Die deutsche Asylrechtsprechung und das internationale Flüchtlingsrecht: Kontinuität oder Neuanfang? [1 ed.] 9783428528196, 9783428128198

In den vergangenen Jahrzehnten hat die deutsche Asylrechtsprechung ein festes Gerüst asylrechtlicher Rechtsfiguren und A

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German Pages 199 [200] Year 2008

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Die deutsche Asylrechtsprechung und das internationale Flüchtlingsrecht: Kontinuität oder Neuanfang? [1 ed.]
 9783428528196, 9783428128198

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1102

Die deutsche Asylrechtsprechung und das internationale Flüchtlingsrecht Kontinuität oder Neuanfang?

Von Annegret Titze

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ANNEGRET TITZE

Die deutsche Asylrechtsprechung und das internationale Flüchtlingsrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1102

Die deutsche Asylrechtsprechung und das internationale Flüchtlingsrecht Kontinuität oder Neuanfang?

Von Annegret Titze

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12819-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Wie man sieht, steht sehr viel an juristischen Begriffen und Problemen hinter dem einfachen Wort „Flüchtling“. Dahinter steht aber auch ein Meer des Elends, der Einsamkeit und Verzweiflung, ebenso wie manche Inseln der Tapferkeit, der Entschlossenheit und der Hoffnung. Auch das muss der Jurist wissen, und er braucht sich seines Wissens und seines Mitgefühls nicht zu schämen. Otto Kimminich, 1962 „Der Internationale Rechtsstatus des Flüchtlings“, S. 48

Vorwort Seit Anfang der 1990er Jahre habe ich die Entwicklung der deutschen Asylrechtsprechung aufgrund meiner Tätigkeit am Verwaltungsgericht Köln aus nächster Nähe verfolgt. Der Prozess der europäischen Harmonisierung des Flüchtlingsrechts und die ersten Reaktionen der bundesdeutschen Rechtsprechung hierauf ließen die Notwendigkeit erkennen, das Verhältnis der deutschen Asylrechtsprechung zum internationalen Flüchtlingsrecht einer grundlegenden Untersuchung zu unterziehen. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Bernard Kempen, und Herrn Prof. Dr. Claus Kreß, LL.M., danke ich herzlich für ihre wertvolle Unterstützung bei der zeitnahen Umsetzung dieses Vorhabens. Die Arbeit hat der Juristischen Fakultät der Universität Köln im August 2007 vorgelegen und wurde von ihr als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur ebenso wie für das Thema relevante politische Entwicklungen wurden bis Ende Juli 2007 berücksichtigt. Köln, im März 2008

Annegret Titze

Inhaltsverzeichnis Einführung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1. Kapitel Die Geschichte eines Grundrechts

22

2. Kapitel Die deutsche Asylrechtsprechung und die Genfer Flüchtlingskonvention A. Begriffsmerkmale der politischen Verfolgung nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfolgungshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatlichkeit der Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nichtstaatliche Verfolgung seit 01. 01. 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Geschützte Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Politischer Charakter der Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Objektive Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Inländische Fluchtalternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kausalzusammenhang Verfolgung – Flucht – Asyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Selbstgeschaffene Nachfluchtgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Anderweitige Verfolgungssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

37 38 38 39 40 41 41 42 42 42 43

B. Das Bundesverfassungsgericht und die Genfer Flüchtlingskonvention . . . . . . . . 43 C. Das Bundesverwaltungsgericht und die Genfer Flüchtlingskonvention . . . . . . . . 44 I. Das Ahmadiyya-Urteil vom 26. 10. 1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 II. Das Tamilen-Urteil vom 18. 01. 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

3. Kapitel Die Qualifikationsrichtlinie

51

A. Grundzüge der Qualifikationsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Art. 9 – Verfolgungshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

10

Inhaltsverzeichnis

II.

III.

a) Schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte . b) Beispiele relevanter Verfolgungshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Geschlechts- und kinderspezifische Formen der Verfolgung . (2) Verweigerung des Militärdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 10 – Verfolgungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfolgung wegen der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziale Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen des subsidiären Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 15 – Ernsthafter Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 15 Buchst. c) – willkürliche Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes . . . . . . . . . . . . . . . Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 4 Abs. 4 – Herabstufung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs . . . . . . 2. Art. 6 – Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 5 – Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Art. 8 – Interner Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 56 57 57 57 58 58 59 59 59 61 61 61 62 63

B. Der Umgang des Bundesverwaltungsgerichts mit der Qualifikationsrichtlinie . . 64 4. Kapitel Widerruf der Anerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG versus „Wegfall der Umstände“-Klauseln A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der verwaltungsgerichtlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entwicklung der Rechtsprechung bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entwicklung der Rechtsprechung seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zäsur in tatsächlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Afghanistan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Irak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zäsur in rechtlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsprechung seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes . . . . . . . 4. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 . . 5. Entwicklung der Rechtsprechung seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

68 68 73 73 73 75 78 79 81 85 92

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel des Art. 1 C (5) bzw. (6) GFK im internationalen Flüchtlingsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Inhaltsverzeichnis I.

II.

III.

IV.

11

Die Position des UNHCR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Beschlüsse des Exekutivkomitees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Note on the Cessation Clauses, 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4. Richtlinien zur Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel . . . . 97 a) Richtlinien für die Anwendung der Beendigungsklauseln von 1999 98 b) Die Konferenz von Lissabon im Jahre 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 c) Richtlinien zum internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der „Wegfall der Umstände“-Klausel von 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5. Die Praxis des UNHCR bei der Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel in der völkerrechtlichen Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Internationales Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Völkerrechtliches Schrifttum in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . 109 Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Ausländische Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Entscheidungen ausländischer Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Urteil der Schweizerischen Asylrekurskommission vom 05. 07. 2002 i. S. B. T., Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo) . . . . . . . . . . . . . 114 b) Entscheidung des House of Lords in Sachen Hoxha & Anor v. Secretary of State for the Home Department vom 10. 03. 2005 . . 116 c) Entscheidung des High Court of Australia in Sachen QAAH vom 15. 11. 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 d) Entscheidung des österreichischen Unabhängigen Bundesasylsenats vom 05. 12. 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

C. Materielle Legitimation der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vor dem Hintergrund des internationalen Flüchtlingsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundsätze zur Auslegung von Völkervertragsrecht . . . . a) Die Auslegungsregeln der Art. 31 ff WVRK . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel nach den Grundsätzen für die Auslegung von Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung nach Art. 31 Abs. 1 WVRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ziel und Zweck des Vertragstextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 124 124 125 129 130 130 131 135

12

Inhaltsverzeichnis

II.

b) Auslegung nach Art. 31 Abs. 3 WVRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Besondere Aspekte für die Berücksichtigung der Staatenpraxis bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention . . . . . (2) Die Staatenpraxis bezüglich der „Wegfall der Umstände“Klausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historische Auslegung nach Art. 32 WVRK . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritische Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Methodische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhaltliche Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die vom Bundesverwaltungsgericht in Bezug genommenen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Entscheidung des Bayerischen VGH vom 06. 08. 2004 . (2) Die Entscheidung des VG Dresden vom 27. 05. 2005 . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Lichte der Qualifikationsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundsätze zur Auslegung von europäischem Recht . . . 2. Das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Völkervertragsrecht a) Grundsatz der völkerrechtskonformen Integration . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Genfer Flüchtlingskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln der Qualifikationsrichtlinie nach den Grundsätzen für die Auslegung von europäischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kritische Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

D. Schlussfolgerungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Praktische Auswirkungen auf die Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsschutzmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gerichtliche Kontrolle durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 68 Abs. 1 EG . . . . . . . . . (1) Vorlageberechtigte Gerichte im Asylrecht . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bestehen einer Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschränkung der Zuständigkeit für Maßnahmen hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach Art. 68 Abs. 2 EG . . . c) Das abstrakte Vorlageverfahren nach Art. 68 Abs. 3 EG . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht

136 137 140 143 146 147 147 148 150 150 150 152 153 158 160 160 161

162 164 164 168 168 168 170 170 170 170 172 173 174 177

Inhaltsverzeichnis

III. IV.

a) Willkürkontrolle, Art. 3 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG . . . b) Entzug des gesetzlichen Richters, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 177 179 181 182 183

5. Kapitel Zusammenfassung

185

A. Zur Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln des Art. 1 C (5) und (6) GFK und des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) der Qualifikationsrichtlinie sowie des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 B. Allgemeine Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abl. Abs. AnwBl AöR ARK Art. AsylVfG AuAS AufenthG AuslG AVR Bay. VGH BGBl. BGH BMI BT Buchst. BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE bzw. DÖV DVBl. ECRE EG EG-Vertrag EL EMARK EMRK EU EuGH EuGRZ EUV f., ff. Fn. GFK

anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Anwaltsblatt Archiv für öffentliches Recht Asylrekurskommission Artikel Asylverfahrensgesetz Ausländer- und Asylrecht Aufenthaltsgesetz Ausländergesetz Archiv des Völkerrechts Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesministerium des Innern Bundestag Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt European Council on Refugees and Exiles Europäische Gemeinschaften; Europäische Gemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Ergänzungslieferung Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Vertrag über die Europäische Union folgende, fortfolgende Fußnote Genfer Flüchtlingskonvention

Abkürzungsverzeichnis GG GH HCA InfAuslR IOM IPG IRO JurisPR-BVerwG JuS JZ Kap. MDR n. F. NJW Nr. / No. NVwZ NVwZ-RR OVG Rdnr. Rs. RzW S. s., s. o. Slg. sog. u. a. UBAS UKHL UNHCR u. s. w. VG VGH vgl. WVRK ZAR z. B. Ziff. ZIP

15

Grundgesetz Grabitz / Hilf High Court of Australia Informationsbrief Ausländerrecht Inter-Office Memoranda Internationale Politik und Gesellschaft International Refugee Organization Juris PraxisReport-Bundesverwaltungsgericht Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Monatsschrift für deutsches Recht neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nummer / Number Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht-Rechtsprechungsreport Oberverwaltungsgericht Randnummer Rechtssache Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht Seite siehe, siehe oben Rechtsprechungssammlung des EuGH sogenannt unter anderen / m Unabhängiger Bundesasylsenat United Kingdom House of Lords United Nations High Commissioner for Refugees und so weiter Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Wiener Vertragsrechtskonvention (Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge) Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

Einführung und Gang der Untersuchung Am 28. 07. 1951 wurde das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) unterzeichnet. Es trat am 22. 04. 1954 in Kraft. Neben Australien, Belgien, Dänemark, Luxemburg und Norwegen gehörte die Bundesrepublik Deutschland zu den ersten sechs Unterzeichnerstaaten. Am 31. 01. 1967 wurde ein Zusatzprotokoll für das Abkommen (Protokoll) verabschiedet, das dessen zeitliche und geografische Einschränkungen aufhob. Bis heute sind dem Abkommen oder dem Protokoll insgesamt 146 Staaten beigetreten. Die Genfer Flüchtlingskonvention gilt als „Magna Charta der Flüchtlinge“. 1 Sie gehört zu den bedeutendsten multilateralen Vertragswerken der Völkerrechtsgeschichte und hat die Entwicklung des internationalen Flüchtlingsrechts maßgeblich geprägt. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Genfer Flüchtlingskonvention durch Gesetz vom 01. 09. 1953 2 in innerstaatliches Recht transponiert. Dennoch ist die Bundesrepublik seit Jahren der Kritik von vielen Seiten 3 ausgesetzt, dass sie ihren Verpflichtungen, die sie mit der Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention übernommen hat, nicht in ausreichendem Maße nachkomme. Insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts war der Motor einer seit Anfang der neunziger Jahre zunehmend restriktiven Asylrechtsprechung, die sich in zentralen Fragen von gemeinsamen europäischen und teilweise weltweiten Mindeststandards absetzte. Exemplarisch hierfür steht die Entwicklung des Begriffs der politischen Verfolgung als staatliche Verfolgung. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu im Leitsatz seiner bekannten Tamilen-Entscheidung 4 im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 5 ausgeführt: „Der Senat schließt sich nicht der Rechtsprechung ausländischer Gerichte an, die in den Flüchtlingsbegriff auch Personen einbezieht, die nach Auflösung der staatlichen 1

Kimminich, Die Genfer Flüchtlingskonvention als Ausdruck globaler Solidarität, AVR 1991, Bd. 29, S. 261 – 269, 261. 2 BGBl. II 19/1953, S. 559 ff. 3 Vgl. statt vieler: Koisser / Nicolaus, Die Zuerkennung des Konventionsflüchtlingsstatus nach dem neuen Ausländergesetz – Eine Analyse aus Sicht des UNHCR, ZAR 1991, S. 9 – 15; Renner, Anmerkung zu BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994, ZAR 1994, S. 85 –87, 86. 4 BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48/92 – BVerwGE 95, S. 42 –53. 5 BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/ 86 – BVerfGE 80, S. 315 – 353.

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Einführung und Gang der Untersuchung Ordnungsgewalt infolge eines Bürgerkriegs von nichtstaatlicher Verfolgung betroffen sind. Das deutsche Recht stellt den von nichtstaatlicher Verfolgung Betroffenen die neben § 51 Abs. 1 AuslG gegebenen Schutzmöglichkeiten zur Verfügung.“

Vor den Türen des in den letzten Jahren von der deutschen Asylrechtsprechung errichteten Gebäudes, dessen tragende Säulen auf einer in weiten Teilen völlig eigenständigen Interpretation maßgeblicher Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention beruhen, steht nun die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. 04. 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes 6 (Qualifikationsrichtlinie). Die Qualifikationsrichtlinie ist am 30. 09. 2004 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden und nach ihrem Art. 39 am zwanzigsten Tag nach der Veröffentlichung in Kraft getreten. Art. 38 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie verpflichtete die Mitgliedstaaten, ihr innerstaatliches Recht und die Verwaltungspraxis mit der Richtlinie bis spätestens 10. 10. 2006 in Übereinstimmung zu bringen. Dieser Umsetzungsverpflichtung ist die Bundesrepublik Deutschland zunächst nur teilweise durch das am 01. 01. 2005 in Kraft getretene Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30. 07. 2004 7 (Zuwanderungsgesetz) und die dortige Neufassung des § 60 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) sowie die Neuregelung von Aufenthaltsrechten in § 25 AufenthG nachgekommen. Im Übrigen steht eine Umsetzung noch aus. 8 Die Qualifikationsrichtlinie ist eines der zentralen Elemente der Asylrechtsharmonisierung in der Europäischen Union und trifft umfangreiche Regelungen zu den materiellrechtlichen Voraussetzungen der Schutzgewährung und über die daran anknüpfenden Statusrechte. Die Qualifikationsrichtlinie ihrerseits war Gegenstand der Kritik insbesondere des UNHCR und verschiedener Nichtregierungsorganisa6

Amtsblatt der Europäischen Union (Abl.) L 304/12 vom 30. 09. 2004. BGBl. 2004 I, S. 1950 – 2011. 8 Neben einer vollständigen Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie stehen noch insgesamt zehn weitere Richtlinien im Bereich des Ausländer- und Asylrechts vor ihrer Umsetzung (vgl. hierzu Hans-Georg Maaßen, Zum Stand der Umsetzung von elf aufenthalts- und asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union, ZAR 2006, 161 –167). Im Bereich des Asylrechts sind außer der Qualifikationsrichtlinie noch die Richtlinie 2005/85/EG vom 01. 12. 2005 über Mindestnormen in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Verfahrensrichtlinie, Abl. L 326/13 vom 13. 12. 2005, Umsetzungsfrist 01. 12. 2007) und die Richtlinie 2003/9/EG vom 27. 01. 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Richtlinie Aufnahmebedingungen, Abl. L 16/44 vom 23. 01. 2004, Umsetzungsfrist 06. 02. 2005) umzusetzen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 28. 03. 2007 (vgl. BT-Drucksache 16/5065 vom 23. 04. 2007) wurde nahezu unverändert am 14. 06. 2007 vom Bundestag verabschiedet (PlPr 16/103). Der Bundesrat stimmte dem Vorhaben am 06. 07. 2007 zu (BR PlPr 835). 7

Einführung und Gang der Untersuchung

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tionen, weil sie in Teilbereichen hinter den Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention zurückbleibe. 9 In der Tat beschränkt sich die Qualifikationsrichtlinie auf die Festlegung von Mindestnormen für den zu gewährleistenden Schutz und eine Angleichung unterschiedlicher Rechtsvorschriften, insbesondere betreffend die Anerkennungsvoraussetzungen, um Anreize für die Sekundärmigration auf dem Gemeinschaftsgebiet zu verringern. 10 Auch diese Mindestnormen enthalten aber Sprengstoff für die deutsche Asylrechtsprechung, da sie maßgeblich auf einer uneingeschränkten und umfassenden Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention beruhen. 11 Das inzwischen von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geschaffene feste Gerüst asylrechtlicher Rechtsfiguren und Auslegungsgrundsätze auch entgegen internationalen Mindeststandards wird daher einer grundlegenden Revision und Neuorientierung unterzogen werden müssen. 12 Es ist eine offene Frage, ob, in welchem Umfang und wann die Verwaltungsgerichte sich dieser Herausforderung stellen. Die bisherige Entwicklung der Rechtsprechung seit Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie dämpft voreilige Erwartungen und ist tendenziell von einem großen Beharrungsvermögen geprägt. Dies zeigt sich beispielhaft an dem konkreten Anlass für die vorliegende Untersuchung, nämlich dem Umgang der Verwaltungsgerichte mit Verfahren betreffend den Widerruf von Flüchtlingsanerkennungen irakischer Staatsangehöriger. Die Bundesrepublik ist derzeit weltweit das einzige Land, das nach dem Sturz von Saddam Hussein in der Folge des Irak-Krieges von 2003 systematisch und massenweise Flüchtlingsanerkennungen von Irakern widerruft. 13 Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) hat seit 2004 die Flüchtlingsanerkennungen von Zehntausenden irakischen Flüchtlingen widerrufen. Alleine im Zeitraum von Januar bis einschließlich Dezember 2006 ergingen 4.440 Widerrufsentscheidungen, während der Irak gleichzeitig mit 2.117 Asylanträgen im Jahr 2006 wieder zum Hauptherkunftsland geworden ist. 14 Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung bestätigt die Rechtmäßigkeit dieser Widerrufsbescheide auf der Grundlage des 9 Kommentar des UNHCR zur Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 – www.unhcr.de/pdf/510.pdf; amnesty international, Stellungnahme zum Fachgespräch des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, 09. 04. 2003 – www.amnesty.de; Sitaropoulos, Entwurf einer EU-Anerkennungs-Richtlinie, ZAR 2003, S. 379 – 383. 10 Vgl. Erwägungsgrund 7 der Qualifikationsrichtlinie. 11 Vgl. Erwägungsgrund 2 der Qualifikationsrichtlinie. 12 Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/ EG (Qualifikationsrichtlinie), im Folgenden: Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kapitel I, § 2, Ziff. 2. 13 Auskunft des UNCHR vom 09. 10. 2006; European Council on Refugees and Exiles (ECRE), Survey on the treatment of Iraqi asylum seekers and refugees, Januar 2006, www.ecre.org; amnesty international, ai-Journal 01/2007, S. 14 –16, 14. 14 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Geschäftsstatistik für Januar-Dezember 2006, Stand 31. 12. 2006, www.bmi.bund.de; aus der Jahresstatistik des UNHCR 2006

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Einführung und Gang der Untersuchung

§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG regelmäßig. Da die Bundesrepublik Deutschland mit dieser Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis von der internationalen und europaweiten Praxis abweicht, drängt sich die Frage auf, ob dieser Abweichung eine im Hinblick auf die „Wegfall der Umstände“-Klausel des Art. 1 C (5) GFK konventionswidrige Auslegung der Widerrufsvoraussetzungen zugrunde liegt und ob diese vor dem Hintergrund der Qualifikationsrichtlinie aufrechterhalten werden kann oder aber eine Vorlage an den EuGH erzwingt. Zu Beginn der Untersuchung wird in einem geschichtlichen Überblick die Entwicklung des Asylrechts und der asylrechtlichen Rechtsprechung seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland dargestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Entwicklung des materiellen Asylrechts und dort insbesondere auf dem von der Rechtsprechung entwickelten Begriff der politischen Verfolgung. Die parallel dazu vorgenommenen umfangreichen Änderungen des Asylrechts im Bereich des Verfahrens- und Prozessrechts werden dagegen nur am Rande erwähnt, da dies den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen würde und zudem für die Frage des Verhältnisses des deutschen Asylrechts zum internationalen Flüchtlingsrecht nur von untergeordnetem Interesse ist. Das zweite Kapitel enthält eine Beschreibung der am Ende dieser Entwicklung stehenden tragenden Begriffsmerkmale der politischen Verfolgung. Zugleich wird untersucht, ob und inwieweit das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht als die maßgeblichen Interpreten dieses Begriffs bei der Festlegung dieser Merkmale die Genfer Flüchtlingskonvention berücksichtigt haben. Das dritte Kapitel ist der Darstellung der Grundzüge der Qualifikationsrichtlinie gewidmet, um die wesentlichen Bruchstellen aufzuzeigen, die sich zwischen dem in der Bundesrepublik entwickelten Begriff der politischen Verfolgung einerseits und dem in der Europäischen Gemeinschaft vorherrschenden materiellen Flüchtlingsbegriff andererseits auftun. Das vierte Kapitel schließlich wendet sich der Problematik des Widerrufs der Asylanerkennungen und Feststellungen der Flüchtlingseigenschaft nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu. Der eingehenden Analyse der hierzu ergangenen Rechtsprechung in der Bundesrepublik werden die zu der „Wegfall der Umstände“Klausel im internationalen Flüchtlingsrecht vorherrschenden Positionen gegenübergestellt, um sodann die Frage der Völkerrechts- und Europarechtskonformität der deutschen Rechtsprechung im Einzelnen zu analysieren. Bei der exemplarischen Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel wird besonderer Wert auf die methodischen Grundlagen gelegt, die bei der Auslegung von Völkervertragsrecht einerseits und bei der Auslegung von EG-Recht andererseits sowie bei der Verzahnung beider im Bereich der Qualifikationsrichtlinie zu beachten sind. Diese Grundlagen spielen in der bisherigen Anwendungspraxis in Deutschland so (www.unhcr.org) geht zudem hervor, dass der Irak erstmals seit dem Jahr 2002, vor dem Fall des damaligen Regimes, wieder zum Hauptherkunftsland von Asylbewerbern in den Industriestaaten geworden ist. Die Zahl der Asylanträge von Irakern in den Industrieländern stieg im Jahr 2006 im Vergleich zum Vorjahr um 77% von 12.500 auf 22.200.

Einführung und Gang der Untersuchung

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gut wie keine Rolle, obwohl sie – jenseits des hier untersuchten konkreten Auslegungsgegenstandes – für alle anderen Auslegungsfragen im materiellen Asylrecht zukünftig herangezogen werden müssen. Das vierte Kapitel schließt mit einem Blick auf die praktischen Konsequenzen der gegenwärtigen Rechtsprechung zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, insbesondere die Folgen für die Betroffenen und bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten. Im fünften Kapitel der Arbeit werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst.

1. Kapitel

Die Geschichte eines Grundrechts Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes war Kernelement des deutschen Asylrechts die Regelung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG mit dem schlichten Wortlaut: „Politisch Verfolgte genießen Asyl.“ Das Grundrecht auf Asyl fand unter dem Eindruck der Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes Eingang ins Grundgesetz. Es war neben dem Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in Art. 4 Satz 2 GG und der verfassungsrechtlichen Ächtung der Todesstrafe eine der zentralen ethischen Wertentscheidungen, die als bewusste Antwort auf die Unrechtserfahrungen des nationalsozialistischen Systems interpretiert werden. Der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ hat auch die politisch wie juristisch heftig umstrittene Grundgesetzänderung im Jahre 1993 überdauert und findet sich nun wortgleich in Art. 16a Abs. 1 GG. Mit der Gewährleistung eines Rechtsanspruchs auf Asyl ging das Grundgesetz über geltendes Völkerrecht hinaus, das die Einrichtung des Asyls bis heute immer noch prinzipiell nur als Recht der Staaten zur Schutzgewährung für fremde Staatsangehörige begreift. 15 Die grundrechtliche Gewährleistungsgarantie ging auch über die Genfer Flüchtlingskonvention hinaus, die nur die Rechte derjenigen ausländischen Flüchtlinge regelt, die bereits in einem Land Zuflucht gefunden haben. Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt das Recht im Asyl, aber nicht das Recht auf Asyl. 16 Auch die nationalen Rechtsordnungen der meisten anderen Staaten kennen kein individuelles Asylrecht. 17 Durch die Grundgesetzänderung im Jahre 15

Versuche, auch auf der Ebene des Völkerrechts ein subjektives Recht des Einzelnen auf Asylgewährung zu begründen, haben sich bis heute nicht durchgesetzt. Vgl. hierzu: Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, S. 67 – 71. 16 Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, S. 71; Koisser / Nicolaus, Die Zuerkennung des Konventionsflüchtlingsstatus nach dem neuen Ausländergesetz – Eine Analyse aus Sicht des UNHCR, ZAR 1991, S. 9 –15, 13; Renner, 40 Jahre Asylgrundrecht – Zeit für eine grundlegende Reform? NJW 1989, S. 1246 –1254, 1247; Marx, Konventionsflüchtlinge ohne Rechtsschutz – Untersuchungen zu einem vergessenen Begriff, ZAR 1992, S. 3 – 14, 10. 17 Entgegen einer weit verbreiteten Meinung, die in ihrer polemischen Zuspitzung (vgl. etwa: Brugger, Für Schutz der Flüchtlinge – gegen das Grundrecht auf Asyl! JZ

1. Kap.: Die Geschichte eines Grundrechts

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1993 und die damit verbundene Einführung der Konzepte der sicheren Drittstaaten einerseits und der sicheren Herkunftsländer andererseits hat sich trotz vielfältiger Einschränkungen an diesem besonderen Rang des Asylrechts grundsätzlich nichts geändert: nach wie vor ist ein Rechtsanspruch auf Asyl grundgesetzlich garantiert. In diesem Sinne ist die im Jahre 1980 vom Bundesverfassungsgericht getroffene Feststellung, dass das (deutsche) Asylrecht über das Völkerrecht hinausgehe, 18 bis heute zutreffend. Die Auswirkungen dieses Umstandes auf die Praxis waren allerdings von Anfang an beschränkt. In der Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis spielte Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG als Anspruchsgrundlage zunächst kaum eine Rolle. Er wurde ausdrücklich im Wesentlichen im Zusammenhang mit auslieferungs- und aufenthaltsrechtlichen Fragen erwähnt. Der Begriff der politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG wurde dabei materiell in enger Anlehnung an den völkerrechtlichen Flüchtlingsbegriff in Art. 1 A (2) GFK bestimmt. 19 Für den Regelfall ging das Bundesverwaltungsgericht anfangs davon aus, dass der Begriff des politisch Verfolgten im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG und der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention deckungsgleich seien, hielt aber Fälle für denkbar, in denen einer Person als politisch Verfolgtem das Asylrecht nach dem Grundgesetz zu gewähren sei, ohne dass die Verfolgungsgründe der Genfer Flüchtlingskonvention gegeben seien. 20 Bemerkenswert ist, dass das Bundesverwaltungsgericht anfangs auch umgekehrt von einer Überlegenheit der Rechtsstellung des ausländischen Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausging, da die Rechte des ausländischen Flüchtlings in der Konvention im Einzelnen festgelegt und daher nicht angezweifelt werden könnten, während der materielle Inhalt des Asylrechts noch umstritten sei. 21 Das Bundesverfassungsgericht vertrat ebenfalls die Auffassung, dass das Asylrecht der „politisch Verfolgten“ auch dann bestehen könne, wenn die durch die Genfer Flüchtlingskonvention bestimmten Voraussetzungen der Eigenschaft als „politischer Flüchtling“ nicht gegeben seien (These 1993, S. 119 –123) die politische Debatte über Jahrzehnte prägte, ist die Bundesrepublik aber keineswegs das einzige Land der Erde, das politisch Verfolgten ein Grundrecht auf Asylgewährung einräumt. Vgl. hierzu Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 364 ff, und Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, S. 95 –97. 18 BVerfG, Beschluss vom 02. 07. 1980 –1 BvR 147, 181, 182/80– BVerfGE 54, S. 341 – 362, 356. 19 BVerwG, Urteil vom 17. 01. 1957 – I C 166/56 – BVerwGE 4, S. 238 –243, 241, 242; BVerwG, Urteil vom 30. 06. 1964 – I C 102.63 – Buchholz 402.22 Nr. 13; BVerwG, Urteil vom 01. 06. 1965 – I C 5.62 – Buchholz 402.22 Nr. 14; BVerwG, Urteil vom 04. 11. 1965 – BVerwG I C 54.63 – Buchholz 402.22 Nr. 15; BVerwG, Urteil vom 04. 11. 1965 – I C 40.63 – Buchholz 402.22 Nr. 16. 20 BVerwG, Urteil vom 27. 09. 1962 – I C/45.60 – DVBl. 1963, S. 145 –146, 145. 21 BVerwG, Urteil vom 28. 01. 1960 – I C 182/57 – MDR 1960, S. 523 –524, 524.

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1. Kap.: Die Geschichte eines Grundrechts

von der Teilidentität). Es plädierte explizit für eine weite Auslegung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG, die „nicht nur dem Geist, in dem er konzipiert worden ist, sondern auch der Situation, für die er gemünzt war,“ entspreche. 22 Das Asylverfahren war in der Verordnung über die Anerkennung und Verteilung von ausländischen Flüchtlingen vom 06. 01. 1953 (Asylverordnung) geregelt. Nach § 5 der Asylverordnung wurde als ausländischer Flüchtling anerkannt, wer Flüchtling im Sinne von Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention war. 23 Sinn und Zweck der Asylverordnung, die noch vor dem innerstaatlichen Inkrafttreten der Genfer Flüchtlingskonvention in Kraft trat, war es, die Anerkennung und Verteilung dieser bestimmten Gruppe der politischen Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu regeln. Die Asylverordnung besagte nichts über das Asylrecht des Grundgesetzes, für das es kein eigenständiges Anerkennungsverfahren gab und das daher zunächst fast in Vergessenheit geriet. 24 Mit Inkrafttreten des Ausländergesetzes vom 28. 04. 1965 (AuslG 1965) 25 wurde die Asylverordnung aufgehoben. Nach § 28 AuslG 1965 wurde als Asylberechtigter anerkannt, wer Flüchtling im Sinne von Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention war (Nr. 1) und sonstige Ausländer, die politisch Verfolgte nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG waren (Nr. 2). Die Aufnahme des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG in das Asylverfahren erfolgte vor dem Hintergrund, dass es mit zunehmender Distanz zu der 22 BVerfG, Beschluss vom 04. 02. 1959 – 1 BvR 193/57 – BVerfGE 9, S. 174 –185, 180 f. Auch der Bundesgerichtshof legte in zahlreichen Verfahren zum Wiedergutmachungsrecht seinen Entscheidungen den Flüchtlingsbegriff der GFK zugrunde. Bemerkenswert ist, dass der Bundesgerichtshof hinsichtlich der in späteren Jahren so kontroversen Frage der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure in ständiger Rechtsprechung davon ausging, dass eine befürchtete Unrechtsmaßnahme nicht nur dann als Staatsunrecht anzusehen sei, wenn sie vom Staat ausgeht, sondern auch dann, wenn der Staat den Verfolgten gegen Verfolgung nicht schützen will oder nicht schützen kann (BGH, Beschluss vom 28. 10. 1964 – IV ZR 325/63 – RzW 1965, 238 –239; BGH, Beschluss vom 02. 03. 1966 – IV ZR 12/65 – RzW 1966, S. 367 –368, 367; BGH, Beschluss vom 31. 03. 1967 – IV ZB 547/66 – RzW 1967, 325 –326, 325 mit zustimmender Anmerkung von Schüler; BGH, Beschluss vom 11. 07. 1968 – IX ZR 156/66 – RzW 1968, S. 571 –575, 572). Bei fehlender Schutzwilligkeit und / oder Schutzfähigkeit sei es ausreichend, wenn die Verfolgung von Dritten ausgehe (BGH, Beschluss vom 02. 03. 1966 – IV ZR 12/65 – RzW 1966, S. 367 –368, 367). Maßgeblich sei das tatsächliche Fehlen der Sicherheit aus beliebigem Grunde. Ausdrücklich wurde festgestellt, dass auch im Falle des Staatsversagens, wenn also der Staat der Verfolgung einer Bevölkerungsgruppe durch eine andere nicht Herr zu werden vermag, die Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs nach Art. 1 A (2) GFK erfüllt seien (BGH, Beschluss vom 11. 07. 1968 – IX ZR 156/66 – RzW 1968, S. 571 –575, 572). 23 BGBl. I 1953, S. 3 – 5. 24 BVerwG, Urteil vom 17. 01. 1957 – I C 166/56 – BVerwGE 4, S. 238 –243, 240; Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 431 f, und Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, S. 111. 25 BGBl. I 1965, S. 353 – 362.

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zeitlichen Schranke in Art. 1 A (2) GFK immer schwieriger wurde, verfolgte Personen als Flüchtlinge anzuerkennen. 26 Durch die Aufnahme der Vorschriften der §§ 28 ff AuslG 1965 wurde das Verfahren für die Anerkennung als Asylberechtigte vereinheitlicht. In Übereinstimmung mit der damals bekannten Rechtsprechung ging der Gesetzgeber davon aus, dass die Voraussetzungen der Gewährung des Asylrechts nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG im Wesentlichen die Gleichen seien, wie die Voraussetzungen der Gewährung der Rechtsstellung als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention. 27 In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts führte die Neuregelung in § 28 AuslG 1965 zu der Auffassung, dass Art. 1 A (2) GFK in Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG aufgehe. Dabei wies das Bundesverwaltungsgericht in den frühen siebziger Jahren im Zusammenhang mit der Problematik der Republikflucht noch Versuche einer Berücksichtigung der zu erwartenden Zahl der Anerkennungen bei der Auslegung des Begriffs der politischen Verfolgung mit deutlichen Worten zurück. 28 Seit 1975 ging es von der Vollidentität zwischen dem Begriff des politisch Verfolgten und dem Flüchtlingsbegriff der GFK aus (Kongruenzlehre oder These von der Vollidentität). 29 Der Begriff des politisch Verfolgten sei aus sich heraus bestimmbar. Er habe die entsprechende Bestimmung auch durch die Übernahme der GFK in innerstaatliches Recht und durch die Verweisung auf den Flüchtlingsbegriff der Konvention in § 28 Nr. 1 AuslG bereits erfahren. Diese Definition erfasse bei sachgerechtem Verständnis alle denkbaren Fälle politischer Verfolgung und trage dem Erfordernis einer weiten Auslegung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG Rechnung. Zugleich wurde der „unverzichtbare Kerngehalt“ des Asyl26 Nach Art. 1 A (2) GFK fand der Ausdruck Flüchtling nur auf die Personen Anwendung, „die infolge von Ereignissen, die vor dem 01. 01. 1951 eingetreten waren, sich außerhalb ihres Heimatlandes befanden“. Diese zeitliche Schranke fiel erst mit der Verabschiedung des Zusatzprotokolls am 31. 01. 1967; vgl. hierzu auch: Koisser / Nicolaus, Die Zuerkennung des Konventionsflüchtlingsstatus nach dem neuen Ausländergesetz – Eine Analyse aus Sicht des UNHCR, ZAR 1991, S. 9 – 15, 9. 27 BT-Drucksache IV/3013, S. 7. 28 BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1971 – I C 30.68 – BVerwGE 39, S. 27 –32, 31: „Ob eine Bestrafung wegen Republikflucht als Asylgrund zu berücksichtigen ist, hängt allein davon ab, ob sie politische Verfolgung darstellt. ... Ihre Anerkennung als politische Verfolgung und damit als Asylgrund kann auch nicht durch zu erwartende Auswirkungen auf die Zahl der Asylberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland beeinflusst werden. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht ohne Rücksicht auf ihre Zahl. Der Begriff des „automatischen Asyl“ ist hiernach kein geeignetes Mittel für die Unterscheidung zwischen berechtigten und unberechtigten Asylbewerbern.“ 29 BVerwG, Urteil vom 07. 10. 1975 – I C 46.69 – BVerwGE 49, S. 202 –210, 204 f; anders in späteren Jahren soweit ersichtlich nur: BVerwG, Urteil vom 15. 03. 1988 – 9 C 278.86 – BVerwGE 79, 143 – 154, 145 f, betreffend einen iranischen Homosexuellen. Der in dieser letztgenannten Entscheidung scheinbar vollzogene Wandel in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hin zur These der Teilidentität wurde – wohl voreilig – als Sensation begrüßt (vgl. Anmerkung Kimminich, JZ 1988, S. 713 –715).

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rechts darauf beschränkt, dass der vor politischer Verfolgung Zuflucht Suchende an der Grenze des zur Asylgewährung verpflichteten Staates nicht zurückgewiesen und nicht in einen möglichen Verfolgerstaat abgeschoben werden dürfe. 30 Damit wurde die verfassungsrechtliche Garantie im Kernbereich bereits frühzeitig auf den Schutz vor Zurückweisung und Abschiebung in den Verfolgerstaat reduziert. Im Widerspruch zu der These von der Vollidentität stand allerdings die im Jahre 1977 entwickelte Lehre von der Verfolgungsmotivation oder Objektivitätslehre 31, die den Beginn der Abkopplung des Begriffs der politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG vom Flüchtlingsbegriff der GFK markiert. Danach konnte politisch Verfolgter nur sein, wer vom Staat aus politischen Motiven mit der Absicht, ihn in seiner politischen oder religiösen Überzeugung bzw. in seinen rassischen, nationalen oder sozialen Eigenschaften zu treffen, verfolgt wird. Maßgeblich sei die Verfolgungsintention, unabhängig von den subjektiven Überzeugungen bzw. Furchtmotiven des Flüchtlings. Das für den Flüchtlingsbegriff des Art. 1 A (2) GFK wesentliche subjektive Element der begründeten Verfolgungsfurcht geriet in den Hintergrund. 32 Das Bundesverfassungsgericht förderte in seinem grundlegenden Beschluss aus dem Jahre 1980 diese Tendenz des Auseinanderfallens der beiden Begriffe, indem es für Art. 1 A (2) GFK das subjektive Element der Verfolgungsangst hervorhob und dem die für Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG maßgebliche objektive Beurteilung der Verfolgungsgefahr gegenüber stellte. 33 Das Bundesverfassungsgericht hielt in diesem Beschluss allerdings – insoweit konsequent – entgegen dem Bundesverwaltungsgericht an der These der Teilidentität fest und betonte erneut, dass das Asylrecht nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG auch dann gegeben sein könne, wenn die Eigenschaft des politischen Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht vorliege. 34 Diese Entwicklung führte im Zusammenspiel mit der weiteren Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass das Asylrecht des Grundgesetzes über das Völkerrecht und das Recht anderer Staaten hinausgehe, 35 zu der das öffentliche Bewusstsein bestimmenden Überzeugung – oder zu dem „vorherrschenden Missverständnis“ 36 –, dass das deutsche Asylrecht nicht nur wegen seines Charakters 30

BVerwG, Urteil vom 07. 10. 1975 – I C 46.69 – BVerwGE 49, S. 202 –210, 205. BVerwG, Urteil vom 29. 11. 1977 – 1 C 33.71 – BVerwGE 55, S. 82 –86, 85 – zur Republikflucht; BVerwG, Urteil vom 31. 03. 1981 – 9 C 6.80 – BVerwGE 62, S. 123 –125, 124 – zur Verweigerung des Kriegsdienstes. 32 Köfner / Nicolaus, Die Genfer Flüchtlingskonvention im Schatten des Grundgesetzes, ZAR 1986, S. 11 – 16, 12 ff. 33 BVerfG, Beschluss vom 02. 07. 1980 –1 BvR 147,181,182/80– BVerfGE 54, S. 341 – 363, 359. 34 BVerfG, Beschluss vom 02. 07. 1980 –1 BvR 147,181,182/80– BVerfGE 54, S. 341 – 363, 356. 35 BVerfG, Beschluss vom 02. 07. 1980 –1 BvR 147,181,182/80– BVerfGE 54, S. 341 – 363, 356. 31

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als subjektives Recht, sondern auch inhaltlich über das Völkerrecht und das Recht anderer Staaten hinausgehe. 37 Im Asylverfahrensgesetz von 1982 38 wurde als Konsequenz daraus Art. 1 GFK als Anspruchsgrundlage ersatzlos gestrichen (§ 1 Abs. 1 AsylVfG 1982), weil der Begriff des politisch Verfolgten nach dem Grundgesetz den Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention einschließe und der Begriff „Schutz vor Verfolgung gefunden“ auch die Fälle beinhalte, in denen ein Ausländer Anerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention gefunden habe. 39 Dieses erste Asylverfahrensgesetz trat nach einer Reihe von Beschleunigungsgesetzen 40, die unter dem Eindruck stark ansteigender Asylbewerberzahlen ergangen waren, am 01. 08. 1982 in Kraft. Mit den genannten Entscheidungen des Bundesverwaltungs- und des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1977 bzw. 1980 sowie der Verabschiedung des Asylverfahrensgesetzes 1982 begann eine Entwicklung, in deren Verlauf sich das Asylrecht bis heute in materieller Hinsicht insbesondere hinsichtlich des Begriffs des Verfolgten zunehmend von der Genfer Flüchtlingskonvention und dem dieser zugrundeliegenden Flüchtlingsbegriff löste. Seine Lehre von der Verfolgungsmotivation setzte das Bundesverwaltungsgericht in mehreren Entscheidungen insbesondere zu den Auswirkungen drohender Folter 41, einer zu erwartenden Bestrafung wegen Staatsschutzdelikten 42 und zu den Folgewirkungen eines separatistischen Bürgerkrieges 43 fort. Es stellte in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf die Neuregelung des Asylverfahrensgesetzes offen die Frage, ob die für den internationalen Flüchtlingsstatus einschlägige Rechtsgrundlage nach der Aufhebung des § 28 Nr. 1 AuslG 1965 für die Asylberechtigung in der Bundesrepublik überhaupt noch von Bedeutung sei. Es ließ diese Frage, die sich explizit nur auf Art. 1 A (1) GFK bezog, allerdings unbeantwortet. 44 Das Bundesverwaltungsgericht erkannte dabei durchaus, dass sich aus

36 Marx, Konventionsflüchtlinge ohne Rechtsschutz – Untersuchungen zu einem vergessenen Begriff – ZAR 1992, S. 3 – 14, 3. 37 Köfner / Nicolaus, Die Genfer Flüchtlingskonvention im Schatten des Grundgesetzes, ZAR 1986, S. 11 – 16, 15. 38 BGBl. I 1982, S. 946 – 954. 39 BT-Drucksache 9/875, S. 14. 40 Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens vom 25. 07. 1978 (Erstes Beschleunigungsgesetz), BGBl. I 1978, S. 1108; Zweites Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens vom 16. 08. 1980 (Zweites Beschleunigungsgesetz), BGBl. I 1980, S. 1437. 41 BVerwG, Urteil vom 17. 05. 1983 – 9 C 36.83 – BVerwGE 67, S. 184 –195 und – 9 C 874.82 – BVerwGE 67, S. 195 – 203. 42 BVerwG, Urteil vom 08. 05. 1984 – 9 C 161.83 – InfAuslR 1984, S. 216 –219; BVerwG, Urteil vom 08. 05. 1984 – 9 C 3.84 – InfAuslR 1984, S. 219 –221, 220 f. 43 BVerwG, Urteil vom 03. 12. 1985 – 9 C 33.85 u. a. – BVerwGE 72, S. 269 –277, 274 ff.

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seiner Rechtsprechung Schutzlücken ergeben könnten und verwies die Betroffenen insoweit auf die im Rahmen des Ausländerrechts bestehenden Möglichkeiten. 45 Schutzlücken traten auch durch die im Jahre 1986 vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Rechtsprechung zu dem Problemkreis der Nachfluchtgründe auf. Sog. subjektive Nachfluchtgründe, die ein Asylbewerber während seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik aus eigenem Entschluss geschaffen hatte, konnten danach nur dann in Betracht gezogen werden, wenn sie sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstellten. 46 Fehlte es an solchen beachtlichen Nachfluchtgründen und drohte dem Asylbewerber dennoch politische Verfolgung, wurde auf „gesetzliche, teilweise auch völkerrechtlich begründete Rechtsbindungen“, insbesondere das Refoulement-Verbot des Art. 33 GFK hingewiesen. 47 Zu einem Verweis auf andere Schutzmechanismen sah sich das Bundesverfassungsgericht auch in seiner grundlegenden Tamilen-Entscheidung aus dem Jahr 1989 48 veranlasst. Mit dieser Entscheidung verwarf es einerseits die Lehre von der Verfolgungsmotivation des Bundesverwaltungsgerichts und entwickelte andererseits die Einzelheiten seiner Zurechnungslehre 49 und den Begriff der inländischen Fluchtalternative 50. Nach der Zurechnungslehre ist politische Verfolgung grundsätzlich staatliche Verfolgung oder jedenfalls dem Staat zurechenbare Verfolgung. Wenn die Schutzgewährung die Kräfte eines Staates übersteigt, endet seine asylrechtliche Verantwortlichkeit. Die Verengung des Begriffs der politischen Verfolgung auf staatliche Verfolgung stellte einen weiteren wesentlichen Schritt in der dualistischen Aufspaltung der Verfolgtenbegriffe des Grundgesetzes und der Genfer Flüchtlingskonvention dar und bewirkte, dass Personen aus Bürgerkriegsgebieten in der Regel auf subsidiäre Schutzmöglichkeiten angewiesen waren. 44 BVerwG, Urteil vom 17. 05. 1983 – 9 C 874.82 – BVerwGE 67, S. 195 –203, 196. Den entstandenen Dualismus zwischen beiden Begriffen räumte das Bundesverwaltungsgericht aber bald selbst ein, in dem es ausführte: „Die Frage, ob ein Asylsuchender als Flüchtling i. S. von Art. 1 A Nr. 2 GenfKonv anzusehen ist, kann in dem Verfahren auf Anerkennung als politisch Verfolgter i. S. des Art. 16 II 2 GG nicht geklärt werden“, BVerwG, Urteil vom 25. 10. 1988 – 9 C 50/87 – NVwZ 1989, S. 378. 45 BVerwG, Urteil vom 17. 05. 1983 – 9 C 36.83 – BVerwGE 67, S. 184 –195, 194. 46 BVerfG, Beschluss vom 26. 11. 1986 – 2 BvR 1058/85 – BVerfGE 74, S. 51 –68, 66; ebenso unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung: BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1987 – 9 C 184.86 – BVerwGE 77, S. 258 – 268. 47 BVerfG, Beschluss vom 26. 11. 1986 – 2 BvR 1058/85 – BVerfGE 74, S. 51 –68, 67. 48 BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 – 353, 348. 49 BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 – 353, 334 ff. 50 BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 – 353, 342 f.

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Parallel zu der Entwicklung der Rechtsprechung in den achtziger Jahren nahm auch der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Änderung asylverfahrensrechtlicher, arbeitserlaubnisrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften von 1987 51 Beschränkungen hinsichtlich der Anerkennungskriterien vor. Durch den neu eingeführten § 1a AsylVfG wurden sog. willkürlich geschaffene Nachfluchtgründe als unbeachtlich für die Asylanerkennung eingestuft. Die Voraussetzungen für eine ausländische Fluchtalternative wurden durch die Einführung einer Regelvermutung in § 2 Abs. 2 AsylVfG näher bestimmt, ein Flüchtling habe nach einem dreimonatigen Aufenthalt in einem Drittstaat bereits anderweitig Schutz vor Verfolgung gefunden. Ein Asylantrag galt fortan gemäß § 11 Abs. 1 AsylVfG als offensichtlich unbegründet, wenn nach den Umständen offensichtlich war, dass der Aufenthalt des Asylbewerbers in der Bundesrepublik auf wirtschaftlicher Not, einer allgemeinen Notsituation oder kriegerischen Auseinandersetzungen beruhte. Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 09. 07. 1990 52 (Ausländergesetz 1990) zum 01. 01. 1991 wurde die Genfer Flüchtlingskonvention wieder zum Bestandteil des innerstaatlichen Verfahrensrechts. Das zuvor in § 14 AuslG 1965 geregelte Abschiebungsverbot für Ausländer in Staaten, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht war, wurde nun wortgleich in § 51 Abs. 1 AuslG 1990 geregelt. Diese dem Refoulement-Verbot des Art. 33 GFK nachgezeichnete Vorschrift verwendete allerdings nicht den Begriff des Flüchtlings, sondern den des Ausländers. Auch unterblieb eine ausdrückliche Einbeziehung des subjektiven Elements der „begründeten Furcht“ des Art. 1 A (2) GFK. Zudem wurde die Wendung „bedroht sein würde“ in Art. 33 Abs. 1 GFK durch die Formulierung „bedroht ist“ verobjektiviert. Nach § 51 Abs. 3 AuslG 1990 erfüllte ein Ausländer, bei dem die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 festgestellt worden waren, zugleich die Voraussetzungen des Art. 1 GFK. Durch diese Regelungen wurde die Schutzlücke geschlossen, die aufgrund der – von gesetzgeberischen Maßnahmen flankierten – Entwicklung der Rechtsprechung in den vorangegangenen Jahren zwischen dem Begriff der politischen Verfolgung und dem der Asylberechtigung infolge des Ausschlusses der gewillkürten Nachfluchtgründe und der Asylversagung wegen Fluchtbeendigung im sicheren Drittstaat entstanden war. Gleichzeitig erfolgte durch die Änderung von § 7 AsylVfG 53 wieder eine Verzahnung mit dem Asylverfahren. Nach § 7 AsylVfG 1990 galt nun grundsätzlich mit jedem Asylantrag sowohl die Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG als auch die Anerkennung als Asylberechtigter als beantragt. Die Entscheidung auch über die Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG oblag daher fortan im 51 52 53

BGBl. I 1987, S. 89 – 93. BGBl. I 1990, S. 1354 – 1387. Art. 3 Ziff. 2 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts.

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Rahmen eines einheitlichen Asylverfahrens ausschließlich dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Diese Harmonisierung des ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots mit dem Asylverfahrensrecht diente nicht zuletzt der Verfahrensbeschleunigung. 54 Weitere entstandene Schutzlücken wurden nun in § 53 AuslG 1990 ausdrücklich gesetzlich geregelt, um so die Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention zu erfüllen. 55 Das Verhältnis zwischen Asylbegehren auf der einen Seite und Feststellungsanspruch nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 auf der anderen Seite klärte das Bundesverwaltungsgericht alsbald dahingehend, dass die Voraussetzungen deckungsgleich seien, soweit es die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der Verfolgung betreffe. 56 Auch die anzuwendenden Prognosemaßstäbe seien die Gleichen. 57 Im Unterschied zum Abschiebungsverbot des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 verlange die Asylanerkennung – lediglich – einen Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht sowie das Fehlen anderweitigen Verfolgungsschutzes. 58 § 51 Abs. 1 AuslG sei zudem so auszulegen und anzuwenden, dass er mit dem Flüchtlingsbegriff des Art. 1 A (2) GFK übereinstimme. 59 Die Neuregelungen aus dem Jahr 1990 waren indes nicht von langer Dauer. Zeitgleich mit der Verabschiedung des Neuregelungsgesetzes vom 09. 07. 1990 begannen sich die nationalen und internationalen politischen Rahmenbedingungen erheblich zu verändern. Bedingt u. a. durch die Umwälzungen im Ostblock und den Wegfall der vormals strikten Einreisebarrieren stieg – neben der Zahl der Aussiedler – die Zahl der Asylbewerber rasant an. 60 Das Bundesamt und 54

Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drucksache 11/6321, S. 48. 55 Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drucksache 11/6321, S. 75. 56 BVerwG, Urteil vom 18. 02. 1992 – 9 C 59/91 – NVwZ 1992, S. 892 –893, 892; BVerwG, Beschluss vom 19. 03. 1992 – 9 B 235/91 – NVwZ-RR 1992, S. 584 –585, 585. 57 BVerwG, Urteil vom 03. 11. 1992 – 9 C 21.92 – BVerwGE 91, S. 150 –157; 154. 58 BVerwG, Urteil vom 18. 02. 1992 – 9 C 59/91 – NVwZ 1992, S. 892 –893, 892; BVerwG, Beschluss vom 19. 03. 1992 – 9 B 235/91 – NVwZ-RR 1992, S. 584 –585, 585. 59 BVerwG, Urteil vom 21. 01. 1992 – 1 C 21.87 – BVerwGE 89, S. 296 –309, 301. 60 Folgende Zahlen dienen der Veranschaulichung: 1960 – 2.980; 1970 – 8.645; 1980 – 107.818; 1990 – 193.063; 1991 – 256.112; 1992 – 438.191; Zahlenangaben nach von Münch, Staatsrecht, Band 2, 12. Kapitel, Asylrecht, Rdnr. 542. Bei der damaligen Diskussion wurde vielfach übersehen, dass sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch Europa insgesamt von den Fluchtbewegungen der Dritten Welt nur am Rande gestreift wurde. Die meisten der seinerzeit rund 17 Millionen Flüchtlinge hielten sich in sogenannten Entwicklungsländern auf, und zwar in Staaten, die innerhalb dieser Kategorie zu den Ärmsten gehören (vgl. hierzu: Nicolaus, Das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und 40 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention, ZAR 1991, S. 113 –121, 120).

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die Verwaltungsgerichte waren mit der Vielzahl der zu bewältigenden Verfahren extrem belastet. Die Kommunen waren mit dem Problem der Unterbringung und Versorgung konfrontiert. Niedrige Anerkennungsquoten entfachten eine heftige Diskussion um „Asylmissbrauch“ 61, die das öffentliche Klima zu Lasten der Asylbewerber negativ beeinflusste. Nicht selten wurden und werden in der Rückschau auf die damalige Situation nachgerade apokalyptische Untergangsszenarien beschrieben. 62 Schon Mitte des Jahres 1992 kam es mit dem Ziel einer weiteren Beschleunigung der Verfahren 63 zu einer erneuten umfangreichen Novellierung des Asylverfahrensgesetzes. Durch das Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26. 06. 1992 64 wurde das Verfahren endgültig in der Hand des Bundesamtes konzentriert, das gemäß §§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 3 AsylVfG 1992 jetzt auch für Entscheidungen über Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG zuständig war, jedenfalls soweit sie zielstaatsbezogen waren. 65 Nach zähem Ringen kam es am 06. 12. 1992 zum sog. Asylkompromiss zwischen CDU / CSU, SPD und FDP, dessen wesentlicher Inhalt die Grundgesetzänderung durch Einfügung des Art. 16a GG anstelle von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG war. 66 In Art. 16a Abs. 1 GG wurde der Kernsatz des deutschen Asylrechts „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ unverändert übernommen. In den Absätzen 2 bis 5 wurden zahlreiche Einzelheiten bis hin zum gerichtlichen Prüfungsmaßstab in Eilverfahren bei offensichtlich unbegründeten Asylanträgen geregelt, die eigentlich Gegenstand eines einzigen Gesetzesvorbehalts hätten sein müssen, über den jedoch keine politische Einigung erzielt werden konnte. 67 Die materiell bedeutsamsten Regelungen enthalten die Absätze 2 und 3. Art. 16a Abs. 2 GG schließt bei Einreise eines Ausländers aus sicheren Drittstaaten eine Berufung auf das Asylgrundrecht aus. Art. 16a Abs. 3 GG eröffnet dem Gesetzgeber die Möglichkeit, eine Liste von Herkunftsländern zu erstellen, für welche die widerlegbare Vermutung der Verfolgungsfreiheit besteht. Parallel zu der Grundgesetzänderung wurde das Gesetz zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften vom 61

Vgl. zur Problematik dieses Begriffs schon in den achtziger Jahren: Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, S. 149 ff. 62 Von Münch, Staatsrecht, Band 2, 12. Kapitel, Asylrecht, Rdnr. 537. 63 BT-Drucksache 12/2062, S. 1 – 46. 64 BGBl. I 1992, S. 1126 – 1146. 65 BVerwG, Urteil vom 11. 11. 1997 – 9 C 13.96 – BVerwGE 105, S. 322 –328, 324 ff ; BVerwG, Urteil vom 25. 11. 1997 – 9 C 58.96 – BVerwGE 105, S. 383 –388. 66 39. Änderungsgesetz zum Grundgesetz vom 28. 06. 1993, BGBl. I 1993, S. 1002. 67 Von Münch, Staatsrecht, Band 2, 12. Kapitel, Asylrecht, Rdnr. 537.

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30. 06. 1993 68 verabschiedet. Die in Artikel 1 des Änderungsgesetzes vorgenommenen Änderungen des Asylverfahrensgesetzes dienten der Anpassung an die neue Verfassungslage sowie der Umsetzung des Schengener Übereinkommens vom 19. 06. 1990 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen 69 und der Vorbereitung der Umsetzung des Dubliner Übereinkommens vom 15. 06. 1990. 70 Sie standen im Übrigen ganz unter den Prämissen der Verkürzung der Asylverfahren, der Verhinderung von Missbräuchen sowie der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens. 71 Neben der einfachgesetzlichen Umsetzung des Konzepts der sicheren Drittstaaten in dem neuen § 26a AsylVfG und des Konzepts der sicheren Herkunftsstaaten in dem neuen § 29a AsylVfG war insbesondere die Regelung des Verfahrens bei Einreise auf dem Luftweg in § 18a AsylVfG bedeutsam, durch welche die Einreise von Ausländern aus sicheren Herkunftsstaaten von besonderen verfahrensrechtlichen Maßnahmen flankiert wurde. Durch Artikel 2 des Änderungsgesetzes wurde eine umfangreiche Regelung für die Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen in das Ausländergesetz eingefügt. Nach dem neuen § 32a AuslG bekamen Ausländer aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten im Falle einer entsprechenden Verständigung zwischen Bund und Ländern eine Aufenthaltsbefugnis zur vorübergehenden Aufnahme. 72 Im Gegenzug waren sie vorübergehend vom Asylverfahren ausgeschlossen. Mit dem Asylkompromiss und den darauf beruhenden grundgesetzlichen und einfachgesetzlichen Änderungen begann der „vorletzte Akt des Dramas und wurde der Vorhang für den Schlussakt geöffnet“. 73 Das Bundesverfassungsgericht bestätigte in drei grundlegenden Entscheidungen die Verfassungsmäßigkeit des Konzeptes der sicheren Drittstaaten 74, des Konzeptes der sicheren Herkunftsstaaten 75 und des Flughafenverfahrens. 76 Mit diesen 68

BGBl. I 1993, S. 1062. Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 06. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. 06. 1990, BGBl. II 1993, S. 1010 – 1093. 70 Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrages vom 15. 06. 1990, BGBl. II 1994, S. 792 – 797. 71 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU / CSU, SPD und FDP vom 02. 03. 1993, BT-Drucksache 12/4450, S. 14. 72 In der Praxis kam es nicht zu solchen Regelungen nach § 32a AuslG, da sich Bund und Länder regelmäßig nicht über die Kosten einigen konnten. S. hierzu Renner, Was ist vom deutschen Asylrecht geblieben, ZAR 1996, S. 103 – 109, 109. 73 Renner, Was ist vom deutschen Asylrecht geblieben?, ZAR 1996, S. 103 –109, 103. 74 BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93 – BVerfGE 94, S. 49 –114. 69

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Entscheidungen war das gesamte neue System des Asylrechts einer umfassenden Prüfung unterzogen worden und Rechtsklarheit sowohl hinsichtlich der Auslegung als auch hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelungen hergestellt. 77 Insbesondere durch die Beschränkung des persönlichen Geltungsbereichs des Asylgrundrechts durch das Konzept der sicheren Drittstaaten 78 verlor die grundgesetzliche Asylgewährleistung im Laufe der nachfolgenden Jahre weitgehend an Bedeutung. Da alle an die Bundesrepublik Deutschland angrenzenden Staaten sichere Drittstaaten sind, war fortan eine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG bei einer Einreise auf dem Landweg nicht mehr möglich, und zwar auch dann, wenn der Reiseweg im Einzelnen nicht bekannt war. 79 Die meisten Asylbewerber waren daher schon aufgrund ihres Reisewegs von der Asylgewährung ausgeschlossen. Was ihnen blieb, war der Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Herkunftsstaates 80 – oder eines Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG 1990 –, jedenfalls dann, wenn eine Rückverbringung in den sicheren Drittstaat an dessen Aufnahmebereitschaft scheiterte, was regelmäßig der Fall war, weil der Reiseweg nicht nachweisbar rekonstruiert werden konnte. 81 § 51 Abs. 1 AuslG wurde so für die meisten Asylbewerber die maßgebliche Vorschrift, auf deren Grundlage sie Schutz in der Bundesrepublik erlangen konnten. Die Rechtsstellung dieser Flüchtlinge, denen das sog. kleine Asyl gewährt wurde, war dabei in aufenthalts-, arbeitsund fürsorgerechtlicher Hinsicht bedeutend schlechter als diejenige der nach dem Grundgesetz anerkannten Asylberechtigten, die in den Genuss des sog. großen Asyls kamen. Durch die Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Deckungsgleichheit zwischen dem Begriff des politisch Verfolgten nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG bzw. Art. 16a Abs. 1 GG und dem in § 51 Abs. 1 AuslG wurden die Voraussetzungen für eine nach § 51 Abs. 1 AuslG zu treffende Feststellung allerdings zunehmend verschärft. So wurden etwa die Maßstäbe für die Bewertung eines 75

BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1507, 1508/93 – BVerfGE 94, S. 115 –166. BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, S. 166 –240. 77 Vgl. hierzu im Einzelnen: Tomuschat, Asylrecht in der Schieflage, EuGRZ 1996, S. 381 – 386. 78 BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93 – BVerfGE 94, S. 49 – 114, 87. Die Konzeption des sicheren Drittstaates hatte es schon seit 1965 in verschiedenen Formen gegeben (vgl. § 28 AuslG 1965, § 2 AsylVfG 1982). Neu war aber nunmehr, dass im Falle der Einreise aus einem sicheren Drittstaat eine Asylgewährung ohne jede Möglichkeit einer Einzelfallprüfung oder Widerlegung kategorisch ausgeschlossen war. 79 BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93 – BVerfGE 94, S. 49 – 114, 95. 80 BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93 – BVerfGE 94, S. 49 – 114, 97, 101. 81 Vgl. Tomuschat, Asylrecht in der Schieflage, EuGRZ 1996, S. 381 –386, 384. 76

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Eingriffs in die Religionsfreiheit als politische Verfolgung uneingeschränkt auf § 51 Abs. 1 AuslG übertragen. 82 Auch das Erfordernis der Staatlichkeit wurde mit der bereits in der Einführung zitierten Tamilen-Entscheidung vom 18. 01. 1994 auf den Verfolgtenbegriff des § 51 Abs. 1 AuslG übertragen. 83 Gleichzeitig verfestigte sich die Auffassung, dass der Begriff des von politischer Verfolgung Bedrohten nach § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Begriff des Flüchtlings im Sinne der Art. 1 A (2) und Art. 33 GFK übereinstimme. 84 Damit wurde gewissermaßen der Kreis wieder geschlossen: Die im Laufe der Jahrzehnte zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG bzw. Art. 16a Satz 1 GG entwickelten Grundsätze galten nun – mit Ausnahme der subjektiven Nachfluchtgründe und der Sicherheit in einem Drittland – uneingeschränkt auch für die Auslegung des § 51 Abs. 1 AuslG und den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention. Diese Rechtsprechung hatte zur Folge, dass die überwiegende Zahl der Flüchtlinge auch aus dem Anwendungsbereich des § 51 Abs. 1 AuslG herausfiel und – da das Erfordernis der Staatlichkeit zudem auf die Abschiebungsschutztatbestände des § 53 Abs. 1 und Abs. 4 AuslG 1990 85 übertragen worden war – allenfalls einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990 hatte. Diese Möglichkeit war aber insbesondere in Bürgerkriegssituationen durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Sperrwirkung von Erlassen 86 ebenfalls erheblich erschwert. Tausende von Flüchtlingen aus Ländern, in denen – wie in Afghanistan – seit Jahrzehnten Bürgerkrieg herrschte, erhielten daher im Ergebnis lediglich Duldungen, eine Praxis, die zu dem Phänomen der Kettenduldungen führte. An dieser Tendenz des weitgehenden Ausschlusses vom Anwendungsbereich des § 51 Abs. 1 AuslG änderte sich auch nichts Wesentliches, als das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2000 die zuvor vom Bundesverwal82

BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1993 – 9 C 50.92 – InfAuslR 1994, S. 119 –124, 123. BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48/92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 44 ff; BVerwG, Urteil vom 22. 03. 1994 – 9 C 443/93 – NVwZ 1994, S. 1112 –1115. 84 BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1993 – 9 C 50.92 – InfAuslR 1994, S. 119 –124, 123 f; BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48/92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 45 ff; so auch schon BVerwG, Urteil vom 21. 01. 1992 – 1 C 21.87 – BVerwGE 89, S. 296 –309, 301. 85 Zu Art. 3 EMRK: BVerwG, Urteil vom 17. 10. 1995 – 9 C 15.95 – BVerwGE 99, S. 331 – 337, 335; BVerwG, Urteil vom 15. 04. 1997 – 9 C 38.96 – BVerwGE 104, S. 265 – 279, 267 ff – unter Auseinandersetzung mit der abweichenden Rechtsprechung des EGMR; BVerwG, Urteil vom 25. 11. 1997 – 9 C 58.96 – BVerwGE 105, S. 383 –388, 384. 86 BVerwG, Urteil vom 17. 10. 1995 – 9 C 9.95 – BVerwGE 95, S. 324 –331, 328; BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001 – 1 C 5.01 –, BVerwGE 115, 1, 4 f. und – 1 C 2.01 – BVerwGE 114, S. 379 –388, 382 ff; Aufgrund der vom Bundesverwaltungsgericht angenommenen Sperrwirkung von Erlassen im Falle von Allgemeingefahren kam die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990 bei Bestehen eines Erlasses nur dann in Betracht, wenn eine konkrete individuelle Gefahr nach § 53 Abs. 6 Satz 1 – etwa wegen Krankheit – vorlag. Dabei kam es nur darauf an, ob die Erlasslage dem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Abschiebung gewährte, nicht aber auf die Gründe für den Erlass. 83

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tungsgericht am Beispiel Afghanistans entwickelten Kriterien für die Annahme von Staatlichkeit oder Quasi-Staatlichkeit der Verfolgung 87 als zu streng verwarf. 88 Ob von einer Bürgerkriegspartei politische Verfolgung ausgehen konnte, beurteilte sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – jenseits abstrakter staatstheoretischer Merkmale – maßgeblich danach, ob diese zumindest in einem Kernterritorium ein Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität errichtet hatte. 89 Das Bundesverfassungsgericht hielt in dieser Entscheidung aber grundsätzlich an dem Begriff der politischen Verfolgung als staatliche Verfolgung fest. Das Bundesverwaltungsgericht übertrug die „erleichterten Anforderungen“ an die Qualifizierung von Verfolgungsmaßnahmen in einem noch andauernden Bürgerkrieg als quasi-staatliche Verfolgung in konsequenter Fortsetzung seiner bisherigen Rechtsprechung auf § 51 Abs. 1 AuslG und die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A (2) GFK. 90 Es waren vor allem afghanische Asylbewerber, die vor dem tatsächlichen Hintergrund der Taliban-Herrschaft, die sich auf ca. 90% des afghanischen Territoriums erstreckte, von dieser geänderten Rechtsprechung profitieren konnten. Dies war allerdings nur vorübergehend bis zum Sturz der Taliban Ende 2001 der Fall. Mit dem am 01. 01. 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz 91 wurden – in teilweiser Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie – die zuletzt für den Flüchtlingsschutz in der Bundesrepublik tragenden Vorschriften der §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG durch § 60 AufenthG ersetzt und maßgeblich neu gestaltet. Das bisherige Ausländergesetz vom 9. Juli 1990 trat gleichzeitig außer Kraft. Die Bestimmungen des § 53 Abs. 1, 2 und 4 bis 6 AuslG 1990 sind unverändert in § 60 Abs. 2, 3, 5 bis 7 AufenthG übernommen worden. Damit ist die Unterscheidung zwischen inlandsbezogenen und zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen und die hierauf bezogene Aufgabenverteilung zwischen Ausländerbehörde und Bundesamt aufrecht erhalten geblieben. Verbote der Abschiebung politisch Verfolgter werden nunmehr in § 60 Abs. 1 AufenthG geregelt. Die Vorschrift nimmt ausdrücklich auf die Genfer Flüchtlingskonvention Bezug und erstreckt in Anlehnung an die Qualifikationsrichtlinie den durch das Abkommen vermittelten Schutz bei erwiesener Schutzunfähigkeit oder Schutzunwilligkeit staatlicher oder quasi-staatlicher Akteure auf Fälle von 87

BVerwG, Urteil vom 04. 11. 1997 – 9 C 334.96 – BVerwGE 105, S. 306 –313. BVerfG, Beschluss vom 10. 08. 2000 – 2 BvR 260 und 1353/98 – NVwZ 2000, S. 1165 – 1167. 89 BVerfG, Beschluss vom 10. 08. 2000 – 2 BvR 260 und 1353/98 – NVwZ 2000, S. 1165 –1167, 1166; im Anschluss daran ebenso: BVerwG, Urteil vom 20. 02. 2001 – 9 C 20.00 – BVerwGE 114, S. 16 – 27, 22 f. 90 BVerwG, Urteil vom 20. 02. 2001 – 9 C 21.00 – BVerwGE 114, S. 27 –36, 32. 91 Vgl. zur Entstehungsgeschichte: Renner, Vom Ausländerrecht zum Zuwanderungsrecht, ZAR 2004, S. 266 – 275, 266 f. 88

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nichtstaatlicher Verfolgung, unabhängig davon, ob in dem Staat eine staatliche Herrschaft vorhanden ist oder nicht. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich insoweit jetzt der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der europäischen Union angeschlossen. 92 Zudem gilt nach der Neuregelung des § 60 Abs. 1 AufenthG nunmehr auch das Geschlecht als ein Element einer sozialen Gruppe, und zwar auch dann, wenn die Verfolgung allein an das Geschlecht anknüpft. Gleichzeitig mit der Erweiterung des Schutzumfangs des § 60 Abs.1 AufenthG gegenüber demjenigen des Art. 16a Abs. 1 GG und des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 durch die Einbeziehung der nichtstaatlichen Verfolgung wurde in Umsetzung von Art. 24 Abs. 1 und Art. 23 der Qualifikationsrichtlinie der aufenthaltsrechtliche Status der nach dem Grundgesetz anerkannten Asylberechtigten und derjenigen, hinsichtlich deren die Feststellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu treffen ist, sowie ihrer Familienangehörigen angeglichen. Insbesondere diese aufenthaltsrechtliche Gleichstellung bewirkt, dass es nun auch in der Praxis für Asylsuchende nicht mehr relevant ist, ob sie in den Genuss des grundrechtlich gewährten Asyls kommen oder „nur“ die Feststellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu treffen ist. Wenngleich sich also an dem besonderen Rang des Asylrechts formal bis heute nichts geändert hat und nach wie vor ein Rechtsanspruch auf Asyl grundgesetzlich garantiert ist, so ist dies doch für die gegenwärtige Praxis völlig bedeutungslos geworden. Es mag als eine Ironie der Geschichte angesehen werden, dass das Bundesverwaltungsgericht die eingetretene Bedeutungslosigkeit der Asylverheißung, auf die die Bundesrepublik einst so stolz war und die ein wichtiger Bestandteil ihrer Verfassungstradition war, erstmals in einem Beschluss betreffend das vergleichsweise banale Thema des Gegenstandswertes für Asylverfahren eingeräumt hat: „Diese Auslegung 93 beruhte maßgeblich auf dem besonderen Schutz und Status, den Art. 16a GG als Grundrecht in weitergehender Weise als das sog. „kleine Asyl“ nach § 51 Abs. 1 AuslG vermittelt. Sie ist angesichts der seither ständig wachsenden Bedeutung und namentlich angesichts der gesetzlichen Ausweitung des Schutzumfangs sowie der weitgehenden Angleichung des Status der als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention Anerkannten, bei denen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, durch das am 01. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz nicht mehr gerechtfertigt.“ 94

92 Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BT-DruckS. 15/420, S. 91. 93 Gemeint ist die Differenzierung des Gegenstandswertes hinsichtlich Klageverfahren, die Art. 16a GG betrafen oder einschlossen, und solchen, die lediglich auf Abschiebungsschutz nach §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG gerichtet waren. Für erstere wurde ein Gegenstandswert von 3.000,00 € angenommen, für letztere ein Gegenstandswert von nur 1.500,00 €. 94 BVerwG, Beschluss vom 21. 12. 2006 – 1 C 29.03 – Juris.

