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German Pages 204 Year 2020
Studien zum vergleichenden Privatrecht Studies in Comparative Private Law Band / Volume 10
Die deliktsrechtliche Verkehrspflicht im deutsch-chinesischen Vergleich
Von
Meng Wang
Duncker & Humblot · Berlin
MENG WANG
Die deliktsrechtliche Verkehrspflicht im deutsch-chinesischen Vergleich
Studien zum vergleichenden Privatrecht Studies in Comparative Private Law Band / Volume 10
Die deliktsrechtliche Verkehrspflicht im deutsch-chinesischen Vergleich
Von
Meng Wang
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahre 2019 als Dissertation angenommen.
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D6 Alle Rechte vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 2567-5427 ISBN 978-3-428-15398-5 (Print) ISBN 978-3-428-55398-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Für meine Eltern und meine Frau
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im November 2017 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als InauguralDissertation angenommen. Während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der East China University of Political Science and Law wurde diese Arbeit weiter überarbeitet und verbessert. Sie widmet sich einem Grundlagenthema des Deliktsrechts und der Rechtsvergleichung zwischen Deutschland und China. Als erstes gebührt der Dank meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Nils Jansen für seine fortwährende Unterstützung im Verlaufe der Arbeit und vorbildliche Betreuung während meiner Promotion in Münster. Für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und wertvolle Vorschläge danke ich Herrn Prof. Dr. Sebastian Lohsse sehr herzlich. Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Keke Jin von der East China University of Political Science and Law. Mein Interesse an der Zivilrechtsdogmatik wurde von ihm geweckt. Mein ganz persönlicher Dank gilt auch Herrn Dr. Wolfgang Ballke und Frau Gunthild Habich. Ohne ihre tatkräftige Mithilfe beim Korrekturlesen wäre diese Arbeit nicht das, was sie schließlich geworden ist. Meinen Eltern möchte ich für ihre liebevolle und unermüdliche Unterstützung während dieser Jahre danken. Den größten und innerlichsten Dank schulde ich meiner Ehefrau, Frau T, für ihr Verständnis und ihre Ermutigung. Sie hat mir vieles möglich gemacht, das ohne ihre Hilfe nicht möglich gewesen wäre. Mein Dank geht auch an Herrn Dr. Mingbin Yao und Herrn Dr. Jianyi Wang für ihre konstante Unterstützung. Als meine engsten Freunde haben sie mich in allen Umbrüchen und Veränderungen gestärkt. Schließlich möchte ich allen lieben Menschen danken, die mich während der Promotion auf unterschiedlichste Weise unterstützt haben und die hier ungenannt bleiben. Schanghai, im Juni 2020
Meng WANG
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung
21
Kapitel 2 Verkehrspflichten im deutschen Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
23
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Entwicklungsgeschichte der Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Rechtsprechung im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Drei wichtige Entscheidungen des Reichsgerichts nach Inkrafttreten des BGB
25
a) „Morscher Baum-Fall“ (RGZ 52, 373) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 b) „Streupflicht-Fall“ (RGZ 54, 53) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 c) „Milzbrandfall“ (RGZ 102, 372) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3. Kurzzusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Funktionen der Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Die traditionelle herrschende Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Haftungsbegründung bei Unterlassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 b) Zurechnung bei mittelbarer Verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Die neue Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 aa) Zwei repräsentative Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 (1) Der „Waschmaschinenfall“ (OLG Düsseldorf, Urteil vom 23. 7. 1974 – 4 U 20/74) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 (2) Der „Treibjagdfall“ (OLG Oldenburg, Urteil vom 3. 10. 1978 – 4 U 12/78) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 bb) Problematik dieser Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 (1) Entkoppelung der Verkehrspflichten von echten Verhaltenspflichten 32 (2) Verkehrspflichten als Mittel zur Risikozuweisung . . . . . . . . . . . . . . 33 b) Die von Jansen aufgestellte These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 aa) Erfolgsbezogenes Verständnis der Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 34 (1) Abweichung der Rechtswidrigkeit vom Handlungsunrecht . . . . . . . 34 (2) Rechtswidrigkeit als ein haftungsbezogener Begriff . . . . . . . . . . . . . 34 bb) Verkehrspflichten als Sorgfaltsobliegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
10
Inhaltsverzeichnis cc) Ein neues Haftungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 c) Die Kritik der Gegenauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 aa) Argumente für die Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 bb) Gegenargumente gegen die Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 aa) Enge Orientierung an der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 bb) Zutreffendes Verständnis der überspannten Sorgfaltsanforderungen . . . 39 cc) Die Funktionsumwandlung des Deliktsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
B. Dogmatische Zuordnung der Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I. Systematische Stellung der Verkehrspflichten im deutschen Deliktsrecht . . . . . . . 43 1. Meinungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Standort der Verkehrspflichten im Deliktsaufbau des § 823 I BGB . . . . . . . . . . . . 44 1. Meinungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 III. Verkehrspflicht und Sorgfaltspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Abgrenzung von äußerer und innerer Sorgfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a) Funktion dieses Begriffspaars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Kriterium für die Abgrenzung dieses Begriffspaars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Die Gegenauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Äußere Sorgfalt als „Sorgfalt im Höchstmaß“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) Unterscheidung nur in Extremfällen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 aa) Ausnahme der Indizwirkung in Extremfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 bb) Hier vertretene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 IV. Deliktische Verkehrspflichten und vertragliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Unterschiede zwischen Verkehrspflichten und Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . 53 a) Dogmatische Zuordnung und Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 b) Haftung für Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Kapitel 3 Verkehrspflichten im deutschen Deliktsrecht: Einzelfragen
56
A. Entstehungsgründe für Verkehrspflichten und ihre Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . 56 I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Inhaltsverzeichnis
11
II. Traditionelle Kategorisierung von Verkehrspflichten im Schrifttum . . . . . . . . . . . 58 1. Zwei Grundkategorien der Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Unterscheidung von Sicherungs- und Fürsorgepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . 59 b) Normative Anhaltspunkte für die Unterscheidung der beiden Kategorien . . 60 2. Sicherungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 a) Prinzip: Zuständigkeit für eigenen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 b) Untergruppen von Sicherungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 aa) Sachbezogene Sicherungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 bb) Verhaltensbezogene Sicherungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 cc) Personenbezogene Sicherungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (1) Bestimmte Personengruppe als Gefahrenquelle . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (2) Abgrenzung der personenbezogenen Sicherungspflichten von den Fürsorgepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 c) Verletzung von Sicherungspflichten und die Bereichshaftung . . . . . . . . . . . . 64 3. Fürsorgepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) Zweck: Schutz vor Gefahren aus fremdem Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 b) Entstehungsgründe für Fürsorgepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 aa) Vertragliche Übernahme von Fürsorgeaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 bb) Gesetzliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 cc) Andere vertrauensbildende soziale Nahebeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . 67 dd) Allgemeine Fürsorgepflichten aus §§ 138, 323c StGB? . . . . . . . . . . . . . 68 (1) Neue Tendenz in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 (a) Unterlassende Hilfe bei einer Vergewaltigung (OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. 07. 2004 – I-14 U 24/04) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 (b) Gemeinsame Fahrt zum Drogenkonsum (OLG Hamm, Urteil vom 01. 10. 2004 – 9 U 138/04) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 (c) Schüsse bei Wohnungsräumung (BGH, Urteil vom 14. 5. 2013 – VI ZR 255/11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 (2) Der Meinungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 (a) Keine Garantenstellung aus § 323c StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 (b) Erhaltung der Kohärenz des Systems des Haftungsrechts . . . . . . 73 B. Adressat von Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Träger der Sicherungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Träger der Fürsorgepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II. Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Nebeneinanderstehen mehrerer Verkehrspflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 b) Aufteilung der Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
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Inhaltsverzeichnis c) Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Übertragung und Umwandlung von Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 aa) Übertragung von Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 bb) Umwandlung von Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Vertrauensschutz als Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 aa) Berechtigte Erwartung des originären Verkehrspflichtigen . . . . . . . . . . . 81 bb) Vertrauen des Verkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 c) Gegenseitiges Einverständnis hinsichtlich der Übertragung von Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 aa) Durch ausdrückliche Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (1) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (2) Unabhängigkeit der Übertragung von der Wirksamkeit des zugrundelegenden Rechtsgeschäfts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 bb) Durch konkludentes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 d) Rechtsfolge der Übertragung von Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 aa) Haftung des Übernehmers gegenüber dem Geschädigten . . . . . . . . . . . . 85 bb) Haftung des originären Verkehrspflichtigen gegenüber dem Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 (1) Haftung wegen Verletzung der umgewandelten neuen Pflicht . . . . . 86 (2) Haftung für Fehlverhalten des Übernehmers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 cc) Außen- und Innenverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
C. Konkrete Bestimmung von Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 I. Konkretisierungsbedürftigkeit der Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 II. Grundprinzip: Erforderlichkeit und Zumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2. Zumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 III. Konkrete Kriterien zur Bestimmung der Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Die Gefahr als Kernelement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Schutzwürdigkeit des (potentiellen) Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Ökonomische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Versicherungsbezogene Elemente? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Ansichten in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 aa) Zustimmende Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (1) Ansicht von Ehrenzweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (2) Ansicht von Bars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (3) Andere wichtige Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 bb) Ablehnende Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Inhaltsverzeichnis
13
b) Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 aa) Entscheidungen zur elterlichen Aufsichtspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (1) Unzulängliche Verwahrung von Streichhölzern (BGH, Urteil vom 17 – 05 – 1983 – VI ZR 263/81) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (2) Aufsichtspflicht bei Zündelneigung des Kindes (BGH, Urteil vom 27 – 02 – 1996 – VI ZR 86/95) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 bb) Entscheidungen zur allgemeinen Verkehrspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Stellungnahme: Die vorangegangenen Ausführungen erlauben zumindest folgende Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Kapitel 4 Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
105
A. Überblick über das chinesische Deliktsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 I. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 1. Vor dem chinesischen Deliktshaftungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Allgemeine Grundsätze des Zivilrechts der Volksrepublik China . . . . . . . . . 105 b) Justizielle Interpretationen des chinesischen OVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Ansichten des OVG zur Implementierung der AGZ . . . . . . . . . . . . . . . . 107 bb) Erläuterungen des OVG zum Schadensersatz für Personenschäden . . . . 107 2. Gesetz der VR China über die deliktische Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 a) Mangel im Gesetzgebungsverfahren des GdH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 b) Inhaltsübersicht des GdH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Das chinesische Zivilgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Allgemeines zur Deliktshaftung im Rahmen des chinesischen Rechts . . . . . . . . . 111 1. Deliktsrechtliche Generalklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Aufbau der Verschuldenshaftung im chinesischen Deliktsrecht . . . . . . . . . . . . . 112 a) Objektive Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Subjektives Tatbestandsmerkmal: Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) Verschuldensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 bb) Verschuldensfähigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (1) Keine gesetzliche Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (2) Problematik der Bestimmung des § 32 GdH und Lösungsvorschlag 115 c) Haftungsausschlussgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. Rechtsfolgen der unerlaubten Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 B. Sicherheitsgewährleistungspflicht im chinesischen Deliktsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 I. Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
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Inhaltsverzeichnis II. Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Rechtsnatur und dogmatische Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Pflichtenträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Pflichteninhalt und konkrete Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4. Rechtsfolge der Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 III. Verhältnis zwischen Sicherheitsgewährleistungspflicht und Verkehrspflicht . . . . . 125 1. Gleichsetzung der Sicherheitsgewährleistung mit der Verkehrspflicht? . . . . . . 125 2. Allgemeine und besondere Verkehrspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Kapitel 5 Funktionaler Rechtsvergleich
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A. Einführung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 B. Dogmatische Grundfrage: Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der deliktischen Haftung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 I. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 II. Meinungsstreit im chinesischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Die wohl überwiegende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Gegenansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 III. Rechtswidrigkeit im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Beurteilung der Rechtswidrigkeit des § 823 I BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 a) Erfolgsunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Handlungsunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 IV. Funktionelle Betrachtung der Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Definition des deliktsrechtlichen Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Filterfunktion bei mittelbarer Rechtsgutsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 a) Unmittelbarer Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 b) Mittelbarer Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 aa) Pflichtverletzung als Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 bb) Verhaltensbewertung oder Schadenszuweisung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 V. Vorschlag für das Verständnis des Deliktsaufbaus im chinesischen Recht . . . . . . . 140 1. Umfassende Regelung des § 2 II GdH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Rechtswidrigkeit als der einzige Lösungsansatz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Inhaltsverzeichnis
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C. Haftung des Verkehrspflichtigen bei Fehlverhalten des Geschädigten oder Dritten . . . 143 I. Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Begriff „Unbefugte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Betroffene Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 c) Gegenstand der folgenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Darstellung der deutschen und chinesischen Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Rechtslage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 aa) Frühere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 bb) Heutige Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Rechtslage in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 aa) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 bb) Ansichten im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Lösungsansatz zur Bestimmung der Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten 149 a) Grundlegender Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 aa) Grundprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 bb) Ablehnung der Gegenansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Rückgriff auf den Grundgedanken des Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . 150 aa) Vertrauen des Geschädigten auf den Sicherheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . 150 bb) Erwartung des Verkehrspflichtigen an die Eigenvorsorge des Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (1) „Unbefugtsein“ des Geschädigten bildet kein Indiz für fehlende Eigenvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (2) Anwendung der Schutzzwecklehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (a) Schutzzweck der vom Geschädigten verletzten Verhaltensnorm 152 (b) Anwendung am Beispiel des „Damentoilette-Falls“ . . . . . . . . . 153 c) Konkrete Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Gefahrerhöhung als Zentralelement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 bb) Vergleich mit einem „Befugten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (1) Vorliegen eines vergleichbaren Befugten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (2) Mögliches Ergebnis I: Schadenseintritt auch bei einem Befugten 155 (3) Mögliches Ergebnis II: Kein Schadenseintritt bei einem Befugten
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cc) Naheliegendes unbefugtes Verhalten des Geschädigten . . . . . . . . . . . . . 157 (1) Vorhersehbarkeit des unbefugten Verhaltens des Geschädigten . . . . 157 (2) Widerlegung der möglichen Gegenargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (a) Selbstgefährdung des Unbefugten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (b) Zum Schutz des Verkehrspflichtigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (3) Bestimmung der Vorhersehbarkeit des unbefugten Verhaltens . . . . . 160 4. Sonstige Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Grenzen der Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
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Inhaltsverzeichnis b) Besonders schützenswerte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 c) Mitverschulden des Unbefugten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 II. Haftung des Verkehrspflichtigen beim Dazwischentreten Dritter . . . . . . . . . . . . . . 164 1. Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 a) Charakteristik der zu untersuchenden Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 b) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2. Überblick zur Rechtslage in Deutschland und in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Rechtslage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 aa) Haftungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 bb) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Rechtslage in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 aa) Teilhaftung der Nebentäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 bb) Entsprechende Ergänzungshaftung des Trägers der Sicherheitsgewährleistungspflicht (§ 37 II GdH) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 cc) Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Fallgruppenbildung als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 aa) Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 bb) Unterteilung in zwei Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (1) Inhalt der Verkehrspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (2) Kausalverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 cc) Bedeutung der Fallgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 (1) Bedeutung für das deutsche Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (2) Bedeutung für das chinesische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Fallgruppe I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 aa) Besonderheit der Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 bb) Vergleich der Lösungsansätze im deutschen und chinesischen Recht . . 173 (1) Lösung nach dem deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (2) Lösung nach dem chinesischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 cc) Stellungnahme: Die gesamtschuldnerische Haftung als das einzig richtige Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Fallgruppe II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (1) Sich gegen das Fehlverhalten Dritter richtende Verkehrspflichten
176
(2) Überblick über die nachstehende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 177 bb) Begründung bzw. Begrenzung der Haftung des Verkehrspflichtigen . . . 178 (1) Gefahrerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (2) Trennung zwischen dem allgemeinen Lebensrisiko und dem spezifischen Schadensrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Inhaltsverzeichnis
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(3) Vorhersehbarkeit des Fehlverhaltens Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 cc) Haftung des Verkehrspflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (1) Vergleich und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (2) Beschränkung der Haftung des Trägers der Sicherheitsgewährleistungspflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (a) Der aktuelle Meinungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (3) Regeressanspruch gegen den unmittelbar handelnden Dritten? . . . . 183 (a) Aktueller Meinungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 (c) Anerkennung des Regressanspruchs des Pflichtenträgers . . . . . . 184 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
Kapitel 6 Fazit
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Abkürzungsverzeichnis AcP a.E. AGZ Anm. AT Aufl. BayObLG Begr. BGB BGH BGHZ BT BT-Drucks. bzw. ChZGB CJL CLS d. h. ELR f., ff. Fn. FS GdH ggf. GGG h.L. h.M. Hrsg. Hs. JLA JLLR JNPC JRUC JSU JurA JuS JW JZ LF LS MDR
Archiv für die civilistische Praxis am Ende Allgemeine Grundsätze des Zivilrechts Anmerkung Allgemeiner Teil Auflage Bayerisches Oberstes Landesgericht Begründer Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Besonderer Teil Bundestagsdrucksache beziehungsweise Zivilgesetzbuch der VR China ] Chinese Journal of Law [ ] China Legal Science [ das heißt Economic Law Review [ ] folgend(e) Fußnote Festschrift Gesetz der VR China über die deliktische Haftung gegebenenfalls Gesetzgebungsgesetz der VR China herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber Halbsatz ] Journal of Law Application [ Jinling Law Review [ ] Journal of National Prosecutors College [ Journal of China Remin University [ ] Journal of Soochow University [ Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Legal Forum [ ] Law Science [ ] Monatsschrift für Deutsches Recht
]
]
Abkürzungsverzeichnis m.w.N NJW NJW-RR NPCSC NZV OL OLG OVG PULJ RG RGRK RGZ Rn. RULR S. SLB sog. StGB StPO StVG StVO TPSL TULJ usw. VersR vgl. z. B. ZChinR ZfRV Ziff.
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mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungs-Report Standing Committee of the National People’s Congress of the People’s Republic of China Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Oriental Law [ ] Oberlandesgericht Oberster Volksgerichtshof der VR China ] Peking University Law Journal [ Reichsgericht Reichsgerichtsräte-Kommentar BGB Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer ] Remin University Law Review [ Seite/Satz ] Studies in Law and Business [ sogenannt(e) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrsordnung ] Tribune of Political Science and Law [ Tsinghua University Law Journal [ ] und so weiter Versicherungsrecht vergleiche zum Beispiel Zeitschrift für Chinesisches Recht Zeitschrift für Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Ziffer
Kapitel 1
Einleitung Am 1. Juli. 2010 ist das Gesetz der VR China über die deliktische Haftung (GdH) in Kraft getreten.1 In § 37 GdH wird die sog. Sicherheitsgewährleistungspflicht [ ] geregelt. Diese Pflicht wird auch in § 1198 des Zivilgesetzbuchs der VR China (ChZGB) geregelt.2 Nach überwiegender Ansicht im chinesischen Schrifttum wird diese Pflicht als Verkehrspflicht im Sinne einer entsprechenden Institution im deutschen Recht verstanden, nämlich der deliktsrechtlichen Verhaltenspflicht zur Abwehr von Gefahrquellen, deren Missachtung auf Schadensersatzanspruch nach § 823 I BGB hinausläuft. Die Sicherheitsgewährleistungspflicht wird als ein Beispiel der Adoption deutscher zivilrechtlicher Institutionen in das chinesische Zivilrecht angesehen.3 Deswegen ist es für ein besseres Verständnis dieser Pflicht von Vorteil, die Quelle der Adoption, nämlich das deutsche Zivilrecht, in die Betrachtung einzubeziehen. Daher haben die Erfahrungen in Deutschland – insbesondere das Zusammenspielen der Verkehrspflicht mit anderen zivilrechtlichen Institutionen, ihre dogmatische Zuordnung und konkreten Anwendungsfälle – sowohl bei der dogmatischen Untersuchung als auch bei der praktischen Anwendung der Sicherheitsgewährleistungspflicht in China großen Forschungswert. Die im chinesischen Recht geregelte Sicherheitsgewährleistungspflicht weist zwar einige Ähnlichkeiten mit der Verkehrspflicht des deutschen Deliktsrechts auf. Die beiden Begriffe sind aber nicht gleichzustellen. Als Beispiele hierfür lassen sich die folgenden beiden nennenswerten Unterschiede darstellen:
1 Das Gesetz der VR China über die deliktische Haftung (im Folgenden kurz: „GdH“) ist am 26. 12. 2009 auf der 12. Sitzung des Ständigen Ausschusses des 11. Nationalen Volkskongresses verabschiedet worden und am 1. 7. 2010 in Kraft getreten. Die deutsche Übersetzung vgl. LIU/ Pißler, ZChinR 2010, S. 41 ff. Im Rahmen dieser Arbeit wird dieses Gesetz mancherorts auch als „das chinesische Deliktshaftungsgesetz“ bezeichnet. Zur ausführlichen Erklärung des Gesetzgebungsverfahrens des GdH und dessen drei amtlichen Entwürfen vgl. ZHANG Shu, S. 173 ff. 2 Das Zivilgesetzbuch der VR China (im Folgenden kurz: „ChZGB“) ist am 28. 5. 2020 auf der 3. Sitzung des Ständigen Ausschusses des 13. Nationalen Volkskongresses verabschiedet worden und wird am 1. 1. 2021 in Kraft treten. Dementsprechend wird das GdH am 1. 1. 2021 außer Kraft gesetzt (§ 1260 ChZGB). 3 Vgl. LI Hao, S. 20 ff.; ZHOU Youjun, Verkehrspflichten, S. 18 ff.; BU Yuanshi, ZfRV 2010, 225; WANG Liming, 2. Halbband, S. 154 ff.; ZHANG Xinbao, S. 171 f.
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Kap. 1: Einleitung
Im Rahmen des chinesischen Rechts (§ 37 GdH bzw. § 1198 ChZGB) ist der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht entweder der Verwalter eines öffentlichen Raums oder der Organisator einer Massenveranstaltung. Im Vergleich dazu gibt es im deutschen Deliktsrecht keine allgemeine Beschränkung in Bezug auf den Verkehrspflichtigen. Vielmehr ist der Träger einer Verkehrspflicht auf Grund der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu ermitteln. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Sicherheitsgewährleistungspflicht im chinesischen Deliktsrecht eine besondere Verhaltenspflicht ist, die bestimmten Personen auferlegt wird. Demgegenüber ist die Verkehrspflicht im deutschen Deliktsrecht als eine allgemeine Verhaltenspflicht zur Gefahrenvermeidung und -abwendung zu verstehen. Der Unterschied zwischen Sicherheitsgewährleistungspflicht nach chinesischem und Verkehrspflicht nach deutschem Recht wird auch offenbar, wenn der Schaden von einem Dritten unmittelbar verursacht wird. Nach § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB muss der als unmittelbarer Schädiger angesehene Dritte vorrangig die deliktische Haftung übernehmen. Kommt der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht seiner Pflicht nicht nach, trifft ihn nur subsidiär die sog. „entsprechende ergänzende Haftung“. Im Rahmen des deutschen Rechts stellt sich die Lage aber ganz anders dar. Der Verkehrspflichtige und der unmittelbar schädigende Dritte werden als Nebentäter angesehen. Gemäß § 840 I BGB haften sie nach außen als Gesamtschuldner. Hier trifft den Verkehrspflichtigen also eine solidarische Haftung. Die oben genannten Beispiele machen deutlich, dass die chinesische Zivilrechtsgesetzgebung und -dogmatik zwar stark von der deutschen geprägt sind, der chinesische Gesetzgeber allerdings das BGB bzw. die deutsche Zivilrechtsdogmatik nicht undifferenziert abgeschrieben und übernommen hat. Auf ein und dieselbe Frage können das deutsche und chinesische Recht ganz unterschiedliche Antworten geben. Es ist aber auch möglich, dass hinsichtlich ein und derselben Frage die unterschiedlichen Lösungsansätze beider Länder letztendlich zum gleichen Ergebnis kommen. Diese Fragenkreise bilden die Grundlage und den Ausgangspunkt der nachfolgenden Rechtsvergleichung. Das Gesamtbild des Zivilrechts wird nicht von der einfachen Zusammensetzung der einzelnen zivilrechtlichen Institutionen, sondern durch ihr funktionelles Zusammenspiel konstituiert. Dementsprechend sollen sowohl die Sicherheitsgewährleistungspflicht als auch die Verkehrspflicht vor dem Gesamtbild des chinesischen bzw. deutschen Zivilrechts untersucht und interpretiert werden. Dementsprechend beschränkt sich der im Rahmen dieser Arbeit vorgenommene Rechtsvergleich nicht auf die Verkehrspflicht und Sicherheitsgewährleistungspflicht. Daneben werden auch die Unterschiede zwischen chinesischem und deutschem Deliktsrecht dargestellt.
