittelgroßen Reisekorb liegen verborgen: eine alte Öllampe, Schiller, Goethe, Shakespeare, ein oder zwei Fenstergarnituren, ein Stuhlbein, eine Kollektion von japanischen Holzschnitten, ein Kupferstich im Rahmen, betitelt: »Die Verlassenen«, eine Kaffeemaschine, drei bis vier dicke, längst verschlungene Schund- oder Schauerromane, wovon einer vielleicht heißt: »Die Gräfin mit dem Totenkopf«, eine Zieruhr nebst einer Schwarzwälderuhr, eine Totenmaske von Friedrich dem Großen und vielerlei Fetzen, Schnüre, Handwerkszeug wie Hammer, Zange, Bohrer und Nägel, Hosen, Westen, Stiefel und sonstiges gebräuchliches nützliches Gerumpel. Nachdem man das gelesen hat, wird wahrscheinlich niemand mehr einen Reisekorb geringschätzen. Herrlich ist es, auf Reisekörben stillzusitzen und dabei von Reisen um die Erde zu phantasieren. Diese feine, nette und hübsche Übung kann jedermann von Herzen empfohlen werden. Doch, was höre ich jetzt mit einem Mal Neues und Unerhörtes?: Tick, tack macht es dicht neben mir. Das wird wohl die fleißige und pünktliche Taschenuhr sein. In der Tat, sie ist es, und tick-tack, tick-tack macht es in einem fort. So eine Uhr ist unermüdlich bei ihrer Sache, hat ihren Kopf nicht dort, wo ein Kopf nicht sein soll: tick-tack. Das läuft, als wolle es reißaus nehmen; bleibt aber immer hübsch am Ort und läuft und läuft, macht den ganzen Tag fleißig sein getreuliches Tick-tack, tick-tack und ist zufrieden. Lieber Leser, Du gibst höchstwahrscheinlich gern zu, daß eine Uhr überaus lieblich und sympathisch ist. Trägen und untüchtigen Leuten, die ihre Pflicht zu versäumen pflegen, kann man sie prächtig als Muster vorsetzen. Eine richtiggehende Uhr erinnert mit ihrem zarten, lieben, feinen Geräusch an ein Mäuschen, das im verborgenen raschelt und knuspert. Nun gelange ich mit der ebenso höflichen wie ergebenen Frage an den Leser, ob er vielleicht das eine oder das andere Mal schon mit der flachen Hand auf ein Stück Wasser geschlagen hat. Es ist dies ein sehr interessantes Experiment voll Sonderbarkeit und Eigentümlichkeit. Wasser mit der Hand zu klat242

sehen, halte ich für einen wundervollen sommerlichen Zeitvertreib, falls das nicht Sünde ist. Wasser ist so angenehm, besitzt eine so appetitliche leichte Härte, feste Weichheit, charaktervolle Nachgiebigkeit. Es sträubt sich da sozusagen etwas und gibt dann doch aus Güte nach. So könnte man fast sagen. Wasser ist ja an sich doch wohl schon etwas durchaus Merkwürdiges. Auf welche Art kam Wasser überhaupt zustande? Gab es je eine Zeit, wo kein Wasser war? Kann es kein Wasser geben? Ich gerate da vielleicht in die schwierigsten Forschungen hinein, wenn ich nicht schleunigst den Rückzug antrete. Schon beschäftigt mich ein neuer, frappanter Gegenstand, nämlich der Kieselstein, den nichts rührt, nichts in Bewegung zu setzen vermag - Stein ist vollkommen gleichgültig. Unerschütterlich und der Erregung unfähig wie er ist, kannst Du zu ihm sagen, was Du willst, er bleibt hart und kalt. Liebkosungen tragen beim Kieselstein wenig oder gar nichts ab. Schmeichle ihm und sieh zu, ob er Dich dafür freundlich anschaut. Ich glaube nicht, daß er das tun wird. Hat ein Stein je gelächelt? Kaum! Ist ein Stein je warm geworden? Lächerliche Frage! Ein Wind z.B. vermag einen Baum zu bewegen, aber keinen Stein. Ich schaute nämlich eines Tages zum Fenster hinaus, da sah ich einen zarten, lieben Wind über den Kieselstein streichen, aber der Bösewicht blieb unbeweglich. Robert Waiser