2. Kapitel

Die deutsche Asylrechtsprechung und die Genfer Flüchtlingskonvention Wenngleich der Begriff der politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG bzw. Art. 16a Abs. 1 GG als solcher wegen des Bedeutungsverlustes der grundgesetzlichen Asylverbürgung nicht mehr von vorrangigem Interesse ist, prägt er bis heute nachhaltig die Vorstellung der rechtsanwendenden Behörden und Gerichte von Inhalt und Umfang des Schutzes, den in die Bundesrepublik geflohene Personen beanspruchen können. Insbesondere wirkt er sich aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Identität zwischen dem Begriff der politischen Verfolgung im Sinne des Grundgesetzes und demjenigen nach § 51 Abs. 1 AuslG sowie dem Flüchtlingsbegriff in Art. 1 A (2) und Art. 33 GFK unmittelbar auf das hiesige Grundverständnis internationaler Schutzbedürftigkeit und die in der Bundesrepublik vorherrschende Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention aus. Das ist insofern problematisch, als die zentralen Elemente des Begriffs der politischen Verfolgung im Sinne des Grundgesetzes von der asylrechtlichen Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland – ohne irgendeine gesetzliche Fixierung weiterer Einzelheiten – nicht zuletzt bedingt durch die grundgesetzliche Sonderstellung ohne vertiefte Auseinandersetzung und zum Teil auch ausdrücklich gegen die Vertragspraxis in anderen Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention entwickelt worden sind. Eine Verankerung des innerstaatlichen Rechts im völkerrechtlichen Schutzsystem unterblieb vollständig.

A. Begriffsmerkmale der politischen Verfolgung nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Die Kernelemente des Begriffs der politischen Verfolgung und ihre Stellung im Spannungsverhältnis zwischen Art. 16a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG sowie Art. 1 A (2) GFK und Art. 33 GFK waren bis zum Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie und des Zuwanderungsgesetzes abschließend bestimmt worden. Das vom Bundesverwaltungsgericht – und Bundesverfassungsgericht – aufgestellte

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2. Kap.: Deutsche Asylrechtsprechung und Genfer Flüchtlingskonvention

Gerüst, innerhalb dessen sich das Bundesamt und die Instanzgerichte bewegten, bestand aus einigen unverrückbaren Eckpfeilern, die weitestgehend bis heute tragend sind.

I. Verfolgungshandlungen Die Verfolgungshandlungen sind identisch. 95 1. Staatlichkeit der Verfolgung Grundsätzlich war bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nur staatliche Verfolgung relevant. 96 Dem stand die Verfolgung durch eine Organisation mit staatsähnlicher Herrschaftsgewalt gleich. Das Merkmal „politisch“ kennzeichnet die Verfolgung als Verhalten einer organisierten Herrschaftsmacht, vorrangig eines Staates, dem der Betroffene unterworfen ist. Übergriffe von Privatpersonen konnten nur dann asylrelevant sein, wenn der Staat für das Tun der Dritten wie für eigenes Handeln verantwortlich und es daher dem Staat zurechenbar war. 97 Dies wurde bejaht, wenn der Staat die Verfolgungsmaßnahmen anregte oder unterstützte, billigte oder tatenlos hinnahm. Eine tatenlose Hinnahme sollte nicht bereits dann vorliegen, wenn die Bemühungen des an sich schutzbereiten Staates zur Unterbindung asylerheblicher Übergriffe Dritter mit unterschiedlicher Effektivität griffen. Es kam vielmehr darauf an, ob der Staat mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Mitteln im Großen und Ganzen Schutz gewährte. Überstieg die Schutzgewährung die konkreten Kräfte des Staates, so endete seine asylrechtliche Verantwortlichkeit. Amtswalterexzesse waren danach ebenso unbeachtlich wie Gewaltakte in Folge anarchischer Zustände oder Auflösung der Staatsgewalt. Von einer Bürgerkriegspartei konnte politische Verfolgung im Sinne staatlicher Verfolgung nur dann ausgehen, wenn sie zumindest in einem Kernterritorium ein Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität im Sinne einer übergreifenden Friedensordnung tatsächlich errichtet hatte. 98 95

BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48.92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 44. BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 –353, 334; BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48.92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 44 f; BVerwG, Urteil vom 22. 03. 1994 – 9 C 443/93 – NVwZ 1994, S. 1112 –1115. 97 BVerfG, Beschluss vom 02. 07. 1980 – 1 BvR 147, 181, 182/80 – BVerfGE 54, S. 341 –363, 358; BVerfG, Beschluss vom 01. 07. 1987 – 2 BvR 478, 962/86 – BVerfG E 76, S. 143 –170, 169; BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/ 86 – BVerfGE 80, S. 315 –353, 335 f; BVerwG, Urteil vom 02. 08. 1983 – 9 C 818/ 81 – BVerwGE 67, S. 317 –320, 318 ff; BVerwG, Urteil vom 06. 03. 1990 – 9 C 14/ 89 – BVerwGE 85, S. 12 –24, 20; BVerwG, Urteil vom 23. 07. 1991 – 9 C 154.90 – BVerwG E 88, S. 367 – 380, 371 f. 96

A. Begriffsmerkmale der politischen Verfolgung

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2. Nichtstaatliche Verfolgung seit 01. 01. 2005 Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes sind nichtstaatliche Verfolgungsakteure ausdrücklich als mögliche Verfolgungsakteure in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG genannt. Diese Gesetzesänderung hat das Bundesverwaltungsgericht nachvollzogen und den Begriff des nichtstaatlichen Akteurs – entgegen bis dahin anderslautender Stimmen in Rechtsprechung und Literatur – weit ausgelegt. Nichtstaatlicher Akteur kann danach ohne weitere Einschränkungen jeder Dritte sein, auch eine Einzelperson, soweit von ihr Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Satzes 1 ausgehen. 99 Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht ungeachtet der umfangreichen Neuregelungen und des zwischenzeitlichen Inkrafttretens der Qualifikationsrichtlinie seine Rechtsprechung von der Deckungsgleichheit sehr schnell auch auf § 60 Abs. 1 AufenthG übertragen. An seiner ständigen Rechtsprechung, dass § 51 Abs. 1 AuslG nur eine verkürzte Wiedergabe des Art. 1 A (2) GFK darstelle und daher so auszulegen und anzuwenden sei, dass beide Begriffe übereinstimmen, sei „auch und gerade mit Blick auf die nunmehr in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG aufgenommene ausdrückliche Verweisung auf die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention“ festzuhalten. 100 Von dieser Deckungsgleichheit nimmt das Bundesverwaltungsgericht lediglich die Frage aus, von welchen Akteuren politische Verfolgung ausgehen kann, was angesichts der eindeutigen gesetzlichen Regelung in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG auf der Hand liegt. Nicht höchstrichterlich geklärt ist bis heute auch, unter welchen Voraussetzungen von einer fehlenden Schutzfähigkeit oder -willigkeit der hierzu berufenen Schutzakteure – Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatgebietes beherrschen, und internationale Organisationen – auszugehen ist. Ebenso besteht der bisherige Dissens über die Staatlichkeit von Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen von Art. 3 EMRK zwischen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Bundesverwaltungsgericht unverändert fort. 101 98 BVerfG, Beschluss vom 10. 08. 2000 – 2 BvR 260 und 1351/98 – NVwZ 2000, S. 1165 – 1167, 1166. 99 BVerwG, Urteil vom 18. 07. 2006 – 1 C 15/05 – NVwZ 2006, S. 1420 –1423, 1422. 100 BVerwG, Urteil vom 08. 02. 2005 – 1 C 29/03 – BVerwGE 122, S. 377 –389, 382. 101 Vgl. hierzu: Pfaff, Das humanitäre Völkervertragsrecht – Deutschlands Verhältnis zur Genfer Flüchtlingskonvention und zur Europäischen Menschenrechtskonvention, AnwBl 2000, S. 490 –496, 493 ff; Renner, Vom Ausländerrecht zum Zuwanderungsrecht, ZAR 2004, S. 266 – 275, 270.

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2. Kap.: Deutsche Asylrechtsprechung und Genfer Flüchtlingskonvention

II. Geschützte Rechtsgüter Die geschützten Rechtsgüter sind identisch. 102 Bei anderen Rechtsgütern als Leib, Leben und Freiheit muss der Eingriff nach Intensität und Schwere zugleich die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Herkunftsstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben. 103 Nicht jede Beeinträchtigung von durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gewährleisteten Grundrechte in anderen Staaten stellt also schon eine asylerhebliche Verfolgung dar. 104 Auch die Missachtung und Verletzung elementarer Menschenrechte wie zum Beispiel drohende Folter sind nicht per se asylrelevant, sondern können allenfalls Anzeichen für den politischen Charakter einer Verfolgungstendenz sein. 105 Es muss sich um aus der staatlichen Friedensordnung ausgrenzende Verfolgung handeln, die den Betroffenen in eine ausweglose Lage bringt. 106 Für eine asylrechtlich erhebliche Verletzung der Menschenwürde durch Einschränkungen der Religionsfreiheit etwa ist maßgeblich, ob der einzelne Gläubige durch die ihm auferlegten Einschränkungen als religiös geprägte Persönlichkeit in ähnlich schwerer Weise wie bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die psychische Freiheit in Mitleidenschaft gezogen wird, so dass er in eine Notsituation gerät, in der ein religiös ausgerichtetes Leben und damit ein vom Glauben geprägtes Personsein nicht einmal mehr im Sinne eines religiösen Existenzminimums möglich ist. Geschützt ist daher grundsätzlich nur die Religionsausübung im häuslich-privaten und nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, sog. forum internum, nicht hingegen die Religionsausübung in der Öffentlichkeit, das sog. forum externum. 107

102

BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1993 – 9 C 50.92 u. a. – InfAuslR 1994, S. 119 –124,

123 f. 103 BVerfG, Beschluss vom 02. 07. 1980 – 1 BvR 147, 181, 182/80 – BVerfG E 54, S. 341 –362, 357; BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 –353, 335; BVerwG, Urteil vom 23. 07. 1991 – 9 C 154.90 – BVerwGE 88, S. 367 – 380, 374. 104 BVerwG, Urteil vom 18. 02. 1986 – 9 C 16.85 – BVerwGE 74, S. 31 –41, 37 f. 105 BVerfG, Beschluss vom 20. 12. 1989 – 2 BvR 958/86 – BVerfGE 81, S. 142 –156, 151; BVerfG, Beschluss vom 14. 05. 2003 – 2 BvR 134/01 – DVBl. 2003, S. 1260 –1262, 1261; BVerfG, Beschluss vom 27. 04. 2004 – 2 BvR 1318/03 – NVwZ-RR 2004, S. 613 – 614, 614. 106 BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 – 353, 334 f. 107 BVerfG, Beschluss vom 01. 07. 1987 – 2 BvR 478, 962/86 – BVerfGE 76, S. 143 – 170, 158 f; BVerfG, Beschluss vom 10. 11. 1989 – 2 BvR 403, 1501/84 – BVerfGE 81, S. 58 –70, 66; BVerwG, Urteil vom 18. 02. 1986 – 9 C 16.85 – BVerwGE 74, S. 31 –41,

A. Begriffsmerkmale der politischen Verfolgung

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Eingriffe, die unterschiedliche Schutzgüter mit einer jeweils nicht asylrelevanten Intensität treffen, stellen auch in ihrer Gesamtheit keine Verfolgung dar. 108

III. Politischer Charakter der Verfolgung Der politische Charakter der Verfolgung ist nach identischen Kriterien zu bestimmen. 109 Politisch ist eine Verfolgungsmaßnahme dann, wenn sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also einen öffentlichen Bezug hat und von einem Träger überlegener, das heißt in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, welcher der Verletzte unterworfen ist. Erforderlich ist eine spezifisch politische Zielrichtung, die an die politische oder religiöse Überzeugung oder andere unverfügbare persönliche Merkmale anknüpft. Maßgeblich kommt es auf die in der Maßnahme erkennbar werdende Anknüpfung an, nicht aber auf die in der Person des Verfolgten vorhandenen subjektiven Beweggründe. 110

IV. Objektive Betrachtung Es ist eine objektive Beurteilung der Verfolgungsgefahr vorzunehmen. 111 Nicht maßgeblich ist das subjektive Furchtempfinden des Asylbewerbers. Bei einer objektiven Beurteilung können auch „Referenzfälle“ früherer oder gegenwärtiger politischer Verfolgung oder ein „Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung“ in einem Asylbewerber begründete Verfolgungsfurcht entstehen lassen, so dass es ihm nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. 112

38; BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1993 – 9 C 50.92 u. a. – InfAuslR 1994, S. 119 –124, 123; BVerwG, Urteil vom 20. 01. 2004 – 1 C 9.03 – BVerwGE 120, S. 16 –26, 20 f. 108 BVerwG, Urteil vom 27. 06. 1989 – 9 C 1.89 – BVerwGE 82, S. 171 –177, 173 f; BVerwG, Beschluss vom 03. 04. 1995 – 9 B 758/94 – NVwZ-RR 1995, S. 607. 109 BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1993 – 9 C 50.92 u. a. – InfAuslR 1994, S. 119 –124, 123 f. 110 BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 – 353, 335. 111 BVerfG, Beschluss vom 02. 07. 1980 – 1 BvR 147, 181, 182/80 – BVerfGE 54, S. 341 – 363, 359; BVerwG, Urteil vom 23. 07. 1991 – 9 C 154.90 – BVerwGE 88, S. 367 – 380, 377. 112 BVerfG, Beschluss vom 23. 01. 1991 – 2 BvR 902/85 und 515, 1827/89 – BVerfG E 83, S. 217 –238, 233; BVerwG, Urteil vom 23. 07. 1991 – 9 C 154.90 – BVerwGE 88, S. 367 – 380, 377 f.

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2. Kap.: Deutsche Asylrechtsprechung und Genfer Flüchtlingskonvention

V. Inländische Fluchtalternative Die Verfolgung muss landesweit bestehen, darf also nicht nur lokal oder regional beschränkt sein. Grundsätzlich ist einem Asylbewerber ein Ausweichen vor einer Verfolgung innerhalb seines Heimatstaates zumutbar. Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass der Asylbewerber in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde. 113

VI. Kausalzusammenhang Verfolgung – Flucht – Asyl Die Ausreise muss sich bei objektiver Betrachtung nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als eine unter dem Druck erlittener Verfolgung stattfindende Flucht darstellen. 114 Der zwischen Verfolgung und Ausreise verstrichenen Zeit kommt daher entscheidende Bedeutung zu. Schon bloßer Zeitablauf kann dazu führen, dass eine Ausreise den Charakter einer unter dem Druck erlittener Verfolgung stehenden Flucht verliert. 115

VII. Selbstgeschaffene Nachfluchtgründe Selbstgeschaffene Nachfluchtgründe lösen grundsätzlich kein Asylrecht aus. Sie sind in der Regel nur dann asylrechtsbegründend, wenn sie sich als Fortführung einer schon im Heimatstaat erkennbar betätigten Überzeugung darstellen. Sie stehen aber immer der Abschiebung in den Verfolgerstaat entgegen. 116

113 BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 –353, 343 f; BVerfG, Beschluss vom 10. 11. 1989 – 2 BvR 403, 1501/84 – BVerfGE 81, S. 58 –70, 65 f; BVerwG, Urteil vom 20. 11. 1990 – 9 C 72.90 – BVerwGE 87, S. 141 – 152, 148; BVerwG, Urteil vom 23. 07. 1991 – 9 C 154.90 – BVerwGE 88, S. 367 –380, 378. 114 BVerfG, Beschluss vom 26. 11. 1986 – 2 BvR 1058/85 – BVerfGE 74, S. 51 –68, 57 ff; BVerwG, Urteil vom 23. 07. 1991 – 9 C 154.90 – BVerwGE 88, S. 367 –380, 373; BVerwG, Urteil vom 25. 07. 2000 – 9 C 28.99 – BVerwGE 111, S. 334 –342, 337. 115 BVerwG, Urteil vom 20. 11. 1990 – 9 C 72.90 – BVerwGE 87, S. 141 –152, 147 f; BVerwG, Urteil vom 23. 07. 1991 – 9 C 154.90 – BVerwGE 88, S. 367 –380, 373; BVerwG, Urteil vom 25. 07. 2000 – 9 C 28.99 – BVerwGE 111, S. 334 –342, 337. 116 BVerfG, Beschluss vom 26. 11. 1986 – 2 BvR 1058/85 – BVerfGE 74, S. 51 –68, 65 ff.; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1987 – 9 C 184.86 – BVerwGE 77, S. 258 –268, 260 ff.

B. Bundesverfassungsgericht und Genfer Flüchtlingskonvention

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VIII. Anderweitige Verfolgungssicherheit Anderweitige Verfolgungssicherheit schließt ein Asylrecht aus, hindert aber ebenfalls die Abschiebung in den Verfolgerstaat. 117

B. Das Bundesverfassungsgericht und die Genfer Flüchtlingskonvention Das Bundesverfassungsgericht hat sich über Jahrzehnte bis heute praktisch gar nicht inhaltlich mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention auseinandergesetzt. Gelegentliche Erwähnung findet die Genfer Flüchtlingskonvention vor allem in anderen Zusammenhängen, so etwa wenn es um die Frage der Bedeutung ausländischer Flüchtlingsanerkennungen geht, denen eine „erhebliche prozessuale Relevanz“ beigemessen wird, 118 oder wenn für aus dem Schutzbereich des Asylgrundrechts herausfallende Ausländer auf den alternativen Schutzmechanismus des Art. 33 GFK verwiesen wird. 119 Ausführlicher Gegenstand der Erörterung war in der Entscheidung betreffend die sicheren Drittstaaten auch, ob in diesen Drittstaaten die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention gewährleistet ist. Die Frage hingegen, ob die zur Überprüfung stehenden nationalen Vorschriften mit dem Völkerrecht vereinbar sind, stellt das Bundesverfassungsgericht an keiner Stelle. 120 Mitunter wird der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses herangezogen, ohne sich aber mit dessen Voraussetzungen im Einzelnen auseinander zu setzen. 121 Nicht einmal in seiner grundlegenden, die Anwendungspraxis bis heute prägenden Entscheidung aus dem Jahre 1989 122 hat sich das Bundesverfassungsgericht bei der eingehenden Inhaltsbestimmung des Begriffs der politischen Verfolgung mit dem Flüchtlings117

BVerfG, Beschluss vom 20. 02. 1992 – 2 BvR 633/91 – NVwZ 1992, S. 659 –660,

659. 118

BVerfG, Beschluss vom 14. 11. 1979 – 1 BvR 654/79 – BVerfGE 52, S. 391 –410,

405. 119

BVerfG, Beschluss vom 26. 11. 1986 – 2 BvR 1058/85 – BVerfGE 74, S. 51 –68, 67; BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 –353, 346; BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93 – BVerfGE 94, S. 49 – 114, 97. 120 BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93 – BVerfGE 94, S. 49 –114, 88 ff; vgl. hierzu u. a. Frowein / Zimmermann, Die Asylrechtsreform des Jahres 1993 und das Bundesverfassungsgericht, JZ 1996, 753 – 764, 753 und 764. 121 BVerfG, Beschluss vom 01. 07. 1987 – 2 BvR 478, 962/86 – BVerfGE 76, S. 143 – 170, 157.

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2. Kap.: Deutsche Asylrechtsprechung und Genfer Flüchtlingskonvention

begriff der Genfer Flüchtlingskonvention inhaltlich vertieft auseinandergesetzt. Es gibt keine einzige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der aktuelle internationale Entwicklungen des Flüchtlingsvölkerrechts auch nur erwähnt werden. Seine Ursache hat diese Nichtbefassung in der frühzeitigen dualistischen Aufspaltung zwischen Verfassungsrecht und Flüchtlingsvölkerrecht. Nach der vom Bundesverfassungsgericht vertretenen These von der Teilidentität konnte das Asylrecht auch dann bestehen, wenn die durch die Genfer Flüchtlingskonvention bestimmten Voraussetzungen der Eigenschaft als politischer Flüchtling nicht gegeben waren. Entscheidungen über die Anerkennung als politischer Flüchtling waren für die Frage der Asylgewährung nicht präjudiziell. 123 Für die Auslegung des Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG knüpfte das Bundesverfassungsgericht maßgeblich an das „bestehende und bekannte, im Völkerrecht wurzelnde Institut des Asylrechts“ als eine „Angelegenheit freien staatlichen Ermessens“ an. 124 Zur Inhaltsbestimmung griff es dabei eher auf das sakrale, auf Asylstätten bezogene Asyl oder das Auslieferungsrecht des 19. Jahrhunderts zurück als auf modernes Flüchtlingsvölkerrecht. 125

C. Das Bundesverwaltungsgericht und die Genfer Flüchtlingskonvention Das Bundesverwaltungsgericht hätte schon allein im Hinblick auf seine These von der Vollidentität und der weitgehenden Deckungsgleichheit der Verfolgungsbegriffe konkreten Anlass zu einer vertiefenden Befassung mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention gehabt. Ungeachtet dessen hat es sich wie das Bundesverfassungsgericht ebenfalls nur vereinzelt mit dem internationalen Flüchtlingsrecht auseinandergesetzt. Soweit Art. 1 A (2) und Art. 33 GFK überhaupt erwähnt werden, wird die Übereinstimmung zwischen deutschem Asylrechtsverständnis und den Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention häufig lediglich apodiktisch behauptet und ist nicht das Ergebnis einer umfassen122 BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 – 353, 333 ff. 123 BVerfG, Beschluss vom 04. 02. 1959 – 1 BvR 193/57 – BVerfGE 9, S. 174 –185, 181. 124 BVerfG, Beschluss vom 26. 11. 1986 – 2 BvR 1058/85 – BVerfGE 74, S. 51 –68, 57 ff; s. auch: BVerfG, Beschluss vom 01. 07. 1987 – 2 BvR 478, 962/86 – BVerfGE 76, S. 143 – 170, 156. 125 BVerfG, Beschluss vom 26. 11. 1986 – 2 BvR 1058/85 – BVerfGE 74, S. 51 –68, 58; BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 500, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 – 353, 336 f; vgl. hierzu auch: Marx, Die Genfer Flüchtlingskonvention wird fünfzig – Hat sie ausgedient? AnwBl 2001, S. 480 – 491, 487.

C. Bundesverwaltungsgericht und Genfer Flüchtlingskonvention

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den Auslegung der Art. 1 A (2) und Art. 33 GFK nach völkervertragsrechtlichen Grundsätzen. 126 Selbst in der nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes ergangenen Entscheidung zum Flüchtlingsbegriff des § 60 Abs. 1 AufenthG hat das Bundesverwaltungsgericht trotz der mit der Gesetzesänderung aufgenommenen ausdrücklichen Bezugnahme dieser Regelung auf die Genfer Flüchtlingskonvention keinen Anlass zu einer vertiefenden Befassung gesehen, sondern unter Verweis auf seine vorangegangene Rechtsprechung die These von der Deckungsgleichheit ohne weiteres übertragen. 127 Auch die regelmäßige Bezugnahme auf die Konventionsmerkmale hat so gut wie nie zu einer Befassung mit der Frage geführt, welcher Inhalt diesen Merkmalen im internationalen Flüchtlingsrecht gegeben wird. 128 Von dieser nahezu generalisierten inhaltlichen Nichtbefassung des Bundesverwaltungsgerichts mit der Genfer Flüchtlingskonvention bilden nur wenige Urteile eine Ausnahme. Eines davon ist das Urteil vom 01. 11. 2005 betreffend den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft eines afghanischen Staatsangehörigen, das Gegenstand eingehender Erörterungen im nachfolgenden 4. Kapitel sein wird. Im hier maßgeblichen Zusammenhang der Bestimmung des Verfolgtenbegriffs liegen nur zwei Entscheidungen vor, die sich intensiver mit der Genfer Flüchtlingskonvention befassen.

I. Das Ahmadiyya-Urteil vom 26. 10. 1993 129 Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht die zuvor für Art. 16a Abs. 1 GG entwickelten Voraussetzungen, unter denen Eingriffe in die Religionsfreiheit als politische Verfolgung anzusehen sind, auf § 51 Abs. 1 AuslG übertragen. Auch für den Verfolgungsbegriff des § 51 Abs. 1 AuslG, der mit dem Flüchtlingsbegriff des Art. 1 A (2) GFK übereinstimme, komme es auf die Schwere des Eingriffs an. Dieser müsse eine die Menschenwürde verletzende Intensität aufweisen und so beschaffen sein, dass der Gläubige durch die ihm auferlegten Einschränkungen als religiös geprägte Persönlichkeit in ähnlich schwerer Weise wie bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit in 126

Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 07. 10. 1975 – I C 46.69 – BVerwGE 49, S. 202 – 210, 204; BVerwG, Urteil vom 29. 11. 1977 – 1 C 33.71 – BVerwGE 55, S. 82 –86, 84; BVerwG, Beschluss vom 19. 09. 1978 – 1 B 303.78 – DÖV 1979, S. 296; BVerwG, Urteil vom 17. 05. 1983 – 9 C 36.83 – BVerwGE 67, S. 184 –195, 185 f; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 1992 – 1 C 21.87 – BVerwGE 89, S. 296 –309, 301; BVerwG, Urteil vom 20. 02. 2001 – 9 C 21.00 – BVerwGE 114, S. 27 – 36, 32. 127 BVerwG, Urteil vom 08. 02. 2005 – 1 C 29/03 – BVerwGE 122, S. 377 –389, 381 f. 128 Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 17. 05. 1983 – 9 C 36.83 – BVerwGE 67, S. 184 –195, 186; BVerwG, Urteil vom 08. 05. 1984 – 9 C 161.83 – InfAuslR 1984, S. 216 –219, 216. 129 BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1983 – 9 C 50.92 u. a. – InfAuslR 1994, S. 119 –124.

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2. Kap.: Deutsche Asylrechtsprechung und Genfer Flüchtlingskonvention

Mitleidenschaft gezogen werde, so dass er in eine ausweglose Lage gerate, in der das für ein menschenwürdiges Dasein erforderliche „religiöse Existenzminimum“ nicht mehr gewährleistet sei. Dies sei dann der Fall, wenn eine Religionsausübung auch im häuslichen Bereich nicht mehr möglich sei. 130 Zur Begründung seiner Auffassung, dass dies auch für Art. 1 A (2) GFK gelte, zog das Bundesverwaltungsgericht das Handbuch des UNHCR 131 als Auslegungshilfe heran. Unter Ziffer 51 des Handbuchs werde nämlich ebenfalls auf die Schwere des Eingriffs in die Religionsfreiheit abgestellt. Allerdings erkannte das Bundesverwaltungsgericht durchaus, dass die Differenzierung zwischen privater und öffentlicher Religionsausübung zu den ausdrücklich anderslautenden Ausführungen unter Ziffer 72 des Handbuchs 132 in Widerspruch stand . Es verstand aber das dort u. a. angesprochene Verbot einer öffentlichen Religionsausübung dahin, dass nur Eingriffe in Leib, Leben oder die physische Freiheit wegen eines Verstoßes gegen ein Verbot öffentlicher Religionsausübung als Verfolgung aus Gründen der Religion anzusehen seien. 133 Ferner stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass Art. 1 A (2) GFK im Unterschied zum (deutschen) Asylrecht auf das subjektive Moment der Furcht abstelle. Art. 16a Abs. 1 GG und Art. 1 A (2) GFK liefen aber in der Sache auf dasselbe hinaus, weil auch im (deutschen) Asylrecht mit der Figur des „vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden“ letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Heimatstaat entscheidend sei. 134 Die Auslegung des Konventionsmerkmals Religion ist mit dem Wortlaut der Ziffer 72 des Handbuchs kaum in Einklang zu bringen. Zudem lässt das Bundesverwaltungsgericht die vorstehende Ziffer 71 außer Betracht. Dort wird unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Menschenrechtspakte ausgeführt, dass das Recht auf Religionsfreiheit auch die Freiheit einschließe, ihr öffentlich oder privat Ausdruck zu verleihen. Das Bundesverwaltungsgericht beschränkt sich hierzu auf den Hinweis, dass auch Art. 9 der Konvention zum 130

BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1993 – 9 C 50.92 u. a. – InfAuslR 1994, S. 119 –124,

123. 131 UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, in der seinerzeitigen Fassung vom September 1979 (Handbuch 1979), www.unhcr.de. 132 UNHCR, Handbuch 1979, Ziff. 72: Es gibt verschiedene Formen der Verfolgung „aus Gründen der Religionszugehörigkeit“, z. B. das Verbot, Mitglied einer Glaubensgemeinschaft zu sein, das Verbot der Unterweisung in dieser Religion, das Verbot, die Riten dieser Religion privat oder öffentlich auszuüben, u. s. w. oder schwere Diskriminierung von Personen wegen ihrer Religionsausübung oder Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. 133 BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1993 – 9 C 50.92 u. a. – InfAuslR 1994, S. 119 –124, 124. 134 BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1993 – 9 C 50.92 u. a. – InfAuslR 1994, S. 119 –124, 124.

C. Bundesverwaltungsgericht und Genfer Flüchtlingskonvention

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Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04. 11. 1950 oder Art. 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 Einschränkungen der Religionsausübung, insbesondere im öffentlichen Bereich, nicht unter allen Umständen verböten. 135 Über das richtige Verständnis der Ausführungen in dem Handbuch des UNHCR kann hinsichtlich dieser – wie auch anderer Fragen – sicher gestritten werden. Das Handbuch hat zweifelsfrei weder Gesetzeskraft noch sonst irgendeine Bindungswirkung, sondern ist eine Auslegungshilfe, wie das Bundesverwaltungsgericht insoweit zutreffend feststellt. Es ist allerdings eine wichtige Auslegungshilfe, da dort die Erfahrungen des UNHCR, die Staatenpraxis und der Meinungsaustausch zwischen dem UNHCR und den Staaten eingeflossen sind. 136 Die Ausführungen in dem Handbuch müssen daher vor allem vor dem Hintergrund der zu einzelnen Fragen bestehenden Staatenpraxis analysiert werden und nicht ausschließlich im Kontext der eigenen nationalen Rechtsprechung. Dies übersieht das Bundesverwaltungsgericht an dieser Stelle. Es unternimmt auch – jenseits des Handbuchs – keinen Versuch, das Verfolgungsmerkmal Religion des Art. 1 A (2) GFK nach den Grundsätzen, die für die Auslegung von Völkervertragsrecht heranzuziehen sind, zu bestimmen. Die Art. 31 ff des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. 05. 1969 137 werden nicht einmal erwähnt. Auch der unterschiedliche Ansatz zwischen beiden Begriffen der Verfolgung im Hinblick auf das für Art. 1 A (2) GFK maßgebliche subjektive Element der Furcht einerseits und die Objektivitätstheorie des Bundesverwaltungsgerichts andererseits wird überspielt, indem stattdessen ohne weiteres von gleichen Ergebnissen ausgegangen wird. Es ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass sich die unterschiedlichen Ansätze bei sachgemäßer Auslegung der objektivierten Verfolgungsprognose im Rahmen des Asylgrundrechts im Ergebnis nicht auswirken müssen. 138 Dennoch wird das Bundesverwaltungsgericht dem für die Genfer Flüchtlingskonvention tragenden subjektiven Ansatz hier nur unzureichend gerecht und übersieht die unter Umständen erheblichen tatsächlichen Auswirkungen dieser unterschiedlichen Ansätze auf die Anerkennungspraxis. 139

135

BVerwG, Urteil vom 26. 10. 1993 – 9 C 50.92 u. a. – InfAuslR 1994, S. 119 –124,

124. 136

Handbuch UNHCR, Vorwort, S. 1 und 2. Vgl. BGBl. II 1985 S. 926/II 1987 S. 757 – WVRK –. 138 Vgl. hierzu etwa: Renner, 40 Jahre Asylgrundrecht – Zeit für eine grundlegende Reform? NJW 1989, S. 1246 –1254, 1248; Marx, Die Genfer Flüchtlingskonvention wird fünfzig – Hat sie ausgedient? AnwBl 2001, S. 480 – 491, 486. 139 Köfner / Nicolaus, Die Genfer Flüchtlingskonvention im Schatten des Grundgesetzes, ZAR 1986, S. 11 –16, 14; Van Krieken, Folter und Asyl, ZAR 1986, S. 17 –23, 20 f; Marx, Konventionsflüchtlinge ohne Rechtsschutz – Untersuchungen zu einem vergessenen Begriff –, ZAR 1992, S. 3 – 14, 4 ff. 137

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2. Kap.: Deutsche Asylrechtsprechung und Genfer Flüchtlingskonvention

II. Das Tamilen-Urteil vom 18. 01. 1994 140 Mit diesem Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht den Grundsatz, dass politische Verfolgung staatliche Verfolgung ist, 141 von Art. 16a Abs. 1 GG auf § 51 Abs. 1 AuslG übertragen. § 51 Abs. 1 AuslG stimmte nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts insoweit auch mit Art. 33 Nr. 1 GFK überein, der den Begriff des Flüchtlings im Sinne des Art. 1 A (2) einschließe. 142 Diese Entscheidung enthält die bis heute umfangreichste Beschäftigung mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention. Zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit Vertragstext, systematischer Stellung und Vertragspraxis kommt es aber auch dort nicht. 143 Die abweichende Vertragspraxis in „mehreren anderen Unterzeichnerstaaten, so in den Vereinigten Staaten von Amerika, im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland, in Frankreich, in Kanada und in Australien“ wird zwar erwähnt, aber keiner eingehenden Analyse unterzogen. Relativ breiten Raum nimmt die Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention ein, 144 obwohl die historische Auslegung nach Art. 32 WVRK lediglich subsidiär zu dem Zweck zulässig ist, ein nach Art. 31 WVRK gefundenes Auslegungsergebnis zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn diese nach der Auslegung gemäß Art. 31 WVRK mehrdeutig oder dunkel bleibt oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt. Art. 31 WVRK wird dagegen lediglich einmal erwähnt, 145 um sodann Ziel und Zweck der Genfer Flüchtlingskonvention wiederum nur im Kontext der Entstehungsgeschichte zu bestimmen. Ganz der dualistischen Auffassung zum Verhältnis zwischen Völkervertragsrecht und innerstaatlichem Recht verhaftet, 146 zementiert das Bundesverwaltungsgericht sein im Wege der historischen Auslegung gefundenes Ergebnis mit dem Hinweis darauf, dass die Genfer Flüchtlingskonvention mit diesem Bedeutungsgehalt des Merkmals Flüchtling jedenfalls deutsches Recht geworden sei. 147 140 BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48.92 – BVerwGE 95, S. 42 –53; nahezu identisch bezüglich Somalia: BVerwG, Urteil vom 22. 03. 1994 – 9 C 443/93 – NVwZ 1994, S. 1112 – 1115. 141 BVerfG, Beschluss vom 10. 07. 1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – BVerfGE 80, S. 315 – 353, 334 ff. 142 BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48.92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 45; Dass Art. 33 GFK lediglich eine verkürzte Wiedergabe des Art. 1 A (2) GFK darstelle, hatte der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts – ebenfalls ohne eingehende Erörterung völkerrechtlicher Fragen – bereits 1992 entschieden: BVerwG, Urteil vom 21. 01. 1992 – 1 C 21.87 – BVerwGE 89, S. 296 – 309, 301. 143 Renner, Anmerkung zu BVerwG, ZAR 1994, S. 85 –87, 86. 144 BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48.92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 45 ff. 145 BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48.92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 46. 146 Vgl. hierzu: Kokott, Bundesverwaltungsgericht und Völkerrecht, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 411 – 431, 414 f.

C. Bundesverwaltungsgericht und Genfer Flüchtlingskonvention

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Jenseits der Frage, ob das vom Bundesverwaltungsgericht gefundene Ergebnis vor dem Hintergrund der damaligen Entwicklungen im Flüchtlingsvölkerrecht als zutreffend oder jedenfalls als vertretbar angesehen werden kann, 148 ist der methodische Ansatz im Umgang mit der Genfer Flüchtlingskonvention in hohem Maße problematisch, ja verfehlt. 149 Mindestens ebenso problematisch wie die angewandte Methodik bei der Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention als völkerrechtlicher Vertrag und die Deutung der Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention 150 sind die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zu den der Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention nachfolgenden nationalen Regelungen, in denen zum Ausdruck komme, dass nach innerstaatlichem Recht Flüchtling nur derjenige sei, der mit staatlicher Verfolgung zu rechnen habe. Soweit das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang auf § 14 AuslG 1965 verweist, übersieht es, dass daneben nach § 28 AuslG 1965 als Asylberechtigter anzuerkennen war, wer „Flüchtling im Sinne von Art. 1 GFK“ war. 151 Aus den Regelungen des Ausländergesetzes 1965 kann daher nicht auf die Identität der Flüchtlingsbegriffe in Art. 1 A (2) GFK und Art. 33 GFK geschlossen werden. Ebenso wenig enthalten die Gesetzesmaterialien irgendwelche Aussagen dazu, dass für einen der beiden Begriffe die Staatlichkeit der Verfolgung als Voraussetzung angesehen worden ist. 152 Zu einer solchen Annahme gab die seinerzeit bekannte höchstrichterliche Rechtsprechung dem Gesetzgeber auch keinen Anlass, eher war das Gegenteil der Fall. 153 Die weitere Schlussfolgerung des Bundesverwaltungsgerichts, dass sich aus der späteren Formulierung des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 als Nachfolgevorschrift für § 14 AuslG 1965 auch für den Flüchtlingsbegriff des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 das Erfordernis der Staatlichkeit ergebe, 154 entbehrt daher einer belastbaren 147

BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48.92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 47. Vgl. hierzu: Hailbronner, Anmerkung zu BVerwG, JZ 1995, S. 250 –252; Marx, Nichtstaatliche Verfolgung und deutsches Ausländerrecht, ZAR 2001, S. 12 –18, 12 ff. Angesichts der zwischenzeitlich erfolgten Klärung dieser Frage für die Bundesrepublik und die EU im Zuwanderungsgesetz bzw. der Qualifikationsrichtlinie erübrigt sich an dieser Stelle eine erneute inhaltliche Auseinandersetzung mit den widerstreitenden Argumenten. 149 Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 –80; Pfaff, Das humanitäre Völkervertragsrecht – Deutschlands Verhältnis zur Genfer Flüchtlingskonvention und zur Europäischen Menschenrechtskonvention, AnwBl 2000, S. 490 – 496, 493; Marx, Nichtstaatliche Verfolgung und deutsches Ausländerrecht, ZAR 2001, S. 12 –18, 18; kritisch zur Methodik auch Hailbronner, Anmerkung zu BVerwG, JZ 1995, S. 250 – 252. 150 Vgl. Marx, Die Genfer Flüchtlingskonvention wird fünfzig – Hat sie ausgedient? AnwBl 2001, S. 480 – 491, 486. 151 s. oben 1. Kapitel, S. 24. 152 BT-Drucksache IV/3013. 153 Vgl. etwa die Rechtsprechung des BGH im Wiedergutmachungsrecht, Fn. 22. 154 BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48.92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 47 ff. 148

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2. Kap.: Deutsche Asylrechtsprechung und Genfer Flüchtlingskonvention

Grundlage. Einem Zirkelschluss gleicht schließlich die weitere Argumentation, dass der deutsche Gesetzgeber durch die Schaffung der Abschiebungsschutztatbestände in § 53 Abs. 1, 4 und 6 AuslG 1990 und die 1993 in § 32a Abs. 1 AuslG eingeführte Regelung für Bürgerkriegsflüchtlinge bestätigt habe, dass § 51 Abs. 1 AuslG die Staatlichkeit der Verfolgung voraussetze, da andernfalls die Schaffung weiterer Abschiebungsschutzregelungen entbehrlich gewesen wäre. Denn das Bundesverwaltungsgericht hatte selbst erst durch seine Rechtsprechung zur Bedeutung drohender Folter, zu Art. 3 EMRK und zu den Auswirkungen eines separatistischen Bürgerkrieges 155 zur Entstehung von Schutzlücken beigetragen, zu deren Schließung sich der Gesetzgeber aufgrund verfassungsrechtlicher oder völkervertraglicher Verpflichtungen veranlasst sah. 156 Einem Zirkelschluss unterliegt das Bundesverwaltungsgericht auch bei der Bezugnahme auf die Vorstellung des Gesetzgebers bei der Verabschiedung des Asylverfahrensgesetzes vom 26. 06. 1992. Wenn dort auf eine ausdrückliche Einbeziehung von Art. 1 GFK in § 1 AsylVfG verzichtet wurde, weil „der Anwendungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention durch Art. 16 GG weitestgehend abgedeckt sei“, 157 so ist dies ebenfalls Folge der Orientierung an der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Vollidentität beider Verfolgtenbegriffe. Es liegt auf der Hand, dass dieser auf der Transformationslehre fußende dualistische Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts im Umgang mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Vertragspraxis in anderen Unterzeichnerstaaten sowie die darauf beruhende restriktive Spruchpraxis den Prozess der europäischen Einigung im Asylrecht erschwert hat. 158 Denn die zentrale materielle Grundlage der Harmonisierungsbestrebungen war geradezu zwangsläufig die Genfer Flüchtlingskonvention, die als in allen EU-Mitgliedstaaten geltender völkerrechtlicher Vertrag bereits eine gemeinsame Grundlage für den Flüchtlingsschutz darstellte.

155

s. oben 1. Kapitel, S. 27. BT-Drucksache 11/6321, S. 48. 157 BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48.92 – BVerwGE 95, S. 42 –53, 51 f. 158 Renner, Anmerkung zu BVerwG, ZAR 1994, 85 – 87, 86; Marx, Die Genfer Flüchtlingskonvention wird fünfzig: Hat sie ausgedient? AnwBl 2001, S. 480 –491, 480, 482, 486. 156

3. Kapitel

Die Qualifikationsrichtlinie Die ersten nennenswerten Ansätze zu einer materiellen Harmonisierung des Asylrechts in Europa reichen in das Jahr 1996 zurück. In einem Gemeinsamen Standpunkt vom 13. 03. 1996 beschloss der Europäische Rat erste – unverbindliche – Leitlinien über die harmonisierte Anwendung des Flüchtlingsbegriffs in Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention. 159 Mit dem am 01. 05. 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag 160 wurde der entscheidende rechtliche Grundstein für eine Vergemeinschaftung der Asyl-, Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik gelegt. Vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages unterfiel die Asyl- und Flüchtlingspolitik lediglich der intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Rahmen der sog. Dritten Säule der Europäischen Union. 161 Durch den Amsterdamer Vertrag wurden nunmehr große Teile der bisherigen „Dritten Säule“ aus der Ebene des Völkervertragsrechts in die „Erste Säule“ des Gemeinschaftsrechts überführt. Dies beinhaltet eine Vergemeinschaftung erheblicher Elemente der Innen- und Rechtspolitik, die bis dahin als traditionelle und unentziehbare Größen nationalstaatlicher Souveränität betrachtet wurden. 162

159 Abl. L 63 vom 13. 03. 1996; Bulletin EU 3 –1996, abgedruckt auch in: Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Ordner 4, D 12.14, 13. EL. Vgl. hierzu unter vielen: Bergmann / Kenntner, Funke-Kaiser, Kap. 6, Rdnr. 19; Weber, Ansätze zu einem gemeineuropäischen Asylrecht, EuGRZ 1999, S. 301 –313, mit rechtsvergleichenden Ausführungen zu den Grundlagen des Asylrechts in den einzelnen Mitgliedstaaten. 160 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 02. 10. 1997. 161 Vertrag über die Europäische Union von Maastricht v. 07. 02. 1992, in Kraft getreten am 01. 11. 1993, Titel VI, Artikelgruppe K, Abl. Nr. C 191 vom 29. 07. 1992. 162 Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich haben dem Vertrag zwar zugestimmt. Im 4. Protokoll über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands zum EUV haben diese Länder aber entschieden, sich grundsätzlich nicht an Maßnahmen des IV. Titels zu beteiligen. Beide Staaten haben aber insoweit eine Beteiligungsoption. Im Gegensatz dazu nimmt Dänemark nach dem 5. Protokoll über die Position Dänemarks zum EUV nicht nur nicht teil, sondern verzichtet auch grundsätzlich auf eine Beteiligungsoption.

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3. Kap.: Die Qualifikationsrichtlinie

Art. 63 des Amsterdamer Vertrages sah in einem umfangreichen Rechtsetzungsauftrag binnen eines Zeitraums von fünf Jahren verschiedene Schritte zur Harmonisierung des Asyl- und Flüchtlingsrechts vor. Hierzu gehörte gemäß Art. 63 Abs. 1 Ziff. 1 Buchst. c) und Ziff. 2 Buchst. a) die Beschlussfassung des Rates über Asylmaßnahmen hinsichtlich der Mindestnormen für die Anerkennung von Flüchtlingen und Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen. Nach ausdrücklicher Vorgabe des Art. 63 müssen die zu treffenden Asylmaßnahmen mit den Regelungen der GFK und des Protokolls sowie einschlägigen anderen Verträgen übereinstimmen. Auf der kurz darauf folgenden Sondertagung des Europäischen Rates im finnischen Tampere im Oktober 1999 wurde die erste Phase des längerfristig angelegten Harmonisierungsprogramms „auf dem Weg zu einer Union der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ beschlossen. 163 Freiheit, unter anderem das Recht auf Freizügigkeit, sollte nicht nur den EU-Bürgern vorbehalten bleiben, sondern auf die Menschen erweitert werden, die aus berechtigten Gründen in die EU einreisen wollen. Eine solche Freiheit kann nach den Schlussfolgerungen nur in einem Raum des Rechts genossen werden, in dem die Bürger sich in jedem anderen Mitgliedstaat genauso einfach wie in ihrem eigenen Staat an die Gerichte und Behörden wenden können. Gleichzeitig wurde betont, dass sich die EU-Bürger nur dann in Sicherheit fühlen könnten, wenn die Union der Bedrohung der inneren Sicherheit durch unionsweite Anstrengungen entgegenwirkt. Entsprechend den in Tampere gefassten Schlussfolgerungen sollte das System auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Staates, gemeinsame Standards für ein gerechtes und wirksames Asylverfahren, gemeinsame Mindestbedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Annäherung der Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft umfassen. Hinzu kommen sollten Vorschriften über die Formen des subsidiären Schutzes. 164 Auf längere Sicht sollten die Regeln der Gemeinschaft zu einem gemeinsamen Asylverfahren und einem unionsweit geltenden einheitlichen Status für diejenigen, denen Asyl gewährt wird, führen. 165 Feierlich gelobte der Rat, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die „uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt, wodurch sichergestellt wird, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist, d. h. der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt“. 166 Der 163 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Tampere), 15. und 16. Oktober 1999 (Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Tampere), http://europarl.europa.eu/summits/tam_de.htm. 164 Nr. 14 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Tampere. 165 Nr. 15 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Tampere. 166 Nr. 13 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Tampere.

A. Grundzüge der Qualifikationsrichtlinie

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Rat von Tampere wurde als Meilenstein in der Entwicklung einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik gefeiert. 167 Die Qualifikationsrichtlinie ist einer von vier Bausteinen der ersten Phase der Entwicklung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. 168 Die Kommission legte den Richtlinienvorschlag im September 2001 vor. 169 Vorausgegangen waren mehrere bilaterale Konsultationsrunden mit den Mitgliedstaaten sowie mit dem UNHCR, verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, Sachverständigen aus dem Hochschulbereich und mit Vertretern aus dem Justizbereich. 170 Die Mitgliedstaaten nahmen im Juni 2002 die Verhandlungen auf, die mit der Verabschiedung der Qualifikationsrichtlinie am 29. 04. 2004 ihr Ende fanden. Die Qualifikationsrichtlinie ist neben der Verfahrensrichtlinie 171 das Kernstück des neuen europäischen Asylrechts. Mit ihr wurde ein umfassendes Regelwerk – gewissermaßen eine Mini-Flüchtlingskonvention 172 – geschaffen, das nicht nur die Flüchtlingsanerkennung, sondern erstmals auf internationaler Ebene auch die subsidiäre Schutzgewährung sowie die an diese Schutzgewährung anknüpfenden Statusrechte verbindlich regelt.

A. Grundzüge der Qualifikationsrichtlinie Den Schlussfolgerungen von Tampere folgend basiert die Richtlinie entsprechend ihrem Erwägungsgrund 2 maßgeblich auf einer uneingeschränkten und allumfassenden Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls, wenngleich ihre Bestimmungen die Standards der Genfer Flüchtlingskonvention nicht vollständig wiedergeben. Die insoweit einzig bindende Forderung an die Mitgliedstaaten ist zunächst nur, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleiben muss. Die Richtlinie regelt ferner nur Mindeststandards und belässt den Mitgliedstaaten einen großen Entscheidungsspielraum hinsichtlich ihrer Umsetzung. 173 Wesentlich für die Auslegung und Umsetzung der Richtlinie ist, dass 167 UNHCR, Den Tampere-Prozess stärken – UNHCR-Empfehlungen zum Gipfeltreffen des Europäischen Rates in Laeken (Dezember 2001), Deutsche Fassung UNHCR Berlin, November 2001, www.unhcr.de. 168 Inzwischen hat der Europäische Rat auf seiner Tagung vom 04./05. November 2004 zur Fortführung des Tampere-Programms das mehrjährige Haager Programm beschlossen – Abl. C 53/1 vom 03. 03. 2005 –. Am 10. 05. 2005 legte die Kommission den auf der Grundlage des Haager Programms erstellten Aktionsplan vor (KOM(2005) 184 endgültig). 169 Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig. 170 Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig, S. 3 des Vorschlags. 171 Abl. L 326/13 vom 13. 12. 2005, s. oben Fn. 8. 172 Sitaropoulos, Entwurf einer „EU-Anerkennungs-Richtlinie“, ZAR 2003, S. 379 – 383, 383.

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3. Kap.: Die Qualifikationsrichtlinie

beides in Einklang mit den Prinzipien und Normen der modernen internationalen und europäischen Menschenrechtsabkommen erfolgt. 174 Die Richtlinie beinhaltet neun Kapitel. Das erste Kapitel (Art. 1 bis Art. 3) setzt sich allgemein unter anderem mit den Definitionen des internationalen Schutzes 175, des Flüchtlings sowie des subsidiären Schutzstatus auseinander. Das zweite Kapitel (Art. 4 bis Art. 8) arbeitet diese Definitionen weiter aus und befasst sich unter anderem mit der Bewertung von Asylanträgen, Nachfluchtgründen, den Verfolgungs- und Schutzakteuren sowie dem Problemkreis des internen Schutzes. Das dritte Kapitel (Art. 9 bis Art. 12) ist der Anerkennung als Flüchtling gewidmet; es enthält Auslegungsregeln für den Begriff der Verfolgung, Vorschriften über die Umstände, unter denen die Mitgliedstaaten den Flüchtlingsstatus entziehen können, wenn er nicht mehr erforderlich erscheint, sowie Bestimmungen über den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling. Das vierte Kapitel (Art. 13 bis Art. 14) befasst sich mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einerseits sowie der Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft andererseits. Im fünften und sechsten Kapitel (Art. 15 bis Art. 17 bzw. Art. 18 bis Art. 19) richtet sich der Blick auf den subsidiären Schutzstatus. Das siebte Kapitel (Art. 20 bis Art. 34) legt die Mindestverpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenüber denjenigen Personen fest, denen sie internationalen Schutz gewähren. Diese Pflichten betreffen die Dauer und den Inhalt der Rechtsstellung aufgrund der Anerkennung als Flüchtling oder als Begünstigter eines subsidiären Schutzstatus. Das achte und neunte Kapitel (Art. 35 bis Art. 40) schließlich stellen Regeln auf, um die vollständige Durchführung der Richtlinie zu gewährleisten. Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, eine umfassende Auslegung aller Regelungen der Qualifikationsrichtlinie vorzunehmen. 176 Stattdessen soll ein Überblick über einige Kernelemente der Qualifikationsrichtlinie verdeutlichen, dass zentrale Vorgaben und die Systematik des deutschen Asylrechts vor dem Hintergrund der gemeinschaftsrechtlichen Entwicklung einer umfassenden neuen Prüfung unterzogen werden müssen. 177 173 Vgl. Erwägungsgründe 8, 16 und 24 sowie Art. 1 und 3 der Qualifikationsrichtlinie; s. auch: UNHCR-Kommentar zu Art. 3, Kommentar des UNHCR zur Richtlinie 2004/83/ EG des Rates vom 29. April 2004 – www.unhcr.de/pdf/510.pdf. 174 Vgl. Erwägungsgründe 10 und 11 der Qualifikationsrichtlinie. 175 Die Terminologie der Richtlinie ist an dieser Stelle nicht sauber. Der Begriff „Internationaler Schutz“ meint gewöhnlich ausschließlich den Schutz, den der UNHCR Flüchtlingen nach dem Statut von 1950 gewährt. Der Flüchtlings- oder subsidiäre Schutzstatus, den die Richtlinie gewährt, ist dagegen im Grunde nichts anderes als nationaler Schutz (vgl. hierzu: Sitaropoulos, Entwurf einer EU-Anerkennungs-Richtlinie, ZAR 2003, S. 379 –383, 381). 176 s. hierzu etwa: Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, November 2006; Kommentar des UNHCR zur Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 – www.unhcr.de/pdf/510.pdf; Bundesministerium des Innern, Anwendungshinweise zur Qualifikationsrichtlinie, vom 13. 10. 2006 – Anwendungshinweise BMI – www.bmi.bund.de.

A. Grundzüge der Qualifikationsrichtlinie

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I. Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung Die Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie ist weitgehend identisch mit Art. 1 A GFK. Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sind allerdings von dem Recht, in Europa Asyl zu suchen, ausgenommen. Zu einzelnen Elementen des Flüchtlingsbegriffs enthält die Richtlinie darüber hinausgehend Auslegungsregeln, die teilweise einem von der asylrechtlichen Rechtsprechung in der Bundesrepublik gänzlich abweichendem Grundkonzept folgen und teilweise in offenem Widerspruch zu den bisher vom Bundesverfassungsund Bundesverwaltungsgericht entwickelten Kriterien stehen. 1. Art. 9 – Verfolgungshandlungen Art. 9 führt Grundsätze für die Auslegung des Begriffs Verfolgung auf. Die Vorschrift ist so gestaltet, dass er flexibel und umfassend ausgelegt werden und auch neue Formen der Verfolgung erfasst werden können. 178 a) Schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten als Verfolgungshandlungen im Sinne des Art. 1 A GFK solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Eine einmalige Verfolgungshandlung kann demnach ausreichend sein, aber auch eine Wiederholung schwerwiegender Handlungen ebenso wie eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, sofern diese Verfolgung mit einem oder mehreren der Verfolgungsgründe der Genfer Flüchtlingskonvention verknüpft ist (Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie). Als Verfolgung gelten ausschließlich Handlungen, die absichtlich, fortdauernd oder systematisch ausgeführt werden. 179 Der Richtlinie kann nicht das der deutschen Asylrechtsprechung geläufige Kriterium entnommen werden, dass die Verfolgung – soweit andere Rechtsgüter als Leib, Leben und Freiheit betroffen sind – ihrer Intensität und Schwere nach die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen muss, was die Bewohner des Herkunftsstaates allgemein hinzunehmen haben bzw. dass die 177 Marx, Zur Vergemeinschaftung der asylrechtlichen Entscheidungsgrundlagen, ZAR 2002, S. 43 –50; Kluth, Reichweite und Folgen der Europäisierung des Ausländer- und Asylrechts, ZAR 2006, S. 1 – 8, 2. 178 s. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig. 179 s. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig.

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3. Kap.: Die Qualifikationsrichtlinie

Verfolgungshandlung den Einzelnen ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung ausgrenzen muss. Die Begriffe der Ausgrenzung und der übergreifenden Friedensordnung sind dem internationalen Flüchtlingsrecht fremd und spielen für die Auslegung der Richtlinie keine Rolle. 180 Es kommt vielmehr ausschließlich auf die schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte an. Zu diesen gehören nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 EMRK jedenfalls das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Verbot von Folter und von unmenschlichen und erniedrigenden Strafen (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK) sowie das Verbot der Strafe ohne Gesetz (Art. 7 EMRK). Diese Aufzählung ist allerdings nicht abschließend. Als Schutzgüter kommen grundsätzlich alle in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Rechte in Betracht, insbesondere das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK), das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren (Art. 6 EMRK), der Schutz von Familien- und Privatleben (Art. 8 EMRK), der Schutz der Wohnung und des Briefverkehrs (Art. 8 EMRK), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) sowie die Eheschließungsfreiheit (Art. 12 EMRK). Auch die bisher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit, die der tatsächlichen Lebenswirklichkeit der Betroffenen oft nur unzureichend gerecht wurde, ist nach der Richtlinie überholt. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllen, kann dazu führen, dass ein effektiver Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen kumulativer Gründe besteht. 181 b) Beispiele relevanter Verfolgungshandlungen Der zweite Absatz des Art. 9 enthält eine – nicht abschließende – Aufzählung unterschiedlicher Verfolgungshandlungen, zu denen aus der Sicht der deutschen Anwendungspraxis auch Maßnahmen mit tendenziell eher geringer Eingriffsqualität gehören, wie etwa diskriminierende gesetzliche, administrative, polizeiliche und / oder justizielle Maßnahmen oder die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung und Strafverfolgung. Diese Verfolgungshandlungen können in ihrer Gesamtwirkung das Gewicht und die Intensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung aufweisen. 180

Vgl. Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kap. II, § 5 Rdnr. 5. s. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig. 181

A. Grundzüge der Qualifikationsrichtlinie

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(1) Geschlechts- und kinderspezifische Formen der Verfolgung Ausdrücklich erwähnt werden in Buchst. f) geschlechts- und kinderspezifische Formen der Verfolgung. Dabei kann nach Buchst. a) die Verfolgung auch – ausschließlich – durch Anwendung sexueller Gewalt erfolgen. Die Fälle der geschlechtsund kinderspezifischen Verfolgung werden für die deutsche Anwendungspraxis vor allem im Zusammenspiel mit der Einführung der nichtstaatlichen Akteure als taugliche Verfolgungsakteure in Art. 6 Buchst. c) der Richtlinie neuartige Abgrenzungsfragen aufwerfen. 182 (2) Verweigerung des Militärdienstes In Buchst. e) des zweiten Absatzes wird erstmals ausdrücklich auch ein Schutzanspruch aufgrund einer Verfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in Kriegs- oder Konfliktsituationen anerkannt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie, welche im Wesentlichen denen von Art. 1 F GFK entsprechen, fallen. Aus der Gesamtschau der in Art. 9 Abs. 2 genannten Verfolgungshandlungen ergibt sich zudem, dass eine Wehrdienstverweigerung auch dann relevant werden kann, wenn der Herkunftsstaat dem Antragsteller den Zugang zu einem fairen Rechtsverfahren verweigert oder bei der Einberufung, der Aufgabenverteilung oder den Dienstbedingungen diskriminierend vorgeht. Gleiches gilt, wenn diskriminierende Sanktionen wegen Versäumnissen im Zusammenhang mit Wehrdienstverpflichtungen verhängt und der Antragsteller eine unverhältnismäßig schwere Strafe zu erwarten hätte oder wenn Personen mit ernsthaften politischen, religiösen oder moralischen Bedenken gegenüber dem Wehrdienst keine sinnvolle und nicht diskriminierende Alternative geboten wird. 183 Die deutsche Rechtsprechung wird sich dem Thema der Anerkennung wegen Wehrdienstverweigerung also erneut widmen und hier zukünftig stärker differenzieren müssen. 184 2. Art. 10 – Verfolgungsgründe Dieser Artikel erläutert die Grundsätze, die im Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen zu beachten sind. Er orientiert sich dabei an den Verfolgungsmerkmalen der Genfer Flüchtlingskonvention. Die dort genannten Verfolgungsgründe sind ebenso wie in Art. 1 A (2) GFK abschließend. 182 Hailbronner, Auswirkungen der Europäisierung des Asyl- und Flüchtlingsrechts auf das deutsche Recht, ZAR 2003, S. 299 – 305, 301. 183 s. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. d) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig. 184 s. hierzu auch: Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kap. II, § 9, Ziff. 6; Anwendungshinweise BMI, S. 8.