Kapitel 2
Verkehrspflichten im deutschen Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten I. Entwicklungsgeschichte der Verkehrspflichten Nach überwiegender Ansicht in der deutschen Literatur und Rechtsprechung sind die Verkehrspflichten als Gefahrvermeidungs- und -abwendungspflichten zu begreifen. Genauer gesagt, diejenigen, die Gefahrenquellen für Rechtsgüter anderer schaffen oder andauern lassen, müssen die erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen treffen, um die Gefahren für andere zu vermeiden oder abzuwenden.4 Im Rahmen des deutschen Rechts spielt die Verkehrspflichtverletzung eine sehr wichtige Rolle bei der Begründung einer deliktischen Fahrlässigkeitshaftung. Es ist offensichtlich, dass heute die Verkehrspflichten bereits allgemeiner Natur sind. In der Rechtspraxis lassen sich die Verkehrspflichten in nahezu allen Lebensbereichen finden. Im folgenden Text wird die Entwicklungsgeschichte der Verkehrspflichten seit dem 19. Jahrhundert in einer Übersicht dargestellt: 1. Rechtsprechung im 19. Jahrhundert Vor Inkrafttreten des BGB war das Rechtsinstitut der Verkehrspflichten weder gesetzlich geregelt noch wurde es durch die Rechtsprechung entwickelt. Trotzdem lassen sich bereits in der Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts ähnliche Ansätze zur Haftungsbegründung bei Unterlassung oder mittelbarer Schädigung erkennen.5 In diesem Zusammenhang können einige beispielhafte Urteile benannt werden. Die seinerzeitige Rechtsprechung hielt eine natürliche oder juristische Person auch für die von einem Dritten unmittelbar verursachten Verletzungen unter der Voraussetzung verantwortlich, dass sie ein Verschulden traf: Dementsprechend ließ 4 Ständige Rechtsprechung des BGH siehe z. B. BGH NJW 1990, 1236; 1997, 2517; 2002, 525; 2004, 1449; 2007, 1683. Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 1 d, S. 402; v. Bar, S. 43; Deutsch/Ahrens, Rn. 330; Looschelders, SchuldR BT, Rn. 1178; Voss, S. 48 ff.; Raab, JuS 2002, 1041, 1043. 5 Vgl. Jansen, S. 396 ff.; Kleindiek, S. 112 f.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
das BayObLG denjenigen haften, der nur fahrlässig die von einem Dritten begangene Unterschlagung ermöglicht.6 Ebenso machte das Obertribunal zu Stuttgart den Veranstalter eines Schießens, der es unterließ, erforderliche Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, für die durch einen Schuss verursachte körperliche Verletzung eines anderen verantwortlich.7 In einem anderen Urteil des Obertribunals zu Stuttgart wurde auch die Haftung des mitfahrenden Herrn für gefährliches Fahrverhalten seines Knechts anerkannt.8 In allen oben aufgelisteten Fällen handelte es sich tatsächlich um die Haftung für Unterlassen. Anders als die strikt beschränkte aquilische Haftung des römischen Rechts hat die Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts die Haftung für Unterlassen beträchtlich erweitert. Die deliktische Unterlassenshaftung setzte die Handlungspflichtverletzung voraus. Um eine rechtliche Handlungspflicht zu begründen, lehnte sich die Rechtsprechung einerseits an ein von der damals herrschenden Lehre entwickeltes Kriterium an: Die Handlungspflicht lasse sich aus einem vorangegangenen oder begleitenden gefährlichen Tun ableiten.9 Dementsprechend führe die Schaffung einer besonderen Gefahr für den Verkehr zur Entstehung einer Schadensvermeidungspflicht. Dies ist deutlich in dem berühmten „Bahnwärter-Fall“10 und anderen ähnlichen Entscheidungen zu erkennen.11 Nach der Rechtsprechung der 1890er Jahre konnte die Handlungspflicht allein aus der bloßen Verkehrseröffnung begründet werden. Solche Fälle sind in einer Reihe von Entscheidungen des Reichsgerichts zu finden.12 Damit wurde die deliktische Unterlassungshaftung weiter ausgebaut. Andererseits knüpft die Rechtsprechung die Haftung für Unterlassen an die Verletzung von staatlichen Rechtsvorschriften.13 Dies ist auf eine alte Rechtstradition des römischen Rechts zurückzuführen.14 Die zivilrechtliche Handlungspflicht kann sich somit aus besonderen Bestimmungen von Polizeigesetzen und -verordnungen sowie Strafgesetzen ergeben. Wer gegen solche Vorschriften verstößt, wird entsprechend zivilrechtlich sanktioniert.15
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BayObLG Seuff. Arch. 36, Nr. 276, S. 421 ff. OLG Kiel Seuff. Arch. 41, Nr. 15, S. 24 f. 8 Obertribunal zu Stuttgart Seuff. Arch. 32, Nr. 238, S. 306 ff. 9 Siehe insbesondere Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts II, S. 974. Jansen, S. 398 m.w.N. 10 Obergericht Braunschweig Seuff. Arch. 10, Nr. 165, S. 223 f. 11 Dazu detailliert siehe Jansen, S. 399 m.w.N. 12 Siehe z. B. RG Seuff. Arch. 49, Nr. 1 (1893); RG Seuff. Arch. 49, Nr. 76 (1893); RGZ 33, 225; 38, 220. 13 Siehe z. B. RGZ 17, 105; RG Seuff. Arch. 52, Nr. 18 (1895). 14 Dazu detailliert siehe Jansen, S. 399 f. m.w.N. 15 Kleindiek, S. 113. 7
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten
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2. Drei wichtige Entscheidungen des Reichsgerichts nach Inkrafttreten des BGB Nach langjähriger Beratung und öffentlichen Debatten wurde das BGB im Jahr 1896 ausgefertigt und trat am 1. Januar 1900 in Kraft. Das Rechtsinstitut der Verkehrspflichten wird allerdings nicht im BGB ausdrücklich festgelegt, sondern wurde vielmehr durch Richterrecht geschaffen.16 Aus rechtsmethodischer Ansicht stellt dieses Rechtsinstitut „ein Produkt richterlicher Rechtsfortbildung“ dar.17 Heutzutage wird dieses Rechtsinstitut als Gewohnheitsrecht anerkannt.18 Im Hinblick auf die Entwicklungsgeschichte der Verkehrspflichten sind drei grundlegende Entscheidungen des Reichsgerichts nach Inkrafttreten des BGB besonders nennenswert:19 a) „Morscher Baum-Fall“ (RGZ 52, 373) Als allererstes ist der sog. „Morscher Baum-Fall“ in Betracht ziehen. In diesem Fall wurde das Gebäude des Klägers dadurch beschädigt, dass ein morscher Baum, der dem Beklagten gehörte und auf einem öffentlichen Weg stand, umgestürzt war.20 Dem Schadensersatzanspruch des Klägers wurde vom Rechtsgericht gemäß § 823 I BGB stattgegeben. In seinem Urteil betonte das Reichsgericht, dass „ein jeder auch für Beschädigung durch seine Sachen insoweit aufkommen solle, als er dieselbe bei billiger Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen hätte verhüten müssen“.21 Aus dieser Formulierung kann man den allgemeinen Grundsatz der Verkehrspflichten erahnen.
16 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 380; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 1; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 1. Genauer gesagt: Im BGB werden nicht die allgemeinen Verkehrspflichten festgelegt. Allerdings lassen sich dort auch solche Vorschriften (z. B. §§ 831, 832, 836 – 838 BGB) finden, in denen einige besondere Verkehrspflichten geregelt werden; vgl. Looschelders, SchuldR BT, Rn. 1178. 17 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 6; Mertens, VersR 1980, 597, 601 ff.; auch Jansen, S. 394; v. Bar, JZ 1979, 333 ff. Genauer gesagt stellt die richterrechtliche Schaffung der Verkehrspflichten vielmehr eine sog. „teleologische Reduktion“ dar, um eine Lücke im Tatbestand der deliktischen Haftung zu füllen; dazu vgl. Fikentscher/Heinemann, Rn. 1595 m.w.N. 18 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 1; v. Bar, JZ 1979, 332, 333. 19 Zur ausführlichen Darstellung dieser Entscheidungen vgl. v. Bar, S. 3 ff.; Voss, S. 48 ff. 20 RGZ 52, 373. 21 RGZ 52, 373, 379.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
b) „Streupflicht-Fall“ (RGZ 54, 53) Der sog. „Streupflicht-Fall“ bildet einen Markstein für die Herausbildung der Verkehrssicherungspflichten.22 In diesem Fall war der Kläger abends auf eine Treppe, die trotz der Eisglätte nicht gestreut wurde und schlecht beleuchtet war, zum Fall gekommen und hatte sich verletzt. Er machte Schadensersatzanspruch gegenüber der Gemeinde geltend, die der Eigentümer der dem öffentlichen Verkehr dienenden Treppe war. Das Reichsgericht führte in seinem Urteil aus: „dass derjenige, welcher sein Grundstück zum öffentlichen Verkehr bestimmt und einrichtet, verpflichtet ist, das in einer Weise zu tun, wie es den Anforderungen der Verkehrssicherheit entspricht, dass ihm auch weiterhin eine Fürsorgepflicht in dieser Richtung obliegt, und dass also, wer einen Weg dem Publikum zum freien Gemeingebrauch gestellt hat und hierzu unterhält, für den Schaden aufzukommen hat, der durch mangelhafte Instandhaltung oder Nichtbeseitigung von Verkehrshindernissen verursacht wird“.23
In diesem Fall wurden die Verkehrssicherungspflichten zum ersten Mal zum Ausdruck gebracht. Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs beziehen sich die Verkehrssicherungspflichten überwiegend auf die Fälle, in denen die Schadensereignisse an öffentlichen Orten (z. B. öffentliche Wege, Straßen und Plätze) eintreten.24 c) „Milzbrandfall“ (RGZ 102, 372) Für die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Verkehrspflichten ist der sog. „Milzbrandfall“ von wesentlicher Bedeutung.25 In diesem Fall wurde ein Tierarzt (Beklagter) vom Eigentümer eines milzbrandkranken Rindes zur Behandlung des Rindes gerufen. Bei der Notschlachtung dieses Rindes hatte sich ein Metzgermeister (Kläger) durch eine kleine Wundnarbe am linken Daumen mit Milzbrand angesteckt. Mit dem Argument, dass der Tierarzt versäumte, die Wundnarbe zu desinfizieren, machte der Metzgermeister gegen ihn einen Schadensersatzanspruch geltend. Das Reichsgericht hatte diesem Schadensersatzanspruch stattgegeben. In seinem Urteil wurde der folgende Grundsatz festgestellt: „derjenige, der, indem er eine damit in einem gewissen Zusammenhang stehende Berufstätigkeit ausübt und sich dafür dem Publikum anbietet, eine Verantwortung dafür übernimmt, daß da, wo von seinen Diensten Gebrauch gemacht wird, ein geordneter Verlauf der Dinge gewährleistet ist“.26
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Vgl. BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 138; Fuchs/Pauker/Baumgärtner, S. 105 f. RGZ 54, 53, 59. Vgl. BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 138; v. Bar, S. 8; Voss, S. 52. RGZ 102, 372. RGZ 102, 372, 375.
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten
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In diesem Urteil wurde der Begriff „Verkehrspflichten“ zum ersten Mal deutlich vom Reichgericht verwendet.27 Die Verkehrspflichten beschränken sich nicht mehr nur auf die Eröffnung eines öffentlichen Verkehrs, sondern knüpfen auch an die Übernahme bestimmter Tätigkeiten an.28 Dadurch wurde der Umfang der Verkehrspflichten massiv erweitert. 3. Kurzzusammenfassung Aus den vorliegenden Ausführungen ist zum einen ersichtlich, dass das Rechtsinstitut der Verkehrspflichten seinem Charakter nach eine richterrechtliche Rechtsbildung ist. Zum anderen ist aber zu betonen, dass dieses Rechtsinstitut keineswegs, wie Esser behauptet, „aus wilder Wurzel entsprungen“29 ist.30 Es trifft zu, dass der Begriff „Verkehrspflichten“ erst nach Entstehung des BGB durch das Reichsgericht geschaffen und dann in der Literatur definiert wurde. Die Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts weist aber deutlich darauf hin, dass die Verkehrspflichten ihre Grundlage bereits in der Praxis des gemeinen Rechts, also unabhängig von der Begrifflichkeit des BGB, finden können.31
II. Funktionen der Verkehrspflichten 1. Die traditionelle herrschende Lehre a) Haftungsbegründung bei Unterlassungen Die Haftung aus § 823 I BGB setzt zunächst eine Verletzungshandlung im deliktsrechtlichen Sinne voraus. Eine solche Handlung unterliegt „der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung“ einer Person und erscheint entweder in der Form eines positiven Tuns oder eines Unterlassens.32 Da ein allgemeines Verbot, andere zu gefährden oder zur Selbstgefährdung zu veranlassen, utopisch wäre,33 wird das Unterlassen einer Erfolgsherbeiführung durch positives Tun nur dann gleichgestellt, sofern eine bestimmte Verhaltenspflicht zur Verhinderung bzw. Abwendung des von der Rechtsordnung missbilligten Erfolgs 27 Vgl. RGZ 102, 372, 375; v. Bar, S. 49; Voss, S. 53 f. Zur Klärung der Terminologie vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 1 b, S. 401. 28 Vgl. v. Bar, S. 49; Voss, S. 54. 29 Esser, JZ 1953, 129, 132. Vgl. auch Esser, S. 132. 30 Kleindiek, S. 112. 31 Vgl. Jansen, S. 396. 32 Vgl. Palandt/Sprau, § 823 Rn. 2; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 1 b, S. 360. 33 Vgl. RGZ 91, 11, 12; BGHZ 101, 215, 220; BGH VersR 2008, 1083, 1084; Palandt/ Sprau, § 823 Rn. 46; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 1; vgl. auch v. Bar, S. 112.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
gegeben ist.34 Die Haftung aus § 823 I BGB ist daher demjenigen, der gar nichts unternimmt, nur insoweit aufzuerlegen, als er eine Pflicht zum Handeln verletzt hat. Das bedeutet, dass ein bloßes Unterlassen nur dann deliktsrechtlich relevant ist, wenn eine Verhaltenspflicht vorliegt.35 Als Entstehungsgründe einer solchen Verhaltenspflicht kommen an erster Stelle Gesetz und Vertrag in Betracht. Allerdings ist es klar, dass gesetzliche Anerkennungen von Verhaltenspflichten nur in begrenztem Umfang bestehen. Auch eine vertragliche Vereinbarung einer solchen Verhaltenspflicht ist nicht immer zu finden. In einer Vielzahl der betroffenen Fälle fehlt sogar ein Vertragsverhältnis zwischen dem Verletzten und dem unterlassenden Schädiger. Weiterhin kann sich die Verhaltenspflicht auch durch ein vorangegangenes gefährliches Tun begründen lassen.36 Diese These kann aber ebenfalls nur selten zur Herleitung der Verhaltenspflichten beitragen, weil nicht jeder Gefahrenzustand mit einem vorangegangenen gefährlichen Tun in Zusammenhang steht. Dies lässt sich durch die folgenden drei Leitentscheidungen des RG zur Entwicklung der Verkehrspflichten zu veranschaulichen: Im „morschen Baum-Fall“ ist es deutlich, dass der Baum nur nach dem gewöhnlichen Lauf der Natur verfaulte und dann durch sein Umstürzen ein Passant verletzt wurde. Dabei lässt sich kein gefährliches Tun in Betracht ziehen. Beim „Streupflicht-Fall“ sieht die Lage ähnlich aus. Rutscht ein Passant auf einer nicht gestreuten schneeglatten Treppe aus und wird hierdurch verletzt, ist es grundsätzlich unzutreffend, den vorherigen Bau der Treppe als gefährlich einzustufen.37 Ganz zu schweigen davon, dass der Tierarzt im „Milzbrandfall“, der keine Sorge zur Verhütung der Ansteckung eines Metzgers mit Milzbrand trug, vorher etwa Gefährliches getan hatte. Da die ältere Doktrin die Problematik hinsichtlich der Verhaltenspflichten nicht vollständig lösen kann, ist das Reichsgericht ist nicht dabei stehengeblieben. Vielmehr hat es die Verhaltenspflichten an die Eröffnung des Verkehrs oder die Übernahme bestimmter Tätigkeit angeknüpft.38 Seitdem wurden auf diese Weise begründete Verhaltenspflichten immer wieder von der Rechtsprechung konkretisiert.39 Sie zielen gemeinsam auf die Vermeidung bzw. Abwendung der im Verkehr ent34
Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 1 b, S. 361; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 98; Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 642. 35 Vgl. Meyer, S. 10; Raab, JuS 2002, 1041, 1042. 36 Vgl. Meyer, S. 13; v. Bar, S. 15. 37 Der Bau der Treppe bzw. die Einrichtung eines Bauwerks könnte gefährlich sein, nur wenn die Konstruktion als solche fehlerhaft wäre. Dann ließe sich eine Verhaltenspflicht aufgrund der These von „vorangegangenem gefährlichem Tun“ herleiten. Ausführlich dazu vgl. v. Bar, S. 15. 38 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III, S. 400 ff.; Deutsch/Ahrens, Rn. 330. 39 Vgl. z. B. BGHZ 5, 378; 14, 83; 16, 95; 24, 124. Weitere Beispiele siehe Staudinger/ Hager, § 823 Rn. E 2 m.w.N.
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten
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standenen Gefahren und werden daher allgemein als Verkehrspflichten bezeichnet. Zur Begründung der Haftung im Falle des Unterlassungsdelikts haben die Verkehrspflichten erstmals Bedeutung gewonnen. b) Zurechnung bei mittelbarer Verletzung Eine weitere wichtige Funktion der Verkehrspflichten besteht darin, dass sie bei der mittelbaren Verletzung von Rechten oder Rechtsgütern dazu dienen, die Rechtswidrigkeit der Verletzungshandlung zu bestimmen.40 Anders als die Verletzung durch negatives Unterlassen knüpft die mittelbare Verletzung an ein positives Tun. Dabei wird der Verletzungserfolg aber nicht direkt durch die Verletzungshandlung, sondern erst durch Dazwischentreten weiterer Umstände, z. B. die Handlung des Geschädigten selbst oder eines Dritten, herbeigeführt.41 In diesem Zusammenhang kann die traditionelle Erfolgsunrechtslehre nicht mehr gelten. Die Rechtswidrigkeit einer mittelbaren Verletzungshandlung kann nicht dadurch indiziert werden, dass sie adäquat kausal für die Rechts(gut)verletzung ist.42 Hier ist vielmehr ein verhaltensbezogener Rechtswidrigkeitsbegriff in Betracht zu ziehen. Das heißt, dass eine mittelbare Verletzungshandlung erst dann als widerrechtlich betrachtet wird, wenn der Handelnde (mittelbarer Schädiger) eine bestimmte Verhaltenspflicht verletzt. Wie oben bereits dargestellt, leistet das Rechtsinstitut der Verkehrspflichten einen großen Beitrag zur Erweiterung der Quellen der zivilrechtlichen Verhaltenspflichten. Eine mittelbare Verletzungshandlung ist davon geprägt, dass sie nicht mit einem nahe bevorstehenden Verletzungserfolg verbunden ist. Was der mittelbare Schädiger verletzt, ist eine Gefahrvermeidungspflicht.43 Dies entspricht völlig der oben angegebenen Definition der Verkehrspflichten. In diesem Sinne kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass bei der mittelbaren Verletzung die Rechtswidrigkeit der Verletzungshandlung durch die Verkehrspflichtverletzung indiziert werden kann.44
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Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 2 f.; Looschelders, SchuldR BT, Rn. 1176. Vgl. Medicus/Lorenz, SchuldR II, Rn. 1243; Raab, JuS 2002, 1041, 1042; Stoll, AcP 162 (1963), 203, 227. 42 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 3 b, S. 365 f.; Deutsch/Ahrens, Rn. 82 f.; Kötz/Wagner, Rn. 107 ff. 43 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 3 b, S. 366; wohl auch v. Caemmerer, FS zum 100. DJT, S. 78. 44 Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 109; Raab, JuS 2002, 1041, 1045 ff. 41
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
2. Die neue Entwicklung der Rechtsprechung Neben den oben erwähnten traditionellen Funktionen von Verkehrspflichten ist auch der neuen Entwicklung der Rechtsprechung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. In der Rechtsprechung zur Haftung für Verkehrspflichtverletzung ist recht häufig zu festzustellen, dass dem Träger der Verkehrspflichten allzu hohe Verhaltensanforderungen auferlegt werden.45 Durch die Verletzung derartiger Verkehrspflichten, deren Einhaltung nahezu unmöglich ist, wird ebenfalls die deliktische Haftung begründet. Dies könnte vielleicht ein Hinweis auf eine Umwandlung der Funktion der Verkehrspflichten sein: Die Verkehrspflichten haben dann nicht oder zumindest nicht nur den Zweck, bestimmte Verhaltenspflichten zu begründen und davon abweichendes Fehlverhalten zu verwerfen. Ihnen könnte vielmehr auch die Aufgabe der Risiko- bzw. Haftungszuweisung zu fallen.46 In Anbetracht dieser möglichen neuen Funktion der Verkehrspflichten sollte deswegen den folgenden Entscheidungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden: a) Fragestellung aa) Zwei repräsentative Entscheidungen (1) Der „Waschmaschinenfall“ (OLG Düsseldorf, Urteil vom 23. 7. 1974 – 4 U 20/74) Zur Darstellung dieser Problematik eignet sich besonders der „Waschmaschinenfall“ des OLG Düsseldorf.47 Im Schrifttum wird dieser Fall als ein typisches Beispiel für die anstehende Frage benannt: Die Beklagte war eine Hausfrau, die Mieterin der Wohnung im zweiten Obergeschoss eines Miethauses war. Sie hatte den Betrieb ihrer Waschmaschine für mindestens eine Viertelstunde unbeaufsichtigt gelassen. Währenddessen strömte eine große Menge Wasser wegen des Platzens des Zuleitungsschlauches aus. Infolgedessen wurde die von dem Kläger gemietete Wohnung im ersten Obergeschoss erheblich beschädigt. Die entscheidende Frage, ob die Beklagte eine Verkehrspflicht verletzt hatte, stellte das Gericht vor ein Dilemma: Das OLG Düsseldorf ging zunächst davon aus, dass denjenigen, der eine Waschmaschine in Betrieb nimmt, die Verkehrspflicht zur laufenden Kontrolle der Waschmaschine treffen soll, um einen etwaigen Defekt der Waschmaschine rechtzeitig bemerken und einen möglichen Wasseraustritt verhin45 Zu den Beispielen dafür in der deutschen Rechtsprechung siehe OLG Düsseldorf NJW 1975, 171; OLG Hamm MDR 1984, 668; OLG Karlsruhe VersR 1992, 114; BGH JZ 1999, 48. Vgl. Jansen, S. 3; ders., AcP 202 (2002), 517, 527; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 14; Canaris, VersR 2005, 577, 579. 46 Vgl. Steffen, VersR 1980, 409, 410. 47 OLG Düsseldorf NJW 1975, 171.
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten
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dern zu können. Damit wird der beklagten Hausfrau also die Pflicht auferlegt, die Waschmaschine während ihres Betriebs zu überwachen. Zur Frage der Zumutbarkeit einer solchen Überwachungspflicht erscheint die vom OLG Düsseldorf vertretene Ansicht inkonsequent. Es wird zwar ausdrücklich erkannt, dass diese Pflicht „erforderlich und durchaus möglich und zumutbar“ ist.48 Allerdings hat das OLG Düsseldorf am Ende seines Urteils darauf hingewiesen, dass die Einhaltung dieser Pflicht kaum zu erwarten ist.49 Es machte in seinem Urteil deutlich, dass die Sorgfaltsanforderungen dafür krass überspannt seien, sodass auch eine sorgfältige Hausfrau diese Verkehrspflicht nicht einhalten könne. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die beklagte Hausfrau für die Verletzung einer fast unerfüllbaren Verkehrspflicht verantwortlich gemacht wird. Hier liegt dann die Frage nahe: Bezwecken die Richter mit Hilfe der Verkehrspflichten die Feststellung der echten Verhaltensanforderungen, oder die zutreffende Risiko- bzw. Schadenszuweisung?50 (2) Der „Treibjagdfall“ (OLG Oldenburg, Urteil vom 3. 10. 1978 – 4 U 12/78) Ein anderes Beispiel, das für eine Funktionsumwandlung der Verkehrspflichten spricht, bildet der „Treibjagdfall“ des OLG Oldenburg. Bei diesem Sachverhalt geht es um die deliktische Haftung des Veranstalters einer Treibjagd: Ein Jagdherr hatte eine Treibjagd veranstaltet. Ein der von ihm eingeladenen Jagdgäste hatte weder seinen Jahresjagdschein gelöst noch die erforderliche Jagdhaftpflichtversicherung abgeschlossen. Diese Bedingungen hatte der Jagdveranstalter überhaupt nicht kontrolliert. Im Verlauf der Treibjagd hat dieser Jagdgast die Körperverletzung eines anderen Gastes verursacht. Der Verletzte nahm dann den Jagdveranstalter auf Schadensersatz in Anspruch.51 Im Urteil hat das OLG Oldenburg ausdrücklich angeführt, dass der Jagdveranstalter wegen Verletzung seiner Verkehrssicherungspflicht für Schäden verantwortlich sei, „die ein erkennbar unzuverlässiger Schütze anrichtet“.52 Der Jagdgast besaß zwar keinen gültigen Jahresjagdschein, hatte aber bereits die Jagdprüfung erfolgreich abgelegt. In diesem Fall gibt es auch keine anderen Beweise dafür, dass dieser Jagdgast ein unzuverlässiger Schütze war. Nach Ansicht des OLG Oldenburg ist die Verkehrspflichtverletzung allerdings in der fehlenden Kontrolle des Jagdscheins und der dafür erforderlichen Jagdhaftpflichtversicherung begründet. In dieser Entscheidung wird offenbar, dass die vom OLG Oldenburg begründete Verkehrspflicht des Jagdveranstalters nichts mit der Verhinderung oder Abwendung 48 49 50 51 52
OLG Düsseldorf NJW 1975, 171. OLG Düsseldorf NJW 1975, 171. Vgl. Jansen, S. 404; Blaschczok, S. 93 ff. OLG Oldenburg, VersR 1979, 91. OLG Oldenburg, VersR 1979, 91.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
der von einem unzuverlässigen Schützen ausgehenden Gefahr zu tun hat, welche die Rechtgüter anderer Jagdbeteiligten droht. Sie dient vielmehr dazu, dass die Schäden des Verletzten durch die Jagdhaftpflichtversicherung des Schädigers ersetzt werden können.53 bb) Problematik dieser Entscheidungen (1) Entkoppelung der Verkehrspflichten von echten Verhaltenspflichten In der traditionellen Lehre werden die Verkehrspflichten als echte Verhaltenspflichten aufgefasst. Aus diesem Verständnis heraus können sie sich in zweierlei Hinsicht auf das Verhalten ihrer Adressaten auswirken: Zunächst ist ihre indirekte verhaltenssteuernde Wirkung zu betonen. Mit Einhaltung der Verkehrspflichten können sich ihre Adressaten von einer potentiellen Verantwortung befreien. Dies kann sie dazu motivieren, ihr Verhalten an den Anforderungen der Verkehrspflichten auszurichten.54 Dies allein genügt jedoch nicht, um das Bestehen einer echten Verhaltenspflicht zu begründen. Was noch viel wichtiger ist, dass die Einhaltung der Verkehrspflichten in Anspruch genommen werden kann. Das heißt, dass die Verkehrspflichten auch unmittelbar das Verhalten ihrer Adressaten beeinflussen können. In diesem Sinne kann man durchaus die Verkehrspflichten als echte Verhaltenspflichten bezeichnen. Die angebliche verhaltenssteuerende Wirkung der Verkehrspflichten wird allerdings von den oben dargestellten beiden Entscheidungen und auch anderen ähnlichen Fällen55 stark herausgefordert: Im „Waschmaschinenfall“ hat das OLG Düsseldorf zwar das Verhalten der beklagten Hausfrau, also „das unbeaufsichtigte Laufen lassen“ ihrer Waschmaschine, als Verletzung ihrer Verkehrspflicht eingestuft, aber das Gericht hat auch anerkannt, dass niemand von der Hausfrau verlangen kann, während Betreibens der Waschmaschine ihre Wohnung nicht zu verlassen.56 Es scheint daher zweifelhaft, ob sich die dadurch begründete Verkehrspflicht, die laufende Waschmaschine zu überwachen, zu einer echten Verhaltenspflicht qualifiziert.57 Die Funktionsumwandlung der Verkehrspflicht lässt sich, durch den „Treibjagdfall“ noch deutlicher erkennen. Das OLG Oldenburg hat eine solche Verkehrspflicht begründet, die keinen Zusam-
53
von Bar, S. 139. Vgl. Wilhelmi, S. 146 f. 55 Siehe noch z. B. OLG Köln VersR 1997, 1113 f.; OLG Karlsruhe VersR 2005, 420 f. 56 „Ein Teil auch sorgfältiger Hausfrauen geht davon aus, man könne von ihnen nicht verlangen, während des Waschvorganges einer automatischen Waschmaschine die Wohnung nicht zu verlassen und die Maschine in der Weise zu überwachen …“.; OLG Düsseldorf NJW 1975, 171. Anderer Ansicht in der Rechtsprechung siehe z. B. OLG Hamm MDR 1984, 668; LG Gießen VersR 1997, 1023. Kritik dazu vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 528. 57 Jansen, AcP 216 (2016), 112, 132. 54
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten
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menhang mit der präventiven Gefahrenabwehr aufweist, sondern nur den nachträglichen Schadensausgleich zum Zweck hat. (2) Verkehrspflichten als Mittel zur Risikozuweisung Nach der anfangs gegebenen Definition werden die Verkehrspflichten als Gefahrvermeidungs- und -abwendungspflichten umschrieben. Die Verkehrspflichten sind also stets mit Gefahrquellen verbunden. Deswegen sind diejenigen, welche die Gefahrquellen schaffen oder andauern lassen, dazu verpflichtet, durch zumutbare Maßnahmen die Gefahr unter Kontrolle zu halten.58 Falls die erforderliche Kontrolle der Gefahrquelle nicht durchgeführt wird, ist dann festzustellen, dass ein Fehlverhalten der Pflichtenträger vorliegt. Folgt man einem solchen Verständnis der Verkehrspflichten, erscheint das Urteil des OLG Düsseldorf zum „Waschmaschinenfall“ bezüglich seiner Plausibilität zweifelhaft: Da das verkehrspflichtwidrige Verhalten, wie oben erläutert, keine echte unerlaubte Handlung darstellt, könnte dann mit Fug und Recht bezweifelt werden, ob die Haftung dafür noch als eine reine Verschuldenshaftung zu qualifizieren ist. Diese Haftung geht vielmehr bis an die äußersten Grenzen der Verschuldenshaftung und nähert sich nach Angaben des Gerichts „der Auferlegung einer Gefährdungshaftung“.59 Der „Waschmaschinenfall“ und andere vergleichbare Fälle60 haben die Erweiterung der Funktion der Verkehrspflichten in der Praxis verdeutlicht. Bei Schadenereignissen bieten die Verkehrspflichten nicht immer Maßstäbe für die Rechtswidrigkeitsprüfung des Verhaltens der potenziellen Verantwortlichen an. Vielmehr bilden sie nicht selten das Instrumentarium für die Haftungszuweisung.61 b) Die von Jansen aufgestellte These Eine Reihe von Rechtswissenschaftlern stimmen der Auffassung zu, dass den Verkehrspflichten die Funktion der Risiko- und Haftungszuweisung zukommt.62 Hier ist insbesondere die von Jansen aufgestellte These zu berücksichtigen, die sich maßgeblich an der Neuentwicklung der Rechtsprechung orientiert. 58
Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 330. OLG Düsseldorf NJW 1975, 171. 60 Zur näheren Darstellung anderer vergleichbarer Fälle vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 519 ff. 61 Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 535; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 11. 62 Vgl. BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 139; Jansen, AcP 202 (2002), 517, 533 ff.; Kötz, FS Steindorff, S. 658 ff.; Mertens, VersR 1980, 397, 402. Zur Gerechtigkeit der richterlichen Haftungszuweisung vgl. Stürner, VersR 1984, 297 ff.; Stoll, Richterliche Fortbildung, S. 16 ff.; Brüggemeier, JZ 1986, 969, 972 ff. 59
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
aa) Erfolgsbezogenes Verständnis der Rechtswidrigkeit Im Aufbau der deliktischen Haftung nach § 823 I BGB steht der Begriff der Rechtswidrigkeit im Mittelpunkt. Über das zutreffende Unrechtskonzept herrscht Streit zwischen Handlungs- und Erfolgsunrechtslehre. Abweichend von der nun überwiegend vertretenen Handlungsunrechtslehre geht Jansen davon aus, dass die Rechtswidrigkeit des § 823 I BGB nicht im verhaltensbezogenen Sinn, sondern im Sinne eines Erfolgsunrechts aufzufassen sei. Er weist darauf hin, dass ein solches Verständnis seine Grundlage in der deutschen Rechtsprechung finde: (1) Abweichung der Rechtswidrigkeit vom Handlungsunrecht Im „Waschmaschinenfall“ bildet § 823 I BGB die gesetzliche Grundlage für die Deliktshaftung der beklagten Hausfrau. Der Kernbegriff dieser Norm, also die „Rechtswidrigkeit“, wird hier überinterpretiert, da die tatsächliche Einhaltung der Verkehrspflicht dem Grunde nach nicht erwartet werden kann. Dies weicht weit von der traditionellen dogmatischen Bedeutung der Rechtswidrigkeit nach der Handlungsunrechtslehre ab, die an ein Verhaltensgebot oder -verbot anknüpft. Noch deutlicher lässt sich die Entkoppelung des Rechtswidrigkeitsurteils von der Handlungsunrechtslehre in solchen Fällen erkennen, in denen trotz Einhaltung von öffentlich-rechtlichen Normen eine deliktische Haftung noch entsteht.63 In den sognannten „Verfolgungsfällen“ muss der Untersuchungsgefangene für die Schäden des ihn verfolgenden Polizisten nach § 823 I BGB haften, obwohl die Flucht aufgrund des strafrechtlich „nemo-tenetur-Prinzips“ als ganze erlaubt ist.64 Hier ist die Rechtslage klar: Es besteht zwar kein gesetzliches Verbot des Verhaltens des Fliehenden, aber seine Flucht wird von den Gerichten als rechtswidrig beurteilt, um die deliktische Haftung des § 823 I BGB zu begründen. Eine vergleichbare Situation stellt sich in den vom BGH behandelten „Feuerwerkskörperfällen“ dar:65 Es ist in diesen Fällen klar, dass es dem Händler öffentlichrechtlich erlaubt ist, Feuerwerkskörper an Kinder abzugeben. Zivilrechtlich hat er unter Umständen nach § 823 I BGB für die Schäden der Kinder zu haften, die durch den Feuerwerkskörper verursacht werden. (2) Rechtswidrigkeit als ein haftungsbezogener Begriff Es ist hier offensichtlich, dass alle vorliegenden Fälle eine Gemeinsamkeit aufweisen: Nicht verboten, mit anderen Worten also erlaubt, ist ein verkehrspflicht63 BGH NJW 1990, 1236; 1998, 2436; 1998, 2905; 2008, 3779. Zu einem umfassenden Rechtsprechungsüberblick vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 423 ff. Vgl.auch Jansen, S. 403; ders., AcP 202 (2012), 517, 519 ff. 64 Zu den „Verfolgungsfällen“ in der deutschen Rechtsprechung vgl. BGHZ 63, 189; 132, 164; 172, 263; 192, 261; BGH NJW 1964, 1363; 1978, 421; BGH VersR 1967, 580; 1971, 964. 65 BGH JZ 1999, 48; 1999 50.