Der Snobb

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Wir haben keine Wahrheit mehr, die alten Notdürfte und Verpflichtungen des Instinkts sind abgeblaßt. Die Wünsche hängen hohl und weitfaltig um gemagerte Dinge. Man lernte die Gebundenheit zugleich als Wille verstehen, und da man alles wollen konnte, verloren wir die Werte. - Die allzugroße Freiheit hat uns verarmt, Phantasie gestattet, alles ohne tatsächliche Realität zu genießen. Die Welt vergeistigte sich solchermaßen in den Gewändern der sie unablässig schmückenden Gedanken und Künste, daß wir in der sich mehrenden Künstlichkeit des Lebens den Wahnsinn begingen, über Hülle und Schleier hinaus zu staunen, ein Rätsel schufen von beglückender Unlösbarkeit und glaubten, wir könnten mehr auffangen in den Schalen unserer Worte, als uns selbst. Wir haben unsere Seele so oft gespiegelt, worin? In uns selbst, daß wir die sich zu Reihen gebärenden Reflexe zu Tatsachen, zu Dingen erstarren ließen. In der Beklommenheit vor der Armut unserer ein-atmigen lange-weilenden Symbole, die ebenso phantastisch als gesetzmäßig sind, retteten wir uns vor ihr zu dem Ding. Ding und Wort sind nur verschiedene Bezeichnungen eines elementaren Erlebnisses. Unsere Sehnsucht nach Notwendigkeit und Freiheit beweist nichts als eben unsere Sehnsucht. O entsetzliche Langeweile des Kreises, der alle Verschiedenheiten tötet, alles Gleiche als unendlich Verschiedenes bezeichnen läßt. Langeweile, die uns zur zerreißenden Differenzierung führt, entsetzliche Einsicht, daß alles nur Perspektive ist. Ein Gesetz, ein sichtbares, ist zu konstruieren, das uns trennt, das uns Glaube gibt, trotzdem es unsere Konstruktion ist. Unsere Konstruktion; denn das Gesetz der ursächlichen Folgen über uns hinauszudehnen, ist sinnlos. Der Snobbismus, in welcher Gestalt er auch auftreten mag, ist aus solchen erwachsen. Sind diese geschriebenen Worte nicht ein Beweis solch seelischer Verzerrung, wo alles von einem Punkt gesehen wird, wo der Reichtum zur Armut des einstelligen Schauens zwingt, wo die Masse der Erinnerung jagt und quält zum Originellen. Einen glaubhaften Ernst, daß wir sprechen. Wir sind wie alle, schrieen sie in Ekel und Angst, wir wollen sichtbar sein, und sie wurden einsam. Demonstrative Zurückgezogenheit, demonstrativ, denn ein Wille spricht darin. Der Mensch, der hier zerschnitten und belebt wird, ist ganz und gar Wille, er schätzt nur Gewölkes und wird darum die 244