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3. Kap.: Die Qualifikationsrichtlinie

Aus der Sicht der bundesdeutschen Anwendungspraxis beinhalten insbesondere die Festlegungen bezüglich des Begriffs der Religion in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) und der bestimmten sozialen Gruppe in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) 185 neue Herausforderungen. a) Verfolgung wegen der Religion Der Begriff der Religion ist in der Richtlinie weit gefasst und so zu interpretieren, dass er insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst. Eine Verfolgung aus religiösen Gründen kann auch vorliegen, wenn derartige Eingriffe eine Person betreffen, die keine religiöse Überzeugung hat, sich keiner bestimmten Religion anschließt oder sich weigert, sich den mit einer Religion verbundenen Riten und Gebräuchen ganz oder teilweise zu unterwerfen. 186 Im Gegensatz zu den von der deutschen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist ausdrücklich auch die Religionsausübung im öffentlichen Bereich geschützt. Die der deutschen Asylrechtsprechung geläufige Unterscheidung zwischen forum internum und forum externum ist der Richtlinie ebenso wie dem internationalen Flüchtlingsrecht fremd. 187 b) Soziale Gruppe Hinsichtlich der bestimmten sozialen Gruppe stellt die Richtlinie klar, dass die Mitglieder der Gruppe durch ein gemeinsames Merkmal verbunden sein müssen, das entweder angeboren oder unveränderlich oder so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen ist, dass der Betreffende nicht gezwungen sein sollte, auf das Merkmal zu verzichten. Außerdem muss die Gruppe eine in der Gesellschaft deutlich abgrenzbare Identität haben. Typischerweise gehören hierzu Merkmale wie das Geschlecht, Alter, familiäre Bindungen, aber auch die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft oder einer Menschenrechtsgruppe. 188 Ausdrücklich erwähnt die Richtlinie, dass als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten kann, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Der Verweis auf das Geschlecht und die sexuelle Ausrichtung impliziert nicht, dass Frauen und Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen können. 189

185 Vgl. hierzu: Marx, Furcht vor Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Art. 10 I Bst. d RL 2004/83/EG), ZAR 2005, S. 177 – 185. 186 s. Erläuterungen zu Art. 12 Buchst. b) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig. 187 s. hierzu auch: Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kap. IV, § 17; Anwendungshinweise BMI, S. 9. 188 s. Erläuterungen zu Art. 12 Buchst. d) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig.

A. Grundzüge der Qualifikationsrichtlinie

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Das Bundesverwaltungsgericht hat eine solche Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention in seiner Rechtsprechung bislang nicht vorgenommen, sondern in seiner – vereinzelt gebliebenen – Entscheidung betreffend die Verfolgung Homosexueller im Iran 190 festgestellt, dass auch eine Verfolgung wegen anderer als in der GFK ausdrücklich aufgeführter Merkmale asylbegründend sein kann.

II. Voraussetzungen des subsidiären Schutzes Die Richtlinie enthält erstmals in einem rechtlich bindenden europäischen Regelwerk eine Definition des subsidiären Schutzes. Nach Art. 2 Buchst. e) der Richtlinie ist eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der die Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung nicht erfüllt, bei dem aber dennoch ein Schutzbedürfnis gegeben ist, weil er bei Rückkehr in sein Herkunftsland oder in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. 1. Art. 15 – Ernsthafter Schaden Die Voraussetzungen, unter denen ein solches Schutzbedürfnis angenommen wird, sind im Einzelnen in Art. 15 der Richtlinie geregelt. Als ernsthafter Schaden gilt danach die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Buchst. a), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Buchst. b) sowie eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Buchst. c). Nicht als ernsthafter Schaden gelten allerdings – anders als nach der bisherigen asylrechtlichen Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 AufenthG bzw. § 53 Abs. 6 AuslG 1990 – solche Gefahren, die nicht unmittelbar von menschlichen Akteuren verursacht werden, also etwa Krankheit oder Naturkatastrophen. 2. Art. 15 Buchst. c) – willkürliche Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes Neben der über die deutsche Praxis weit hinausgehenden Hochstufung der mit der Gewährung von subsidiärem Schutz verbundenen Statusrechte in Kapitel 189 s. Erläuterungen zu Art. 12 Buchst. d) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig; vgl. hierzu auch: Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kap. IV, § 19 Ziff. 2 und 3. 190 BVerwG, Urteil vom 15. 03. 1988 – 9 C 278.86 – BVerwGE 79, 143 –154, s. Fn. 29.

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3. Kap.: Die Qualifikationsrichtlinie

VII der Richtlinie beinhaltet vor allem die Regelung in Art. 15 Buchst. c) eine wesentliche Neuerung. Es wird dort unmissverständlich klargestellt, dass ein im Zielstaat der Abschiebung herrschender Bürgerkrieg oder vergleichbarer interner bewaffneter Konflikt oder ein internationaler Krieg der Schutzgewährung nicht entgegensteht, sofern ernsthafte individuelle Bedrohungen bestehen. Bei der Gewährung subsidiären Schutzes müssen die Antragsteller nachweisen, dass sie eine begründete Angst um ihr Leben haben. Die Gründe für diese Angst müssen nicht personenspezifisch sein. Jeder Antragsteller muss aber – anders als im Falle eines Massenzustroms im Sinne der Richtlinie 2001/55/EG 191 – nachweisen, dass die Angst in seinem ganz bestimmten Fall begründet ist. 192 Die Richtlinie rüttelt damit an der vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Rechtsprechung zur Sperrwirkung von Erlassen im Rahmen des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG 1990 bzw. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, durch die auch die Berücksichtigung von individualbezogenen und konkreten Gefahren in Kriegs- und Bürgerkriegssituationen grundsätzlich ausgeschlossen war. Der Richtlinie ist das Konzept einer derartigen Sperrwirkung durch eine politische Leitentscheidung ebenso fremd wie der Maßstab der Extremgefahr, nach dem einer Person bei allgemeinen Gefahren bislang Abschiebungsschutz nur dann gewährt werden konnte, wenn sie im Falle der Abschiebung „ gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod“ oder schweren Verletzungen ausgeliefert würde. 193 Das europäische Instrument zur Regelung vorübergehenden Schutzes für unüberschaubare Notsituationen wie etwa Bürgerkriegsereignisse ist die Richtlinie 2001/55/EG über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms. Nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/55/EG wird das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen durch einen Beschluss des Rates festgestellt. Ist ein solcher Ratsbeschluss nicht ergangen, sperrt dies nicht die Anwendung von Art. 15 Buchst. c) der Qualifikationsrichtlinie. 194 Das Verhältnis von Art. 15 Buchst. c) der Qualifikationsrichtlinie zu der Flüchtlingsanerkennung einerseits sowie dem vorübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms andererseits wird die Verwaltungsgerichte noch intensiv beschäftigen müssen. 191 s. Richtlinie 2001/55/EG vom 20. 07. 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, Abl. L 212/12 vom 07. 08. 2001. 192 s. Erläuterungen zu Art. 15 Buchst. c) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig. 193 s. hierzu: Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kap. XII, § 40 Rdnr. 6, 45 ff.; anders wohl: Anwendungshinweise BMI, S. 16 f. 194 s. Erläuterungen zu Art. 15 Buchst. c) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig.

A. Grundzüge der Qualifikationsrichtlinie

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III. Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz In Kapitel II der Richtlinie werden Kriterien für die Prüfung von Anträgen auf ihre objektive Begründetheit festgelegt. Sie gelten für alle Anträge auf internationalen Schutz, also sowohl für die Fälle der Flüchtlingsanerkennung als auch für Fälle des subsidiären Schutzes. 1. Art. 4 Abs. 4 – Herabstufung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs Die in der deutschen Asylrechtsprechung bei Art. 16a GG und § 60 Abs. 1 AufenthG geläufige Herabstufung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes ist nach der Richtlinie nicht nur für den Fall einer bereits erlittenen Verfolgung, sondern auch dann vorgesehen, wenn der Betroffene bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat. Ist dies nach den glaubhaften Angaben des Antragstellers der Fall, kommt es nur noch darauf an, ob ein erneuter Schadenseintritt aufgrund von stichhaltigen Gründen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist. In den Fällen der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG hat die Rechtsprechung im Gegensatz dazu stets am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit festgehalten, auch wenn der Asylbewerber zuvor schon erhebliche Rechtsgutverletzungen erfahren hatte. 195 2. Art. 6 – Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann Die ausdrückliche Nennung der nichtstaatlichen Akteure als taugliche Verfolgungsakteure in Art. 6 Buchst. c) der Richtlinie stellt wohl aus bundesdeutscher Sicht den krassesten Dissens zu der bis dahin hier geltenden Auslegung des Flüchtlingsbegriffs dar. Dabei kommt es ausschließlich darauf an, ob der Staat bzw. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Art. 6 bezieht sich nicht nur auf Akteure, von denen Verfolgung, sondern auch auf Akteure, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Insoweit wurde die Richtlinie in § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG noch nicht umgesetzt. 196 Die von der deutschen Asylrechtsprechung entwickelten Begriffe der Ausgrenzung aus einer übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit oder der 195 BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 – 9 C 9/95 – BVerwGE 99, S. 324 –331, 330; Beschluss vom 18. Juli 2001 – 1 B 71.01 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46. 196 s. hierzu ausdrücklich: Anwendungshinweise BMI, S. 14, 15, die insoweit nun von einer unmittelbaren Anwendung ausgehen.

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3. Kap.: Die Qualifikationsrichtlinie

Zurechenbarkeit sind der Qualifikationsrichtlinie fremd. Ausgehend von der Überlegung, dass jeder Mensch das Recht hat, frei von Verfolgung zu leben, stellt die Richtlinie demgegenüber entscheidend darauf ab, dass im Herkunftsland kein wirksamer Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden zu erlangen ist. 197 3. Art. 5 – Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz Grundsätzlich können Nachfluchtgründe zur Flüchtlingsanerkennung führen. Dies gilt ausdrücklich auch dann, wenn sich solche Gründe aus Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen des Herkunftslandes ergeben, insbesondere wenn die Aktivitäten nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Im Falle eines Folgeantrags können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Antragsteller in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat. Wenngleich Art. 5 der Richtlinie gedanklich zwischen sog. objektiven und subjektiven Nachfluchtgründen – um in der nach deutschem Asylrechtsverständnis bekannten Terminologie zu bleiben – unterscheidet und auch die Formulierungen dieses Artikels teilweise an die Kriterien anknüpfen, die von der bundesdeutschen Rechtsprechung für die Berücksichtigungsfähigkeit von Nachfluchtgründen entwickelt worden sind, liegen der Richtlinie maßgeblich die im internationalen Flüchtlingsrecht entwickelten Grundsätze für die Behandlung der sog. sur place – Flüchtlinge zugrunde. Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes können daher immer zur Flüchtlingsanerkennung oder Gewährung subsidiären Schutzes führen, auch wenn diese Aktivitäten nicht Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Heimatstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Letzteres ist lediglich ein in der Richtlinie besonders erwähnter Fall, in dem die Kontinuität als Indiz für die Glaubwürdigkeit des Antrags angesehen wird. 198 Der mögliche Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung in Missbrauchsfällen gilt nur im Folgeverfahren. Unabhängig hiervon sollen die Mitgliedstaaten maßgeblich darauf abstellen, ob der Herkunftsstaat von den entsprechenden Aktivitäten Kenntnis erlangt und wie diese bei den Behörden des Staates beurteilt werden. 199 197 s. Erläuterungen zu Art. 9 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig; Hailbronner, Auswirkungen der Europäisierung des Asyl- und Flüchtlingsrechts auf das deutsche Recht, ZAR 2003, S. 299 –305, 299 f; Lehngut, Erläuterungen zum Vorschlag einer EU-Anerkennungsrichtlinie, ZAR 2003, S. 305 – 308, 306. 198 s. Erläuterungen zu Art. 8 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig.

A. Grundzüge der Qualifikationsrichtlinie

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4. Art. 8 – Interner Schutz Die Regelung beruht auf dem Prinzip der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes. Die Mitgliedstaaten können bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, wenn in dem inländischen Zufluchtsgebiet keine Verfolgungsgefahr besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie sind dabei sowohl die allgemeinen Gegebenheiten als auch die persönlichen Umstände des Antragstellers im Zeitpunkt der Entscheidung, nicht im Zeitpunkt der Flucht zu berücksichtigen. Interner Schutz ist in der Regel möglich, wenn der Schaden von nichtstaatlichen Kräften angedroht wird. Wenn die Verfolgung von der nationalen Regierung ausgeht oder von ihr unterstützt wird, findet der Betreffende dagegen höchstwahrscheinlich keinen internen Schutz, weil davon auszugehen ist, dass eine nationale Regierung das Recht hat, im gesamten nationalen Hoheitsgebiet tätig zu werden. 200 Maßgeblich ist nach der Richtlinie die Frage nach einer sinnvollen Schutzalternative zu einem Schutz in einem Mitgliedstaat der EU, nicht aber die Fokussierung auf eine Fluchtalternative. Mit der Formulierung, dass von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden können muss, dass er sich in dem anderen Landesteil aufhält, geht die Richtlinie erkennbar von weniger strengen Anforderungen an das Fehlen der Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative aus, als sie von der deutschen Rechtsprechung entwickelt worden sind. Auch eine Verengung der Fragestellung auf existentielle Gefährdungen, die nach ihrer Intensität und Schwere asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigungen aus politischen Gründen gleichkommen, nimmt die Richtlinie nicht vor. Ebenso wenig kommt es auf einen Vergleich mit den Verhältnissen am Herkunftsort an. 201 Bei der Prüfung, ob eine Rückführung an den Ort einer inländischen Schutzalternative sinnvoll ist, sind nach der Richtlinie allgemein die Sicherheit, die politischen und sozialen Gegebenheiten dort sowie die besondere Schutzbedürftigkeit des Antragstellers zu berücksichtigen. 202 199

s. Erläuterungen zu Art. 8 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig. 200 s. Erläuterungen zu Art. 10 Abs. 1 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig. 201 s. hierzu ausdrücklich: Anwendungshinweise BMI, S. 6; Im übrigen gehen die Anwendungshinweise aber davon aus, dass der Begriff interner Schutz dem in der Bundesrepublik geläufigen Begriff der inländischen Fluchtalternative entspricht; anders dagegen: Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kap. III, § 14 Rdnr. 40 ff. 202 s. Erläuterungen zu Art. 10 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig.

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3. Kap.: Die Qualifikationsrichtlinie

B. Der Umgang des Bundesverwaltungsgerichts mit der Qualifikationsrichtlinie 203 Die fehlende Integration des Flüchtlingsvölkerrechts in das innerstaatliche Recht wirkt sich nachhaltig auf den bisherigen Umgang des Bundesverwaltungsgerichts mit der Qualifikationsrichtlinie aus. Ganz überwiegend hat das Bundesverwaltungsgericht bislang Revisionszulassungsbeschwerden unter Hinweis auf die fehlende Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zurückgewiesen. Dies war vor Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. 10. 2006 unter anderem deshalb regelmäßig der Fall, weil die Frage der Vorwirkung der Richtlinie aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts – revisionsrechtlich gesehen – nicht hinreichend konkret formuliert worden war. 204 Wiederholt hat es Revisionszulassungsbeschwerden auch unter Hinweis darauf zurückgewiesen, dass die erhobenen Beschwerden nicht aufzeigten, warum die in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsund Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 16a GG und zu § 51 Abs. 1 AuslG 1990 entwickelten Grundsätze – etwa zur Asylrelevanz von Eingriffen in die Religionsfreiheit – nach der Neufassung des § 60 Abs. 1 AufenthG erneut klärungsbedürftig seien, zumal auch die Vorgängervorschrift des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 auf die Genfer Flüchtlingskonvention bezogen gewesen sei und die flüchtlingsrechtliche Anerkennung bzw. die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A (2) GFK umfasse bzw. die bisherige Rechtsprechung die nunmehr vom Gesetz ausdrücklich in Bezug genommene Genfer Flüchtlingskonvention schon vorher berücksichtigt habe. 205 Soweit Revisionszulassungsbeschwerden Erfolg hatten, war dies in der Regel wegen unzureichender Sachverhaltsermittlung der Vorinstanzen der Fall mit der Folge der Zurückverweisung der Verfahren. Die sich bietenden Gelegenheiten zur inhaltlichen Klärung einzelner Fragen wurden nicht ansatzweise wahrgenommen, geschweige denn ausgeschöpft. 206 Aus der Übertragung der These der Deckungsgleichheit auf § 60 Abs. 1 AufenthG 207 kann immerhin geschlossen werden, dass das Bundesverwaltungsgericht 203 Entscheidungen, die das Verhältnis zwischen der Widerrufsregelung in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und den „Wegfall der Umstände“-Klauseln in der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. der Qualifikationsrichtlinie betreffen, werden im 4. Kapitel ausführlich behandelt und bleiben an dieser Stelle ausgenommen. 204 BVerwG, Beschluss vom 17. 01. 2006 – 1 B 55/05, 1 B 55/05 (1 PKH 14/05) – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 320; BVerwG, Beschluss vom 24. 05. 2006 – 1 B 9/06 – Juris; BVerwG, Beschluss vom 11. 08. 2006 – 1 B 105/06 – Juris; BVerwG, Beschluss vom 13. 09. 2006 – 1 B 113/06 – Juris. 205 BVerwG, Beschluss vom 17. 01. 2006 – 1 B 55/05, 1 B 55/05 (1 PKH 14/05) – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 320; BVerwG, Beschluss vom 24. 05. 2006 – 1 B 9/06 – Juris. 206 Vgl. etwa: BVerwG, Beschluss vom 22. 09. 2006 – 1 B 36/06, 1 B 36/06 (1 PKH 14/06) – Juris.

B. Bundesverwaltungsgericht und Qualifikationsrichtlinie

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ohne weitere Klarstellungen durch den bundesdeutschen Gesetzgeber nicht zu einer umfassenden Neuorientierung bereit ist. Für Einzelfragen hat es dies bereits ausdrücklich festgestellt. So hat es hinsichtlich der Frage der inländischen Fluchtalternative entschieden, dass diese im Falle staatlicher Verfolgung auch künftig zu prüfen sei und sieht sich insoweit in Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie. 208 In einer weiteren Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht ausführlich auf seine bisher entwickelten Maßstäbe für eine inländische Fluchtalternative hingewiesen und dem Berufungsgericht, an das es den Rechtsstreit wegen fehlender Beachtung dieser Maßstäbe und der Maßstäbe für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung zurückverwiesen hat, mit auf den Weg gegeben, bei der erforderlichen erneuten Prüfung die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative nunmehr am Maßstab des Art. 8 der Richtlinie zu messen. Denn diese Vorschrift sei infolge des Ablaufs der Umsetzungsfrist nunmehr zu beachten. Eigener inhaltlicher Ausführungen hierzu hat es sich aber enthalten. 209 Hinsichtlich der Berücksichtigung von nichtstaatlichen Akteuren im Rahmen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass es nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik oder Sinn und Zweck dieser – nationalen – Regelung keine Anhaltspunkte für eine der Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure in § 60 Abs. 1 AufenthG entsprechende Ausdehnung des ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots gebe. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber die bisherige Bestimmung des § 53 Abs. 4 AuslG unverändert als neuen § 60 Abs. 5 AufenthG übernommen habe, spreche vielmehr eher dafür, dass er insoweit nichts habe ändern wollen und geändert habe. 210 Bemerkenswert ist die weitere Feststellung in diesem – nach Ablauf der Umsetzungsfrist ergangenen – Beschluss, dass die Bestimmungen der Richtlinie über den internationalen subsidiären Schutz in Art. 15 vom Ablauf der Umsetzungsfrist an unmittelbar anzuwenden seien und gegebenenfalls ergänzend neben den nach nationalem Recht zu gewährenden ausländerrechtlichen Schutz nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG träten. Auch die Annahme einer unmittelbaren Anwendung der Qualifikationsrichtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist veranlasste das Bundesverwaltungsgericht aber nicht zu einer näheren inhaltlichen Beschäftigung mit ihr. Stattdessen verwies es den Kläger – entgegen dem sonst vielfach betonten Grundsatz der Beschleunigung und Konzentration der Asylverfahren – 211 auf ein Folgeverfahren vor dem Bundesamt, da „diese während des Beschwerdeverfah207

BVerwG, Urteil vom 08. 02. 2005 – 1 C 29/03 – BVerwGE 122, S. 377 –389, 382. BVerwG, Beschluss vom 09. 06. 2006 – 1 B 102/05 – Juris. 209 BVerwG, Urteil vom 01. 02. 2007 – 1 C 224/06 – Juris. 210 BVerwG, Beschluss vom 18. 12. 2006 – 1 B 53/06, 1 B 53/06 (1 PKH 18/06) – Juris. 211 Vgl. hierzu etwa: BVerwG, Urteil vom 18. 02. 1992 – 9 C 59/91 – NVwZ 1992, S. 892 – 893, 893. 208

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3. Kap.: Die Qualifikationsrichtlinie

rens eingetretene Änderung der Rechtslage die Zulassung der Revision gegen die aufgrund des bisher geltenden Rechts ergangene Berufungsentscheidung nicht rechtfertige“. Diese Argumentation wirkt verkrampft. Immerhin war die Qualifikationsrichtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist als Rechtsakt wirksam erlassen und entfaltete auch unabhängig von ihrer nationalen Umsetzung rechtliche Ausstrahlungskraft. Das Bundesverwaltungsgericht setzt also – man ist geneigt zu sagen: unnötigerweise – seine Auseinandersetzung mit dem Europäischen Gerichtshof über das Erfordernis der Staatlichkeit im Rahmen des Art. 3 EMRK fort, obwohl sie durch die Qualifikationsrichtlinie längst eindeutig entschieden ist. Auch eine Überprüfung seiner Rechtsprechung zur Sperrwirkung von Erlassen im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG unter Berücksichtigung von Art. 15 Buchst. c) der Qualifikationsrichtlinie hat das Bundesverwaltungsgericht abgelehnt und erneut betont, dass es für die Gleichwertigkeit des Schutzes im Sinne seiner Rechtsprechung nur auf die Schutzwirkung der Duldung oder des Erlasses im Hinblick auf eine drohende Abschiebung ankomme. 212 Insgesamt drängt sich auf der Grundlage der bisher vorliegenden Entscheidungen der Eindruck auf, dass das Bundesverwaltungsgericht seit Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihr ausweicht. Soweit es Aussagen zu einzelnen inhaltlichen Aspekten gemacht hat, spiegeln diese im Sinne einer Selbstvergewisserung seine Überzeugung wider, dass auch die Qualifikationsrichtlinie keine erneute grundsätzliche Überprüfung der eigenen Rechtsprechung erfordere, da seine Rechtsprechung schon immer in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention und internationalem Flüchtlingsrecht gestanden habe. Angesichts der bisherigen nur punktuellen und zudem methodisch missglückten inhaltlichen Auseinandersetzung des Bundesverwaltungsgerichts mit der Genfer Flüchtlingskonvention bahnt sich eine ernstzunehmende Fehlentwicklung an. Ein Problembewusstsein für die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte entstandenen Diskrepanzen zwischen der eigenen Rechtsprechung und dem internationalen Flüchtlingsrecht fehlt scheinbar völlig. Die Chancen für eine unvoreingenommene aktive und befruchtende Teilnahme der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung an der europäischen Harmonisierung des materiellen Flüchtlingsrechts werden auf diese Weise verpasst.

212

BVerwG, Beschluss vom 29. 03. 2007 – 1 B 104/06 – Juris.

4. Kapitel

Widerruf der Anerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG versus „Wegfall der Umstände“-Klauseln Auch – und gerade – jenseits der Regelungen der Richtlinie, in denen die Diskrepanz zu der deutschen Asylrechtsprechung bereits aufgrund des Wortlauts offen zu Tage tritt, stellt die Qualifikationsrichtlinie eine Herausforderung für die im Umgang mit dem internationalen Flüchtlingsrecht nicht vertraute hiesige Anwendungspraxis dar. Im Einzelnen soll dies an der Problematik des Widerrufs von Flüchtlingsanerkennungen dargestellt werden. Rechtsgrundlage für den Widerruf von Flüchtlingsanerkennungen ist nach deutschem Recht § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 01. 01. 2005: die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Die Vorschrift entspricht der im Wesentlichen gleichlautenden Vorschrift des § 16 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über das Asylverfahren vom 16. 07. 1982 (AsylVfG 1982). 213 Wie aus der Gesetzesbegründung zum AsylVfG 1982 zu entnehmen ist, entspricht die Regelung des Widerrufs weitgehend den Nummern 5 und 6 des Artikels 1 C der Genfer Flüchtlingskonvention. 214 Nach Art. 1 C (5) Satz 1 GFK fällt eine Person, auf die die Bestimmungen des Absatzes A zutreffen, nicht mehr unter dieses Abkommen, wenn sie nach Wegfall der Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Eine entsprechende Regelung trifft Art. 1 C (6) GFK für Staatenlose. 213 BGBl. 1982 I, S. 946 –954; Die materiellen Voraussetzungen für den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung waren inhaltsgleich auch schon in den Vorgängerregelungen in § 18 Abs. 2 der Verordnung über die Anerkennung und Verteilung von ausländischen Flüchtlingen (Asylverordnung, BGBl. 1953 I, S. 3 – 6) und des § 37 Abs. 1 Satz 1 des Ausländergesetzes vom 28. 04. 1965 (BGBl. 1965 I, S. 353 – 362) enthalten. 214 Vgl. BT-Drucksache 9/875, S. 18.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Ähnlich hatte schon die Satzung des Amtes des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vom 14. 12. 1950 (Satzung des UNHCR) 215 in Kapitel II Ziff. 6 A e) und f) vorgesehen, dass eine Person aus der Zuständigkeit des Hohen Kommissars ausscheidet, wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr aus anderen Gründen als persönlichem Belieben weiterhin ablehnen kann, den Schutz des Landes der Staatsangehörigkeit oder des gewöhnlichen Aufenthaltes in Anspruch zu nehmen. Gründe rein wirtschaftlicher Art können danach nicht geltend gemacht werden. Die sogenannte „Wegfall der Umstände“-Klausel des Artikel 1 C (5) und (6) GFK ist nunmehr wörtlich von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) der Qualifikationsrichtlinie übernommen worden. Der denkbar knappe Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hat seit je her eine konkretisierende Auslegung durch eine umfangreiche Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte erfahren. Im Folgenden soll untersucht werden, ob und inwieweit diese Auslegung in Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie steht.

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der verwaltungsgerichtlichen Praxis Bei der Untersuchung der Frage, welche Auslegung die Widerrufsregelung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung erfahren hat, ist zum besseren Verständnis in zeitlicher Hinsicht zu differenzieren.

I. Entwicklung der Rechtsprechung bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes Bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 01. 01. 2005 bestand in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung über die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG Einigkeit insoweit, als angenommen wurde, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung insbesondere dann nicht mehr vorliegen, wenn die Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht, sich also die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich entscheidungserheblich verändert haben. 216 Bei der Beurteilung der Frage, ob die Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr bestehe, galt ein strenger Pro215 Satzung des Amtes des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vom 14. 12. 1950 (Satzung des UNHCR), Anhang zu Resolution 428 (V) der Generalversammlung, www.unhcr.de.

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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gnosemaßstab. Grundsätzlich wurde der Widerrufstatbestand deshalb nur dann als erfüllt angesehen, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen wegen zwischenzeitlicher Veränderungen im Verfolgerstaat mit hinreichender Sicherheit auszuschließen war. Ob etwas anderes zu gelten hatte, wenn für die Zukunft befürchtete Verfolgungsmaßnahmen keinerlei Verknüpfung mehr mit den früheren aufwiesen, die zur Anerkennung geführt hatten, war nicht abschließend geklärt. 217 Keine Einigkeit bestand in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur auch hinsichtlich der Frage, welche Bedeutung die „Wegfall der Umstände“-Klausel des Artikel 1 C (5) Satz 1 bzw. (6) Satz 1 GFK für die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hat. Ein erheblicher Teil der Rechtsprechung lehnte eine Berücksichtigung des Artikel 1 C (5) GFK grundsätzlich mit der Begründung ab, dass die Genfer Flüchtlingskonvention weder vorschreibe, Flüchtlingen im Sinne der Konvention einen bestimmten Status zu verleihen, noch Regelungen über einen Widerruf oder eine Rücknahme eines derartigen Status treffe. Es obliege daher dem jeweiligen vertragschließenden Staat, ein entsprechendes Aufhebungsverfahren zu schaffen. 218 Zum Teil wurde für die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG aber auch auf Artikel 1 C (5) GFK zurückgegriffen. So hat im Jahre 1988 das OVG Lüneburg 219 unter Bezugnahme auf Artikel 1 C (5) GFK entschieden, dass eine den Widerruf begründende Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat nur dann vorliege, wenn unter keinem denkbaren rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt eine andauernde politische Verfolgung mehr unterstellt werden könne, wobei ein strenger Maßstab anzulegen sei. Die Anerkennung könne unter Berücksichtigung des humanitären Charakters des Asylrechts nur dann widerrufen werden, wenn feststehe, dass die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorlägen.

216 BVerwG, Urteil vom 25. 08. 2004 – 1 C 22/03 – NVwZ 2005, S. 89 f.; BVerwG, Urteil vom 19. 09. 2000 – 9 C 12/00 – BVerwGE 112, S. 80 –92; BVerwG, Beschluss vom 27. 06. 1997 – 9 B 280/97 – NVwZ-RR 1997, S. 741 – 742. 217 BVerwG, Beschluss vom 27. 06. 1997 – 9 B 280/97 – a. a. O.; BVerwG, Urteil vom 24. 11. 1992 – 9 C 3/92 – Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG 1992 Nr. 1; BVerwG, Urteil vom 24. 07. 1990 – 9 C 78/89 – BVerwGE 85, S. 266 –273; OVG Lüneburg, Urteil vom 29. 02. 1988 – 11 OVG A 10/87 –. 218 Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26. 07. 2004 – 1 L 270/04 – Asylmagazin 10/2004, S. 36; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. 03. 2004 – A 6 S 219/ 04 – NVwZ-RR 2004, S. 790 –791; OVG NRW, Urteil vom 04. 12. 2003 – 8 A 3766/ 03.A – NVwZ 2004, S. 757 – 758. 219 Vgl. OVG für die Länder Niedersachen und Schleswig-Holstein, Urteil vom 29. 02. 1988 – 11 OVG A 10/87.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Mit einer ähnlichen Begründung nahm der VGH Baden-Württemberg im Jahre 2004 betreffend den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von serbisch-montenegrinischen Staatsangehörigen albanischer Volkszugehörigkeit aus dem Kosovo 220 in einem obiter dictum an, dass der Regelungsgehalt des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG mit der Beendigungsklausel des Art. 1 C (5) der GFK übereinstimme. Unter Bezugnahme auf das Handbuch des UNHCR über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft (Handbuch UNHCR) 221 führte der VGH aus, die Beendigungsklausel beruhe auf der Überlegung, dass bei Veränderungen in dem Land, auf das sich die Furcht vor Verfolgung bezogen habe, ein internationaler Schutz dann nicht mehr gerechtfertigt sei, wenn die Gründe, die dazu geführt hätten, dass eine Person Flüchtling geworden sei, nicht mehr bestünden. Diese bei der Schaffung des Asylverfahrensgesetzes bekannte Rechtsauffassung des Flüchtlingskommissars sei in die Widerrufsregelung im Asylverfahrensgesetz mit eingeflossen, welche die Erlöschensbestimmungen des Artikel 1 C GFK nachzeichne. Denn wie sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs zum Asylverfahrensgesetz vom 07. 10. 1981 ergebe, sei die Regelung des Widerrufs der Verlustklausel der Genfer Flüchtlingskonvention nachgebildet. Es sei in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass ein Widerruf nur dann nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfolgen könne, wenn der Flüchtling bei einer Rückkehr in den Verfolgerstaat hinreichend sicher sei, wobei hinreichende Sicherheit in diesem Sinne, was keiner näheren Erläuterung bedürfe, nur dann gewährleistet sei, wenn sich die Verhältnisse im Verfolgerstaat „hinreichend stabil“ verändert hätten. Aus der Anwendung dieses herabgesetzten Prognosemaßstabs der hinreichenden Sicherheit beim Widerruf der Asylgewährung werde auch deutlich, dass Anerkennung und Widerruf keine spiegelbildlichen Akte sein müssten. Bezogen auf den Kosovo sei deshalb maßgeblich, ob ein albanischer Volkszugehöriger aus dem Kosovo bei einer Rückkehr nach Serbien und Montenegro vor politischer – unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher – Verfolgung hinreichend sicher sei. Dies bejahte der VGH Baden-Württemberg. Die hinreichende Sicherheit sei durch den Vollzug der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates begründet und durch die Übergangsverwaltung UNMIG und die NATO-Sicherheitstruppe der KFOR gewährleistet. Es sei durch diese Truppen ein effektiver und dauerhafter Schutz vor erneuter Verfolgung sichergestellt. Soweit die Rechtsprechung für die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG demnach überhaupt auf die Beendigungsklausel der Genfer Flüchtlingskonvention zugriff, geschah dies im Rahmen der Erörterung des anzuwendenden Prognose220 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. 03. 2004 – A 6 S 219/04 – NVwZ-RR 2004, S. 790 – 791. 221 Handbook on Procedures and Criteria for Determining Refugee Status, UNHCR Genf, September 1979 (Re-edited 1992), nicht-amtliche Übersetzung: Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Neuauflage UNHCR Österreich, Dezember 2003.

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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maßstabes. Eine davon unabhängige Prüfung der Frage, welche Anforderungen an die im Herkunftsstaat eingetretenen Veränderungen der politischen Verhältnisse im Hinblick auf deren grundlegenden Charakter, Stabilität und Dauerhaftigkeit zu stellen sind, erfolgte nicht. Mit der durch den Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahre 2003 veränderten politischen Situation im Irak befasste sich eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. 222 Die von der Zulassungsbeschwerde aufgeworfene Frage, ob ein Flüchtling seinen Flüchtlingsschutz auch dann verliere, wenn der Heimatstaat noch überhaupt nicht in der Lage sei, den in Artikel 1 C (5) Satz 2 GFK erwähnten „Schutz“ zu gewähren, ließ der VGH auf sich beruhen. Sowohl § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG als auch Artikel 1 C (5) Satz 2 GFK setzten voraus, dass dem Ausländer die Rückkehr in seinen Heimatstaat aus Gründen unzumutbar sei, die auf früheren Verfolgungen beruhten. Der UNHCR vertrete in seinen Richtlinien zum internationalen Schutz betreffend die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikel 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 223 (Richtlinien UNHCR) die Auffassung, dass ein Wegfall der Flüchtlingseigenschaft nur in Betracht komme, wenn der Heimatstaat wieder über eine funktionierende Regierung, grundlegende Verwaltungsstrukturen sowie über eine angemessene Infrastruktur verfüge. Auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen, nämlich § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, lasse sich aber ohne Weiteres feststellen, dass eine solche Auffassung unzutreffend sei. Sie gebe lediglich ein politisches Ziel, nicht jedoch die geltende Rechtslage wieder. Politische Verfolgung nach § 51 Abs. 1 AuslG setze stets staatliche Verfolgung voraus. Wenn eine solche staatliche Verfolgung nicht mehr vorliege, seien die Widerrufsvoraussetzungen gegeben. Weitere tatbestandliche Voraussetzungen habe § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht. Mit dieser Auslegung verletze die Bundesrepublik auch nicht ihre völkervertraglichen Pflichten aus der Genfer Flüchtlingskonvention. Denn die Worte „Schutz des Landes“ in Art. 1 C habe keine andere Bedeutung als in Art. 1 A (2) GFK. „Schutz des Staates“ meine deshalb den Schutz des Staates vor Verfolgung wegen der einzelnen in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Merkmale. Die Frage staatlicher Schutzgewährleistung stelle sich in diesem Kontext also nur, wenn dem Ausländer eine – staatliche – Verfolgung im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG drohe.

222

Bay.VGH, Beschluss vom 06. 08. 2004 – 15 ZB 04.30565 – InfAuslR 2005, S. 43 –44,

44. 223 Guidelines on International Protection: Cessation of Refugee Status under Article 1 C (5) and (6) of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees (the “Ceased Circumstances” Clauses), Deutsche Fassung: Richtlinien zum Internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge („Wegfall der Umstände“-Klausel), UNHCR, Genf (HCR / GIP/03/03), 10. 02. 2003.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Auch das Bundesverwaltungsgericht griff bereits vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes in einer Entscheidung aus dem Jahre 2000 betreffend den Widerruf der Asylanerkennung eines irakischen Staatsangehörigen 224 zur Auslegung des § 73 Abs. 1 AsylVfG unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien zu der Vorgängervorschrift des § 16 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG 1982 auf die „Wegfall der Umstände“-Klausel der Genfer Flüchtlingskonvention zurück und stellte fest, dass für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eine Änderung der Erkenntnislage alleine nicht entscheidend sei. Maßgeblich komme es vielmehr auf die Veränderung der tatsächlich im Verfolgerstaat herrschenden Verhältnisse an. Eine darüber hinausgehende Beschäftigung mit den Voraussetzungen für einen Widerruf gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unter Berücksichtigung der „Wegfall der Umstände“-Klausel des Artikel 1 C (5) GFK enthielt diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht. Vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes, aber schon nach Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie hat die Situation im Irak dem Bundesverwaltungsgericht ein weiteres Mal Anlass zu einer Entscheidung über den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gegeben. Hintergrund dieser Entscheidung war der durch den 3. Golfkrieg unter Führung der USA und Großbritanniens herbeigeführte Sturz des Regimes von Saddam Hussein, den das Bundesamt ab dem Jahre 2004 zum Anlass nahm, massenweise in der Vergangenheit erfolgte Asylanerkennungen irakischer Staatsangehöriger unter Hinweis auf eine maßgebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zu widerrufen. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit Urteil vom 25. 08. 2004 225 diese Widerrufspraxis mit Blick auf die „zwischenzeitlich eingetretenen Entwicklungen der politischen Verhältnisse im Irak“. Denn der Kläger habe bei einer Rückkehr in den Irak inzwischen offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen, was sich daraus ergebe, dass nach den eingetretenen allgemeinkundigen 224

Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. 09. 2000 – 9 C 12/00 – BVerwGE 112, S. 80 –92: Gegenstand dieser Entscheidung war der Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung betreffend einen irakischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit aus dem Nordirak. Für diese Volksgruppe wurde seit der sogenannten „Al-Anfal“ Kampagne des Regimes von Saddam Hussein, in deren Zusammenhang es unter anderem im März 1988 zu dem bekannten Giftgasangriff auf die Stadt Halabja gekommen war, eine Gruppenverfolgung bejaht, weil sie einer gezielten und systematischen Vernichtungs- und Vertreibungsaktion ausgesetzt war. Ab etwa Mitte der 90er Jahre änderte sich sukzessive sowohl die Anerkennungspraxis des Bundesamtes als auch die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der Verfolgungssituation. Im Hinblick auf die im Nord-(und Süd-)Irak eingerichteten Flugverbotszonen wurde mangels staatlicher Herrschaftsgewalt des Regimes von Saddam Hussein über diese Gebiete eine Verfolgungsgefahr für Kurden aus dem Nordirak abgelehnt. Diese Entwicklung in der Rechtsprechung hinsichtlich der Beurteilung der Verfolgungssituation von Kurden aus dem Nordirak nahm das Bundesamt zum Anlass, zahlreiche wegen Gruppenverfolgung erfolgte Anerkennungen betreffend diese Personengruppe zu widerrufen mit der Begründung, dass sich die der Anerkennung zu Grunde liegenden Verhältnisse geändert hätten. 225 Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. 08. 2004 – 1 C 22/03 – Juris.

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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Ereignissen im Irak das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden sei. Die „Wegfall der Umstände“-Klausel des Artikel 1 C (5) GFK findet in der Entscheidung keine Erwähnung und es unterbleibt jegliche Auseinandersetzung mit der Frage, welche Anforderungen an eine grundlegende, dauerhafte und stabile Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat eines Flüchtlings gestellt werden müssen, damit der Entzug der Flüchtlingseigenschaft gerechtfertigt ist.

II. Entwicklung der Rechtsprechung seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes Die Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG als maßgebliche Rechtsgrundlage für den Widerruf von Asylanerkennungen blieb durch das Zuwanderungsgesetz mit Ausnahme einer redaktionellen Änderung im Hinblick auf § 60 Abs. 1 AufenthG, der den bis dahin geltenden § 51 Abs. 1 des AuslG ersetzte, unverändert. Dennoch stellt das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes eine wichtige zeitliche Zäsur in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht dar. 1. Zäsur in tatsächlicher Hinsicht In tatsächlicher Hinsicht bedeutsam war, dass sich die Verwaltungsgerichte bedingt durch die Praxis des Bundesamtes, massenweise Asylanerkennungen irakischer Staatsangehöriger zu widerrufen, und durch eine vergleichbare Praxis betreffend afghanische Flüchtlinge nach dem dortigen Sturz des Taliban-Regimes in zunehmenden Maße mit der Frage der Rechtmäßigkeit von Widerrufsbescheiden zu befassen hatten. Zugleich gaben die politischen Entwicklungen sowohl im Irak als auch in Afghanistan immer mehr Anlass zur Sorge, was ihre Dauerhaftigkeit und Stabilität anbelange. Eine sich ständig verschlechternde Sicherheitslage ging einher mit einer zunehmenden Erosion der neuen staatlichen Strukturen. a) Afghanistan In Afghanistan wurde das Taliban-Regime, das seit 1995/1996 ca. 90% des afghanischen Territoriums einschließlich der Hauptstadt Kabul beherrscht hatte, durch die nach den Anschlägen des 11. 09. 2001 von den USA begonnene Operation Enduring Freedom im November / Dezember 2001 gestürzt. Auf der sogenannten Petersberger Konferenz vom 27. 11. 2001 – 05. 12. 2001 einigten sich die dort vertretenen politischen Gruppierungen auf einen Zeitplan für den politischen Wiederaufbau sowie auf eine Übergangsregierung mit dem Übergangspräsidenten Hamid Karzai. Um den Schutz der Übergangsregierung zu gewährleisten, wurde in Kabul die International Security Assistance Force (ISAF) mit UN-Mandat installiert. Seit Sommer 2003 sind in verschiedenen Städten Provincial Reconstruction

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Teams (PRT) etabliert; dazu gehört auch das PRT unter Leitung der Bundeswehr in Kunduz. Der geplante verfassungsmäßige Prozess wurde bis September 2005 umgesetzt: Am 26. 04. 2004 trat eine neue Verfassung in Kraft; bei den im Oktober 2004 durchgeführten Präsidentschaftswahlen wurde Hamid Karzai bestätigt; Parlaments- und Provinzratswahlen fanden am 18. 09. 2005 statt. Das Parlament trat am 19. 12. 2005 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. 226 Der Sturz der Taliban ermöglichte es allerdings Lokalfürsten wieder, die Macht an sich zu reißen und das Land unter sich aufzuteilen. Deren Einzelinteressen standen von Anfang an der Herausbildung eines Staatswesens entgegen. Gleichzeitig ging der Kampf zwischen der Coalition against Terrorism und den Anhängern von Taliban und al-Quaida unvermindert weiter. Der Aktionsradius der Regierung Karzai reicht bis heute kaum über Kabul hinaus. 227 Die Sicherheitslage stellt sich regional unterschiedlich dar, ist aber in allen Regionen nach wie vor in hohem Maße defizitär mit sich verschlechternder Tendenz. Selbst im Raum Kabul ist sie trotz der ISAF-Präsenz weiter fragil. Die Zahl der Auseinandersetzungen wegen besetzten oder entzogenen Grundeigentums steigt, wobei in diese oft Exilafghanen bzw. Rückkehrer einbezogen sind. Die Polizei- und Sicherheitskräfte sind in gewalttätige Übergriffe involviert einschließlich der Beteiligung an kriminellen Taten wie Raubüberfälle und Diebstähle. In allen anderen Landesteilen ist eine spürbare Reinfiltration von Taliban / Islamisten zu verzeichnen, weshalb es zu fortgesetzten Kampfhandlungen sowohl zwischen Koalitionskräften und den Taliban als auch zwischen lokalen Milizen und den Taliban kommt. 228 Die Menschenrechtssituation hat sich – insbesondere in den Einflusszonen lokaler Machthaber – kaum verbessert. Dies gilt auch für die Lage von Frauen und Mädchen, wegen deren menschenverachtender Behandlung das Taliban-Regime vor allem geächtet war. Zwar sind von den Taliban gegen Frauen erlassene Verbote formal nicht mehr in Kraft, an der tatsächlichen Situation vieler Mädchen und Frauen hat sich dadurch allerdings nur wenig geändert. 229 Der Zugang zu Bildungseinrichtungen ist nach wie vor in erheblichem Maße eingeschränkt. Während des Jahres 2006 haben brutale Angriffe auf Lehrer, Schüler und Schulgebäude in weiten Teilen des Landes zugenommen, weshalb zahlreiche Kinder, insbesondere Mädchen, faktisch 226 Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Lagebericht Afghanistan) vom 13. 07. 2006 und vom 17. 03. 2007; Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, S. 136 –138. 227 Lageberichte Afghanistan vom 13. 07. 2006, S. 2, und vom 17. 03. 2007, S. 8 –9, 19; Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, S. 138. 228 Lageberichte Afghanistan vom 13. 07. 2006, S. 11 – 12, und vom 17. 03. 2007, S. 9 – 10; UNHCR, Die Sicherheitslage in Afghanistan mit Blick auf die Gewährung ergänzenden Schutzes – Fortschreibung der Situation in Afghanistan und der Erwägungen zum internationalen Schutz (Juni 2005), April 2007, www.unhcr.de; Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, S. 141 – 143. 229 Lageberichte Afghanistan vom 13. 07. 2006, S. 20 –22, und vom 17. 03. 2007, S. 17 – 19.

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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am Schulbesuch gehindert sind. 230 Zudem fehlt es bis heute an funktionierenden Verwaltungs- und Gerichtsstrukturen. Es besteht praktisch landesweit ein Zustand weitgehender Rechtlosigkeit des Einzelnen. Insbesondere ist eine Strafverfolgung lokaler Machthaber außerhalb Kabuls praktisch nicht möglich. 231 Die politische Zukunft des Landes ist ungewiss. Die größte Gefahr für den Wiederaufbau des Landes stellt die Dominanz von Einzelinteressen und die kulturelle Heterogenität dar. Der Zerfall des Landes in viele kleine Kriegsfürstentümer verhindert die Schaffung eines staatlichen Gewaltmonopols und ist der Hauptgrund für die fehlende Sicherheit im ganzen Land. Nach einem etwa 20 Jahre dauernden Bürgerkrieg, der der Herrschaft der Taliban vorausging, sind auch heute die Perspektiven für eine friedliche und gewaltfreie Entwicklung des Landes schlecht. 232 b) Irak Die Regierung von Saddam Hussein als vormaliger Verfolgungsakteur verlor ihre politische und militärische Herrschaft über den Irak in der Folge der am 20. 03. 2003 begonnenen Militäraktion einer Koalition unter Führung der USA. Vom 21. 04. 2003 bis 28. 06. 2004 wurde der Irak von einer Übergangsbehörde (Coalition Provisional Authority – CPA) der von den USA geführten Koalition in Bagdad verwaltet. Am 13. 07. 2003 setzte die Übergangsverwaltung einen irakischen Übergangs-Regierungsrat (Interim Governing Council) ein. Dieser verabschiedete am 08. 03. 2004 ein Übergangsgesetz (Transitional Administrative Law – TAL), das einen Zeitplan für die Übergangsperiode aufstellte, der weitgehend eingehalten wurde. Am 28. 06. 2004 wurde die Besatzung formal beendet und die Souveränität des Irak wiederhergestellt. Am 30. 01. 2005 fanden die ersten Parlamentswahlen statt. Am 15. 10. 2005 nahm die irakische Bevölkerung in einem Referendum die neue irakische Verfassung an. Kurz zuvor beschlossen irakische Politiker, eine Kommission mit der Überarbeitung des Verfassungstextes im Jahr 2006 zu beauftragen. Die Verfassung bestimmt, dass Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat ist. Die konkrete Ausgestaltung des Föderalismus bleibt dem Parlament vorbehalten, das im Dezember 2005 gewählt wurde. Nach langwierigen Koalitionsgesprächen wählte das irakische Parlament am 20. 05. 2006 Nuri Al-Maliki von der Schiitenallianz zum Ministerpräsidenten. Mit Antritt seiner Regierung war der politische Übergangsprozess im Irak formell beendet. 233

230 Human Rights Watch, Lessons on Terror, Attacks on Education in Afghanistan, Juli 2006 – www.humanrightswatch.org. 231 Lageberichte Afghanistan vom 13. 07. 2006, S. 9 –10, und vom 17. 03. 2007, S. 8 –9. 232 Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, S. 143 – 145.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Saddam Hussein musste sich seit dem 19. 10. 2005 – neben weiteren Repräsentanten der Diktatur – vor einem irakischen Sondergericht zur Aufarbeitung der Verbrechen des ehemaligen Regimes verantworten. In einem ersten Verfahren wegen der Tötung von 143 schiitischen Moslems 1982 in Dschulail wurde er am 06. 11. 2006 zum Tode verurteilt. 234 Am 30. 12. 2006 wurde das Todesurteil vollstreckt. Zu einer Verurteilung in einem zweiten Verfahren wegen der sog. AlAnfal-Kampagne gegen die kurdische Bevölkerung des Nordirak kam es daher nicht mehr. Ungeachtet der weitgehend planmäßigen Umsetzung des vorgesehenen formalen Demokratisierungsprozesses sowie der Festnahme von Saddam Hussein und nahezu der gesamten Führungsriege des ehemaligen Regimes hat sich die Sicherheitslage im Irak insbesondere in den zentral- und südirakischen Provinzen seit 2004 stetig verschlechtert. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen im Irak eskalieren nahezu täglich. In einem Klima allgegenwärtiger Gewalt haben sich zahlreiche neue Verfolgungsmechanismen herauskristallisiert, die sowohl von staatlicher irakischer Stelle, von den alliierten Streitkräften sowie von einer Vielzahl unterschiedlichster nichtstaatlicher Akteure ausgehen. Eines der gravierendsten Probleme ist die Unterwanderung der Polizei und Sicherheitskräfte durch Aufständische und einzelne Milizen. Den irakischen Sicherheitskräften und auch den alliierten Truppen werden systematische exzessive Gewaltanwendung und Massenverhaftungen, etwa im Rahmen militärischer Großoffensiven, vorgeworfen. 235 Innerhalb des schiitisch geführten Innenministeriums haben sich Todesschwadronen aus den Reihen der Sicherheitskräfte gebildet, die gezielt Sunniten töten oder spurlos verschwinden lassen. Irakische und kurdische Sicherheitskräfte einschließlich der multinationalen Kräfte halten Zehntausende Gefangene, teilweise in geheimen Haftzentren. Berichte von Folter und Gewalt bis hin zu Todesfällen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und der multinationalen Kräfte häufen sich. 236 Jenseits der Verwicklung irakischer staatlicher Stellen und der multinationalen Kräfte in gravierende Menschenrechtsverstöße hat jede Partei und Organisation inzwischen ihre eigenen Söldner, die für gezielte Morde und Vertreibungen im Irak verantwortlich sind. Seit dem Anschlag auf die den Schiiten heilige Moschee von Samarra am 22. 02. 2006 hat sich insbesondere das Konfliktpotenzial zwischen Sunniten und Schiiten dramatisch verschärft. Jede Seite ist für gezielte Ermordungen, Verschwindenlassen und Entführungen 233 Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Lagebericht Irak) vom 07. 08. 2003, 10. 06. 2005 und vom 29. 06. 2006. 234 Lageberichte Irak vom 29. 06. 2006 und vom 11. 01. 2007. 235 Lageberichte Irak vom 24. 11. 2005, 29. 06. 2006 und vom 11. 01. 2007; US State Department – Country Reports on Human Rights Practices – 2005; amnesty international, Beyond Abu Ghraib, März 2006. 236 US State Department – Country Reports on Human Rights Practices – 2005; amnesty international, Beyond Abu Ghraib, März 2006.

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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von Mitgliedern der anderen Seite sowie für zahlreiche Anschläge auf Moscheen der jeweils anderen Glaubensrichtung verantwortlich. Zwischen allen Fronten stehen religiöse bzw. ethnische Minderheiten wie Yeziden, Christen, Mandäer und Turkmenen. 237 Auch Frauen sind zunehmend geschlechtsspezifischer Verfolgung ausgesetzt, die sich in Tötungen, Entführungen, Genitalverstümmelungen, Säureattentaten bis hin zur weitgehenden Einschränkung der Bewegungsfreiheit und dem faktischen Ausschluss von Bildungseinrichtungen manifestiert. 238 Neben Ethnie, Religionszugehörigkeit und Geschlechtszugehörigkeit haben sich weitere Gefährdungsprofile entwickelt. Besonders gefährdet sind etwa ehemalige Angehörige der Elite des gestürzten Baath-Regimes, Polizisten, Soldaten, Intellektuelle, Ärzte, Politiker, Journalisten und selbst Berufsgruppen wie Friseure unter dem Aspekt, dass das Stutzen von Bärten gegen das religiöse Empfinden von Radikalen verstößt. 239 Weder die irakischen Regierungstruppen noch die Besatzungstruppen sind in der Lage, dieser Gewalt Einhalt zu bieten. Die Situation im Irak gleitet in Chaos und Bürgerkrieg ab mit der Gefahr eines völligen Zusammenbruchs der irakischen Regierung bis hin zum Staatszerfall und einer humanitären Katastrophe. 240 Die Zahl der Binnenvertriebenen liegt nach jüngsten Schätzungen schon jetzt bei mindestens 1,6 Millionen. 241 Der UNHCR nahm die dramatischen Entwicklungen der Sicherheitslage in Afghanistan und im Irak schon im April 2005 zum Anlass, in ausführlichen Hinweisen zur Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel bezogen sowohl auf afghanische als auch auf irakische Flüchtlinge Stellung zu nehmen. 242 Der UNHCR vertrat die Auffassung, dass weder im Irak noch in Afghanistan die Vor-

237 Lageberichte Irak vom 24. 11. 2005, 29. 06. 2006 und vom 11. 01. 2007; UNHCR, Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak, Oktober 2005 und Juni 2006; US State Department, Iraq-Country Reports on Human Rights Practices – 2005. 238 Lageberichte Irak vom 24. 11. 2005, 29. 06. 2006 und vom 11. 01. 2007; UNHCR, Anmerkungen zur gegenwärtigen Situation von Frauen im Irak, November 2005; US State Department, Iraq – Country Reports on Human Rights Practices – 2005. 239 Lageberichte Irak vom 24. 11. 2005, 29. 06. 2006 und 11. 01. 2007; US State Department, Iraq – Country Reports on Human Rights Practices – 2005. 240 Fürtig, Irak: Ein Modell externer Demokratisierung auf dem Prüfstand, IPG 2006, S. 46 –64; US Department of Defense, Measuring Stability and Security in Iraq, August 2006 – www.defenselink.mil; James Baker / Lee Hamilton, The Iraq Study Group Report, United States Institute of Peace, Dezember 2006 – www.usip.org.isg. 241 UNHCR, Irak- Massenexodus, doch kaum Geld für humanitäre Hilfe, Pressemitteilung vom 03. 11. 2006 – www.unhcr.de. 242 UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention („Wegfall der Umstände“-Klausel) auf irakische Flüchtlinge, vom 30. 04. 2005, AuAS 2005, S. 211 –216; UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention („Wegfall der Umstände“– Klausel) auf afghanische Flüchtlinge, vom 30. 04. 2005, www.unhcr-de.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

aussetzungen für eine Anwendung der Beendigungsklausel vorlägen. Beide Länder befänden sich inmitten einer Phase des politischen Umbruchs, der eine hinreichend sichere Prognose bezüglich der politischen Zukunft der Länder ausschließe. Auch von der erforderlichen Wiederherstellung nationalen Schutzes könne noch nicht ausgegangen werden. Bezogen auf den Irak wählte der UNHCR den bis dahin einmaligen Weg, über direkte Anschreiben an alle Verwaltungsgerichte der Bundesrepublik auf die Voraussetzungen für eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel und deren Nichtvorliegen bezogen auf den Irak nachdrücklich hinzuweisen. Es bestand daher für die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung wegen der massenweise eingehenden Widerrufsverfahren nicht nur umfangreich Gelegenheit, sondern im Hinblick auf die Zuspitzung der politischen Verhältnisse in den hauptsächlich betroffenen Herkunftsländern Afghanistan und Irak auch konkreter Anlass, sich mit der Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention erneut auseinander zu setzen. 2. Zäsur in rechtlicher Hinsicht In rechtlicher Hinsicht bedeutsam war, dass durch das Zuwanderungsgesetz ein Perspektivwechsel eingeleitet wurde, der sich insbesondere in der Neufassung des § 60 Abs. 1 Satz 1 des AufenthG manifestierte. Dort wurde nunmehr im Unterschied zum bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf die Genfer Flüchtlingskonvention Bezug genommen. Neben der Aufnahme geschlechtsspezifischer Verfolgung als Verfolgungsgrund erfolgte die Klarstellung, dass asylrelevante Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, ohne dass es auf die Existenz einer staatlichen Herrschaftsmacht ankommt. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich damit in einem wesentlichen Teilaspekt der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union – und weltweit – angeschlossen. 243 Die Aufnahme von nichtstaatlichen Akteuren als taugliche Verfolgungsakteure markiert die Abkehr der bisher insbesondere vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Zurechnungslehre im Bereich des Asylrechts. Anstelle der Perspektive des Verfolgers rückte nunmehr die Perspektive des Verfolgten in den Mittelpunkt. 244

243 Vgl. Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern – Zuwanderungsgesetz –, BT-Drucksache 15/420, S. 91. 244 UNHCR, Erste Bilanz von UNHCR zur Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes im Hinblick auf ausgewählte Fragen des Flüchtlingsschutzes und des subsidiären Schutzes, S. 2, www.unhcr.de.

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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3. Rechtsprechung seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes Im Gegensatz zu der erstinstanzlichen Rechtsprechung 245 verneinten allerdings sowohl das Bundesverwaltungsgericht als auch die meisten Oberverwaltungsgerichte einen grundlegenden Perspektivwechsel und gingen von einer weitgehenden Identität zwischen § 51 Abs. 1 AuslG und der Neuregelung in § 60 Abs. 1 AufenthG aus. 246 Für die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG blieben sowohl das Zuwanderungsgesetz als auch die damit bereits teilweise umgesetzte Qualifikationsrichtlinie in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung überwiegend bedeutungslos. Meist wurde weiterhin ohne eingehende Begründung davon ausgegangen, dass entweder § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG inhaltlich mit der Beendigungsklausel des Artikel 1 C (5) GFK übereinstimme, 247 oder aber die weitergehende Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel durch den UNHCR, wonach im Falle eines Widerrufs auch ein Schutz vor allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit bestehen müsse, wurde als politisches Ziel gewertet, das aber nicht der geltenden Rechtslage entspreche. 248 Einige erstinstanzliche Gerichte wählten bei der Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG aber einen neuen Ansatz. 249 Sie gingen davon aus, dass sich nach dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes und der Qualifikationsrichtlinie die maßgebliche Rechtslage entscheidungserheblich verändert habe. Ungeachtet des Umstandes, dass die Genfer Flüchtlingskonvention keine konkrete Regelung über den Widerruf und insbesondere über das Verfahren, in dem ein solcher Widerruf der Flüchtlingseigenschaft in Betracht komme, treffe, müsse der materielle Gehalt 245

Vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 31. 01. 2005 – 10 K 13481/04 –; VG Karlsruhe, Urteil vom 28. 04. 2005 – A 2 K 12160/03 –; VG Aachen, Urteil vom 28. 04. 2005 – 5 K 1587/ 03.A –; VG Köln, Urteil vom 17. 06. 2005 – 18 K 5407/01.A – alle zitiert nach Juris; weitere Hinweise in: Bank / Schneider, Durchbruch für das Flüchtlingsvölkerrecht? Eine Auswertung der deutschen Rechtsprechung zu den flüchtlingsrechtlichen Neuerungen des Zuwanderungsgesetzes, Beilage zum Asylmagazin 6/2006. 246 Vgl. BVerwG, Urteil vom 08. 02. 2005 – 1 C 29.03 – BVerwGE 122, S. 376 bis 389; BVerwG, Urteil vom 12. 07. 2005 – 1 C 22/04 – NVwZ 2006, S. 99 f.; OVG NRW, Urteil vom 12. 07. 2007 – 11 A 2307/03.A – Juris; OVG Sachsen, Urteil vom 02. 11. 2005 – A 1 B 492/03 –; OVG Thüringen, Urteil vom 18. 03. 2005 – 3 KO 611/99 –; Bay. VGH, Urteil vom 31. 01. 2005 – 11 B 02.31597 –, VGH Hessen, Beschluss vom 15. 09. 2005 – 3 UE 2381/04.A –. 247 Vgl. VG Göttingen, Urteil vom 26. 04. 2005 – 2 A 222/04 – Juris; Bay.VGH, Urteil vom 10. 05. 2005 – 23 B 05.30217 – Juris. 248 Vgl. VG Ansbach, Urteil vom 25. 01. 2005 – AN 4 K 04.31781 – Juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 01. 03. 2005 – 9 LA 46/05 – Juris. 249 Vgl. VG Köln, Urteil vom 10. 06. 2005 – 18 K 4074/04.A – NVwZ-RR 2006, S. 67 – 73; VG Schleswig, Urteil vom 30. 06. 2005 – 6 A 59/05 – Juris; VG München, Urteil vom 17. 08. 2005 – M 8 K 05.50119 – Juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 26. 10. 2005 – A 3 K 11212/04 – Juris.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

des Artikel 1 C (5) GFK bei der Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG berücksichtigt werden. In Übereinstimmung mit der Auslegung des UNHCR sei daher Voraussetzung für einen Widerruf, dass ein grundlegender, stabiler und dauerhafter Charakter der Veränderungen im Herkunftsstaat vorliege und unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt mehr eine andauernde politische Verfolgung unterstellt werden könne. Die Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen im Rahmen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG könne daher nicht spiegelbildlich auf den Wegfall der ursprünglich die Verfolgung begründenden Umstände beschränkt werden. In Übereinstimmung mit der „Wegfall der Umstände“-Klausel, die wortgleich in Artikel 11 Abs. 1 Buchst. e) der Qualifikationsrichtlinie übernommen worden sei, sei erforderlich, dass aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse von einem effektiven und dauerhaften Schutz vor erneuter politischer Verfolgung ausgegangen werden könne. Ein Widerruf komme dagegen nicht in Betracht, wenn sich der Staat oder andere Organismen als unfähig erwiesen, vor tatsächlicher oder drohender Verfolgung Schutz zu bieten. Gegenstand dieser Entscheidungen waren Widerrufe betreffend irakische Staatsangehörige. Auf der Grundlage der vorskizzierten Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG wurden die entsprechenden Widerrufsbescheide aufgehoben, da die Veränderung der politischen Verhältnisse im Irak noch keine dauerhafte tragfähige Lösung darstelle und die politische Zukunft des Irak angesichts gravierender Auseinandersetzungen in der irakischen politischen Führungsebene sowie einer zunehmenden Welle politischer Gewalt nicht vorausgesagt werden könne. Zudem wurde wegen der völlig unzureichenden Sicherheitslage im Irak die Rückkehr irakischer Flüchtlinge in ihren Herkunftsstaat als unzumutbar angesehen, so dass auch aus diesem Grunde die Widerrufsvoraussetzungen nicht vorlägen. Einen neuen Ansatz wählte auch das Verwaltungsgericht Dresden, indem es – allerdings ohne Bezugnahme auf die Qualifikationsrichtlinie – von einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Genfer Flüchtlingskonvention ausging und sich um eine eigenständige Auslegung von Art. 1 C (5) Satz 1 GFK unter Beachtung der Auslegungsgrundsätze der Art. 31, 32 der Wiener Vertragskonvention bemühte. 250 Auf dieser Grundlage gelangte es – anders als die vorgenannten erstinstanzlichen Gerichte – zu dem Ergebnis, dass die Auslegung des UNHCR in seinen Richtlinien zur Beendigung der Flüchtlingseigenschaft, die zwar wegen der Funktion des UNHCR als Auslegungshilfen heranzuziehen, aber nicht bindend seien, deutlich über den Wortlaut des Art. 1 C (5) GFK hinausgehe und auch nicht dem Sinn und Zweck der Genfer Flüchtlingskonvention entspreche. 251 Ebenso wie zuvor schon der Bayerische Verwaltungsgerichtshof 252 im Jahre 2004 ging das Verwaltungsgericht Dresden davon aus, dass die Worte „Schutz des Landes“ in 250

VG Dresden, Urteil vom 27. 05. 2005 – A 2 K 30684/04 – AuAS 2005, S. 207 –211,

208 f. 251

209.