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten
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widriges Verhalten.66 Der Ansicht von Jansen nach handelt es sich in solchen Fällen vielmehr um sogenannte „rechtmäßige Verkehrspflichtverletzungen“.67 Infolgedessen kann hier die Verkehrspflicht nicht, wie nach verbreiteter Ansicht vertreten, als ein zur Begründung der Rechtswidrigkeit dienendes Gefahrsteuerungsgebot verstanden werden.68 Dementsprechend hat Jansen deutlich darauf hingewiesen, dass die Haftung nicht unbedingt an ein vorwerfbares Fehlverhalten des potentiellen Verantwortlichen, sondern an den eingetretenen Schadenserfolg anknüpft.69 Seiner Auffassung nach sind die Verkehrspflichten in der Tat von den tatsächlichen Verhaltensanforderungen zu entkoppeln. Bei der Verkehrspflichtverletzung liegt kein Fehlverhalten vor. Die Rechtswidrigkeit ist dann nicht als ein verhaltensbezogener, sondern als ein rechtsgut- oder haftungsbezogener Begriff zu verstehen.70 bb) Verkehrspflichten als Sorgfaltsobliegenheiten Der Kerngedanke der These von Jansen lässt sich so zusammenfassen: Die Verkehrspflichten stellen sich nicht als echte Verhaltenspflichten, sondern als haftungsrechtliche Sorgfaltsobliegenheiten dar.71 Eine solche Einordnung ihrer Rechtsnatur macht deutlich, dass die Verkehrspflichten nach seiner Auffassung nicht mehr nur dem Rechtswidrigkeitsurteil dienen, weil die Nichtbeachtung von Obliegenheiten nicht rechtswidrig ist.72 Diese Ansicht ist logisch identisch mit seinem rechtsgutbezogen Verständnis der Rechtswidrigkeit. Sind die Verkehrspflichten nur als Sorgfaltsobliegenheiten zu begreifen, kann man dann die Schlussfolgerung ziehen, dass die Einhaltung von Verkehrspflichten nicht verlangt werden kann. Aber die potentiellen Verantwortlichen müssen die Rechtsnachteile aufgrund der Verkehrspflichtverletzung (hier also die Haftung) hinnehmen.
66 Vgl. Jansen, S. 8; ders., AcP 202 (2002), 517, 527; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 11; Wilhelmi, S. 146. 67 Ausführlich dazu vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 529 ff. 68 Nach verbreiteter Ansicht sind die Verkehrspflichten als „richterliche Gefahrsteuerungsgebote“ anzusehen. So der Untertitel der Schrift v. Bars; vgl. auch Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 1 d, S. 402; Fikentscher/Heinemann, Rn. 1591; sinnvollerweise handelt es sich bei solchen Gefahrsteuerungsgeboten um die Handlungsanleitungen in einem bestimmten Verkehrsbereich, deren Verletzung die Rechtswidrigkeit der betreffenden Handlung begründet; vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 11. 69 Vgl. Jansen, S. 6 ff., 579 f.; ders., AcP 202 (2002), 517, 535. 70 Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 545; ders., AcP 216 (2016), 112, 130. 71 Vgl. Jansen, S. 614 ff.; ders., AcP 202 (2002), 517, 545 ff.; ders., AcP 216 (2016), 112, 131. 72 Vgl. MüKoBGB/Ernst, Einl. vor § 241 Rn. 14 f.; Looschelders, SchuldR AT, Rn. 26.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
cc) Ein neues Haftungsmodell Gestützt auf die vorstehenden Ausführungen hat Jansen vorgeschlagen, das traditionelle deutsche Deliktsrechtsdogma zu rekonstruieren.73 Damit hat er ein völlig neues Haftungsmodell aufgestellt. Dabei bilden die Erfolgsverantwortlichkeit und die Sorgfaltsobliegenheit die beiden wichtigsten Kernkonzepte: Auf der einen Seite wird das Konzept der Erfolgsverantwortlichkeit als ein wichtiges Strukturelement des Haftungsrechts angesehen. Dementsprechend ist die Rechtswidrigkeit des § 823 I BGB nicht verhaltensbezogen, sondern rechtsgutbezogen zu begreifen. Dementsprechend bildet die Verkehrspflichtverletzung bloß als ein nützliches Instrumentarium zur Begründung der Deliktshaftung. Auf der anderen Seite funktioniert die Einhaltung einer solchen Sorgfaltsobliegenheit als ein haftungsausschließender Tatbestand.74 Anstatt die Einhaltung der Verkehrspflichten zu behaupten, könnte man schlicht sagen: Wer den Verkehrspflichten nicht nachkommt, muss für die daraus entstandenen Schäden verantwortlich sein.75 Somit liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Haftung aus Verkehrspflichtverletzung nicht (immer) mit dem Vorwurf eines Fehlverhaltens verbunden ist. In zunehmendem Maße dienen die von Gerichten anerkannten Verkehrspflichten vielmehr der fehlverhaltensunabhängigen Risikozuweisung. c) Die Kritik der Gegenauffassung Die von Jansen vertretene Auffassung ist eng mit der aktuellen Rechtsprechung verbunden, weicht aber vom traditionellen Verständnis des deutschen Haftungsrechts ab. Im Schrifttum wird seine Meinung von den meisten Autoren und somit von der herrschenden Lehre abgelehnt.76 aa) Argumente für die Kritik Nach der Gegenauffassung ist zunächst festzuhalten, dass die von Jansen aufgestellte These dem herkömmlichen Deliktsrechtsystem des BGB widerspreche: Die traditionelle Lehre gehe davon aus, dass die Haftung für Verkehrspflichtverletzung stets an ein rechtswidriges Verhalten anzuknüpfen sei. Es sei mit dem deutlichen Wortlaut der Vorschrift des § 823 I BGB unvereinbar, ohne Rücksicht auf das 73
Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 544. Ausführlich dazu vgl. Jansen, S. 122, 579 ff., 614 ff. 75 Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 538 f. Zur deutschen und internationalen Tendenz der „Entkoppelung der Verkehrspflichten von tatsächlichen Verhaltensanforderungen“ im 20. Jahrhundert vgl. ders., S. 402 f. 76 Vgl. Canaris, VersR 2005, 577, 578 ff.; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 11 ff.; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 12; Wilhelmi, S. 147 ff. 74
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten
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Fehlverhalten der potentiellen Verantwortlichen die Haftung zu begründen und die Schadenslasten zu verteilen.77 Zudem ist Erfolgsverantwortlichkeit, die das Kernstück des von Jansen vorgeschlagene Haftungsmodells bildet, auf Kritik gestoßen: Unter dem Kriterium der Erfolgsverantwortlichkeit lässt sich der Begriff der Rechtswidrigkeit nicht verhaltens- sondern rechtsgutbezogen begreifen. Die Gegenmeinung hält ein solches Verständnis der Rechtswidrigkeit, das auf die ältere Lehre vom Erfolgsunrecht zurückzuführen ist, für zu inhaltsarm und abstrakt, sodass es noch weiterer Konkretisierungskriterien bedürfe. Ansonsten würde die Deliktshaftung unangemessen weit ausgedehnt.78 Im Rahmen des von Jansen aufgestellten Haftungsmodells sind die Verkehrspflichten im Wesentlichen als haftungsrechtliche Sorgfaltsobliegenheit zu verstehen. Nach der Gegenauffassung erscheint dieses Konzept der Sorgfaltsobliegenheit ebenfalls als problematisch. Der Ansicht von Wilhelmi nach ist eine echte Obliegenheit unbeschadet des Rechtsnachteils ihrer Nichtbeachtung vielmehr dadurch kenngezeichnet, dass ihre Verletzung keinerlei Rechte anderer begründet. Im Gegensatz dazu bestehe aber die Rechtsfolge der Sorgfaltsobliegenheit gerade darin, dass ihre Nichteinhaltung zum Schadensersatzanspruch führt.79 Deshalb äußert Wilhelmi Zweifel daran, ob überhaupt die angebliche Sorgfaltsobliegenheit die Rechtsnatur einer echten Obliegenheit aufweist. bb) Gegenargumente gegen die Kritik Die oben von Vertretern der herrschenden Lehre geübte Kritik ist zwar heftig, aber nach hier vertretener Ansicht nicht haltbar. Ein verhaltensbezogenes Verständnis der Rechtswidrigkeit entspricht zwar mehr dem Wortlaut des § 823 I BGB, ist aber nicht an die Rechtsprechung angepasst. Wie bereits ausgeführt, hat die Rechtsprechung nicht erst seit den letzten Jahrzehnten, sondern bereits vor Entstehung des BGB, solche Verkehrspflichten anerkannt, die sich nicht als echte Verhaltenspflichten qualifizieren.80 Es widerspricht realitätsnaher Betrachtung, bewusst über die Ergebnisse historisch gewachsener Rechtsprechung hinwegzusehen. Sowohl aus historisch-kritischer Perspektive als auch aus heutiger Sicht erscheint es zweifelhaft, noch unverändert an der Terminologie § 823 I BGB, also an dem Verhaltensunrecht als alleinigem Kriterium der Rechtswidrigkeit, festzuhalten.81 77
Vgl. Canaris, VersR 2005, 577, 578; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 12. Vgl. Wilhelmi, S. 148; Canaris, VersR 2005, 577, 580; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 12. 79 Nach der Ansicht von Wilhelmi ist die sog. Sorgfaltsobliegenheit „anspruchsbegründend“; Wilhelmi, S. 149. 80 Vgl. Jansen, S. 400 m.w.N. 81 Vgl. Jansen, AcP 216 (2016), 112, 130. 78
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Weiter bestehen auch keine Verständnisprobleme, die von echten Verhaltensgeboten unabhängigen Verkehrspflichten als Sorgfaltsobliegenheit zu begreifen. Wie der „Waschmaschinenfall“ und andere ähnliche Fälle zeigen,82 steht einerseits den Geschützten kein Recht bzw. Anspruch auf Einhaltung der Verkehrspflichten zu.83 Andererseits führt die Verkehrspflichtverletzung zur deliktischen Haftung, was zweifellos Rechtsnachteil für die Adressaten ist. Infolgedessen erscheint die Plausibilität der oben erwähnten Kritik von Wilhelmi zweifelhaft. d) Stellungnahme Hier ist der Auffassung von Jansen zuzustimmen, obwohl sie deutlich vom traditionellen Verständnis des Haftungsrechts abweicht. Außerhalb der oben genannten Argumente gegen die Kritik stützt sich diese Stellungnahme weiter auf die folgenden Begründungen: aa) Enge Orientierung an der Rechtsprechung Wie Jansen immer wieder betont und auch die vorliegenden Ausführungen zeigen, leitet er seine Meinung aus der aktuellen deutschen Rechtsprechung zum Haftungsrecht ab. Diese Orientierung an der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist durchaus positiv zu bewerten, was leider von den Vertretern der herrschenden Lehre nicht anerkannt wird.84 Es steht bereits fest, dass die Verkehrspflichten ihrem Wesen nach ein durch Richterrecht geschaffenes Rechtsinstitut bilden. Insbesondere im Haftungsrecht hat die Rechtsprechung die Dogmatik des BGB über weite Strecke überlagert und modifiziert. Aus diesem Grund ist es selbstverständlich und auch notwendig, bei Untersuchung ihrer Funktion näher auf die Rechtsprechung und die dadurch zum Ausdruck gebrachten Meinungen der Richter einzugehen. Die Funktion der Verkehrspflichten in Bezug auf die Haftungszuweisung wird bisweilen ausdrücklich oder zumindest impliziert von den deutschen Gerichten anerkannt, obwohl sich zu dieser Frage aus der Rechtsprechung keine einheitliche Ansicht entnehmen lässt. Gerade wegen der unklaren Stellungnahme der Gerichte liegt die Frage nahe, ob die Funktion der Verkehrspflichten nur scheinbar in der Gefahrensteuerung, aber tatsächlich in der Haftungssteuerung besteht.85 Dies führt unmittelbar in die Frage von Jansen nach dem Wesen der Rechtswidrigkeit und bildet auch den Ausgangspunkt seiner Untersuchung.86 82 OLG Düsseldorf NJW 1975, 171; OLG Köln VersR 1997, 1113 f.; OLG Karlsruhe VersR 2005, 420 f. 83 Vgl. Jansen, AcP 216 (2016), 112, 132. 84 Vgl. Jansen, AcP 216 (2016), 112, 128. 85 Vgl. Jansen, S. 403 ff. m.w.N. 86 Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten
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Außerdem knüpft Jansen seine These an die Rechtsauffassung der Gerichte an, denen in der Rechtspraxis entscheidende Bedeutung zukommt. Diese gerichtliche Entscheidungspraxis und die ihr zu Grunde liegenden Rechtsauffassungen werden demgegenüber von den Vertretern der herrschenden Lehre außer Betracht gelassen ,87 während sie von Jansen in seiner Untersuchung zuverlässig widergespiegelt werden.88 In diesem Sinne dient die von ihm aufgestellte These nicht der dogmatischen Auslegung des § 823 I BGB, sondern zugleich dazu, das gegenwärtige Richterrecht im Gehalt von Verkehrspflichten zu rekonstruieren. bb) Zutreffendes Verständnis der überspannten Sorgfaltsanforderungen Nach ständiger Rechtsprechung werden immer mehr auch derartige Verkehrspflichten von den Gerichten anerkannt, deren tatsächliche Einhaltung nahezu nicht erzwingbar erscheint:89 Im „Waschmaschinenfall“ ist die vom Gericht festgelegte Verkehrspflicht so krass, dass deren tatsächliche Einhaltung schon – wie vom OLG selbst ausgeführt – schon die Grenze der Zumutbarkeit überschreitet. Gemeinsam haben die „Verfolgungsfälle“ und die „Feuerwerkkörperfälle“ uns gezeigt, dass die durch die Rechtsprechung begründeten deliktsrechtlichen Verkehrspflichten weit über die durch öffentlich-rechtliche Normen geregelten Verhaltenspflichten hinausgehen. Die oben genannten Beispielsfälle weisen deutlich darauf hin, dass die Gerichte mittels Verkehrspflichten immer stärker ansteigende Anforderungen an die Sorgfalt deren Adressaten stellen. Eine solche Überspannung von Sorgfaltsanforderungen fügt sich dementsprechend nicht in den traditionellen Deliktsaufbau ein, der sich auf ein rechtswidriges Verhalten konzentriert. Allerdings kann diese Konstruktion mit Hilfe des von Jansen vorgeschlagenen Haftungsmodells durchaus verständlich gemacht werden.90 Durch seinen theoretischen Lösungsansatz, insbesondere das rechtsgutbezogene Verständnis der Rechtswidrigkeit, kann das logische Paradoxon vermieden werden, dass einerseits ein bestimmtes Verhalten nicht verboten und andererseits als rechtswidrig beurteilt wird.91 Aus den in der Rechtsprechung offensichtlich überspannten Sorgfaltsanforderungen zieht Jansen weiterhin den Schluss, dass sich die Verkehrspflichten als kein verhaltensbezogener, sondern als ein haftungsbezogener Begriff darstellen.92 Eine solche Schlussfolgerung entspricht auch der Ansicht von Steffen, einem ehemaligen Vorsitzenden des VI. Senats des BGH. Er geht davon aus, dass die durch Verkehrspflichten begründeten Verhaltensanweisungen „nicht beachtet werden“ und 87 88 89 90 91 92
Vgl. Jansen, AcP 216 (2016), 112, 128. Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 534. Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 529. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 12. Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 539. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 531.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
tatsächlich auch nicht von deren Adressaten „beachtet werden können“.93 Das bedeutet im Ergebnis, dass aus der Sicht der Richter die Verkehrspflichten als Mittel „für die Zuweisung von Schadenslasten“ zu verstehen sind.94 cc) Die Funktionsumwandlung des Deliktsrechts Hier vertretener Ansicht nach lässt sich die von Jansen aufgestellte These, dass die Verkehrspflichten als Mittel der Risiko- und Haftungszuweisung funktionieren, logisch-konstruktiv gut nachvollziehen, wenn man sie vor den Hintergrund stellt, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Funktion des Deliktsrechts selbst wesentlich verändert hat.95 In seiner ursprünglichen Form zielte das Haftungsrecht ausschließlich oder maßgebend darauf ab, eine Sanktion bei Verletzung von Verhaltenspflichten zu verhängen. Dies könnte auf die römische Rechtstradition der lex Aqualia zurückzuführen sein und hatte sich auch in der Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts bewährt.96 Eine solche Sanktionsfunktion des Schadensersatzanspruchs entspricht aber nicht mehr der aktuellen Rechtslage des Haftungsrechts. Anstatt eine zivilrechtliche Sanktion zu verhängen, konzentriert sich die Aufgabe des heutigen Haftungsrechts vielmehr auf den gerechten Schadensausgleich.97 In ihrer aktuellen Rechtsprechung führen die deutschen Gerichte zur Haftungsbegründung nicht selten Argumente an, die sich tatsächlich von Verletzung einer Handlungspflicht ablösen.98 Dazu gehören beispielweise die bessere Versicherbarkeit der Schadensrisiken, die Direktansprüche des Geschädigten und auch die Möglichkeit zur Gewinnziehung aus der Gefahrenquelle.99 In solchen Konstellationen ist es offensichtlich, dass die Auferlegung der Deliktshaftung in keinerlei Zusammenhang mit einem Fehlverhalten des Haftungsträgers steht. Dies spricht stark dafür, dass von Gerichten bei der Haftungsbegründung in erster Linie nicht auf die Sanktion eines Fehlverhaltens, sondern auf eine gerechte Schadenszuweisung Rücksicht genommen wird. Aus einer anderen Perspektive weist dies auf die gewandelte Funktion der Verkehrspflichten hin: Funktionell dienen die 93
Steffen, VersR 1980, 409, 410. Bei den Verkehrspflichten handelt es sich „nicht um die Anklage“, sondern um die „Schutzpositionen für den Schadensausgleich“; Steffen, VersR 1980, 409, 410. Vgl. auch Jansen, AcP 202 (2002), 517, 534; Wiethölter, S. 18 ff.; Brüggemeier, S. 78. 95 Vgl. Jansen, S. 405; ders., AcP 202 (2002), 517, 534. 96 Zimmermann, S. 953 ff. Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 537 m.w.N. 97 Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 535; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 2 a, S. 354; Deutsch, Rn. 17 m.w.N. 98 Jansen, AcP 216 (2016), 112, 128. 99 Zu Beispielen in der deutschen Rechtsprechung siehe BGH NJW 1983, 2821; 1994, 2617, 2618; 1995, 3385, 3386; 1996, 1404, 1405; vgl. Jansen, AcP 216 (2016), 112, 128; ders., S. 404, 626 ff. 94
A. Begriff und Funktionen der Verkehrspflichten
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Verkehrspflichten nicht zur direkten Verhaltenssteuerung, sondern zur distributiven und korrektiven gerechten Schadensverteilung.100 Die oben beschriebene Umwandlung der Funktion des Deliktsrechts entspricht dem zeitlichen Hintergrund: Mit Entwicklung der Technik leben die Menschen gegenwärtig in einer Gesellschaft voller Risiken verschiedener Art. Eine Person kann mit einfachen technischen Mitteln andere Menschen Gefahren in unterschiedlichem Maße aussetzen, auch wenn sie nur ihren Alltagstätigkeiten nachgeht. Selbstverständlich könnten diese Alltagstätigkeiten nicht verboten werden. Ansonsten würde die menschliche Handlungsfreiheit übermäßig beschränkt. Dann bleibt noch die Frage offen, wer die Schäden tragen soll, die durch die rechtlich erlaubten Alltagsrisiken verursacht werden. Es ist also die Aufgabe der Gerichte, einen gerechten Ausgleich für solche Schäden zu entscheiden. Der „Waschmaschinenfall“ und die „Feuerwerkskörperfälle“ bilden die besten Beispiele dafür.101 Heutzutage ist in Deutschland bereits ein umfassendes Versicherungssystem geschaffen worden, das der Risikoabsicherung im Hinblick auf Folgeschäden dient.102 Insbesondere die Entwicklung verschiedener obligatorischer Haftpflichtversicherungen hat das deutsche Haftungsrecht erheblich beeinflusst und führt zur Umwandlung seiner Funktion.103 Dem deutschen Haftungsrecht ist einerseits der Gedanke nicht mehr fremd, dass die Schaffung einer Gefahr nicht verboten ist, soweit die dadurch verursachten Schäden kompensiert werden können,104 sodass die Auferlegung einer Haftpflicht nicht auf eine Sanktion für Fehlverhalten, sondern auf eine faire Zuweisung bzw. Überwälzung von Schäden abzielt.105 Andererseits ist auch im deutschen Haftungsrecht bereits anerkannt, dass die Auferlegung einer Haftpflicht angebracht ist, soweit der Adressat seine Haftung durch Versicherung absichern kann.106 Auf diese Weise lässt sich dann gut erklären, warum in der Rechtsprechung die Versicherbarkeit der Schadensrisiken als ein Argument für die Haftungsbegründung von den Gerichten angeführt wird.