Groteske des ihn täuschenden Willens. Er mag zuletzt im Wollen müssen, etwas Sklavisches ersehen, dem er sich durch Verneinung zu entziehen versucht, als wäre dies nicht der Superlativ von Wunsch und Absicht. Aber die Verneinung wird gesucht als intensivste Wahl, als Bejahung einer höchstvereinzelten Seltenheit. Hier tritt eine Frage der Wertsetzung auf, nach einer ärmlichen, das ist stilvollen. Der Snobb hat alles erkannt und wäre es auch nur ein müdes Verwerfen, ein Ablehnen des täglich Gegebenen aus der Schwachheit, das ist köstlichen Borniertheit, einer Natur heraus, die verzichtet, das Schlichte mit der Form eines eigentümlichen Wertes zu begaben. Erkennen ist identisch mit Überwinden; denn in unserem Menschen liegt die selbstverständliche Verneinung von Anfang eingegraben. Dem Snobb ist die Qualifizierung keine Frage der Form, sondern einer eigentümlich praktischen Ästhetik, doch wiederum kein Entscheid des geeinzelten Zufalls, der jede Form vernichtet. Der Wert liegt im Ding. Denn Wertung darf keine Kraftleistung sein, sondern der Schatten eines passiven Genusses. Die Dinge müssen entgegenkommen, so leise, daß sie immer da sind, wie Frauen. Der Wert ist dem Snobb etwas Moralisches, und zwar aus entferntem ästhetischem Zuschauen gewinnt er seine moralischen Werte. Eine betrachtende Güte, die alles fernhält, nur Konventionen mit dem anderen identifiziert, nicht sich. Denn er ist immer in sich, furchtsam, am furchtsamsten vor dem Urteil. Er sieht sich fast immer zu, aus Geschmack, aber er wird sich nicht beurteilen, aus unproduktiver Verletzlichkeit, sondern schmerzlos in sensibler Borniertheit verwerfen; sein überreiztes Individualwollen beschließt er in dem Wort »Anderssein«. Der Snobb ist nicht aus essentieller Nötigung so oder so; aus dem Rhythmus eines Worts, aus der abgerissenen Vibration sich gegenseitig flüchtender Klänge. Er haßt den diatonischen Dreiklang, das Entdecken des Ursprungs. Der Beginn muß ihm das am meisten Bezweifelte sein. Der Anfang bedeutet für ihn nicht symbolische Bestimmtheit, sondern tatsächliche Ungewißheit, die eine Brücke zu jedem Bedenken und Zweifel ist: ein Turnseil zur Willkür eines Geschmacks. Der Sinn dieser Reizfähigkeit, die nur als private Seltenheit geschätzt werden kann, liegt in der Entferntheit vom Natürlichen in der reservierten Willkür, die als Willkür dem Zweifel weite Flächen zweilichtiger Beleuchtung und Andunkelns bietet. Er identifiziert geistige Formen mit Inhalten des Seins, ihm ist das Ideelle zum Primären geworden; denn es ist die letzte Spiegelung, die Punktuellste. Er glaubt vielleicht auf Augenblicke dem Geist als nichts Sichtbarem, als Letztem. Der Geist ist eine individuelle Tatsache für ihn. Keine allgemein begriffliche. Nur Endstilisierung eines persönlichen Erlebnisses. Er sieht alles zunächst als Objekt feinhändiger Wahl, relativ, sehr relativ, aber gerade darum 245