VG Dresden, Urteil vom 27. 05. 2005 – A 2 K 30684/04 – AuAS 2005, S. 207 –211,

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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Art. 1 C (5) GFK keine andere Bedeutung hätten als in Art. 1 A (2) GFK und daher mit dem Wort „Schutz“ nur der Schutz vor politischer Verfolgung gemeint sei. Diese Auslegung werde auch durch Art. 1 C (5) Satz 2 GFK gestützt, der wiederum eine Ausnahme von Satz 1 darstelle. Schließlich widerspreche die Berücksichtigung allgemeiner Gefahren der individuellen Konzeption des Asyl- und Flüchtlingsrechts. Die Frage effektiven Schutzes im Sinne wirksamer staatlicher Schutzgewährleistung stelle sich demnach nur, wenn der Ausländer die begründete Gefahr einer entsprechenden Verfolgung im Herkunftsland geltend machen könne. 253 Andernfalls würde bei grundlegendem und dauerhaftem Wegfall der ursprünglichen Bedrohung allein die allgemeine, noch nicht für die Zukunft im Einzelnen absehbare Entwicklung in einem Land über die Beendigung der – wegen politischer Verfolgung – bestehenden Flüchtlingseigenschaft bestimmen. Es sei zu bezweifeln, dass diese weitergehenden Anforderungen dem Willen der Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention entsprochen hätten. Nur darauf komme es in rechtlicher Hinsicht an, denn nur die Genfer Flüchtlingskonvention in der von der Bundesrepublik unterzeichneten Fassung sei über die Zustimmung des Bundestages in deutsches Recht transformiert worden und könne rechtliche Bindungswirkung entfalten. 254 Wegen der allgemeinen Gefahrenlage verweist das Verwaltungsgericht Dresden schließlich die Iraker, denen der Flüchtlingsstatus entzogen wurde, in der Tradition der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf ausländerrechtliche Schutzmechanismen. 4. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 Eine entscheidende Zäsur in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 255 eingetreten. Die Entscheidung befasst sich mit der Rechtmäßigkeit eines Widerrufsbescheides, der gegen einen im Jahre 1991 anerkannten Asylberechtigten aus Afghanistan ergangen war. Der Kläger des Verfahrens war 1989 als 16jähriger aus Afghanistan ausgereist und hatte sich auf eine Verfolgung durch das damalige kommunistische Regime berufen. Er sei für die Organisation Jamiat-e-Islami als Verbindungsmann tätig gewesen und habe Bücher, Flugblätter und Videokassetten transportiert. Sein Bruder sei verhaftet worden. Bei einer anschließenden Hausdurchsuchung habe 252 s. oben 4. Kapitel, A.I., Bay.VGH, Beschluss vom 06. 08. 2004 – 15 ZB 04.30565 – InfAuslR 2005, S. 43 – 44. 253 VG Dresden, Urteil vom 27. 05. 2005 – A 2 K 30684/04 – AuAS 2005, S. 207 –211, 209. 254 VG Dresden, Urteil vom 27. 05. 2005 – A 2 K 30684/04 – AuAS 2005, S. 207 –211, 210. 255 Vgl. BVerwG, Urteil vom 01. 11. 2005 – 1 C 21/04 – BVerwGE 124, S. 276 –292.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

man auch ihn und seinen Vater mitgenommen. Nach 25 Tagen Haft, während der er gefoltert worden sei, sei er wieder freigelassen worden. Drei Tage später habe er gesehen, dass das Haus vom Geheimdienst umstellt gewesen sei. Deshalb habe er Kabul verlassen. Der im Jahre 1991 ergangene Anerkennungsbescheid wurde im Jahr 2000 widerrufen. Zur Begründung führte das Bundesamt u. a. aus, die erforderliche Prognose einer drohenden politischen Verfolgung lasse sich nicht mehr treffen, nachdem in Afghanistan keine der Verfolgung fähige staatliche oder staatsähnliche Gewalt mehr vorhanden sei. Mit der hiergegen gerichteten Klage machte der Kläger u. a. geltend, er habe im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Angst davor, dass er seine Gegner nicht mehr erkennen würde, diese sich aber an ihn erinnerten, um Vergeltung zu üben. Nachdem die hiergegen gerichtete Klage in den Vorinstanzen erfolglos geblieben war, hob das Bundesverwaltungsgericht das angefochtene Urteil auf und verwies den Rechtsstreit an das Oberverwaltungsgericht zurück. In der Entscheidung stellt das Bundesverwaltungsgericht zunächst – entgegen der überwiegenden Tendenz insbesondere der Obergerichte – mit aller Deutlichkeit klar, dass § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG seinem Inhalt nach der Beendigungsoder „Wegfall der Umstände“-Klausel in Art. 1 C (5) Satz 1 GFK entspricht. Der Gesetzgeber habe mit der Schaffung der im Wesentlichen gleichlautenden Bestimmung des § 16 Abs. 1 AsylVfG 1982 ersichtlich die materiellen Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention übernehmen und als Widerrufsgründe ausgestalten wollen. Soweit daher Art. 1 C (5) Satz 1 GFK heranzuziehen sei, seien bei der Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention die Artikel 31 ff. WVRK zwar nicht unmittelbar, aber als Ausdruck allgemeiner Regeln des Völkerrechts anwendbar. Nach Artikel 31 Abs. 1 WVRK sei ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zwecks auszulegen. Das Bundesverwaltungsgericht gelangt sodann zu dem Ergebnis, dass „Wegfall der Umstände“ im Sinne von Artikel 1 C (5) Satz 1 GFK – ebenso wie im Rahmen von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG – eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse meine. Unter „Schutz“ sei nach Wortlaut und Zusammenhang der Beendigungsklausel ausschließlich der Schutz vor erneuter Verfolgung zu verstehen. Der Begriff „Schutz des Landes“ in der Beendigungsklausel habe keine andere Bedeutung als „Schutz dieses Landes“ in Artikel 1 A (2) GFK, der die Flüchtlingseigenschaft definiere. Statt einer eigenen Begründung verweist es an dieser Stelle auf die oben ausführlich dargestellten Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts Dresden. 256 Auf der Grundlage des von ihm im Wesentlichen zitierten Handbuchs des UNHCR kommt das Bundesverwaltungsgericht sodann zu dem Schluss, dass „allerdings feststehen müsse, 256

s. oben Kap. 4, I, 1 und 2 Buchst. c).

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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dass ihm (dem Ausländer) bei einer Rückkehr nunmehr auch nicht aus anderen Gründen Verfolgung droht“. Allgemeine Gefahren wie z. B. aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage seien beim Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht zu prüfen. Das Bundesverwaltungsgericht wendet sich hier ausdrücklich gegen die anders lautende Auffassung in den UNHCR-Richtlinien, die es allerdings nur in einem Klammerzusatz erwähnt, ohne sich damit im Einzelnen auseinander zu setzen. Im Falle allgemeiner Gefahren könne Schutz nach den allgemeinen Bestimmungen des deutschen Ausländerrechts gewährt werden, also insbesondere durch die Feststellung von Abschiebungshindernissen oder entsprechende Erlasse nach § 60a AufenthG. Die Zurückverweisung an die Vorinstanz erfolgte im Wesentlichen deshalb, weil dort eine mögliche Verfolgung des Klägers durch nichtstaatliche Akteure nicht hinreichend geprüft worden war. Die nach einer vorausgegangenen Pressemitteilung mit Spannung erwarteten Entscheidungsgründe unterscheiden sich wesentlich von vorangegangenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Noch in der ein Jahr zuvor – nach dem Sturz von Saddam Hussein – ergangenen Entscheidung betreffend den Widerruf der Asylanerkennung irakischer Staatsangehöriger aus dem Jahre 2004 257 hatte sich das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen auf die Feststellung beschränkt, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf eindeutig vorlägen, da das Regime von Saddam Hussein gestürzt sei und auch nicht mit seiner Reinstallierung gerechnet werden könne. Eine politische Verfolgung – im Zeitpunkt der Entscheidung noch im Sinne staatlicher Verfolgung – komme daher nicht mehr in Betracht. Nunmehr stellte das Bundesverwaltungsgericht als Ausgangspunkt zur Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG klar, dass diese Vorschrift der „Wegfall der Umstände“-Klausel nachgebildet sei. Damit öffnete das Bundesverwaltungsgericht – entgegen anderer Tendenzen der Obergerichte – den Weg für eine völkerrechtliche Auslegung und wies für die dabei anzuwendenden Grundsätze erstmals im Zusammenhang mit § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf das Wiener Vertragsrechtsübereinkommen hin. Unter Bezugnahme auf das Handbuch des UNHCR, das auszugsweise wörtlich wiedergegeben wird, trifft die Entscheidung – losgelöst von der Frage des anzuwendenden Maßstabs – die folgende Feststellung: „Nach alledem kann ein Ausländer nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 GFK nicht mehr ablehnen, den Schutz des Staates seiner Staatsangehörigkeit (wieder) in Anspruch zu nehmen. Dazu muss allerdings feststehen, dass ihm bei einer Rückkehr nunmehr auch nicht aus anderen Gründen Verfolgung droht.“ 258

257 258

284.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. 08. 2004 – 1 C 22/03 – Juris. Vgl. BVerwG, Urteil vom 01. 11. 2005 – 1 C 21/04 – BVerwGE 124, S. 276 –92,

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Die Bedeutung dieser letztgenannten Wendung blieb offen. Auf die Frage des anzuwendenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabes für den Fall, dass etwaige neue Verfolgungsmaßnahmen keinerlei Verknüpfung mehr mit den früher geltend gemachten Verfolgungsgründen hatten, schien sie sich nicht zu beziehen, da diese Frage vom Bundesverwaltungsgericht zuvor in den Entscheidungsgründen ausdrücklich offen gelassen worden war. Der zugrundeliegende Sachverhalt enthielt auch wenig konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan erneut Verfolgung drohen könnte. Der Kläger hatte Afghanistan schon 1989 als Minderjähriger verlassen und machte im Widerrufsverfahren geltend, dass ehemalige Gegner sich möglicherweise an ihn erinnerten, obwohl er sie nicht mehr erkennen würde. Die Möglichkeit einer dem Kläger im Falle einer Rückkehr erneut drohenden Verfolgung – auch durch nichtstaatliche Akteure – war daher eher spekulativer Natur. Nach der systematischen Stellung dieser Formulierung im Kontext der Entscheidungsgründe war naheliegend, dass sie im Zusammenhang mit dem Charakter der eingetretenen politischen Veränderungen im Herkunftsland stand. Welche Folgerungen im Einzelnen sich daraus für die Beurteilung von Art und Ausmaß dieser Veränderungen sowie deren Dauer und Stabilität ergaben, war jedoch nicht näher umschrieben. Hierzu konnten Rückschlüsse allenfalls daraus gezogen werden, dass das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis auf die anderslautende Auffassung der UNHCR-Richtlinien die Berücksichtigung allgemeiner Gefahren im Herkunftsstaat auf den Bereich des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG verwies. Aber auch an dieser Stelle waren die Entscheidungsgründe nicht eindeutig, denn als anderslautende Auffassung der UNHCR-Richtlinien wurde an dieser Stelle auf das Erfordernis einer angemessenen Infrastruktur, innerhalb derer die Einwohner ihre Rechte ausüben können, einschließlich ihres Rechts auf eine Existenzgrundlage hingewiesen. Es war daher nicht zweifelsfrei, ob das Bundesverwaltungsgericht an dieser Stelle nur solche allgemeinen Gefahren in den Bereich des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG verweisen wollte, die sich auf die wirtschaftlichen und sozialen Existenzbedingungen bezogen, oder ob dies auch für Gefahren für Leib, Leben und Freiheit infolge einer noch unzureichenden allgemeinen Sicherheitslage wegen – völlig oder partiell – fehlender Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gelten sollte. Hierüber gaben auch die in einem Klammerzusatz aufgeführten Beispiele für allgemeine Gefahren, nämlich solche auf Grund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage, keinen eindeutigen Aufschluss. Zudem war der Rechtsstreit wegen der Aufnahme von nichtstaatlichen Verfolgungsakteuren in § 60 Abs. 1 AufenthG an die Vorinstanz zurückverwiesen worden. Eine abschließende und umfassende Antwort auf die Frage, ob die Situation in Afghanistan im Zeitpunkt der Entscheidung die Voraussetzungen für die Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel der GFK erfüllte, gab das Bundesverwaltungsgericht demnach nicht. Im Schrifttum wurde die Entscheidung denn auch als „klares Jein“ des Bundesverwaltungsgerichts zum Völkerrecht gewertet.“ 259

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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5. Entwicklung der Rechtsprechung seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 Obwohl die Entscheidung vom 01. 11. 2005 zahlreiche Fragen offen ließ, hat das Bundesverwaltungsgericht seitdem keine weitere Entscheidung zu der Frage der Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG getroffen. In zahlreichen nachfolgenden Verfahren hat es Revisionszulassungsbeschwerden, die auf eine weitere Klärung des materiellen Gehalts des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gerichtet waren, unter Hinweis darauf abgelehnt, dass alle aufgeworfenen Fragen bereits durch die Entscheidung vom 01. 11. 2005 hinreichend geklärt seien. 260 Aussagen zu der Frage, ob gegebenenfalls durch die Qualifikationsrichtlinie eine Neubewertung erfolgen müsse, hat das Bundesverwaltungsgericht zunächst mit dem Hinweis auf die fehlende Darlegung der Entscheidungsrelevanz vermieden. 261 Nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. 10. 2006 hat es darüber hinaus – nach entsprechenden Andeutungen in vorausgegangenen Beschlüssen 262 – wiederum in Verfahren betreffend irakische Staatsangehörige die Auffassung vertreten, dass gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie die Anwendung des Art. 11 auf nach dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellte Schutzanträge beschränkt sei. 263 Immerhin ist aber deutlich erkennbar, dass das Bundesverwaltungsgericht eine erneute Befassung mit der Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unter spezifischer Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie auch zukünftig in der Sache für nicht erforderlich hält. 259 Löhr / Pelzer, Rückwirkende Abschottung – Widerruf der Flüchtlingsanerkennung wider das Völkerrecht, ForumRecht 2006, S. 56 – 59. 260 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. 02. 2006 – 1 B 120/05 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 322; BVerwG, Beschluss vom 28. 06. 2006 – 1 B 136/05, 1 B 136/05 (1 PKH 36/05) – Juris; BVerwG, Beschluss vom 12. 10. 2006 – 1 B 6/06, 1 B 6/06 (1 PKH 2/ 06) – Juris; BVerwG, Beschluss vom 18. 10. 2006 – 1 B 174/06 – Juris; BVerwG, Beschlüsse vom 27. 10. 2006 – 1 B 149/06, 1 B 149/06 (1 PKH 49/06) und 1 B 184/06 – Juris. 261 BVerwG, Beschluss vom 15. 02. 2006 – 1 B 120/05 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 322; BVerwG, Beschluss vom 11. 08. 2006 – 1 B 105/06 – Juris; BVerwG, Beschluss vom 30. 10. 2006 – 1 B 190/06 – Juris. 262 BVerwG, Beschluss vom 12. 10. 2006 – 1 B 6/06, 1 B 6/06 (1 PKH 2/06) – Juris; BVerwG, Beschluss vom 13. 12. 2006 – 1 B 235/06 – Juris; BVerwG, Beschluss vom 22. 12. 2006 – 1 B 273/06, 1 B 273/06 (1 PKH 80/06) – Juris. 263 BVerwG, Urteil vom 20. 03. 2007 – 1 C 21.06 – AuAS 2007, S. 164 –167, 167; BVerwG, Beschluss vom 29. 03. 2007 – 1 B 104/05 – Juris; Vorrangig betreffen die erstgenannten Urteile die Frage der Anwendbarkeit des § 73 Abs. 2a AsylVfG auf den Widerruf von vor dem 01. 01. 2005 erfolgte Anerkennungen. Durch den mit dem Zuwanderungsgesetz in § 73 AsylVfG neu eingeführten Absatz 2a wurde eine Regelüberprüfung von Asylanerkennungen spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung eingeführt. Ist nach der Prüfung ein Widerruf oder eine Rücknahme nicht erfolgt, so steht eine spätere Entscheidung über den Widerruf bzw. die Rücknahme im Ermessen des Bundesamtes. Diese Frage soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden, da es sich dabei ausschließlich um eine Frage des nationalen Verfahrensrechts ohne jegliche Bezüge zur Genfer Flüchtlingskonvention oder zur Qualifikationsrichtlinie handelt.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Es hat hierzu ausgeführt: „Auch zeigt sie (Anm. der Verf.: die Beschwerde) nicht auf, inwiefern Art. 11 Abs. 1 Buchst. e RL 2004/83/EG, der insoweit in wortgleicher Übereinstimmung mit Art. 1 C Nr. 5 GFK zu berücksichtigen sei, eine bisher nicht bedachte oder erneut klärungsbedürftige Auslegungsfrage zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG aufwerfen soll, nachdem das Bundesverwaltungsgericht in der zitierten Grundsatzentscheidung vom 01. 11. 2005 ausdrücklich auf Art. 1 C Nr. 5 GFK eingegangen ist und unter Berücksichtigung dieser Bestimmung den vom Berufungsgericht angewandten Maßstab für den Widerruf gebildet hat.“ 264 In einem Verfahren betreffend den Widerruf der Anerkennung irakischer Christen hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 18. 07. 2006 über die Bezugnahme auf sein Grundsatzurteil vom 01. 11. 2005 hinaus die dort noch offen gelassene Frage entschieden, welcher Prognosemaßstab beim Widerruf gilt, wenn für die Zukunft befürchtete Verfolgungsmaßnahmen keinerlei Verknüpfungen mehr mit den früheren Maßnahmen aufweisen, die zu einer Anerkennung geführt haben. Das Bundesverwaltungsgericht stellt hierzu fest, dass im Falle des Fehlens jeglicher Verknüpfung zwischen früheren Verfolgungsmaßnahmen und einer etwa zukünftig befürchteten Verfolgungsmaßnahme der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen sei. 265 Dies hat in Situationen wie im Irak und Afghanistan, in denen der gewaltsame Umsturz zumindest zur vorläufigen Vertreibung der vormaligen Verfolgungsakteure von den Schalthebeln der Macht führte, zur Folge, dass alle neu entstandenen Risiken für Einzelne oder Gruppen wie etwa religiöse und ethnische Minderheiten demselben Prüfprogramm wie im Erstverfahren unterliegen. Dabei haben Flüchtlinge, die seit Jahren bereits mit einem förmlichen Flüchtlingsstatus in der Bundesrepublik leben, praktisch keine Möglichkeiten zu einem detaillierteren Vortrag bezüglich ihnen im Falle einer Rückkehr drohender Gefahren, da ihre Kenntnisse über die politischen Verhältnisse in ihren Herkunftsländern kaum über die allgemeinen, durch Auskünfte und Medien vermittelten Erkenntnisse hinausgehen. Durch dieses zweite Grundsatzurteil hat das Bundesverwaltungsgericht den Rechtsstreit wiederum an die Vorinstanz zurückverwiesen, allerdings mit der nicht spezifisch die Widerrufsproblematik betreffenden Frage, welche Anforderungen an die Annahme einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu stellen sind. Es kann daher der Schluss gezogen werden, dass das Bundesverwaltungsgericht durch sein Urteil vom 01. 11. 2005 als grundsätzlich geklärt ansieht, dass bei der Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG Art. 1 C (5) GFK und – jedenfalls für nach Inkrafttreten der Richtlinie gestellte Schutzanträge – auch Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen sind, im Übrigen aber

264 265

1422.

BVerwG, Beschluss vom 13. 12. 2006 – 1 B 235/06 – Juris. Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. 07. 2006 – 1 C 15/05 – NVwZ 2006, S. 1420 –1423,

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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für den Widerruf keine andersartigen oder strengeren Anforderungen gelten als für die Anerkennung. 266 Auf dieser vom Bundesverwaltungsgericht vorgezeichneten Linie entscheiden seitdem nahezu ausnahmslos alle Oberverwaltungsgerichte und erstinstanzlichen Gerichte. Einhellig wird nunmehr davon ausgegangen, dass Art. 1 C (5) Satz 1 GFK für die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG heranzuziehen ist. Sodann wird in Übereinstimmung mit den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätzen angenommen, dass die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG dann vorliegen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Heimatstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit – erneut Verfolgung droht. Fragen der Zumutbarkeit der Rückkehr insbesondere im Hinblick auf allgemeine Gefahren in Folge einer unzureichenden Sicherheitslage werden ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG berücksichtigt. 267 Die Rechtmäßigkeit der Widerrufsbescheide betreffend irakische Staatsangehörige wird im Wesentlichen mit der Begründung bestätigt, dass der Sturz des Regimes von Saddam Hussein eine grundlegende Veränderung der politischen Situation im Irak darstelle und diese Entmachtung von Saddam Hussein auch unumkehrbar sei. Die im Irak im Zeitpunkt der genannten Entscheidungen herrschenden bürgerkriegsähnlichen Umstände werden ausschließlich unter dem Aspekt der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG geprüft. 268 Dabei wird das Vorliegen eines derartigen Abschiebungsverbotes regelmäßig mit Rücksicht darauf verneint, dass auf Länderebene durch die gegenwärtige allgemeine Erlasslage eine Abschiebung nicht stattfinde und deshalb den Verwaltungsgerichten eine Entscheidung im Einzelfall aufgrund der vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung angenommenen Sperrwirkung der Erlasse 269 verwehrt sei. Soweit in den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen die Qualifikationsrichtlinie Erwähnung findet, geschieht dies – wiederum unter Bezugnahme auf das Bundesverwaltungsgericht – nur in Form der Feststellung, dass sich auch 266 Beck, Widerruf von Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, jurisPR–BVerwG 11/2006 vom 29. 05. 2006, Anmerkung 1. 267 Vgl. Bay.VGH, Urteil vom 22. 03. 2006 – 13 aB 05.30749 – Juris; OVG NRW, Urteil vom 04. 04. 2006 – 9 A 3590/05.A – Juris; VGH Baden Württemberg, Urteile vom 04. 05. 2006 – A 2 S 1122/05 und A 2 S 1046/05 – Juris, sowie vom 21. 06. 2006 – A 2 S 571/ 05 – Juris; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18. 05. 2006 – 1 LB 117/05 – Juris; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19. 05. 2006 – 10 A 10795/05 – Juris, vom 11. 08. 2006 – 10 A 10783/05 – Juris, und vom 10. 10. 2006 – 10 A 10785/05.OVG – Juris. 268 anders soweit ersichtlich nur: VG Köln, Urteil vom 24. 03. 2006 – 18 K 6200/ 05.A – Juris. 269 Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. 07. 2001 – 1 C 5.01 – BVerwGE 115, S. 1,4 f..

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

aus ihr keine weitergehenden Einschränkungen des Widerrufsrechts nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ergäben. 270 Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bisher in der verwaltungsgerichtlichen Praxis fast vollständig unterblieben, wenngleich vereinzelt eine gewisse Unzufriedenheit durchscheint. So hat sich etwa das OVG Rheinland-Pfalz 271 der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aus Gründen der Rechtssicherheit angeschlossen. Die Entscheidungen des OVG Rheinland-Pfalz unterscheiden sich von den Entscheidungen der meisten anderen Oberverwaltungsgerichte dadurch, dass die politische Situation im Irak unter umfangreicher Auswertung vorhandener Erkenntnismittel sehr ausführlich und wirklichkeitsnah dargestellt wird. Der Prozess der demokratischen Neugestaltung des Irak sei von „ungeheurer Gewalt, Terror und Instabilität begleitet“ und es sei nicht ausgeschlossen, dass der Irak bald zu den „gescheiterten Staaten gehört, die praktisch nur noch auf dem Papier stehen und tatsächlich in Chaos und Anarchie verfallen“. 272 Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG wird aber dennoch bejaht, da die Herrschaft von Saddam Hussein eine persönliche Diktatur gewesen sei und dessen Wiederkehr – ebenso wie die der sein Regime tragenden Personen – an die Macht ausgeschlossen sei. Eine kritische Auseinandersetzung mit den rechtlichen Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts unterbleibt aber auch hier, obwohl aus der Wendung „aus Gründen der Rechtssicherheit“ geschlossen werden kann, dass das OVG Rheinland-Pfalz das vom Bundesverwaltungsgericht gefundene Auslegungsergebnis zumindest für angreifbar hält. Auch die seit den maßgeblichen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts am 10. 10. 2006 eingetretene Rechtsänderung infolge des Ablaufs der Umsetzungsfrist für die Qualifikationsrichtlinie veranlasst das OVG Rheinland-Pfalz in seiner letzten Entscheidung vom gleichen Datum nicht zu weiteren rechtlichen Erwägungen. Es begnügt sich vielmehr mit dem Hinweis, dass das Bundesverwaltungsgericht „eindeutig zu erkennen gegeben hat, dass daraus jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Widerrufsrecht nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht eingeschränkt ist“, obwohl es zutreffend feststellt, dass das Bundesverwaltungsgericht selbst in der Entscheidung vom 01. 11. 2005 auf die Qualifikationsrichtlinie gar nicht ausdrücklich zu sprechen gekommen ist. 273 270

Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteile vom 19. 05. 2006 – 10 A 10795/05 – Juris, vom 11. 08. 2006 – 10 A 10783/05 – Juris, und vom 10. 10. 2006 – 10 A 10785/05.OVG – Juris; VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 04. 05. 2006 – A 2 S 1122/05 – Juris, und vom 21. 06. 2006 – A 2 S 571/05 – Juris. 271 Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteile vom 19. 05. 2006 – 10 A 10795/05 – Juris, und vom 10. 10. 2006 – 10 A 10785/05.OVG – Juris. 272 Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. 10. 2006 – 10 A 10785/05.OVG – Juris, S. 21 und 23 des amtlichen Umdrucks. 273 Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. 10. 2006 – 10 A 10785/05.OVG – Juris, S. 8 des amtlichen Umdrucks.

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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Das OVG des Saarlandes 274 bekundet in einer Entscheidung betreffend den Widerruf der Anerkennung eines irakischen Staatsangehörigen zwar offen Sympathie für die Ansicht des UNHCR, nach der eine instabile Lage, wie sie im Irak herrscht, einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ausschließe. Es betrachtet diese als rechtspolitisch vorzugswürdig. Der UNHCR wird – häufig in einem Atemzug mit amnesty international – als „kritische Flüchtlingshilfeorganisation“ bezeichnet und dessen Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) GFK auf irakische Flüchtlinge 275 werden in den Entscheidungsgründen genannt. 276 Auf die dort geforderte Stabilisierung der Verhältnisse komme es aber nicht an. Nach innerstaatlichem Recht wird dies unter Hinweis auf die Afghanistan-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2000 277 damit begründet, dass es einerseits im Asylrecht für die Annahme eines verfolgungsmächtigen Staates im Asylrecht weniger auf abstrakte staatstheoretische Begriffsmerkmale ankomme und zugunsten des Flüchtlings nur geringe Anforderungen an das Vorliegen eines Staates zu stellen seien, wobei in Bürgerkriegsfällen ein Kernterritorium ausreiche. In diesem Sinne sei der Irak also eindeutig ein Staat. Andererseits sei nach dieser Verfassungsrechtsprechung das Grundrecht des Asyls nicht in der Lage, auch einen effektiven Schutz vor politisch und wirtschaftlich instabilen Verhältnissen oder sogar vor anarchischen Zuständen mit Auflösung der Staatsgewalt zu gewähren. 278 Dieser innerstaatliche Argumentationsstrang des OVG Saarland ist in hohem Maße problematisch, da hier die Voraussetzungen für die Asylgewährung einerseits und deren Widerruf andererseits miteinander vermischt werden und zudem das die Argumentation tragende Begriffsmerkmal der Staatlichkeit der Verfolgung seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes und der Aufnahme der nichtstaatlichen Akteure als verfolgungsmächtige Akteure in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG obsolet geworden ist. Des weiteren hält das OVG Saarland die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für sowohl völkerrechtskonform als auch europarechtskonform. Die dort vorgenommene systematische Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention sei überzeugend. Zur Begründung dafür gibt das OVG Saarland fast ausschließlich die entsprechenden Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in der Entscheidung vom 01. 11. 2005 wieder und fügt diesen als einzigen eigenständigen Auslegungsgesichtspunkt hinzu, dass auch die Regelung für Staatenlose in Art. 1 C (6) der GFK keine Schutzklausel enthalte. Dies könne schwerlich bedeuten, dass damit Staatenlosen der sonst zu 274

Vgl. OVG Saarland, Urteil vom 29. 09. 2006 – 3 R 6/06 – Juris. UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention („Wegfall der Umstände“–Klausel) auf irakische Flüchtlinge, vom 30. 04. 2005, AuAS 2005, S. 211 – 216. 276 Vgl. OVG Saarland, Urteil vom 29. 09. 2006 – 3 R 6/06 – Ziff. 90 –94, 180 – Juris. 277 BVerfG, Beschluss vom 10. 08. 2000 – 2 BvR 260/98, 2 BvR 1353/98 – NVwZ 2000, S. 1165 – 1167. 278 Vgl. OVG Saarland, Urteil vom 29. 09. 2006 – 3 R 6/06 – Ziff. 52 –106 – Juris. 275

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

gewährende effektive Schutz entzogen werde. Diese Regelung spreche daher dafür, dass mit dem völkerrechtlichen Begriff „Schutz“ nur der prinzipielle Schutz des Herkunftsstaates für seine Staatsangehörigen gemeint sei, der naturgemäß nicht auf Staatenlose übertragen werden könne. 279 Aus der wörtlichen Übernahme der „Wegfall der Umstände“-Klausel der Genfer Flüchtlingskonvention in die Qualifikationsrichtlinie schließt das OVG Saarland sodann auf die inhaltliche Übereinstimmung beider Regelungen im Sinne des vom Bundesverwaltungsgerichts gefundenen Auslegungsergebnisses. Dieses Auslegungsergebnis sieht das OVG Saarland durch Art. 11 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie bestätigt. Wenn es dort heiße, dass die Mitgliedstaaten zu untersuchen hätten, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sei, bedeute dies, dass der Schwerpunkt der Prüfung auf die Veränderung selbst gelegt werde und nicht auf stabile Verhältnisse. 280 Diese Rechtsprechung hat das OVG Saarland in einer weiteren Entscheidung betreffend den Widerruf der Anerkennung eines serbisch-montenegrinischen Staatsangehörigen aus dem Kosovo bestätigt. 281 Über die zuvor dargestellten wesentlichen Entscheidungsgründe in dem Urteil betreffend den Irak führt das OVG Saarland in dieser weiteren Entscheidung aus, dass bei einer lediglich rein am Wortlaut orientierten Auslegung des Art. 1 C (5) GFK angenommen werden könnte, dass eine Beendigung der Flüchtlingseigenschaft für Flüchtlinge aus dem Kosovo, die vor serbischer Verfolgung geflohen sind, deshalb nicht in Betracht komme, weil der Kosovo unter vorübergehender Verwaltung der Vereinten Nationen stehe und der serbisch-montenegrinische Staat dort derzeit keine Machtbefugnisse innehabe. Die Beschränkung auf die bloße Wortauslegung verfehle aber ganz offensichtlich den sachlichen Regelungsgehalt von Art. 1 C (5) GFK. Auch nach der Rechtsauffassung des Flüchtlingskommissars, wie sie im Handbuch des UNHCR unter den dortigen Ziffern 111 und 115 erläutert sei, solle internationaler Schutz nicht mehr gewährt werden, wo er nicht mehr gerechtfertigt sei, weil die Gründe für die Entstehung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr bestünden. Unter Zugrundelegung dieses Schutzzwecks reiche es daher aus, dass der Flüchtling in das Land seiner Staatsangehörigkeit zurückkehren könne und dort vor der politischen Verfolgung, derentwegen er sein Heimatland verlassen habe, hinreichend sicher sei. Dieser Schutz müsse nicht notwendig durch die Regierung seines Heimatlandes gewährt werden, sondern es reiche aus, wenn der Schutz aufgrund einer UN-Resolution für eine Übergangszeit von einer von ihr legitimierten Verwaltung gewährleistet werde. 282 Auch die letztgenannten obergerichtlichen Entscheidungen, bei denen zumindest eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Ergebnis durchscheint, unternehmen 279 280 281 282

Vgl. OVG Saarland, Urteil vom 29. 09. 2006 – 3 R 6/06 – Ziff. 108 –120 – Juris. Vgl. OVG Saarland, Urteil vom 29. 09. 2006 – 3 R 6/06 – Ziff. 124 –134 – Juris. OVG Saarland, Beschluss vom 01. 12. 2006 – 3 Q 126/06 – Juris. OVG Saarland, Beschluss vom 01. 12. 2006 – 3 Q 126/06 – Ziff. 11, Juris.

A. Die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG

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nicht den Versuch einer umfassenden eigenständigen völkerrechtlichen Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel. Die Qualifikationsrichtlinie findet allenfalls insoweit Beachtung, als die dortige wortgleiche Übernahme der „Wegfall der Umstände“-Klausel als Bestätigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gewertet wird. Eine Ausnahme bildet bislang nur eine erstinstanzliche – nicht rechtskräftige – Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln, das die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 und die nachfolgende Entwicklung der Rechtsprechung zum Anlass genommen hat, seine bereits zuvor vertretene Position argumentativ zu vertiefen. 283 In dem Verfahren eines irakischen Staatsangehörigen setzt es der Auslegung des Bundesverwaltungsgericht eine eigenständige völkervertragsrechtliche Auslegung des Art. 1 C (5) GFK unter ausführlicher Auseinandersetzung mit der völkerrechtlichen Lehre und der Staatenpraxis gegenüber. Auf dieser Grundlage stellt es hinsichtlich der „Wegfall der Umstände“-Klausel des Art. 1 C (5) GFK fest, dass außerhalb der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Flüchtlingsrecht eine völlige Übereinstimmung über eine – von derjenigen des Bundesverwaltungsgerichts abweichende – Auslegung und Anwendung dieser Klausel hinsichtlich der Art und des erforderlichen Maßes der politischen Veränderungen im Herkunftsland eines – anerkannten – Flüchtlings besteht. Danach seien derartig tiefgreifende Veränderungen erforderlich, dass generell vormalige Machtstrukturen, unter denen sich die Verfolgung ereignete, weggefallen seien. Die Veränderungen müssten gleichzeitig dauerhaft und stabil sein in dem Sinne, dass der Prozess der politischen Veränderung weitgehend abgeschlossen und zu neuen – prinzipiell verfolgungsfreien – Machtstrukturen geführt habe. Es müsse sich ein neues politisches System und Klima entwickelt haben, in dem demokratische Strukturen bestünden und eine allgemeine, substantielle Verbesserung der Menschenrechtssituation eingetreten sei. Situationen, die nach wie vor von anhaltenden, gewaltsam ausgetragenen Machtkämpfen geprägt seien, deren Ausgang unklar sei, seien daher nicht als stabil zu bezeichnen. Ob die Bundesrepublik an diese Auslegung bereits nach völkervertragsrechtlichen Grundsätzen gebunden ist, lässt das Verwaltungsgericht Köln allerdings offen. Stattdessen wählt es im Hinblick auf Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der Qualifikationsrichtlinie den Weg einer richtlinienkonformen Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung misst es der völkerrechtlichen Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel wiederum maßgebliche Bedeutung zu. Denn es liege nahe, dass die bei der Schaffung der Qualifikationsrichtlinie einheitliche Auslegung dieser Klausel im internationalen Flüchtlingsrecht in deren Regelungen mit eingeflossen sei, jedenfalls soweit sie Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention nachzeichne bzw. wortgleich übernehme. Zudem habe die 283

VG Köln, Urteil vom 12. 01. 2007 – 18 K 3234/06.A – Juris, in Fortsetzung zu: VG Köln, Urteil vom 10. 06. 2005 – 18 K 4074/04.A – NVwZ-RR 2006, S. 67 –73.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Europäische Kommission in ihrem Vorschlag für die Qualifikationsrichtlinie zu der entsprechenden Regelung des Art. 13 Abs. 1 Buchst. e) des Entwurfs ausdrücklich auf die Position des UNHCR und die Staatenpraxis Bezug genommen und in Übereinstimmung damit klarstellend erläutert, wann von einer maßgeblichen Veränderung der Umstände auszugehen sei bzw. welche Mindestvoraussetzungen für deren Annahme vorliegen müssten. Auf der Grundlage dieser Auslegung liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf von Flüchtlingsanerkennungen im Falle des Irak nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Köln nicht vor.

III. Zwischenergebnis Ungeachtet der zuletzt genannten erstinstanzlichen Entscheidung und des dort unternommenen Versuchs einer Neuorientierung scheint der Weg der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung im Sinne des Bundesverwaltungsgerichts vorgezeichnet. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entspricht seinem Inhalt nach der Beendigungsoder „Wegfall der Umstände“-Klausel in Art. 1 C (5) Satz 1 GFK. Eine grundlegende und dauerhafte Veränderung im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und der GFK wird dabei schon dann angenommen, wenn es in Folge eines Systemwechsels bzw. Regierungssturzes zu einem Wegfall des ursprünglichen Verfolgungsakteurs gekommen ist. Die Frage nach der Dauerhaftigkeit und Stabilität der Veränderungen wird nur insoweit gestellt, als sie auf den Wegfall dieses Verfolgungsakteurs bzw. die Beseitigung eines alten Regimes gerichtet ist. Auf Fragen einer weitergehenden Stabilisierung und Befriedung der politischen Verhältnisse im Herkunftsstaat kommt es nicht an. Allgemeine Gefahren werden allenfalls im Rahmen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG berücksichtigt, dessen Anwendung im Einzelfall dabei gerade bei prekären Sicherheitsstandards für die Allgemeinbevölkerung durch Abschiebestoppregelungen gesperrt ist. In Folge einer etwaigen Umbruchsituation entstehende neue Risiken für einzelne oder Gruppen werden im Rahmen einer Prüfung berücksichtigt, die in jeder Hinsicht einschließlich des anzuwendenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabes der Prüfung beim Erstantrag entspricht. Der Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist daher nach dem gegenwärtigen Stand der verwaltungsgerichtlichen Praxis das exakte Spiegelbild des ersten Anerkennungsverfahrens.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel des Art. 1 C (5) bzw. (6) GFK im internationalen Flüchtlingsrecht Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel im internationalen Flüchtlingsrecht weicht von dem von der deutschen Asylrechtsprechung gefundenen Auslegungsergebnis diametral ab. Sowohl der UNHCR als auch die völkerrechtliche Lehre und die Staatenpraxis zu der „Wegfall der Umstände“-Klausel wählen einen grundsätzlich andersartigen Ansatz mit weiterreichendem Schutzumfang.

I. Die Position des UNHCR Das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für das Flüchtlingswesen (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR) ersetzte die am 01. 01. 1951 aufgelöste International Refugee Organization (IRO). 284 UNHCR hat formal den Status eines Hilfsorgans der Generalversammlung nach Art. 22 der UN-Charta und ist mit dem internationalen Schutz der Flüchtlinge sowie dem Aufsuchen dauerhafter Lösungen für das Flüchtlingsproblem betraut. Die Vertragstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention sind nach deren Art. 35 zur Zusammenarbeit mit dem UNHCR und zu dessen Unterstützung, insbesondere hinsichtlich seiner Aufsichtspflichten bei der Anwendung des Abkommens, verpflichtet. 1. Beschlüsse des Exekutivkomitees Das Exekutivkomitee des UNHCR 285 hat sich erstmals im Jahr 1991 mit der „Wegfall der Umstände“-Klausel befasst und die Möglichkeit unterstrichen, von den Beendigungsklauseln dann Gebrauch zu machen, wenn sich die Situation in einem Land so grundlegend und dauerhaft geändert hat, dass Flüchtlinge aus diesem Land eines internationalen Rechtsschutzes nicht länger bedürfen 284

Resolution 428 (V) der Generalversammlung vom 14. 12. 1950. Das Exekutivkomitee des UNHCR wurde im Jahre 1958 gegründet (Resolution 1166 (XII) der Generalversammlung). Es ist ebenfalls ein Hilfsorgan der Generalversammlung und hat u. a. die Aufgabe der umfassenden Beratung und Unterstützung des Hohen Flüchtlingskommissars in Fragen des internationalen Schutzes. Dem Exekutivkomitee gehören heute über 60 Länder an, die großes Interesse an Flüchtlingsschutz haben und über viel Erfahrung in diesem Bereich verfügen. Die Bundesrepublik gehört dem Exekutivkomitee seit seiner Gründung an. Die Beschlüsse des Komitees werden einstimmig gefasst. Sie sind nicht bindend, drücken aber einen wichtigen internationalen Konsens in Rechtsfragen betreffend Flüchtlinge aus. – Vgl. mehr unter www.unhcr.org, Background on the Executive Commitee. 285

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

und es nicht länger verweigern können, den Schutz ihres Landes in Anspruch zu nehmen. 286 Dabei hat es auf die Definition des Flüchtlings in Art. 1 GFK verwiesen. In einer Stellungnahme (Discussion Note) erläuterte das Exekutivkomitee Ende des Jahres 1991 eingehend die bei einer Anwendung der Klauseln zu berücksichtigenden Faktoren. 287 Es wies darauf hin, dass die Klauseln abschließend seien und eine einmal als Flüchtling anerkannte Person diesen Status so lange behalte, wie eine der Beendigungsklauseln anwendbar sei. Die Klauseln sollten restriktiv angewendet werden und ein Flüchtling die Gewissheit haben, dass sein Status nicht einer ständigen Überprüfung unterzogen wird. 288 Der Begriff „Umstände“ in Art. 1 C (5) und (6) GFK beziehe sich grundsätzlich auf die politischen und grundlegenden Menschenrechtsbedingungen im Herkunftsland. Bei der Beurteilung komme folgenden Faktoren ein besonderes Gewicht zu: Stand der demokratischen Entwicklung, Beitritt zu internationalen Menschenrechtsübereinkommen und freier Zugang für unabhängige nationale und internationale Organisationen zum Zwecke der Überprüfung und Kontrolle der Menschenrechtssituation. Da politische Veränderungen nicht über Nacht einträten, sondern sich häufig schrittweise über einen längeren Zeitraum entwickelten, sollte vor einer Anwendung der Klausel ein angemessener Zeitraum abgewartet werden, um die Dauerhaftigkeit und Konsistenz der Veränderungen sicherzustellen. 289 Das Exekutivkomitee weist in dieser Discussion Note unter Bezugnahme auf die Satzung des UNHCR zudem darauf hin, dass bei der Anwendung der Klausel im Einzelfall erworbene Rechte des Flüchtlings berücksichtigt werden sollen einschließlich wirtschaftlicher, familiärer und sozialer Bindungen im Aufnahmeland. Derartigen Bindungen komme vor allem dann Bedeutung zu, wenn der Flüchtling in seinem Herkunftsland bereits alle oder nahezu alle Bindungen verloren habe. Ein Flüchtling dürfe grundsätzlich legitime Erwartungen auf einen Fortbestand seines Status haben. 290 Im Anschluss daran hat sich das Exekutivkomitee im Jahre 1992 nochmals zu den Voraussetzungen für eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel geäußert. In seinem Beschluss Nr. 69 (XLIII) 291 trat es erneut für ein umsichtiges Vorgehen bei der Anwendung der Beendigungsklauseln ein, um Flüchtlingen die Sicherheit zu geben, dass ihr Status angesichts nur vorübergehender Verände286 Executive Commitee of the High Commissionar’s Programme, Conclusion No. 65 (XLIII), 1991, Dokument Nr. 12 A (A/46/12/Add.1) – nichtamtliche Übersetzung der englischen Originalfassung in der vollständigen Sammlung der Beschlüsse des Exekutivkomitees von 1975 – 2004 – www.unhcr.de. 287 Executive Commitee of the High Commissionar’s Programme, Discussion Note on the Application of the “ceased circumstances” Cessation Clauses in the 1951 Convention (Discussion Note), Dokument EC/SCP/1992/CRP.1 – www.unhcr.org. 288 Discussion Note, Ziff. 5. 289 Discussion Note, Ziff. 10 – 12. 290 Discussion Note, Ziff. 15 iii).

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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rungen der Situation im Herkunftsland, ohne fundamentalen Charakter, keiner unnötigen Überprüfung unterzogen wird. Es betonte, dass die Staaten sorgfältig den grundlegenden Charakter der Veränderungen im Herkunftsland einschließlich der generellen Menschenrechtssituation und der besonderen Ursache für die Verfolgungsfurcht beurteilen müssten, um auf objektive und überprüfbare Weise sicherzustellen, dass die Situation, welche die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus rechtfertigte, nicht länger existiere. Unabdingbare Grundlage für eine solche Beurteilung durch die Staaten sei der grundlegende, stabile und dauerhafte Charakter der Veränderungen. 2. Note on the Cessation Clauses, 1997 Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts veränderte sich die Wahrnehmung der Flüchtlinge. Sie wurden nicht mehr als strategisches Instrument im Machtkampf der politischen Blöcke betrachtet, sondern zunehmend als Belastung empfunden. Zudem schürten die Massenfluchtbewegungen der 1990er Jahre die Angst vor politischer Destabilisierung. 292 Die Stimmen nach Rückkehrförderungen wurden lauter. In diesem Rahmen gewann auch die Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel an Bedeutung. Im Jahre 1997 nahm der UNHCR die entstandenen Massenfluchtbewegungen, ein Defizit an dauerhaften Lösungen in einer Reihe von Gastländern und dortige Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen zum Anlass, erstmals in einer ausführlichen Anmerkung 293 zu den Voraussetzungen für die Anwendung der Klausel Stellung zu nehmen. Grundsätzlich kommt danach die Beendigung des Flüchtlingsstatus nur in Betracht, wenn der Flüchtling entweder im Herkunftsland oder in einem anderen Land wieder nationalen Schutz erlangt hat oder diesen erlangen kann. Die Beendigungsklauseln seien abschließend und es solle gewährleistet sein, dass der Flüchtlingsstatus keiner ständigen oder regelmäßigen Überprüfung unterzogen werde. Eindringlich weist der UNHCR in dieser Anmerkung darauf hin, dass die Staaten insbesondere die Konsequenzen einer Beendigung des Flüchtlingsstatus berücksichtigen sollten. Es müsse vermieden werden, dass ein Flüchtling, der im Aufnahmeland bleiben müsse, gezwungen sei, dort ohne definierten rechtlichen Status oder gar illegal unter der Drohung einer Rückschiebung (refoulement) zu verbleiben. 294 291 Executive Commitee of the High Commissionar’s Programme, Conclusion No. 69 (XLIII), 1992, UN doc. A / AC.96/804 – nichtamtliche Übersetzung der englischen Originalfassung in der vollständigen Sammlung der Beschlüsse des Exekutivkomitees von 1975 – 2004 – www.unhcr.de. 292 Angenendt, Das Weltflüchtlingsproblem und die Vereinten Nationen, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2002, S. 26 – 31. 293 UNHCR, Note on Cessation Clause, UN doc. EC/47/SC / CRP.30, vom 30. 05. 1997. 294 UNHCR, Note on Cessation Clause, vom 30. 05. 1997, Ziff. 6 und 9.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Zu den Anforderungen an Ausmaß und Dauerhaftigkeit der Änderungen im Herkunftsland führt der UNHCR aus, dass die Klauseln nur anwendbar seien, wenn sich die Veränderung im Herkunftsland als derart grundlegend, dauerhaft und wirksam darstelle, dass der besondere Grund für die Verfolgungsfurcht entfallen sei. 295 Um dies zu beurteilen, müssten alle relevanten Faktoren berücksichtigt werden. Ein kompletter Systemwechsel sei das typischste Anwendungsbeispiel. Die Beendigungsklausel könne dagegen eindeutig nicht angewandt werden, wenn die besonderen Umstände, die zur Flucht geführt hätten, nur durch andere, wiederum Verfolgungsfurcht auslösende Umstände ersetzt worden seien. Konkret bezogen auf die damalige Situation in Afghanistan verneint der UNHCR trotz einer bedeutsamen politischen Veränderung das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Anwendung der Klausel, da lediglich ein Bürgerkrieg durch einen andersartigen ersetzt worden sei. Der UNHCR weist weiter darauf hin, dass die grundlegenden Veränderungen auch stabil und dauerhaft sein müssten. Eine Situation, die noch in der Veränderung begriffen sei und Anzeichen von Inkonstanz aufweise, könne definitionsgemäß nicht als dauerhaft gelten. Die Konsolidierung politischer Veränderungen müsse sorgfältig beobachtet werden. Im Falle gewaltsamer Veränderungen sei dabei generell eine längere Zeit zur Feststellung der Dauerhaftigkeit der neuen Lage erforderlich als im Falle friedlicher Veränderungen im Rahmen eines verfassungsmäßigen Übergangsprozesses. Die veränderten Umstände seien dann noch nicht hinreichend abgesichert, wenn ein neues Regime noch keine staatliche Gewalt über das gesamte Territorium ausübe und ein Defizit an Menschenrechtsgarantien bestehe. Erst nach einer nationalen Versöhnung könnten die Änderungen als dauerhaft angesehen werden. Schließlich fordert der UNHCR, dass sich die Menschenrechtssituation im Herkunftsland substantiell verbessert haben müsse. Zu berücksichtigende Faktoren seien dabei: das Recht auf Leben und Freiheit sowie auf Nichtdiskriminierung, die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewährleistung fairer und rechtsstaatlicher Verfahren sowie die Garantie grundlegender Menschenrechte wie der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und der Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren. 296 Dementsprechend weist der UNHCR in Bezug auf Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten darauf hin, dass eine Rückkehr der Flüchtlinge in Sicherheit und Würde gewährleistet sein müsse. 297

295 296 297

UNHCR, Note on Cessation Clause, vom 30. 05. 1997, Ziff. 19 ff. UNHCR, Note on Cessation Clause, vom 30. 05. 1997, Ziff. 23. UNHCR, Note on Cessation Clause, vom 30. 05. 1997, Ziff. 27.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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3. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft Die erste Ausgabe des Handbuchs wurde im Jahr 1979 auf förmliches Ersuchen des Exekutivkomitees vorgelegt. Das Handbuch ist als Richtschnur und Arbeitsgrundlage für die Praxis konzipiert. Es sind dort die Erfahrungen des UNHCR, die Staatenpraxis und der Meinungsaustausch zwischen dem UNHCR und den Staaten eingeflossen. 298 Im Dezember 2003 wurde eine aktualisierte und überarbeitete Fassung vorgelegt, in welche die Ergebnisse der Globalen Konsultationen und der in diesem Rahmen durchgeführten Expertenrunden 299 eingeflossen sind. Unter Ziffer 135 des Handbuchs heißt es wie folgt: „Umstände“ bezieht sich auf grundlegende Veränderungen in dem Land, aufgrund derer man annehmen kann, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht mehr länger besteht. Eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, aber keine wesentliche Veränderung der Umstände im Sinne dieser Klausel mit sich brachten, reicht nicht aus, um diese Bestimmungen zum Tragen zu bringen. Im Prinzip sollte der Status eines Flüchtlings nicht einer häufigen Überprüfung unterworfen sein, da dadurch das Gefühl der Sicherheit, das ihm der internationale Schutz geben soll, beeinträchtigt würde.“

Eine entsprechende Erläuterung zu den Voraussetzungen, unter denen die Anwendung der Beendigungsklauseln in Betracht gezogen werden kann, findet sich auch in dem Leitfaden zum internationalen Flüchtlingsrecht 300, der kurz zuvor in Zusammenarbeit zwischen dem UNHCR und der Interparlamentarischen Union, der Weltorganisation der Parlamente, erstellt wurde. 4. Richtlinien zur Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel Zu einzelnen Themenkomplexen gibt der UNHCR in Wahrnehmung seines Mandates Richtlinien heraus, die im Handbuch zusammengefasste Positionen näher erläutern. Diese Richtlinien sind als Hilfsmittel zur Rechtsauslegung für Regierungen, Vertreter der Rechtsberufe, Entscheidungsträger und die Richterschaft sowie für UNHCR-Mitarbeiter gedacht, die vor Ort mit der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft befasst sind.

298

Handbuch UNHCR, Vorwort, S. 1 und 2. s. hierzu die nachfolgende Ziff. 4. Buchst. b). 300 UNHCR / IPU, Flüchtlingsschutz: Ein Leitfaden zum internationalen Flüchtlingsrecht, S. 63 f, Deutsche Version. 299

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

a) Richtlinien für die Anwendung der Beendigungsklauseln von 1999 Auf der Grundlage der Beschlüsse des Exekutivkomitees und der Note on the Cessation Clauses erarbeitete der UNHCR im Jahre 1999 erstmals Richtlinien für die Anwendung der Beendigungsklauseln. 301 In Kontinuität zu den bisherigen Verlautbarungen wird betont, dass die Beendigungsklauseln nur dann Anwendung finden, wenn die Veränderungen im Herkunftsland des Flüchtlings fundamental seien, d. h. von erheblichem Ausmaß, tiefgreifend oder substantiell. 302 Die Veränderungen müssten auch dauerhaft sein. Bei der Beurteilung der Dauerhaftigkeit der Veränderungen sollte die Art und Weise berücksichtigt werden, in der sich diese Veränderungen vollzogen hätten, die Natur der Veränderungen und das in dem Land herrschende allgemeine politische Klima. Im Falle eines Regierungswechsels sollten auch die Auswirkungen der Veränderungen auf die gegenwärtige und vergangene Regierung beachtet werden sowie die Fähigkeit der neuen Regierung, die Veränderungen zu festigen und Stabilität wiederherzustellen. 303 Wenn die politischen Veränderungen friedlich vonstatten gegangen seien, könne die Dauerhaftigkeit der Veränderungen in einem relativ kürzeren Zeitraum beurteilt werden als bei gewaltsamen Umstürzen. Erneut wird betont, dass die Menschenrechtssituation besonders sorgfältig bewertet werden müsse. Einem nationalen Wiederaufbauprozess sollte ausreichend Zeit eingeräumt werden. Friedensabkommen mit militanten oppositionellen Gruppen sollten sorgfältig ausgewertet werden. Auch die wirtschaftliche und soziale Stabilität spiele insoweit eine Rolle, als ernsthafte Schwierigkeiten in diesem Bereich auch im Übrigen politische Unruhen auslösen könnten. 304 Schließlich wird darauf hingewiesen, dass eine Beendigung des Flüchtlingsstatus nicht schon dann in Betracht komme, wenn sich politische Veränderungen nur auf einen Teil des Staatsgebietes bezögen. Der Flüchtlingsstatus könne vielmehr nur dann enden, wenn die Angst vor Verfolgung vollständig beseitigt sei und nicht nur unter der Bedingung, dass der Flüchtling sich in sichere Gebiete (safe areas) begebe. 305 b) Die Konferenz von Lissabon im Jahre 2001 Im Jahr 2001 leitete der UNHCR die sogenannten Globalen Konsultationen zum Flüchtlingsschutz ein. Der Hintergrund dieser Konsultationen war die scharfe Kri301 UNHCR, The Cessation Clauses: Guidelines on their Application, April 1999 (Guidelines 1999). 302 UNHCR, Guidelines 1999, Ziff. 25. 303 UNHCR, Guidelines 1999, Ziff. 26, 27. 304 UNHCR, Guidelines 1999, Ziff. 28. 305 UNHCR, Guidelines 1999, Ziff. 29.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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tik, die einige einflussreiche Regierungen in den Jahren zuvor an der Genfer Flüchtlingskonvention geäußert hatten. Sie vertraten die Auffassung, die Konvention sei überholt und biete kein geeignetes Instrumentarium für die Flüchtlingsprobleme des 21. Jahrhunderts. Die Schiene 1 der weltweiten Konsultationen bestand in einer Konferenz der Vertragsstaaten der Konvention und / oder des zugehörigen Protokolls von 1967, die am 12. und 13. Dezember 2001 in Genf stattfand. Der lautgewordenen Kritik zum Trotz war die Beteiligung an der Konferenz überwältigend. Es nahmen dort Vertreter von 129 der insgesamt 142 Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention und des Zusatzprotokolls von 1967 teil, von denen 76 durch Minister repräsentiert wurden. In einer beeindruckenden Erklärung der anwesenden Teilnehmer wurde sowohl die Konvention als Grundstein des Flüchtlingsschutzes als auch der Wille bestätigt, den aus ihr erwachsenden Verpflichtungen umfassend und wirkungsvoll nachzukommen. Zudem wurde die Stellung des UNHCR als die einzige Institution mit einem Mandat für den internationalen Schutz von Flüchtlingen bekräftigt, weshalb die Regierungen aufgefordert seien, die Zusammenarbeit mit dem UNHCR zu intensivieren. Auf der Schiene 2 der Globalen Konsultationen fand eine Reihe von Expertenrunden statt, die Einzelfragen zum Flüchtlingsschutz behandelten. 306 Eine der Expertenrunden befasste sich im Mai 2001 in Lissabon mit den Ausschlussklauseln der Genfer Flüchtlingskonvention sowie mit der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft. An dieser Expertenrunde nahmen Regierungsvertreter aus 12 Vertragsstaaten, 307 Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftler, Richter und andere Juristen teil. Auf der Grundlage einer Darlegung und Analyse der Richtlinien des UNHCR von 1999 und der offiziellen Position verschiedener Staaten stellte die Expertenrunde fest, dass über die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel eine substantielle Übereinstimmung bestehe. Sowohl der UNHCR als auch die Vertragsstaaten teilten nach dem Ergebnis der Expertenrunde insbesondere die Auffassung, dass die Art. 1 C (5) und (6) GFK sorgfältig angewandt werden sollten und nur dann, wenn umfassende und dauerhafte Veränderungen im Herkunftsland eingetreten seien. 308 Im Rahmen der Analyse der Auslegung der „Wegfall der 306

UNHCR, Weltweite Konsultationen zum internationalen Flüchtlingsschutz, Mai 2002 – www.unhcr.de; Angenendt, Das Weltflüchtlingsproblem und die Vereinten Nationen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2002, S. 26 bis 31; Feller / Türk / Nicholson, Refugee Protection in International Law, UNHCR’s Global Consultations on International Protection, www.unhcr.org. 307 Tansania, Sambia, Frankreich, Argentinien, Tschechische Republik, Belgien, Türkei, Dänemark, China, Kanada, Portugal, Großbritannien. 308 Fitzpatrick / Bonoan, Cessation of refugee protection, in: Feller / Türk / Nicholson, Refugee Protection in International Law, Part. 8, Cessation, S. 499, www.unhcr.org.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Umstände“-Klausel in der Staatenpraxis wurde unter anderem auf den Vorschlag der Europäischen Kommission für die Qualifikationsrichtlinie hingewiesen, 309 der die Anforderungen an den Charakter und das Ausmaß der Veränderungen im Herkunftsland in völliger Übereinstimmung mit der bis dahin bekannten Position des UNHCR bestimme. Die im Beschluss Nr. 69 (XLIII) des Exekutivkomitees und in den bestehenden Richtlinien des UNHCR von 1999 festgelegten Kriterien für die Erklärung einer allgemeinen Beendigung wurden als angemessen betrachtet. Zugleich erteilte die Expertenrunde dem UNHCR den Auftrag, die bestehenden Richtlinien fortzuschreiben. Insbesondere sollten weitere Faktoren berücksichtigt werden wie die Sicherheitslage, die Tragfähigkeit einer Rückkehr und die allgemeine Menschenrechtslage. 310 c) Richtlinien zum internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der „Wegfall der Umstände“-Klausel von 2003 311 Diese Richtlinien setzen die Ergebnisse der Expertenrunde von Lissabon um und befassen sich vertiefend insbesondere mit der Frage, welche Kriterien für die Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel im Hinblick auf das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit der Änderungen im Herkunftsland erfüllt sein müssen. Sie sind als Hilfsmittel zur Rechtsauslegung für Regierungen, Vertreter der Rechtsberufe, Entscheidungsträger und die Richterschaft sowie für UNHCR-Mitarbeiter, die vor Ort mit Flüchtlingsfragen befasst sind, gedacht. Die Richtlinien ergänzen einerseits das UNHCR-Handbuch und ersetzen andererseits die Richtlinien aus dem Jahre 1999, soweit sich diese auf die „Wegfall der Umstände“-Klausel beziehen. Die Richtlinien weisen grundsätzlich darauf hin, dass der Flüchtlingsschutz umfassende, dauerhafte Lösungen zum Ziel habe und dieser Anspruch Gegenstand und Zweck der Klausel präge. Deshalb sollte auch die Anwendung der Beendigungsklausel eine dauerhafte Lösung zum Ziel haben und die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft insbesondere nicht dazu führen, dass Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus in einem Aufnahmeland leben müssen. Ebenso wenig sollte durch die Anwendung der Klausel die Rückkehr von Personen in instabile Verhältnisse erzwungen werden, da dies die Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften Lösung verringern würde und darüber hinaus zusätzliche oder erneute Instabilität andernfalls sich bessernder Verhältnisse verursachen könnte. 312 309

Fitzpatrik / Bonoan, Fn. 70, S. 498. Fitzpatrik / Bonoan, Fn. 70, S. 547. 311 UNHCR, Guidelines on international protection: Cessation of Refugee Status under Article 1 C (5) und (6) of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees (the „Ceased Circumstances“ Clauses, Februar 2003 (Guidelines 2003). 312 UNHCR, Guidelines 2003, Ziff. 6. 310

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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Hinsichtlich des grundlegenden Charakters der eingetretenen Veränderungen im Herkunftsland wird betont, dass alle entscheidenden Faktoren berücksichtigt werden müssten. Ein Ende der Kampfhandlungen, umfassende politische Veränderungen und eine Rückkehr zu Frieden und Stabilität sind danach die typischen Situationen, in denen es zur Anwendung von Artikel 1 C (5) oder (6) GFK kommt. 313 Hinsichtlich der Dauerhaftigkeit der Änderungen wird gefordert, dass Entwicklungen, die bedeutende und grundlegende Änderungen zu offenbaren scheinen, sich zunächst konsolidiert haben müssten, bevor eine Entscheidung zur Beendigung der Flüchtlingseigenschaft getroffen werde. Erneut wird festgestellt, dass der Beurteilungszeitraum differieren könne je nachdem, ob sich die Veränderungen friedlich im Rahmen eines verfassungsmäßigen Prozesses ereignet hätten oder gewaltsam, etwa durch den Umsturz eines Regimes, herbeigeführt worden seien. Im Falle einer gewaltsamen Veränderung im Herkunftsland wird eine besonders sorgfältige Überprüfung der Menschenrechtssituation gefordert sowie ausreichend Zeit für den Wiederaufbau des Landes und die Überwachung etwaiger Friedensvereinbarungen mit gegnerischen militanten Gruppen. Diese Überwachung wird für besonders wichtig gehalten, wenn Konflikte zwischen verschiedenen Volksgruppen bestanden, da eine echte Versöhnung in diesen Fällen erfahrungsgemäß häufig nur schwer zu erreichen sei. Solange nicht ein echter Landesfrieden wieder hergestellt sei, sei der Fortbestand der eingetretenen politischen Änderungen unsicher. 314 Unter der Überschrift „Wiederherstellung des Schutzes“ wird hervorgehoben, dass entscheidend für die Beurteilung einer ausreichenden Änderung der Umstände im Sinne des Art. 1 C (5) und (6) GFK die Frage ist, ob der Flüchtling tatsächlich den Schutz seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen kann. Ein solcher Schutz muss danach wirksam und verfügbar sein. Eine rein physische Sicherheit für Leib und Leben ist nicht ausreichend. Erforderlich ist vielmehr das Vorhandensein einer funktionierenden Regierung, grundlegender Verwaltungsstrukturen sowie einer angemessenen Infrastruktur, innerhalb deren die Einwohner ihre Rechte ausüben können, einschließlich ihres Rechts auf eine Existenzgrundlage. Die allgemeine Menschenrechtssituation im Herkunftsland wird als wichtiges Indiz hierfür gewertet. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Stand der demokratischen Entwicklung einschließlich der Durchführung freier und gerechter Wahlen, dem Beitritt zu Menschenrechtsabkommen und der Zulassung unabhängiger nationaler oder internationaler Organisationen zur freien Überprüfung der Einhaltung der Menschenrechte zu. Eine vorbildliche Beachtung von Menschenrechten fordert die Richtlinie nicht, allerdings müssten bedeutende Verbesserungen vorliegen. Minimale Voraussetzungen seien die Be313 314

UNHCR, Guidelines 2003, Ziff. 11. UNHCR, Guidelines 2003, Ziff. 13 und 14.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

achtung des Rechts auf Leben und Freiheit sowie das Verbot der Folter, merkliche Fortschritte beim Aufbau einer unabhängigen Justiz, faire Gerichtsverfahren und Zugang zu den Gerichten sowie unter anderem der Schutz der fundamentalen Grundrechte der Meinungs-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit. Wichtige und spezielle Indizien sind ferner Amnestien, die Aufhebung freiheitsberaubender Gesetze und der Abbau ehemaliger Geheimdienste. 315 Die Richtlinien betonen erneut, dass Änderungen im Herkunftsland des Flüchtlings, die nur einen Teil des Landesgebietes betreffen, grundsätzlich nicht zur Beendigung der Flüchtlingseigenschaft führen sollten. Die Flüchtlingseigenschaft könne vielmehr nur dann enden, wenn die Grundlage für die Verfolgung entfallen sei, ohne dass der Flüchtling in bestimmte sichere Regionen des Landes zurückkehren müsse, um dort vor Verfolgung sicher zu sein. Die Tatsache, dass der Flüchtling sich im Herkunftsland nicht frei bewegen oder niederlassen könne, sei ein Indiz dafür, dass die Änderungen nicht grundlegender Natur seien. Unter Bezugnahme auf den Beschluss Nr. 69 (XLIII) des Exekutivkomitees weisen die Richtlinien schließlich darauf hin, dass auch im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung der Beendigungsklausel angemessene Maßnahmen für Personen vorzusehen seien, von denen wegen ihres langen Aufenthaltes, der zu starken familiären, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen geführt hat, eine Ausreise aus ihrem Asylland nicht erwartet werden könne. 5. Die Praxis des UNHCR bei der Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel Jenseits der mit der Anwendung der Beendigungsklausel verbundenen allgemeinen rechtlichen Fragen hat sich der UNHCR in verschiedenen Situationen konkret mit der Anwendung der Klausel befasst. Anlass hierfür waren entweder Fragen nach dem Umgang mit Mandatsflüchtlingen, Fragen im Zusammenhang mit Rückkehrprogrammen oder konkrete Anfragen von Aufnahmeländern hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen in Bezug auf bestimmte Herkunftsländer. In dem Zeitraum von 1973 bis 1999 hat der UNHCR in insgesamt (nur) 21 Fällen sogenannte generelle Beendigungserklärungen abgegeben. In 7 Fällen war der Hintergrund solcher Beendigungserklärungen die Erlangung der Unabhängigkeit. 316 In 12 Fällen beruhte die Beendigungserklärung auf einem Regimewechsel in den Herkunftsländern im Wege eines verfassungsgemäßen Übergangsprozesses 317 und 315

UNHCR, Guidelines 2003, Ziff. 15 und 16. Beendigungserklärungen betreffend Mozambique vom 14. November 1975, IOM No. 36/75, Guinea-Bissau vom 1. 12. 1975, IOM No. 38/75, Sao Tomé and Príncipe vom 16. 8. 1976, IOM No. 7/76, Cape Verde vom 16. 8. 1976, IOM No. 21/76, Angola vom 15. Juni 1979, IOM No. 22/79, Zimbabwe vom 14. 1. 1981, IOM No. 4/81 und Namibia vom 18. 4. 1995, IOM No. 29/95. 316

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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in den verbliebenen zwei Fällen auf der Beilegung bewaffneter Bürgerkriegskonflikte. 318 Bereits die relativ seltene Abgabe allgemeiner Beendigungserklärungen deutet auf den vorsichtigen und zurückhaltenden Umgang des UNHCR mit den „Wegfall der Umstände“-Klauseln hin. Diese Seltenheit beruht teilweise darauf, dass alternative Lösungen, wie etwa freiwillige Rückkehr, gefunden werden konnten. Zum Teil wurden die Veränderungen als nicht hinreichend fundamental und stabil angesehen. Häufig war es zu schwierig, die Entwicklungen in den Herkunftsländern schon abschließend zu beurteilen. Die Fälle, in denen es tatsächlich zur Abgabe von Beendigungserklärungen kam, sind dadurch gekennzeichnet, dass diesen in der Regel umfangreiche Konsultationen zwischen dem UNHCR und den Aufnahme- sowie den Herkunftsländern vorausgingen und zwischen der Änderung der Umstände und der Abgabe der Beendigungserklärung mehrere Jahre lagen. Dies galt selbst bei friedlichen Übergangsprozessen im Rahmen von verfassungsmäßigen Verfahren. In Chile war im März 1990 die Macht nach einem Plebiszit und vorausgegangenen Wahlen von der Militärregierung unter Augusto Pinochet auf eine zivile Regierung unter dem Präsidenten Patricio Aylwin übergegangen. Damit war Chile nach 17 Jahren Militärdiktatur zu demokratischen Verhältnissen zurückgekehrt. Erst vier Jahre später wurde in Absprache und Kooperation mit der chilenischen Regierung die Beendigungserklärung abgegeben, die zudem noch spezielle Regelungen für Flüchtlinge enthielt, denen möglicherweise im Falle einer Rückkehr Verhaftung oder Verfolgung drohten. 319 Im Falle Rumäniens, wo das Regime von Ceausescu im Jahre 1989 durch einen gewaltsamen Umsturz beseitigt worden war, vergingen acht Jahre bis zur Abgabe der Beendigungserklärung. 320 Im Falle Äthiopiens dauerte es ebenfalls 8 Jahre vom gewaltsamen Sturz des Militärregimes unter Mengistu Haile Mariam im Jahre 1991 bis zur Abgabe der Beendigungserklärung im Jahre 1999. 321

317 Beendigungserklärungen betreffend Äquatorialguinea vom 16. 7. 1980, IOM No. 44/ 80, Argentinien vom 13. 11. 1984, IOM No. 84/84, Uruguay vom 7. 11. 1985, IOM No. 55/ 85, Polen vom 15. 11. 1991, IOM No. 83/91, Tschechoslowakei vom 15. 11. 1991, IOM No. 83/91, Ungarn vom 15. 11. 1991, IOM 83/91, Chile vom 28. März 1994, IOM No. 31/ 94, Südafrika vom 18. 4. 1995, IOM No. 29/95, Malawi vom 31. 12. 1996, IOM No. 88/96, Bulgarien vom 1. 10. 1997, IOM No. 71/97, Rumänien vom 1. 10. 1997, IOM No. 71/97 und Äthiopien vom 23. 9. 1999, IOM No. 91/99. 318 Beendigungserklärungen betreffend Sudan vom 12. 7. 1973, IOM No. 26/73 und Mozambique vom 31. 12. 1996, IOM No. 88/96. 319 Fitzpatrik / Bonoan, Fn. 70, S. 503 f. 320 Fitzpatrik / Bonoan, Fn. 70, S. 504 f. 321 Fitzpatrik / Bonoan, Fn. 70, S. 505 f.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Afghanistan und im Irak ist es wenig überraschend, dass sich der UNHCR im Falle der aktuell in der Bundesrepublik durchgeführten Widerrufsverfahren des Bundesamtes betreffend afghanische und irakische Flüchtlinge zu Wort gemeldet und unter Hinweis auf die Richtlinien verdeutlicht hat, dass nach seiner Auffassung weder in Afghanistan noch im Irak die Vorraussetzungen für eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel vorliegen. In den Hinweisen des UNHCR zur Anwendung der „Wegfall der Umstände“Klausel auf afghanische Flüchtlinge vom 30. 04. 2005 322 heißt es: Fundamentaler Charakter der politischen Veränderungen. Der mit dem Fall der TalibanHerrschaft und der Bonner Afghanistan Konferenz Ende 2001 begonnene Überleitungsprozess in Afghanistan markiert den Beginn umfassender politischer Veränderungen, die in erheblichem Umfang auch die Gründe für Flucht und Vertreibung der afghanischen Bevölkerung betreffen. Bevor jedoch auf der Grundlage dieser Veränderungen die Anwendung der Allgemeinen Beendigungsklausel in Erwägung gezogen werden kann, muss nach Auffassung von UNHCR zunächst der erfolgreiche Abschluss des Überleitungsprozesses abgewartet werden. ... Die Abhaltung freier und geheimer Parlamentswahlen ist eines der Schlüsselkriterien für die Stabilität des Landes und Grundvoraussetzung für den erfolgreichen Abschluss des Überleitungsprozesses. Verbunden mit dem Wegfall der Hauptfluchtursachen und dem Ende der Feindseligkeiten stellen die Wiederherstellung von Frieden und Stabilität sowie der vollständige Abschluss des Überleitungsprozesses wichtige Merkmale einer grundlegenden, fundamentalen Veränderung der politischen Situation und damit Voraussetzungen für die Anwendung der Allgemeinen Beendigungsklauseln dar. ... Eine durchgreifende Wiederherstellung des Gewaltmonopols der afghanischen Regierung kann bei realistischer Betrachtung auch nicht vor dem Jahr 2007 oder 2008 erwartet werden. Von einer Wiederherstellung stabiler Verhältnisse kann daher in Afghanistan noch nicht gesprochen werden. Dauerhafter Charakter der Veränderungen. ... Vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten bei der nachhaltigen Befriedung von Konflikten, in denen verschiedene ethnische und politische Gruppierungen involviert sind, erfordert gerade eine solche Situation eine besonders genaue Beobachtung der Einhaltung von Friedensvereinbarungen sowie der grundlegenden Menschenrechtssituation. Wie bereits erläutert, stellt in Afghanistan die Abhaltung von Wahlen zum Ober- und Unterhaus einen entscheidenden Aspekt bei der Feststellung einer Beendigungssituation dar ....Weitere Voraussetzungen ... sind ein spürbarer Rückgang von Menschenrechtsverletzungen durch örtliche Kommandeure und andere bewaffnete Kräfte sowie ein Ende der Diskriminierung ethnischer Minderheiten. Wiederherstellung nationalen Schutzes. ... Nach Feststellung von UNHCR arbeiten lokale Regierungen und Verwaltungsbehörden gegenwärtig noch nicht zuverlässig genug. Insbesondere ist derzeit eine hinreichende Unabhängigkeit lokaler Institutionen von militärisch oder wirtschaftlich dominierenden Kräften noch nicht gewährleistet. Auch 322 UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention („Wegfall der Umstände“-Klausel) auf afghanische Flüchtlinge, vom 30. 04. 2005, www.unhcr-de.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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ist der Zugang zu Gerichten nur in eingeschränktem Umfang gegeben bzw. gänzlich ausgeschlossen ...“.