100
Vgl. BGB-RGRK/Steffen, Vor § 823 Rn. 2. Zutreffend hat Jansen darauf hingewiesen, dass in diesen Fällen die Gerichte „auf erlaubte Gefährdungen mittels strenger Haftungsverbindlichkeiten reagiert“ haben. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 537. 102 HKK III/Schiemann, §§ 823 – 830, 840, 842 – 853, Rn. 107 ff. Jansen, AcP 216 (2016), 112, 129 m.w.N. 103 Häufig handelt es sich bei einem Schadensereignis vielmehr um den Ausgleich zwischen den Versicherungen der jeweiligen Beteiligten. Vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 535. 104 Vgl. Jansen, AcP 216 (2016), 112, 129; ders., S. 375. 105 In diesem Sinne ist die Haftungsnorm nicht mehr als zweistufige Norm zu verstehen, die die Verletzung einer erststufigen Handlungsnorm voraussetzt. Detailliert dazu vgl. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 536. 106 Vgl. Jansen, AcP 216 (2016), 112, 129. 101
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
III. Zusammenfassung Das Rechtsinstitut der Verkehrspflichten wurde von der deutschen Rechtsprechung entwickelt. Mit der Umwandlung der Terminologie von „Verkehrssicherungspflichten“ in „Verkehrspflichten“ erstreckt sich ihr Anwendungsbereich über diejenigen Orte hinaus, in denen ein öffentlicher Verkehr eröffnet wird, auf fast alle Lebensbereiche. Nach der traditionellen Definition lässt sich die Verkehrspflicht als eine deliktsrechtliche Pflicht verstehen, die von allgemeiner Natur ist und bei der es inhaltlich um die Gefahrvermeidung bzw. -abwendung geht. Funktionell gesehen dient das Rechtsinstitut der Verkehrspflichten zur Erweiterung der Quellen der zivilrechtlichen Verhaltenspflichten. Diese Funktion ist von ausschlaggebender Bedeutung für Haftungsbegründung in den Fällen von Unterlassungsdelikten oder mittelbaren Verletzungen: Ein Unterlassen wird als Verletzungshandlung im deliktsrechtlichen Sinne betrachtet, wenn eine Verkehrspflicht vorliegt. Eine mittelbare Verletzungshandlung wird erst dann als widerrechtlich bewertet, wenn eine Verkehrspflicht verletzt wird. Mit der Entwicklung der Rechtsprechung erscheint heutzutage diese klassische Definition, nach welcher die Verkehrspflichten als echte Verhaltenspflichten umgeschrieben werden, hinsichtlich deren Plausibilität zweifelhaft. Die durch die Rechtsprechung begründeten und in Einzelfällen konkretisierten Verkehrspflichten haben nur indirekte Verhaltenssteuerungswirkung.107 Sie dienen also nicht der Vermeidung der Verletzung von Rechtsgütern im Vorfeld, sondern dazu, nachträglich die Schäden auszugleichen.108 Aus einer funktionellen Betrachtung lässt sich das Rechtsinstitut der Verkehrspflichten als Mittel der Risiko- und Haftungszuweisung ansehen. In diesem Sinne wird die Verkehrspflichtverletzung vielmehr als ein haftungsbegründender Grund behandelt.
107 108
Jansen, AcP 202 (2002), 517, 535 f. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 531.
B. Dogmatische Zuordnung der Verkehrspflichten
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B. Dogmatische Zuordnung der Verkehrspflichten I. Systematische Stellung der Verkehrspflichten im deutschen Deliktsrecht 1. Meinungsstreit In der Zivilrechtsdogmatik herrscht der Streit über den Standort der Verkehrspflichten im System des deutschen Deliktsrechts. Die konkrete Frage lautet: Sind die Verkehrspflichten dem ersten oder zweiten Absatz des § 823 BGB zuzuordnen?109 Nach der h.M. gehören die Verkehrspflichten zu § 823 I BGB.110 Einige wenige Autoren stellen hingegen die Verkehrspflichten mit Schutzgesetzen gleich und wollen sie in § 823 II BGB ansiedeln.111 2. Stellungnahme Die Verkehrspflichten sind zwar in der Tat den Schutzgesetzen sehr ähnlich.112 Hier ist allerdings die Mindermeinung abzulehnen. Dies lässt sich auf die folgenden Gründe zurückführen: Es lässt sich zunächst aus der Entwicklungsgeschichte der Verkehrspflichten ableiten, dass sie von Anfang an dazu dienen, die Tatbestände des § 823 I BGB zu erweitern bzw. konkretisieren.113 Deshalb widerspricht die Mindermeinung, welche die Verkehrspflichten § 823 II BGB zuordnet, der historischen Interpretation. Die Mindermeinung würde auch zu einer unrichtigen Umkehrung des „RegelAusnahme-Verhältnisses“ zwischen den beiden Absätzen des § 823 BGB führen:114 Der Mindermeinung nach käme die Vorschrift § 823 I BGB nur dann zur Anwendung, wenn ein unmittelbarer Eingriff vorläge. Die Haftung für mittelbare Eingriffe (und auch Unterlassen) wäre ausschließlich im Rahmen der Vorschrift des § 823 II BGB zu berücksichtigen. Hierdurch würde einerseits die Vorschrift des § 823 I BGB entleert, die von den deutschen Gesetzgebern als Zentralnorm des 109 § 826 BGB ist zwar eine der drei kleinen Generalklauseln des deutschen Deliktsrechts. Diese Norm spielt aber keine Rolle bei der Zuordnungsfrage der Verkehrspflichten; vgl. v. Bar, S. 145. 110 Vgl. BGH VersR 1956, 419, 420; NJW 1997, 2761, 2762; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 4; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 391; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 14; Larenz/ Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 2 a, S. 404; Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 647. 111 Vgl. v. Bar, S. 157 ff.; ders., JuS 1988, 169, 171; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 106; ders., JuS 1967, 152, 157. 112 Vgl. dazu näher Deutsch/Ahrens, Rn. 360; v. Bar, S. 157 ff. 113 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 2 b, S. 405; Deutsch/Ahrens, Rn. 329; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 14; BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 140. 114 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 4.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
Deliktsrechts festgelegt wurde.115 Andererseits würde die Abgrenzung zwischen §§ 823 I und II BGB auf Schwierigkeiten stoßen.116 Das wahrscheinlich stärkste Argument für die Mindermeinung liegt darin, dass man aus der Verlagerung der Verkehrspflichten von § 823 I BGB auf § 823 II BGB den Vorteil eines verkürzten Verschuldensbezug ziehen könnte.117 Dies ist dennoch in seiner Berechtigung zweifelhaft. Die Entscheidung für eine Verkürzung des Verschuldensbezugs bedarf zwingend einer gesetzlichen Legitimation. Sie kann daher nicht über den Umweg der Verkehrspflichten getroffen werden, die von richterlicher Rechtsfortbildung geprägt sind.118 Nach dem hier vertretenen Standpunkt sollten die Verkehrspflichten in § 823 I BGB verortet werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Verkehrspflichten außerhalb § 823 I BGB keine Rolle spielen. Angesichts ihres Ziels zur Gefahrvermeidung oder -abwendung haben die Verkehrspflichten vielmehr eine „universelle Bedeutung“119 für alle Deliktstatbestände.
II. Standort der Verkehrspflichten im Deliktsaufbau des § 823 I BGB 1. Meinungsstreit Ebenso umstritten ist auch die Frage nach dem präzisen Standort der Verkehrspflichten im dreistufigen Deliktsaufbau des § 823 I BGB.120 In der Literatur wird überwiegend die Ansicht vertreten, die Verkehrspflichtverletzung auf der Tatbestandsebene zu prüfen.121 Andere Meinungen gehen davon aus, dass die Verkehrspflichten zur Prüfung der Rechtswidrigkeit der Verletzungshandlung122 oder sogar des Verschuldens des Handelnden123 heranzuziehen sind. 115
Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 2 b, S. 405; Canaris, FS Larenz II, S. 78. Da zwischen mittelbaren und unmittelbaren Eingriffen kein qualitativer Unterschied besteht, ist ihre Abgrenzung sehr heikel, insbesondere in der „Grauzone auf der Handlungsebene“; Canaris, FS Larenz II, S. 79; v. Bar, S. 67 ff. 117 Vgl. v. Bar, S. 160 ff. 118 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 4; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 389; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 14; Canaris, FS Larenz II, S. 80. 119 Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 2 c, S. 405 f. Ausführlich dazu vgl. Canaris, FS Larenz II, S. 81 ff. 120 Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 109; Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 642 ff. 121 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 391; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 15; Erman/ Schiemann, § 823 Rn. 76; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 3 c, S. 368; Fikentscher/ Heinemann, Rn. 1595; Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 646 f. 122 Vgl. v. Bar, S. 174 f. 123 Dazu vgl. Huber, FS E. R. Huber, S. 274 ff.; wohl auch BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 140. 116
B. Dogmatische Zuordnung der Verkehrspflichten
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Dieser Meinungsstreit ist zwar für das Ergebnis ohne Belang. Eine Antwort auf diese Frage wird aber eine Hilfestellung dazu anbieten, die korrekte Prüfungsreihenfolge im konkreten Fall festzulegen.124 2. Stellungnahme Im Folgenden wird versucht, aufgrund einer Differenzierung der Art der Verletzungshandlung125 den Standort der Verkehrspflichten im Deliktsaufbau des § 823 I BGB zu bestimmen: Im Fall der Verletzung durch Unterlassen überzeugt es, die Verkehrspflichtverletzung im objektiven Tatbestand zu prüfen, weil das Unterlassen nur dann einem Tun gleichgestellt wird und somit haftungsrechtlich relevant ist, wenn eine Verhaltenspflicht vorliegt. Die Verkehrspflichten dienen also dazu, das bloße Unterlassen deliktsrechtlich zu erfassen. Bei einer mittelbaren Verletzung besteht bereits ein positives Tun als Anknüpfungspunkt für die Verantwortlichkeit. Es ist zwar adäquat für die Verletzungserfolge, aber nur dann widerrechtlich, wenn eine Verhaltenspflicht verletzt wird. Hierdurch wird deutlich, dass die Verkehrspflichtverletzung hier zur Feststellung der Rechtswidrigkeit dient.
III. Verkehrspflicht und Sorgfaltspflicht Nach der Legaldefinition im § 276 II BGB bedeutet Fahrlässigkeit die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Die allgemeine Sorgfaltspflicht, die im Kern des Begriffs „Fahrlässigkeit“ steht, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Verkehrspflicht im allgemeinen Sinne. Es herrscht vielfach Uneinigkeit darüber, ob die Verkehrspflichten, wie im Schrifttum mancherorts angenommen wird, „nur ein anderer Name für die allgemeinen Sorgfaltsgebote“126 sind. Zur Beantwortung dieser Frage muss man ihre jeweilige Funktion im Deliktsaufbau des § 823 I BGB untersuchen. Nur mit einer Kongruenz auf der Funktionsebene ließe sich festhalten, ob die Verkehrspflichtverletzung identisch mit der Fahrlässigkeit wäre.127
124
Vgl. Raab, JuS 2002, 1041, 1048. Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 109. 126 Kötz/Wagner, Rn. 129. 127 Nach der Ansicht von Larenz/Canaris fällt die Verkehrspflichtverletzung aber nicht einfach mit der Fahrlässigkeit zusammen, auch wenn man die Verkehrspflichten und die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht unterscheidet; vgl. eingehend Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 3 d, S. 370. 125
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
1. Abgrenzung von äußerer und innerer Sorgfalt Nach der Ansicht von Deutsch und seinen Schülern besteht ein Verhaltensprogramm aus zwei Komponenten: die äußere und innere Sorgfalt.128 Gemäß der von Deutsch gegebenen Definition richtet sich die äußere Sorgfalt auf die Vornahme eines sachgemäßen Verhaltens, das von der Rechtsordnung gefordert wird. Demgegenüber bezieht sich die innere Sorgfalt zwar auf das sachgemäße Verhalten, sie akzentuiert aber die individuelle Erkennbarkeit der Sorgfaltsanforderung und Vermeidbarkeit ihrer Verletzung.129 a) Funktion dieses Begriffspaars Aus funktioneller Betrachtungsweiser dient die äußere Sorgfalt zur Feststellung der Verhaltensanforderungen, die ein durchschnittlich gewissenhafter und erfahrener Mensch im betreffenden Verkehrskreis erfüllen muss.130 Dabei ist freilich auf das Höchstmaß an Sorgfalt zu verzichten, weil dies ein viel zu abstrakter Maßstab ist, um als solcher genutzt zu werden.131 Demgegenüber bezeichnet die innere Sorgfalt die Erkenntnis und Erbringung der im Rahmen der äußeren Sorgfalt festgelegten Verhaltensanforderungen.132 Aus der Verletzung der äußeren Sorgfalt ist der objektive Verstoß gegen die Rechtsordnung, also die Rechtswidrigkeit der Handlung, abzuleiten. In diesem Sinn ist die Verkehrspflicht mit der äußeren Sorgfalt gleichzusetzen. Wer die innere Sorgfalt nicht einhält, handelt schuldhaft und kann persönlich in Anspruch genommen werden.133 Die Übertretung der inneren Sorgfalt wird deswegen zur Feststellung der Fahrlässigkeit beitragen.134 Mit Hilfe des oben genannten Begriffspaars können die Rechtswidrigkeit und die Fahrlässigkeit im Sinne des § 823 I BGB deutlich voneinander abgegrenzt werden:
128
Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 135; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 366 ff.; ders., AcP 193 (1993), 86, 87; Spickhoff, S. 210 ff. 129 Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 135 f.; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 387 ff.; Huber, FS E. R. Huber, S. 265 ff.; Looschelders, SchudR BT, Rn. 1184; Fuchs/Pauker/Baumgärtner, S. 99. 130 Vgl. Raab, JuS 2002, 1041, 1047. 131 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 17. 132 Vgl. Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 387 ff. 133 Vgl. Raab, JuS 2002, 1041, 1047; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 17. 134 Genauer gesagt dienen die äußere und innere Sorgfalt zusammen zur Feststellung der Fahrlässigkeit, weil die Verletzung der inneren Sorgfalt nur unter der Voraussetzung zu prüfen ist, dass die äußere Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist.
B. Dogmatische Zuordnung der Verkehrspflichten
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Im Schrifttum wird nicht selten die Ansicht vertreten, dass die Nichteinhaltung von Verkehrspflichten den Verstoß gegen die äußere Sorgfalt hindeuten könnte.135 Das heißt, dass dem Wesen nach die allgemeine Verkehrspflicht mit der äußeren Sorgfalt übereinstimmt. Daneben bleibt die Frage der Fahrlässigkeit noch offen. Die Fahrlässigkeit des Handelnden läge dann vor, wenn er die innere Sorgfalt ebenfalls außer Acht gelassen hätte. Die Fahrlässigkeit ist zwar nach objektiv-typisierten Maßstäben festzulegen. Damit ist aber nicht gemeint, dass bei der Fahrlässigkeitsprüfung alle subjektiven Elemente ganz unberücksichtigt bleiben.136 Einerseits geht es bei der äußeren Sorgfalt um die objektive Geltung einer Verhaltens- bzw. Sorgfaltspflicht. Andererseits kommen die subjektive Erkennbarkeit einer solchen Pflicht und die Vermeidbarkeit ihrer Verletzung bei der inneren Sorgfalt in Betracht. Kurz gefasst ist damit gemeint, dass die Verkehrspflichtverletzung, also der Verstoß gegen die äußere Sorgfalt, zum Unrechtstatbestand zählt, und die Außerachtlassung der inneren Sorgfalt noch eine Rolle bei der Fahrlässigkeitsprüfung spielt. In der BGH-Rechtsprechung kann man bisweilen auch die Unterscheidung von äußerer und innerer Sorgfalt finden.137 b) Kriterium für die Abgrenzung dieses Begriffspaars Die oben genannte Begriffsdefinition beschreibt nur den wörtlichen Unterschied von äußerer und innerer Sorgfalt. Die Aufstellung dieses Begriffspaars hat nur insoweit Bedeutung, wenn die beiden gegenüberstehenden Begriffe klar abgegrenzt werden können. Aus diesem Grund bedarf es noch einer näheren Verdeutlichung, mit welchen Kriterien die äußere und innere Sorgfalt voneinander abzugrenzen.138 Im Schrifttum wird nicht selten folgendes Kriterium angewandt, um die äußere und innere Sorgfalt voneinander abzugrenzen:139 Mit der äußeren Sorgfalt wird das Höchstmaß der Sorgfalt begründet, was mehr abstrakter und strenger. In diesem Sinne sind die Verkehrspflichten vielmehr als abstrakte Gefährdungsverbote zu verstehen. Im Vergleich dazu bezieht sich die innere Sorgfalt auf die erforderliche 135 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 16; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 3 d, S. 369 f.; Deutsch/Ahrens, Rn. 135 ff.; Huber, FS E. R. Huber, S. 279; v. Caemmerer, FS zum 100. DJT, S. 132. 136 Treten z. B. psychische oder intellektuelle Schwächen in einer unvorhersehbaren Krisensituation auf, kommen diese auch als subjektive Entlastungsgründe in Betracht; vgl. MüKoBGB/Grundmann, § 276 Rn. 56 m.w.N. 137 Vgl. z. B. BGHZ 65, 304, 306; 80, 186, 193; 116, 60, 70; BGH NJW 1985, 620, 621; 1994, 2332, 2333; 1995, 2631, 2632. 138 Innerhalb der überwiegenden Ansicht, die sich für die Differenzierung zwischen Rechtswidrigkeit und Fahrlässigkeit ausspricht, bestehen auch verschiedene Abgrenzungskriterien. Ausführlich dazu vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 17. 139 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 3 d, S. 369; Deutsch/Ahrens, Rn. 136; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 385; Koziol, AcP 196 (1996), 593 ff.; v. Bar, S. 178 f.; Kleindiek, S. 33 f.; Stoll, S. 284 ff.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
Sorgfalt in einer konkreten Situation. Bei deren Prüfung sind die Maßstäbe eines durchschnittlich besonnenen und gewissenhaften Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises heranzuziehen. Das bedeutet, dass die Maßstäbe zur Feststellung von innerer Sorgfalt viel konkreter und moderater als diejenigen zur Feststellung von äußerer Sorgfalt. 2. Die Gegenauffassung Die oben dargestellte Abgrenzung von äußerer und innerer Sorgfalt wird von Teilen der Literatur abgelehnt.140 Die Gegenauffassung stützt sich im Besonderen auf die folgenden Argumente: Auf der einen Seite kann ein solches zweistufiges Verständnis der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nicht aus der Dogmatik des deutschen Haftungsrechts hergeleitet werden.141 Das Begriffspaar von äußerer und innerer Sorgfalt dient nur zur Abgrenzung der Rechtswidrigkeit und Fahrlässigkeit, um theoretisch den traditionellen dreistufigen Deliktsaufbau des § 823 I BGB zu verteidigen. Abgesehen davon macht eine solche Unterscheidung aber keinen Sinn. Auf der anderen Seite ist es eigentlich unmöglich, die äußere und innere Sorgfalt scharf voneinander zu trennen. Die innere Sorgfalt bezieht sich zwar auf eine konkrete Gefahrensituation, ist allerdings nicht nach einem subjektiv-individuellen Maßstab zu bestimmen.142 Im Hinblick darauf, dass die innere Sorgfalt nicht nach einem subjektiv-individuellen Maßstab, sondern auch objektiv typisiert zu bestimmen ist, erscheint ihre Trennung von der äußeren Sorgfalt nicht selten schwierig. Üblicherweise kann die Nichteinhaltung der äußeren Sorgfalt auch den Verstoß gegen die innere Sorgfalt indizieren oder es spricht zumindest ein Anscheinsbeweis dafür.143 Nur in wenigen Extremfällen lässt sich der Verstoß gegen die äußere Sorgfalt bejahen, die Außerachtlassung der inneren aber widerlegen.144 Aus diesem Grund argumentieren die Vertreter der Gegenauffassung, dass der Begriff der inneren Sorgfalt irrelevant für die Haftungsbegründung und also ganz überflüssig ist.145 3. Stellungnahme Hier vertretener Ansicht nach ist der Gegenauffassung zuzustimmen. Es ist nicht zu leugnen, dass mit Hilfe des Begriffspaars von äußerer und innerer Sorgfalt die 140 Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 120, 128 f.; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 37; Brüggemeier, S. 58 ff. 141 Vgl. Jansen, S. 428. 142 Jansen, S. 429. 143 Vgl. BGH NJW 1986, 2757, 2758; 1994, 2232, 2234. 144 Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 121; Stathopoulos, FS Larenz, S. 634 ff.; Fabarius, S. 148. 145 Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 120 f.
B. Dogmatische Zuordnung der Verkehrspflichten
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tatbestandlichen Kriterien der Rechtswidrigkeit und Fahrlässigkeit im Sinne des § 823 I BGB theoretisch abgegrenzt werden können. Infolgedessen wird auch der traditionelle dreistufige Deliktsaufbau des § 823 I BGB theoretisch gerettet.146 Dennoch ist eine solche Verdoppelung des Sorgfaltsbegriffs zu ablehnen. a) Äußere Sorgfalt als „Sorgfalt im Höchstmaß“? Vor allem ist Kritik an dem oben beschriebenen Kriterium zur Abgrenzung von äußerer und innerer Sorgfalt zu üben. Als irreführend erweist es sich, die äußere und innere Sorgfalt aufgrund verschiedener Maßstäbe der Sorgfaltsanforderung voneinander abzugrenzen. Die Anknüpfung der äußeren Sorgfalt an ein Höchstmaß der Sorgfalt ist ohnehin in ihrer Berechtigung zweifelhaft: Es ist weder notwendig noch sachgerecht, die äußere Sorgfalt als „Sorgfalt im Höchstmaß“ zu verstehen. Eine solche Überspannung der Sorgfalt wiederspricht dem Sinn und Zweck vom § 276 II BGB, weil die Messlatte zu weit über den im Verkehr erforderlichen Sorgfaltsmaßstab hinaus ausgedehnt wird.147 Ein zu hoch angelegtes Sorgfaltsmaßstab hat für die Steuerung bzw. Regulierung des menschlichen Verhaltens im gesellschaftlichen Verkehr kaum praktische Bedeutung.148 Vielmehr genügt es, nur die erforderliche Sorgfalt zu beachten, die der jeweiligen konkreten Situation entspricht. In der Rechtsprechung werden die Verkehrspflichten nicht als abstrakte Gefährdungsverbote verstanden. Inhaltlich richten sie sich vielmehr auf bestimmte Maßnahme zur Gefahr- bzw. Schadensvermeidung in einer konkreten Gefahrensituation.149 Wie bereits ausgeführt, sind nach Auffassung derjenigen, die eine Unterscheidung von äußerer und innerer Sorgfalt befürworten, diese beiden Kriterien die notwendigen Komponenten der verkehrserforderlichen Sorgfalt, wobei jeweiligen Elemente inhaltlich identisch sind.150 Oder genauer gesagt: Inhaltlich bezieht sich die innere Sorgfalt auf die äußere Sorgfalt. Das heißt, dass die Prüfung der inneren Sorgfalt erst in Betracht kommt, nachdem der Inhalt der äußeren Sorgfalt bestimmt worden ist. Aus diesem Grund wäre es dann absurd, beide aufgrund verschiedener Maßstäbe zu entwickeln. Da die äußere und innere Sorgfalt ausschließlich mit Hilfe der konkreten Gefahrensituation, nämlich am Maßstab eines durchschnittlich vorsichtigen Menschen, bestimmt wird, erscheint dann die Plausibilität der Unterscheidung dieses Begriffspaars recht zweifelhaft.