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klammert er sich an ein Absolutes um so fester, dem er nicht symbolischen Wert beilegt, dessen Gebrauch eine Überrumpelung einen Glauben trotz allem in sich trägt. Er schätzt nach dem Genuß, wo alles Entscheid eines Geschmacks ist, und vielleicht ist Genuß das Passive, Unproduktive. Er ist an langer Wahl ermüdet und verfällt um so hülfloser dem letzten, dem Geschmack. Er verfällt sich und ist im Kreis seiner losgerissenen Individualität umgetrieben, seine Furcht vor der Identität, sein Haß auf Objektives, deren gemeinsamer Ausdruck Gleichgültigkeit ist, verarmen ihn, seine Armut ist Stil, er ein Punkt, ein Gewähltes, ein immer sich zentrierender Kreis, undifferenziert, weil er anders sein will und immer überwindet. Er ist immer einstellige Zahl, aber anders geschrieben. Differenzierung als Vorstellung bedingt Erinnerung, die den Unsern schon beschmutzt, er ist, entwickelt sich nicht; denn er genießt das Dasein, das so leise kam, wie auserlesene Frauen. Er schätzt nur den Genuß eines Moments, die Einzigkeit, der er glaubt. Kann diese Einzigkeit wahr sein? - etwas Moralisches? Sie muß so selten sein, daß sie wunderbar ist, ihre Tatsächlichkeit so momentan, daß Sein und Nichtsein eins werden. Das Auffangen, der Zweifel, der übrig bleibt, das Theater, des Moments würdig zu sein, der traurige Rest in einer aschigen Geste erstarrend, einzige Konsequenz, ein mehr und mehr verzweifelnder Geschmack. Der Snobb haßt das Symbol und die Einheitskette, die jenes weitziehend schlingt. Er ist nur Variation und Zuschauer derselben, ihr Stilzusammenhang ist die Angst auf Sich zu geraten, er ist so unsymbolisch, so untreu, wie das blinde Auge eines Spiegels, der wie er nur durch die Güte der Dinge lebt. Der Snobb flüchtet immer vom Gesetz zum Neuem. Gesetze wären für ihn mehr als Pflichten, eine Sache des Geschmacks, des Vereinzeins, das Gesetz müßte ihm restlos in der Originalität seines Erlebnisses aufgehen. Das Gesetz müßte aufgelöst werden in ein neues Erlebnis, so daß nichts von überindividueller Norm und Form übrig bliebe. Das Gesetz dürfte nichts mehr sein, als Beweis der Existenz eines originellen Individuums, die kontinuierliche Logik eines Kodex müßte untertauchen in die abrupte Erscheinung eines Snobbs, müßte ein Paradox werden und nicht nur in Hinsicht auf seinen Erfüller, eine Willkür, absolute Geschmacksache. Das Gesetz müßte relativ sein, seine Realisierung im einzelnen normativ, nur Theater eines Willens. Denn die Reize eines angespannten Seins werden gekostet, der Snobb ist immer dazwischen, aber durchaus nicht nur intellektual. Er besitzt eine feine Borniertheit des Gefühls. Und wenn er je lebte, in seiner Hast nach Außerordentlichkeit, die gemessen am Abrupten seines Charakters zuletzt in graues Mitleuchten endet; er besitzt kein anderes Maß des Lebens, als den innen gefühlten Tod. Das Licht sehen ist nichts anderes als die Proportion der Reize gemessen an seelischer Blindheit. Das Leben ist eine Relation zum Sterben. 246

Unserer ist tot; denn Stil tötet in seiner arroganten Ausschließlichkeit. Der Zauber und Reiz des Stils ruht in seiner Konstanz. Er duldet höchstens eine neue Gruppierung und Beleuchtung, aber grundprinzipiell und innerlich ist er durch den Glauben an die Beständigkeit und das Unveränderliche bestimmt. Ein Glauben, in dem jede Tatsache, das ist kritisches Bewußtsein, aufgezehrt wird. Der Reiz des Unsern, das ist die Möglichkeit einer Selbstinterpretation nach entgegengesetzter Richtung, liegt in der überwiegenden Verneinung zu Gunsten einer stärksten Bejahung, in der sich Ästhetisches und Lebendigkeit mischen, zum wenigsten tangieren. Das Erstorbene des Snobbs liegt von vornherein darin, daß er eine phantastische Forderung, deren Eigentümliches in ihrer Isoliertheit ruht, in eine Krawatte umsetzt, vielleicht um die Innerlichkeit einer artistischen Forderung zu bespötteln oder aus Schwerfälligkeit. Das primär Zweideutige ist das andauernde Ineinanderschachteln von Kunst und Tatsache. Er hat keine Zeit, keine zähe Weite, eine innerliche Forderung unsehbar zu erledigen, sie ist nur Grund zur Sichtbarmachung einer ähnlich ändern. Die künstlerische Förderung ist moralisch, ja sozial. Sein Denken ist ein kunstgewerbliches mit zweideutigen Zwecken. Vielleicht um der Eintönigkeit des Gereiztwerdens willen, die in Vielfarbigkeit der Wirkung verwandelt werden soll, oder vielleicht ist der Einklang des Stils eine euphemistische Flucht vor den vieltönenden Stimmen, die kaum unterschieden werden können. Diese Lebensbetrachtung, welche alles aus dem Gegensatz sich entwickeln läßt und in diesen hinein, nimmt den Werten, wie wir sie von einer wohltätigen gutmachenden Gewohnheit empfangen, ihren Charakter als Wert, indem zu jedem der Gegenwert dargeboten wird. Alle lebendigen Forderungen müssen, um hinreichend begründet zu sein, einer stilvollen Überzeugung Dekoratives entleihen. Es ist überhaupt meinem Lieben eigentümlich, Elementares als Schmuck und Letztes zu benutzen, um in sich zu bleiben und nicht einem durchfurchenden verallgemeinernden Prinzip zu verfallen. Da er von keinem Prinzip überfallen wird, saugen ihn die Dinge ein. Und gäbe es ein geringeres Element als die Liebe? Sie wird in ihrer ganzen Formen- und Willensfeindlichkeit als wirkungsvollste Dekoration in den Rahmen einer ästhetisierenden Absicht eingespannt. Wenn die Bewußtlosigkeit des Einswerdens sonst einen Zweck der Liebe ausmacht, so ist es hier nur ein qualvolles leeres Mittel, sich die Askese des geschlechtlichen Verkehrs anzugewöhnen. Der zweite Mensch muß sich auflösen zur zierenden Floskel, sichtbarer Körper eines Stilgedankens werden, vielleicht den Stil fast restlos repräsentieren, woraus sich eine eigentümliche Idealisierung des Persönlichen zum Symbol eines absoluten Allgemeinen ergibt. Die Liebe ist vor allem eine verantwortungsvolle Anstrengung; denn der Gegenstand der Empfindung soll aufs erste in dem überlegenen Stilgefühl zer-