In den Hinweisen zur Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel auf irakische Flüchtlinge 323 heißt es eindringlich: „Grundlegende Änderung der Situation: ..Wenngleich der Wegfall der bisherigen Regierung Saddam Husseins im Irak auch verschiedene Gründe für die Flucht und Vertreibung der irakischen Bevölkerung betrifft, bestehen zahlreiche Verfolgungsrisiken fort und andere sind in der Zwischenzeit neu entstanden. Der Sturz der ehemaligen Regierung hat noch nicht überall im Land zur vollständigen Zerschlagung der ehemaligen Herrschaftsstrukturen geführt. Vielmehr hat der Wegfall der autoritären Zentralgewalt einen teils gewaltsam ausgetragenen Machtkampf verschiedener irakischer Gruppierungen und Strömungen ausgelöst. Teile des irakischen Staatsgebietes, vor allem im Zentralirak, werden weitgehend von Aufständischen kontrolliert und befinden sich nicht unter effektiver Herrschaft der irakischen Übergangsregierung ....Darüber hinaus hat das durch den Sturz der irakischen Regierung in Teilen des Irak verursachte Machtvakuum zu einer verstärkten Hinwendung der Bevölkerung zu streng islamischen Traditionen und Glaubensvorstellungen beigetragen. Vor diesem Hintergrund hat sich die Situation insbesondere für Angehörige der christlichen, jüdischen und mandäischen Religionsgemeinschaften im Irak nach dem Sturz des ehemaligen Regimes spürbar verschlechtert. ... Unter Berücksichtigung dieser Entwicklungen kann von einer grundlegenden, sämtliche fluchtrelevanten Umstände betreffenden Veränderung der Situation im Irak gegenwärtig noch nicht gesprochen werden. Dauerhafte Veränderung. Nach dem Sturz und der späteren Inhaftierung des ehemaligen irakischen Regierungschefs sind zwar keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass Saddam Hussein selbst die Macht wiedererlangen könnte. Jedoch befindet sich der Irak gegenwärtig inmitten einer Phase des politischen Umbruches, der eine hinreichend sichere Prognose bezüglich der politischen Zukunft des Landes derzeit ausschließt. ... Angesichts der angespannten Sicherheitslage im gesamten Irak und der ... anhaltend unter Einsatz von Gewalt geführten Auseinandersetzungen verschiedener politischer und religiöser Gruppierungen ist die politische Zukunft des Landes derzeit ebenso offen, wie die Frage, welche Kräfte zukünftig effektiv den Irak beherrschen werden und welche konkreten Auswirkungen dies für die irakische Bevölkerung haben wird ....Der Prozess politischer Veränderungen im Irak ist mithin noch nicht abgeschlossen; vor der Feststellung der Dauerhaftigkeit des politischen Wandels ist zunächst eine Beruhigung und Stabilisierung der Lage abzuwarten. Verfügbarkeit effektiven Schutzes. Im Irak besteht derzeit keinerlei Schutz gegen Verfolgung und andere schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Weder den Koalitionstruppen, noch den irakischen Sicherheitskräften, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, ist es bisher gelungen, den Irak zu befrieden und die

323 UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention („Wegfall der Umstände“-Klausel) auf irakische Flüchtlinge, vom 30. 04. 2005, AuAS 2005, S. 211 – 216.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Sicherheit der irakischen Bevölkerung zu garantieren. ... Zugleich besteht im Irak praktisch keine Möglichkeit, eine Verletzung von Rechten gerichtlich geltend zu machen. ... Insgesamt sind die irakischen Behörden gegenwärtig nicht imstande, der Bevölkerung grundlegende soziale Rechte zu garantieren ...“.

Diese Position hat der UNHCR zuletzt nochmals im November 2006 aus Anlass der Beschlüsse der Innenministerkonferenz vom 16./17. 11. 2006, wonach mit der Rückführung straffällig gewordener irakischer Staatsangehöriger begonnen werden kann, bekräftigt. Die Voraussetzungen für eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel liegen danach unverändert für den gesamten Irak nicht vor. 324

II. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel in der völkerrechtlichen Lehre Die Position des UNHCR spiegelt sich in der völkerrechtlichen Lehre wider. 1. Internationales Schrifttum Als historisches Vorbild für die „Wegfall der Umstände“-Klausel gilt das Statut der Internationalen Flüchtlingsorganisation vom 15. 12. 1946 325, in dessen Anhang I, Teil 1, Abschnitt C Nr. 2 besondere Regelungen für spanische Republikaner und andere Opfer des Falangisten-Regimes getroffen wurden. Diese sollten solange unter dem Schutz der Organisation stehen, wie das Falangisten-Regime in Spanien andauerte. Erst wenn dieses Regime durch eine demokratische Regierung ersetzt worden wäre, sollte es erforderlich sein, dass Flüchtlinge ernstzunehmende – einzelfallbezogene – Einwände gegen eine Rückkehr nach Spanien erheben. 326 Die „Wegfall der Umstände“-Klausel wird als generalisierte Fassung dieser speziellen Regelung betrachtet. 327 Der Begriff „Umstände“ wurde daher schon in dem grundlegenden Standardwerk zur Genfer Flüchtlingskonvention von Grahl-Madsen 328 dahingehend interpretiert, dass er sich auf die fundamentalen Bedingungen im Herkunftsland beziehe, welche die Angst vor Verfolgung rechtfertigten. Als typischer Fall wurde 324

UNHCR, Bedingungen für Abschiebungen in den Irak, Position vom 16. 11. 2006, Asylmagazin 12/2006. 325 Die International Refugee Organisation ( IRO) war die Vorgängerin des UNHCR und einige Regelungen des Statuts vom 15. 12. 1946 waren Vorbilder für entsprechende Regelungen in der Genfer Flüchtlingskonvention. 326 Anhang I des Statuts abgedruckt in: Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 256 ff. 327 Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, § 147, S. 400. 328 Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, 1966.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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der Kollaps eines repressiven Regimes oder die Beendigung der Gebietsgewalt eines Staates über einen anderen angesehen. Weniger tiefgreifende Änderungen, wie etwa Amnestien oder schlichte Änderungen in der Politik desselben Regimes, sollten dagegen den Flüchtlingsstatus nicht berühren. Nur wenn ein repressives Regime durch ein demokratisches Regime ersetzt worden war, konnte danach die „Wegfall der Umstände“-Klausel Anwendung finden. 329 Als selbstverständliche, der Klausel immanente Bedingung für deren Anwendung wurde dabei angesehen, dass der Schutz des Herkunftslandes in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auch verfügbar sei und der Flüchtling tatsächlich in sein Herkunftsland zurückkehren könne. 330 Dieser Aspekt der tatsächlichen und rechtlichen Verfügbarkeit des Schutzes und der Rückkehrmöglichkeit wurde dabei von GrahlMadsen allerdings ausschließlich im Rahmen von Fragen der Passbeschaffung bzw. der Wiedererlangung einer einmal entzogenen Staatsangehörigkeit erörtert. Der damalige historische Kontext bot keinen Anlass zur Erörterung der weiteren – heute vorrangig interessierenden – Frage, ob eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel überhaupt in Betracht kommt, wenn der Herkunftsstaat zusammenbricht und nicht in der Lage ist, seinen Bürgern ein Mindestmaß an Sicherheit und bürgerlichen sowie sozialen Rechten zu garantieren. Dies würde Grahl-Madsen aber eindeutig verneint haben. Denn er legt die Ausnahmetatbestände der „Wegfall der Umstände“-Klausel unter Bezugnahme auf Kapitel II Ziff. 6 e) der Satzung des UNHCR über die damals hierzu vorherrschende Auffassung 331 hinaus weitergehend dahin aus, dass ein Flüchtling nach einem Eintritt einer voraussetzungsgemäßen Änderung der Umstände es auch dann ablehnen kann, in den Herkunftsstaat zurückzukehren, wenn er hierfür ernstzunehmende Gründe geltend machen kann, die über reine egoistische Erwägungen hinausgehen. Solche ernstzunehmenden Gründe sah Grahl-Madsen daher bereits dann als gegeben an, wenn etwa der Flüchtling im Aufnahmeland neue familiäre Wurzeln geschlagen oder in seinem Herkunftsland keinerlei Bindungen und Perspektiven mehr hatte. Grahl-Madsen wendet hier den Gedanken des Missbrauchs an: Wenn Änderungen der Umstände im Herkunftsland eingetreten, also demokratische Verhältnisse hergestellt sind, sollen Flüchtlinge grundsätzlich wieder zurückkehren, um sich u. a. auch am Wiederaufbau ihres Landes zu beteiligen. Dieser Aufgabe sollen sie sich nicht aus rein egoistischen Motiven entziehen können. Jeder nachvollziehbare Grund aber einschließlich berechtigter persönlicher Interessen wie sozialer und familiärer Belange soll dazu führen, dass die Rückkehr in das Herkunftsland legitimerweise abgelehnt werden kann. 329

Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, § 147, S. 401. Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, § 149, S. 405. 331 Bei der Auslegung des Ausnahmetatbestands wurde ausschließlich darauf abgestellt, ob eine Rückkehr in den Herkunftsstaat ausnahmsweise wegen in der Vergangenheit erfahrenen schweren Leidens unzumutbar ist. Das ist auch heute noch die überwiegende Auffassung, auch des UNHCR. 330

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Ebenso geht auch Goodwin-Gill davon aus, dass „Wegfall der Umstände“ eindeutig eine derart fundamentale Veränderung der Umstände verlangt, dass die Basis für jegliche Angst vor Verfolgung beseitigt ist. 332 Unter Bezugnahme auf die Verfassung der Internationalen Flüchtlingsorganisation gilt nach Goodwin-Gill das Ersetzen eines tyrannischen Regimes durch ein demokratisches Regime als das offenkundigste Beispiel einer erheblichen Veränderung der Umstände. Ein solcher Übergangsprozess könne auch langsam verlaufen im Wege rechtlicher Reformen und gradueller Verbesserungen der Menschenrechtssituation, die über Jahre vonstatten gehen. Anders als Grahl-Madsen hält Goodwin-Gill auch Amnestien für wichtig, da sie zumindest als Indizien dafür gelten könnten, dass die Gründe für den Flüchtlingsstatus beseitigt seien. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den im Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits gefassten Beschluss des Exekutivkomitees Nr. 69 (XLIII) 333 weist Goodwin-Gill darauf hin, dass die Staaten den fundamentalen Charakter der Veränderungen einschließlich der allgemeinen Menschenrechtssituation sorgfältig und unter Berücksichtigung der spezifischen Gründe des Einzelfalls beurteilen müssten. Ein wesentliches Element im Rahmen dieser Beurteilung sei der fundamentale, stabile und dauerhafte Charakter der Veränderungen. Dabei macht Goodwin-Gill sich die Position des UNHCR zu eigen, wonach dem Grad der demokratischen Entwicklung, dem Beitritt zu internationalen Menschenrechtsabkommen und dem freien Zugang von unabhängigen nationalen und internationalen Organisationen, welche die Menschenrechtssituation in dem Herkunftsland beobachten und kontrollieren können, besondere Bedeutung zukomme. Hathaway weist darauf hin, dass der eigentliche Grund für die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft infolge einer grundlegenden Änderung der Umstände gerade darin liege, dass im Herkunftsstaat wieder eine Regierung existiere, die fähig und bereit sei, den Flüchtling zu schützen, oder anders ausgedrückt: in der Wiederherstellung des Bandes bzw. des Gesellschaftsvertrages zwischen Bürger und Staat. 334 Auch nach Hathaway ist daher Voraussetzung für eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel, dass die Veränderungen im Herkunftsland grundlegend und dauerhaft sind. Darüber hinaus müssten die Veränderungen nicht nur zur Beseitigung einer Verfolgungsfurcht geführt haben, sondern zusätzlich zur Wiederherstellung des Schutzes durch das Herkunftsland, so dass internationaler Schutz nicht mehr erforderlich sei. 335 Unter Bezugnahme auf die Richtlinien des UNHCR und die Beschlüsse des Exekutivkomitees plädiert er ebenfalls nachdrücklich für einen restriktiven Ansatz und sieht sich hierin durch die Materialien zur Genfer Flüchtlingskonvention bestätigt. Bei der Verabschiedung der Konven332 333 334 335

Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, S. 84 –87. s. Fn. 291. Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 921. Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 922.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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tion habe hinsichtlich der Art der Umstände im Sinne von Art. 1 C (5) und (6) die Vorstellung bestanden, dass ein totalitäres Regime durch ein demokratisches Regime ersetzt werde. 336 Bevor eine Beendigung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht komme, müssten daher grundlegende Reformen durchgeführt worden sein, zu denen er in Übereinstimmung mit dem UNHCR signifikante Reformen der gesetzlichen oder sozialen Strukturen, die Durchführung demokratischer Wahlen, Amnestien, die Aufhebung repressiver Gesetze und den Austausch vormaliger Sicherheitskräfte zählt. 337 Alle wesentlichen Veränderungen müssten sich erst im Laufe der Zeit konsolidieren können, wobei der hiernach erforderliche Zeitraum schwanke und notwendigerweise längere Zeit beanspruchen könne, wenn die Veränderungen das Ergebnis eines Konfliktes seien. 338 Zur Überprüfung der Frage, ob die Voraussetzungen für eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“Klausel vorliegen, schlägt Hathaway zusammenfassend einen dreistufigen Test vor, nämlich 1) den Test auf den fundamentalen Charakter der Veränderungen, 2) den Test auf deren Dauerhaftigkeit und schließlich 3) den Test, ob der Schutz des Herkunftsstaates wiederhergestellt ist. 2. Völkerrechtliches Schrifttum in der Bundesrepublik Angesichts der sich verfestigenden Verwaltungspraxis des Bundesamtes, Asylanerkennungen betreffend Staatsangehörige aus Ländern zu widerrufen, in denen zwar eine grundlegende Veränderung der politischen Verhältnisse eingetreten ist, ansonsten aber weiterhin in hohem Maße prekäre und instabile Verhältnisse herrschen, haben sich auch in der Bundesrepublik in der Literatur Stimmen erhoben, die unter Bezugnahme auf die vom UNHCR erarbeiteten Positionen zu der „Wegfall der Umstände“-Klausel das Vorliegen der völkerrechtlich geforderten Voraussetzungen für einen Entzug der Flüchtlingsanerkennungen verneinen. Über den reinen Sturz eines Systems hinaus müssten die neuen Verhältnisse in Bezug auf ihre Stabilität die Erwartung rechtfertigen, dass nicht alsbald erneut aus anderen Gründen Verfolgung drohe. Erforderlich sei auch die Herstellung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse in den betreffenden Herkunftsländern, was insbesondere hinsichtlich Afghanistan und Irak nicht der Fall sei. 339

336

Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 923, 927. Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 923. 338 Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 924 f. 339 Vgl. Pfaff, Zur Rückführung afghanischer Staatsangehöriger, ZAR 2003, S. 225 – 231 (227 –228); Ton, Zur Beendigung der Flüchtlingseigenschaft bei Rückkehrgefahren im Herkunftsland, ZAR 2004, S. 367 –369; Salomons / Hruschka, Die Ausnahmen von den Beendigungsklauseln gemäß Artikel 1 C (5) 2 GK und die deutsche Rechtsprechung zu § 73 I AsylVfG, ZAR 2005, S. 1 –7; Marx, Widerruf wider das Völkerrecht, InfAuslR 5/2005, S. 218 – 227 (220). 337

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Nach dem Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 hat es nur noch vereinzelt Literaturstimmen 340 zu den Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG respektive den Anforderungen an eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln gegeben. Sie begrüßen zwar, dass das Bundesverwaltungsgericht durch diese Entscheidung den Weg zu einer Anpassung der deutschen Praxis an völkerrechtliche Standards eröffnet habe. Gleichzeitig wird aber kritisiert, dass das Kriterium des staatlichen Schutzes sehr eng ausgelegt werde und die vom UNHCR entwickelten Kriterien der Dauerhaftigkeit und Stabilität der Veränderungen ebenso wenig Berücksichtigung fänden wie das Erfordernis der Wiederherstellung effektiven Schutzes durch den Herkunftsstaat. Das völkerrechtliche Schrifttum in der Bundesrepublik teilt mithin den auch international konsentierten Ansatz des UNHCR, wie er zuletzt insbesondere in den Richtlinien aus dem Jahre 2003 und den aktuellen Stellungnahmen zur Anwendung der Klauseln auf afghanische und irakische Flüchtlinge aus dem Jahre 2005 niedergelegt ist.

III. Staatenpraxis In den vergangenen Jahrzehnten haben Staaten insgesamt relativ selten die „Wegfall der Umstände“-Klauseln auf anerkannte Flüchtlinge angewandt. Häufig liegt dies darin begründet, dass Flüchtlinge bereits einen dauerhaften und unbegrenzten Aufenthaltsstatus im Aufnahmeland erlangt haben und die mit einem nicht zu vernachlässigenden Verwaltungskostenaufwand verbundene Anwendung der Klauseln weitgehend ins Leere liefe. 341 Häufig wird zudem die Möglichkeit freiwilliger Rückkehrprogramme in Zusammenarbeit mit dem UNHCR gegenüber einem zwangsweisen Entzug des Flüchtlingsstatus bevorzugt. Seit Anfang der neunziger Jahre hat die Klausel dennoch an Bedeutung gewonnen, da einerseits gehäuft früher repressive Regime demokratische Wandlungsprozesse durchlaufen haben und andererseits aufgrund steigender Flüchtlingszahlen die Sorge um einen Missbrauch gestiegen ist. Es lassen sich aber sowohl aus der Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen Staaten und dem UNHCR bei Fragen der Anwendbarkeit der Klauseln, aus gesetzgeberischen Akten und entsprechenden Gesetzesmaterialien einzelner Staaten, supranationaler Gemeinschaften oder Organisationen als auch aus einigen Entscheidungen ausländischer Gerichte relevante Schlussfolgerungen für die in der Staatenpraxis vorherrschende Auslegung der Klausel ziehen. 340 Vgl. Löhr, Widerruf der Flüchtlingsanerkennung trotz allgemeiner Gefahren im Herkunftsland?, NVwZ 2006, S. 1021 – 1023; Löhr / Pelzer, Rückwirkende Abschottung – Widerruf der Flüchtlingsanerkennung wider das Völkerrecht, ForumRecht 2006, S. 56 –59. 341 Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, S. 87.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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1. Ausländische Rechtsquellen In zahlreichen ausländischen bzw. supranationalen Rechtskreisen ist die „Wegfall der Umstände“-Klausel wortgleich oder nahezu wortgleich übernommen worden. So heißt es etwa in Art. 1 Abs. 4 (e) der Konvention der Organisation für Afrikanische Einheit zur Regelung der Probleme von Flüchtlingen in Afrika (OAUKonvention): 342 „Diese Konvention ist nicht auf Flüchtlinge anzuwenden, die sich weigern, sich in den Schutz des Landes zu begeben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, obwohl die Umstände, die dazu geführt hatten, dass sie als Flüchtling anerkannt wurden, dort nicht länger bestehen.“

Diese Regelung ist vor dem Hintergrund der Flüchtlingsdefinition in der OAUKonvention zu sehen, die über die Genfer Flüchtlingskonvention hinaus in Art. 1 Abs. 2 auch jene Personen als Flüchtlinge erfasst, die „ aufgrund von äußerer Aggression, Okkupation, ausländischer Vorherrschaft oder Ereignissen, die ernsthaft die öffentliche Ordnung stören,“ gezwungen sind, ihren gewöhnlichen Wohnsitz zu verlassen und an einem anderen Ort außerhalb des Herkunftslandes Zuflucht zu nehmen. Entscheidend für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 Abs. 2 der OAU-Konvention ist im Gegensatz zur Genfer Flüchtlingskonvention, die auf die Verfolgungsgründe und auf eine individuelle Verfolgungsfurcht abstellt, dass eine Person ihr Heimatland verlassen hat, um der dort vorhandenen gewaltsamen Störung der staatlichen Ordnung und den mit ihr verbundenen Übergriffen zu entgehen. 343 Die Frage nach Art, Maß und Umfang der Veränderung der Umstände im Herkunftsland, die für eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“Klausel erforderlich ist, stellt sich daher unter Geltung der OAU-Konvention von vorneherein nicht in der zugespitzten Form, wie dies in der derzeitigen deutschen Anwendungspraxis der Fall ist. Dies gilt auch für Lateinamerika. Dem dort bestehenden Rechtsinstrument zum Schutz der Flüchtlinge liegt ebenfalls ein erweiterter Flüchtlingsbegriff zugrunde. In Kapitel III Abs. 3 der Cartagena-Deklaration vom 22. 11. 1984 344 wird unter dem Eindruck der damaligen Massenfluchtbewegungen in Zentralamerika die Notwendigkeit für eine Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs dahingehend festgestellt, 342

Konvention der Organisation für Afrikanische Einheit zur Regelung der Probleme von Flüchtlingen in Afrika, Addis Abeba, 10. 09. 1969, in Kraft getreten entsprechend deren Art. XI am 20. 06. 1974. 343 Nicolaus, Das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und 40 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention, ZAR 1991, S. 113 –121, 120. 344 Englische Fassung: Cartagena Declaration on Refugees, Adopted by th Colloquium on the International Protection on Refugees in Central America, Mexico and Panama, held in Cartagena on 19 –22 November 1984, www.unhcr.de/rechtsinformationen/internationalesFlüchtlingsrecht.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

dass als Flüchtlinge auch Personen angesehen werden, die „ihr Land verlassen haben, weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder Freiheit infolge allgemeiner Gewalt, einer Aggression von außen, interner Konflikte, massiver Menschenrechtsverletzungen oder anderer Umstände, die ernstlich die öffentliche Ordnung gestört haben“ bedroht ist. In Kapitel III Abs. 12 der Deklaration wird hervorgehoben: „der freiwillige und individuelle Charakter der Repatriierung von Flüchtlingen und die Notwendigkeit, diese unter Bedingungen absoluter Sicherheit durchzuführen, vorzugsweise an den ursprünglichen Wohnort des Flüchtlings.“

Im kanadischen Immigration and Refugee Protection Act heißt es unter Zf. 108 (1) (e): 345 „Eine Klage auf Flüchtlingsanerkennung ist zurückzuweisen und eine Person ist kein Konventionsflüchtling oder bedarf keines Schutzes, wenn die Gründe, aus welchen er Flüchtlingsschutz gesucht hat, aufgehört haben zu existieren.“

In der Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union heißt es in Art. 11 (1) e) nahezu wortgleich mit der Genfer Flüchtlingskonvention: „Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.“

Die Regelung für Staatenlose findet sich entsprechend in Art. 11 (1) f). In Art. 11 (2) der Qualifikationsrichtlinie wird zusätzlich der Prüfungsmaßstab wie folgt festgelegt: „Bei der Prüfung von Abs. 1 Buchstaben e) und f) haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann.“

In dem Vorschlag der Europäischen Kommission für diese Richtlinie 346 wird zur Erläuterung dieser Regelungen unter Artikel 13 (1) e) in völliger Übereinstimmung mit der Position des UNHCR ausgeführt: „Dieser Absatz bezieht sich auf das Erlöschen des Flüchtlingsstatus aufgrund veränderter Umstände im Herkunftsland. Im Einklang mit dem Handbuch und der staatlichen Praxis müssen solche Veränderungen so tiefgreifend und dauerhaft sein, dass die begründete Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung gegenstandslos wird. Eine tiefgreifende Veränderung der Umstände ist nicht mit einer Verbesserung der Lage im Herkunftsland gleichbedeutend. Es ist also zu prüfen, ob es zu einem grundlegenden Wandel von entscheidender politischer oder sozialer Bedeutung gekommen ist, der zu stabilen Macht345 Canada, Department of Justice, Immigration and Refugee Protection Act, Part 2, Division 1, www.laws.justice.gc.ca/en/l-2.5/245904.html. 346 s. Erläuterungen zu Art. 13 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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strukturen geführt hat, die sich von denen unterscheiden, aufgrund deren der Flüchtling eine begründete Furcht vor Verfolgung hatte. Ein umfassender politischer Wandel ist das offenkundigste Beispiel für eine tiefgreifende Veränderung der Umstände, allerdings können auch die Durchführung demokratischer Wahlen, die Verkündung einer Amnestie, die Aufhebung repressiver Gesetze oder die Zerschlagung früherer Strukturen auf einen solchen Übergang hin deuten. Eine veränderte Lage, die immer noch durch eine gewisse Inkonstanz gekennzeichnet ist, gilt definitionsgemäß nicht als dauerhaft. Es muss objektive und nachprüfbare Beweise dafür geben, dass die Menschenrechte in dem betreffenden Land generell geachtet werden und insbesondere die Faktoren, auf die sich die begründete Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung stützte, auf Dauer beseitigt wurden. Besondere Beachtung finden sollten hierbei konkrete Entwicklungen wie die organisierte Rückführung von Flüchtlingen, die Erfahrung von Rückkehrern sowie die Berichte unabhängiger Beobachter.“

Innerhalb der Europäischen Union hatte die niederländische Regierung bereits 1999 Empfehlungen für die Rücknahme bzw. den Entzug des Flüchtlingsstatus 347 herausgegeben, die folgende Indikatoren für eine fundamentale Veränderung der Umstände benennen: „Erfolgreiche Veränderungen der Verfassung, die Durchführung demokratischer Wahlen, die Etablierung einer demokratischen Verwaltung oder eines Mehrparteiensystems, erfolgreiche umfängliche Repatriierung, die Einführung und Anwendung von Amnestien, eine generelle Verbesserung in der Menschenrechtssituation oder die Implementierung anderer sozialer Entwicklungen, die das Ende eines systematisch repressiven Systems markieren.“

Ähnlich lauten auch die Empfehlungen der australischen Regierung für die Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel. 348 Die Veränderung der Umstände muss danach substantiell und dauerhaft sein. Sei es, dass die Veränderungen das Ergebnis schneller Entwicklungen sind, sei es, dass sie auf langsamen Reformen, die sich über Jahre hinziehen, beruhen, stets sollte sichergestellt sein, dass die Veränderungen − substantiell sind in dem Sinne, dass die Machtstrukturen, unter denen eine Verfolgung als reale Möglichkeit angenommen wurde, nicht mehr länger existieren, − wirksam sind in dem Sinne, dass sie tatsächlich existieren und nicht nur geplant sind, und dass sie die Fähigkeit und Bereitschaft der Behörden des Herkunftslandes widerspiegeln, den Flüchtling zu beschützen, und − dauerhaft sind und nicht nur vorübergehend, wie etwa nur einige Wochen oder Monate anhaltende Veränderungen. 347 Niederländisches Justizministerium, Abteilung für Internationale und Ausländerangelegenheiten, 6. Mai 1999, zitiert nach Fitzpatrick / Bonoan, Fn. 70, S. 499. 348 Refugee & Humanitarian Division, Department of Immigration Multicultural Affairs, The Cessation Clauses (Article 1 C): An Australian Perspective, Canberra, Oktober 2001 – www.immi.gov.au/media/publications/refugee/convention 2002/04_cessation.pdf.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

2. Entscheidungen ausländischer Gerichte In der jüngsten Zeit haben sich einige ausländische Oberste Gerichte mit der „Wegfall der Umstände“-Klausel befasst. a) Urteil der Schweizerischen Asylrekurskommission vom 05. 07. 2002 i. S. B. T., Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo) 349 Die ARK hatte sich in der Entscheidung mit der Beschwerde eines jugoslawischen Staatsangehörigen albanischer Volkszugehörigkeit aus dem Kosovo gegen eine an ihn gerichtete Widerrufsentscheidung zu befassen. Rechtsgrundlage für die Widerrufsentscheidung war Art. 63 Abs. 1 Buchst. b) des schweizerischen Asylgesetzes vom 26. 06. 1998, der auf die Widerrufsgründe der GFK verweist. Der Beschwerdeführer hatte im Oktober 1991 in der Schweiz Asyl beantragt und war im Oktober 1992 als Flüchtling anerkannt worden. Im August 1999, im März 2000 und im Februar 2001 reiste er – wie von ihm im Verfahren behauptet – aus privaten Gründen jeweils für maximal zwei Wochen in den Kosovo. Im Mai 2001 heiratete er im Kosovo eine jugoslawische Staatsangehörige. Im November 2001 widerrief die Vorinstanz das dem Beschwerdeführer gewährte Asyl und erkannte ihm die Flüchtlingseigenschaft ab. Zur Begründung berief sich die Vorinstanz kumulativ auf die Ziffern 1 und 5 des Art. 1 C GFK und stellte sich auf den Standpunkt, die Umstände, auf Grund deren der Beschwerdeführer als Flüchtling anerkannt worden sei, seien weggefallen, weshalb er es nicht mehr ablehnen könne, den Schutz seines Heimatstaates in Anspruch zu nehmen, beziehungsweise der Beschwerdeführer habe sich freiwillig wieder unter den Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitze, gestellt. Die Vorinstanz wies im Verfahren vor der ARK darauf hin, dass sich die Lage im Kosovo durch den Einmarsch der Kosovo Force (KFOR) und die Errichtung einer UN-Interimsverwaltung (UNMIK) im Kosovo für die albanische Bevölkerung grundlegend und nachhaltig verbessert habe. Neu ankommenden Flüchtlingen albanischer Ethnie aus dem Kosovo werde in der Regel auch kein Asyl mehr gewährt, weil keine Verfolgungsgefahr seitens der serbischen Machthaber mehr bestehe. Im Zusammenhang mit der Beendigungsklausel von Art. 1 C (5) GFK stellte der UNHCR in seiner im Verfahren abgegebenen Stellungnahme fest, dass trotz einer maßgeblichen Veränderung der politischen Verhältnisse im Kosovo nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Präsenz der UNMIK für sich alleine die Furcht vor Verfolgung beenden könne. Einige Teile der Provinz seien noch unter nur eingeschränkter Kontrolle der internationalen Sicherheitskräfte. Auch könne nicht davon gesprochen werden, dass 349 Schweizerische Asylrekurskommission (im Folgenden: ARK; seit 01. 01. 2007 Bundesverwaltungsgericht), Grundsatzentscheid vom 05. 07. 2002 – EMARK 2002 Nr. 8, S. 53 – 73 – www.ark-cra.ch.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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im Kosovo der Demokratisierungsprozess abgeschlossen sei und es sich nunmehr um einen Rechtsstaat handele. Die ARK wies die Beschwerde ab, berief sich dabei aber auf Art. 1 C (1) GFK. Der Beschwerdeführer habe in diesem konkreten Fall durch sein Verhalten zu erkennen gegeben, dass er sich dem Schutz der UNMIK unterstellen wolle. Die Voraussetzungen für eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel des Art. 1 C (5) GFK sah die ARK im damaligen Zeitpunkt hinsichtlich der Situation im Kosovo allerdings nicht als gegeben an. In grundsätzlichen Überlegungen zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft schließt sich die ARK vollumfänglich der Position des UNHCR an und führt unter Bezugnahme auf das Handbuch des UNHCR folgendes aus: 350 „Die sogenannten Beendigungsklauseln (Art. 1 C Ziff. 1 –6 FK) knüpfen teilweise an das Verhalten des Flüchtlings an (Ziff. 1 – 4), teilweise fußen sie auf einer Veränderung im Verfolgerstaat (Ziff. 5 und 6); beiden Kategorien wohnt die Prämisse inne, dass die Schutzbedürftigkeit des Flüchtlings dahingefallen ist. Die Klauseln beruhen offensichtlich auf der Überlegung, dass internationaler Schutz nicht mehr gewährt werden sollte, wo er nicht mehr erforderlich oder nicht mehr gerechtfertigt ist (...). Zu beachten ist dabei, dass die Beendigungsklauseln erschöpfend aufgezählt sind und daher restriktiv angewendet werden sollten. Gemäß UNHCR dürfen keine Gründe analog zur Rechtfertigung der Zurücknahme des Flüchtlingsstatus herangezogen werden (...). Die Zurückhaltung beim Widerruf einer einmal zuerkannten Flüchtlingseigenschaft beruht darauf, dass Flüchtlinge im Hinblick auf eine erfolgreiche Integration im Aufenthaltsstaat die Sicherheit haben müssen, dass ihr Status nicht ständig und ohne triftigen Grund neu beurteilt wird.“

Nach einem kurzen Überblick über die politische Situation in der Bundesrepublik Jugoslawien und dem Kosovo kommt die ARK sodann zu folgendem Ergebnis: 351 „Diesbezüglich ist festzustellen, dass sich die politische Lage zwar insbesondere seit dem demokratischen Machtwechsel im Jahre 2000 – wobei das bisherige Regime gestürzt und in der Folge das damalige Staatsoberhaupt Milosevic dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal ausgeliefert wurde – wesentlich verbessert hat und auf verschiedenen Ebenen Demokratisierungsprozesse auf internationalen Druck hin in Gang gesetzt worden sind. Auch honorierte die internationale Gemeinschaft den Machtwechsel mit internationaler Reintegration; Embargos wurden ebenso aufgehoben wie die Suspendierung der Mitgliedschaft Jugoslawiens in den Vereinten Nationen, der OSZE, dem IWF und der Weltbank. Dabei bereits von einer grundlegenden Veränderung der Lage im Sinne des fraglichen Artikels und der einschlägigen Praxis zu sprechen, wäre allerdings verfrüht, da nach wie vor beträchtliche Defizite vorliegen und es ohnehin zum heutigen Zeitpunkt noch an deren Stabilität wie auch an der nötigen Dauerhaftigkeit mangelt. Von einer grundlegenden Veränderung in der BRJ kann jedenfalls solange 350 351

EMARK 2002 Nr. 8, S. 61. EMARK 2002 Nr. 8, S. 63.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

nicht gesprochen werden, als das UNO-Protektorat nötig ist und die UNMIK und erst recht die KFOR in Teilen der Bundesrepublik ihr Mandat ausüben. ... Von einer „grundlegend verbesserten Situation“ im Sinne der ARK-Praxis kann demnach zum heutigen Zeitpunkt auf dem Territorium der BRJ nicht ausgegangen werden.“

Bezogen auf den Kosovo führt die ARK sodann aus: 352 „Doch auch für dieses Teilgebiet ist vorab festzustellen, dass jedenfalls so lange nicht von einer grundlegenden Verbesserung der Lage im Sinne der Praxis ausgegangen werden kann, als es nach Meinung der Vereinten Nationen einer internationalen Schutzmacht bedarf. Wohl haben Albaner – der Beschwerdeführer gehört zu dieser Ethnie – im Teilgebiet Kosovo zum heutigen Zeitpunkt dank der internationalen Präsenz in der Regel keine Verfolgung seitens der serbischen Machthaber zu befürchten (...). Bekanntlich werden aber nach ständiger schweizerischer Praxis und der einschlägigen Doktrin (...) Asylgewährung und Widerruf einander nicht als spiegelbildliche Akte gegenübergestellt, sondern es sind „an die den Widerruf rechtfertigenden Verhältnisse im Heimatstaat höhere Anforderungen zu setzen“ und es muss „die Stabilisierung einer neuen politischen Situation abgewartet werden“ (...). Nun ist aber die allgemeine Sicherheitslage im Kosovo nach wie vor unbefriedigend ....Damit teilt sie ... die ... Einschätzung, dass der Zeitpunkt für eine systematische Überprüfung des Asylwiderrufs betreffend aller kosovarischer Flüchtlinge noch nicht gekommen ist.“

Die ARK hat mit diesem Grundsatzentscheid ihre ständige Rechtsprechung fortgesetzt. So hatte sie etwa in einer Entscheidung aus dem Jahre 1995 353 das Vorliegen der Voraussetzungen der „Wegfall der Umstände“-Klausel für Ungarn, Polen und Tschechien aufgrund der dort eingetretenen „massiven Veränderung zum Guten“ bejaht. Die Situation in diesen Ländern sei über den Zeitraum der letzten Jahre hinweg als „demokratisch, rechtsstaatlich, menschenrechtskonform, stabil und dauerhaft“ zu bezeichnen. Diese Bewertung der politischen Verhältnisse in Ungarn, Polen und Tschechien im Jahre 1995 kann gewiss als zutreffend angesehen werden. Der UNHCR hatte für diese Länder schon im Jahre 1991 allgemeine Beendigungserklärungen abgegeben. 354 Bezogen auf Ungarn nahm die ARK zudem die Volksgruppe der Roma von dieser Feststellung aus. b) Entscheidung des House of Lords in Sachen Hoxha & Anor v. Secretary of State for the Home Department vom 10. 03. 2005 355 Auch diese Entscheidung befasst sich mit den Klagen von Kosovo-Albanern, die vor ihrer Ausreise Ende 1998 bzw. Anfang 1999 schwerste Misshandlungen einschließlich Vergewaltigung durch serbische Soldaten bzw. Polizisten erfahren 352

EMARK 2002 Nr. 8, S. 64, 65. ARK, Grundsatzentscheid vom 04. 07. 1995 – EMARK 1995 Nr. 16, S. 153 – 170 – www.ark-cra.ch. 354 Beendigungserklärungen betreffend Polen vom 15. 11. 1991, IOM No. 83/91, Tschechoslowakei vom 15. 11. 1991, IOM No. 83/91, Ungarn vom 15. 11. 1991. 353

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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hatten. An den Folgen dieser Misshandlungen litten die Kläger nach wie vor sowohl physisch als auch psychisch. Die „Wegfall der Umstände“-Klausel ist nahezu wortgleich in Ziff. 339 A (v) der Immigration Rules 356 unter der Überschrift „Revocation or refusal to renew a grant of asylum“ übernommen. Der prozessuale Rahmen dieses Verfahrens war allerdings insoweit anders als derjenige im Verfahren vor der ARK, als es im Verfahren vor dem House of Lords immer noch um den Erstantrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ging. Den Klägern war zu keinem Zeitpunkt der förmliche Flüchtlingsstatus zuerkannt worden, so dass es sich nicht um den Widerruf einer einmal gewährten förmlichen Flüchtlingsanerkennung handelte. Die zentrale in der Entscheidung des House of Lords erörterte Frage war vielmehr, ob die Kläger unter Berücksichtigung der „Wegfall der Umstände“-Klausel in Art. 1 C (5) GFK trotz einer zwischenzeitlichen Änderung der politischen Verhältnisse in ihrem Herkunftsland noch einen Anspruch auf (Erst)Anerkennung als Flüchtlinge hatten, weil sie sich wegen erlittener Vorverfolgung auf zwingende Gründe im Sinne von Satz 2 des Art. 1 C (5) GFK berufen konnten, um die Rückkehr in ihr Herkunftsland abzulehnen. In tatsächlicher Hinsicht bewerteten die Lordrichter im Jahre 2005 die Situation im Kosovo dahingehend, dass Kosovo-Albaner grundsätzlich nicht mehr mit Verfolgung durch serbische Kräfte oder durch kosovarische Behörden zu rechnen hätten. Auch für die Kläger, die vor ihrer Ausreise erhebliche Verfolgungsmaßnahmen erlitten hatten, wurde eine andauernde Verfolgungsgefahr nicht mehr angenommen. In rechtlicher Hinsicht stellten die Lordrichter übereinstimmend fest, dass Art. 1 C (5) GFK im Anerkennungsverfahren keine Rolle spiele, sondern ausschließlich im Zusammenhang mit einem möglichen späteren Verlust eines einmal zuerkannten Flüchtlingsstatus stehe. Auch bei erlittener schwerster Vorverfolgung ergebe sich aus dieser Bestimmung, insbesondere aus deren Satz 2, kein Anspruch auf Anerkennung. Maßgeblich sei vielmehr eine andauernde – aktuelle – wohlbegründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 1 (2) GFK im Gegensatz zu einer in der Vergangenheit liegenden Verfolgungsfurcht (historic fear). 357 Diese Auffassung der Lordrichter ist im internationalen Flüchtlingsrecht nicht unumstritten. Insbesondere der UNHCR befürwortet eine ausdehnende Interpretation der „Wegfall der Umstände“-Klausel und dort des Begriffs der „zwingenden Gründe“ und bezieht sich dabei auf eine entsprechende Staatenpraxis. 358 Diese kontrover355 United Kingdom House of Lords, Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), www.bailii.org/uk/cases/UKHL/2005/ 19.html. 356 Immigration Rules, www.ind.homeoffice.gov.uk. 357 Lord Brown of Eaton-Under-Heywood in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 52 –54.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

sen Standpunkte zur Auslegung und Bedeutung der Klausel im Rahmen eines Anerkennungsverfahrens bedürfen für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung keiner weiteren Vertiefung. Wesentlich für die vorliegende Untersuchung ist hingegen, dass sich die Lordrichter im Rahmen der ausführlichen Auseinandersetzung mit Art. 1 C (5) GFK zugleich dem wesentlichen Unterschied zwischen solchen Flüchtlingen, denen bereits einmal förmlich der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde, und anderen – noch nicht förmlich anerkannten – Flüchtlingen zuwenden. Die Konvention unterscheidet nach Auffassung der Lordrichter streng zwischen beiden Arten von Flüchtlingen. 359 Unter Bezugnahme auf Ziff. 112 des Handbuches des UNHCR wird betont, dass das Verfahren betreffend die Anerkennung von Flüchtlingen einerseits und betreffend die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft andererseits getrennte und unterschiedliche Verfahren darstellen, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. 360 Sei ein Flüchtling erst einmal als solcher förmlich anerkannt worden, so unterliege er einem besonderen Schutz. Der Entzug des Flüchtlingsstatus stelle einen belastenden Eingriff in die Rechtsposition des Flüchtlings dar und unterliege daher besonderen Voraussetzungen. Wiederum unter Bezugnahme auf das Handbuch des UNHCR, das Expertengespräch in Lissabon und die Richtlinien wird ausgeführt, dass der Entzug des Flüchtlingsstatus nur in Betracht komme, wenn es zu einem grundlegenden Wandel der Umstände im Herkunftsland gekommen sei. Die Behörden des Aufnahmelandes trügen die Beweislast dafür, dass die Veränderungen in der Tat fundamental und dauerhaft seien. Die Regelungen der Beendigungsklauseln seien abschließend und eng auszulegen. 361 Mit großer Klarheit führt Lord Brown of Eaton-Under-Heywood aus: „Der Grund für die „strikte“ und „restriktive“ Anwendung der Beendigungsklauseln im Allgemeinen und des Art. 1 C (5) im Besonderen ist gewiss eindeutig. Wenn über ein Asylgesuch erst einmal förmlich entschieden worden ist und der Flüchtlingsstatus offiziell zuerkannt wurde mit allen Vorteilen, die damit sowohl nach der Konvention als auch nach nationalem Recht verbunden sind, dann hat der Flüchtling die Gewissheit einer sicheren Zukunft im Aufnahmeland und die legitime Erwartung, dass ihm diese Sicherheit von nun an nicht mehr entzogen wird, es sei denn, es gibt hierfür nachweisbar gute und ausreichende Gründe. Diese Sicherheit und Erwartung entsteht in der früheren Phase während des laufenden Asylverfahrens und bis zur Gewährung des Status einfach nicht. Aus diesem Grunde spiegelt logischerweise die Prüfung der Gewährung des

358 UNHCR, Guidelines 2003, Ziff. 21, und Kommentar zur Qualifikationsrichtlinie, Anmerkung zu Art. 11, Artikel 11 (1) (e), (f) und 11 (2). 359 Lord Hope of Craighead in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 16. 360 Lord Brown of Eaton-Under-Heywood in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 61. 361 Lord Brown of Eaton-Under-Heywood in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 63.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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Flüchtlingsstatus nach Art. 1 A (2) nicht genau die Prüfung wider, die bei dessen zukünftigem nachfolgenden Entzug nach Art. 1 C (5) vorzunehmen ist.“ 362

c) Entscheidung des High Court of Australia in Sachen QAAH vom 15. 11. 2006 363 Diese Entscheidung befasst sich mit der Klage eines afghanischen Staatsangehörigen. Er gehörte der Ethnie der Hazara an, die unter den Taliban schwerste Verfolgung erlitten. Nach seiner Ankunft in Australien im September 1999 wurden ihm zunächst im März 2000 und dann noch einmal im März 2003 auf drei Jahre befristete „vorübergehende Schutzvisa“ erteilt. Ein im April 2000 gestellter Antrag auf Erteilung eines „dauerhaften Schutzvisum“ wurde dagegen im Jahre 2003 abgelehnt. Die hiergegen erhobene Klage hatte in der letzten Instanz vor dem HCA keinen Erfolg. Den rechtlichen Rahmen des Verfahrens bildet der australische Migration Act von 1958, 364 durch den u. a. die Genfer Flüchtlingskonvention in Australien in Teilen umgesetzt wurde. Eine den „Wegfall der Umstände“-Klauseln entsprechende Vorschrift enthält der Migration Act nicht. Die Schutzgewährung gegenüber Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgt über die Erteilung von Schutzvisa (protection visas) gemäß Art. 36 des Migration Act, die gemäß dessen Art. 30 als dauerhafte oder vorübergehende Visa (permanent visa, temporary visa) erteilt werden können. Die meisten Fälle, in denen die Anwendung des Art. 1 C (5) GFK in Betracht gezogen wird, betreffen – wie im vorliegenden Fall auch – die Inhaber vorübergehender Schutzvisa, die einen Antrag auf Erteilung eines weiteren Visums stellen. In der australischen Rechtsprechung besteht gegenwärtig ein heftiger Disput, ob bei der Prüfung dieser Anträge Art. 1 C (5) GFK zu berücksichtigen ist oder ob sie als neue Schutzanträge behandelt werden sollen. Dies ist auch die Kernfrage im Fall QAAH, die der HCA – gegen die vorausgegangene Entscheidung des Full Court of the Federal Court of Australia – dahingehend beantwortete, dass auch der Antrag eines Inhabers eines vorübergehenden Schutzvisums ausschließlich danach zu beurteilen sei, ob Australien im Zeitpunkt der Entscheidung über diesen neuen Antrag noch Schutzverpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention habe. Dies sei nur dann der Fall, wenn der Antragsteller im Zeitpunkt der Entscheidung noch die Voraussetzungen des Art. 1 A (2) GFK erfülle. Nicht relevant sei dagegen, ob Veränderungen im Herkunftsland des 362 Lord Brown of Eaton-Under-Heywood in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 65. 363 High Court of Australia (im Folgenden: HCA), QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), www.austlii.edu.au//cgi-bin/disp.pl/au/cases/cth/HCA/2006/53.html. 364 Die für die Entscheidung maßgeblichen Bestimmungen des Immigration Act werden in der Entscheidung wörtlich wiedergegeben; s. dort Rdnr. 16 –26.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Antragstellers substantiell, wirksam und dauerhaft seien. Den Behörden obliege auch keine Nachweispflicht hinsichtlich des Charakters der eingetretenen Veränderungen. Dieses Ergebnis wird maßgeblich auf eine Auslegung der innerstaatlichen Vorschriften des Migration Act gestützt, die für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung keiner Darlegung im Einzelnen bedürfen. 365 Ergänzend wird das Ergebnis aber auch auf eine Auslegung des Art. 1 C (5) GFK gestützt. Aus dessen Wortlaut ergebe sich, dass es immer nur um die jeweiligen Umstände gehe (circumstances from time to time) und nicht um eine historische Betrachtung (not merely as a matter of history). Wörtlich heißt es: 366 „Der ‹Status› einer Person im Sinne der Konvention ... kann sich ebenso ändern wie die Umstände in dem Land, das sie verlassen hat ...“.

Weiter heißt es: 367 „Diese Artikel (Anm: gemeint sind die in Kapitel II, III und IV der Konvention genannten Rechte) führen nicht dazu, einen Flüchtling für alle Zeiten oder Zwecke oder überhaupt als solchen zu definieren.“

Diesen relativ knappen, wenngleich unmissverständlichen Ausführungen der Entscheidungsmehrheit der Richter zu Art. 1 C (5) GFK tritt Richter Kirby – in Übereinstimmung mit der Vorinstanz – in einer dissenting opinion mit umfangreichen Ausführungen entgegen. Diese dissenting opinion bedarf der genaueren Darlegung nicht nur, weil sie den weit überwiegenden Teil der Veröffentlichung umfasst, sondern auch wegen ihrer eingehenden Analyse des Art. 1 C (5) GFK, den Richter Kirby nach australischem Recht in der streitigen Konstellation für anwendbar hält. Maßgebliches Gewicht für die Auslegung misst er sowohl dem Handbuch des UNHCR als auch den Richtlinien zu den „Wegfall der Umstände“Klauseln bei, die – wenngleich nicht bindend – grundsätzlich wertvolle Quellen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention seien, insbesondere hinsichtlich der Bestimmung von Ziel und Zweck der Konvention. 368 Eingehend befasst er sich sodann mit Wortlaut und Systematik des Art. 1 GFK und lenkt den Blick u. a. auf den Umstand, dass in Art. 1 C (5) GFK von Personen die Rede ist, die zuvor bereits „als Flüchtlinge anerkannt wurden“ (has been recognized as a refugee), die also bereits eine formale Rechtsposition im Aufnahmeland erhalten haben. Art. 1 A (2) und Art. 1 C (5) GFK sähen erkennbar zwei von einander getrennte Verfahren vor, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorgenommen werden müssten. Daraus folge, „dass die Prüfung bei der Gewährung des Flüchtlingsstatus nach Art. 1 A (2) GFK nicht die Prüfung der Beendigung des Flüchtlingsstatus nach Art. 1 C (5) widerspiegeln kann 365 366 367 368

HCA, QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), Rdnr. 33 –40. HCA, QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), Rdnr. 43, 44. HCA, QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), Rdnr. 48. HCA, QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), Rdnr. 73 –81.

B. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel

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und beide nicht symmetrisch sein können. Der Wortlaut der Konvention, ihre Struktur und ihr offenkundiges System machen eine solche Auslegung unmöglich.“ 369

Weiter führt er aus: „Wenn die Verfasser der Konvention ... ein und dieselbe Prüfung im Auge gehabt hätten, stellt sich die Frage, warum sie in Art. 1 einen getrennten und zusätzlichen Absatz betreffend die Beendigung aufgenommen haben, der eine völlig andere Terminologie verwendet.“

Hinsichtlich der Veränderungen im Herkunftsland, die zur Anwendung des Art. 1 C (5) GFK führen können, stellt Richter Kirby unter Bezugnahme u. a. auf die oben dargestellte Entscheidung des House of Lords, das Schrifttum und die UNHCR-Richtlinien fest, dass diese grundlegend (fundamental), stabil (stable) und dauerhaft (durable) sein müssen. Der Entzug des Flüchtlingsstatus stelle für den Betroffenen einen ernsten Eingriff dar. Deshalb seien die Bestimmungen restriktiv auszulegen. 370 Den Behörden obliege zudem die Darlegungslast dafür, dass die Voraussetzungen für eine Anwendung der Klauseln erfüllt seien. 371 d) Entscheidung des österreichischen Unabhängigen Bundesasylsenats vom 05. 12. 2006 372 Auch diese Entscheidung betrifft einen afghanischen Staatsangehörigen – tadschikischer Volkszugehörigkeit –, der im Frühjahr 2001 mit seiner Familie aus Afghanistan ausreiste. Zur Begründung hatte er sich u. a. darauf berufen, dass zwei Taliban – sunnitische Paschtunen aus der Provinz Helmand – seine beiden seinerzeit noch unter 16 Jahre alten Töchter ehelichen wollten. Er habe dem nicht zustimmen wollen und Angst vor einer zwangsweisen Wegnahme seiner Töchter gehabt. Das Asylbegehren wurde mit Bescheid vom 04. 10. 2001 abgelehnt, allerdings wurde Abschiebungsschutz gewährt. Hiergegen richtete sich die Berufung. Rechtsgrundlage der Entscheidung war § 7 des österreichischen Asylgesetzes 1997. Danach war Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft gemacht wurde, dass den Asylbewerbern „im Herkunftsstaat Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgrün-

369

HCA, QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), Rdnr. 95 –104, 101. HCA, QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), Rdnr. 110 –122. 371 HCA, QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), Rdnr. 123 –132. 372 Unabhängiger Bundesasylsenat (im Folgenden: UBAS; seit 01. 01. 2007 ebenfalls Bundesverwaltungsgericht), Entscheidung vom 05. 12. 2006 – 224.674/0–VI/42/ 01 – www.asylum-online.at/docs/ubas/2246740vi4201. 370

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

de vorliegt“. Entsprechend dieser Rechtslage fand Art. 1 C GFK also auch in Anerkennungsverfahren Anwendung. 373 Der UBAS gab der Klage auf Asylgewährung statt, da der Asylbewerber aufgrund der getroffenen Feststellungen mit der Ausreise aus seinem Herkunftsstaat die Flüchtlingseigenschaft erworben habe und diese daher nur unter den Voraussetzungen des Art. 1 C GFK enden könne. Die Frage, ob der Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 C (5) GFK nachfolgend wieder verloren hatte, beantwortete er wie folgt: „ist ... davon auszugehen, dass sich die Umstände in der Heimatregion des Berufungsbewerbers nicht derart grundlegend und dauerhaft verändert haben, dass davon ausgegangen werden kann, dass internationaler Schutz entbehrlich ist (vgl. dazu UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) und (6) des Abkommens ..., insbes. §§ 10 bis 16), zumal insbesondere nicht davon ausgegangen werden kann, dass dem Berufungsbewerber – ungeachtet des Sturzes des Taliban-Regimes – gegenüber allfälligen Repressionsmaßnahmen der beiden Taliban effektiver staatlicher Schutz zur Verfügung stünde.“

IV. Zwischenergebnis Im internationalen Flüchtlingsrecht besteht eine nahezu vollständige Übereinstimmung über die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel hinsichtlich der Art und des erforderlichen Maßes der politischen Veränderungen im Herkunftsland eines – anerkannten – Flüchtlings. Eine Ausnahme innerhalb der feststellbaren Anwendungspraxis ausländischer – oberster – Gerichte bildet die jüngste Entscheidung des High Court of Australia, die jedoch maßgeblich auf den in der Einwanderungstradition Australiens beruhenden nationalen Rechtsvorschriften fußt und – anders als die dissenting opinion – Art. 1 C (5) GFK eher beiläufig mitbehandelt. Entsprechend der ganz überwiegenden Auffassung im internationalen Flüchtlingsrechts müssen diese Veränderungen so tiefgreifend sein, dass generell vormalige Machtstrukturen, unter denen sich die Verfolgung ereignete, weggefallen sind. Die Veränderungen müssen gleichzeitig dauerhaft sein, d. h. stabil in dem Sinne, dass der Prozess der politischen Veränderung weitgehend abgeschlossen ist und zu neuen – prinzipiell verfolgungsfreien – Machtstrukturen geführt hat. Es muss sich ein neues politisches System und Klima entwickelt haben, in dem demokratische Strukturen bestehen und eine allgemeine, substantielle Verbesserung der Menschenrechtssituation eingetreten ist. Situationen, die nach wie 373 Mit dem sog. Fremdenrechtspakt 2005, das in weiten Teilen der Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie dient, ist nunmehr ein eigenes Aberkennungsverfahren in § 7 Asylgesetz vorgesehen; www.parlament.gv.at.

C. Materielle Legitimation

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vor von anhaltenden gewaltsam ausgetragenen Machtkämpfen geprägt sind, deren Ausgang unklar ist, sind daher nicht als stabil zu bezeichnen. Anerkannte Flüchtlinge unterliegen einem besonderen Schutz und es soll ihnen nicht zugemutet werden, ihren Flüchtlingsstatus zu verlieren, obwohl die Situation in ihrem Herkunftsland und die weitere politische Entwicklung unklar sind. Sie dürfen legitimerweise erwarten – oder in der deutschen Terminologie gesprochen: sie haben ein schützenswertes Vertrauen darin –, den Schutz ihres Aufnahmelandes und die mit ihrem Status verbundenen Rechte so lange nicht zu verlieren, wie ihr Herkunftsland zur Schutzgewährung nicht in der Lage ist. Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Wegfalls der Umstände nach Art. 1 C (5) und (6) GFK einerseits und das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A (2) GFK andererseits sind daher keine spiegelbildlichen Akte. Vor dem Hintergrund dieser Auslegung und der diesbezüglichen nahezu einheitlichen Staatenpraxis ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass bislang kein Land die Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel auf irakische Flüchtlinge in Betracht gezogen hat. Die seit langem katastrophale und sich ständig weiterhin verschlechternde Situation im Irak mit anhaltenden blutigen Machtkämpfen, deren Ausgang völlig ungewiss ist, erfüllt die nach internationalem und europäischem Flüchtlingsrecht geforderten Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Klausel offenkundig nicht. 374 Dies gilt ebenso für die Situation in Afghanistan, die zunehmend eskaliert. Dort ist zudem – anders als im Irak – auch ganz konkret ein Wiedererstarken der Taliban als vormalige Machthaber zu verzeichnen.

C. Materielle Legitimation der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vor dem Hintergrund des internationalen Flüchtlingsrechts Angesichts der erheblichen Diskrepanz zwischen der Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einerseits und deren Auslegung im internationalen und europäischen Flüchtlingsrecht andererseits muss der Frage nachgegangen werden, ob die hier vorherrschende Auslegung unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen und europarechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland vertretbar ist.

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Auch aus Australien ist bislang keine Entscheidung bekannt, in der Anträge auf Verlängerungen von Schutzvisa irakischer Staatsangehöriger abgelehnt worden sind.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

I. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention Durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 ist klargestellt, dass § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG seinem Inhalt nach der „Wegfall der Umstände“-Klausel in Artikel 1 C (5) Satz 1 GFK entspricht. Maßgeblich auch für die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist demnach die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel in Übereinstimmung mit den für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge geltenden Grundsätzen. Trotz dieses vom Bundesverwaltungsgericht gewählten zutreffenden Ausgangspunktes bedarf es einer kritischen Überprüfung, ob das Bundesverwaltungsgericht dem von ihm erhobenen Anspruch der Völkerrechtskonformität gerecht wird. 1. Allgemeine Grundsätze zur Auslegung von Völkervertragsrecht Zu diesem Zweck ist es vorab nochmals erforderlich, sich der allgemeinen Auslegungsgrundsätze zur Auslegung von Völkervertragsrecht zu vergewissern. Für die Auslegung der innerstaatlich wirksam in Kraft gesetzten völkerrechtlichen Vorschriften wie derjenigen der Genfer Flüchtlingskonvention sind die Regeln und Grundsätze maßgeblich, die das Völkerrecht für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge vorschreibt. Es tritt insbesondere keine Verdopplung eines völkerrechtlichen Vertrages ein mit einem völkerrechtlichen Vertragsinhalt einerseits und einem innerstaatlichen Vertragsinhalt andererseits. Ein innerstaatlich wirksam gewordener völkerrechtlicher Vertrag ist vielmehr nach völkerrechtlichen und nicht nach innerstaatlichen Auslegungsgrundsätzen zu interpretieren. 375 Dies gilt im Ergebnis grundsätzlich unabhängig von der Frage, welcher Geltungstheorie man folgt, denn mit dem Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages verpflichten sich die Vertragsparteien auch zur Vertragserfüllung nach Maßgabe allgemein geltender oder im speziellen Fall vereinbarter, jedenfalls aber völkerrechtlicher Auslegungsregeln. 376 375 BVerfG, Beschluss vom 04. 05. 1955 – 1 BvR 1/55 – BVerfGE 4, S. 157 –178, 168; BVerfG, Beschluss vom 13. 12. 1977 – 2 BvR 1/76 – BVerfGE 46, S. 342 –404, 361 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes; Kempen in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner Grundgesetz Kommentar, Art. 59 Rdnr. 94; Rojahn in: von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Art. 59 Rdnr. 38a; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 39 V 1, S. 201; Deiseroth, Die Genfer Flüchtlingskonvention als Kontrollmaßstab im Verfassungsbeschwerdeverfahren, ZAR 2000, S. 7 –16, 12; zur Genfer Flüchtlingskonvention s. auch: Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 –80, 53 ff; Lord Steyn in: Adan v Secretary of State for the Home Department, Aitseguer v Secretary of State for the Home Department (2000), UKHL 67 (19. Dezember 2000), www.bailii.org/uk/cases/ UKHL/2000/67.html.