146
Die Vertreter der Gegenauffassung weisen darauf hin, dass sich die Spaltung des Fahrlässigkeitsbegriffs allein um die Rettung des dreistufigen Deliktsaufbaus bemühe; vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 37; vgl. auch Kötz/Wagner, Rn. 120. 147 Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 128; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 17. 148 Vgl. Jansen, S. 431. 149 Vgl. Jansen, S. 430; Kötz/Wagner, Rn. 12. 150 Vgl. Jansen, S. 430 m.w.N.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
Außerdem kommt dem Verstoß gegen die äußere Sorgfalt erfahrungsmäßig eine sog. „Indizwirkung“, zumindest eine Anscheinsbeweiswirkung, für den Verstoß gegen die innere Sorgfalt zu. Je strenger die äußere Sorgfalt bzw. die generelle Verhaltenspflicht ist, desto stärker ist diese Indizwirkung.151 Auch dies spricht stark dafür, dass das Kriterium der inneren Sorgfalt bzw. seine Unterscheidung von äußerer Sorgfalt überflüssig ist. b) Unterscheidung nur in Extremfällen? aa) Ausnahme der Indizwirkung in Extremfällen Um die Unterscheidung von äußerer und innerer Sorgfalt zu retten, wird im Schrifttum von ihren Vertretern namentlich folgendes Argument angeführt: Die Indizwirkung der Nichteinhaltung von äußerer Sorgfalt sei nicht absoluter Natur. In einigen Extremfällen bestehe noch die Ausnahmesituation, dass der dadurch indizierte Verstoß gegen die innere Sorgfalt noch widerlegbar sei.152 Dies treffe vor allem auf diejenigen Fälle zu, in denen durch die richterliche Rechtsfortbildung neue gesteigerte Verkehrspflichten geschaffen werden, die noch nicht „in der Tendenz der bis dahin ergangenen Rechtsprechung“153 lagen und deswegen für den Betroffenen nicht erkennbar waren.154 Dabei wird vielfach auf die Rechtsprechung des BGH Bezug genommen, die einerseits für die Zukunft gestiegene Anforderungen an die Verkehrspflicht stellt und andererseits das Verschulden in der betreffenden Situation verneint.155 Solche Fälle wiesen die folgende Gemeinsamkeit auf: In erheblicher Weise würden die objektiven Verhaltensanforderungen von den Gerichten durch Begründung neuerer intensiverer Verkehrspflichten erhöht. Dies führe einerseits dazu, dass ein Verstoß gegen die äußere Sorgfalt vorliege, weil der Betroffene ein normwidriges Verhalten vornimmt. Anderseits fehle es aber an der Verletzung der inneren Sorgfalt, weil der Betroffene die von den Gerichten wesentlich erhöhten Verhaltensanforde151
Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 138. Dementsprechend ist hier die Beweislast hinsichtlich der Sorgfaltsverletzung zu erläutern: Grundsätzlich muss der Geschädigte den Beweis führen, dass die äußere Sorgfalt bzw. Verkehrspflicht verletzt worden ist. Dies hat regelmäßig eine Indiz- oder Anscheinsbeweiswirkung für den Verstoß gegen die innere Sorgfalt. Hierdurch verlagert sich die Beweislast auf den Schädiger bzw. Verkehrspflichtenträger. Er hat die persönlichen Entlastungsgründe zu erbringen, also z. B. die Nicht-Erkennbarkeit der Verkehrspflicht oder die Unvermeidbarkeit der Verkehrspflichtverletzung, zu beweisen. Vgl. BGHZ 116, 60, 72 f.; Deutsch/Ahrens, Rn. 138; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 391 f.; weitere Beispiele in der Rechtsprechung siehe BGH VersR 1986, 766; 1988, 38. 153 BGH NJW 1985, 620, 621. 154 Vgl. Fuchs/Pauker/Baumgärtner, S. 99; Deutsch/Ahrens, Rn. 138; Kolb, S. 81; Raab, JuS 2002, 1041, 1048; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 17. 155 Zu Beispielen in der Rechtsprechung siehe BGHZ 64, 155; 80, 186; 116, 60; BGH NJW 1994, 2232; 1995, 2631; BGH VersR 1978, 869; 1976, 149. 152
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rungen bislang noch nicht erkennen konnte. Dadurch werde einerseits die Rechtwidrigkeit bejaht und andererseits die Fahrlässigkeit verneint. Dies spreche somit gegen die oben erwähnte Kritik, dass die innere Sorgfalt ein überflüssiger Begriff ist. bb) Hier vertretene Ansicht Zunächst muss man anerkennen, dass mit Hilfe der oben dargestellten Fälle die äußere und innere Sorgfalt nicht nur wörtlich, sondern auch funktionell voneinander abgetrennt werden können. In einem bestimmten Sinn wird dieses Begriffspaar theoretisch gerettet. Allerdings ist nach hier vertretener Ansicht eine solche Unterscheidung immer noch in ihrer Plausibilität zweifelhaft: In den oben dargestellten Fällen besteht der einzige Unterschied zwischen äußerer und innerer Sorgfalt darin, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich ist. Beide Kriterien werden hier in unterschiedlicher Betrachtungsweise bestimmt: Die äußere Sorgfalt wird aufgrund einer ex-post-Betrachtung bestimmt. Dabei werden dementsprechend die nachträglich gesteigerten Sicherheitserwartungen und Verhaltensanforderungen für die Zukunft mitberücksichtigt, die zum Zeitpunkt des normwidrigen Verhaltens noch nicht galten.156 Demgegenüber ist die innere Sorgfalt an einer ex-ante-Betrachtung ausgerichtet.157 Dabei werden zusätzliche subjektive Elemente berücksichtigt, wie z. B. die Erkennbarkeit der für die Zukunft gestellten Verhaltensanforderungen. Im Einzelfall ist es aber völlig unnötig und auch konstruktiv zweifelhaft, dass zuerst eine erhöhte Verhaltensanforderung festlegt, aber dann später ihre Erkennbarkeit widergelegt wird. Hier vertretener Ansicht nach ist es weder plausibel noch praktisch, eine nur für die Zukunft geltende, aber für den Betroffenen im Einzelfall nicht erkennbare Verkehrspflicht zu begründen Diese Konstruktion gibt keinen Sinn, wenn man von einer Rechtfertigung für die gekünstelte theoretische Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Sorgfalt absieht Bei der Frage, ob die Gerichte bei Bestimmung von Verkehrspflichten die nachträglich gesteigerten Sicherheitserwartungen berücksichtigen sollten, geht es im Kern um ein grundlegendes Problem der Rückwirkung von Richterrecht.158 Dies ist aber eine ganz andere Frage, die mit der Bestimmung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt in keinem Zusammenhang steht. Sie kann deshalb nicht als ein Argument für 156
Vgl. Raab, JuS 2002, 1041, 1048. Nach der Ansicht von Deutsch ist der „Zeitbezug der Sorgfalt“ bei der Verhaltensbeurteilung zu berücksichtigen. Obwohl die Notwendigkeit der Sorgfalt mit der Entwicklung der Wissenschaft und Technik fortschreitet, geht es nicht an, „einem Verletzer eine Verhaltensweise zur Last zu legen, die erst unter heutigem Aspekt sorgfaltswidrig erscheint“; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 393; vgl. auch Erman/Schiemann, § 823 Rn. 82, 87; Bohrer, S. 12. 157 Vgl. Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 393 f.; Wilhelmi, S. 349; Kolb, S. 83; Raab, JuS 2002, 1041, 1048. 158 Zur Problematik der Rückwirkung von Richterrecht vgl. Zimmermann/Jansen, Quieta movere, S. 303 ff.; 307 ff.; Jansen, ERPL 2000, S. 336, 339 ff.
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
die Festhaltung der Abgrenzung von äußerer und innerer Sorgfalt angeführt werden. Die Tatsache, dass sich die äußere und innere Sorgfalt nur in Extremfällen voneinander abgrenzen lassen, ist vielmehr für sich ein starker Beweis dafür, dass die Unterscheidung dieses Begriffspaars nicht notwendig ist.
IV. Deliktische Verkehrspflichten und vertragliche Schutzpflichten 1. Einführung in die Problematik Im gesamten Zivilrechtsystem ist es nicht nur allein eine Aufgabe des Deliktsrechts, individuelle Rechtsgüter und Rechte zu schützen. Gleichfalls kommt diese Aufgabe auch dem Vertragsrecht zu.159 Dabei sind allerdings diejenigen vertraglichen Schutzpflichten in Betracht zu ziehen, die insbesondere der Rücksichtnahme des Interesses des Vertragspartners an der Unversehrtheit seiner Rechtsgüter (sog. „Integritätsinteresse“) dienen.160 Sowohl die deliktischen Verkehrspflichten als auch die vertraglichen Schutzpflichten greifen auf den Gedanken des Vertrauensschutzes zurück. Sie sind nach den Umständen des Einzelfalls zu konkretisieren. Hinsichtlich des Pflichteninhalts besteht kein Unterschied zwischen Verkehrspflichten und Schutzpflichten.161 In der Rechtsprechung wird manchmal mit der Verkehrspflichtverletzung ohne weiteres die Vertragshaftung aufgrund Schutzpflichtverletzung parallel bejaht.162 Aus der vorstehenden Darstellung geht deutlich hervor, dass die Verkehrspflicht und die Schutzpflicht eine große Ähnlichkeit hinsichtlich der Funktion und des Inhalts aufweisen. Allerdings lässt sich daraus nicht schließen, dass die beiden Begriffe völlig identisch sind. Vielmehr lassen sie sich durch einige Unterschiede voneinander abgrenzen. Diese Unterschiede spiegeln sich sowohl in der Geltungsprämisse als auch in der Rechtsfolge wider. Nachfolgend wird hierauf näher eingegangen.
159
Vgl. Canaris, FS Larenz II, S. 84 ff.; Looschelders, SchuldR AT, Rn. 22. Auffällig bei den Schutzpflichten ist die uneinheitliche Terminologie in der Literatur. Häufig werden sie als „Rücksichtnahmepflichten“ oder „Schutzpflichten“ bezeichnet; vgl. Looschelders, SchudR AT, Rn. 19; teilweise wird die irreführende Bezeichnung „Nebenpflichten“ verwendet, die leicht mit den Nebenleistungspflichten zu verwechseln sind; vgl. Medicus/Lorenz, SchudR I, Rn. 110, 113 ff. Angesichts ihres Zwecks zum Schutz der „Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils“ (§ 241 II BGB) werden diese Pflichten im Rahmen dieser Arbeit als „Schutzpflichten“ bezeichnet. Vgl. auch Krebs, S. 4 f. 161 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 396 m.w.N. 162 Vgl. OLG Düsseldorf NJW-RR 2012, 780 ff.; OLG Köln VersR 2003, 1453 ff. 160
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2. Unterschiede zwischen Verkehrspflichten und Schutzpflichten a) Dogmatische Zuordnung und Schutzbereich Während die Verkehrspflichten als Produkt der richterlichen Rechtsfortbildung bei § 823 I BGB angesiedelt sind, finden die Schutzpflichten nach der Schuldrechtsmodernisierung ihre gesetzliche Grundlage in der Vorschrift des § 241 II BGB.163 Seit der Schuldrechtsreform ist de lege lata die außerdeliktische Einordnung der Schutzpflichten anerkannt.164 Die Schutzpflichten setzen ein bereits entstandenes Schuldverhältnis voraus. Hingegen wird ein Schuldverhältnis auf Schadensersatz erst durch die Verkehrspflichtverletzung begründet.165 Der Grundsatz „neminem laedere“, den das Deliktsrecht verfolgt, gilt gegenüber jedermann. Die dadurch normierten Verhaltensregeln sind selbstverständlich gegenüber jedermann einzuhalten.166 Anders als die zwischen unverbundenen Rechtssubjekten bestehenden Verkehrspflichten, betreffen die Schutzpflichten nur die Beziehungen zwischen den Rechtssubjekten, die entweder in einem Vertragsverhältnis oder einer anderen vertragsähnlichen Sonderverbindung stehen. Hinsichtlich des sachlichen Schutzbereiches ist die Reichweite der Schutzpflichten breiter als die der Verkehrspflichten. Über die in § 823 I BGB aufgezählten Rechtsgüter und Rechte hinaus leisten die Schutzpflichten einen großen Beitrag zum Schutz bloßer Vermögensinteressen, zu denen auch die Integritätsinteressen gehören.167 b) Haftung für Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfen In ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung der Haftung für Hilfepersonen zeigt sich die Abgrenzung zwischen Schutzpflichten und Verkehrspflichten am deutlichsten: Ist der beim Gläubiger eingetretene Schaden auf Verschulden des Erfüllungsgehilfen zurückzuführen, kommt die Vorschrift des § 278 BGB zur Anwendung. Danach ist das Verschulden des Erfüllungsgehilfen dem Schuldner zuzurechnen. Eine andere im BGB geregelte Haftung für den Gehilfen befindet sich im
163
Vgl. BT-Drucks. 14/1040, S. 125 ff. Vgl. MüKoBGB/Bachmann, § 241 Rn. 46; Staudinger/Olzen, § 241 Rn. 389 ff.; Faenger, S. 35 ff. Zur Gegenansicht vgl. v. Caemmerer, FS zum 100. DJT, S. 56 ff.; Stoll, FS von Caemmerer, S. 437, 452 ff.; ders., AcP 176 (1976), 146, 151. 165 Siehe BT-Drucks. 14/1040, S. 125. Vgl. auch Faenger, S. 45. 166 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 I 4 c, S. 359; Faenger, S. 46. 167 Vgl. Looschelders, SchuldR AT, Rn. 22; Canaris, FS Larenz II, S. 90 f. „Durch die uneingeschränkte Erwähnung der ,Rechtsgüter‘ neben den ,Rechten‘ wird deutlich, dass über den insoweit begrenzten Schutzbereich von § 823 I hinaus auch das bloße Vermögen geschützt sein kann.“ BT-Drucks. 14/1040, S. 125. 164
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Kap. 2: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Dogmatische Grundlagen
§ 831 BGB, wonach der Geschäftsherr unter Umständen für den vom Verrichtungsgehilfen verursachten Schaden haftet. Die Vorschrift des § 278 BGB, die nur als eine Zurechnungsnorm zu begreifen ist, dient zur Zurechnung des fremden Verschuldens auf den Schuldner.168 Dabei spielt das eigene Verschulden des Schuldners keine Rolle. Dagegen handelt es sich beim § 831 BGB um eine selbständige Anspruchsgrundlage. Der Geschäftsherr ist eigentlich für eigenes Verschulden verantwortlich. Nach § 831 I S.2 BGB kann er sich von seiner Haftung exkulpieren, wenn er nachweist, dass ihn bei Auswahl und Beaufsichtigung des Verrichtungsgehilfen kein Verschulden getroffen hat. Die Vorschrift des § 278 BGB gilt selbstverständlich für die Zurechnung der Schutzpflichtverletzung. Hat der Erfüllungsgehilfe die Schutzpflicht verletzt, ist der dem Gläubiger dadurch zugefügte Schaden dem Schuldner zuzurechnen, ohne dass den Schuldner dafür eigenes Verschulden trifft. Hinsichtlich der Haftung für den Verrichtungsgehilfen sieht die Rechtslage ganz anders aus. Hat der Verrichtungsgehilfe in Ausführung der Verrichtung die Verkehrspflicht verletzt, haftet der Geschäftsherr nur insoweit für den dadurch verursachten Schaden, als ihn ein Verschulden bei Auswahl und Beaufsichtigung des Verrichtungsgehilfen trifft. 3. Zusammenfassung Aufgrund des vorstehend durchgeführten Vergleichs lässt es sich entnehmen, dass die vertragliche Haftung wegen Schutzpflichtverletzung weiter in Umfang sowie strenger in Intensität als die deliktische Haftung wegen Verkehrspflichtverletzung ist.169 Dies lässt sich damit erklären, dass im Fall der Schutzpflichtverletzung eine Sonderverbindung zwischen dem Schuldner und dem Geschädigten besteht. Mit dieser Sonderverbindung geht eine gesteigerte Einwirkungsmöglichkeit auf die Rechte und Interessen des Geschädigten einher. Sie führt konsequenterweise zu einer strengeren Haftung des Schuldners.170 Wenn im Einzelfall die Hilfeperson sowohl als ein Erfüllungsgehilfe als auch als ein Verrichtungsgehilfe betrachtet werden kann, ist es für den Verletzten vorteilhafter, die vertraglichen Schadensersatzansprüche geltend zu machen: Einerseits kann sich der Schuldner nicht zur Haftungsentlastung darauf berufen, dass er den Gehilfen sorgfältig ausgesucht und überwacht hat. Andererseits muss der Schuldner auch für den sog. „selbständigen Erfüllungsgehilfe“ haften, der durchaus nicht in den Begriff des Verrichtungsgehilfen eingeschlossen werden kann.171
168 169 170 171
Vgl. Looschelders, SchuldR AT, Rn. 501 ff. Vgl. Looschelders, SchuldR AT, Rn. 22; Frost, S. 23. Vgl. MüKoBGB/Bachmann, § 241 Rn. 106; Canaris, S. 442; Frost, S. 106 ff. Ausführlich dazu vgl. Canaris, FS Larenz II, S. 87.
B. Dogmatische Zuordnung der Verkehrspflichten
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Es kommt in der Praxis sehr häufig vor, dass in ein und demselben Schadenereignis die Voraussetzungen der Ansprüche aus den beiden Haftungen parallel erfüllt werden. Dies stellt den Fall der sog. echten Anspruchskonkurrenz dar.172 Nach der h.M., die sich auf dem Grundsatz der sog. „freien Anspruchskonkurrenz“ stützt, stehen beide konkurrierenden Ansprüche selbständig nebeneinander dem Geschädigten zu. Er ist also dazu berechtigt, jeden Anspruch einzeln geltend zu machen, darf allerdings im Ergebnis nur einmal entschädigt werden.173
V. Zwischenergebnis Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass im deutschen Recht die Verkehrspflicht dogmatisch in die Vorschrift des § 823 I BGB einzuordnen ist. Die deliktische Haftung aus Verkehrspflichtverletzung ergibt sich also stets unter der Voraussetzung, dass eines der im Rahmen des § 823 I BGB geschützten Rechte bzw. Rechtsgüter verletzt wird. Im Aufbau der deliktischen Haftung aus § 823 I BGB kann die Verkehrspflicht an unterschiedlichen Stellen platziert werden: Bei der Verletzung durch Unterlassen ist die Verkehrspflicht auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit zu prüfen. Erst durch die Verkehrspflichtverletzung wird das Unterlassen als Verletzungshandlung im deliktsrechtlichen Sinne betrachtet. Bei der mittelbaren Schädigung ist die Verkehrspflicht auf der Ebene der Rechtswidrigkeit zu prüfen. Eine mittelbare Verletzungshandlung wird erst beim Vorliegen der Verkehrspflichtverletzung als widerrechtlich angesehen. Es besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen der bei Rechtswidrigkeit geprüfte Verkehrspflicht und der im Verkehr erforderlichen Sorgfaltspflicht, die bei der Fahrlässigkeitsprüfung als Kriterium herangezogen wird. Die deliktsrechtliche Verkehrspflicht und die vertragliche Schutzpflicht sind voneinander zu unterscheiden, obwohl sie sich unter Umständen überlappen können. Die wesentlichen Unterschiede zwischen ihnen bestehen einerseits im Schutz der reinen Vermögensinteressen und andererseits in der Haftung für den Gehilfen. In dem Fall, dass sich die Verkehrspflicht und die Schutzpflicht überlappen, liegt die Problematik der Anspruchskonkurrenz vor, die nach der Lehre der freien Anspruchskonkurrenz gelöst werden kann.
172
Vgl. MüKoBGB/Bachmann, § 241 Rn. 39. Vgl. Looschelders, SchuldR AT, Rn. 23; Medicus/Lorenz, SchuldR I, Rn. 398. Die Gegenansicht geht davon aus, dass hier nur ein einziger materiellrechtlicher Anspruch vorliegt, der sich durch mehrere Anspruchsnormen begründen lässt (die sog. Anspruchsgrundlagen- oder Anspruchsnormenkonkurrenz); dazu vgl. Wolf/Neuner, BGB AT, § 21 Rn. 8. Hier ist der h.M. zuzustimmen; zu den Argumenten dafür vgl. MüKoBGB/Bachmann, § 241 Rn. 40. 173
Kapitel 3
Verkehrspflichten im deutschen Deliktsrecht: Einzelfragen Nach Darstellung der Grundlagen der Verkehrspflichten im deutschen Deliktsrecht ist nunmehr praktisch zu erläutern, in welcher Weise ein derart allgemeines Rechtsinstitut konkret gewandt werden soll. Die oben bereits diskutierten dogmatischen Fragen dienen vor allem dazu, die Legalität der Verkehrspflichten zu erklären und sie angemessen in das bestehende Zivilrechtssystem einzuordnen. Für die Rechtspraxis ist allerdings die Untersuchung ihrer konkreten Anwendung von wichtiger Bedeutung. Dieses Kapitel befasst sich mit den Einzelfragen zur konkreten Anwendung der Verkehrspflichten im deutschen Recht. Die folgenden Ausführungen drehen sich um einige fundamentalen Fragen in Bezug auf die Konkretisierung von Verkehrspflichten und sind inhaltlich in drei Abschnitte gegliedert: Zuerst sind die allgemeinen Entstehungsgründe für Verkehrspflichten zu erläutern. Dabei wird einerseits zwei grundlegende Kategorien der Verkehrspflichten dargestellt, die üblicherweise in der Literatur vorkommen. Andererseits ist mittels Neuentwicklung der Rechtsprechung kritische Reflexion über die traditionelle Kategorisierung der Verkehrspflichten bzw. ihre Entstehungsgründe anzustellen. Anschließend wird auf die Frage eingegangen, wer die Adressaten der Verkehrspflichten sind. Dabei werden auch die Einzelfragen wie die Übertragung von Verkehrspflichten diskutiert. Am Ende dieses Kapitels werden die Kriterien zur Bestimmung der Verkehrspflichten zusammengefasst.
A. Entstehungsgründe für Verkehrspflichten und ihre Kategorisierung I. Allgemeines Im deutschen Schrifttum wird eine verwirrende Vielzahl von Entstehungsgründen oder Zurechnungskriterien für die Verkehrspflichten angenommen.174 Die Mei174 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 397 ff.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 19 ff.; v. Bar, S. 112 ff.; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III, S. 406 ff.; Kötz/Wagner, S. 76 ff.;
A. Entstehungsgründe für Verkehrspflichten und ihre Kategorisierung
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nungen dazu variieren zwar sehr stark. Aber im Allgemeinen sind die Entstehungsgründe für Verkehrspflichten durch zwei Faktoren zu benennen: Auf Seiten des Pflichtenträgers ist die Schaffung oder Unterhaltung von Gefahrenquellen von großer Bedeutung. Wer eine Gefahrenquelle eröffnet oder andauern lässt, ist grundsätzlich dazu verpflichtet, entsprechende Maßnahme zur Beherrschung oder Beseitigung dieser Gefahrenquellen zu ergreifen.175 Wenngleich nahezu sämtliche Verkehrspflichten auf Gefahrenquellen zurückzuführen sind, werden sie nicht allein dadurch begründet.176 Vielmehr muss man noch weiter von der Perspektive des Geschädigten ausgehen. Dabei spielt das Prinzip des Vertrauensschutzes für die Entstehung von Verkehrspflichten eine wichtige Rolle.177 Das Vertrauen des (potentiellen) Geschädigten auf die Verkehrssicherheit verdient einen besonderen Schutz.178 Darüber hinaus werden in der Literatur mancherorts die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit zur Gefahrsteuerung sowie die Vorteilziehung aus den Gefahrenquellen als wichtige Anknüpfungspunkte für Verkehrspflichten herangezogen.179 Nach hier vertretener Ansicht ist es aber sachgerechter, diese konkreteren Elemente als Kriterien für die Bestimmung von Umfang und Intensität der Verkehrspflichten zu bewerten.180
Medicus/Lorenz, SchuldR II, Rn. 1244 ff.; Edenfeld, VersR 2002, 272 ff.; Mertens, VersR 1980, 397, 402. 175 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 400; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 1; BGBRGRK/Steffen, § 823 Rn. 137; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III, S. 400; Deutsch/ Ahrens, Rn. 330; v. Bar, S. 113; Kleindiek, S. 200. 176 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 400. 177 Vgl. v. Bar, S. 118 ff.; ders., JuS 1988, 169 ff.; Canaris, S. 476 ff.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 19; Picker, AcP 183 (1983), 369, 428 ff. 178 Vgl. Picker, AcP 183 (1983), 369, 429. Nach v. Bar dürfen die potentiellen Geschädigten auf „die Abwesenheit einer besonderen Gefahr“ vertrauen. Aber ihre Bereitschaft zur Selbstverantwortung wird durch dieses Vertrauen herabgesetzt. Vgl. v. Bar, S. 117 f.; ders., JuS 1988, 169, 170 f. 179 Neben Gefahrerhöhung und Vertrauensschutz hat v. Bar Beherrschbarkeit der Gefahr und Vorteilsziehung aus der Gefahr als wesentliche Entstehungsgründe für Verkehrspflichten genannt; vgl. v. Bar, S. 122 ff.; ders., JuS 1988, 169, 170 ff. Auch nach Kleindiek kommt „die Korrespondenz von Nutzen und Last“ (das sog. „Nutzen-Nachteil-Prinzip“) in Betracht; vgl. Kleindiek, S. 201 f.; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 399 ff.; vgl. auch Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 a, S. 407; Raab, JuS 2002, 1041, 1044 f. 180 Demensprechend werden solche Kriterien später im Abschnitt C dieses Kapitels diskutiert. Aber nach Ansicht von Wagner gelten für die Entstehung der Verkehrspflichten und die Bestimmung deren Umfangs und Intensität die gleichen Kriterien; er begreift „die Existenzbedingungen“ der Verkehrspflichten lediglich als die „Mindestvoraussetzung“; diese Kriterien, wie z. B. der Vertrauensschutz, die Beherrschbarkeit der Gefahren, werden bei Bestimmung von Umfang und Intensität der Verkehrspflichten wiederbenutzt. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 399, 421 ff.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
II. Traditionelle Kategorisierung von Verkehrspflichten im Schrifttum Es entspricht zwar völlig der Definition der Verkehrspflichten, ihre Auferlegung einerseits an den Einfluss des Pflichtträgers auf die Gefahrenquelle und andererseits an das schutzwürdige Vertrauen des potentiellen Geschädigten anzuknüpfen. Diese Aussage ist jedoch leider sehr abstrakt formuliert. Daher ist es für die Begründung der Verkehrspflichten in Einzelfällen darüber hinaus notwendig, ihre Entstehungsgründe stärker zu konkretisieren und dementsprechend verschiedene Fallgruppe herauszubilden. In der Rechtsprechung sind die Entstehungsgründe der Verkehrspflichten äußerst vielfältig.181 Dies lässt sich selbstverständlich durch die richterrechtliche Ausprägung von Verkehrspflichten erklären. Die Kasuistik zeigt auf, dass jemandem die Pflicht zur Gefahrvermeidung oder -abwendung auferlegt wird, wenn er z. B. den Verkehr auf einer Straße oder einem Weg eröffnet,182 Veranstaltungen organisiert oder durchführt,183 gefährliche Produkte hergestellt und in Verkehr bringt,184 eine bestimmte Aufgabe übernimmt oder einen bestimmten Beruf ausübt.185 1. Zwei Grundkategorien der Verkehrspflichten Anhand der umfangreichen Materialien aus der Rechtspraxis nimmt ein Großteil der Literatur eine Aufzählung der Verkehrspflichten nach Fallgruppen vor, die nach verschiedenen Lebensbereichen gegliedert sind.186 Eine derartige Aufzählung, die zwar ausführlich, aber doch noch nicht erschöpfend ist, wird als „phänomenologi181 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 13 ff.; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 397 ff.; Deutsch/Ahrens, Rn. 338 ff.; vgl. auch Gsell, S. 106 f. 182 Die Rechtsprechung siehe z. B. RGZ 52, 573; 54, 53; BGHZ 9, 373; 14, 83; 34, 206; BGH VersR 1967, 604; 1981, 336; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 73 ff. Die Eröffnung oder Duldung eines Verkehrs bildet den klassischen Entstehungsgrund für die ursprünglichen Verkehrssicherungspflichten; vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3a, S. 407; Medicus/Lorenz, SchuldR II, Rn. 1244. 183 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGHZ 5, 318; BGH NJW 1990, 905; 2001, 2019; VersR 2000, 984; vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 666 ff.; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 320 ff. 184 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe RGZ 163, 21; BGHZ 51, 91; 86, 256; 104, 323; BGH NJW 1992, 1678; 2009, 1669. Die Produkthaftung ergibt sich aus „Verletzung einer herstellerspezifischen Verkehrspflichten“ und bildet daher eine besondere Fallgruppe der Verkehrspflichten; vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 365. 185 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe RGZ 102, 38; 102, 372; BGHZ 103, 298; 163, 53; BGH NJW 2000, 1188; 2005, 2613; VersR 1993, 725; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 21 ff.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 26; Kleindiek, S. 426 m.w.N. 186 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 73 ff.; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 548 ff.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 75 ff.; BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 167 ff.; v. Bar, S. 45 ff.; Deutsch/Ahrens, Rn. 338 ff.