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schmelzen, das sich allein an einem zweiten Menschen demonstrieren will, und an ihm nur seinen Stil genießt. Jeder ist irrational genug, sich gegen die Vollkommenheit einer theoretischen Form zu wehren, besonders wenn dies nichts ist als ein verblüfftes, das ist individualisiertes Gesetz. Aber vielleicht gab der Snobb sich den Ändern nur als Reiz, denn wir sind enharmonische Verwechselungen. Carl Einstein

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TEXTNACHWEISE Hjalmar Söderberg, Die Tuschzeichnung, aus: Hjalmar Söderberg, Erzählungen, Manesse Verlag, Zürich 1976 (vergriffen). Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Manesse Verlages. Gustav Sack, Das Duell, aus: Karl Otten (Hg.), Ahnung und Aufbruch. Expressionistische Prosa, Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1984. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literaturverlages. Paul Adler, Zwei Aufzeichnungen zu >Nämlich< (I), aus: Die Aktion 6/1916. Theodor Däubler, Die Schraube, aus: Karl Otten (Hg.), Ahnung und Aufbruch. Expressionistische Prosa, Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1984. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literaturverlages. Der erste '"•"-Absatz ist nach der Sirius-Fassung eingefügt. Theodor Däubler, Paul Klee, aus: Theodor Däubler, Im Kampf um die moderne Kunst und andere Schriften, Hg. Friedhelm Kemp und Friedrich Pfäfflin, Darmstadt 1988. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literaturverlages. Heinrich Schaefer, Im Fenster erscheinendes Gesicht, aus: Die Aktion 4/1914. Heinrich Schaefer, Schöpferische Dehnung aus dem Dunkel, aus: Die Aktion 4/1914. Heinrich Schaefer, Aus Nebeln kommendes Gesicht, aus: Die Aktion 6/1916. Henriette Hardenberg, Tröstung, aus: Henriette Hardenberg, Dichtungen, Hg. Hartmut Vollmer, Arche Verlag, Zürich 1988. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Arche Verlages. Angela Hubermann, Das Gesicht, aus: Die Aktion 4/1914 Robert Waiser, Blumentage, aus: Robert Waiser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben Bd. 15, Hg. Jochen Greven, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1985. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages. Robert Waiser, Der Greifensee, aus: Robert Waiser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben Bd. 2, Hg. Jochen Greven, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1985. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages. Robert Waiser, Von einem Dichter, aus: Robert Waiser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben Bd. 2, Hg. Jochen Greven, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1985. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages. Robert Waiser, Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein, aus: Robert Waiser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben Bd. 16, Hg. Jochen Greven, Suhr249

kamp Verlag, Frankfurt 1985. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages. Carl Einstein, Der Snobb, aus: Carl Einstein, Werke Bd. i. 1908-1918, Hg. Rolf-Peter Baacke, Medusa Verlag, Berlin 1980. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fannei & Walz Verlages.

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