C. Materielle Legitimation

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Diese völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätze ergeben sich aus dem Völkergewohnheitsrecht und aus dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. 05. 1969. Auf die vor dem Inkrafttreten des Wiener Übereinkommens beschlossene Genfer Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll von 1967 sind die Vorschriften des Wiener Übereinkommens gemäß dessen Art. 4 zwar nicht unmittelbar, aber als Ausdruck allgemeiner Regeln des Völkerrechts anwendbar. Die Auslegungsregeln in Art. 31 ff WVRK haben das insoweit bestehende Völkergewohnheitsrecht kodifiziert oder sind zwischenzeitlich den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zuzurechnen. 377 a) Die Auslegungsregeln der Art. 31 ff WVRK Nach Art. 31 Abs. 1 WVRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag „nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und seines Zweckes auszulegen“. Die Auslegung folgt demnach einer objektiven Auslegungsmethode unter Berücksichtigung des Wortlauts (textuelle Methode), des Vertragszwecks (teleologische Methode) und des Zusammenhangs (Kontextes). 378 Maßgeblich ist zunächst der („bona fide“) zu ermittelnde Wortsinn der betreffenden Vertragsbestimmung, und zwar in der gewöhnlichen Bedeutung („plain meaning rule“) der in ihr verwendeten Ausdrücke in ihrem Zusammenhang sowie im Lichte des Gegenstands und des Zwecks des Vertrages. Eine vom normalen Wortsinn abweichende Bedeutung dieser Ausdrücke darf nur angenommen werden, wenn sie vom Konsens der Vertragsparteien getragen wird (Art. 31 Abs. 4 WVRK). Ist ein völkerrechtlicher Vertrag in mehreren authentischen Vertragssprachen abgefasst, wie das bei der Genfer Flüchtlingskonvention nach ihrem Art. 46 Satz 3 der Fall ist, so ist nach Art. 33 Abs. 1 WVRK der Text grundsätzlich in jeder Sprache in gleicher Weise maßgebend. Dabei wird nach Art. 33 Abs. 3 WVRK vermutet, dass die Ausdrücke des Vertrages in jedem authentischen Vertragstext dieselbe Bedeutung haben. Die Auslegung darf sich nicht auf einen der authentischen Vertragstexte beschränken, vielmehr ergibt sich der Inhalt des Vertrages erst aus der Gesamtheit der authentischen Texte. Es gilt das Prinzip der harmonischen Auslegung. 379 Deckt ein Vergleich der authenti376 Kempen in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner Grundgesetz Kommentar, Art. 59 Rdnr. 94; Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 – 80, 53 ff. 377 Vgl. statt vieler: BVerwG, Urteil vom 01. 11. 2005 – 1 C 21/04 – BVerwGE 124, S. 276 bis 292, 283. 378 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 776, 777. 379 Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 29 III 2, S. 135.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

schen Texte einen Bedeutungsunterschied auf, so ist dieser unter Anwendung der allgemeinen Auslegungsregeln auszuräumen. Gelingt dies nicht, so ist gemäß Art. 33 Abs. 4 WVRK diejenige Bedeutung zugrunde zu legen, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrages die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt. Die im Bundesgesetzblatt veröffentlichte – nicht amtliche – deutsche Übersetzung ist lediglich der praktische Ausgangspunkt zur Ermittlung des Wortsinns der betreffenden vertraglichen Bestimmungen. Selbst wenn der deutsche Text eindeutig erscheint, kann ein Rückgriff auf die authentischen Vertragssprachen Unklarheiten aufzeigen. 380 Für die Auslegung des „Zusammenhang(s), in dem jede einzelne Vertragsbestimmung gesehen werden muss“, sieht Art. 31 Abs. 2 WVRK vor, dass zunächst auf den gesamten „Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen“ abzustellen ist. Dabei ist zwischen einem engeren und einem weiteren Zusammenhang zu unterscheiden, wobei die Grenzen zwischen beiden fließend sind. Hinsichtlich des engeren Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der auszulegende Begriff nicht nur in einem bestimmten Satz und einem bestimmten Paragraphen oder Artikel steht, sondern in einem systematischen und sachlichen Kontext zu vorhergehenden und nachfolgenden Vorschriften des Vertrages. Hinsichtlich des weiteren Zusammenhangs ist der Vertrag in seiner Gesamtheit zu verstehen. 381 Die Präambel ist für die Vertragsauslegung stets von besonderer Bedeutung, weil die Vertragsparteien in ihr gewöhnlich die gemeinsamen Auffassungen über Ziel und Zweck des Vertrages niederlegen. 382 Nach Art. 31 Abs. 2 WVRK zählen zum „Zusammenhang“ auch jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsschlusses getroffen wurde (Buchst. a) sowie jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde (Buchst. b). „Weitere Mittel“ für die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages sind nach Art. 31 Abs. 3 „jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrages oder die Auslegung seiner Bestimmungen (Buchst. a) sowie „jede spätere Übung“ bei der Anwendung des Vertrages, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“ (Buchst. b), und „jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz“ (Buchst. c). Auslegungsvereinbarungen der Vertragsparteien nach Art. 31 Abs. 3a WVRK sind allgemein zulässig und bei der Vertragsauslegung auch für den innerstaat380 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 783, 784; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 39 V 2, S. 202. 381 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 777. 382 Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 29 I 1, S. 134.

C. Materielle Legitimation

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lichen Rechtsanwender zu berücksichtigen. Auf der zwischenstaatlichen Ebene können Auslegungsvereinbarungen völkerrechtliche Verträge oder rechtlich unverbindliche, politische Absprachen, sogenanntes soft law, sein. 383 Der Begriff soft law wurde für die empfehlenden Beschlüsse internationaler Organisationen ebenso wie für nicht-bindende Resolutionen von Staatenkonferenzen, die Verhaltensregeln kodifizieren, geprägt. Er kennzeichnet die eigenartige Stellung von im Wege der „parlamentarischen Diplomatie“ verabschiedeten Regelungen, die sich in einem Randgebiet zwischen völkerrechtlicher Bindung und völkerrechtlicher Irrelevanz befinden. Ihre Bedeutung kann darin bestehen, dass sie entweder abschließend die Rechtsüberzeugung zum Ausdruck bringen, die eine bereits bestehende uniforme Praxis begleitet, oder als Leitlinien einer künftigen Praxis dienen. 384 Bei der Berücksichtigung von soft law ist darauf zu achten, dass nicht beliebige Resolutionen internationaler Organisationen oder Texte nicht ratifizierter Konventionen ohne weiteres eine relevante Auslegungsvereinbarung darstellen. Ohne eine Berücksichtigung ihrer Entstehungsgeschichte sowie insbesondere des Abstimmungsverhaltens der Staaten lässt sich deren Bedeutung als Auslegungsvereinbarung nicht begründen. 385 Maßgeblich für die Anwendung der Auslegungsregel des Art. 31 Abs. 3 b) WVRK ist eine Entscheidungspraxis, die sich feststellbar als Umsetzung gerade der betreffenden vertraglichen Regelung versteht und einen diesbezüglichen Konsens aller Vertragsparteien eindeutig erkennen lässt. Die übereinstimmende Vertragspraxis kann auf diese Weise Einfluss auf den Vertragsinhalt nehmen, ohne dass ein nach Art. 59 Abs. 2 GG zustimmungsbedürftiger Änderungsvertrag vorliegt. Im Streitfall hat der (staatliche) Richter zu prüfen, ob sich in der Vertragsanwendung ein gemeinsamer Auslegungskonsens gebildet hat. Das setzt eine umfassende Analyse der Vertragspraxis voraus, die unter Umständen erhebliche praktische Schwierigkeiten bereiten kann. Die Auffassungen der Regierungen zum Vertragsinhalt sind ebenso wie die administrative und richterliche Vertragsanwendung in den anderen Vertragsstaaten zu ermitteln, zu würdigen und zu gewichten. Eine übereinstimmende Auslegungspraxis vermag den Vertragsinhalt konkretisierend ohne Änderung des Vertragsgesetzes fortzubilden. 386 Dies kann bei einer entsprechenden völlig gleichförmigen Staatenpraxis zur Bindung eines Staates in der Weise führen, dass dieser sich nicht mehr – ohne Verstoß gegen das Vertragsgesetz – der in der Staatenpraxis zum Ausdruck kommenden Auslegung einer Vertragsregelung als einziger Staat widersetzen kann. 387 Die Grenze zwischen Vertragsauslegung und Vertragsänderung ist dabei allerdings 383

Rojahn in: von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Art. 59 Rdnr. 38c. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 23 II 2 a), S. 110 –11. 385 Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 41 III 1, S. 211. 386 Rojahn in: von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Art. 59 Rdnr. 38b; BVerfG, Urteil vom 12. 07. 1994 – 2 BvR 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 – BVerfGE 90, S. 286 – 394, 362. 384

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

fließend. 388 Eine nachfolgende Staatenpraxis kann auch eine Vertragsänderung bewirken, wenn das Verhalten der zuständigen Organe auf einen neuen Konsens schließen lässt. 389 Sofern durch eine spätere Auslegungsvereinbarung oder eine nachfolgende einheitliche Staatenpraxis eine teilweise Änderung des ursprünglichen Vertrages vorgenommen wird, bedarf es ggf. eines neuen Übernahmeaktes (Rechtsanwendungsbefehls) im Sinne des Art. 59 Satz 2 GG. 390 Die Inhaltsänderung eines bestehenden Vertrages kann aber unter Umständen auch aus anderen Rechtsquellen folgen. So kann etwa die Entstehung neuen Gewohnheitsrechts auf einen Vertrag modifizierend einwirken. 391 Als „ergänzende“ Auslegungsmittel können nach Art. 32 WVRK „die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses herangezogen werden, um das nach Art. 31 WVRK gefundene Auslegungsergebnis zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Bedeutung nach der Auslegung gemäß Art. 31 WVRK mehrdeutig oder dunkel bleibt oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt. Eine lediglich wenig befriedigende Auslegung erlaubt noch keine Abweichung vom Vertragstext. Ein Rückgriff auf die Materialien der Entstehungsgeschichte ist also nur subsidiär zulässig. 392

387 BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93 – BVerfGE 94, S. 49 –114 91; Lord Brown of Eaton-Under-Heywood in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 73 – 76; Hailbronner, Anmerkung (zur Tamilen-Entscheidung des BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48/92 – E 95, 42 –53), JZ 1995, S. 250 –252, 252: Hailbronner pflichtet dem Ergebnis des Bundesverwaltungsgerichts, dass nichtstaatliche Verfolgung nicht vom Begriff der politischen Verfolgung erfasst sei, zu, allerdings auf der Grundlage einer abweichenden Analyse der Staatenpraxis. Hailbronner verneint eine im Wesentlichen einheitliche Staatenpraxis, aus der sich eine einheitliche Auslegung des Verfolgungsbegriffs unter Einbeziehung nichtstaatlicher Verfolgungsmaßnahmen ableiten ließe. Gleichzeitig stellt er aber klar, dass der Bedeutungsgehalt der Staatenpraxis zur Genfer Flüchtlingskonvention nicht im Unklaren gelassen werden dürfe und bei der Auslegung der GFK nicht auf das innerstaatliche Gesetz abzustellen sei. Denn aus einer einigermaßen einheitlichen Staatenpraxis über die Auslegung der GFK (in diesem Zusammenhang hinsichtlich des Flüchtlingsbegriffs) könne auf eine Rechtsfortbildung im völkerrechtlichen Sinn mit der Folge einer völkerrechtlichen Bindung geschlossen werden. 388 Kempen in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner Grundgesetz Kommentar, Art. 59 Rdnr. 51; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 775. 389 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 793. 390 Vgl. hierzu etwa: BVerfG, Urteil vom 22. 11. 2001 – 2 BvE 6/99 – BVerfGE 104, S. 151 – 214. 391 BVerfG, Urteil vom 12. 07. 1994 – 2 BvR 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 – BVerfGE 90, S. 286 – 394, 361. 392 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 779.

C. Materielle Legitimation

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b) Weitere Auslegungsregeln Neben den Auslegungsregeln, die in Art. 31 ff WVRK aufgenommen wurden, wendet die Praxis weitere Auslegungsregeln an, soweit diese durch den Konsens der Vertragsparteien gedeckt sind oder mangels eines solchen als Hilfsmittel herangezogen werden müssen, um zu einem vernünftigen Auslegungsergebnis zu gelangen. 393 Dazu gehört die „souveränitätsfreundliche“ Auslegung (in dubio mitius). Einschränkungen der staatlichen Freiheit sind in Zweifelsfällen restriktiv auszulegen. Eine solche Auslegung darf aber nicht dazu dienen, eine vertraglich vorgesehene Beschränkung unwirksam zu machen. 394 Eine Auslegung darf ferner nach dem Kriterium des effet utile nicht dazu führen, einen Vertrag oder einen seiner Teile seiner vollen Wirksamkeit zu berauben. 395 Inhaltliche Widersprüche zwischen Vertrag und (sonstigem) einfachen Recht sind möglichst durch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung zu vermeiden oder aufzulösen. Dieser Auslegungsgrundsatz folgt aus der Entscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit und zielt auf eine möglichst weitgehende Übereinstimmung zwischen völkerrechtlichem Vertrag und innerstaatlicher Rechtslage. Lässt eine innerstaatliche Rechtsnorm mehrere Deutungen zu, ist daher diejenige Auslegung der Norm vorzuziehen, in der sie mit dem Vertragsinhalt übereinstimmt. 396 Für einzelne Vertragsgruppen haben sich zudem besondere Auslegungsregeln herausgebildet. Hierzu gehört die dynamisch-evolutive Methode für Verträge zum Schutz der Menschenrechte wie etwa die Europäische Menschenrechtskonvention. Jenseits der allgemeinen Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen einer dynamischen Vertragsauslegung im Rahmen der teleologischen Methode 397 ist diese für solche Verträge anerkannt, in denen sich die Parteien verpflichten, ihr innerstaatliches Recht und dessen Anwendung an einem gemeinsamen humanitären Ansatz auszurichten. Ein solcher Vertrag kann nur unter Berücksichtigung der Weiterentwicklung des Menschenrechtsverständnisses auf nationaler und internationaler 393

Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 781. Rojahn in: von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Art. 59 Rdnr. 38a; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 780. 395 Rojahn in: von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Art. 59 Rdnr. 38a; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 780. 396 BVerfG, Urteil vom 04. 05. 1955 – 1 BvR 1/55 – BVerfGE 4, S. 157 –178, S. 168; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, S. 475 f; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 39 V 1, S. 201; Rojahn in: von Münch / Kunig, GrundgesetzKommentar, Bd. 2, Art. 59 Rdnr. 38d. 397 Vgl. hierzu: Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 782; BVerfG, Urteil vom 12. 07. 1994 – 2 BvR 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 – BVerfGE 90, S. 286 –394, 361ff. 394

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Ebene angewendet werden, wenn er sein Ziel erreichen soll, die Durchsetzung der Menschenrechte voranzutreiben. 398 Auch für die Genfer Flüchtlingskonvention gilt, dass der darin verbürgte Schutz von Flüchtlingen nur wirksam sein kann, wenn die sich verändernden Umstände hinsichtlich der Verfolgungsmechanismen einerseits und der Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes andererseits bei der Auslegung berücksichtigt werden. 399 Entsprechend diesen Grundsätzen geht auch die Qualifikationsrichtlinie von einer dynamischen Auslegung des Begriffs der Verfolgung aus. So heißt es in dem Vorschlag der Kommission zum Begriff der Verfolgung ausdrücklich: „Da dieser Begriff nicht zeitlich definiert ist, soll er flexibel und umfassend ausgelegt werden, damit auch neue Formen der Verfolgung, welche die Grundlage für die Flüchtlingsanerkennung bilden können, erfasst werden.“ 400 2. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel nach den Grundsätzen für die Auslegung von Völkervertragsrecht Eine umfassende Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klausel im Hinblick auf die Frage, welcher Art die politischen Veränderungen im Herkunftsland eines Flüchtlings sein müssen, damit er aus dem Schutzbereich des Abkommens herausfällt, hat auf der Grundlage der soeben dargestellten Grundsätze für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge im Allgemeinen und der Genfer Flüchtlingskonvention im Besonderen zu erfolgen. a) Auslegung nach Art. 31 Abs. 1 WVRK Ausgangspunkt der Auslegung hat entsprechend der objektiven Auslegungsmethode der Wortlaut der Vertragsbestimmung unter Berücksichtigung des Zusammenhangs und des Vertragszwecks zu sein.

398

Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 782; so in grundsätzlicher Übereinstimmung mit dem EGMR auch: BVerwG, Urteil vom 27. 02. 1996 – 1 C 41.93 – BVerwG E 100, S. 287 –300, 296; BVerwG, Urteil vom 15. 04. 1997 – 9 C 38.96 – BVerwGE 104, S. 265 – 279, 273. 399 ARK, Grundsatzentscheid vom 08. 06. 2006 – EMARK 2006 Nr. 18, S. 180 –205, 197 – www.ark-cra.ch; Refugee Status Appeals Authority, Auckland, Refugee Appeal No. 74665/03 – www.refugee.og.nz/Fulltext/74665 – 03.htlm – Ziff. 71. 400 s. Erläuterungen zu Art. 11 (1) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig.

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(1) Wortlaut Der Wortlaut der Vertragsbestimmung ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihr in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung zu ermitteln. Nach dem Wortlaut des Art. 1 C (5) GFK fällt eine Person, auf die die Bestimmungen des Absatzes A zutreffen, nicht mehr unter dieses Abkommen, wenn sie nach Wegfall der Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt bzw. im Falle von Staatenlosen nach Art. 1 C (6), wenn es sich um eine Person handelt, die keine Staatsangehörigkeit besitzt, falls sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem sie ihren gewöhnlichen Wohnsitz hat. Bereits dieser Wortlaut liefert sowohl in der deutschen Fassung als auch in der englischen Fassung – if he can no longer, because the circumstances in connexion with which he has been recognized as a refugee have ceased to exist, continue to refuse to avail himself of the protection of the country of his nationality

bzw. being a person who has no nationality he is, because the circumstances in connexion with which he has been recognized as a refugee have ceased to exist, able to return to the country of his former habitual residence –

und der französischen Fassung – si, les circonstances à la suite desquelles elle a été reconnue comme réfugiée ayant cessé d’exister, elle ne peut plus continuer à refuser de se réclamer de la protection du pays dont elle a la nationalité

bzw. s’agissant d’une personne qui n’a pas de nationalité, si, les circonstances à la suite desquelles elle a été reconnue comme réfugiée ayant cessé d’exister, elle est en mesure de retourner dans le pays dans lequel elle avait sa résidence habituelle –

wichtige Anhaltspunkte für die Frage der Art, des Umfangs und der Dauerhaftigkeit der politischen Veränderungen im Herkunftsland, die Voraussetzung für eine Anwendung der Klauseln sind. So ist bemerkenswert, dass sich der deutsche Wortlaut von dem englischen bzw. französischen Wortlaut in einem interessanten Detail unterscheidet. Während die deutsche Übersetzung von den Umständen spricht, auf Grund deren die Person als Flüchtling anerkannt wurde, spricht die englische Fassung von den Umständen, in deren Zusammenhang (in connection with which) die Anerkennung

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

erfolgte, und die französische Fassung spricht von den Umständen, in deren Folge (à la suite) die Anerkennung erfolgte. Die – maßgeblichen – englischen bzw. französischen Fassungen beziehen sich sehr viel klarer auf die allgemeinen politischen Bedingungen in dem Herkunftsland des Flüchtlings 401 als die – nicht maßgebliche – deutsche Übersetzung, die sich eher auf die Umstände des konkreten Einzelfalls zu beziehen scheint oder zumindest insoweit mehrdeutig ist. Der Begriff Umstände (circumstances bzw. circonstances) weist zudem auf den grundlegenden (fundamental) Charakter der zu fordernden Veränderungen hin, da er weit gefasst ist und offenbar nicht nur einzelne Verfolgungsaspekte oder das einzelne Verfolgungsschicksal erfasst. 402 Wenn der Verlust der Flüchtlingseigenschaft schon – spiegelbildlich – bei Wegfall der ursprünglich begründeten Furcht vor Verfolgung wegen eines der Konventionsmerkmale hätte eintreten sollen, hätte es nahegelegen, statt vom „Wegfall der Umstände“ etwa vom „Wegfall der (konkreten) Verfolgungsfurcht“ oder schlicht vom „Wegfall der Voraussetzungen nach Art. 1 A (2)“ zu sprechen. Soweit Art. 1 C (5) sich auf den Schutz des Landes der Staatsangehörigkeit bezieht, ist damit zunächst – nur – der diplomatische Schutz gemeint. 403 Dies ergibt sich auch aus der Regelung für Staatenlose in Art. 1 (6), in der eine Bezugnahme auf den Schutz des Landes des vormaligen gewöhnlichen Wohnsitzes fehlt. Da Staatenlose nicht auf den diplomatischen Schutz eines Landes ihrer Staatsangehörigkeit zurückgreifen können, scheidet bei ihnen auch das Vorhandensein diplomatischen Schutzes als Kriterium für die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft aus. Im Sinne des diplomatischen Schutzes wird der Begriff Schutz auch an anderer Stelle in Art. 1 C mehrfach genannt. So fällt eine Person gemäß Art. 1 C (1) nicht mehr unter dieses Abkommen, „wenn sie sich freiwillig erneut dem Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, unterstellt,“ oder gemäß Art. 1 C (3), „wenn sie eine neue Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie erworben hat, genießt“. Auch in Art. 1 C (5) Satz 2 GFK wird der Begriff Schutz verwendet, wenn dort auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe verwiesen wird, „um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“. In all diesen Fällen, in denen in Art. 1 C von Schutz die Rede ist, bezieht sich dieser Begriff entsprechend seiner gewöhnlichen Bedeutung offenkundig stets auf den diplomatischen Schutz, dem sich die betreffende Person freiwillig wieder unterstellt, den sie von dem Land einer neuen Staatsangehörigkeit erwirbt oder den sie bezogen auf das Land der Staatsangehörigkeit ablehnen kann. Eine unmittelbare Verknüpfung mit dem Flüchtlingsbegriff in Art. 1 A (2) GFK dergestalt, dass nur der Schutz vor begründeter Furcht vor Verfolgung wegen 401 402 403

Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, § 147, S. 400. Vgl. auch Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, § 147, S. 401. Vgl. auch Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, § 147, S. 401.

C. Materielle Legitimation

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einer der Konventionsmerkmale gemeint ist, lässt sich dem Begriff Schutz des Landes in Art. 1 C (5) daher ebenso wenig wie der Verwendung des Begriffes Schutz an anderen Stellen des Art. 1 C entnehmen. Das Fehlen diplomatischen Schutzes – nicht erst die Staatenlosigkeit – wurde schon früh als grundlegendes Merkmal der Definition des Flüchtlings angesehen. Dabei galt es als unerheblich, ob die betreffende Person deshalb keinen diplomatischen Schutz genoss, weil er ihr vom – völkerrechtlich – schutzberechtigten Staat nicht gewährt wurde oder weil sie ihn selbst zurückgewiesen hatte. 404 Die diplomatische Schutzlosigkeit ist in beiden Fällen Ausdruck eines politischen, d. h. tief verwurzelten Konflikts zwischen dem Staat und dem Individuum. Erst wenn dieser Konflikt gelöst und der Herkunftsstaat wieder zur Schutzgewährung bereit und in der Lage ist, kann die rechtliche Grundlage für einen Entzug der Flüchtlingseigenschaft gegeben sein. 405 Dennoch ist der Begriff Schutz seinem gewöhnlichen Wortsinn nach wesentlich weiter als der Begriff diplomatischer Schutz und umfasst etwa auch den Bereich der fürsorgenden Verwaltung. 406 Er impliziert zudem, dass gewisse Mindestanforderungen hinsichtlich der Ausgestaltung der staatlichen Herrschaft im Hinblick auf deren Fähigkeit und Bereitschaft, überhaupt Schutz etwa vor elementaren Menschenrechtsverletzungen zu gewähren, erfüllt sein müssen. Die Formulierung, dass es die Person nach Wegfall der Umstände nicht mehr ablehnen können darf, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, weist schließlich darauf hin, dass es neben dem Wegfall der Umstände und einer Wiederherstellung wirksamen Schutzes durch den Herkunftsstaat weiterer Zumutbarkeitserwägungen bedarf, bevor eine Beendigung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Ebenso verhält es sich mit der Formulierung betreffend Staatenlose, die nach Wegfall der Umstände in der Lage sein müssen, in das Land ihres vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts zurückzukehren. Käme es ausschließlich auf den Wegfall der ursprünglich die Verfolgung begründenden Umstände an, so hätte eine entsprechende Beschränkung des Vertragstextes nahegelegen. In diesem Fall hätte die Aussage genügt, dass eine Person nicht mehr unter das Abkommen fällt, wenn die Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, weggefallen sind. So sind die Klauseln aber nicht gefasst. Vielmehr enthalten sie ausdrücklich zusätzliche Voraussetzungen, denen nicht von vorneherein jeglicher eigenständige Bedeutungsgehalt abgesprochen werden kann. Auch die Systematik und Struktur des Art. 1 GFK in seiner Gesamtheit belegen, dass an das Bestehen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A (2) GFK grundsätzlich verschiedene Voraussetzungen zu stellen sind als an die Beendigung im 404 405 406

Vgl. Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 44 ff. Vgl. Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 921. Vgl. Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 44 f.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Falle eines Wegfalls der Umstände nach Art. 1 C (5) und (6) GFK. Die letztgenannten Bestimmungen beziehen sich nur auf Personen, die zuvor als Flüchtlinge anerkannt wurden (has been recognized as a refugee bzw. a été reconnue comme réfugiée); die „Wegfall der Umstände“-Klauseln setzen also nach ihrem Wortlaut den vorausgegangenen Akt einer förmlichen Anerkennung voraus, der seinerseits nicht konstitutiv für das Bestehen der Flüchtlingseigenschaft ist. Die Anerkennung ist ein deklaratorischer Akt. Eine Person ist Flüchtling, wenn sie die materiellen Voraussetzungen des Art. 1 A (2) GFK erfüllt. Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 C (5) und (6) GFK bezieht sich dagegen auf die nachfolgende grundsätzlich verschiedene Situation der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft, nachdem ein Flüchtling zuvor bereits förmlich als solcher anerkannt worden ist. Sie ist daher nicht das Spiegelbild des Art. 1 A (2) GFK. Wenn eine Beendigung der Flüchtlingseigenschaft auch im Falle anerkannter Flüchtlinge allein wegen des Wegfalls der konkreten Umstände, in deren Zusammenhang die Anerkennung erfolgte, beabsichtigt gewesen wäre, würde sich die Aufnahme der „Wegfall der Umstände“-Klauseln als gänzlich überflüssig erweisen. 407 Für die Auslegung der Sätze 1 der „Wegfall der Umstände“-Klauseln, die den Gegenstand der Untersuchung bilden, sind auch deren Sätze 2 in den Blick zu nehmen, die nach Wegfall der Umstände die Berücksichtigung zwingender, auf früheren Verfolgungen beruhender Gründe vorsehen, aus denen die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes der Staatsangehörigkeit oder eine Rückkehr in das Land des gewöhnlichen Aufenthalts abgelehnt werden können. Die Sätze 2 des Art. 1 C (5) und (6) GFK nehmen ausdrücklich die Definition des Flüchtlings in Ziffer 1 des Abschnitts A von Artikel 1 in Bezug. Es entspricht einhelliger Auffassung 408 – auch derjenigen des Bundesverwaltungsgerichts zu der Parallelvorschrift in § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG 409 – dass diese Bestimmungen eine besondere Zumutbarkeitsklausel enthalten, die bei Vorliegen der Voraussetzungen der Sätze 1, nämlich einer erheblichen Veränderung der grundlegenden politischen Verhältnisse, stets zu berücksichtigen ist. In diesen besonderen Zumutbarkeitsklauseln der Sätze 2 ist ebenfalls davon die Rede, dass der Flüchtling es – aus den dort genannten besonderen Gründen – ablehnen kann, den Schutz des Landes seiner Staatsangehörigkeit in Anspruch zu nehmen und in das Land seines gewöhnlichen Aufenthaltes zurückzukehren. Diese den beiden Sätzen gemeinsame Formulierung – ablehnen können – legt daher die Annahme nahe, dass auch in den Sätzen 1 Fragen der Zumutbarkeit – wenngleich aus anderen als zwingenden, auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründen – angesprochen sind. 407 Vgl. Hierzu auch: Lord Brown of Eaton-Under-Heywood in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 65; Dissenting opinion, Judge Kirby, in: HCA, QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), Rdnr. 96 – 103. 408 Vgl. statt vieler: UNHCR-Handbuch, Ziff. 136. 409 BVerwG, Urteil vom 01. 11. 2005 – 1 C 21/04 – BVerwGE 124, S. 277 –292, 289 ff.

C. Materielle Legitimation

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Bereits aus dem Wortlaut der „Wegfall der Umstände“-Klauseln und der Systematik des Art. 1 GFK ergibt sich demnach, dass Art. 1 A (2) GFK einerseits und Art. 1 C (5) und (6) GFK keine spiegelbildlichen Bestimmungen sind. Der Verlust der Flüchtlingseigenschaft kommt nur bei grundlegenden, fundamentalen Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Herkunftsland des Flüchtlings in Betracht und nur dann, wenn der Herkunftsstaat seine Schutzpflichten gegenüber dem Flüchtling wieder erfüllen kann und tatsächlich auch erfüllt. Zudem weist der Wortlaut darauf hin, dass die Flüchtlingseigenschaft bei Vorliegen dieser Voraussetzungen nicht automatisch endet, sondern Zumutbarkeitserwägungen eine Rolle spielen. (2) Ziel und Zweck des Vertragstextes Die vorstehende Auslegung anhand des Wortlauts wird durch Ziel und Zweck der Konvention bekräftigt. Der Genfer Flüchtlingskonvention und ihrem Protokoll liegen das Ziel und der Zweck zu Grunde, einem Verfolgten Schutz vor Verfolgung und eine gesicherte Rechtsstellung zu gewähren. Der Schutzgedanke bzw. die Schutzfunktion der Genfer Flüchtlingskonvention wird stets in der internationalen Literatur und Rechtsprechung hervorgehoben 410 und ergibt sich unzweifelhaft bereits aus ihrer Präambel. Schon in ihrer Einleitung (Ziffer 1 der Präambel) stellt die Genfer Flüchtlingskonvention den Menschenrechtsschutz durch die Bezugnahme auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 in den Mittelpunkt. Die Präambel nennt zudem als Ziel der Konvention einerseits die Gewährleistung der Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten der Flüchtlinge in möglichst weitem Umfang (Ziffer 2 der Präambel); andererseits sollen die früheren internationalen Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge verbessert und der Anwendungsbereich dieser Abkommen sowie der dadurch gewährte Schutz durch die Flüchtlingskonvention erweitert werden (Ziffer 3 der Präambel). Ausdrücklich erkennt die Präambel den sozialen und humanitären Charakter des Flüchtlingsproblems an (Ziffer 4 der Präambel). Der Genfer Flüchtlingskonvention liegt der Gedanke der Subsidiarität zugrunde. Internationaler Schutz soll dann und so lange gewährt werden, wie das Land der Staatsangehörigkeit oder des gewöhnlichen Wohnsitzes zur Schutzgewährung nicht bereit und in der Lage ist. Dieses Schutzkonzept erfordert es auch, einem 410 Vgl. etwa: ARK, Grundsatzentscheid vom 08. 06. 2006 – EMARK 2006 Nr. 18, S. 180 –205, 195 f – www.ark-cra.ch; Refugee Status Appeals Authority, Auckland, Refugee Appeal No. 74665/03 – www.refugee.og.nz/Fulltext/74665 –03.htlm – Ziff. 56 ff; Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 124 ff.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

einmal anerkannten Flüchtling den Schutz des Herkunftslandes nicht bereits dann zu entziehen, wenn sich nicht sicher und auf Dauer feststellen lässt, dass er wirksamen Schutz in seinem Herkunftsland tatsächlich erlangen kann. 411 Dieser Gedanke eines gesteigerten Vertrauensschutzes von anerkannten Flüchtlingen gegen den Verlust der Flüchtlingseigenschaft spiegelt sich im gesamten Vertragstext der Genfer Flüchtlingskonvention wider. Schon dem Verweis auf Art. 1 A (1) GFK in den Sätzen 2 der „Wegfall der Umstände“-Klauseln kann entnommen werden, dass Flüchtlinge, die bereits einen förmlich anerkannten Status haben, generell einem gesteigerten Schutz gegen den Verlust der Flüchtlingseigenschaft unterliegen. 412 Insbesondere aber ist zu berücksichtigen, dass die Konvention die Gewährung umfangreicher Statusrechte einerseits und entsprechende Verpflichtungen der Aufnahmestaaten andererseits vorsieht. Hierzu gehört nach Art. 34 unter anderem eine erleichterte Eingliederung und Einbürgerung von Flüchtlingen. Wird Schutz gewährt, so ist dieser mit weitreichenden Vergünstigungen verbunden. Abgesehen von Art. 1, der die Definition des Flüchtlingsbegriffs festlegt, befassen sich die meisten Bestimmungen der Konvention ausschließlich mit der Festlegung dieser Rechte im Asyl. Damit ist es nicht zu vereinbaren, dass ein bereits anerkannter Flüchtling die Flüchtlingseigenschaft und die damit verbundenen Rechte verlieren kann, obwohl er in sein Herkunftsland – ungeachtet eines etwaigen Wegfalls der konkreten Umstände, die einmal für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgeblich waren – aufgrund der dort herrschenden, wenn auch veränderten politischen Verhältnisse oder gar eines bewaffneten internationalen oder internen Konflikts nicht zurückkehren kann. Dem Schutzzweck der Konvention entspricht es daher alleine, einmal anerkannten Flüchtlingen ihre erworbenen Rechte erst dann zu entziehen, wenn auch der Schutz des Herkunftslandes wiederhergestellt und tatsächlich wirksam und verfügbar ist. Anerkannten Flüchtlingen ihren Rechtsstatus und die damit verbundenen Vergünstigungen zu entziehen, während gleichzeitig eine Rückkehr etwa wegen immer noch andauernder Machtkämpfe unzumutbar ist, sie also gewissermaßen als Schubmasse im Wartestand zu halten, ist ein evidenter Widerspruch zu den durch die Konvention verbürgten Rechten. 413 b) Auslegung nach Art. 31 Abs. 3 WVRK Die Berücksichtigung der Auslegung und Anwendung des Vertrages nach dessen Abschluss ist ein allgemein anerkanntes und unverzichtbares Element bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge. 411

Vgl. etwa: UNHCR, Note on Cessation Clause, vom 30. 05. 1997, Ziff. 4. Vgl. Lord Brown of Eaton-Under-Heywood in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 65. 413 Vgl. etwa: UNHCR, Note on Cessation Clause, vom 30. 05. 1997, Ziff. 8, 9. 412

C. Materielle Legitimation

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(1) Besondere Aspekte für die Berücksichtigung der Staatenpraxis bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention Dies gilt im Grundsatz selbstverständlich auch für die Auslegung von Vertragsbestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention. Angesichts der hohen Zahl der Unterzeichnerstaaten dieses multilateralen Vertragswerkes stößt die Ermittlung der Staatenpraxis hier aber auf besondere praktische Schwierigkeiten, zumal sich der Umgang damit regelmäßig als innerstaatliche Verwaltungstätigkeit darstellt, die zudem mit dem Ausländer- bzw. Einwanderungsrecht der jeweiligen Staaten eng verknüpft ist. Von außen ist diese Staatenpraxis nur begrenzt einsehbar und die Aussagekraft von – vielfach nicht begründeten – Entscheidungen oft nicht eindeutig. Zudem sind die Konventionsvorschriften innerstaatlich häufig durch eigene Regeln überlagert, deren Verhältnis zu den Konventionsverbürgungen verschieden sein kann. 414 „Jede spätere Übung der Anwendung des Vertrages, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung“ hervorgeht, bezieht sich im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention vor allem auf die Anerkennungspraxis der Staaten oder – im vorliegenden Zusammenhang – auf die Praxis der Staaten bei der Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel. Maßgeblich kann insoweit allerdings nur eine Entscheidungspraxis sein, die sich gerade als Umsetzung der Konventionsverpflichtungen versteht, weil entweder die Genfer Flüchtlingskonvention unmittelbar in innerstaatliches Recht umgesetzt worden ist oder die nationalen Vorschriften zumindest als konkretisierende Ausformung und Umsetzung gerade der Konventionsbestimmungen verstanden werden bzw. sich aus ihnen ein bestimmtes Verständnis der Konventionsbestimmungen positiv ergibt. Gewährleistungen, die in einzelnen Staaten unabhängig von der Konvention oder über sie hinausgehend verbrieft werden, müssen dagegen außer Betracht bleiben. 415 Diese vertragsbezügliche Praxis muss einen Konsens der Parteien erkennen lassen, der allerdings nicht erst dann beachtlich ist, wenn sich eine von allen Staaten gleichermaßen geübte Praxis im Sinne einer aktiven Übung feststellen lässt. Vielmehr reicht es aus, dass die Übereinstimmung aus der späteren Praxis konkludent hervorgeht, etwa in Form der schlichten Billigung einer gewissen Anwendungspraxis durch die anderen Parteien, sofern diese Praxis den Vertragspartnern zur Kenntnis gelangt und bei gegenteiliger Auffassung eine aktive Reaktion zu erwarten wäre. Insbesondere Letzteres wird bei multilateralen humanitären Vertragswerken wie der Genfer Flüchtlingskonvention in der Regel aber erst dann der 414 Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 – 80, 63. 415 Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 – 80, 64.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Fall sein, wenn die Vertragspraxis sich auf einheitliche Linien verdichtet oder eine besondere öffentliche Brisanz erreicht. Wenn sich also mit breiter Zustimmung und auf gewisse Dauer eine Vertragspraxis etabliert hat, kann deren Indizwirkung mit dem bloßen Verweis auf vereinzelte abweichende Anwendungsbeispiele nicht mehr bestritten werden und Protest geboten sein. 416 Bei der Beurteilung der Frage, in welchem Grad sich eine übereinstimmende Auslegungspraxis gebildet hat, ist nicht nur die Anzahl der Staaten mit einer gemeinsamen Übung bedeutsam, sondern auch die Größe und das Gewicht der jeweiligen Staaten aufgrund ihrer Tradition als Aufnahmeland und der in diesem Zusammenhang gewonnenen Erfahrungen. 417 Unter diesem Aspekt kommt der Qualifikationsrichtlinie als verbindlichem Regelwerk für den EU-Raum nicht nur unmittelbare Bedeutung für die hieran gebundenen EU-Mitgliedstaaten zu, sondern sie wirkt sich darüber hinaus auch auf die Bewertung der Staatenpraxis hinsichtlich der Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention aus. 418 Wenn sich unter Berücksichtigung der vorstehenden Kriterien ein allgemeiner Konsens unter den Vertragsparteien gebildet hat, kann ein Staat hieran auch gegen seinen Willen gebunden sein. 419 Den zahlreichen Beschlüssen des Exekutivkomitees sowie den Stellungnahmen und Initiativen des UNHCR einschließlich seines Handbuchs und der zu einzelnen Fragen verfassten Richtlinien kommt im Rahmen der Staatenpraxis grundsätzlich keine bindende Wirkung zu. Dem UNHCR ist zwar nach Art. 35 GFK die Aufgabe zugewiesen, über die Durchführung der Konventionsbestimmungen zu wachen; er hat aber keinerlei Exekutivbefugnisse gegenüber den Staaten und kann ihnen auch keine bestimmte Interpretation vorschreiben. Zuständig für die Anwendung und damit auch die Interpretation der Konvention sind allein die Mitgliedstaaten. 420 In diesem Rahmen haben allerdings vor allem die Beschlüsse des Exekutivko416 Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 – 80, 67 ff. 417 Lord Brown of Eaton-Under-Heywood in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 79. 418 Vgl. hierzu etwa: ARK, EMARK 2006 Nr. 18, S. 180 –205, 195 f – www.ark-cra.ch: Mit diesem Grundsatzentscheid hat sich die schweizerische Asylrekurskommission der von ihr als „in ihrer Eindeutigkeit geradezu erdrückend“ bezeichneten Staatenpraxis hinsichtlich der Berücksichtigung nichtstaatlicher Verfolgung angeschlossen und sich dabei u. a. auf die Regelung in Art. 6 Buchst. c) der Qualifikationsrichtlinie berufen. S. ferner etwa: Lord Hope of Craighead in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL19(10. März 2005), Ziff. 22 ff. 419 BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93 – BVerfGE 94, S. 49 –114, 91; ARK, EMARK 2006 Nr. 18, S. 180 –205, 196 – www.ark-cra.ch.; Lord Brown of EatonUnder-Heywood in: Hoxha & Anor v Secretary of State for the Home Department (2005), UKHL 19 (10. März 2005), Ziff. 75; Hailbronner, Anmerkung (zur Tamilen-Entscheidung des BVerwG, Urteil vom 18. 01. 1994 – 9 C 48/92 – BVerwGE 95, S. 42 –53), JZ 1995, S. 250 – 252, 252. 420 Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 – 80, 78 f.

C. Materielle Legitimation

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mitees, das sich aus Regierungsvertretern zusammensetzt und seine Beschlüsse einstimmig fasst, ein erhebliches Gewicht, da sich in ihnen ein Konsens der vertretenen Staaten hinsichtlich einzelner Konventionsbestimmungen manifestiert. 421 Auch bei den Stellungnahmen des UNHCR handelt es sich keinesfalls um bloße flüchtlingsrechtliche Positionsbezüge. 422 Vielmehr kommt ihnen aufgrund des Mandats des UNHCR, seiner Spezialisierung und nicht zuletzt aufgrund seines Überblicks über die Anwendung der Konvention in den Vertragsstaaten große Bedeutung zu. 423 Das gilt vor allem für das Handbuch des UNHCR, dessen erste Veröffentlichung auf einen Beschluss des Exekutivkomitees aus dem Jahre 1977 zurückgeht, 424 und dem als Ausdruck und Zusammenfassung der Staatenpraxis zu den dort behandelten Fragen große Autorität beigemessen wird. 425 Besonderes Gewicht haben in diesem Zusammenhang die im Jahre 2001 auf Initiative des UNHCR durchgeführten Globalen Konsultationen und die in diesem Rahmen organisierten Expertenrunden unter Beteiligung von Regierungsvertretern, Wissenschaftlern und Praktikern aus allen Vertragsstaaten erlangt. Diese Expertenrunden dienten gerade dem Zweck, die Anwendungspraxis betreffend einzelne zentrale Konventionsbestimmungen einer umfassenden Analyse zu unterziehen. Das danach im Jahre 2003 aktualisierte Handbuch des UNHCR beschränkt sich also nicht auf eine fundierte Meinungsäußerung des UNHCR, vielmehr sind dort die Ergebnisse der Globalen Konsultationen eingeflossen. Soweit auf dieser Grundlage Richtlinien erarbeitet, ergänzt oder aktualisiert wurden, spiegeln sie deshalb nicht nur die Ergebnisse dieser Expertenrunden wider, sondern wegen deren Sinn und Zweck sowie deren Zusammensetzung auch die zu diesem Zeitpunkt bestehende Anwendungspraxis. Wenngleich auch diese aktualisierten Richtlinien unverändert keine bindende Wirkung im unmittelbaren Sinn haben, so verdichtet sich darin doch die bestehende Staatenpraxis zu einzelnen Konventionsbestimmungen unter Umständen in einer Weise, dass eine abweichende Vertragsauslegung einer besonderen, im Einzelnen darzulegenden und zu begründenden Rechtferti421

Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 112 f. So aber z. B.: OVG Saarland, Urteil vom 29. 09. 2006 – 3 R 6/06 – Juris, wenn der UNHCR dort in einem Atemzug mit amnesty international als „kritische Flüchtlingshilfeorganisation“ bezeichnet wird, S. oben 4. Kapitel, A.II.5). 423 Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 –80, 79; Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, S. 216 f; ARK, EMARK 2006 Nr. 18, S. 180 –205, 197 f – www.ark-cra.ch; OVG NRW, Urteil vom 27. 03. 2007 – 8 A 4728/05.A – S. 30 des amtlichen Umdrucks. 424 Executive Commitee of the High Commissionar’s Programme, Conclusion No. 8 (XXVIII), Buchst. g), 1977, Dokument Nr. 12 A (A132/12/Add.1) – nichtamtliche Übersetzung der englischen Originalfassung in der vollständigen Sammlung der Beschlüsse des Exekutivkomitees von 1975 – 2004 – www.unhcr.de. 425 Lord Steyn in: Adan v Secretary of State for the Home Department, Aitseguer v Secretary of State for the Home Department (2000), UKHL 67 (19. Dezember 2000), www.bailii.org/uk/cases/UKHL/2000/67.html; Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 114 ff. 422

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gung bedarf. 426 Mitunter können tatsächlich oder scheinbar sich widersprechende Aussagen des Handbuchs einerseits und der Richtlinien sowie etwaiger weiterer Stellungnahmen des UNHCR zu einzelnen Fragen andererseits allerdings auch zu einer Beeinträchtigung ihrer Aussagekraft führen. 427 (2) Die Staatenpraxis bezüglich der „Wegfall der Umstände“-Klausel Eine Analyse der Staatenpraxis einschließlich der Beschlüsse des Exekutivkomitees und der Aussagen des UNHCR bezüglich der „Wegfall der Umstände“Klausel ergibt unter Berücksichtigung der zuvor dargestellten Kriterien ein nahezu völlig übereinstimmendes Bild hinsichtlich der Anforderungen an Art, Umfang und Dauer der für eine Anwendung der Klauseln erforderlichen Veränderungen im Herkunftsland eines Flüchtlings. Fast einhellig gehen die Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention in ihren Verlautbarungen und ihren zum Teil rechtlich bindenden regionalen Vertragswerken davon aus, dass die Veränderungen fundamental, dauerhaft und stabil sowie insbesondere so beschaffen sein müssen, dass der einmal anerkannte Flüchtling wieder auf den wirksamen und effektiven Schutz seines Herkunftsstaates zurückgreifen kann. Dies gilt – ungeachtet der gegenwärtigen Auseinandersetzung in der dortigen Rechtsprechung – auch für Australien, wie sich aus den Empfehlungen der australischen Regierung für die Anwendung der „Wegfall der Umstände“Klauseln ergibt. 428 In der Expertenrunde von Lissabon ist diese Übereinstimmung hinsichtlich der Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln im Detail herausgearbeitet und festgestellt worden. Wie die Expertenrunde zutreffend hervorgehoben hat, hat sich diese Übereinstimmung zuletzt beeindruckend in dem Vorschlag der Europäischen Kommission betreffend die entsprechende Regelung in der Qualifikationsrichtlinie manifestiert. Unter Bezugnahme auf die Staatenpraxis und die Position des UNHCR wird dort ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Veränderungen im Herkunftsland des Flüchtlings so tiefgreifend und dauerhaft sein müssen, dass die begründete Furcht vor Verfolgung gegenstandslos geworden ist. Stets ist danach zu prüfen, ob es zu einem grundlegenden Wandel von entscheidender politischer oder sozialer Bedeutung gekommen ist, der zu stabilen Machtstrukturen geführt hat, die sich von denen unterscheiden, aufgrund deren der Flüchtling eine begründete 426 Vgl. Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, S. 216 f; so nun auch: OVG NRW, Urteil vom 27. 03. 2007 – 8 A 4728/05.A – S. 29f des amtlichen Umdrucks. 427 Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, S. 116 ff. 428 Refugee & Humanitarian Division, Department of Immigration Multicultural Affairs, The Cessation Clauses (Article 1 C) : An Australian Perspective, Canberra, Oktober 2001 – www.immi.gov.au/media/publications/refugee/convention 2002/04_cessation.pdf.

C. Materielle Legitimation

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Furcht vor Verfolgung hatte. Eine veränderte Lage, die immer noch durch eine gewisse Inkonstanz gekennzeichnet ist, gilt definitionsgemäß nicht als dauerhaft. Der Flüchtlingsstatus soll nicht einer häufigen Überprüfung unterzogen werden. Deshalb ist sorgfältig zu überprüfen, ob sich die Situation im Herkunftsland hinreichend stabilisiert und substantiell auch in Bezug auf die generelle Einhaltung der Menschenrechte verbessert hat. Dieses Verständnis von den Voraussetzungen der „Wegfall der Umstände“-Klauseln ist, worauf sich die Europäische Kommission zutreffend beruft, seit langem überwältigender Konsens unter den Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention. Dies ergibt sich schon aus den ersten diesbezüglichen Befassungen des Exekutivkomitees zur Auslegung der Klauseln. Auch die zuletzt im Jahre 2003 veröffentlichten Richtlinien des UNHCR zur Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln sind nicht lediglich politische Wunschvorstellungen, sondern bewegen sich in diesem Rahmen und sind eine sachgemäße detaillierte Darstellung der zu dieser Zeit bekannten Positionen der Unterzeichnerstaaten sowie der Doktrin. Die Anwendungspraxis der Unterzeichnerstaaten bestätigt diese Auslegung. Allerdings spiegelt sich die Anwendungspraxis hinsichtlich der „Wegfall der Umstände“-Klauseln – noch seltener, als es hinsichtlich einer bestimmten Anerkennungspraxis der Fall ist – nur sehr vereinzelt in gerichtlichen Entscheidungen wider. Dies liegt in der Natur der Sache begründet. Tiefgreifende politische Umwälzungen in Verfolgerstaaten bzw. Fälle eines „regime changes“, die überhaupt Anlass dazu geben könnten, über eine Anwendung der Klauseln ernsthaft nachzudenken, sind – obwohl sie insbesondere seit den Umwälzungen im ehemaligen Ostblock zugenommen haben – alles andere als alltägliche Ereignisse. Zudem haben viele Flüchtlinge aufgrund der Dauer ihres Aufenthalts im Aufnahmeland bereits einen unantastbaren Aufenthaltsstatus oder gar die Einbürgerung erlangt, wenn es zu derartigen tiefgreifenden Veränderungen in ihrem Herkunftsland kommt. Die Behörden der Aufnahmestaaten werden daher häufig die Einleitung von Verfahren betreffend das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft schon aus praktischen Gründen wegen des damit verbundenen Verwaltungsaufwandes gar nicht in Erwägung ziehen. Wenn aus der Sicht eines Unterzeichnerstaates die Voraussetzungen für eine Anwendung der Klauseln nicht vorliegen, werden Verfahren ebenfalls nicht eingeleitet, so dass es aus diesem Grunde zu keinen diesbezüglichen behördlichen oder gerichtlichen Entscheidungen kommt. So hat etwa, wie bereits erwähnt, keiner der Unterzeichnerstaaten mit Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland den Sturz des Regimes von Saddam Hussein bislang zum Anlass genommen, die „Wegfall der Umstände“-Klausel in Bezug auf irakische Staatsangehörige anzuwenden. Ausländische behördliche oder gerichtliche Entscheidungen, die sich aktuell mit der Situation im Irak und der Frage befassen, ob die Voraussetzungen für eine Anwendung der Klauseln insoweit vorliegen, sind also nicht verfügbar. Aufgrund dieser Einmütigkeit erscheint allerdings durchaus

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

der Schluss gerechtfertigt, dass nach der einhelligen Auffassung der Unterzeichnerstaaten die Voraussetzungen für eine Anwendung der Klausel in Bezug auf den Irak bislang nicht vorliegen. Dies drängt sich unter Berücksichtigung der sich nahezu täglich verschlechternden Sicherheitslage sowie des gleichzeitigen Anstiegs der Flüchtlingsströme aus dem Irak einerseits und der dargestellten Übereinstimmung über die Voraussetzungen für eine Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln im internationalen Flüchtlingsrecht andererseits auf. Die aus jüngerer Zeit verfügbaren Entscheidungen ausländischer Oberster Gerichte, die sich unmittelbar mit den „Wegfall der Umstände“-Klauseln befassen, sind die oben im Einzelnen vorgestellten Entscheidungen der Schweizerischen Asylrekurskommission, des österreichischen Unabhängigen Bundesasylsenats sowie des House of Lords, wobei die Letztere sich mit der Frage der Anwendung der Klauseln auf anerkannte Flüchtlinge auch nur am Rande befasst. Den Entscheidungen kommt insoweit erhebliche Bedeutung zu, als sie sich gerade als Umsetzung der Konventionsverpflichtungen verstehen und in den maßgeblichen innerstaatlichen Rechtsgrundlagen die Beendigungsklauseln der Genfer Flüchtlingskonvention umgesetzt wurden. Auf dieser Grundlage übernehmen und bestätigen diese Entscheidungen in jeder Hinsicht die Auslegung, die sich bereits aus den anderen Quellen ergibt und die in den Richtlinien des UNHCR zur Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln ausführlich niedergelegt sind. Die Vertragspraxis bezüglich der „Wegfall der Umstände“-Klauseln hat sich somit derart verdichtet und seit langer Zeit mit breiter Zustimmung etabliert, dass das Bestehen eines allgemeinen Auslegungskonsenses auch mit dem Verweis auf vereinzelte abweichende Anwendungsbeispiele wie der Entscheidung des australischen High Court nicht mehr bestritten werden kann. Diese Entscheidung ist für die Frage der Anwendungspraxis zu Art. 1 C (5) GFK im Übrigen auch deshalb von eingeschränkter Relevanz, weil sie sich ausdrücklich nicht als Umsetzung der entsprechenden Konventionsverpflichtungen versteht. Die „Wegfall der Umstände“-Klauseln der Genfer Flüchtlingskonvention sind nicht unmittelbar in innerstaatliches australisches Recht umgesetzt worden und die Mehrheitsmeinung des High Court stützt die Entscheidung im Fall QAAH maßgeblich auf die Auslegung der im australischen Migration Act vorgesehenen Regelungen für die Erteilung von Schutzvisa. Die in diesem Zusammenhang getroffenen Feststellungen zu Art. 1 C (5) GFK sind weder tragend noch erheben sie den Anspruch, zu dessen Auslegung maßgeblich beizutragen. Dies ist gerade der Anlass für die umfangreiche dissenting opinion von Richter Kirby gewesen, 429 die oben bereits ausführlich dargelegt wurde. Die unmittelbar auf Art. 1 C (5) bezogenen Entscheidungen ausländischer Oberster Gerichte fügen sich zudem in die feststellbare Anwendungspraxis hin429

HCA, QAAH, (2006) HCA 53 (15. 11. 2006), Rdnr. 54.

C. Materielle Legitimation

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sichtlich der Genfer Flüchtlingskonvention und der dieser zugrundeliegenden Schutzfunktion ein. Auch bei der Auslegung des Verfolgungsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention wird stets entscheidend darauf abgestellt, ob die Person in ihrem Herkunftsland hinreichenden Schutz vor elementaren Menschenrechtsverletzungen tatsächlich finden kann. Maßgeblich für die Anwendungspraxis – soweit ersichtlich – aller Unterzeichnerstaaten ist die Frage, ob der erforderliche Schutz tatsächlich verfügbar ist und der Herkunftsstaat seine grundlegenden Obhuts- und Schutzpflichten erfüllt, wobei zur Bestimmung der geschützten Rechte neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 im Wege der dynamischen Auslegung auf die in den vergangenen Jahrzehnten vereinbarten Menschenrechtspakte, insbesondere den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, die Internationale Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 und die Europäische Menschenrechtskonvention zurückgegriffen wird. 430 Die Bedeutung dieses Schutzkonzepts hat zuletzt die Schweizerische Asylrekurskommission in ihrem Grundsatzentscheid aus dem Jahre 2006 hervorgehoben, in dem sie sich der aus ihrer Sicht erdrückenden Staatenpraxis hinsichtlich der Nichtstaatlichkeit der Verfolgung angeschlossen hat. 431 Mit diesem Schutzkonzept ist es nicht vereinbar, die Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln bereits dann in Erwägung zu ziehen, wenn zwar der Umsturz eines Verfolgerregimes erfolgt ist, aber sich noch keine neue Regierung mit hinreichender Stabilität etabliert hat, die zur Wahrnehmung grundlegender Schutzpflichten gegenüber ihren Staatsangehörigen im Innern in der Lage ist. c) Historische Auslegung nach Art. 32 WVRK Die Vorarbeiten und Materialien eines völkerrechtlichen Vertrages können bei allen Vertragstypen, auch bei multilateralen Vertragswerken, grundsätzlich herangezogen werden. Bei der Genfer Flüchtlingskonvention waren außerdem allen – nach den Verhandlungen – beitrittsinteressierten Staaten die Materialien als Dokumente der Vereinten Nationen stets zugänglich, so dass ein irgendwie gearteter Vorbehalt insoweit nicht gerechtfertigt ist. 432 Allerdings ist der Rückgriff auf die Materialien nur subsidiär unter den engen Voraussetzungen des Art. 32 WVRK zulässig. Zu beachten ist vor allem, dass in Folge der Subsidiarität der historischen Auslegungsmethode alle in Art. 31 WVRK genannten Auslegungsmittel, insbesondere auch die Berücksichtigung der Staa430 Refugee Status Appeals Authority, Auckland, Refugee Appeal No. 74665/ 03 – www.refugee.og.nz/Fulltext/74665 – 03.htlm – Ziff. 64 ff. 431 ARK, EMARK 2006 Nr. 18, S. 180 – 205, 193 ff – www.ark-cra.ch. 432 Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 –80, 74; S. hierzu auch: Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 779, Fn. 8.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

tenpraxis, einer Berücksichtigung der Materialien grundsätzlich vorgehen. Zur Bestätigung und inneren Erklärung gewonnener Ergebnisse ist es aber immer zulässig, die Entstehungsgeschichte heranzuziehen. Umgekehrt gilt das strikte Verbot, klare Ergebnisse durch die Berufung auf die vertraglichen Vorarbeiten in Frage zu stellen. 433 Hinsichtlich der „Wegfall der Umstände“-Klauseln bestätigt der Rückgriff auf die Materialien das zuvor gefundene Ergebnis eindrucksvoll. Im Vertragsentwurf der Genfer Flüchtlingskonvention waren die „Wegfall der Umstände“-Klauseln zunächst exakt der Regelung in Kapitel II, 6 A (1) Buchst. e) und f) des UNHCR-Statuts nachgebildet und enthielten den Zusatz „nach Wegfall der Umstände ... es nicht mehr aus anderen Gründen als persönlichem Belieben weiterhin ablehnen kann ... Gründe rein wirtschaftlicher Art können nicht geltend gemacht werden“ („he can no longer ...claim grounds other than those of personal convenience for continuing to refuse to avail himself of the protection of the country of his nationality. Reasons of a purely economic character may not be invoked“),

bzw. in der Regelung betreffend Saatenlose, nach Wegfall der Umstände ... nicht mehr andere Gründe als persönliches Belieben anführen kann, um weiterhin die Rückkehr in dieses Land zu verweigern ... („he can no longer ...claim grounds other than those of personal convenience for continuing to refuse to return to that country“). 434

Diese Regelung wiederum war dem Statut der Internationalen Flüchtlingsorganisation vom 15. 12. 1946 nachgebildet, in dessen Anhang I, Abschnitt C, Nr. 2 besondere Regelungen für spanische Republikaner und andere Opfer des FalangistenRegimes getroffen wurden. 435 Die während der Vertragsverhandlungen vorgenommenen Änderungen beruhten auf Anträgen Israels, welche die Aufnahme der besonderen Zumutbarkeitsklauseln, wie sie ähnlich in den heutigen Sätzen 2 des Art. 1 C (5) und (6) enthalten sind, wie folgt vorsahen: „Provided that this paragraph shall not apply to refugees falling under section A/1/ of this article able to invoke compelling family reasons, or reasons arising out of previous persecutions for refuse to avail themselves of the protection of the country of nationality“ bzw. „for refusing to return to the country 433

Masing, Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, Festschrift für Böckenförde, S. 51 – 80, 74 f. 434 Travaux Préparatoires, Vergleichende Gegenüberstellung von Art. 1 des Vertragsentwurfs zur Genfer Flüchtlingskonvention mit Kapitel II, Paragrafen 6 und 7 des UNHCR-Statuts, U.N.Doc. A / CONF.2/4, 21. Mai 1951, www.unhcr.org und http://www.erefugee.ca/erefugee_internatlawdocs/travprep/4.htm. 435 Anhang I des Statuts abgedruckt in: Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 256 ff.; Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, § 146, S. 400.

C. Materielle Legitimation

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of his habitual residence“. Den Zusatz in den Sätzen 1 bezüglich der „grounds other than those of personal convenience“ enthielten die Anträge nicht mehr. 436 Der Wegfall des letztgenannten Zusatzes, der im ursprünglichen Vertragsentwurf auch in der Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 A (2) enthalten war, 437 stand im Zusammenhang mit einem Antrag Schwedens. Dieser sah die Streichung eines solchen Zusatzes in Art. 1 A (2) vor, weil die Erforschung der wirklichen Motive des Einzelnen schwierig sein könne. Der Text sei insoweit nicht hinreichend präzise, so dass die Umsetzung in nationales Recht Schwierigkeiten bereite. 438 Nach stilistischer Überarbeitung erhielten die Klauseln im Entwurf der Konvention, der den weiteren Beratungen zugrunde lag, abgesehen von späteren geringfügigen sprachlichen Modifikationen ihre heutigen Fassungen. 439 Israel führte zur Begründung seines oben genannten Antrages aus, dass es die auf gesetzestechnischen und praktischen Gründen beruhenden Einwände der schwedischen Delegation gegen die Formulierung „grounds other than those of personal convenience“ in Art. 1 A (2) nachvollziehen könne. Anstelle dieser vagen Formulierung schlage Israel daher die Einfügung einer Post-Verfolgungsklausel vor, nach der Flüchtlinge sich auf zwingende familiäre oder auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen könnten, um den Schutz des Landes der Staatsangehörigkeit oder des gewöhnlichen Wohnsitzes abzulehnen. Die Klausel sollte sich zur Vermeidung praktischer Schwierigkeiten nur auf Flüchtlinge nach Art. 1 A (1) beziehen. Damit sollte vor allem den besonderen Umständen der jüdischen Flüchtlinge, die in der Regel nicht unter Art. 1 A (2) der GFK fielen, Rechnung getragen werden. 440

436 Travaux Préparatoires, Anträge Israels zu Art. 1 des Vertragsentwurf, U.N.Doc. A / CONF.2/81 und A/CONF.2/82 vom 16. Juli1951 sowie A/CONF.2/827Rev:1 vom 17. Juli1951, www.unhcr.org und http://www.e-refugee.ca/erefugee_internatlawdocs/travprep/87.htm, 90.htm und 93.htm. 437 Travaux Préparatoires, Vergleichende Gegenüberstellung von Art. 1 des Vertragsentwurfs zur Genfer Flüchtlingskonvention mit Kapitel II, Paragrafen 6 und 7 des UNHCR-Statuts, U.N.Doc. A / CONF.2/4, 21. Mai 1951, www.unhcr.org und, http://www.erefugee.ca/erefugee_internatlawdocs/travprep/4.htm. 438 Travaux Préparatoires, Beitrag von Mr. Petren (Schweden), U.N.Doc. A / CONF.2/ SR.19, 26. November 1951, www.unhcr.org und http://www.e-refugee.ca/erefugee_internatlawdocs/travprep/141.htm. 439 Travaux Préparatoires, Protokoll der Vollversammlung, Bericht des Style Committee, U.N.Doc. A / CONF.2/102/Add.2, 24. Juli 1951, www.unhcr.org und http://www.erefugee.ca/erefugee_internatlawdocs/travprep/1242.htm. 440 Travaux Préparatoires, Beitrag von Mr. Robinson (Israel), U.N.Doc. A / CONF.2/ SR.23, 26. November 1951, www.unhcr.org und http://www.e-refugee.ca/erefugee_internatlawdocs/travprep/141.htm.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Auf der 28. Sitzung der Konferenz war der israelische Antrag Gegenstand intensiver Diskussionen. Insbesondere zwischen dem israelischen und französischen Delegierten entstand ein heftiger Disput über die Frage, was unter zwingenden familiären Gründen („compelling family reasons“) zu verstehen sei. 441 Der israelische Delegierte wollte hiervon etwa auch den Fall erfasst wissen, dass eine alte Frau in dem Land der früheren Verfolgung keinerlei Familienangehörige mehr habe und deshalb nicht zurückzukehren wünsche. Aus der Sicht Frankreichs war dies zu weitgehend, da es keine Rechtfertigung für die Fortdauer internationalen Schutzes gebe, wenn das Herkunftsland „auf den demokratischen Weg zurückgekehrt sei“. Großbritannien hielt demgegenüber den Antrag Israels für zu einschränkend und kündigte deshalb seine Enthaltung hierzu an, weil er die Formulierung „grounds other than those of personal convenience“ auf zwei spezifische Gründe reduziere. 442 Jenseits der Auseinandersetzung über die Reichweite der von Israel vorgeschlagenen besonderen Zumutbarkeitsklausel bestand aber völlige Übereinstimmung darüber, dass von einem „Wegfall der Umstände“ im Sinne der Klauseln erst dann die Rede sein konnte, wenn im Herkunftsland wieder demokratische Verhältnisse herrschten. Gerade der französische Delegierte als Gegner einer zu extensiven Fassung der Ausnahmegründe wies mehrfach auf die Vorgängerregelung in der IRO und die dortige Regelung für spanische Flüchtlinge hin, von denen viele in Frankreich Zuflucht gefunden hatten. Ausdrücklich betonte er: „Es wäre ein inhumaner Akt, ihnen (den Flüchtlingen) das Recht auf Beistand zu entziehen, so lange nicht sicher gestellt ist, dass sie ihn von ihrem Herkunftsland erhalten.“ Die Analyse der Travaux Préparatoires bestätigt demnach das bereits nach Art. 31 WVRK gefundene Auslegungsergebnis. Mit „Wegfall der Umstände“ im Sinne von Art. 1 C (5) und (6) GFK waren nur grundlegende politische oder territoriale Veränderungen gemeint, die zur (Wieder-)Herstellung demokratischer Verhältnisse geführt hatten sowie dazu, dass der Beistand bzw. Schutz des Aufnahmelandes nicht mehr erforderlich war, weil der Herkunftsstaat ihn wieder bereit stellen konnte. d) Zwischenergebnis Eine Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln nach den Grundsätzen für die Auslegung von Völkervertragsrecht kommt mithin hinsichtlich der Art und des erforderlichen Maßes der politischen Veränderungen im Herkunftsland 441 Travaux Préparatoires, Beiträge von Mr. Robinson (Israel) und Mr. Rochefort (Frankreich), U.N.Doc. A / CONF.2/SR.28, 28. November 1951, www.unhcr.org und http://www.e-refugee.ca/erefugee_internatlawdocs/travprep/151.htm. 442 Travaux Préparatoires, Beitrag von Mr. Hoare (Großbritannien), U.N.Doc. A / CONF.2/SR.28, 28. November 1951, www.unhcr.org und http://www.e-refugee.ca/erefugee_internatlawdocs/travprep/151.htm.