A. Entstehungsgründe für Verkehrspflichten und ihre Kategorisierung
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sche Fallgruppenbildungen“ der Verkehrspflichten bezeichnet.187 Es aber ist aus Raumgründen weder möglich noch nötig, in im Rahmen dieser Arbeit sämtliche Fallgruppen der Verkehrspflichten erschöpfend zu behandeln. Stattdessen wird hier der Versuch unternommen, die Verkehrspflichten in zwei grundlegende Kategorien zu unterteilen: Zum einen sind die Sicherungspflichten zur Beherrschung von Gefahren. Zum anderen sind die Fürsorgepflichten zum Schutz fremder Rechte und Rechtgüter vor Gefahren, die aus der Sphäre Dritter kommen.188 Die anfangs erwähnten Meilenstein-Urteile des Reichsgerichts können sich reibungslos in eine solche Kategorisierung einfügen. Als Beispiele für Sicherungspflichten sind der „Morscher BaumFall“ und der „Streupflicht-Fall“ zu nennen. Demgegenüber bildet der „Milzbrandfall“ ein zu treffendes Beispiel für die Fürsorgepflichten.189 Es ist auch anzumerken, dass die Unterscheidung von Sicherungs- und Fürsorgepflichten nur die grundlegende Kategorisierung von Verkehrspflichten darstellt. Beide Grundkategorien lassen sich jeweils weiter in verschiedene Untergruppen einteilen. Innerhalb derselben Grundkategorie haben alle Untergruppen zwar Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Modalität der Pflichten.190 Aber bei der Begründung der Pflichten jeder Untergruppe ist es durchaus möglich, dass die konkreten Argumente in gewissem Maße voneinander abweichen. Im Folgenden werden die näheren Einzelheiten von Sicherungs- und Fürsorgepflichten einschließlich ihrer eigenen Untergruppen erläutert. a) Unterscheidung von Sicherungs- und Fürsorgepflichten Vor allem ist muss die Frage beantwortet werden, warum eine solche Unterteilung der Verkehrspflichten vorgenommen wird. Der auf den ersten Blick ersichtliche Unterschied zwischen Sicherungs- und Fürsorgepflichten scheint darin zu bestehen, dass sie unterschiedliche Pflichtinhalte haben: Während sich die Sicherungspflichten inhaltlich um die Kontrolle von Gefahrenquellen handeln, legen die Fürsorge187
v. Bar, S. 83. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 397 ff.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 19 ff.; Kötz/Wagner, Rn. 181; Wilhelmi, S. 175 ff. Eine solche Kategorisierung der Verkehrspflichten stimmt auch mit der Unterteilung von „Bewacher- und Beschützergarant“ in der Strafrechtsdogmatik überein. Detailliert zur Bedeutung dieses strafrechtlichen Begriffspaares vgl. Schönke/Schröder/Stree/Bosch, StGB § 13 Rn. 9 ff. Im Schrifttum werden aber auch mancherorts Bedenken gegen die vorgeschlagene Kategorisierung der Verkehrspflichten erhoben. Diese Gegenansicht lehnt es ab, die Fürsorgepflichten in die Verkehrspflichten einzuordnen. Ihr Kernargument besteht darin, dass die Fürsorgepflichten nicht im Einklang mit der als Grundgedanke der Verkehrspflichten geltenden Gefahrveranlassung bzw. -beherrschung stehen; dazu vgl. Staudinger/Hager, § 823 H 7; Bamberger/Roth/Spindler, § 823 Rn. 6 ff.; Looschelders, SchudR BT, Rn. 1224. Die vorliegende Arbeit verfolgt aber noch der Unterscheidung von Sicherungs- und Fürsorgepflichten. 189 Eine ausführliche Beschreibung dieser drei Fälle findet sich in „Kapitel 2 A. I. 2.“. 190 Vgl. Wilhelmi, S. 176. 188
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
pflichten Akzent auf den Schutz von Rechten und Rechtsgütern.191 Außerdem sind die Sicherungspflichten wesentlich leichter zu begründen als die Fürsorgepflichten.192 Aber durch die oben dargestellten oberflächlichen Unterschiede lässt sich die Berechtigung der Unterscheidung von Sicherungs- und Fürsorgepflichten noch nicht ausreichend erklären. Die normativen Anhaltpunkte dafür bedürfen noch einer weiteren Verdeutlichung. b) Normative Anhaltspunkte für die Unterscheidung der beiden Kategorien Nach hier vertretener Ansicht ist der wesentliche Unterschied zwischen Sicherungs- und Fürsorgepflichten darin zu finden, dass die beiden Pflichtenkategorien von unterschiedlichen normativen Prinzipien ausgehen: Die Sicherungspflichten richten sich an die Kontrolle von denjenigen Gefahrenquellen, die sich im eigenen Einwirkungsbereich der Pflichtigen befinden. Demgegenüber zielen die Fürsorgepflichten auf den Schutz vor denjenigen Gefahren, die nicht dem eigenen Einwirkungsbereich der Pflichtigen entspringen, sondern aus der Sphäre der Geschädigten oder von Dritten drohen.193 Als die deliktsrechtliche Ausprägung der Privatautonomie herrscht im deutschen Deliktsrecht das Prinzip der Selbstverantwortung.194 Es ist allgemein anerkannt, dass man die Sicherheit seines eigenen Bereichs gewährleisten muss. Allerding folgt aus dem Selbstverantwortungsprinzip auch, dass eine Person in der Regel nur für seinen eigenen Verantwortungsbereich zuständig ist. Mit anderen Worten verpflichtet man sich grundsätzlich nicht zum Ersatz von denjenigen Schäden, der von Sachen oder Verhalten eines anderen verursacht werden. Nur in Ausnahmefällen kann sich die Verantwortung einer Person auf die Abwehr vor Selbstgefährdung der Geschädigten oder Gefahren aus der Sphäre Dritter erweitern.195 Außerdem steht die Entstehung der Sicherungspflichten auch im Einklang mit dem Nutzen-Nachteil-Prinzip.196 Für den Träger einer Sicherungspflicht korre191 Bei den Sicherungspflichten werden alle durch bestimmte Gefahrenquellen gefährdeten Rechte und Rechtsgüter geschützt. Im Vergleich dazu werden bei den Fürsorgepflichten bestimmte Rechte bzw. Rechtgüter vor allen Gefahren geschützt. Vgl. Wilhelmi, S. 176. 192 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3, S. 407. 193 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 401; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 19; Wilhelmi, S. 175 ff. 194 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 I 2 b, S. 351; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 20. Ausführlich zur Darstellung des Prinzips der Selbstverantwortung im Deliktsrecht vgl. Schaub, S. 281 ff. Nach Larenz/Canaris ist hier „der Gedanke der Zusammengehörigkeit von Verantwortung und Bestimmungsgewalt“ als Gerechtigkeitskriterium heranzuziehen; Larenz/ Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 a, S. 408. 195 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 401, 410; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 19. 196 Vgl. v. Bar, S. 125 ff.; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 a, S. 408; Kleindiek, S. 209 ff.
A. Entstehungsgründe für Verkehrspflichten und ihre Kategorisierung
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spondiert die Aufgabe zur Kontrolle von Gefahrenquellen in ihrem eigenen Bereich normalerweise mit seiner Vorteilsziehung aus dieser Gefahrenquelle.197 Bei den Fürsorgepflichten sieht die Lage allerdings anders aus. In der Regel können die Träger der Fürsorgepflichten keine Vorteile aus fremder Sphäre ziehen. Vielmehr genießen die Geschützten selbst oder die Dritten die Vorteile.198 Das heißt, dass dabei das Nutzen-Nachteil-Prinzip nicht gelten kann. Die Fürsorgepflichten können deswegen nicht ohne weiteres, sondern ausnahmsweise mit besonderen Argumenten begründet werden. 2. Sicherungspflichten a) Prinzip: Zuständigkeit für eigenen Bereich Die allgemeine Rechtspflicht, die Rechte und Rechtsgüter von anderen nicht zu gefährden, ist der deutschen Rechtsordnung nicht fremd. Daraus ergibt sich, dass jeder Einzelne für den gefahrlosen Zustand seines eigenen Bereichs zuständig ist.199 Er muss also seinen eigenen Kreis in der Weise ausgestalten, dass keine Gefährdung der Rechte oder Rechtgüter anderer besteht.200 Wenn die Gefahren von seinen eigenen Sachen ausgehen oder durch sein eigenes Verhalten verursacht werden, sollte er selbstverständlich die Gefahren unter Kontrolle bringen, da er auf seine Sache oder sein Verhalten einwirken kann. Dadurch lässt sich gut erklären, wodurch die Sicherungspflichten zu begründen sind. Es ist festzuhalten, dass die Sicherungspflichten für eigenen Bereich grundsätzlich jede Person treffen können.201 b) Untergruppen von Sicherungspflichten Wie bereits oben angegeben, handeln sich die Sicherungspflichten im Allgemeinen um die Beherrschung oder Beseitigung von Gefahren aus eigenem Bereich. Innerhalb der eigenen Sphäre der Träger der Sicherungspflichten können die Gefahren aus verschiedenen Quellen stammen. Dementsprechend lassen sich die Sicherungspflichten grob in die folgenden drei Untergruppen aufteilen:
197
Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 a, S. 408. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 402. 199 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe RGZ 83, 137; BGHZ 142, 227; BGH NJW 1966, 40; 1994, 3348; VersR 1964, 390; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 16; diese Zuständigkeit bei der Bereichshaftung wird von Larenz/Canairs als „die Einstandspflicht für die Sicherheit eines bestimmten Bereichs“ bezeichnet; vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 a, S. 408. 200 Vgl. BGH NJW 2010, 1967, Rn. 5; VersR 2006, 420, Rn. 11; 2006, 665, Rn. 13; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 400. 201 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 400, 403; BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 153. 198
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
aa) Sachbezogene Sicherungspflichten Zuerst können sich die Sicherungspflichten in einer räumlich-gegenständlichen Dimension entfalten. Hier kommen die sachbezogenen Sicherungspflichten in Betracht. Sie beziehen sich auf alle Sachen, die sich im Einwirkungsbereich der Pflichtenträger befinden. Dazu gehören selbstverständlich die traditionellen Verkehrssicherungspflichten, die stets mit Grundstücken oder Gebäuden verbunden sind.202 Darüber hinaus gibt es auch eine große Zahl von Sicherungspflichten in Bezug auf bewegliche Sachen.203 Grundsätzlich haben die Pflichtenträger zu gewährleisten, dass die in ihrer eigenen Sphäre befindlichen Sachen in sicherem Zustand bleiben. Ansonsten sind sie für die daraus resultierenden Schäden verantwortlich. Dies gilt ebenfalls, wenn der gefährliche Zustand ihrer Sachen von Dritten verursacht wird.204 bb) Verhaltensbezogene Sicherungspflichten Neben den sachenbezogenen Sicherungspflichten bestehen noch die verhaltensbezogenen Sicherungspflichten. Dabei sind die Gefahrenquellen nicht an die unter Einfluss der Pflichtenträger stehenden Gegenstände, sondern an ihr gefährliches Verhalten geknüpft. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die Begründung einer verhaltensbezogenen Sicherungspflicht normalerweise nicht darauf ankommt, ob das betreffende Verhalten rechtmäßig oder rechtswidrig ist.205 Die verhaltensbezogenen Sicherungspflichten treffen insbesondere diejenigen, die Tätigkeiten mit erheblichen Gefahren vorgenommen haben.206 Es wird allerdings nicht immer gefordert, dass die Tätigkeiten besonders große Gefahren mit sich bringen. Manchmal kann auch „eine normale Gefahr“ ausreichen, um die Siche202 Nach der traditionellen Auffassung knüpfen sich die Verkehrssicherungspflichten an die Eröffnung oder Unterhaltung eines Verkehrs. Aber Kleindiek ist der Ansicht, dass mit Verkehrsöffnung nur die Zahl der potentiellen Geschädigten wächst. Die Entstehungsgründe von Verkehrssicherungspflichten sind nicht in der bloßen Verkehrsöffnung zu finden. Sie bestehen vielmehr in der Aufgabe für „die Sicherheit eines bestimmten Bereiches“. Vgl. Kleindiek, S. 66; vgl. auch BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 153; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 19; Larenz/ Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 a, S. 408. Hier ist dieser Meinung zuzustimmen. 203 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 a, S. 408; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 406; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 18; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 20 f.; BGBRGRK/Steffen, § 823 Rn. 153. 204 Vgl. RGZ 85, 185, 186; 138, 21, 22; BGHZ 37, 165, 170; 65, 221, 224; BGH NJW-RR 1988, 659, 660; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 17, E 33; BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 153. 205 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 23; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 c, S. 410; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 105 m.w.N. 206 Als Tätigkeiten mit besonderen Gefahren zu nennen sind z. B. das Befüllen von Öltanks, die Erdbauarbeiten, die Veranstaltung eines Rockkonzerts mit übermäßiger Lautstärke; vgl. BGH NJW 1995, 1150; 1996, 387; 2001, 2019. Zu einer ausführlichen Auflistung solcher gefährlichen Tätigkeiten vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 14.
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rungspflichten zu begründen.207 Hier ist das gefährliche Verhalten weit zu fassen, weil im Allgemeinen jeder Einzelne sein eigenes Verhalten so einzurichten hat, dass andere nicht mehr als nach den Umständen unvermeidbar gefährdet werden.208 Bei den verhaltensbezogenen Sicherungspflichten sind nicht nur die aktuellen Risiken der gefährlichen Tätigkeiten zu beherrschen, sondern auch ihr Gefahrenpotential für die Zukunft zu bewältigen.209 Hierdurch lässt sich erklären, warum die von Canaris vorgeschlagene Haftung für vorangegangenes gefährliches Tun der Bereichshaftung zuzuordnen ist.210 cc) Personenbezogene Sicherungspflichten (1) Bestimmte Personengruppe als Gefahrenquelle Nicht zuletzt ist noch darauf hinzuweisen, dass sich die zu kontrollierenden Gefahrenquellen nicht nur auf eigene Gegenstände oder Tätigkeiten der Träger der Sicherungspflichten beschränken. Bestimmte Personen im Einwirkungsbereich der Pflichtenträger können ebenso potentielle Gefahrenquellen darstellen.211 Vor allem handelt es sich um diejenigen, die sich unter Aufsicht der Sicherungspflichtenträger befinden oder an deren Weisungen gebunden sind. Dabei kommen insbesondere die wegen Minderjährigkeit oder wegen körperlicher oder geistiger Behinderungen aufsichtsbedürftigen Personen in Betracht (§ 832 BGB).212 Außerdem sind hier die Verrichtungshilfen (§ 831 BGB) zu erwähnen.213 In diesen Zusammenhängen knüpfen die Sicherungspflichten inhaltlich speziell an die Beaufsichtigung oder Auswahl bestimmter Personen an. Die aufsichtsbedürftigen Personen sollten nicht nur vor Schaden bewahrt, sondern es soll auch verhindert werden, dass andere Personen zu Schaden kommen. Für die von aufsichtsbedürftigen Personen herbeigeführten Schäden sind die Aufsichtspflichtigen natürlich verantwortlich. (2) Abgrenzung der personenbezogenen Sicherungspflichten von den Fürsorgepflichten Hier ist festzustellen, dass in diesem Zusammenhang sich die Sicherungspflichten eigentlich auf das rechtswidrige schädigende Verhalten anderer Personen beziehen. 207
Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 13. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 408. 209 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 409. 210 Vgl. Wilhelmi, S. 175. 211 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 79 IV 1 a, S. 485. 212 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 24. Nach Ansicht von Larenz/Canaris sind die Vorschriften von §§ 831, 832 BGB im Grunde „als Tatbestand der Verkehrspflichtverletzung zu qualifizieren“; vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 79 IV 1 a, S. 485. 213 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 24. 208
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
Nun liegt selbstverständlich die Frage nahe, wie sich die personenbezogenen Sicherungspflichten von den Fürsorgepflichten unterscheiden lassen, die nach den vorangehenden Ausführungen auch die Haftung für die durch Dritte verursachten Schäden betreffen. Hier vertretener Ansicht nach wird die Abgrenzung zwischen Sicherungs- und Fürsorgepflichten trotz ihrer oberflächlichen Ähnlichkeit jedoch nicht durchbrochen. Ihr wesentlicher Unterschied besteht vielmehr darin, ob der die Schäden zufügende Dritte unter Einfluss der Sicherungs- bzw. Fürsorgepflichtigen steht: Die zu Beaufsichtigenden oder die Verrichtungsgehilfen befinden sich noch in der eigenen Sphäre der Aufsichtspflichtigen oder Geschäftsherren.214 Sowohl die Minderjährigen als auch andere wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustandes Aufsichtsbedürftige stehen unter Betreuung und Beaufsichtigung der Aufsichtspflichtigen. Sie sind also in gewissem Maße von den Aufsichtspflichtigen abhängig. Ähnlich dazu sind die Mitarbeiter oder Angestellten auch den Weisungen von Geschäftsherren unterworfen. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Aufsichtspflichtigen oder Geschäftsherren ihren Einfluss auf solche Personen ausüben können. Aus diesem Grund müssen sie auch die Sicherungspflichten zur Kontrolle der Gefahren treffen, die von solchen Personen ausgehen. Bei den Fürsorgepflichten stellen sich die Rechtslage allerdings anders dar. Der schädigende Dritte steht außerhalb der eigenen Sphäre des Fürsorgepflichtenträgers. Es besteht also kein spezielles Rechtsverhältnis zwischen dem schädigenden Dritten und dem Fürsorgepflichtenträger. Der Fürsorgepflichtenträger hat daher keine Einwirkungsmöglichkeit auf den schädigenden Dritten. Der Fürsorgepflichtenträger ist deswegen für die durch den Dritten verursachten Schäden verantwortlich, weil er in einer gewissen Nahebeziehung zu dem Geschädigten steht und zu dessen Schutz verpflichtet. c) Verletzung von Sicherungspflichten und die Bereichshaftung Im Wesentlichen geht es bei den Sicherungspflichten um die Verantwortung für den eigenen Bereich der Pflichtenträger. Die oben aufgeführten drei Untergruppen weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sich die gefährlichen Sachen und Tätigkeiten sowie die aufsichtsbedürftigen Personen im eigenen Einwirkungsbereich der Träger der Sicherungspflichten befinden. Dementsprechend kann man die Haftung aus Verletzung dieser Sicherungspflichten als Bereichshaftung bezeichnen. Der Ansicht von Canaris nach lässt die Haftung für Verkehrspflichtverletzung nach den Zurechnungsgründen in folgende Kategorien gliedern, nämlich die Bereichshaftung, die Übernahmehaftung und die Haftung für vorangegangenes gefährliches Tun.215 Nach hier vertretener Meinung stellt die Haftung für vorange214 215
Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 79 III 3 b, S. 476. Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 c, S. 411.
A. Entstehungsgründe für Verkehrspflichten und ihre Kategorisierung
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gangenes gefährliches Tun jedoch keine eigenständige Kategorie dar.216 Vielmehr ist sie durch die Bereichshaftung abgedeckt, weil es nicht nur sachbezogene, sondern auch verhaltensbezogene Sicherungspflichten gibt. Somit ist die hier umschriebene Bereichshaftung im Umfang größer als die von Canaris genannte Bereichshaftung. Schließlich ist noch anzumerken, dass die Abgrenzung zwischen den sach- und verhaltensbezogenen Sicherungspflichten nicht immer eindeutig ist. Manchmal können sich beide überschneiden. Dies trifft insbesondere auf die Konstellationen zu, in denen die vorgenommenen Tätigkeiten mit gefährlichen Gegenständen verbunden sind. Ein gutes Beispiel dafür ist die Produkthaftung. Dabei kann man natürlicherweise davon ausgehen, dass der Herstellungsprozess und das Inverkehrbringen der Produkte die Gefahrenquellen darstellen.217 Es ist allerdings auch nicht falsch, wenn man die fehlerhaften Produkten als Gefahrenquellen ansieht.218 Im Ergebnis macht es keinen Unterschied, weil entweder aus der Verletzung von sachbezogenen Sicherungspflichten oder aus der Verletzung von verhaltensbezogenen Sicherungspflichten eine Bereichshaftung entstehen kann. 3. Fürsorgepflichten a) Zweck: Schutz vor Gefahren aus fremdem Bereich Bei den Fürsorgepflichten, wie oben erwähnt, stammen die Gefahren aus der Sphäre Dritter oder sogar aus der Sphäre der potentiellen Geschädigten selbst.219 Mit anderen Worten ausgedrückt, bleiben die drohenden Gefahren außerhalb des Einwirkungsbereichs der Adressaten der Fürsorgepflichten. Dadurch kann man zu dem Schluss gelangen, dass die Fürsorgepflichtenträger in der Regel keinen Beitrag zur Entstehung oder Schaffung der Gefahrenquellen leisten. Außerdem sind sie normalerweise nicht in der Lage, diese Gefahrenquellen unmittelbar zu kontrollieren oder zu beherrschen. Deswegen orientieren sich die Fürsorgepflichten nicht an der Eiwirkung auf die Gefahrenquellen. Inhaltlich legen sie vielmehr den Akzent auf den Schutz der potentiellen Geschädigten.220 In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass eine allgemeine Zuständigkeit dafür, fremde Rechte und Rechtsgüter vor Gefahren aus der Sphäre Dritter zu schützen, der deutschen Rechtsordnung fremd ist.221 Eine andere Be216
Ähnliche Ansicht vgl. Wilhelmi, S. 175 ff.; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 409. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 407. 218 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 a, S. 408; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 22. 219 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 401; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 19; Ulmer, JZ 1969, 163, 170. 220 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 399. 221 BGH NJW 1987, 2510: „Eine allgemeine Rechtspflicht, fremdes Eigentum gegen Gefahren zu schützen … oder Beschädigung zu bewahren, besteht nicht“. Vgl. auch BHGZ 9, 217
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
wertung würde dem Grundprinzip der Selbstverantwortung bzw. der Privatautonomie des Zivilrechts widersprechen. Dies bedeutet, dass die Verantwortung der Fürsorge für fremde Rechte und Rechtsgüter nicht ohne weiteres ausgelöst werden sollte. Fürsorgepflichten können also nur dann in Betracht herangezogen werden, wenn zusätzlich besondere Anhaltspunkte vorliegen, wie z. B. die Übernahme bestimmter Fürsorgeaufgaben oder die Existenz eines ehe- oder familienrechtlichen Verhältnisses, im Rahmen dessen eine Fürsorgepflicht gesetzlich ausdrücklich vorgesehen wird.222 Deshalb erfordert es immer einen größeren Aufwand für die Begründung, warum jemanden eine Fürsorgepflicht treffen soll. Dadurch lässt sich auch erklären, warum die Fürsorgepflichten wesentlich schwieriger zu begründen sind als die Sicherungspflichten. Anschließend ist auf die spezifischen Umstände einzugehen, aus denen sich die Fürsorgepflichten ableiten lassen können. b) Entstehungsgründe für Fürsorgepflichten Hier vertretener Ansicht nach trifft jemanden eine Fürsorgepflicht, wenn er bestimmte Fürsorgeaufgabe übernommen hat. Im Einzelfall kann sich die Aufgabeübernahme auf einen Vertrag, eine gesetzliche Regelung oder sogar ein soziales Naheverhältnis zurückzuführen sein. aa) Vertragliche Übernahme von Fürsorgeaufgaben Die Aufgabe zum Schutz fremder Rechtsgüter kann sich aus dem Abschluss bestimmter Verträge ergeben.223 Deswegen kommt vor allem die vertragliche Übernahme von Fürsorgeaufgaben als ein wichtiger Entstehungsgrund für Fürsorgepflichten in Betracht.224 In den meisten solcher Fälle ist die vertragliche Übernahme von Fürsorgeaufgaben auch mit dem Beruf der Pflichtenträger verbunden (z. B. Ärzte, Kindergärtnerin, Babysitterin, Badmeister, Sportlehrer).225 Dabei 301, 307; BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 156; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 413; Kötz/ Wagner, Rn. 182; v. Bar, S. 112; Mertens, VersR 1980, 397, 401; Czernik, S. 7, 11. 222 „Die deliktische Verantwortlichkeit für den Schutz der Rechtsgüter Dritter ist keine Selbstverständlichkeit, sondern die Ausnahme, die einer besonderen Begründung bedarf.“ MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 410. Vgl. auch Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 25; Staudinger/Hager, § 823 Rn. H 8 ff.; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 b, S. 408; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 103. 223 BGHZ 73, 190, 194; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. H 11. 224 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 411; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 25; Larenz/ Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 b, S. 408. 225 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe RGZ 102, 372; 136, 228; BGH NJW 1962, 959; 1979, 1248; 1980, 392; 2000, 3425; 2005, 1937; vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 411 m.w.N. Im Schrifttum besteht auch heftiger Streit darüber, ob die Aufgabeübernahme oder die Berufsausübung den richtigen Anknüpfungspunkt für die Begründung der Fürsorgepflichten bietet; ausführlich dazu vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 22.
A. Entstehungsgründe für Verkehrspflichten und ihre Kategorisierung
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kommt auch häufig die Frage einer Anspruchskonkurrenz auf, weil in solchen Fälle die deliktischen Fürsorgepflichten und die vertraglichen Schutzpflichten inhaltlich identisch sind.226 Es bleibt noch anzufügen, dass grundsätzlich die Begründung der Fürsorgepflichten unabhängig von der Wirksamkeit solcher Verträge ist.227 Nach der Rechtsprechung kommt es vielmehr darauf an, ob die Fürsorgeaufgaben tatsächlich übernommen werden. Eine Garantenstellung zum Schutz fremder Rechtsgüter kann auch auf rein tatsächliche Übernahme von Fürsorgeaufgaben beruhen, soweit dadurch das Vertrauen der Schutzwürdigen erweckt wird.228 bb) Gesetzliche Regelungen Weiter können die Fürsorgepflichten ihre Grundlage in gesetzlichen Regelungen finden. Die meisten gesetzlich vorgesehenen Fürsorgepflichten stammen aus dem Ehe- oder Familienrecht.229 Dabei kommen insbesondere die elterliche Sorge für die minderjährigen Kinder (§ 1626 I S. 2 BGB) und die Beistandspflicht von Ehegatten untereinander (§ 1353 I BGB) in Betracht. Besonders zu beachten ist hierbei die innere Begründung dieser gesetzlich geregelten Fürsorgepflichten: Formell lassen sie sich durch einschlägige Rechtsvorschriften rechtsfertigen. Materiell schöpfen sie ihre innere Legitimation daraus, dass innerhalb eines konkreten familienrechtlichen Verhältnisses der Vertrauenstatbestand besteht, in persönlichen Notsituationen Hilfe und Beistand zu erhalten.230 cc) Andere vertrauensbildende soziale Nahebeziehungen Die Fürsorgepflichten aus der Eltern-Kind-Beziehung oder der Ehebeziehung sind zwar gesetzlich geregelt. Ihre innere Rechtfertigung ergibt sich dem Grunde nach aus dem Vertrauen des Kindes oder des Ehepartners auf die Fürsorgegewährung der Eltern bzw. des anderen Ehegatten. Aufgrund des Vertrauensschutzes lassen sich Fürsorgepflichten auch aus anderer ähnlichen „sozialen Nahebeziehungen“ ableiten, soweit diese das Vertrauen auf Gewährung von Fürsorge rechtfertigen können.231 Ein gutes Beispiel dafür ist die nichteheliche Lebensge-
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Siehe oben unter „Kapitel 2 B. IV. 3.“. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 411; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 25. 228 Vgl. BGH NJW 1979, 1248, 1249. 229 Beispiele in der Rechtsprechung siehe BGH NJW 1979, 973 f.; 1988, 2667, 2668. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 414; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 25; Bamberger/Roth/ Spindler, § 823 Rn. 7; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 103; Looschelders, SchudR BT, Rn. 1224. 230 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 414 m.w.N. 231 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 414; Soergel/Spickhoff, § 823 Rn. 16; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 103. 227
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meinschaft, durch welche die Lebenspartner in gewissem Maße zum gegenseitigen Beistand verpflichtet sind.232 Darüber hinaus können die freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaften, z. B. Teilnahme an einer Expedition oder Bildung einer Bergsteigergruppe, ebenfalls gegenseitige Fürsorgepflichten der Mitglieder erzeugen.233 Hier spielt immer auch das Vertrauen der Mitglieder zueinander eine entscheidende Rolle. Der Begriff der Gefahrengemeinschaft sollte aber nicht zu weit gefasst werden. Nicht jede einfache Ansammlung von mehreren Menschen lässt sich als Gefahrengemeinschaft qualifizieren. Für ihre Anerkennung in Einzelfällen müssen besondere Umstände berücksichtigt werden. Eine solche Gefahrengemeinschaft wird dann begründet, wenn z. B. bei deren Zusammenschluss sich die Mitglieder konkludent versprechen, dass sie gegebenenfalls auftretende Gefahren voneinander abwenden.234 dd) Allgemeine Fürsorgepflichten aus §§ 138, 323c StGB? Außerhalb der oben genannten ehe- und familienrechtlichen Fürsorgepflichten wird häufig die Frage aufgeworfen, ob die Vorschriften des § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) oder des § 138 StGB (Nichtanzeige geplanter Straftaten) als Schutzgesetze im Sinne des § 823 II zu qualifizieren sind. Bejahendenfalls lässt sich daraus eine Pflicht zum aktiven Schutz von Rechtsgütern anderer, also eine allgemeine deliktsrechtliche Fürsorgepflicht, ableiten. (1) Neue Tendenz in der Rechtsprechung In der deutschen Rechtspraxis sind Urteile zu § 323c StGB relativ selten.235 Früher wurde die Schutzeigenschaft dieser Norm von der Rechtsprechung deutlich abgelehnt.236 Die Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte weist aber eine leichte Tendenz dazu auf, der Vorschrift des § 323c StGB als einem Schutzgesetz im Sinne des § 823 II BGB Anerkennung zu verschaffen. Dafür repräsentativ sind die folgenden angeführten drei Entscheidungen:
232 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. H 10; Bamberger/Roth/Spindler, § 823 Rn. 7; Fikentscher/Heinemann, Rn. 1544. 233 Vgl. Looschelders, SchudR BT, Rn. 1224; Fikentscher/Heinemann, Rn. 1544. Weitere Beispiele dazu siehe Staudinger/Hager, § 823 Rn. H 10. 234 Vgl. Rengier, Strafrecht AT, § 50 Rn. 26; vgl. auch MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 415 m.w.N. 235 Vgl. AnwaltKo StGB/Conen, § 323c Rn. 6. 236 OLG Frankfurt, VersR 1989, 1154 (2. Leitsatz).
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(a) Unterlassende Hilfe bei einer Vergewaltigung (OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. 07. 2004 – I-14 U 24/04) Im Jahr 2004 hat das OLG Düsseldorf in einer Entscheidung die Schutzgesetzeigenschaft des § 323c StGB ausdrücklich anerkannt. Im Ergebnis hat das Gericht den Schmerzensgeldanspruch einer auf der Straße im Auto vergewaltigten Frau gegen diejenigen anerkannt, die nur dabei zugesehen und die notwendige Hilfe unterlassen hatten.237 In dieser Entscheidung hat das Gericht deutlich gemacht, dass die Haftung des untätig Bleibenden derjenigen des Täters gleichkommt. Nach der Ansicht des OLG Düsseldorf soll dies hingenommen werden, weil gemäß §§ 840, 426 BGB der die Hilfe Unterlassende einen Rückgriffanspruch gegen den Haupttäter geltend machen könne.238 (b) Gemeinsame Fahrt zum Drogenkonsum (OLG Hamm, Urteil vom 01. 10. 2004 – 9 U 138/04) In einer Entscheidung des OLG Hamm im Jahr 2005 machte der Kläger, der infolge angeblicher langandauernder Bewusstlosigkeit nach Einnahme von Heroin erhebliche gesundheitlichen Schäden davontrug, Anspruch auf Schmerzensgeld gegen diejenigen, die mit ihm zusammen Drogen konsumierten und ihn zurück nach Hause fuhren.239 Das OLG Hamm wies einerseits deutlich darauf hin, dass keine Garantenstellung zwischen den Parteien durch die Fahrgemeinschaft oder ihren gemeinsamen Heroinkonsum begründet wird.240 Andererseits zog das Gericht einen Schmerzensgeldanspruch des Geschädigten nach § 823 II BGB i. V. m. § 323 c StGB in Betracht ,241 wobei im Ergebnis dieser Anspruch wegen unzureichender Beweise für die akute Notlage bzw. die Hilfebedürftigkeit des Geschädigten abgewiesen wurde. (c) Schüsse bei Wohnungsräumung (BGH, Urteil vom 14. 5. 2013 – VI ZR 255/11) Im Jahr 2014, hat der BGH in einer seiner Entscheidungen zum ersten Mal die Vorschrift § 323c StGB als Schutzgesetz im Sinne des § 823 II BGB anerkannt.242 Diese Entscheidung bezieht sich auf die folgenden Sachverhalt: Der Beklagte hatte die Wohnungsräumung gegen seinen Sohn beantragt, der wegen eines sogenannten Messie-Syndroms fortlaufend Gegenstände sammelte, was nahezu zur vollständigen Vermüllung der Immobilie des Beklagten geführt hatte. Am 237 238 239 240 241 242
OLG Düsseldorf NJW 2004, 3640. OLG Düsseldorf NJW 2004, 3640, 3641. OLG Hamm VersR 2005, 1689. OLG Hamm VersR 2005, 1689 (1. Leitsatz) OLG Hamm VersR 2005, 1689 (2. Leitsatz). BGH NJW 2014, 64.
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Tage der Räumung drohte der Sohn seinem Vater mit einer Pistole und kündigte an, er werde die Räumung schon zu verhindern wissen. Ungeachtet dieser Drohung öffnete der Beklagte die Haustür, als der Gerichtsvollzieher klingelte. Dann wurde der Gerichtsvollzieher von dem Sohn angeschossen. Der dadurch schwer verletzte Gerichtsvollzieher machte daraufhin Schmerzensgeldanspruch gegen den Beklagten geltend.243 Der VI. Senat des BGH war der Ansicht, dass § 323c StGB nicht nur das „Interesse der Allgemeinheit an dem Schutz eines funktionierenden und auf Solidarität beruhenden Gemeinwesens“, sondern auch Individualrechtsgüter schützen sollte.244 Mit diesem Argument hat er aus § 323c StGB eine Pflicht des Normadressaten zum aktiven Schutz von Rechtsgüter des in Not geratenen Hilfebedürftigen begründet. Zu diesem Fall ist noch zusätzlich auf das Urteil der Vorinstanz hinzuweisen: Das Berufungsgericht (OLG Düsseldorf) hatte zwar die Haftung des Unterlassenden nach § 823 II BGB i.V.m. § 323c StGB anerkannt, aber zugleich seine Haftung im Rahmen des § 823 I BGB explizit verneint.245 Der BGH hat im Kern dieser Ansicht des Berufungsgerichts zugestimmt, indem er die Revision des Beklagten gegen das Berufungsurteil abgelehnt hat.246 (2) Der Meinungsstreit In den oben dargestellten Entscheidungen haben die Gerichte tatsächlich einen Versuch gemacht, die Vorschrift des § 323c BGB als Schutzgesetz im Sinn des § 823 II BGB anzuerkennen. Aber sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung ist die gewählte Konstruktion weiter heftig umstritten. Im Schrifttum wird bisweilen die Ansicht vertreten, dass § 323c StGB zwar in erster Linie das allgemeine Interesse, daneben allerdings auch die Individualrechtsgüter der Betroffenen schützen soll.247 Trotz vereinzelter Zustimmung im Schrifttum wird die Schutzgesetzeigenschaft der § 323c StGB aber vom überwiegenden Teil der Literatur abgelehnt.248 Nach der wohl h.M. gehört die in § 323c StGB geregelte Straftat, also die „unterlassene Hilfeleistung“ zu den sog. „echten“ Unterlassungsdelikte, wobei die
243
BGH NJW 2014, 64. BGH NJW 2014, 64. 245 OLG Düsseldorf, BeckRS 2013, 11112. 246 BGH NJW 2014, 64. 247 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 77 III 1 d, S. 441; Canaris, FS Larenz II, S. 57 f.; Soergel/Spickhoff, § 823 Rn. 237; Mertens, AcP 178 (1978) 227, 247. 248 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 416; Staudinger/Hager, § 823 Rn. H 9; Bamberger/ Roth/Spindler, § 823 Rn. 7; BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 136; Ulmer, JZ 1969, 163, 165; Dütz, NJW 1970, 1822, 1824. 244
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Nichtvornahme der gebotenen Handlung als Voraussetzung gilt.249 Die Bestrafung nach § 323c StGB ist unabhängig von den Folgen der Unterlassung, wobei die beim Hilfsbedürftigen eingetretenen Schadensfolgen bei der Strafzumessung in berücksichtigt werden.250 Das bedeutet, dass diese Norm ausschließlich auf die Pönalisierung bestimmten Verhaltens, hier nämlich das Unterlassen notwendiger Hilfeleistung in Notfällen, aber nicht auf die Abwendung der im Rahmen der Notfälle verursachten Schäden abzielt. Die Ansicht, § 323c StGB als Schutzgesetz zu sehen und daraus eine Erfolgsabwendungspflicht herzuleiten, steht also nicht im Einklang mit der strafrechtlichen Unterlassungsdogmatik. Infolgedessen wird von der wohl h.M. vertreten, dass aus § 323c StGB nur eine allgemeine staatsbürgerlichen Handlungspflicht, aber keine Erfolgsabwendungspflicht hergeleitet werden kann.251 Hinsichtlich der Rechtsfolge macht sich der Normadressat des § 323 c StGB wegen seiner unterlassenen Hilfeleistung zwar strafbar, aber nicht schadensersatzpflichtig. Außerdem warnen die Vertreter der wohl h.M. vor der Gefahr, dass mit einer Qualifizierung des § 323c BGB als Schutzgesetz eine allgemeine Fürsorgepflicht zum aktiven Schutz fremder Rechtsgüter begründet würde.252 Eine solche Pflicht könne sich aber nicht nahtlos in das in den §§ 823 ff. BGB angelegte deliktsrechtliche Haftungssystem einfügen. Mit ihrer Anerkennung würde insbesondere die Dogmatik der Verkehrspflichten völlig „über den Haufen geworfen“.253 Dies wird durch das Urteil der Vorinstanz zum vorliegenden dritten Fall („Schüsse bei Wohnungsräumung“) deutlich gezeigt: Das OLG Düsseldorf hatte einerseits die Haftung im Rahmen des § 823 I BGB mit dem Argument verneint, dass der Unterlassende keine Garantenstellung bzw. Handlungspflicht zur Verhinderung des Schadens treffe. Andererseits hatte das Gericht aber aus § 323c StGB die Garantenstellung des Nichthelfenden abgeleitet und damit seine Haftung nach § 823 II BGB festgelegt.254 Hier liegt offensichtlich ein Wertungswiderspruch vor.255 (3) Stellungnahme Hier vertretener Ansicht nach ist der wohl h.M. zuzustimmen, also die Schutzgesetzeigenschaft des § 323c StGB zu verneinen. Es ist nicht zu leugnen, dass nicht nur der Schutz der öffentlichen Sicherheit, sondern der Individualschutz vom Normzweck des § 323c StGB umfasst wird. Daraus kann allerdings nicht ohne weiteres der einfache Schluss gezogen, dass der Unterlassende für die Schäden 249 Schönke/Schröder/Bosch StGB § 13 Rn. 57, 58. Auch die in § 138 StGB geregelte „Nichtanzeige geplanter Straftat“ ist in die sog. „echten“ Unterlassungsdelikte einzuordnen. 250 MüKoStGB/Freund, § 323c Rn. 9 f. 251 MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 417. 252 MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 416. 253 MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 417. 254 OLG Düsseldorf BeckRS 2013, 11112. 255 Loyal, JZ 2014, 306, 308.
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haften solle.256 Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn auf den Gesamtzusammenhang des deutschen Strafrechts und Haftungsrechts Rücksicht genommen wird. Dabei gelten folgende Argumente: (a) Keine Garantenstellung aus § 323c StGB In der Konstellation der unterlassenen Hilfeleistung wird die in § 323c StGB als Voraussetzung geregelte Gefahr bzw. Notlage, welche zu Schadensfolgen führt, tatsächlich nicht von dem Nichthelfenden verursacht. Vielmehr ist sie auf höhere Gewalt oder die Straftat eines anderen Menschen oder sogar auf eine eigene Handlung des Hilfebedürftigen selbst zurückführen.257 Das bedeutet also, dass der Nichthelfende kein Beteiligter am Schadensereignis ist. Es ist aus diesem Grund sachlich nicht gerechtfertigt, ohne weiteres dem Nichthelfenden den nicht von ihm verursachten Schaden zuzurechnen.258 Infolgedessen erscheint es sehr fragwürdig, § 323c StGB als Schutzgesetz anzusehen, weil ansonsten aus § 823 II BGB in Verbindung mit dieser Norm ein Schadensersatzanspruch des Hilfebedürftigen gegen den Nichthelfenden abzuleiten wäre. Im Kontext des deutschen Strafrechts wird ein Unterlassen nur insoweit dem aktiven Handeln tatbestandmäßig gleichgestellt, als der Unterlassende eine Garantenstellung innehat. Liegt die Garantenstellung vor, kann dann nach § 13 StGB i.V.m. der jeweiligen Norm eines konkreten Erfolgsdelikts, wie § 223 StGB (Körperverletzung), dem Unterlassenden sowohl eine strafrechtliche Erfolgsabwendungspflicht als auch eine zivilrechtliche Verkehrspflicht auferlegt werden.259 Nach der traditionellen Strafrechtslehre ist zur Begründung der Garantenstellung erforderlich, dass der Unterlassende in einer besonderer Beziehung entweder zu der abzuwendenden Gefahr oder zu der davon betroffenen Person steht.260 Dementsprechend kann sich die Garantenstellung aus Vertrag, Gesetz, vorangegangenem gefährlichem Tun oder einer enger Lebensbeziehung ergeben. Eine solche Garantenstellung kann allerdings nicht den echten Unterlassungsdelikten wie § 323c, 138 StGB entnommen werden,261 weil der Nichthelfende oder der Nichtanzeigende in der Regel „keinerlei besondere Beziehung zu der Gefahr oder dem Gefährdeten hat“.262
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OLG Frankfurt VersR 1989, 1154. BGH NJW 2014, 64. 258 Loyal, JZ 2014, 306, 308. 259 MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 416. 260 Nomos Kommentar-StGB/Gaede, § 13 Rn. 30 ff. 261 BGHSt 3, 65, 65; BGH NJW 1983, 351; Jescheck in: Leipziger Kommentar, StGB § 13, Rn. 19; BeckOK StGB/Heuchemer StGB § 13 Rn. 84; Schönke/Schröder/Bosch StGB § 13 Rn. 57 f.; Fischer, Strafgesetzbuch, 66. Aufl. 2019, Rn. 13. 262 Loyal, JZ 2014, 306, 308. 257
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(b) Erhaltung der Kohärenz des Systems des Haftungsrechts Selbstverständlich kann man – wie die Gerichte in den oben genannten Entscheidungen – eine neue These streiten, dass aus § 323 StGB eine gesetzliche Garantenstellung hergeleitet werden kann. Bei genauerer Betrachtung ist diese Ansicht aber weder zutreffend noch zur Haftungsbegründung erforderlich. Die Begründung einer solchen allgemeinen Garantenstellung bzw. Fürsorgepflicht ist nur schwer mit dem Grundprinzip der Selbstverantwortung zu vereinbaren. Sie würde zu einer „unabsehbare(n) Ausweitung der deliktischen Haftung“263 führen und ungerechterweise die persönliche Handlungsfreiheit beeinträchtigen: Wen im Rahmen der Verkehrspflichtendogmatik des § 823 I BGB keine Haftung trifft, müsste danach aufgrund der Qualifizierung des § 323c StGB als Schutzgesetz nach § 823 II BGB haftet.264 Aus Perspektive einer extrem liberalen Freiheitsauffassung erscheint schon die Bestrafung der unterlassenen Hilfeleistung nicht völlig unproblematisch, ganz Schweigen von der haftungsrechtlichen Abwälzung des Schadens auf den Nichthelfenden.265 Im Fall, dass die Schäden des Hilfebedürftigen unmittelbar von einem Dritten verursacht werden, ist es ungerechtfertigt, in Bezug auf die Haftung den Nichthelfenden mit dem handelnden Dritten gleichzusetzen.266 Ebenfalls nicht überzeugend ist das vom OLG Düsseldorf angeführte Argument, dass gemäß §§ 840, 426 BGB dem Nichthelfenden eine Regressanspruch gegen den Dritten zusteht.267 In den Einzelfällen könnte es durchaus möglich sein, dass der als „Haupttäter“ gesehene Dritte nicht vorhanden, nicht ermittelbar oder vermögenslos ist. Aber auch davon abgesehen stellt der Regressmöglichkeit überhaupt keinen Rechtfertigungsgrund für die Haftungsbegründung des Nichthelfenden dar. Wie bereits ausgeführt, gibt es ohnehin keinen plausiblen Grund dafür, denjenigen, der nur die Hilfeleistung unterlässt und somit selbst nichts zum Schadenseintritt beiträgt, in gleicher Weise haften zu lassen wie den aktiven Schädiger, der der Schaden herbeigeführt hat.268 Im Rahmen des deutschen Haftungsrechts besteht keine „generelle Haftungslücke“, die notwendigerweise durch Anerkennung der Schutzgesetzeigenschaft des § 323c StGB gefüllt werden muss.269 Vielmehr kann im Rahmen des aktuellen deliktischen Haftungssystems die Problematik der Haftung für Unterlassen gut gelöst werden kann. Genauer gesagt, die Frage, ob der Nichthelfende zur Erfolgsabwendung verpflichtet ist und dann mit der Haftung auf Schadensersatz belastet wird, ist vielmehr im Rahmen der traditionellen Verkehrspflichtendogmatik zu beantworten. 263 264 265 266 267 268 269
Ulmer, JZ 1969, 163, 165, Fn. 29. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 417. Loyal, JZ 2014, 306, 308. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 417. OLG Düsseldorf, NJW 2004, 3640, 3641. OLG Frankfurt VersR 1989, 1154. Loyal, JZ 2014, 306, 308.
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Dabei sind die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen.270 Insbesondere ist zu prüfen, ob der Nichthelfende in einer besonderen Beziehung zu der Gefahr oder dem Hilfebedürftigen steht. Auf dieser Weise wird folgerichtig die innere Kohärenz des deutschen Haftungsrechts erhalten.271 In Bezug auf den vorliegenden Fall „Schüsse bei Wohnungsräumung“ erscheint es nach hier vertretener Ansicht vollkommen überflüssig, die Haftung des Beklagten durch Anerkennung der Schutzgesetzeigenschaft von § 323c StGB zu begründen. Durch den Antrag der Wohnungsräumung wurde bereits eine besondere Beziehung zwischen dem Beklagten und dem geschädigten Gerichtsvollzieher begründet. Es bleibt zwar noch fragwürdig, ob die Vorschriften der §§ 280 ff. BGB für eine solche öffentlich-rechtliche Sonderbeziehung analog anwendbar sind.272 Dennoch kann zumindest sichergestellt werden, dass man mit Hilfe der traditionellen Verkehrspflichtendogmatik eine Garantenpflicht des Beklagten herleiten und damit seine Haftung für den Geschädigten begründen kann. Abschließend ist noch zu verdeutlichen, in welchem Verhältnis die Verkehrsplicht zu den tatsächlichen Verhaltensanforderungen der genannten strafrechtlichen Gebote steht. Aufgrund der vorliegenden Ausführungen ist es klar, dass in den Vorschriften der §§ 323c, 138 StGB bestimmte öffentlich-rechtliche Handlungspflichten geregelt werden. Aber ohne weiteres kann man daraus nicht ableiten, dass den Normadressaten auch die zivilrechtlichen Verkehrspflichten obliegen. Dies macht aus einer anderen Perspektive verständlich, dass sich die Verkehrspflicht von einer „echten“ Verhaltenspflicht entkoppelt.
B. Adressat von Verkehrspflichten I. Allgemeines 1. Träger der Sicherungspflichten Die Verkehrspflichten treffen vor allem diejenigen, die Gefahrenquellen schaffen oder andauern lassen. Dieser Grundsatz gilt durchgängig für alle Sicherungspflichten, die zur Beherrschung oder Beseitigung der Gefahrenquellen dienen. Deshalb ist zur Bestimmung der Träger von Sicherungspflichten stets zu prüfen, wer die Einwirkungsmöglichkeit auf die Gefahrenquellen hat.
270
Im Einzelfall kommt dabei z. B. die Fähigkeit des Betroffenen zur Abwendung des schädigenden Erfolgs in Betracht; vgl. BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 136; Staudinger/Hager, § 823 Rn. H 9. 271 Loyal, JZ 2014, 306, 308; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 417. 272 Loyal, JZ 2014, 306, 309.
B. Adressat von Verkehrspflichten
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Bei sachbezogenen Sicherungspflichten steht die tatsächliche Bestimmungsgewalt über die Sachen im Vordergrund.273 Dies stimmt auch mit dem Grundgedanken der in §§ 836 ff. BGB gesetzlich geregelten Verkehrspflichten überein.274 Dementsprechend sind die sachbezogenen Sicherungspflichten nicht ausschließlich mit dem Eigentum an den Sachen verbunden. In der Praxis treffen solche Pflichten nicht selten die Halter oder Besitzer der Sachen (z. B. Mieter, Verwalter).275 Nach der Rechtsprechung des BGH können die sachbezogenen Sicherungspflichten unter Umständen sogar auch für Nichtbesitzer gelten.276 Bei den verhaltensbezogenen Sicherungspflichten stellen bestimmte Tätigkeiten, z. B. Erbringung von Dienstleistungen, Veranstaltung einer Reise, die Gefahrenquellen dar. Grundsätzlich sind diese Pflichten denjenigen aufzuerlegen, die diese Tätigkeiten durchführen oder ausüben.277 Knüpft die Sicherungspflicht an ein vorangegangenes gefährliches Tun an, wird sie selbstverständlich denjenigen treffen, der das gefährliche Verhalten vorgenommen hat. Wie oben schon erwähnt, müssen die Gefahren, die von bestimmten Personen ausgehen, wie z. B. von Minderjährigen, Geisteskranken und Mitarbeitern, ebenfalls kontrolliert werden. Dementsprechend treffen die dadurch entstehenden personenbezogenen Sicherungspflichten diejenigen, welchen die Beaufsichtigung bzw. Überwachung über solche Personen obliegt. Dabei kommen vor allem die gesetzlich Aufsichtspflichtigen und Geschäftsherren in Betracht. 2. Träger der Fürsorgepflichten Die Situation sieht aber ganz anders aus, wenn es sich um die andere Grundkategorie der Verkehrspflichten, also die Fürsorgepflichten, handelt. Da die Träger der Fürsorgepflichten gerade nicht die Verursacher von Gefahrenquellen sind, kann der oben beschriebene Grundsatz, noch weiter gelten. Diejenigen, die ihre Fürsorgepflichten nicht erfüllen, lassen vielmehr die Gefahrenquelle andauern. Aufgrund ihrer besonderen Entstehungsgründe sind die Fürsorgepflichten einerseits denjenigen aufzuerlegen, welche Fürsorgeaufgaben übernommen haben. Andererseits können die Fürsorgepflichten auch diejenigen treffen, die aufgrund
273
Vgl. RGZ 54, 53, 56; BGH NJW 1975, 108; VersR 2006, 803, 804; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 55; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 20; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 a, S. 408 m.w.N. 274 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 55; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 462; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 50. 275 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGHZ 5, 378; BGH NJW 1975, 533; 1984, 801; NJW-RR 1988, 89. 276 Vgl. z. B. BGH JZ 1954, 63. 277 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGH NJW 1976, 46; 1984, 234; 1995, 1150; 2000, 1188; 2006, 3268.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
gesetzlicher oder anderer vertrauensbildender sozialer Nahebeziehungen zum Schutz fremder Rechtsgüter verpflichtet sind.
II. Einzelfragen In der Praxis treten nicht selten solche Fälle auf, in denen nach dem oben angegebenen Kriterium bestimmt wird, dass die Verkehrspflichten nicht nur eine einzige, sondern mehrere Personen treffen.278 Hieraus ergeben sich einige besondere Fragen, die noch eingehender Analyse bedürfen: In erster Linie ist es erforderlich, näher zu klären, wann die gleiche Verpflichtung mehrere Personen trifft. Beim Nebeneinanderstehen mehrerer Verkehrspflichtigen ist insbesondere zu prüfen, ob und wie sich ihre jeweilige Pflichterfüllung im Verhältnis zueinander auswirken kann. Darüber hinaus spielt auch die Übertragung bzw. Umwandlung der Verkehrspflichten eine wichtige Rolle für die Bestimmung der Pflichtigen.279 Wenn im Einzelfall ein Dritter zur Erfüllung von Verkehrspflichten eingeschaltet wird, muss man nach den konkreten Umständen beurteilen, ob ein Nebeneinanderstehen von mehreren Verkehrspflichtigen oder eine Übertragung der Verkehrspflichten vorlieget. Aber im Hinblick auf die Rechtsfolgen sind das Nebeneinanderstehen mehrerer Verkehrspflichtigen und die Übertragung der Verkehrspflichten von unterschiedlichen Bedeutungen für die originären Verkehrspflichtigen. Im Folgenden sind ihre jeweiligen Voraussetzungen und die voneinander unterschiedlichen Rechtfolgen zu erörtern. 1. Nebeneinanderstehen mehrerer Verkehrspflichtigen a) Überblick Die Rechtsprechung zeigt auf, dass in einer Vielzahl von Fällen mehr als ein Verkehrspflichtiger besteht.280 Hier ist die Frage von entscheidender Bedeutung, ob die mehreren Verkehrspflichtigen identische Verantwortungsbereiche oder gemeinsame Fürsorgeaufgaben haben. Dies ergibt sich überwiegend aus dem Umstand, dass mehrere Personen für die Sicherung ein und desselben räumlich-gegenständlichen Bereiches zuständig sind.281 278 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 56; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 52; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 463. 279 Vgl. Deutsch/Ahrens, S. 126, Rn. 351. 280 Dazu siehe z. B. BGHZ 5, 378; 68, 169; BGH NJW 1985, 484; 1996, 2646; VersR 1985, 641; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 56 m.w.N. 281 Diese Situation wird von Larenz/Canaris als „konkurrierende Zuständigkeit mehrerer Verkehrspflichtiger“ bezeichnet; vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 5 a, S. 418.