C. Materielle Legitimation

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eines – anerkannten – Flüchtlings zu demselben Ergebnis, wie es der derzeitigen nahezu einhelligen Auffassung im internationalen Flüchtlingsrecht entspricht und in Übereinstimmung damit in den Richtlinien des UNHCR zur Anwendung der Klauseln aus dem Jahre 2003 niedergelegt ist. 443 3. Kritische Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Das Bundesverwaltungsgericht wird den an eine Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln des Art. 1 C (5) und (6) GFK nach den Grundsätzen für die Auslegung von Völkervertragsrecht im Allgemeinen und der Genfer Flüchtlingskonvention im Besonderen zu stellenden Anforderungen weder methodisch noch inhaltlich gerecht. a) Methodische Kritik Obwohl das Bundesverwaltungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 01. 11. 2005 444 zutreffend Art. 31 WVRK als Ausgangspunkt und Maßstab für seine Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln wählt, nehmen die Ausführungen, die sich dem Versuch einer Auslegung nach völkervertragsrechtlichen Grundsätzen widmen, lediglich knapp eine Seite des umfangreichen Urteils ein. Das Bundesverwaltungsgericht befasst sich weder eingehend mit dem Wortlaut des Art. 1 C (5) und (6) GFK in seinen authentischen Vertragssprachen noch mit dem Ziel und Zweck der Konvention. Lediglich ansatzweise wird versucht, den Begriff „Schutz nach seinem Wortlaut und Zusammenhang der erwähnten Beendigungsklausel“ zu bestimmen. Ohne weitere Umschweife gelangt das Bundesverwaltungsgericht aber sogleich zu dem Ergebnis, dass der „Begriff Schutz des Landes“ in dieser Bestimmung keine andere Bedeutung als „Schutz dieses Landes“ in Art. 1 A (2) GFK habe und deshalb auch in der Beendigungsklausel ausschließlich der Schutz vor erneuter Verfolgung gemeint sei. 445 Äußerst ungewöhnlich ist, dass sich das Bundesverwaltungsgericht hier anstelle einer vertiefenden Auseinandersetzung und eigenen Begründung auf die oben bereits dargestellten Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts Dresden bezieht. 446 Die mehrfache Verwendung des Begriffes „Schutz“ in Art. 1 C GFK sowie dessen Bedeutungsgehalt wird ebenso über443

s. oben 4. Kapitel, B. I. 4) c). BVerwG, Urteil vom 01. 11. 2005 – 1 C 21.04 – BVerwGE 124, S. 276 –292. 445 BVerwG, Urteil vom 01. 11. 2005 – 1 C 21.04 – BVerwGE 124, S. 276 –292, 284. 446 Vgl. Bay.VGH Beschluss vom 06. 08. 2004 – 15 ZB 04.30565 – InfAuslR 2005, S. 43 – 44; VG Dresden, Urteil vom 27. 05. 2005 – A 2 K 30684/04 – AuAS 2005, S. 207 – 211. 444

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

gangen wie der systematische Zusammenhang mit den Sätzen 2 der „Wegfall der Umstände“-Klauseln. Auch der zentrale Zweck der Genfer Flüchtlingskonvention, Flüchtlingen einen gesicherten Status in den Aufnahmeländern zu garantieren, und der daraus folgende grundsätzliche systematische Unterschied zwischen solchen Flüchtlingen, die bereits anerkannt worden sind, und solchen, die sich noch im Anerkennungsverfahren befinden, wird nicht erörtert. Kein Wort verwendet das Bundesverwaltungsgericht darauf, die Staatenpraxis bezüglich der Klauseln zu analysieren und zu gewichten. Die Regelungen und Verlautbarungen in ausländischen nationalen und supranationalen Rechtskreisen werden gleichermaßen mit Nichtbeachtung bedacht wie der Vorschlag der Europäischen Kommission zu der entsprechenden Regelung in der Qualifikationsrichtlinie. Die zum Zeitpunkt des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts im November 2005 bereits vorliegenden Entscheidungen der Schweizerischen Asylrekurskommission finden ebenso wenig Erwähnung wie die Entscheidung des House of Lords. Auch die völkerrechtliche Lehre im In- und Ausland wird völlig übergangen. Gegenstand der Erörterung und einzige Quelle im Zusammenhang mit der Staatenpraxis ist ausschließlich das Handbuch des UNHCR, das auszugsweise wörtlich wiedergegeben wird, um so die vermeintliche Übereinstimmung mit dem gefundenen Ergebnis zu suggerieren. Die dazu in krassem Gegensatz stehenden Richtlinien des UNHCR zur Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln werden lediglich in einem Klammerzusatz erwähnt („anders Richtlinien“). Deren Relevanz für die Auslegung der Klauseln wird damit völlig übergangen. Ebenso ergeht es den unmittelbaren Ergebnissen der Konferenz von Lissabon im Jahre 2001. Trotz des von ihm selbst erhobenen Anspruchs ignoriert das Bundesverwaltungsgericht damit in dieser grundlegenden Entscheidung die anerkannten Methoden zur Auslegung von Völkervertragsrecht und greift allenfalls selektiv auf Einzelaspekte zurück, die das offenbar gewünschte Ergebnis scheinbar zu rechtfertigen vermögen. b) Inhaltliche Kritik Angesichts dieser gravierenden methodischen Mängel ist es wenig verwunderlich, dass das gefundene Ergebnis auch inhaltlich nicht tragfähig ist. Wie oben im Einzelnen dargelegt wurde, meint der Begriff „Schutz des Landes“ in Art. 1 C (5) GFK nicht nur den Schutz vor der ursprünglich geltend gemachten Verfolgung, die zur Anerkennung geführt hat. Der – spiegelbildliche – Wegfall der ursprünglichen Verfolgungsgefahr ist gewiss notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für eine Anwendung der Klauseln. Richtig ist zwar, dass es für die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 1 A (2) GFK darauf ankommt, ob der Herkunftsstaat Schutz gerade vor der wegen der Konventionsmerkmale befürchteten Verfolgung gewähren kann. Dem

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Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts kann auch insoweit zugestimmt werden, als die „Wegfall der Umstände“-Klauseln auf der Überlegung beruhen, dass internationaler Flüchtlingsschutz nicht mit einer Ewigkeitsgarantie gewährt wird und grundsätzlich nur so lange gerechtfertigt ist, bis der nationale Schutz des Herkunftsstaates wiederhergestellt ist. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt aber, dass anerkannte Flüchtlinge nach dem Schutzkonzept der Genfer Flüchtlingskonvention und entsprechend den darin verbürgten umfangreichen Rechten im Aufnahmeland einen legitimen Vertrauensschutz in eine sichere Zukunft im Aufnahmeland haben. Der pauschale Verweis des Bundesverwaltungsgerichts auf subsidiäre Schutzmechanismen des deutschen Ausländerrechts im Falle der Unzumutbarkeit einer Rückkehr der Flüchtlinge hebelt diese Grundkonzeption der Konvention aus. Die Frage der Berücksichtigungsfähigkeit allgemeiner Gefahren für Leib, Leben und Freiheit stellt sich im Rahmen des Art. 1 A (2) GFK einerseits und der „Wegfall der Umstände“-Klauseln andererseits in grundsätzlich unterschiedlicher Weise. Hinsichtlich des Art. 1 A (2) GFK ist es zutreffend, dass derartige allgemeine Gefahren für sich genommen nicht bereits zur Bejahung der Flüchtlingseigenschaft führen und die Genfer Flüchtlingskonvention – anders als etwa die OAU-Konvention – insoweit einer individuellen Konzeption folgt. Nicht jeder Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtling ist ein Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Dies entspricht jenseits der streitigen Frage der Staatlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen, die nun endgültig geklärt sein dürfte, auch seit jeher der Auffassung des UNHCR, selbst wenn ihr zufolge im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allgemeine Gefahren nicht per se ausschließen, dass gleichzeitig begründete Furcht wegen individueller Verfolgung aufgrund einer der Konventionsmerkmale zu bejahen ist. 447 Im Rahmen der „Wegfall der Umstände“-Klauseln bezieht sich die Frage nach der Berücksichtigungsfähigkeit allgemeiner Gefahren dagegen auf Aspekte der Zumutbarkeit und die Frage, ob der Entzug des Schutzes des Aufnahmelandes und der dort erworbenen Rechte gerechtfertigt ist. Zudem geht es um die Auswirkungen von allgemeinen Gefahren auf die erforderliche Bewertung, ob Veränderungen im Herkunftsland bereits als dauerhaft und stabil angesehen werden können. Es liegt in der Natur der Sache, dass Kriegs- und Bürgerkriegssituationen bzw. vergleichbare Situationen anhaltender Machtkämpfe weder als dauerhaft noch als stabil bezeichnet werden können. Die Europäische Kommission hat dies treffend wie folgt formuliert: „Eine veränderte Lage, die immer noch durch eine gewisse Inkonstanz gekennzeichnet ist, gilt definitionsgemäß nicht als dauerhaft.“

447 Vgl. UNHCR, Handbuch, Rdnr. 164, 165; Insoweit ist es zumindest irreführend, wenn das Verwaltungsgericht Dresden die Position des UNHCR wie folgt zusammenfasst: „‚Schutz‘ im Sinne des Abkommens sei nicht nur der Schutz vor Verfolgung, sondern auch vor allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit.“

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

c) Die vom Bundesverwaltungsgericht in Bezug genommenen Entscheidungen Da das Bundesverwaltungsgericht sich zur Begründung wesentlich auf die Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts Dresden bezieht, sollen diese einer ergänzenden Betrachtung unterzogen werden. (1) Die Entscheidung des Bayerischen VGH vom 06. 08. 2004 448 Die Bezugnahme auf diese Entscheidung ist verwirrend, hebt doch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zur Begründung wesentlich auf den – engeren – Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ab sowie auf das dem damals noch geltenden § 51 Abs. 1 AuslG zugrundeliegende Konzept der Staatlichkeit politischer Verfolgung. Die Auffassung, dass „die Worte ‚Schutz des Landes‘ in Art. 1 C, der den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft anspricht, keine andere Bedeutung als in Art. 1 A (2) GK“ hat, begründet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof seinerseits ebenfalls nicht näher. Es ist aber erkennbar, dass er diese Schlussfolgerung auch aus dem Konzept der Staatlichkeit politischer Verfolgung ableitet. So schreibt er anstelle von „Schutz des Landes“ auch „Schutz des Staates“ und betont ausdrücklich, dass sich „die Frage staatlicher Schutzgewährleistung in diesem Kontext nur stelle, wenn dem Ausländer eine Verfolgung im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG drohe“. Das Bundesverwaltungsgericht hat demgegenüber klargestellt, dass § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVG den „Wegfall der Umstände“-Klauseln entspreche und deshalb eine Auslegung nach den Methoden für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge vorzunehmen sei. Eine solche nimmt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof aber nicht vor. Das Konzept der Staatlichkeit politischer Verfolgung war zudem durch die Neuregelung des Zuwanderungsgesetzes in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts am 01. 11. 2005 bereits überholt. Die nahezu kommentarlose Übernahme der Gleichstellung von Schutz des Landes in Art. 1 C (5) und Art. 1 A (2) GFK lässt daher Fragen offen. (2) Die Entscheidung des VG Dresden vom 27. 05. 2005 449 Die Bezugnahme des Bundesverwaltungsgerichts auf diese Entscheidung ist besser nachvollziehbar, geht doch das Verwaltungsgericht Dresden ebenso wie sodann das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Regelungsgehalt des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG mit dem der Beendigungsklausel in Art. 1 C (5) 448 449

Bay.VGH, Beschluss vom 06. 08. 2004 – 15 ZB 04.30565 – InfAuslR 2005, S. 43 –44. VG Dresden, Urteil vom 27. 05. 2005 – A 2 K 30684/04 – AuAS 2005, S. 207 –211.

C. Materielle Legitimation

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GFK übereinstimmt. Auf dieser Grundlage nimmt das Verwaltungsgericht eine Auslegung gemäß Art. 31, 32 WVRK vor. Auch diese Auslegung bleibt aber hinter den hierfür geltenden rechtlichen Anforderungen zurück. Obwohl nach Auffassung des Verwaltungsgerichts die Auslegung des UNHCR deutlich über den Wortlaut hinausgeht, setzt es sich mit dem Wortlaut des Art. 1 C (5) GFK nicht weiter auseinander. Wesentlich stellt es auf die Systematik sowie Sinn und Zweck des Art. 1 C (5) GFK ab, woraus sich ergebe, dass mit dem Wort „Schutz“ nur der Schutz vor politischer Verfolgung gemeint sei. Hierzu wurde oben bereits ausführlich Stellung genommen. 450 Unklar wird die Argumentation zusätzlich dadurch, dass das Verwaltungsgericht die Position des UNHCR zumindest irreführend wie folgt zusammenfasst: „‚Schutz‘ im Sinne des Abkommens sei nicht nur der Schutz vor Verfolgung, sondern auch vor allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit.“ Mit dieser verallgemeinernden Aussage ist die Position des UNHCR zu Art. 1 A (2) GFK nicht zutreffend beschrieben. Das Verwaltungsgericht unterlässt die erforderliche scharfe Differenzierung zwischen Art. 1 A (2) und Art. 1 C (5) bzw. (6) GFK, und zwar sowohl bei der Wiedergabe der Position des UNHCR als auch bei der eigenen Ermittlung von Sinn und Zweck der „Wegfall der Umstände“-Klauseln. Mit der Staatenpraxis setzt es sich überhaupt nicht auseinander. Auch soweit es sich mit den Richtlinien des UNHCR befasst, unterbleibt eine Einordnung und Gewichtung dieser Richtlinien unter dem Gesichtspunkt der Staatenpraxis. Schließlich unternimmt das Verwaltungsgericht den Versuch, das gefundene Ergebnis durch eine historische Auslegung zu untermauern. Dabei bleibt es allerdings im Bereich der Vermutungen, wenn es hierzu ausführt: „Es ist zu bezweifeln, ob diese weitergehenden Anforderungen an die Beendigung des Flüchtlingsstatus dem Willen der Unterzeichnerstaaten ..entsprechen.“ Dennoch erklärt es diesen gemutmaßten Willen sodann unter Rückgriff auf die Transformationslehre in rechtlicher Hinsicht für allein maßgeblich, denn „nur die Genfer Flüchtlingskonvention in der von der Bundesrepublik unterzeichneten Fassung ist über die Zustimmung des Bundestages in deutsches Recht transformiert worden und kann rechtliche Wirkungen entfalten“. Die Lücke der fehlenden eigenen völkervertragsrechtlichen Auslegung in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 ist folglich mit der Bezugnahme auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Dresden nicht befriedigend geschlossen worden. Zudem bleibt offen, welche der Begründungsansätze des Verwaltungsgerichts Dresden sich das Bundesverwaltungsgericht in welchem Umfang zu eigen machen will.

450

s. oben 4. Kapitel, C. I. 2) a).

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

4. Zwischenergebnis Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erweist sich damit sowohl methodisch als auch inhaltlich als völkerrechtswidrig. 451 Wie das Bundesverwaltungsgericht selbst zutreffend ausgeführt hat, wollte der bundesdeutsche Gesetzgeber mit der Schaffung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG „ersichtlich die materiellen Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention übernehmen und als Widerrufsgründe ausgestalten“. 452 Die danach erforderliche Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln unterlässt es aber im Wesentlichen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Bundesverwaltungsgericht seinen eigenen Ansatz selbst nicht ernst nimmt und konsequent weiter verfolgt. In Wahrheit bleibt es gedanklich offenbar dem engen Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG verhaftet und wohl auch dem Begriff der politischen Verfolgung im Sinne staatlicher Verfolgung. Eine Öffnung gegenüber dem internationalen Flüchtlingsrecht findet nicht statt. Die Staatenpraxis als wesentlicher Maßstab für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention bleibt vollständig ausgeklammert, so dass auch die sich hieraus ergebenden – völkerrechtlichen – Bindungen übersehen werden. Es wurde bereits erwähnt: Der Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, wonach der Widerruf zu erfolgen hat, „wenn die Voraussetzungen für sie (die Anerkennung) nicht mehr vorliegen“, könnte – anders als der Wortlaut der Genfer Flüchtlingskonvention – durchaus Anlass zu der Annahme geben, dass im Falle des Widerrufs nur spiegelbildlich der Wegfall der ursprünglichen Verfolgungsgefahr zu prüfen ist. Der Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien zu der im Wesentlichen gleichlautenden Vorgängervorschrift des § 16 Abs. 1 AsylVfG belegt aber den Willen des bundesdeutschen Gesetzgebers, die materiellen Anforderungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention zu übernehmen. Dies ergibt sich für die bundesdeutsche Rechtslage auch aus der Systematik des Asylverfahrensgesetzes. Denn die Beendigungsklauseln des Art. 1 C GFK sind im Asylverfahrensgesetz in zwei verschiedenen Vorschriften geregelt worden. Die Vorschrift des § 72 AsylVfG betreffend das Erlöschen der Anerkennung bzw. der Flüchtlingseigenschaft zeichnet die Beendigungsklauseln des Art. 1 C (1) bis (4) GFK nach, während § 73 AsylVfG unter der Überschrift „Widerruf und Rücknahme“ die „Wegfall der Umstände“-Klauseln übernimmt. Widerruf bzw. Rücknahme von Verwaltungsakten unterliegen nach den allgemeinen Regeln des Verwaltungsverfahrensrechts in §§ 48, 49 VwVfG stets besonderen Voraussetzungen. Insbesondere der Widerruf begünstigender Verwaltungsakte unterliegt im Hinblick auf einen berechtigten 451 s. auch: UNHCR, Erste Bilanz zur Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes im Hinblick auf ausgewählte Fragen des Flüchtlingsschutzes und des subsidiären Schutzes, Berlin, März 2006, www.unhcr.de. 452 BVerwG, Urteil vom 01. 11. 2005 – 1 C 21.04 – BVerwGE 124, S. 276 –292, 283.

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Vertrauensschutz des Begünstigten erhöhten Anforderungen. Wenn der Entzug der Anerkennung oder der Flüchtlingseigenschaft in § 73 Abs. 1 AsylVfG – bewusst abgesetzt von den Erlöschensgründen des § 72 AsylVfG – als Widerruf bezeichnet wird, so impliziert dies ohne Weiteres, dass auch dieser Widerruf neben dem Wegfall der ursprünglichen Voraussetzungen für den Erlass der anerkennenden Entscheidung wegen zu berücksichtigender Vertrauensschutzgesichtspunkte zusätzlichen Anforderungen unterliegt, so wie dies auch im Rahmen der Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln der Fall ist. Es erstaunt, dass dieser Gesichtspunkt bislang in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und auch anderer Verwaltungsgerichte keinen Niederschlag gefunden hat.

II. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Lichte der Qualifikationsrichtlinie Die „Wegfall der Umstände“-Klauseln der Genfer Flüchtlingskonvention sind in Art. 11 Abs. 1 e) und f) der Qualifikationsrichtlinie wortgleich übernommen worden. Die hiermit von der Europäischen Kommission verbundene Vorstellung vom Inhalt der Klauseln wurde oben bereits im Rahmen der Staatenpraxis zu Art. 1 C (5) und (6) GFK ausführlich erörtert und gewichtet. Wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts 453 kommt der Qualifikationsrichtlinie als sekundärem Gemeinschaftsrecht für die deutsche Anwendungspraxis erhebliche eigenständige Bedeutung zu. Nach Art. 249 Abs. 3 EG sind Richtlinien für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich. Sie sind deshalb von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 Abs. 1 Satz 1 i.V. m. Art. 249 Abs. 3 EG fristgerecht und vollständig umzusetzen, in der Regel durch ein Gesetzgebungsverfahren. Den Mitgliedstaaten wird dabei für die Art der Umsetzung, also hinsichtlich der Form und des Mittels der Umsetzung, nicht aber hinsichtlich des Ziels ein Gestaltungsspielraum eingeräumt. Dabei haben die Mitgliedstaaten wegen Art. 10 EG stets diejenige Umsetzungsform zu wählen, die für die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts (effet utile) am besten geeignet ist. Bei fehlender oder nicht ordnungsgemäßer Umsetzung ist die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen den Mitgliedstaat durch die Kommission nach Art. 226 EG vorgesehen. Da diese Sanktionsmöglichkeit zur Sicherung des Gemeinschaftsrechts nicht ausreichend ist, hat der EuGH weitere Grundsätze entwickelt, von denen mit Blick auf die Qualifikationsrichtlinie insbesondere 453 Vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 22. 10. 1986 – 2 BvR 197/83 – BVerfGE 73, S. 339 –388, 375; BVerfG, Beschluss vom 08. 04. 1987 – 2 BvR 687/85 – BVerfGE 75, S. 223 –245, 240 ff; BVerfG, Urteil vom 12. 10. 1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 – BVerfG E 89, S. 155, 174; BVerfG, Beschluss vom 07. 06. 2000 – 2 BvL 1/97 – BVerfGE 102, S. 147 – 166, 161 ff; Streinz, Rdnr. 203 ff.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

das Institut der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien sowie die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung relevant sind. Unmittelbare Wirkung (nicht unmittelbare Geltung) in den Mitgliedstaaten haben Richtlinien nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH dann, wenn erstens die zur Zielerreichung in der Richtlinie gestellte Frist abgelaufen ist, zweitens die Richtlinie so hinreichend bestimmt formuliert ist, dass daraus ohne Umsetzungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber unmittelbar Rechte abgeleitet werden können (sog. „self executing“-Charakter der Richtlinie) und wenn schließlich drittens die Richtlinie den einzelnen Bürger begünstigt. Die Folge der unmittelbaren Wirkung besteht darin, dass sich einerseits der Einzelne gegenüber mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten auf die Richtlinie berufen kann und sie andererseits von Amts wegen zu berücksichtigen ist. 454 Unmittelbare Wirkung zu Lasten des Einzelnen entfaltet eine Richtlinie dagegen nicht, da sie sich nur an die Mitgliedstaaten richtet und einer solchen Belastung des Einzelnen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots entgegenstehen. 455 Für den Fall, dass die einschlägige Richtlinienbestimmung keine unmittelbare Wirkung entfaltet, weil sie dafür nicht klar, genau und unbedingt genug ist oder weil es sich um einen Rechtsstreit handelt, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, entnimmt der EuGH aus der Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung allen nationalen Rechts im Regelungsbereich der Richtlinie. Diese Pflicht obliegt allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten. 456 Das nationale Gericht hat danach bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses soweit wie möglich im Lichte des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auszulegen, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Art. 249 Abs. 3 EG nachzukommen. 457 Diese Pflicht zur gemein454

Vgl. EUGH, Urteil vom 19. 01. 1982 – RS. 8/81 – Becker, Slg. 1982, 53 Ziff. 24, 25; EuGH, Urteil vom 19. 11. 1991 – RS. C–6/90 und C–9/90 – Francovich, Slg. 1991, I–5403, Ziff. 11; EuGH, Urteil vom 05. 10. 2004 – RS. C 397/01 bis C 403/01 – Pfeiffer u. a., NJW 2004, S. 3547 – 3550, 3548; BVerfG, Beschluss vom 08. 04. 1987 – 2 BvR 687/ 85 – BVerfGE 75, S. 223 –245, 240 ff; BVerwG, Urteil vom 05. 06. 1986 – BVerwG 3 C 12.82 – BVerwGE 74, S. 241 – 250, 246 ff; Oppermann, § 6 Rdnr. 92; Streinz, Rdnr. 396, 400. 455 Vgl. EuGH, Urteil vom 08. 10. 1987 – RS. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, S. 3969, Ziff. 9; EuGH, Urteil vom 05. 10. 2004 – RS. C 397/01 bis C 403/01 – NJW 2004, S. 3547 –3550, 3548 unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung; Oppermann, § 6 Rdnr. 92; Streinz, Rdnr. 397. 456 EuGH, Urteil vom 05. 10. 2004 – RS. C 397/01 bis C 403/01 – Pfeiffer u. a., Slg. 2004, I–8835, Rdnr. 113; EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006 – RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 – 191, 191, Rdnr. 119. 457 Vgl. EUGH, Urteil vom 10. 04. 1984 – RS. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, S. 1891, Ziff. 26; EUGH, Urteil vom 10. 04. 1984 – RS. 79/83 – Harz, Slg. 1984, S. 1921, Ziff. 8; EUGH, Urteil vom 27. 06. 2000 – RS. C–240/98 bis C–244/98 – Océano

C. Materielle Legitimation

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schaftskonformen Auslegung betrifft das gesamte nationale Recht, unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie, um die es geht, erlassen wurde. 458 Voraussetzung hierfür ist, dass das deutsche Recht eine entsprechende Auslegungsmöglichkeit eröffnet. Solche Einbruchstellen für eine richtlinienkonforme Auslegung sind typischerweise unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln und Ermessens- oder Beurteilungsspielräume. 459 Wenn das nationale Recht mehrere Auslegungsvarianten eröffnet, entspricht es richtlinienkonformer Auslegung im Sinne einer interpretatorischen Vorrangregelung, diejenige Auslegung zu bevorzugen, die sich mit dem einschlägigen europäischen Richtlinienrecht am Besten vereinbaren lässt. 460 Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung findet erst dort ihre Grenze, wo das nationale Recht bei Anwendung der anerkannten Auslegungsmethoden eine richtlinienkonforme Auslegung nicht zulässt. 461 Auch hinsichtlich der richtlinienkonformen Auslegung gilt im Übrigen, dass sie durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt wird, so dass vor allem eine Auslegung contra legem oder zu Lasten des Einzelnen nicht zulässig ist . 462 Bis zu dieser Grenze haben die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung ihrer Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und so zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel übereinstimmt. 463 Kann das von einer Richtlinie vorgeschriebene Ziel nicht im Wege der Auslegung erreicht werden, so sind die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen zum Ersatz der den Bürgern durch die Nichtumsetzung dieser Richtlinie verursachten Schäden verpflichtet. 464 Grupo Editorial SA, Slg. 2000, I 4963, Ziff. 30, 31; EuGH, Urteil vom 05. 10. 2004 – RS. C 397/01 bis C 403/01 – Pfeiffer u. a., Slg. 2004, I–8835, Rdnr. 113; EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006 – RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 –191, 190, Rdnr. 108; Oppermann, § 8 Rdnr. 27; Streinz, Rdnr. 404. 458 EuGH, Urteil vom 13. 11. 1990 – RS. C–106/89 – Marleasing, Slg. 1990, I–4135, Rdnr. 8; EuGH, Urteil vom 05. 10. 2004 – RS. C 397/01 bis C 403/01 – Pfeiffer u. a., Slg. 2004, I–8835, Rdnr. 115; EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006 – RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 – 191, 190, Rdnr. 108. 459 Oppermann, § 8 Rdnr. 27; Streinz, Rdnr. 405. 460 EuGH, Urteil vom 05. 10. 2004 – RS. C 397/01 bis C 403/01 – Pfeiffer u. a., Slg. 2004, I–8835, Rdnr. 113; Auer, Neues zu Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung, NJW 2007, S. 1106 – 1109, 1106. 461 EuGH, Beschluss vom 17. 10. 2003 – RS. C–35/02 – Landeszahnärztekammer, Slg. 2003, I–12229. Rdnr. 37; Dörr, in: Sodan / Ziekow, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rdnr. 199. 462 EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006 – RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 – 191, 190, Rdnr. 110. 463 EuGH, Urteil vom 05. 10. 2004 – RS. C 397/01 bis C 403/01 – Pfeiffer u. a., Slg. 2004, I–8835, Rdnr. 115, 116, 118 und 119; EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006 – RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 – 191, 190, Rdnr. 111.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung gilt uneingeschränkt vom Ablauf der Umsetzungsfrist an und auch dann noch, wenn die Richtlinie bereits ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt ist. 465 Die Frage, ob und in welchem Umfang diese Pflicht auch für die Zeit zwischen Inkrafttreten der Richtlinie und dem Ablauf der Umsetzungsfrist gilt, gehört zu den umstrittensten Problemen im Bereich der richtlinienkonformen Auslegung. Ein weiterer Schritt zur Klärung dieser Frage ist durch die Entscheidung des EuGH im Fall Adeneler insoweit erfolgt, als danach bei verspäteter Umsetzung einer Richtlinie die allgemeine Verpflichtung der nationalen Gerichte zur richtlinienkonformen Auslegung als Vorrangregel gegenüber anderen Auslegungsmethoden erst ab Ablauf der Umsetzungsfrist besteht. 466 Da eine Richtlinie Rechtswirkungen gegenüber dem Mitgliedstaat aber bereits entweder ab ihrer Veröffentlichung oder ab ihrer Bekanntgabe entfaltet, müssen die Gerichte der Mitgliedstaaten es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie soweit wie möglich unterlassen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, welche die Erreichung des mit der Richtlinie verfolgten Zieles nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde. 467 Ob mit dieser Entscheidung das Problem der sog. Vorwirkung einer Richtlinie abschließend geklärt ist, darf bezweifelt werden. Die Frage nach dem Umfang und den genauen Konsequenzen dieser Unterlassungspflicht im Einzelnen wird – so viel ist gewiss – Gegenstand kontroverser Entscheidungen und Diskussionen im Schrifttum werden. 468 Wird man etwa annehmen müssen, dass die innerstaatlichen Gerichte für den Zeitraum zwischen Inkrafttreten der Richtlinie und Ablauf der Umsetzungsfrist generell Auslegungsergebnisse vermeiden müssen, die evident dem Inhalt der Richtlinie widersprechen, weil bereits dadurch eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele eintritt? 469 Ist dies bereits dann anzunehmen, wenn mit den Richtlinienzielen nicht in Einklang stehende gerichtliche Entscheidungen rechtskräftig, damit irreversible Zustände geschaffen und auf diese Weise die richtlinienwidrigen Wirkungen auch in der Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist perpetuiert werden? 470 Welche Bedeutung wird die Breitenwirkung von Entschei464 EuGH, Urteil vom 19. 11. 1991 – RS. C–6/90 und C–9/90 – Francovich, Slg. 1991, I–5403, Rdnr. 11; EuGH, Urteil vom 14. 07. 1994 – RS. C 91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I–3325, Rdnr. 27; EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006 – RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 – 191, 190, Rdnr. 112. 465 EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006–RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 –191, 191, Rdnr. 115. 466 EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006–RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 –191, 191, Rdnr. 115. 467 EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006–RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 –191, 191, Rdnr. 119, 121 – 123. 468 Auer, Neues zu Umfang und Grenzen richtlinienkonformer Auslegung, NJW 2007, S. 1106 – 1109, 1108 f. 469 So wohl: Franzen, Anmerkung zur Entscheidung des EuGH vom 04. 07. 2006, JZ 2007, S. 191 – 194, 192.

C. Materielle Legitimation

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dungen haben? 471 Welche Bedeutung kommt der Unterlassungspflicht in Bereichen zu, die traditionell durch Richterrecht geprägt sind? 472 Da im Falle der Qualifikationsrichtlinie die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist, sollen diese Fragen an dieser Stelle aber nicht weiter erörtert werden. Die Unterschiede zwischen unmittelbarer Wirkung einer Richtlinie und richtlinienkonformer Auslegung sind fließend. 473 Wenn das nationale Recht eine Auslegungsmöglichkeit eröffnet, kann der – souveränitätsschonenderen – richtlinienkonformen Auslegung der Vorzug gegeben werden, sofern bereits dadurch die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts und dessen einheitliche Anwendung sichergestellt wird. Von einer unmittelbaren Wirkung der – nicht fristgemäß umgesetzten – Qualifikationsrichtlinie und der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts gehen auch die hierzu ergangenen Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums 474 sowie das Bundesverwaltungsgericht 475 aus. Sowohl für den Fall der unmittelbaren Anwendung einzelner Regelungen der Qualifikationsrichtlinie als auch für den Fall der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts ist es erforderlich, sich der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsmethoden zu vergewissern sowie des Verhältnisses zwischen Gemeinschaftsrecht und Völkervertragsrecht im Allgemeinen und der Qualifikationsrichtlinie und der Genfer Flüchtlingskonvention im Besonderen. 476 470 Vgl. hierzu: Hofmann, Die zeitliche Dimension der richtlinienkonformen Auslegung, ZIP 2006, S. 2113 – 2118, 2116. 471 Vgl. hierzu: Hofmann, Die zeitliche Dimension der richtlinienkonformen Auslegung, ZIP 2006, S. 2113 – 2118, 2116 f. 472 Vgl. hierzu: Hofmann, Die zeitliche Dimension der richtlinienkonformen Auslegung, ZIP 2006, S. 2113 – 2118, 2118. 473 Streinz, Rdnr. 405; Auer, Neues zu Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung, NJW 2007, S. 1106 – 1109, 1108. 474 Anwendungshinweise BMI, Kap. I und III: Die Anwendungshinweise berücksichtigen allerdings zu Unrecht nicht, dass eine unmittelbare Wirkung einer Richtlinie zu Lasten des Einzelnen ausgeschlossen ist. So bejahen sie etwa die unmittelbare Anwendung des Ausschlusstatbestandes des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie, obwohl ein entsprechender Ausschlusstatbestand bislang im deutschen Recht nicht existiert. 475 BVerwG, Urteil vom 01. 02. 2007 – 1 C 224/06 – Juris; BVerwG, Beschluss vom 18. 12. 2006 – 1 B 53/06, 1 B 53/06 (1 PKH 18/06) – Juris. 476 Die Klärung dieser Fragen wird voraussichtlich auch zukünftig nach einer Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie von zentraler Bedeutung sein. In dem derzeit vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 28. 03. 2007 bedient sich die Bundesregierung zur Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie überwiegend einer Verweisungstechnik und erklärt einzelne Regelungen für ergänzend anwendbar oder übernimmt diese wortgleich, s. etwa Ziff. 48 Buchst. a), cc), Buchst. d) und Buchst. f) des Gesetzentwurfs zur Änderung des § 60 AufenthG.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

1. Allgemeine Grundsätze zur Auslegung von europäischem Recht Mit Hilfe der jahrzehntelangen Praxis des Europäischen Gerichtshofs, der nach Art. 220 EG der autoritative Interpret des Europäischen Gemeinschaftsrechts ist, hat sich eine eigene gemeinschaftsrechtliche Interpretation mit selbständigen Grundsätzen entwickelt. Anknüpfungspunkt sind die allgemein anerkannten Auslegungsmethoden auf der Grundlage von Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte, die jedoch in einer spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Weise gewichtet und zum Teil durch neuartige Auslegungsregeln ergänzt werden. Primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht werden im wesentlichen in der gleichen Weise ausgelegt, wobei aus Gründen der Rangordnung der Rechtsquellen sekundäres Gemeinschaftsrecht so auszulegen ist, dass es mit Primärrecht vereinbar ist. 477 Dem Wortlaut kommt eine besondere Bedeutung zu. Nach der Doktrin des acte claire ist bei eindeutigem, klarem Wortlaut nicht weiter auf andere Auslegungsprinzipien zurückzugreifen. 478 Allerdings stößt die Wortauslegung auch schnell an ihre Grenzen. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft liegt inzwischen ebenso wie das Sekundärrecht in 23 479 authentischen Vertragssprachen vor. Da alle diese Vertragssprachen gleichermaßen verbindlich sind, muss dann, wenn die sprachlichen Fassungen voneinander abweichen, eine Synthese gefunden werden. Der Gerichtshof wendet dabei nicht das Mehrheitsprinzip an, sondern nimmt einen wertenden Textvergleich unter Berücksichtigung systematischer und vor allem teleologischer Argumente vor. 480 Da juristische Begriffe ihre wirkliche Bedeutung nicht aus der geläufigen Sprache, sondern aus dem Rechtssystem erhalten, orientiert sich der EuGH an dem spezifischen „Sprachgebrauch des Vertrages“, um die Autonomie und den Vorrang des EU-Rechts gegenüber dem nationalen Recht zu wahren. 481 Da die im europäischen Recht verwendeten Begriffe der Verwirklichung bestimmter Ziele, insbesondere der Herstellung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion gemäß Art. 2 EG dienen, müssen sie außerdem in ihrem jeweiligen Funktionszusammenhang interpretiert werden. Eine Orientierung an entsprechenden Begriffen des nationalen Rechts kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn das Gemeinschaftsrecht insoweit keine Regelungen trifft oder ausdrücklich auf das nationale Recht verweist. 482 477

Oppermann, § 8 Rdnr. 18; Streinz, Rdnr. 498, 499. Oppermann, § 8 Rdnr. 20. 479 Vgl. Art. 314 EG. 480 EUGH, Urteil vom 01. 07. 1999 – RS. C–434/97 – Kommission / Französische Republik, Slg. 2000, I–1921, Ziff. 22; Oppermann, § 8 Rdnr. 21; Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, S. 180 – 186, 185. 481 Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, S. 180 –186, 185. 478

C. Materielle Legitimation

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Führt die wörtliche Auslegung nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, ist der Sinn der Norm aus der Systematik des Vertrages zu bestimmen. Bei dieser Auslegung aus dem Zusammenhang der Verträge greift der EuGH häufig auf eine Reihe allgemeiner Grundsätze in den Verträgen zurück, zu denen insbesondere die Prinzipien der Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Einheit der Verträge gehören. Eine wichtige Rolle als ergänzende Auslegungsmethode spielt in diesem Zusammenhang eine wertende Rechtsvergleichung zwischen den Verträgen und den nationalen Rechtsordnungen. 483 Die fortschreitende Integration als Ziel der Gemeinschaft (vgl. Präambel des EG-Vertrages) hat zu einer besonderen Gewichtung der teleologischen Methode geführt. Die Union besitzt eigene politische, wirtschaftliche und soziale Ziele, die insbesondere in Art. 2 EUV sowie in Art. 2 und 3 EG festgelegt sind. Aus diesen Vertragszielen bezieht der EuGH sein ganzheitliches Verständnis und betont, dass „jede Vorschrift des (EU–)Rechts ... im Lichte des gesamten (EU–) Rechts (sowie) seiner Ziele ... auszulegen“ ist. 484 Allgemein räumt der EuGH entsprechend dem Effektivitätsgrundsatz (effet utile) und dem Prinzip der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft derjenigen Auslegung den Vorzug ein, welche die Verwirklichung der Vertragsziele am meisten fördert und die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft sichert. 485 Der historischen Auslegung kommt demgegenüber lediglich untergeordnete Bedeutung als Hilfsmittel oder Fingerzeig zu. Eine historische Auslegung des Primärrechts wird allgemein abgelehnt, weil keine Materialien zur Entstehungsgeschichte der Gründungsverträge vorhanden sind. Auch bei der Auslegung von Sekundärrecht berücksichtigt der EuGH keine Dokumente außerhalb des Rechtsaktes selbst. Das gilt insbesondere für Erklärungen, welche die Mitgliedstaaten bei der Verabschiedung von Rechtshandlungen im Rat zu Protokoll gegeben haben. Der Gerichtshof zieht aus Gründen der Rechtssicherheit solche Erklärungen nur in Betracht, wenn sie Ausdruck in der fraglichen Bestimmung gefunden haben, etwa in den Begründungserwägungen oder in einem Anhang. Nachdem diese Erklärungen nunmehr allerdings gemäß Art. 207 III Uabs. 2 Satz 3 EG im Rechtssetzungsakt zu dokumentieren sind, ist der Rechtssicherheit Genüge getan und damit der ursprüngliche Grund für diese Rechtsprechung entfallen. 486

482

Streinz, Rdnr. 500; Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, S. 180 –186,

185. 483 Oppermann, § 8 Rdnr. 22; Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, S. 180 – 186, 183 f. 484 Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, S. 180 –186, 186. 485 Statt vieler: EuGH, Urteil vom 04. 07. 2006 – RS. C 212/04 – Adeneler u. a., JZ 2007, S. 187 – 191, 190, Rdnr. 111; Oppermann, § 8 Rdnr. 24. 486 Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, S. 180 –186, 183.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

2. Das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Völkervertragsrecht Entsprechend der völkerrechtlichen Rechtslage und dem fundamentalen Grundsatz Pacta sunt servanda werden die Rechte von Drittstaaten und die Pflichten von Mitgliedstaaten aus vorgemeinschaftlichen Verträgen durch den EG-Vertrag nicht berührt und die Mitgliedstaaten so vor einem gemeinschaftsrechtlich verursachten Völkerrechtsbruch geschützt. a) Grundsatz der völkerrechtskonformen Integration Die völkerrechtliche Rechtslage und der dem Gemeinschaftsrecht zugrunde liegende Grundsatz der völkerrechtskonformen Integration findet seinen Ausdruck in Art. 307 EG. Nach Art. 307 Abs. 1 EG werden vor Inkrafttreten der Gründungsverträge bzw. im Falle später beigetretener Staaten vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts abgeschlossene völkerrechtliche Verträge zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren dritten Ländern andererseits durch den EG-Vertrag nicht tangiert. Da jedoch nur die Positionen der beteiligten Drittstaaten zu schützen sind, geht im Verhältnis zwischen beteiligten Mitgliedstaaten im Kollisionsfall das Gemeinschaftsrecht vor. Das gilt jedenfalls, soweit dadurch die Rechte der dritten Länder nicht berührt werden, was insbesondere dann der Fall sein kann, wenn der Altvertrag im Sinne eines objektiven Regimes mehrseitige Verpflichtungen auferlegt, wie etwa Menschenrechts-, Umweltschutz-, Antiterrorismus- oder Drogenbekämpfungsabkommen. 487 Reine inter se-Verträge, an denen ausschließlich Mitgliedstaaten der EG beteiligt sind, fallen vor dem Hintergrund von Sinn und Zweck des Art. 307 EG nicht in dessen Anwendungsbereich. 488 Art. 307 Abs. 1 EG verbietet der Gemeinschaft nicht, Rechtsnormen zu erlassen, die mit vertraglichen Verpflichtungen einzelner Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten kollidieren können, gestattet jedoch dem betroffenen Mitgliedstaat, zur Erfüllung seiner Vertragspflicht gegenüber dem Drittstaat vom Gemeinschaftsrecht abzuweichen, soweit dies erforderlich ist. 489 Nach der Anpassungsklausel in Art. 307 Abs. 2 EG sind die betreffenden Mitgliedstaaten jedoch verpflichtet, alles Erforderliche zu unternehmen, um festgestellte Unvereinbarkeiten zu beheben. Als geeignetes Mittel hierzu kommt eine konfliktlösende Auslegung der Gemeinschaftsnormen einerseits und des Vertrages mit dem Drittstaat andererseits in Betracht und, soweit dies nicht genügt, das Bemühen um eine Anpassung des Vertrages mit dem Drittstaat oder eine vertragsgemäße Kündigung. 490 487 488 489

Streinz, Kokott, EUV / EGV, Art. 307 Rdnr. 12. Streinz, Kokott, EUV / EGV, Art. 307 Rdnr. 2. Streinz, Kokott, EUV / EGV, Art. 307 Rdnr. 21.

C. Materielle Legitimation

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Entsprechend dem Grundsatz der völkerrechtskonformen Integration hat sich auch der EuGH grundsätzlich um eine völkerrechtskonforme Auslegung bemüht und erkennt diese als zulässige Auslegungsmethode damit an. 491 b) Das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Genfer Flüchtlingskonvention Die Genfer Flüchtlingskonvention nimmt eine Sonderstellung ein. Art. 63 Abs. 1 Ziff. 1 EG, der die EG zu den unter Buchst. a) bis d) aufgezählten Asylmaßnahmen, unter anderem auch zum Erlass der Qualifikationsrichtlinie, befugt, betont ausdrücklich die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen. Die Maßnahmen müssen in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention, dem Protokoll und einschlägigen anderen Verträgen stehen. Zu den genannten einschlägigen anderen Verträgen wird man wegen deren Bedeutung in Asylverfahren insbesondere die EMRK rechnen müssen, auch wenn diese schon bisher gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV eine Sonderstellung einnahm und zudem nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH gemäß den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört. 492 Daneben kommen etwa das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. 12. 1984, das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. 11. 1989 oder das Europäische Übereinkommen über die Aufhebung des Sichtvermerkszwangs für Flüchtlinge vom 20. 04. 1959 in Betracht. 493 Die Betonung der Bindung der EG an diese multilateralen Abkommen ist insofern von Bedeutung, als die EG nicht Vertragspartei der Konvention und anderer einschlägiger Abkommen und auch gemäß Art. 307 EG nicht selbst daran gebunden ist. Die Betonung der völkerrechtlichen Verpflichtung hat daher nicht nur deklaratorischen Wert, sondern konstitutive gemeinschaftsrechtliche Bedeutung, da die EG dadurch auch beim Erlass interner Maßnahmen zur Einhaltung dieser Abkommen verpflichtet ist. 494 Der Respekt vor den völkerrechtlichen Verpflichtungen drückt sich auch in der Erklärung Nr. 17 zum Amsterdamer Vertrag aus, die für asylpolitische Angelegenheiten Konsultationen mit dem UNHCR und anderen einschlägigen Internationalen Organisationen vorsieht.

490

Oppermann, § 7 Rdnr. 24; Streinz, Rdnr. 596. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Band II, Europarecht, Kap. 271.2. 492 Vgl. hierzu: Streinz, Kokott, EUV / EGV, Art. 307 Rdnr. 3); anders mit Blick auf Art. 6 Abs. 2 EUV: Bergmann / Kenntner, Funke-Kaiser, Kap. 6, Rdnr. 11. 493 Bergmann / Kenntner, Funke-Kaiser, Kap. 6, Rdnr. 11. 494 Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 63 Rdnr. 6; Bergmann / Kenntner, Funke-Kaiser, Kap. 6, Rdnr. 11. 491

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Es sprechen daher gewichtige Gründe dafür, Art. 63 EG als lex specialis zu Art. 307 EG anzusehen. 495 Wegen der durch Art. 63 Abs. 1 Ziff. 1 EG vorgenommenen Selbstbindung der EG scheidet die Kündigung als Mittel der Konfliktlösung gemäß Art. 307 Abs. 2 EG aus. Der einzige Weg zur Lösung eines auftretenden Konfliktes zwischen europäischem Recht und den eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention sowie den weiteren einschlägigen Abkommen ist die völkerrechtskonforme Auslegung. Wegen der Anzahl und Bedeutung der EU-Mitgliedstaaten für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention im Rahmen der Staatenpraxis entsteht hier ein interessantes Spannungsverhältnis, in dem sich beide wechselseitig beeinflussen können. 3. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“Klauseln der Qualifikationsrichtlinie nach den Grundsätzen für die Auslegung von europäischem Recht Ausgangspunkt der Auslegung muss auch hier der Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie sein. Der Wortlaut der „Wegfall der Umstände“-Klauseln in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) der Qualifikationsrichtlinie ist mit demjenigen der „Wegfall der Umstände“-Klauseln der Genfer Flüchtlingskonvention identisch. Schon aufgrund des Wortlauts drängt sich daher auf, dass sich die „Wegfall der Umstände“-Klauseln der Richtlinie an dem völkerrechtlichen Vorbild orientieren und dieses unverändert übernehmen wollen. Dabei kann und muss unterstellt werden, dass die im Zeitpunkt der Verabschiedung der Richtlinie nahezu einhellige Auslegung der entsprechenden Klauseln der Genfer Flüchtlingskonvention durch den UNHCR, das Exekutivkomitee, die völkerrechtliche Lehre und die bestehende Staatenpraxis bekannt und eine Abweichung hiervon nicht beabsichtigt war. Andernfalls hätte es nahegelegen, eine etwaige Abweichung ausdrücklich kenntlich zu machen. Soweit Art. 11 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie ergänzend den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Pflicht auferlegt zu untersuchen, „ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann“, entspricht dies ebenfalls dem Stand der Auslegung im internationalen Flüchtlingsrecht. Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie enthält keine abweichenden materiellen Voraussetzungen für die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft, sondern eine Beweislastregel. Der Vorschlag der Europäischen Kommission erläutert dies klarstellend und betont, dass der Staat, der nicht länger Schutz gewähren wolle, die Beweislast trage und deshalb nachweisen müsse, dass er hierzu berechtigt sei. 496 Dies steht im Übrigen in Einklang mit allgemeinen Beweislastregeln. Auch in den 495

Gil-Bazo, Refugee status, subsidiary protection, and the right to be granted asylum under EC law, New Issues in Refugee Research, Research Paper No. 136, S. 4 f.

C. Materielle Legitimation

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Richtlinien des UNHCR zu den „Wegfall der Umstände“-Klauseln heißt es dementsprechend: „Das Aufnahmeland trägt die Beweislast dafür, dass im Herkunftsland grundlegende, stabile und dauerhafte Änderungen stattgefunden haben und die Anwendung des Artikels 1 C (5) oder (6) angemessen ist“. 497 Inhaltliche Abweichungen von der Genfer Flüchtlingskonvention lassen sich der Beweislastregel in Art. 11 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie demnach nicht entnehmen. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln der Qualifikationsrichtlinie in Übereinstimmung mit der einhelligen Auslegung der entsprechenden Klauseln der Genfer Flüchtlingskonvention ergibt sich auch aus Systematik sowie Ziel und Zweck der Qualifikationsrichtlinie. In Erwägungsgrund 2 der Richtlinie wird ausdrücklich auf die Vereinbarungen der Sondertagung des Rates von Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 hingewiesen, nach denen sich das zu schaffende Gemeinsame Europäische Asylsystem auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls stützen sollte. Durch den Verweis auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung wird dieses Anwendungsgebot allerdings zunächst nur für das Refoulement-Verbot des Art. 33 GFK hervorgehoben. In Erwägungsgrund 3 der Richtlinie erfolgt aber die Klarstellung, dass die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellen. In Erwägungsgrund 15 der Richtlinie werden Konsultationen mit dem UNHCR als wertvolle Hilfe bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft bezeichnet. Die Richtlinie stellt demnach mehrfach unmissverständlich klar, dass sie sich hinsichtlich der Regelungsbereiche, die von der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst sind, an dieser orientieren will und dabei die Stellungnahmen des UNHCR, zu denen insbesondere das Handbuch und etwaige Richtlinien zu speziellen Problemkreisen gehören, als Auslegungshilfe akzeptiert. Die gemeinsamen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Genfer Flüchtlingskonvention sollten eindeutig die Grundlage der mit der Qualifikationsrichtlinie beabsichtigten Harmonisierung sein, deren wesentliches Ziel nach Erwägungsgrund 7 der Richtlinie die Eindämmung der Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten ist. Auch aus Art. 63 Abs. 1 Ziff. 1 Buchst. c) EG, der die Rechtsgrundlage für die Qualifikationsrichtlinie darstellt, und der damit geschaffenen Bindung der EG insbesondere an die Genfer Flüchtlingskonvention sowie das Protokoll folgt, dass Abweichungen von der Genfer Flüchtlingskonvention nicht gewollt sind. Aus dem Vorstehenden ergibt sich zwangsläufig, dass die nach völkervertraglichen Grundsätzen zu ermittelnde Auslegung einzelner Konventionsbestimmungen maßgebliche Bedeutung auch für die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie 496

Erläuterungen zu Art. 13 (2) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig. 497 UNHCR, Guidelines 2003, Ziff. 25 (ii).

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

hat. Dies schließt die Heranziehung der im Zeitpunkt der Verabschiedung der Richtlinie bekannten Auslegung einzelner Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention durch den UNHCR und der bekannten Staatenpraxis bei der Auslegung der Qualifikationsrichtlinie ein. Uneingeschränkt muss dies in den Fällen angenommen werden, in denen das Handbuch des UNHCR und etwaige Richtlinien eine übereinstimmende Staatenpraxis widerspiegeln und der Wortlaut der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie keinerlei inhaltliche Abweichungen hiervon beinhaltet, wie es im Falle der „Wegfall der Umstände“-Klauseln der Fall ist. Dies ergibt sich zudem aus dem Vorschlag der Kommission für die Qualifikationsrichtlinie zu der entsprechenden Regelung des Art. 13 Abs. 1 (e) des Entwurfs, der jedenfalls als Hilfsmittel zur Auslegung herangezogen werden kann. Wie oben bereits dargestellt, nimmt die Kommission darin ausdrücklich auf die Position des UNHCR und die Staatenpraxis Bezug und erläutert in völliger Übereinstimmung damit konkretisierend, wann von einer maßgeblichen Veränderung der Umstände auszugehen ist bzw. welche Mindestvoraussetzungen für deren Annahme vorliegen müssen. 498 4. Zwischenergebnis Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln der Qualifikationsrichtlinie nach den Grundsätzen für die Auslegung von europäischem Recht stimmt mit derjenigen von Art. 1 C (5) und (6) der Genfer Flüchtlingskonvention überein und beinhaltet ebenso wie diese eine qualitative Dimension der Veränderungen im Herkunftsland eines Flüchtlings, wie sie im Einzelnen in den Richtlinien des UNHCR aus dem Jahre 2003 zu den Klauseln niedergelegt sind. 5. Kritische Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Auslegung des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) der Qualifikationsrichtlinie bislang überhaupt noch nicht eingehend befasst. Es wurde bereits dargelegt, dass das Bundesverwaltungsgericht alle aufgeworfenen Fragen durch seine Entscheidung vom 01. 11. 2005 als hinreichend geklärt betrachtet. 499 Dies gilt offenbar auch für die Frage, welche Bedeutung der Quali498 Erläuterungen zu Art. 13 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26. 02. 2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig. 499 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. 02. 2006 – 1 B 120/05 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 322; BVerwG, Beschluss vom 28. 06. 2006 – 1 B 136/05, 1 B 136/05 (1 PKH

C. Materielle Legitimation

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fikationsrichtlinie für die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zukommt, obwohl die Richtlinie in dem Grundsatzurteil nicht erwähnt ist. Da in der Entscheidung vom 01. 11. 2005 ausdrücklich auf Art. 1 C (5) GFK eingegangen worden sei und dieser mit Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der Richtlinie wörtlich übereinstimme, ist aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht erkennbar, welche „bisher nicht bedachte oder erneut klärungsbedürftige Auslegungsfrage zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG“ sich noch stellen könnte. 500 Diese Folgerung von der Wortidentität beider Bestimmungen auf eine auch inhaltliche Identität ist im Grundsatz nicht zu beanstanden. Allerdings beruht diese Schlussfolgerung des Bundesverwaltungsgerichts auf einem schwerwiegenden Missverständnis. Denn die Genfer Flüchtlingskonvention ist nicht mit dem Inhalt Gegenstand der Qualifikationsrichtlinie geworden, den das Bundesverwaltungsgericht einzelnen Konventionsbestimmungen gibt oder den diese auf der Grundlage einer strikten Transformationslehre nach den Vorstellungen des bundesdeutschen Gesetzgebers – vermeintlich oder tatsächlich – bei Erlass des Transformationsgesetzes hatten. 501 Die Vorstellungen des bundesdeutschen Gesetzgebers im Jahre 1953 über die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention sind für die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie gänzlich ohne Belang. Maßgeblich hierfür ist vielmehr ausschließlich die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention, die nach den in Art. 31 ff WVRK in Übereinstimmung mit Völkergewohnheitsrecht vorgesehenen Auslegungsmethoden gefunden wird. Dazu gehört neben Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Konvention insbesondere die Berücksichtigung der Staatenpraxis, die das Bundesverwaltungsgericht nicht zur Kenntnis nimmt. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. 10. 2006 hat es darüber hinaus – nach entsprechenden Andeutungen in vorausgegangenen Beschlüssen 502 – wiederum in Verfahren betreffend irakische Staatsangehörige die Auffassung vertreten, dass gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie die Anwendung der „Wegfall der Umstände“-Klausel des Art. 11 auf solche Schutzanträge beschränkt sei, die nach dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt wurden. 503 36/05) – Juris; BVerwG, Beschluss vom 12. 10. 2006 – 1 B 6/06, 1 B 6/06 (1 PKH 2/ 06) – Juris; BVerwG, Beschluss vom 18. 10. 2006 – 1 B 174/06 – Juris; BVerwG, Beschlüsse vom 27. 10. 2006 – 1 B 149/06, 1 B 149/06 (1 PKH 49/06) und 1 B 184/06 – Juris. 500 BVerwG, Beschluss vom 13. 12. 2006 – 1 B 235/06 – Juris. 501 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in der Entscheidung vom 01. 11. 2005 zwar nicht ausdrücklich auf die Transformationslehre berufen. Allerdings hat es sich zur Begründung seiner Auslegung des Art. 1 C (5) GFK auf die Entscheidung des VG Dresden bezogen, das explizit nur die Genfer Flüchtlingskonvention in der von der Bundesrepublik im Jahre 1953 transformierten Fassung in rechtlicher Hinsicht für maßgeblich erklärt. 502 BVerwG, Beschluss vom 12. 10. 2006 – 1 B 6/06, 1 B 6/06 (1 PKH 2/06) – Juris; BVerwG, Beschluss vom 13. 12. 2006 – 1 B 235/06 – Juris; BVerwG, Beschluss vom 22. 12. 2006 – 1 B 273/06, 1 B 273/06 (1 PKH 80/06) – Juris. 503 BVerwG, Urteil vom 20. 03. 2007 – 1 C 21.06 – AuAS 2007, S. 164 –167, 167; BVerwG, Beschluss vom 29. 03. 2007 – 1 B 104/05 – Juris.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Diese Auffassung ist weder mit dem Wortlaut der Richtlinie noch mit deren Sinn und Zweck vereinbar. Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie lautet: „Bei Anträgen auf internationalen Schutz, die nach Inkrafttreten dieser Richtlinie gestellt wurden, erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen die von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Flüchtlingseigenschaft ab, beenden diese oder lehnen ihre Verlängerung ab, wenn er gemäß Art. 11 nicht länger Flüchtling ist.“

Dieser Regelung ist ausschließlich die Pflicht der Mitgliedstaaten zu entnehmen, aus dem Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 11 verfahrensmäßige Konsequenzen zu ziehen, also eine zuerkannte Flüchtlingseigenschaft auch tatsächlich abzuerkennen, zu beenden oder die Verlängerung abzulehnen. Das Vorliegen der Voraussetzungen einer der Erlöschensgründe des Art. 11 wird in Art. 14 Abs. 1 vorausgesetzt, ohne dass dessen Anwendung suspendiert wird. Ausschließlich die Pflicht zur verfahrensmäßigen Umsetzung eines Erlöschens der Flüchtlingseigenschaft wird auf solche Schutzanträge beschränkt, die nach Inkrafttreten der Richtlinie gestellt wurden, nicht aber die Anwendbarkeit des Art. 11. Dies ergibt sich auch aus der Systematik der Richtlinie. Art. 14 Abs. 1 korrespondiert mit Art. 13, der für den Fall des Vorliegens der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft ausdrücklich einen Zuerkennungsakt vorsieht. Ebenso wenig wie Art. 13 Regelungen zu den materiellen Voraussetzungen des Vorliegens der Flüchtlingseigenschaft trifft, verhält sich Art. 14 Abs. 1 zu der Frage, nach welchen materiellen Kriterien das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Beendigung der Flüchtlingseigenschaft zu beurteilen ist. Beide Artikel dienen nach ihrer systematischen Stellung in Kapitel IV der Richtlinie, das im Entwurf so noch nicht vorgesehen war, nur der Sicherstellung, dass sowohl das Entstehen der Flüchtlingseigenschaft als auch deren Erlöschen durch förmliche Akte umgesetzt werden, um so Rechtsklarheit über den Status von Flüchtlingen in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Diese Rechtsklarheit hinsichtlich des Bestehens oder Nichtbestehens der Flüchtlingseigenschaft ist für die Funktionsfähigkeit des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Europäischen Gemeinschaft unabdingbar. Bezogen auf einen Wegfall der Umstände im Herkunftsstaat muss sichergestellt werden, dass alle Mitgliedstaaten dieser Tatsache durch einen förmlichen Akt Rechnung tragen, damit nicht in einem Mitgliedstaat Flüchtlingen aus einem bestimmten Herkunftsstaat der Flüchtlingsstatus entzogen wird, während Flüchtlinge aus demselben Herkunftsstaat in einem anderen Mitgliedstaat, der noch kein Aberkennungsverfahren vorsieht, unverändert diesen formalen Status behalten. Durch derartige Unterschiede würde der Sekundärmigration, die durch die Qualifikationsrichtlinie entsprechend deren Erwägungsgrund 7 gerade verhindert werden soll, erheblich Vorschub geleistet. Kapitel IV der Qualifikationsrichtlinie ist in engem Zusammenhang mit der zeitlich nachfolgenden Verfahrensrichtlinie 504 zu 504

Abl. L 326/13 vom 13. 12. 2005, s. o. Fn. 8.

C. Materielle Legitimation

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sehen, für welche die Umsetzungsfrist nach deren Artikel 43 am 01. 12. 2007 abläuft. Die Verfahrensrichtlinie regelt Einzelheiten hinsichtlich der einzuhaltenden Verfahren bei Zu- bzw. Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Ziel der Eindämmung der Sekundärmigration wird auch dort in Erwägungsgrund 6 ausdrücklich hervorgehoben. In Übereinstimmung mit Art. 14 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie sieht Art. 37 der Verfahrensrichtlinie nochmals die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor sicherzustellen, dass eine Prüfung zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft einer Person eingeleitet werden kann, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage treten, die darauf hindeuten, dass Gründe für eine Prüfung der Berechtigung der Flüchtlingseigenschaft bestehen. Art. 38 der Verfahrensrichtlinie trifft hierzu weitere Regelungen und nimmt ausdrücklich auf Art. 14 der Qualifikationsrichtlinie Bezug. Die Beschränkung der Verpflichtung in Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie auf nach deren Inkrafttreten gestellte Schutzanträge beruht vor diesem Hintergrund erkennbar auf der Überlegung, dass die Mitgliedstaaten nicht gezwungen werden sollen, alle in der Vergangenheit liegenden Anerkennungen einer Überprüfung zu unterziehen. Dies wäre einerseits praktisch kaum durchführbar und würde andererseits unter Umständen auch rechtlichen Bedenken im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot begegnen, wenn das nationale Recht in einem Mitgliedstaat einen förmlichen Entzug der Flüchtlingseigenschaft bis dahin gar nicht vorsah. Sofern das nationale Recht eines Mitgliedstaates, wie im Falle der Bundesrepublik Deutschland, bereits Regelungen über den förmlichen Entzug der Flüchtlingseigenschaft vorsieht, ist aufgrund Art. 14 Abs. 1 nichts weiter zu veranlassen. Die nationale Rechtsgrundlage für den Entzug der Flüchtlingseigenschaft im Falle eines Wegfalls der Umstände ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Dessen materielle Voraussetzungen sind nun auch unter Beachtung von Art. 11 der Qualifikationsrichtlinie zu bestimmen. Wie sich aus den Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums ergibt, geht auch dieses ganz offenbar von einer uneingeschränkten Anwendung des Art. 11 der Qualifikationsrichtlinie aus, wenn es dort heißt: „§ 72 Abs. 1 AsylVfG ist – in unmittelbarer Anwendung der Richtlinie – um die Regelung in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d) der Richtlinie zu ergänzen.“ 505 Die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, Art. 11 der Richtlinie sei auf vor deren Inkrafttreten gestellte Schutzanträge gar nicht anwendbar, widerspricht zudem den oben dargelegten materiellen Erwägungen. Es wurde gezeigt, dass es hinsichtlich der Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln in der Qualifikationsrichtlinie und der Genfer Flüchtlingskonvention keinerlei Diskrepanz gibt und insbesondere hierzu eine nahezu völlig übereinstimmende Staatenpraxis besteht, von der nur die Bundesrepublik Deutschland abweicht. Die Kommission hat sich in ihrem Vorschlag ausdrücklich auf die Position des UNHCR und diese Staatenpraxis bezogen. Vor diesem Hintergrund gab es keinerlei Veranlassung, 505

Anwendungshinweise BMI, S. 13, Ziff. 1.4.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

die Anwendung der inhaltlich übereinstimmenden Klauseln der Qualifikationsrichtlinie zeitlich einzuschränken. 6. Zwischenergebnis Die Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts erweist sich demnach auch als europarechtswidrig. Die nicht völkerrechtskonforme Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln setzt sich nahtlos beim Umgang des Bundesverwaltungsgerichts mit der Qualifikationsrichtlinie fort und verhindert wegen der inhaltlichen Übereinstimmung der entsprechenden Regelungen der Qualifikationsrichtlinie und der Genfer Flüchtlingskonvention beinahe zwangsläufig ein europarechtskonformes Ergebnis. Wenn das Bundesverwaltungsgericht zudem an seiner Auffassung hinsichtlich Art. 14 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie festhält – und es gibt derzeit keine Anzeichen für das Gegenteil – bedeutet dies, dass eine erneute inhaltliche Befassung mit den „Wegfall der Umstände“-Klauseln in den nächsten Jahren nicht zu erwarten ist. Insbesondere für afghanische und irakische – anerkannte – Flüchtlinge, die aufgrund der katastrophalen Verhältnisse in ihren Herkunftsländern von den Folgen der unterschiedlichen Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln im internationalen Flüchtlingsrecht einerseits und durch das Bundesverwaltungsgericht andererseits, besonders betroffen sind, wird es wohl keine Neubewertung geben. Denn alle nach dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellten Schutzanträge wurden zugleich nach dem Eintritt der in diesen Ländern eingetretenen politischen Umwälzungen gestellt. Vor diesem Hintergrund ist der Rückgriff des Bundesverwaltungsgerichts auf Art. 14 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie auch als Versuch zu werten, dem hier erörterten Problem auf unabsehbare Zeit auszuweichen.

D. Schlussfolgerungen für die Praxis Abschließend soll der Frage nach den praktischen Auswirkungen der derzeitigen bundesdeutschen Rechtsprechung auf die Betroffenen und etwaigen Rechtsschutzmöglichkeiten nachgegangen werden. Auch Konsequenzen für die noch ausstehende Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie durch den Gesetzgeber sollen beleuchtet werden.

I. Praktische Auswirkungen auf die Betroffenen Die derzeitige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowie nahezu aller Instanzgerichte zur Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und der „Wegfall der Umstände“-Klauseln führt aktuell nicht dazu, dass irakische Staats-

D. Schlussfolgerungen für die Praxis

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angehörige nach erfolgtem rechtskräftigen Widerruf ihrer Asylanerkennungen oder der Flüchtlingseigenschaft eo ipso ihren Aufenthaltsstatus verlieren oder gar in den Irak abgeschoben werden. Nach der derzeitigen Erlasslage auf der Grundlage der Beschlüsse der Innenministerkonferenz vom 16./17. 11. 2006 506 finden unverändert grundsätzlich noch keine Abschiebungen in den Irak statt. Ausgenommen von diesem Abschiebestopp sind derzeit unter bestimmten Voraussetzungen nur ausreisepflichtige irakische Staatsangehörige, die in Deutschland wegen Straftaten verurteilt wurden. Nach Afghanistan sind allerdings seit dem Beschluss der Innenministerkonferenz vom 24. 06. 2005 Abschiebungen wieder möglich. Folgenlos bleiben rechtskräftig erfolgte Widerrufe aber in keinem Fall. Der Verlust des Flüchtlingsstatus führt zu erheblicher Unsicherheit bei den Betroffenen und angesichts der Situation in ihren Herkunftsländern zu der wenngleich gegenwärtig nicht begründeten, so aber doch nachvollziehbaren Angst, alsbald dorthin zurückkehren zu müssen. Insbesondere für Familien mit Kindern, die oftmals bereits in der Bundesrepublik geboren sind, ist die Situation in hohem Maße belastend. Jenseits dieser psychischen Auswirkungen kann ein Widerruf zusätzlich konkrete rechtliche Folgen für den Aufenthaltsstatus haben. Im Falle des Erlöschens oder des Unwirksamwerdens der Anerkennung als Asylberechtigter oder der Rechtsstellung als Flüchtling eröffnet § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG die Möglichkeit, auch die darauf beruhenden Aufenthaltstitel einschließlich einer bereits erteilten Niederlassungserlaubnis zu widerrufen. Es gibt zwar keine „Erlöschensautomatik“, da der Widerruf der Aufenthaltstitel stets im Ermessen der Ausländerbehörden steht und in die erforderlichen Ermessenserwägungen zugunsten der Betroffenen u. a. insbesondere die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet einzustellen sind. Grundsätzlich ist aber der den Ausländerbehörden eingeräumte Ermessensspielraum weit und sie dürfen davon ausgehen, dass in den Fällen des § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG in der Regel ein öffentliches Interesse an dem Widerruf des Aufenthaltstitels besteht. 507 Von der Möglichkeit des Widerrufs von Aufenthaltstiteln machen die Ausländerbehörden auch in zunehmendem Umfang Gebrauch mit der Folge, dass zahlreiche ehemals anerkannte Flüchtlinge nur noch über Duldungen verfügen, was beträchtliche Einschränkungen etwa auf dem Arbeitsmarkt oder im Bereich der sozialen Fürsorge zur Folge hat. Den Betroffenen wird damit der Status vorenthalten, der ihnen nach der Genfer Flüchtlingskonvention und nach der Qualifikationsrichtlinie zusteht.

506 Die aktuelle Beschlusslage ist jeweils u. a. auf der Homepage des nordrheinwestfälischen Flüchtlingsrates abrufbar – www.fluechtlingsrat-nrw.de. 507 BVerwG, Urteil vom 20. 02. 2003 – 1 C 13.02 – BVerwGE 117, S. 380 –391, 386 (zu der gleichlautenden Vorgängerregelung in § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990).

170

4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

II. Rechtsschutzmöglichkeiten Angesichts dieser erheblichen Auswirkungen drängt sich die Frage auf, welche Rechtsschutzmöglichkeiten jenseits der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der Widerrufsbescheide verbleiben. 1. Gerichtliche Kontrolle durch den EuGH Im Vergleich zu den allgemeinen Vorschriften der Art. 220 ff. EG findet hinsichtlich asylrechtlicher Sekundärakte nur eine außerordentlich begrenzte Kontrolle durch den EuGH statt. a) Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 68 Abs. 1 EG Gemäß Art. 68 Abs. 1 EG dürfen nur Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angegriffen werden können, in entsprechender Anwendung des Art. 234 EG dem EuGH vorlegen. Der Grund für diese Begrenzung liegt sowohl in der Rücksichtnahme auf die Arbeitsbelastung des EuGH als auch in dem Bestreben, in der Asyl- und Einwanderungspolitik Verfahrensverzögerungen möglichst zu vermeiden. 508 (1) Vorlageberechtigte Gerichte im Asylrecht Bereits im Wortlaut dieser Vorschrift kommt die auch Art. 234 EG zugrundeliegende konkret-funktionale Betrachtungsweise bei der Bestimmung des letztinstanzlichen Gerichts zum Ausdruck, nach der als letztinstanzliche Gerichte unabhängig von ihrer Stellung in der Gerichtshierarchie alle Gerichte gelten, deren Entscheidungen im jeweiligen Einzelfall nicht mehr angefochten werden können. 509 Nicht vorlageberechtigt sind dagegen die unterinstanzlichen Gerichte, deren Entscheidungen noch rechtsmittelfähig sind. Rechtsmittel im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 Abs. 3, 68 Abs. 1 EG sind alle ordentlichen Rechtsbehelfe, aufgrund derer eine Gerichtsentscheidung von einem höheren Gericht überprüft werden kann. Nicht zu den von Art. 234 Abs. 3 EG erfassten Rechtsmitteln gehören außerordentliche Rechtsbehelfe wie das Wiederaufnahmeverfahren oder die Verfassungsbeschwerde. 510

508 Röben, in: GH Art. 68 EGV Rdnr. 4, 13. EL Mai 1999; Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 68 Rdnr. 3. 509 Vgl. Röben, in: GH Art. 68 EGV Rdnr. 5, 13. EL Mai 1999; Dörr, in: Sodan / Ziekow, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rdnr. 125. 510 Middeke, in: Rengenling / Middeke / Gellermann, § 10 Rdnr. 58.

D. Schlussfolgerungen für die Praxis

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Im Bereich des Asylrechts sind die Entscheidungen erstinstanzlicher Gerichte gemäß § 78 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG regelmäßig noch mit Rechtsmitteln angreifbar. Ausgenommen sind nach § 78 Abs. 1 AsylVfG nur Urteile des Verwaltungsgerichts, durch die Klagen als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgewiesen werden. Wenn demnach ein Verwaltungsgericht beabsichtigt, eine Klage als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abzuweisen, wäre es funktional letztinstanzliches Gericht. Praktisch relevant wird dies aber kaum werden, da im Falle der Entscheidungserheblichkeit europäischen Rechts eine Abweisung von Klagen als offensichtlich unzulässig oder unbegründet ernsthaft nicht in Betracht kommen kann. Außerdem ist gemäß § 80 AsylVfG generell die Beschwerde ausgeschlossen mit Ausnahme der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nach § 133 Abs. 1 VwGO. Gegen Beschlüsse der Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe, durch die Berufungszulassungsanträge abgelehnt werden, ist die Beschwerde demnach nicht zulässig. Auch die Sprungrevision ist gemäß § 78 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG ausgeschlossen. Durch die Ablehnung der Berufungszulassung wird daher gemäß § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig. Entsprechend den Überlegungen im Zusammenhang mit dem Ausschluss eines Rechtsmittels im allgemeinen verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach §§ 124, 124a VwGO 511 wird daher auch in gerichtlichen Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz zu differenzieren sein. Beabsichtigt ein Oberverwaltungsgericht / Verwaltungsgerichtshof, die Berufung nicht zuzulassen, so ist es vorlageberechtigt. Beabsichtigt es hingegen, die Berufung zuzulassen, so ist gegen die im Rahmen des Berufungsverfahrens ergehende Entscheidung die Zulassung zur Revision gemäß § 132 Abs. 1 VwGO möglich. Im Falle eines stattgebenden Beschlusses ist das zweitinstanzliche Gericht somit nicht – funktional – letztinstanzliches Gericht und daher nicht vorlageberechtigt. Dies gilt ebenso im Berufungsverfahren selbst, da gegen Entscheidungen in der Hauptsache grundsätzlich die Möglichkeit der Revision gemäß §§ 132 ff. VwGO besteht. Die im Falle der Nichtzulassung der Revision mögliche Nichtzulassungsbeschwerde nach § 133 Abs. 1 VwGO ist ein ordentlicher Rechtsbehelf im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG 512 und durch § 80 AsylVfG ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Das Bundesverwaltungsgericht ist stets letztinstanzliches Gericht, da die Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf kein Rechtsmittel im Sinne des Art. 234 Abs. 3 EG ist. Bezogen auf verwaltungsgerichtliche Verfahren gegen Widerrufsbescheide nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bedeutet dies, dass eine Vorlageberechtigung der erst511 Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. 12. 1999 – 5 A 4915/98 – NVwZ 2000, S. 1069 – 1070, 1070; Dörr, in: Sodan / Ziekow, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rdnr. 126; Petzold, Wechselwirkungen zwischen § 124 VwGO n. F. und Art. 177 EGV, NJW 1998, 123 – 125, 124 f; Middeke, in: Rengenling / Middeke / Gellermann, § 10 Rdnr. 59. 512 BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 1990 – 2 BvL 12,13/88, 2 BvR 1436/87 – BVerfGE 82, S. 159 – 198, 196; BVerwG, Beschluss vom 15. 05. 1990 – 1 B 64.90 – InfAuslR 1990, S. 293 –294, 294; BVerwG, Beschluss vom 14. 12. 1992 – 5 B 72/92 – NVwZ 1993, S. 770.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

instanzlichen Verwaltungsgerichte nicht in Betracht kommt, da deren Urteile stets rechtsmittelfähig sind und insoweit auch keine Abweisung der Klagen als offensichtlich unbegründet oder offensichtlich unzulässig möglich ist. Die Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe sind dagegen vorlageberechtigt, sofern sie beabsichtigen, einen Antrag auf Zulassung der Berufung abzulehnen. Ob es zu einer Vorlage an den EuGH durch ein Gericht der zweiten Instanz kommen wird, ist aber mehr als fraglich. Denn wenn es die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage an den EuGH bejahen sollte, wird es die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) oder Abweichung von einer eigenen Entscheidung oder derjenigen des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. 11. 2005 (§ 78 Abs. 3 Nr. 2) zulassen müssen. Die Betroffenen werden das Verfahren also bis in die letzte Instanz zum Bundesverwaltungsgericht treiben müssen, bevor eine Vorlage an den EuGH in Betracht kommt. Aufgrund der vom Bundesverwaltungsgericht eingenommenen Haltung zu Art. 11 und 14 der Qualifikationsrichtlinie ist bei realistischer Betrachtung in absehbarer Zeit aber kaum ernsthaft mit einem Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung dieser Bestimmungen zu rechnen. Die in Art. 68 Abs. 1 EG vorgenommene Beschränkung der Vorlageberechtigung erweist sich also als in hohem Maße problematisch und wirft die Frage auf, ob hier noch von der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes sowohl aus deutscher verfassungsrechtlicher Sicht als auch unter dem Blickwinkel des Art. 6 EMRK gesprochen werden kann. 513 Im Falle der Widerrufsverfahren tritt diese Problematik deutlich zutage. (2) Bestehen einer Vorlagepflicht Angesichts des faktisch ausschließlichen Vorlagerechts des Bundesverwaltungsgerichts ist von besonderer praktischer Bedeutung, ob dieses Recht auch mit einer entsprechenden Vorlagepflicht korrespondiert. Diese Frage stellt sich vor allem deshalb, weil Art. 68 Abs. 1 EG – anders als Art. 234 Abs. 3 EG – seinem Wortlaut nach keine ausdrückliche Vorlageverpflichtung vorsieht. Eine Vorlagepflicht wird im Hinblick auf das Verwerfungsmonopol des EuGH allgemein jedenfalls dann angenommen, wenn es um den Verstoß eines Gemeinschaftsrechtsaktes gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht geht. 514 Diese Konstellation wird im Bereich des Asyl- und Flüchtlingsrechts aber kaum je relevant werden. Da die Richtlinien – so auch die Qualifikationsrichtlinie – Mindestnormen enthalten, müsste gegebenenfalls einer extensiven Auslegung der Vorzug

513 Vgl. hierzu: Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 68 Rdnr. 6; Schmahl, Die Vergemeinschaftung der Asyl- und Flüchtlingspolitik, ZAR 2001, S. 3 – 11, 9. 514 Wiedemann, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 68 Rdnr. 3; Schmahl, Die Vergemeinschaftung der Asyl- und Flüchtlingspolitik, ZAR 2001, S. 3 – 11, 9 f.

D. Schlussfolgerungen für die Praxis

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gegeben werden, um der primärrechtlichen Bindung an die in Art. 63 Ziff. 1 EG genannnten völkerrechtlichen Abkommen gerecht zu werden. 515 Soweit es nicht um den Verstoß eines Gemeinschaftsrechtsaktes gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht geht, wird unter Berufung auf den Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 EG teilweise angenommen, dass eine Vorlage – lediglich – im Ermessen des letztinstanzlichen Gerichts liegt. 516 Für eine Vorlagepflicht spricht aber ein Vergleich mit Art. 35 Abs. 2 EUV, der für den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit zwar keine Vorlagepflicht vorsieht, diese aber auch nicht ausschließt und die Mitgliedstaaten daher nicht hindert, eine solche Pflicht anzuordnen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Art. 68 Abs. 1 EG im Übrigen die Geltung von Art. 234 EG anordnet. Es würde wohl auch eine Überbewertung der Aspekte der Rücksichtnahme auf die Arbeitsbelastung des EuGH oder der Verfahrensbeschleunigung bedeuten, wenn man nicht einmal für die letztinstanzlichen Gerichte eine Vorlagepflicht annehmen wollte. Aber jedenfalls ist die Annahme einer Vorlagepflicht erforderlich, um zumindest die Chance einer Einheitlichkeit der Anwendung des EG-Rechts zu wahren und die praktische Wirksamkeit der mit Titel IV beabsichtigten Harmonisierung sicherzustellen. Die überwiegende Meinung geht daher auch im Rahmen des Art. 68 Abs. 1 EG zutreffend von einer Vorlagepflicht des letztinstanzlichen Gerichts aus. 517 Die Annahme einer Vorlagepflicht eröffnet den Betroffenen die Möglichkeit, die fehlerhafte Nichtvorlage an den EuGH durch das letztinstanzliche Gericht unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten überprüfen zu lassen. Auf diese Frage wird weiter unten eingegangen werden. b) Beschränkung der Zuständigkeit für Maßnahmen hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach Art. 68 Abs. 2 EG Eine weitere erhebliche Einschränkung erfährt die Zuständigkeit des EuGH dadurch, dass er über die Maßnahmen oder Beschlüsse nach Art. 62 Nr. 1 EG, welche die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der

515

Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 63 Rdnr. 6. Wiedemann, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 68 Rdnr. 3; Lang, Zu den Rechtswirkungen des Vertrages von Amsterdam auf den Rechtsstatus der Drittstaatsangehörigen, ZAR 1998, S. 59 – 67, 64. 517 Röben, in: GH Art. 68 EGV Rdnr. 6, 13. EL Mai 1999; Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 68 Rdnr. 7; im Ergebnis ebenso: Zimmermann, Der Vertrag von Amsterdam und das deutsche Asylrecht, NVwZ 1998, S. 450 – 456, 452, Fn. 32; Dörr / Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR (125) 2000, S. 386 –427, 389 f.; Schmahl, Die Vergemeinschaftung der Asyl- und Flüchtlingspolitik, ZAR 2001, S. 3 –11, 9 f.; Knapp, Die Garantie des effektiven Rechtsschutzes durch den EuGH im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, DÖV 2001, S. 12 – 21, 14. 516

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

inneren Sicherheit betreffen, generell nicht entscheiden darf. Dies gilt nicht nur für Vorlageverfahren, sondern auch für Gutachteranfragen nach Art. 68 Abs. 3 EG. Diese Beschränkung der Zuständigkeit wirkt sich für Verfahren nach dem Asylverfahrensgesetz nicht aus, weshalb Einzelheiten an dieser Stelle nicht erörtert werden sollen. c) Das abstrakte Vorlageverfahren nach Art. 68 Abs. 3 EG Art. 68 Abs. 3 EG sieht eine neue Verfahrensart vor. Gewissermaßen als Korrektiv zu der begrenzten Vorlageberechtigung der nationalen Gerichte haben der Rat, die Kommission oder ein Mitgliedstaat die Möglichkeit, auch unabhängig von einem konkreten Rechtsfall den EuGH um die Auslegung von Art. 61 ff. EG oder darauf gestütztem Sekundärrecht zu ersuchen. Die hierdurch dem EuGH eingeräumte Kompetenz umfasst auch die Möglichkeit der Stellungnahme zur Gültigkeit von Maßnahmen des Sekundärrechts. 518 Nach Sinn und Zweck dieses besonderen Verfahrens umfasst der Begriff Mitgliedstaat nur die mitgliedstaatlichen Legislativ- und Exekutivbehörden, nicht jene der Judikative. Ausgeschlossen ist grundsätzlich auch das Europäische Parlament. 519 Immerhin erscheint wegen der Vorlageberechtigung des Rates und insbesondere der Kommission die Erwartung gerechtfertigt, dass dieses neuartige Vorlageverfahren an praktischer Bedeutung gewinnt. Bislang sind an den EuGH über den Weg des Art. 68 Abs. 3 EG allerdings noch keine Auslegungsfragen herangetragen worden. Zumindest hinsichtlich der Qualifikationsrichtlinie kann daraus angesichts des relativ kurzen Zeitraums seit Ablauf der Umsetzungsfrist noch nicht der Schluss gezogen werden, dass insbesondere die Kommission von ihrer Vorlagemöglichkeit keinen Gebrauch machen wird. Entscheidungen, die der Gerichtshof auf entsprechende Ersuchen hin fällt, gelten nach Art. 68 Abs. 3 Satz 2 EG allerdings nicht für Urteile von Gerichten der Mitgliedstaaten, die rechtskräftig geworden sind. Unter Berücksichtigung anderer Sprachfassungen gilt diese Regelung nicht nur für rechtskräftige Urteile, sondern auch für andere verfahrensabschließende Entscheidungen, in der Bundesrepublik also auch für bestandskräftige Verwaltungsakte. Zudem wird die Vollstreckung rechtskräftiger Urteile oder bestandskräftiger Verwaltungsakte erfasst. 520 Die vom EuGH in diesem Rahmen erstellten Rechtsgutachten wirken – im Umkehrschluss – erga omnes. 521 518

Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 68 Rdnr. 19. Röben, in: GH Art. 68 EGV Rdnr. 17, 13. EL Mai 1999. 520 Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 68 Rdnr. 23; Knapp, Die Garantie des effektiven Rechtsschutzes durch den EuGH im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, DÖV 2001, S. 12 – 21, 15. 519

D. Schlussfolgerungen für die Praxis

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Das abstrakte Vorlageverfahren eröffnet damit grundsätzlich jederzeit die Möglichkeit, die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln und des Art. 14 der Qualifikationsrichtlinie durch den EuGH klären zu lassen. Allerdings haben die Betroffenen keinen unmittelbaren Einfluss darauf, ob und wann dies der Fall sein wird. Zwischenzeitlich ergangene rechtskräftige Entscheidungen, durch die die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft widerrufen wurden, bleiben zudem von einer etwaigen zukünftigen Klärung durch den EuGH unberührt. Damit sind auch Wiederaufnahmeverfahren bei entgegenstehenden nationalen Urteilen ausgeschlossen. 522 Das nationale Verfahrensrecht muss keine Vorsorge dafür treffen, dass rechtskräftige Urteile unter Bezugnahme auf eine EuGH-Entscheidung nachträglich in Frage gestellt werden können. 523 Aus Art. 68 Abs. 3 Satz 2 EG folgt aber nicht zwingend, dass die Berücksichtigung einer Entscheidung des EuGH auch dann ausgeschlossen ist, wenn ein rechtskräftiges nationales Urteil für eine Vorfrage in einem anderen noch nicht abgeschlossenen Verfahrung Bedeutung erlangt. Ein neuer gleichartiger Sachverhalt ist auf der Grundlage einer Entscheidung des EuGH neu zu beurteilen, auch wenn die streitenden Parteien im nationalen Verfahren mit denen im rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren identisch sind. 524 Erst recht wird dies gelten müssen, wenn es sich um ein Verfahren handelt, das auf anderen Rechtsgrundlagen beruht und in dem sich andere Beteiligte gegenüberstehen, wie dies in einem nachfolgenden Aufenthaltsverfahren der Fall ist. Eine Entscheidung des EuGH zu Art. 11 und 14 der Qualifikationsrichtlinie, die der gegenwärtigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entgegensteht, könnte also zumindest im Rahmen der Ermessenserwägungen Berücksichtigung finden, welche die Ausländerbehörden im Falle nachfolgender Verfahren betreffend den Widerruf von Aufenthaltstiteln einstellen müssen. Es handelt sich dabei aber allenfalls um denkbare zukünftige Reflexwirkungen, die die gegenwärtige Situation der Betroffenen nicht unmittelbar berühren. Derartige denkbare Reflexwirkungen ändern nichts an dem Befund, dass der Individualrechtsschutz an der Vergemeinschaftung der Politikbereiche des Titels IV insgesamt nur sehr begrenzt teilnimmt. Die Beschränkung des Vorabentscheidungsverfahrens, welches das bedeutendste praktische Instrument zur Wahrung der Rechtseinheit und damit Voraussetzung für das Funktionieren der Gemein521 Röben, in: GH Art. 68 EGV Rdnr. 18, 13. EL Mai 1999; Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 68 Rdnr. 21; Knapp, Die Garantie des effektiven Rechtsschutzes durch den EuGH im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, DÖV 2001, S. 12 –21, 15; Dörr / Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR (125) 2000, S. 386 –427, 393. 522 Röben, in: GH Art. 68 EGV Rdnr. 18, 13. EL Mai 1999. 523 Dörr / Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR (125) 2000, S. 386 – 427, 394. 524 Dörr / Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR (125)2000, S. 386 – 427, 394.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

schaft und zugleich zur Sicherstellung des Individualrechtsschutzes ist, ist in hohem Maße problematisch. Dies ist von vielen Seiten zu Recht kritisiert worden. 525 Im Juni 2006 hat die Europäische Kommission die Initiative ergriffen, um die Restriktionen des Art. 68 EG im Rahmen des in Art. 67 Abs. 2 EG vorgesehenen Anpassungsverfahrens wieder abzuschaffen und insbesondere die uneingeschränkte Anwendung des Art. 234 EG auch im Titel IV des Vertrages sicherzustellen. 526 In ihrer Mitteilung vom 28. 06. 2006 hat die Kommission nachdrücklich auf die Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens für die einheitliche Auslegung und Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen hingewiesen und dieses als Kernstück der Gemeinschaftsrechtsordnung bezeichnet. Ein wesentlicher Grundsatz dieses Verfahrens sei, dass sich jedes nationale Gericht an den Gerichtshof wenden könne. Jede dauerhafte Abweichung von diesem Grundsatz hindere den Gerichtshof an der Erfüllung seiner Aufgabe, die Einheit des Gemeinschaftsrechts für alle Rechtssubjekte zu gewährleisten. Für die Bereiche Asyl und Einwanderung betont die Kommission die Bedeutung der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts, um die Sekundärmigration zwischen den Mitgliedstaaten zu begrenzen. Nachdrücklich äußert die Kommission ihre Besorgnis hinsichtlich der Vorenthaltung effektiven Rechtsschutzes, der in der Praxis mit der Beschränkung der Zuständigkeit des EuGH durch Art. 68 Abs. 1 EG einhergehe, zumal in Politikbereichen, in denen die Grundrechte und der Schutz besonders gefährdeter Personen von Bedeutung sind und die Betroffenen häufig nicht über die notwendigen Finanzmittel verfügen, um den nationalen Rechtsweg auszuschöpfen. Der Präsident des EuGH hat den Vorschlag aufgegriffen und den Rat aufgefordert sich zu äußern. 527 Es besteht daher die reale Aussicht, dass die aufgezeigten Probleme des Individualrechtsschutzes in absehbarer Zeit durch eine Anpassung der Vertragsbestimmungen gelöst werden. 528 525 Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 68 Rdnr. 26; Dörr / Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR (125) 2000, S. 386 – 427, 391 ff. 526 Vgl. Mitteilung KOM (2006) 346 endg. vom 28. 06. 2006 der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Anpassung der Bestimmungen des Titels IV des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften über die Zuständigkeiten des Gerichtshofes zur Sicherstellung eines wirksameren gerichtlichen Schutzes; http://eur-lex.europa.eu / LexUriServ/site/de/com/2006/ com2006_0346de01.pdf. 527 Übermittlungsvermerk des Präsidenten des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Vassilios Skouris, an den Präsidenten des Rates der Europäischen Union, Herrn Erkki Tuomioja vom 25. 09. 2006 – Reflexionspapier zur Behandlung von Vorlagefragen, die den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffen;http://www.curia.europa.eu/de/instit/txtdocfr/documents/06208.pdf. 528 Im Hinblick darauf sollen andere theoretisch bestehende Verfahrensmöglichkeiten an dieser Stelle nicht näher erörtert werden. Hierzu gehört das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226, 227 EG wegen pflichtwidrigen Unterlassens einer Vorlage. Die Kommission hat von dieser Möglichkeit allerdings noch nie Gebrauch gemacht. Zudem dürfte eine unmit-

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2. Verfassungsrechtliche Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht Eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts ist unter verschiedenen Gesichtspunkten denkbar. a) Willkürkontrolle, Art. 3 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG Allgemein nimmt das Bundesverfassungsgericht im Falle eines Richterspruchs Willkür nur dann an, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst dann vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird. Davon kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt. 529 Trotz dieser strengen Voraussetzungen hat das Bundesverfassungsgericht im Bereich des Asylrechts bereits verschiedentlich die Grenze zur Willkür als überschritten angesehen. 530 Bei der Willkürkontrolle in Bezug auf die Auslegung und Anwendung völkerrechtlicher Regelungen bejaht das Bundesverfassungsgericht Willkür, wenn das Fachgericht den Anwendungsbereich der völkervertragsrechtlichen Bestimmung „evident fehlbestimmt“ hat. 531 Die gewählte Auslegung darf „nicht evident unrichtig“, sondern muss „als zumindest vertretbar und damit nicht willkürlich“ telbare Konsequenz aus Art. 68 Abs. 3 Satz 2 EG sein, dass Vertragsverletzungsverfahren für Titel IV EG-Vertrag nicht stattfinden (Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 68 Rdnr. 23). In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage einer etwaigen gemeinschaftsrechtlichen Haftung des Mitgliedstaates, wenn ein Gericht pflichtwidrig die Vorlage an den EuGH unterlässt. Der EuGH nimmt zwar auch in Fällen richterlichen Unrechts die Möglichkeit eines Haftungsanspruchs an. Es ist aber noch ungeklärt, ob es nicht auch in der Konsequenz der Beachtung rechtskräftiger Urteile liegt, die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen zu verneinen (Streinz, Weiß, EUV / EGV, Art. 68 Rdnr. 23; a. A. Röben, in: GH Art. 68 EGV Rdnr. 19, 13. EL Mai 1999). Zudem weist dieser denkbare haftungsrechtliche Aspekt weit in die Zukunft, da gegenwärtig nicht einmal die Frage geklärt ist, wann und durch wen eine entsprechende Vorlagefrage überhaupt an den EuGH herangetragen wird. 529 BVerfG, Beschluss vom 03. 11. 1992 – 1 BvR 1243/88 – BVerfGE 87, S. 273 – 282, 278 f; BVerfG, Beschluss vom 26. 05. 1993 – 1 BvR 208/93 – BVerfGE 89, S. 1 –14, 13 f; BVerfG, Urteil vom 08. 07. 1997 – 1 BvR 1934/93 – BVerfGE 96, S. 189 –204, 203; BVerfG, Beschluss vom 16. 10. 1998 – 2 BvR 1328/96 – DVBl. 1999, S. 165 –166. 530 BVerfG, Beschluss vom 18. 06. 1993 – 2 BvR 1815/92 – DVBl. 1993, S. 1002 –1003, 1002; BVerfG, Beschluss vom 08. 06. 2000 – 2 BvR 2279/98 – DVBl. 2000, S. 1202 –1203. 531 BVerfG, Beschluss vom 23. 01. 1990 – 1 BvR 306/86 – BVerfGE 81, S. 208 –228, 216.

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anzusehen sein. 532 Die Vertretbarkeit ist im Einzelfall nach den einschlägigen methodischen Auslegungsregeln und unter Berücksichtigung der in der einschlägigen Rechtsprechung und im Schrifttum lege artis vertretenen Auffassung zu ermitteln und zu bestimmen. Das Fachgericht muss also für eine zumindest vertretbare Auslegung in diesem Sinne nicht nur erkannt haben, dass im konkreten Fall eine völkervertragsrechtliche Regelung einschlägig ist, sondern es muss bei deren Prüfung auch die für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge maßgeblichen Regeln und Interpretationsgrundsätze herangezogen haben. 533 Bei Zugrundlegung dieser Maßstäbe kann im Falle von gerichtlichen Entscheidungen betreffend den Widerruf von Flüchtlingsanerkennungen durchaus Anlass zu einer eingehenden verfassungsrechtlichen Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots bestehen. Nach den obigen Ausführungen erweist sich nicht nur das Auslegungsergebnis des Bundesverwaltungsgerichts und der ihm folgenden Rechtsprechung hinsichtlich § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG als völkerrechtsund europarechtswidrig, sondern es bestehen auch eklatante Defizite in der dabei angewandten Methode. Überzogene Erwartungen an den Erfolg einer mit der Willkürrüge erhobenen Verfassungsbeschwerde sind allerdings nicht gerechtfertigt. Im September 2006 hat das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde betreffend die Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unter Berücksichtigung des Art. 1 C (5) GFK , die u. a. mit einem Verstoß gegen Art. 3 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot begründet war, nicht zur Entscheidung angenommen. 534 Wie den Beschlussgründen zu entnehmen ist, war die Verfassungsbeschwerde insoweit allerdings maßgeblich darauf gestützt, dass Art. 1 C (5) GFK in der authentischen und verbindlichen Interpretation des UNHCR eine allgemeine Regel des Völkerrechts darstelle, jedenfalls aber Art. 1 C (5) GFK als in deutsches Recht transformiertes Völkervertragsrecht in der Auslegung durch den UNHCR unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit der Rechtsordnung als lex specialis dem § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vorgehe. Beiden Argumentationssträngen ist das Bundesverfassungsgericht zu Recht nicht gefolgt. Es gibt in der Tat gegenwärtig keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass sich die Auslegung des UNHCR zu Art. 1 C (5) GFK bereits zu einer allgemeinen Regel des Völkerrechts verdichtet hätte. Ebenso wenig geht von den Publikationen des UNHCR zur Genfer Flüchtlingskonvention eine völkerrechtliche Bindung aus. 535 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht allerdings auch ausgeführt, dass „der 532

BVerfG, Beschluss vom 23. 01. 1990 – 1 BvR 306/86 – BVerfGE 81, S. 208 –228,

217 f. 533 Deiseroth, Die Genfer Flüchtlingskonvention als Kontrollmaßstab im Verfassungsbeschwerdeverfahren, ZAR 2000, S. 7 – 16, 16. 534 BVerfG, Beschluss vom 28. 09. 2006 – 2 BvR 1731/04 – Juris. 535 s. oben 4. Kapitel, C. I. 2) b).

D. Schlussfolgerungen für die Praxis

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Widerrufstatbestand nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in seiner Auslegung durch die Fachgerichte die Vorgaben des Art. 1 C (5) GFK einhalte“. Es hat zwar weder eine umfassende Überprüfung und Auslegung des Art. 1 C (5) GFK vorgenommen noch sich explizit mit der Frage befasst, ob die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Auslegung unter Berücksichtigung der für die Auslegung von Völkervertragsrecht geltenden Grundsätze vertretbar ist. Dies mag zum Teil der offenbar unglücklichen Begründung der Verfassungsbeschwerde geschuldet sein. Unabhängig davon bleibt es aber dabei, dass das Bundesverfassungsgericht zu einer umfassenden Nachprüfung wegen eines im Raum stehenden Verstoßes gegen das Willkürverbot gegenwärtig keinen Anhaltspunkt sieht. b) Entzug des gesetzlichen Richters, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der EuGH gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. 536 Bei einem Verstoß gegen die Vorlagepflicht kommt also in Betracht, mit einer Verfassungsbeschwerde die Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu rügen. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH 537 wird man keinen vernünftigen Zweifel daran haben können, dass die in der Bundesrepublik vorlageberechtigten – und zugleich vorlageverpflichteten – Gerichte die Frage der Auslegung des Art. 11 e) und f) sowie des Art. 14 der Qualifikationsrichtlinie dem EuGH vorlegen müssen. Der EuGH nimmt eine Vorlagepflicht stets dann an, wenn in einem schwebenden Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird. Nur ausnahmsweise darf dennoch von einer Vorlage abgesehen werden, wenn entweder die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist oder die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt. Von einer derartigen Offenkundigkeit darf aber nur dann ausgegangen werden, wenn das Gericht überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde. Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Pflicht, dem Gerichtshof jede sich stellende Auslegungsfrage vorzulegen, besteht also nur dann, wenn im einzelnen Fall diese Verpflichtung aus den genannten Gründen sinnlos erscheint. Davon kann mit vertretbaren Gründen hinsichtlich Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) der Qualifikationsrichtlinie unter Berücksichtigung der Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln im internationalen 536 BVerfG, Beschluss vom 22. 10. 1986 – 2 BvR 197/83 – BVerfGE 73, S. 339 –388, 366 f; BVerfG, Beschluss vom 09. 11. 1987 – 2 BvR 808/82 – NJW 1998, S. 1456 – 1459, 1456; BVerfG, Beschluss vom 27. 08. 1991 – 2 BvR 276/90 – NJW 1992, S. 678. 537 Vgl. statt vieler: EuGH, Urteil vom 06. 10. 1982 – RS. 283/81 – NJW 1983, S. 1257 – 1258.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Flüchtlingsrecht 538 und insbesondere der Auffassung der Europäischen Kommission sowie der grundsätzlich abweichenden Entscheidungspraxis der Obersten Gerichte anderer Mitgliedstaaten kaum ausgegangen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat aber in Anlehnung an den Willkürmaßstab auch hier hohe Hürden gesetzt. Nicht jeder Verstoß gegen die Vorlagepflicht stellt bereits einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit wird vielmehr erst dann überschritten, wenn die Entscheidung willkürlich unrichtig ist. Einen derartigen willkürlichen Verstoß hat das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Vorlagepflicht zum EuGH in drei möglichen Konstellationen angenommen, nämlich dann, 1. wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt, 2. wenn es bewusst von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen ohne Vorlage abweicht und schließlich 3. wenn eine Frage gemeinschaftsrechtlich noch nicht eindeutig geklärt ist und das letztinstanzliche Gericht den ihm bei der Frage der Vorlage zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat. 539 Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Nichtvorlage an den EuGH in diesem Sinne objektiv willkürlich ist, werden auch „typische Vermeidungsstrategien“ in den Blick zu nehmen sein. Dazu können je nach Sachlage im Einzelfall überhöhte Anforderungen an die Darlegungslast des Rechtsuchenden beim Zugang zur höheren Instanz gehören, die zudem unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gebots effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG bedenklich sein können. 540 Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird daher nur dann nicht anzunehmen sein, wenn die gegen die Vorlage sprechenden Argumente eindeutig den für die Vorlage sprechenden vorzuziehen sind. Zu berücksichtigen ist auch, ob eine Partei einen entsprechenden Hinweis gegeben hat. 541 Einem solchen 538

s. oben 4. Kapitel, B. BVerfG, Beschluss vom 22. 10. 1986 – 2 BvR 197/83 – BVerfGE 73, S. 339 –388, 369 ff; BVerfG, Beschluss vom 08. 04. 1987 – 2 BvR 687/85 – BVerfGE 75, S. 223 – 245, 245; BVerfG, Beschluss vom 09. 11. 1987 – 2 BvR 808/82 – NJW 1998, S. 1456 –1459, 1457; BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 1990 – 2 BvL 12/13/88, 2 BvR 1436/87 – BVerfG E 82, S. 159 –198, 195 f; BVerfG, Beschluss vom 27. 08. 1991 – 2 BvR 276/90 – NJW 1992, S. 678; Classen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG III, Art. 101 Rdnr. 59; Middeke, in: Rengenling / Middeke / Gellermann, § 10 Rdnr. 67; Gellermann ebenda, § 35 Rdnr. 51 ff. 540 BVerfG, Beschluss vom 07. 11. 1994 – 2 BvR 2079/93 – BayVBl. 1995, S. 178 f.; Huber, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG I, Art. 19 Rdnr. 506; Berkemann, Verwaltungsprozessrecht auf ‚neuen Wegen‘?, DVBl. 1998, S. 446 – 461, 457. 541 Classen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG III, Art. 101 Rdnr. 59; BVerfG, Beschluss vom 03. 11. 1992 – 1 BvR 137/92 – BVerfGE 87, S. 282 –287, 286. 539

D. Schlussfolgerungen für die Praxis

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Hinweis kommt nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt des durch Art. 103 Abs. 1 GG gewährleisteten Anspruchs auf rechtliches Gehör Bedeutung zu und er ist sachgerecht zu erwägen. Die zweite Konstellation scheidet gegenwärtig generell aus, da der EuGH mit Fragen betreffend die Auslegung von Art. 63 Ziff. 1 EG und der Qualifikationsrichtlinie noch nicht befasst war. Der Erfolg einer Verfassungsrüge unter Berücksichtigung der ersten und dritten Konstellation ist aber nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Angesichts der wiederholten Hinweise des UNHCR, der Praxis der anderen Mitgliedstaaten und hier insbesondere der Entscheidungen des House of Lords und des Unabhängigen Bundesasylsenats, der Erläuterungen der Kommission zu den „Wegfall der Umstände“-Klauseln in der Qualifikationsrichtlinie, verschiedener ausführlich begründeter unterinstanzlicher Urteile 542 und des wiederholten insistierenden Vorbringens in nahezu allen Revisionsverfahren ist es ausgesprochen problematisch, wenn das Bundesverwaltungsgericht und gegebenenfalls Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe im Falle der Ablehnung von Zulassungsanträgen eine Vorlage an den EuGH auch zukünftig überhaupt nicht in Erwägung ziehen. Eine solche Vorlage müsste – vor dem Hintergrund der Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts zu Art 14 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie – in aller erster Linie dann auch die Anwendbarkeit des Art. 11 erfassen. 3. Zwischenergebnis Eine gerichtliche Kontrolle durch den EuGH ist infolge des gegenwärtig nur sehr begrenzten Individualrechtsschutzes nach Art. 68 EG und der zum gegenwärtigen Zeitpunkt unveränderlich scheinenden Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts praktisch nicht zu erwarten. Damit wäre erst dann ernsthaft zu rechnen, wenn die Beschränkung der Vorlageberechtigung auf die letztinstanzlichen Gerichte entfallen würde. Eine möglichst rasche Änderung der bereits in die Wege geleiteten Anpassung des Art. 68 EG erscheint daher zur Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung der Qualifikationsrichtlinie dringend erforderlich und wäre auch aus bundesdeutscher Sicht wünschenswert, da der EuGH wichtige Impulse für die deutsche Anwendungspraxis geben könnte. Unterdessen bleibt den Betroffenen – abhängig von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls und der konkreten Fassung der Entscheidungsgründe – der Versuch, das Bundesverfassungsgericht anzurufen.

542 Vgl. zuletzt insbesondere: VG Köln, Urteil vom 12. 01. 2007 – 18 K 3234/06.A – Juris; im Hinblick auf den methodischen Ansatz auch: OVG NRW, Urteil vom 27. 03. 2007 – 8 A 4728/05.A – Juris.

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4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

III. Konsequenzen für den Gesetzgeber Die vollständige Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie steht unmittelbar bevor. 543 In dem bereits verabschiedeten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union 544 ist in § 73 Abs. 1 AsylVfG die Einfügung eines neuen Satzes 2 vorgesehen, der für den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wörtlich die Formulierung aus den „Wegfall der Umstände“-Klauseln übernimmt. Gegen diese Art der vorgesehenen Umsetzung bestehen auf den ersten Blick keine Bedenken. Was sollte der Gesetzgeber über die wörtliche Übernahme des Richtlinientextes hinaus noch zur Umsetzung unternehmen müssen? Dennoch erweist sich die vorgesehene Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie in diesem Punkt angesichts der gegenwärtigen Rechtsprechung zumindest als problematisch. Denn es kann erwartet werden, dass die Rechtsprechung zukünftig die jetzt vorgenommene Auslegung, bei der sie sich in Übereinstimmung sowohl mit Art. 1 C (5) und (6) GFK als auch mit Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) der Qualifikationsrichtlinie sieht, auf die neue vorgesehene nationale „Wegfall der Umstände“-Klausel in § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG übertragen wird. Es besteht also die Gefahr, dass sich durch diese auf ein Umgießen des Richtlinientextes beschränkte Umsetzung die – entsprechend dem oben gefundenen Ergebnis – nicht richtlinienkonforme Auslegung des § 73 Abs. 1 AsylVfG perpetuiert. Art. 249 Abs. 3 EG überlässt den innerstaatlichen Stellen zwar die Wahl der Form und der Mittel, um ihrer Verpflichtung zur Erfüllung der Richtlinienziele nachzukommen. Diese Wahlfreiheit unterliegt aber insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Effektivitätsprinzips bestimmten Grenzen. Die ordnungsgemäße Umsetzung einer Richtlinie setzt voraus, dass ihre vollständige Anwendung durch die nationalen Behörden gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten müssen eine so bestimmte, klare und transparente Lage schaffen, dass der Einzelne seine Rechte in vollem Umfang erkennen und sich vor nationalen Gerichten darauf berufen kann. 545 Unter dem Gesichtspunkt des Effektivitätsprinzips ist es daher zur wirksamen Umsetzung und zur Sicherstellung einer gemeinschaftskonformen Auslegung der neuen nationalen „Wegfall der Umstände“-Klausel geboten, diese mit weitergehenden Auslegungshinweisen im Gesetzestext zu verbinden. Zumindest aber sollte 543

Zum Stand des Gesetzgebungsverfahrens s. Fn. 8. BT-Drucksache 16/5065 vom 23. 04. 2007. 545 EUGH, Urteil vom 23. 05. 1984 – RS. 29/84 – Kommission / Deutschland, Slg. 1985, 1661, Ziff. 23; EUGH, Urteil vom 09. 09. 1999 – RS. C–217/97 – Kommission / Deutschland, Slg. 1991, I–5087, Ziff. 31 f; Streinz, Schroeder, EUV / EGV, Art. 249 Rdnr. 91. 544

D. Schlussfolgerungen für die Praxis

183

die Begründung des Gesetzestextes hierzu nicht schweigen, was aber derzeit der Fall ist. 546 Der vorliegende Gesetzentwurf erweist sich unter Effektivitätsgesichtspunkten generell als problematisch, da er sich in weiten Teilen einer Verweisungstechnik bedient. So beschränkt sich die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Umsetzung der wichtigen Art. 7 –10 der Qualifikationsrichtlinie, deren Regelungen in zahlreichen Aspekten mit der gegenwärtigen Rechtsprechung kollidieren, 547 auf die folgende neue Regelung in § 60 Abs. 1 AufenthG: „Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/ 83/EG ergänzend anzuwenden“. 548 Die Begründung hierzu enthält nur vereinzelt weitergehende Erläuterungen. So wird z. B. hinsichtlich der Verfolgungsgründe in Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie im Wesentlichen nur darauf verwiesen, dass diese mit den in der Genfer Flüchtlingskonvention enthaltenen Verfolgungsgründen identisch sind. 549 Für eine Klärung der Frage, ob auch die öffentliche Religionsausübung nunmehr geschützt ist, über die in der Rechtsprechung bereits ein heftiger Streit entbrannt ist, ist dies nicht hilfreich, ja ungeeignet. Ein Weg, die Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie tatsächlich wirksam in nationales Recht umzusetzen, wäre die Erarbeitung eines neuen Flüchtlingsgesetzes, in dem der veränderten Struktur und Terminologie sowie dem eingetretenen Perspektivwechsel Rechnung getragen werden könnte. 550 Diesen Weg wird der Gesetzgeber allerdings in absehbarer Zeit nicht gehen, da er ebenso wie die Rechtsprechung von der – in diesem Umfang unzutreffenden – Prämisse ausgeht, dass „unser geltendes Recht weitgehend mit den Richtlinienbestimmungen überein stimmt“ und daher neben den bereits vorgenommenen Änderungen über nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung „eher nur punktuelle Korrekturen“ vonnöten seien. 551

IV. Allgemeine Schlussfolgerungen und Ausblick Das deutsche Asylrecht befindet sich in einer Umbruchphase. 546

BT-Drucksache 16/5065 vom 23. 04. 2007, Zu Nummer 46 (§ 73), S. 167. s. oben 3. Kapitel, A. 548 s. Nummer 48, a), cc), S. 36 des Gesetzentwurfs. 549 s. S. 85 des Gesetzentwurfs. 550 Vgl. hierzu schon unter Hinweis auf die Problematik, dass der Flüchtlingsschutz in der Bundesrepublik auschließlich unter der Perspektive des Abschiebungsschutzes betrachtet wird: UNHCR, Stellungnahme des UNHCR zum Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsund asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union, www.unhcr.de. 551 Europäische Asylpolitik und ihre Umsetzung aus der Sicht der Bundesregierung, Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim 6. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz am 19. Juni 2006 in Berlin, www.bmi.bund.de. 547

184

4. Kap.: Widerruf der Anerkennung

Zu Beginn des Prozesses der europäischen Harmonisierung im Bereich des Flüchtlingsrechts wurde diese aus deutscher Sicht von vielen Seiten in dem Bewusstsein der Überlegenheit des deutschen Asylrechts vor allem deshalb als dringend geboten erachtet, weil man sich davon eine Entlastung von den weltweiten Problemen der politischen Verfolgung und sozialen Armut erwartete, welche die Bundesrepublik wegen ihres großzügigen Asylrechts scheinbar alleine schultern musste. 552 Heute besteht die Gefahr, dass Rechtsprechung und Politik in eben diesem Bewusstsein der Überlegenheit die Dimensionen der erfolgten Veränderungen nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen und den Anschluss an das internationale Flüchtlingsrecht nicht aus eigener Kraft bewältigen. Die behördliche und gerichtliche Praxis wird durch die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nicht nur inhaltlich, sondern vor allem in ihrer Arbeits- und Denkweise verändert. Die in vielen Bereichen eigenständige Methodik des Gemeinschaftsrechts, die der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in vielen Rechtsmaterien – genannt seien hier etwa das Arzneimittelrecht oder das Regulierungsrecht – keine ernstzunehmenden Probleme mehr bereitet, stellt für die deutsche Rechtspraxis im Asylrecht eine besondere Herausforderung dar, die sie gegenwärtig nur vereinzelt und widerwillig annimmt. Es muss daher daran erinnert werden, dass die Verwaltungsgerichte auch im Asylrecht das einschlägige Gemeinschaftsrecht zu ermitteln, selbst auszulegen und, soweit es unmittelbar wirksam ist, auf den Streitfall anzuwenden haben. Es gehört zu „Recht und Gesetz“ i. S.v. Art. 20 Abs. 3 GG und damit zum verbindlichen Entscheidungsprogramm des Richters. 553 Dies impliziert im Falle der Qualifikationsrichtlinie zwingend eine fundierte inhaltliche Auseinandersetzung mit der Genfer Flüchtlingskonvention unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen im internationalen Flüchtlingsrecht einschließlich insbesondere der Positionen des UNHCR und der Staatenpraxis. Aufgrund der historischen Entwicklung der asylrechtlichen Rechtsprechung ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit darauf schlecht vorbereitet. Dies gilt schon hinsichtlich der sächlichen Ausstattung der Bibliotheken der Verwaltungsgerichte, in denen vielfach grundlegende Literatur und Zeitschriften aus dem Bereich des internationalen Flüchtlingsrecht völlig fehlen. Dem einzelnen Richter mag insoweit die bisherige Nichtbefassung mit der Genfer Flüchtlingskonvention nicht immer vorzuwerfen sein. Unter gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkten wird dies zukünftig aber nicht mehr vertretbar sein. Insbesondere das Bundesverwaltungsgericht wird seiner Funktion als Schutzgericht effektiver nachkommen müssen.

552 553

Von Münch, Staatsrecht, Band 2, 12. Kapitel, Asylrecht, Rdnr. 542, 553. Dörr, in: Sodan / Ziekow, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rdnr. 210.

5. Kapitel

Zusammenfassung

A. Zur Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln des Art. 1 C (5) und (6) GFK und des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) der Qualifikationsrichtlinie sowie des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG 1. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln nach den Grundsätzen für die Auslegung von Völkervertragsrecht ergibt, dass die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Wegfalls der Umstände nach Art. 1 C (5) und (6) GFK einerseits und das Entstehen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A (2) GFK andererseits keine spiegelbildlichen Akte sind. Anerkannte Flüchtlinge unterliegen einem besonderen Schutz und dürfen legitimerweise erwarten, den Schutz ihres Aufnahmelandes und die mit ihrem Status verbundenen Rechte so lange nicht zu verlieren, wie ihr Herkunftsland zur Schutzgewährung nicht in der Lage ist. a) Hinsichtlich der Art und des erforderlichen Maßes sowie der Dauerhaftigkeit bzw. Stabilität der politischen Veränderungen im Herkunftsland eines – anerkannten – Flüchtlings, die Voraussetzung für eine Anwendung der Klauseln sind, gilt in Übereinstimmung mit den Richtlinien des UNHCR zum Internationalen Schutz betreffend die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 10. 02. 2003 Folgendes: Die Veränderungen müssen so tiefgreifend sein, dass generell vormalige Machtstrukturen, unter denen sich die Verfolgung ereignete, weggefallen sind. Sie müssen gleichzeitig dauerhaft sein, d. h. stabil in dem Sinne, dass der Prozess der politischen Veränderung weitgehend abgeschlossen und zu neuen – prinzipiell verfolgungsfreien – Machtstrukturen geführt hat. Es muss sich ein neues politisches System und Klima entwickelt haben, in dem demokratische Strukturen bestehen und eine allgemeine, substantielle Verbesserung der Menschenrechtssituation eingetreten ist. Situationen, die nach wie vor von anhaltenden gewaltsam ausgetragenen Machtkämpfen geprägt sind, deren Ausgang unklar ist, sind daher nicht als stabil zu bezeichnen.

186

5. Kap.: Zusammenfassung

b) Die Frage der Berücksichtigungsfähigkeit allgemeiner Gefahren für Leib, Leben und Freiheit stellt sich im Rahmen des Art. 1 A (2) GFK einerseits und der „Wegfall der Umstände“-Klauseln andererseits in grundsätzlich verschiedener Weise. Allgemeine Gefahren führen für sich genommen nicht bereits zur Entstehung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A (2) GFK, da die Genfer Flüchtlingskonvention insoweit einer individuellen Konzeption folgt. Nicht jeder Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtling ist Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenngleich allgemeine Gefahren nicht per se ausschließen, dass gleichzeitig eine begründete Furcht wegen individueller Verfolgung aufgrund eines der Konventionsmerkmale zu bejahen ist. Im Rahmen der „Wegfall der Umstände“-Klauseln stellt sich die Frage der Berücksichtigungsfähigkeit allgemeiner Gefahren dagegen unter dem Aspekt, ob der Entzug des Schutzes des Aufnahmelandes und der dort erworbenen Rechte gerechtfertigt ist. Letzteres ist nur dann anzunehmen, wenn der Herkunftsstaat generell wieder zur Gewährung effektiven Schutzes in der Lage ist. Zudem wirken sich allgemeine Gefahren auf die erforderliche Bewertung der Dauerhaftigkeit und Stabilität von Veränderungen im Herkunftsland aus. Kriegs- und Bürgerkriegssituationen bzw. vergleichbare Situationen anhaltender Machtkämpfe können weder als dauerhaft noch als stabil bezeichnet werden. 2. Die Auslegung der „Wegfall der Umstände“-Klauseln des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) der Qualifikationsrichtlinie nach den Grundsätzen für die Auslegung von EG-Recht stimmt mit derjenigen von Art. 1 C (5) und (6) der Genfer Flüchtlingskonvention überein und beinhaltet ebenso wie diese eine besondere qualitative Dimension der Veränderungen im Herkunftsland eines Flüchtlings. 3. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist in Übereinstimmung mit den vorstehenden materiellen Anforderungen des Art. 1 C (5) und (6) GFK und nunmehr auch des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e ) und f) der Qualifikationsrichtlinie auszulegen. Dass die Anerkennung als Flüchtling und deren Widerruf keine spiegelbildlichen Akte sind, ergibt sich auch aus der Systematik des Asylverfahrensgesetzes. Wenn der Entzug der Anerkennung in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG – bewusst abgesetzt von den Erlöschensgründen des § 72 AsylVfG – als Widerruf bezeichnet wird, so impliziert dies nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen ohne Weiteres, dass dieser Widerruf neben dem Wegfall der ursprünglichen Voraussetzungen für den Erlass der anerkennenden Entscheidung wegen zu berücksichtigender Vertrauensschutzgesichtspunkte zusätzlichen Anforderungen unterliegt, so wie dies auch im Rahmen der Anwendung der „Wegfall der Umstände“Klauseln der Fall ist. 4. Die bundesdeutschen Gerichte sind zur Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unter Beachtung der unter Ziffern 1 bis 3 dargelegten materiellen An-

B. Allgemeine Schlussfolgerungen

187

forderungen auch in laufenden Widerrufsverfahren sowohl nach völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen als auch nach den Grundsätzen der richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet. Art. 14 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie beschränkt nur die Pflicht zur verfahrensmäßigen Umsetzung einer materiellen Beendigung der Flüchtlingseigenschaft auf solche Schutzanträge, die nach Inkrafttreten der Richtlinie gestellt wurden. Das Vorliegen der Voraussetzungen einer der Beendigungsgründe des Art. 11 wird in Art. 14 Abs. 1 vorausgesetzt, ohne dass dessen Anwendung suspendiert wird. 5. Die vom internationalen Flüchtlingsrecht abweichende Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG durch die gegenwärtige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der ihm folgenden Instanzgerichte ist sowohl völkerrechtsals auch europarechtswidrig. 6. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH müssen die in der Bundesrepublik nach Art. 68 Abs. 1 EG vorlageberechtigten – und zugleich vorlageverpflichteten – letztinstanzlichen Gerichte, in erster Linie das Bundesverwaltungsgericht, die Frage der Auslegung des Art. 11 e) und f) sowie des Art. 14 der Qualifikationsrichtlinie in anhängigen Widerrufsverfahren dem EuGH vorlegen.

B. Allgemeine Schlussfolgerungen 1. Das bisher von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelte materielle Entscheidungsprogramm im Asylrecht ist für die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie grundsätzlich nicht maßgebend und kann auf diese nicht ohne Weiteres übertragen werden. Ausgangspunkt der Auslegung sind die allgemeinen Grundsätze für die Auslegung europäischen Rechts, was im Falle der Qualifikationsrichtlinie unter Berücksichtigung von Art. 63 Abs. 1 EG und der Erwägungsgründe der Richtlinie eine besondere Kenntnis und Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention erfordert. Die Ermittlung des Bedeutungsgehalts einzelner Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention wiederum hat ausschließlich nach den in Art. 31 ff WVRK in Übereinstimmung mit Völkergewohnheitsrecht vorgesehenen Auslegungsmethoden zu erfolgen. In diesem Rahmen ist auch die bisher von der Rechtsprechung vernachlässigte Staatenpraxis zu analysieren und zu gewichten. 2. Die nach den Grundsätzen für die Auslegung von Völkervertragsrecht vorzunehmende Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention ist die zentrale Weichenstellung für die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie. Dies gilt uneingeschränkt in den Fällen, in denen die Qualifikationsrichtlinie Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention wortgleich übernimmt. Dies gilt aber auch im Übrigen, soweit die Regelungsgegenstände identisch sind.

188

5. Kap.: Zusammenfassung

3. Die bei der Auslegung der Qualifikationsrichtlinie erforderliche Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention schließt die Berücksichtigung der Auslegung einzelner Konventionsbestimmungen durch den UNHCR ein. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen das Handbuch und etwaige Richtlinien des UNHCR eine übereinstimmende Staatenpraxis widerspiegeln und der Wortlaut der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie diese Positionen nachzeichnet, jedenfalls aber keine inhaltliche Abweichungen hiervon beinhaltet. 4. Soweit der UNHCR auf der Grundlage der im Rahmen der Globalen Konsultationen durchgeführten Expertenrunden Richtlinien erarbeitet, ergänzt oder aktualisiert hat, spiegeln diese nicht nur die Ergebnisse der Expertenrunden wider, sondern auch die zu diesem Zeitpunkt bestehende Anwendungspraxis. Wenngleich diese aktualisierten Richtlinien unverändert keine bindende Wirkung im unmittelbaren Sinn haben, so verdichtet sich doch in ihnen die bestehende Staatenpraxis zu einzelnen Konventionsbestimmungen unter Umständen in einer Weise, dass eine abweichende Vertragsauslegung einer besonderen, im Einzelnen darzulegenden und zu begründenden Rechtfertigung bedarf. 5. Das gegenüber der bisherigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungspraxis neue Prüfprogramm muss nicht bei allen Auslegungsfragen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Entscheidungserhebliche Diskrepanzen können aber nur aufgedeckt werden, wenn bei der Auslegung der Qualifikationsrichtlinie streng die methodischen Vorgaben für die europa- und völkerrechtliche Auslegung beachtet werden. Wenn danach Zweifel an der richtigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts auftreten, so sind die entsprechenden Auslegungsfragen von den nach Art. 68 Abs. 1 EG vorlageberechtigten – und zugleich vorlageverpflichteten – Gerichten dem EuGH vorzulegen.

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Sachwortverzeichnis acte claire 158 Afghanistan 73, 169 – UNHCR 77, 96, 104 Afghanistan-Entscheidung – BVerfG 35 – BVerwG-Widerruf 81 Ahmadiyya-Entscheidung 45 Allgemeine Regel des Völkerrechts 178 Amsterdamer Vertrag 51, 161 Amtswalterexzess 38 Anwendungshinweise BMI 157, 167 Asylgrundrecht 22, 26, 31, 36 – 37 Asylkompromiss 31 Asylverfahrensgesetz – AsylVfG 1982 27, 67 – AsylVfG 1992 31 – Änderungsgesetz 1993 32 Asylverordnung 24 Aufenthaltsgesetz 35, 39, 45, 59, 64, 78 – 79, 83, 169, 183 Ausländergesetz – AuslG 1965 24, 49 – AuslG 1990 29, 49 – Änderungsgesetz 1993 32 Auslegungsgrundsätze – dynamisch-evolutive Methode 129 – gemeinschaftsrechtliche Auslegung 158 – historische Auslegung 143 – richtlinienkonforme Auslegung 154 – souveränitätsfreundliche Auslegung 129 – völkerrechtsfreundliche Auslegung 129 – Völkervertragsrecht 124 – Wiener Übereinkommen 125 Australien 113, 119, 142 Äthiopien 103

Beendigungserklärung 102 – Äthiopien 103 – Chile 103 – Rumänien 103 Bürgerkrieg 27 –28, 32, 38, 50, 60, 96, 103, 149 Cartagena-Deklaration 111 Diplomatischer Schutz 132 Dubliner Übereinkommen 32 Effektivitätsgrundsatz 159 effet utile 129, 153, 159, 182 ernsthafter Schaden 59 Europäische Kommission 112, 140, 149, 164, 176 Europäische Menschenrechtskonvention 30, 39, 172 Exekutivkomitee 93 Extremgefahr 60 Flüchtlingsbegriff 23, 25, 34, 45 –46, 48, 133, 149 – Qualifkationsrichtlinie 55 Flughafenverfahren 32 Folgeantrag 62 Folter 27, 40 Gemeinsamer Standpunkt 51 Genfer Flüchtlingskonvention 17, 37, 53 – allgemeine Gefahren 149 – Globale Konsultationen 98 – Qualifikationsrichtlinie 161 – Schutzfunktion 143 – Staatenpraxis 137

Sachwortverzeichnis – Travaux Préparatoires 143 – völkerrechtliche Lehre 106 – Wiener Übereinkommen 125 – Ziel und Zweck 135 gesetzlicher Richter 179 Großbritannien 116 Grundsatz der Nichtzurückweisung 53 Handbuch UNHCR 47, 97, 139, 163 inländische Fluchtalternative 28, 42, 65 Internationale Flüchtlingsorganisation 106, 108, 144 interner Schutz 63 Irak 75 – UNHCR 77, 105 Kanada 112 Kettenduldung 34 kinderspezifische Verfolgung 57 Kongruenzlehre 25 Kumulierung 55 Massenzustrom 60 Menschenrechte 40, 54, 56, 129 – Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 46, 135, 143 – Europäische Menschenrechtskonvention 50, 56, 161 – Genfer Flüchtlingskonvention 135 – Internationale Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 143 – Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 47, 143 – Qualifikationsrichtlinie 55 – 56 – Übereinkommen über die Rechte des Kindes 161 Menschenwürde 40, 45, 55 Militärdienst 57 Nachfluchtgründe 28 – 29, 42, 62 Niederlande 113

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OAU-Konvention 111 Objektivitätslehre 26 Österreich 121 politische Verfolgung 23, 28, 33, 37, 41, 48 Qualifikationsrichtlinie 18, 36, 51, 53, 138, 153 – Aberkennungsverfahren 166 – dynamische Auslegung 130 – Flüchtlingsbegriff 55 – Genfer Flüchtlingskonvention 157 – Richtlinienumsetzungsgesetz 182 – subsidiärer Schutz 59 – „Wegfall der Umstände“-Klausel 162 Rechtsschutz 170 –171 – BVerfG 177 – EuGH 170 Refoulement-Verbot 28 –29, 163 Religion 34, 40, 45, 47, 58, 183 Republikflucht 25 Richtlinie EU 153 – effet utile 153 – richtlinienkonforme Auslegung 154 – unmittelbare Wirkung 154 – Vertragsverletzungsverfahren 153 Richtlinienkonforme Auslegung 154 Richtlinienumsetzungsgesetz 182 Richtlinien UNHCR 71, 97, 138, 162 –163 Schengener Übereinkommen 32 Schutz 71, 82, 101, 107 –108, 123, 132, 135, 143 Schutzalternative 63 Schweiz 114 sichere Drittstaaten 31, 43 sichere Herkunftsstaaten 31 soft law 127 soziale Gruppe 58 Spanien 106 Sperrwirkung 34, 60, 66, 87 Staatenpraxis 47, 110, 127, 137, 162

198

Sachwortverzeichnis

– UNHCR 138 Staatlichkeit der Verfolgung 66, 78, 150 – nichtstaatliche Verfolgung 36, 39, 143 – quasi-staatliche Verfolgung 35 – staatliche Verfolgung 17, 28, 34, 38, 48 – 49, 65, 71 Staatsschutzdelikte 27 subjektives Recht 22, 27 subsidiärer Schutz 59 sur place-Flüchtlinge 62 Tamilen-Entscheidung 17, 48 – BVerfG 28 – BVerwG 34 Tampere 52, 163 These von der Teilidentität 24, 44 These von der Vollidentität 25, 44, 50 Transformationslehre 50, 151, 165 Travaux Préparatoires 144 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe 161 Übereinkommen über die Aufhebung des Sichtvermerkszwangs 161 UNHCR 93 – Beschluss Nr. 69 (XLIII) 94 – Discussion Note 94 – Exekutivkomitee 93 – Globale Konsultationen 98 – Handbuch 1979 46, 70, 97 – Handbuch 2003 83 – Note on the Cessation Clauses 1997 95 – Richtlinien 1999 98 – Richtlinien 2003 100 – Satzung 68

Verfolgungsakteure 39, 61, 65 Verfolgungsfurcht 26, 41, 46 Verfolgungsgrund 57 Verfolgungshandlung 30, 38, 55 –56 Verfolgungsmotivation 26 –27 Vertragsänderung 128 Vertragspraxis 127 Vertragsverletzungsverfahren 153 Vorabentscheidungsersuchen 170 – abstraktes Vorlageverfahren 174 – Vorlageberechtigung 170 – Vorlagepflicht 172 Völkergewohnheitsrecht 125, 128 völkerrechtliche Lehre – Goodwin-Gill 108 – Grahl-Madsen 106 – Hathaway 108 völkerrechtskonforme Integration 160 Völkervertragsrecht 124, 130, 147, 157, 160, 177 Wahrscheinlichkeitsmaßstab 61, 92 Wehrdienst 57 Widerruf 19, 67, 152 – Aufenthaltsstatus 169 – Schweiz 114 – UNHCR 104 – Vorabentscheidungsersuchen 171 Wiener Übereinkommen 125, 130 Willkürkontrolle 177 Zurechnungslehre 28 Zuwanderungsgesetz 18, 35, 73, 78

Lebenslauf Annegret Titze Richterin am Verwaltungsgericht

Geboren

19. 06. 1958 in Bergisch Gladbach

06/1977

Abitur

11. 06. 1983

1. Juristisches Staatsexamen / Köln

04/1981 – 07/1988

Zweitstudium Soziologie / Spanisch

12/1983 – 12/1984

Tätigkeit als juristische Mitarbeiterin in der internationalen Kanzlei Bergmann / Scamoni in Mailand, Italien

01/1985 – 12/1987

Referendarausbildung beim Oberlandesgericht Köln:u. a. von April bis August 1986 Tätigkeit bei der Deutsch-Chilenischen Handelskammer in Santiago de Chile

16. 12. 1987

2. Juristisches Staatsexamen / Düsseldorf

01/1988 – 06/1990

Rechtsanwältin in der internationalen Kanzlei Boden / Oppenhoff in Köln

seit Juli 1990

Richterin beim Verwaltungsgericht Köln

1992

Ernennung zur Richterin am Verwaltungsgericht − 1990 – 1996 zuständig für Umweltrecht und Gebührenrecht sowie Asylrecht mit Länderschwerpunkten Türkei und China − 1997 – 2004 zuständig für Sozialhilferecht sowie Asylrecht mit Länderschwerpunkten Türkei und Irak − seit 2005 zuständig für Arzneimittelrecht, Eisenbahnrecht sowie Asylrecht mit Länderschwerpunkt Irak Lehraufträge an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen / Abteilung Köln

09/2001 – 05/2004