B. Adressat von Verkehrspflichten
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Meistens handelt es sich um das Zusammentreffen von Sicherungspflichten in Bezug auf dieselbe Gefahrenquelle. Der Zurechnungsgrund könnte sich daraus ergeben, dass alle Verkehrspflichtigen gemeinsam eine Gefahrenquelle eröffnen bzw. andauern lassen. So gilt z. B. die Räum- und Streupflicht mehrerer Miteigentümer eines Grundstücks282 oder die Sicherungspflicht von Bauherrn, Bauunternehmer und Architekten bei Einrichtung eines Bauwerks.283 Weiter kann sich das Nebeneinanderstehen von mehreren Verkehrspflichtigen auch aus gleichen Fürsorgeaufgaben ergeben. Haben mehrere Personen für den Schutz fremder Rechtsgüter Sorge zu tragen, dann sind sie nebeneinander fürsorgepflichtig. Außerdem ist auch eine solche Situation denkbar, in der Sicherungspflicht und Fürsorgepflicht zusammentreffen. Es kommt häufig vor, dass die Gefahrenquelle von einem der Verkehrspflichtigen geschafft und von einem anderen weiter bestehen gelassen wird. Hier sind also einerseits der Sicherungspflichtige zur Gefahrenkontrolle und andererseits der Fürsorgepflichtige zum Rechtsgüterschutz verpflichtet. Haben die beiden ihre jeweilige Pflicht nicht eingehalten, dann sind sie zusammen für den Schaden des Geschädigten verantwortlich. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass in diesem Zusammenhang das Unterlassen jedes einzelnen Pflichtenträgers voll kausal für die Verletzungsfolgen ist.284 Hier ist dem Grunde nach jeder Verkehrspflichtige allein für sich verantwortlich.285 Es ist dementsprechend separat zu prüfen, ob die entsprechenden Zurechnungsgründe bei jedem möglichen Verantwortlichen vorliegen. b) Aufteilung der Verkehrspflichten Wie bereits angedeutet, kommt es beim Nebeneinanderstehen von mehreren Verkehrspflichtigen darauf an, ob diese die gleichen Verantwortungsbereiche oder Fürsorgeaufgaben haben. In Einzelfällen ist deshalb die Frage zu prüfen, ob und ggf. wie die Zuständigkeiten zwischen mehreren möglichen Verantwortlichen konkret aufgeteilt sind. Dies ist selbstverständlich nach Maßgabe der besonderen Umstände jedes Einzelfalls festzulegen, wobei insbesondere die gesetzlichen Vorschriften und die Vereinbarungen zwischen den Betroffenen zu berücksichtigen sind. Die Verantwortungsbereiche sind aber in der Praxis nicht immer klar und deutlich abgegrenzt. Zwischen mehreren möglichen Verkehrspflichtigen könnten Streitigkeiten über die Zuständigkeitsaufteilung entstehen. Solche Streitigkeiten sind 282
BGH NJW 1985, 584; OLG Hamm VersR 2002, 1299 f.; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 56. 283 BGH NJW 1970, 2290; 1987, 1013; 1997, 582.; vgl. Kleindiek, S. 428 ff. m.w.N; MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 463. 284 Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 184. 285 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 51.
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meistens auf eine Übertragung der Verkehrspflichten oder einen Wechsel der Pflichtenträger zurückzuführen.286 Wenn fehlerhafterweise niemand der Verkehrspflicht nachkommt, dann liegt die Frage nahe, wer überhaupt verantwortlich sein soll. Dabei ist stets der Schutz der Geschädigten in den Vordergrund zu stellen.287 Ansonsten würden der Sinn und Zweck der Verkehrspflichten schlicht ausgehöhlt. Dies wird auch in der Rechtsprechung des BGH anerkannt. In einem Urteil hat der BGH deutlich darauf hingewiesen, dass der Streit über Zuständigkeiten für einen Bereich nicht zur Nicht-Erfüllung der Verkehrspflicht durch keinen führen dürfe.288 Bei unklarer Aufteilung von Zuständigkeiten sollten die nachteiligen Rechtsfolgen nicht den Geschädigten sondern die möglichen Verantwortlichen treffen.289 Welche konkreten Rechtsfolgen sich daraus ergeben, hängt von den jeweiligen Umständen ab.290 c) Rechtsfolge Haben in ein und demselben Schadenereignis mehrere Personen die Verkehrspflichten verletzt, ist zwar die Haftung jedes Einzelnen, wie oben festgestellt, selbständig zu begründen. Aber als spezifische Rechtsfolge werden mehrere Verkehrspflichtige der solidarischen Haftung unterworfen. Nach § 840 I BGB sind alle nebeneinanderstehenden Verkehrspflichtigen im Außenverhältnis gegenüber Geschädigten als Gesamtschuldner für den Schaden verantwortlich. Es ist eindeutig erkennbar, dass diese Regelung dazu dient, den Geschädigten einen besseren Schutz zu bieten. Im Rahmen der solidarischen Haftung hat jeder einzelne Pflichtenträger in vollem Umfang für den entstandenen Schaden einzustehen. Hierdurch wird eine chancenreichere Durchsetzbarkeit der Forderung der Geschädigten auf Schadensersatz gewährleistet.291 Im Innenverhältnis mehrerer Verkehrspflichtigen zueinander können Ausgleichs- bzw. Regressmög-
286
Vgl. BGH NJW 1972, 1321, 1323. Vgl. MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 463. 288 „Schon bei Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen mehreren möglichen Verantwortlichen … hat die Rechtsprechung stets ausgeführt, dass nach Sinn und Zweck der Verkehrssicherungspflichten solche Streitigkeiten nicht dazu führen dürfen, dass zunächst niemand tätig wird“; BGH NJW 1972, 1321, 1323. Ähnliche Fälle in der deutschen Rechtsprechung siehe auch BGHZ 31, 213; BGH VersR 1959, 711; 1961, 550; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 57 m.w.N. 289 Vgl. MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 463. 290 Treten beispielweise die Unklarheit bezüglich der Zuständigkeiten bei Pflichtenübertragung auf, dann muss der ursprüngliche Verkehrspflichtige noch zur Gefahrenkontrolle verpflichtet bleiben. Detailliert zur Übertragung von Verkehrspflichten siehe unten unter „Kapitel 3 B. II. 2.“. 291 Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 184. 287
B. Adressat von Verkehrspflichten
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lichkeiten entstehen. Hierzu kommt grundsätzlich die Vorschrift des § 426 I BGB zur Anwendung. Jeder Verkehrspflichtiger kann sich selbstverständlich nicht damit exkulpieren, dass noch andere Personen zur Verkehrssicherung verpflichtet sind und für die Schäden verantwortlich bleiben.292 Hat aber einer der Pflichtenträger seinerseits die betreffende Verkehrspflicht erfüllt, können sich die anderen darauf berufen und damit von der Haftung befreien.293 Der BGH hat dies in einem seiner Urteile anerkannt und dies wie folgt begründet: Es bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen dem Schadenereignis und der Unterlassung desjenigen, der die Verkehrspflicht nicht einhält.294
2. Übertragung und Umwandlung von Verkehrspflichten a) Einführung in die Problematik aa) Übertragung von Verkehrspflichten Im Rahmen dieser Arbeit werden als Übertragung von Verkehrspflichten solche Fälle verstanden, in denen die Verkehrspflichtigen nicht persönlich, sondern durch Einschaltung Dritter den sie betreffenden Pflichten nachkommen.295 In der Literatur wird dies mancherorts auch als „Delegation von Verkehrspflichten“ bezeichnet.296 Die Übertragung von Verkehrspflichten ist in der Rechtspraxis besonders häufig anzutreffen.297 Selbstverständlich setzt die Übertragung einer Verkehrspflicht vor allem voraus, dass diese Pflicht übertragbar ist. In der Regel sind die Verkehrspflichten nicht von höchstpersönlicher Natur.298 Daher halten sowohl die Lehre als auch die Rechtsprechung es für zulässig, die Verkehrspflichten an Dritte zu delegieren. Außerdem 292
Vgl. BGH NJW 1990, 905, 906. Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 51. 294 BGH VersR 1975, 949, 950: „Ist aber der Zweitbeklagte im Streitfall durch eine entsprechende Warnung des Silofahrers seiner Verkehrssicherungspflicht nachgekommen sowie derjenigen der Erstbeklagten, dann scheidet auch eine Haftung des Drittbeklagten aus, da dann die von ihm unterlassene Verkehrssicherung nicht mehr ursächlich für den Unfall geworden ist“. 295 Der Umfang der Problematik, die sich auf das Thema „Delegation bzw. Übertragung von Verkehrspflichten“ bezieht, ist sehr groß riesig. Im Rahmen dieser Arbeit soll die Untersuchung nur auf die Übertragung von Verkehrspflichten auf selbständigen Dritten beschränkt werden. Aus räumlichen Gründen wird hier die besondere Problematik der Übertragung von Verkehrspflichten im Rahmen von Unternehmen nicht behandelt. 296 Vgl. z. B. MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 464; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 52; Deutsch/Ahrens, Rn. 351. 297 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGH NJW 1987, 2671; 1996, 2646; 2006, 3628; VersR 1989, 526; 2008, 505. 298 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 5 c, S. 419. 293
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scheint die Übertragung von Verkehrspflichten nötig zu sein, wenn die originären Pflichtenträger ihre Pflichten wegen z. B. Krankheit oder Ortsabwesenheit nicht persönlich erfüllen können.299 In bestimmten Fällen können die Verkehrspflichten sogar nur dadurch korrekt erfüllt werden, dass die Pflichtigen kompetente Fachleute mit den Gefahrenabwehroder Fürsorgeaufgaben betrauen.300 Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen für die Gefahrenkontrolle oder den Rechtgüterschutz spezielle Fähigkeiten und Kenntnisse verlangt werden. bb) Umwandlung von Verkehrspflichten Im Schrifttum wird die folgende Ansicht vielfach vertreten: Bei der Übertragung von Verkehrspflichten handele es sich eigentlich nicht darum, dass die Verkehrspflichten als solche auf Dritte übertragen werden. Bei genauerer Betrachtung stellten vielmehr die konkreten Angelegenheiten bzw. Aufgaben in Folge der Verkehrspflichten, z. B. die Sicherungskontrolle, Gefahrenabwehr oder Schutzgewährung, den echten Gegenstand der Übertragung dar.301 Dies könnte für die überwiegende Mehrheit der Fälle der Übertragung von Verkehrspflichten gelten. Infolgedessen ist hier dieser Ansicht zuzustimmen. Da nicht die Verkehrspflichten selbst, sondern die entsprechenden Aufgaben übertragen werden, kann sich der ursprüngliche Verkehrspflichtige grundsätzlich nicht vollständig von seiner Haftung befreien lassen.302 Er ist vielmehr weiter dazu verpflichtet, den Übernehmer vorsichtig auszuwählen, ihm die betroffenen Informationen richtig zu geben, und seine sorgfältige Überwachung durchzuführen.303 Es lässt sich somit feststellen, dass sich durch die Übertragung die originäre Verkehrspflicht bereits in eine neue Pflicht umgewandelt hat.304 Nur in Ausnahmefällen ist es möglich, bestimmte Verkehrspflichten mit völliger Entlastung der originären Pflichtigen auf Dritte zu übertragen. Zu nennen ist hier beispielsweise die öffentlich-rechtliche Streupflicht des Grundstückeigentümers. Er 299
Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 351. Vgl. MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 465; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 52; Larenz/ Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 5 c, S. 420 f. 301 Nach der Ansicht von Larenz/Canaris bedeutet die Einschaltung Dritter „zur Vornahme von Gefahrabwendungsmaßnahmen“ nicht die Übertragung oder Delegation von Verkehrspflichten; sie betrifft vielmehr die Art und Weise, in welcher die Verkehrspflichtigen ihre Pflichten erfüllen; vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 5 c, S. 419; vgl. auch Kleindiek, S. 401. 302 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 5 c, S. 420; v. Bar, S. 270 ff. 303 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 59; MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 469. Dies wird auch von der Rechtsprechung anerkannt; vgl. z. B. RGZ 132, 51, 59; BGHZ 110, 114, 121; 149, 206, 212; BGH NJW 2006, 3628, 3629; 2008, 1440, 1441. 304 Vgl. MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 469; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 59; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 57; Deutsch/Ahrens, Rn. 351. 300
B. Adressat von Verkehrspflichten
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kann diese Pflicht an seinen Mieter delegieren. Wenn die zuständige Gemeinde dieser Übertragung zugestimmt hat, wird der Eigentümer sich völlig aus seiner Haftung entlassen.305 b) Vertrauensschutz als Grundsatz Wie bei jeder anderen Problematik bezüglich der Verkehrspflichten, gilt auch hier der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Dabei ist nicht nur die berechtigte Erwartung des originären Verkehrspflichtigen sondern auch das schutzwürdige Vertrauen des Rechtsverkehrs in Betracht zu ziehen. Funktionell gesehen sind das Vertrauen des Verkehrs und das Vertrauen des originären Verkehrspflichtigen aber unterschiedlich. Beide unterscheiden sich fundamental hinsichtlich der Rechtsfolge: Das Vertrauen des Verkehrs erklärt sich daraus, dass der Übernehmer nach Außen für den Schaden des geschützten Dritten haften soll. Demgegenüber stellt das Vertrauen des originären Verkehrspflichtigen die Legitimationsgrundlage dafür dar, warum er anstatt der eigenen Durchführung von Schutzmaßnahmen nur für die Anweisung und Überwachung verantwortlich ist.306 Außerdem kann das Vertrauen des originären Verkehrspflichtigen auch Einfluss darauf haben, wie die Haftung zwischen ihm und dem Übernehmer endgültig aufgeteilt wird. aa) Berechtigte Erwartung des originären Verkehrspflichtigen Vor allem ist darauf hinzuweisen, dass der originäre Verkehrspflichtige ein berechtigtes Vertrauen auf die neue Zuständigkeits- bzw. Aufgabenverteilung hat, die sich aus der Übernahme der Verkehrspflichten ergibt. In der Tat hat der Übernehmer durch sein Versprechen oder sein Verhalten den originären Verkehrspflichtigen von der Erfüllung dessen primärer Pflicht abgehalten.307 In diesem Zusammenhang könnte der originäre Verkehrspflichtige mit Fug und Recht behaupten, dass sich seine primäre Verkehrspflicht bereits aufgelöst und in einer Auswahl-, Anweisungs- bzw. Aufsichtspflicht umgewandelt hat. Konkreter gesagt, dürfte sich der originäre Verkehrspflichtige auf das Tätigwerden des Übernehmers verlassen.308 Aufgrund dessen könnte der originäre Verkehrspflichtige konkrete Abwehrmaßnahmen gegen die Gefahren oder unmittelbare Schutzvorkehrungen für den Geschädigten unterlassen, und stattdessen nur bei der
305 Vgl. BGH NJW 1972, 1321, 1322; 1990, 111, 112; Deutsch/Ahrens, Rn. 351; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 52 m.w.N. 306 Vgl. Kleindiek, S. 407 ff. 307 Vgl. Kleindiek, S. 411. 308 Vgl. Kleindiek, S. 411; Ulmer, JZ 1969, 163, 171.
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Auswahl, Anweisung und Aufsicht des Übernehmers die notwendige Sorgfalt anwenden.309 In einem Urteil konfrontiert sich der BGH mit dem folgenden Sachverhalt: Das Räumen und Streuen einer öffentlichen Straße, wozu die zuständige Gemeinde an sich originär verpflichtet gewesen wäre, wurden schon seit langer Zeit von den Straßenanliegern ausgeübt. Dabei hat der BGH ausdrücklich festgestellt, dass die Streupflicht auf die Straßenanlieger abgewälzt wurde.310 In diesem Fall bestand zwischen der Gemeinde und den Straßenanliegern allerdings kein Vertrag über die Abwälzung. Die Abwälzung der Streupflicht konnte auch nicht aus einer Polizeiverordnung entnommen werden. Der BGH geht vielmehr davon aus, dass die langdauernde faktische Übernahme der Streupflicht bereits ein örtliches Gewohnheitsrecht geworden war. Die Begründung dafür beruht unmittelbar auf dem Prinzip des Vertrauensschutzes: Während der langfristigen Durchführung des Winterdienstes durch sie hatten die Straßenanlieger keinen Widerspruch dagegen erhoben. Daraus war somit bereits die gemeinsame Überzeugung entstanden, dass sie zum Winterdienst verpflichtet waren.311 bb) Vertrauen des Verkehrs Nur das Vertrauen des originären Verkehrspflichtigen reicht noch nicht aus, um die Übernehmerhaftung zu legitimieren. Daneben ist auch erforderlich, das Vertrauen des Verkehrs deutlich zu akzentuieren. Das Vertrauen des Verkehrs ist die notwendige Folge der Übernahme der Verkehrspflicht. Dadurch tritt der Übernehmer in das Vertrauensverhältnis ein, das zwischen dem originären Verkehrspflichtigen und den potentiellen Geschädigten vorliegt.312 Aus der Perspektive der potentiellen Geschädigten wird objektiv die gerechtfertigte Erwartung darauf geweckt, dass der Übernehmer die Gefahren abwehren und ihnen den notwendigen Schutz gewähren wird.313
309 Vgl. BGH NJW 1990, 111, 112; 2008, 1440, 1441; VersR 1989, 526, 527; Kleindiek, S. 408 m.w.N. 310 Vgl. BGH VersR 1969, 377, 378. 311 BGH VersR 1969, 377, 378: „Rechtsbildend ist eine Gewohnheit dann, wenn sie sich durch langdauernde Übung äußerlich betätigt und wenn sie auf der ernstlichen gemeinsamen Überzeugung beruht, dass damit Recht geübt werde (RGZ 75, 40, 41).“ 312 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 54; v. Bar, S. 120 ff.; Mertens, VersR 1980, 397, 398. 313 Vgl. Kleindiek, S. 410 f.; Ulmer, JZ 1969, 163, 171.
B. Adressat von Verkehrspflichten
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c) Gegenseitiges Einverständnis hinsichtlich der Übertragung von Verkehrspflichten Nach überwiegender Ansicht im Schrifttum setzt die Übertragung von Verkehrspflichten voraus, dass sich der originäre Verkehrspflichtige (Übertragende) und der Dritte (Übernehmer) über die Übertragung bzw. Übernahme von Verkehrspflichten geeinigt haben.314 Deshalb reicht es ganz gewiss nicht aus, wenn nur der Übertragende selbst in der einseitigen Erwartung steht, dass die Verkehrspflichten von Drittem übernommen werden.315 In der Rechtsprechung wird diese Voraussetzung auch immer wieder betont.316 Dies zielt vor allem darauf ab, die Vermeidung von Gefahren zuverlässig sicherzustellen. Es wird gefordert, dass eine solche Vereinbarung eindeutig ist. Insbesondere dürfen keinerlei Zweifel für den Übernehmer bestehen, in welchem Umfang er die betreffenden Aufgaben bzw. Tätigkeiten wahrnehmen muss. aa) Durch ausdrückliche Vereinbarung (1) Allgemeines In einer Vielzahl von Fällen wird die Vereinbarung zur Übertragung von Verkehrspflicht in ausdrücklicher Form getroffen. Dabei sind die folgenden Punkte zu beachten: Vor allem ist festzustellen, ob beide Seiten in Bezug auf die Übertragung von Verkehrspflichten übereinstimmt haben. Dabei sind die Grundregeln zur Auslegung der Willenserklärung entsprechend anzuwenden.317 Auch wenn beide Seiten bereits eine Vereinbarung bezüglich Übertragung bestimmter Rechte und Pflichten getroffen haben, ist noch eingehend zu prüfen, ob darin die betroffenen Verkehrspflichten ebenfalls enthalten sind.318 Außerdem sollte den konkreten übertragenen Aufgaben sowie dem zeitlichen und räumlichen Umfang der Übertragung besondere Beachtung zukommen. Eine par314 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 59; MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 468; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 53. 315 BGH VersR 1988, 516, 517; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 64; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 53. 316 Vgl. BGH NJW 1996, 2646; NJW-RR 2005, 464, 465; VersR 1988, 516, 517. 317 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 64. 318 Das am häufigsten genannte Beispiel dafür ist eine solche Vereinbarung, nach welcher sowohl die Nutzungen als auch die Lasten aus einem Grundstück „schon vor dem Eigentumserwerb“ vom ursprünglichen Eigentümer auf den Käufer übergehen sollen; allerdings erstreckt sich die Übertragung nicht auf die öffentlich-rechtliche Räum- und Streupflicht, die grundsätzlich mit dem Grundstückeigentum verbunden ist, weil diese Pflicht nicht als „Lasten aus dem Grundstück“ im üblichen Sinne zu begriffen werden kann; vgl. BGH NJW 1990, 111, 112; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 64; Soergel/Krause, § 823Anh. II Rn. 53; MükoBGB/ Wagner, § 823 Rn. 582.
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tielle oder mehrstufige Übertragung der Verkehrspflichten ist durchaus möglich. In der Praxis ist es nicht selten anzutreffen, dass die Verkehrspflichten nicht in ihrem vollen Umfang sondern nur teilweise an Dritte delegiert werden.319 Außerdem sollte noch berücksichtigt werden, wie die Verantwortungsbereiche zwischen beiden Seiten aufgeteilt werden. Es könnte möglich sein, dass der Übertragende nach wie vor Adressat der Verpflichtung bleibt und gemeinsam mit dem Übernehmer die Verantwortung trägt.320 (2) Unabhängigkeit der Übertragung von der Wirksamkeit des zugrundelegenden Rechtsgeschäfts In der Regel wird die Übertragungsvereinbarung durch ein Rechtsgeschäft getroffen. Dies geschieht meistens in Form eines Vertrages zwischen dem originären Verkehrspflichtigen und dem Übernehmer.321 Insbesondere in Mietverträgen finden sich derartige Klauseln, in denen festgelegt ist, dass bestimmte Verkehrspflichten, wie etwa die Streu- und Räum- oder die Beleuchtungspflicht, auf den Mieter übertragen werden.322 Die Übertragung dieser Pflichten ist auch durch eine entsprechende Vorschrift in der Hausordnung möglich, sofern diese als Bestandteil des Mietvertrages angesehen werden kann. Außerdem kann die Übertragung bestimmter Verkehrspflichten auch durch Gemeindesatzung erfolgen.323 Nach heutiger Rechtsprechung kann die Übertragung von Verkehrspflichten allerdings nicht an der Unwirksamkeit des zugrundlegenden Rechtsgeschäfts scheitern.324 Für die Pflichtenübertragung ist die Wirksamkeit der Willenserklärungen nicht entscheidend. Auch wenn sich der zugrundliegende Vertrag als unwirksam erwiesen hat, bleibt die Übertragung von Verkehrspflichten weiterhin gültig, soweit ein faktisches Einverständnis darüber erreicht wird.325
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Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGHZ 110, 114; BGH NJW 1987, 2669; VersR 1993, 198. vgl. MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 467; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 54; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 59. 320 Vgl. z. B. BGH NJW 1982, 2187; OLG Köln VersR 1995, 720 f.; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 59. 321 Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 351. 322 Vgl. Hitpaß/Kappus, NJW 2013, 565, 569 f.; MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 582 ff. 323 Dabei handelt es sich unter anderem um die Übertragung der Räum- und Streupflicht für öffentliche Straßen und Gehwege. Die zuständigen Gemeinden können diese Pflicht durch ihre Satzung auf die Straßenanlieger abwälzen. Vgl. BGH NJW 1992, 2476, 2477; OLG Dresden VersR, 2001, 868, 870. 324 BGH NJW 1959, 34, 35; 2008, 1440; 1441; NJW-RR 1989, 394, 395; VersR 1989, 526. Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 59; BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 129; Merterns, VersR 1980, 397, 408; Ulmer, JZ 1969, 163, 172. Ausführlich zur Umwandlung der Judikatur vgl. MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 466 f.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 53. 325 Vgl. MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 467; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 59; v. Bar, S. 121.
B. Adressat von Verkehrspflichten
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In den Einzelfällen können sowohl die Übernahme der Zuständigkeit als auch die Durchführung von Schutzmaßnahmen die faktische Übernahme der Verkehrspflichten begründen.326 Der ausschlaggebende Faktor ist allein, dass durch die faktische Übernahme der Tätigkeiten das Vertrauen des originären Verkehrspflichtigen erweckt wird. bb) Durch konkludentes Verhalten Auch wenn eine ausdrückliche Vereinbarung hinsichtlich der Übertragung von Verkehrspflichten fehlt, besteht noch die Möglichkeit, dass beide Seiten durch schlüssiges Verhalten zur Übertragung von Verkehrspflichten gelangen.327 In der Regel kommt eine stillschweigende Übertragung von Verkehrspflichten in Betracht, wenn die konkreten Aufgaben und Tätigkeiten im Rahmen der Verkehrspflichten bereits vom Dritten erledigt werden und der originäre Pflichtige dies ohne jeglichen Widerspruch akzeptiert hat.328 Um eine Lücke in der Gefahrenkontrolle bzw. Schutzgewährung zu vermeiden, sind bei der stillschweigenden Absprache höhere Anforderungen an die Verständlichkeit und Eindeutigkeit zu stellen. Daher ist die Übertragung von Verkehrspflichten insbesondere abzulehnen, wenn es im konkreten Einzelfall spezielle Umstände gibt, die gegen eine klare Aufteilung und Abgrenzung der Verantwortungsbereiche sprechen.329 d) Rechtsfolge der Übertragung von Verkehrspflichten aa) Haftung des Übernehmers gegenüber dem Geschädigten Durch die Übertragung ist der Übernehmer Träger der Verkehrspflicht geworden. Der Zurechnungsgrund ist unmittelbar die tatsächliche Übernahme von Aufgaben, welche von dem originären Verkehrspflichtigen (Übertragenden) hätten geleistet werden müssen. Der Übernehmer ist also zur Durchführung bestimmter Maßnahmen verpflichtet, um Gefahren zu vermeiden oder zu beseitigen.330 Bei fahrlässiger Verkehrspflichtverletzung kommt selbstverständlich eine deliktische Haftung nach § 823 I BGB in Betracht.
326
Vgl. BGH NJW-RR 1989, 394, 395; NJW 2008, 1440, 1441. Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGH NJW 1985, 270; OLG Stuttgart NJW-RR 2007, 739. 328 Vgl. Ulmer, JZ 1969, 163, 172 f. 329 Vgl. z. B. OLG Hamm VersR 2000, 862. 330 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 63. 327
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
bb) Haftung des originären Verkehrspflichtigen gegenüber dem Geschädigten Hinsichtlich der Frage, ob und inwiefern der originäre Verkehrspflichtige gegenüber dem Geschädigten haftet, stellt sich die Lage ein wenig komplizierter dar. Dies lässt sich aus folgenden beiden Perspektiven betrachten: (1) Haftung wegen Verletzung der umgewandelten neuen Pflicht Für den originären Pflichtenträger ist seine Verkehrspflicht, wie oben skizziert, durch die Übertragung eigentlich in eine neue Pflicht umgewandelt worden. Er muss zwar nicht selbst Maßnahme zur Gefahrenvermeidung oder -abwendung zu ergreifen, aber ihn treffen weiterhin Pflichten, die hauptsächlich die ordentliche Auswahl, Anweisung und Aufsicht zum Inhalt haben. Bei Auswahl des Übernehmers muss vor allem sorgfältig überprüft werden, ob der Übernehmer über die erforderliche Kenntnissen bzw. Fähigkeiten zur Gefahrenvermeidung oder -abwendung verfügt. Unter Umständen muss der originäre Verkehrspflichtige bei Pflichtenübertragung auch die Zahlungsfähigkeit (Solvenz) des Übernehmers in Bedacht nehmen.331 In der Regel ist der originäre Verkehrspflichtige auch dazu verpflichtet, dem Übernehmer klare Anweisung bzw. richtige Informationen zu erteilen. Dies gilt insbesondere, wenn es Zweifel daran gibt, ob der Übernehmer die möglichen potentiellen Gefahren zur Kenntnis genommen hat.332 Für die unrichtige oder verspätete Angabe der erforderlichen Anweisung kann der originäre Verkehrspflichtige haftbar gemacht werden. Darüber hinaus kann den originären Verkehrspflichtigen auch eine Überwachungs- bzw. Aufsichtspflicht treffen. In diesem Rahmen ist der originäre Verkehrspflichtige grundsätzlich gehalten, in regelmäßigen Abständen die Durchführung der übertragenen Pflichten zu kontrollieren. Allerdings kann in Ausnahmenfällen auch eine stichprobenartige Kontrolle ausreichen.333 Dies hängt einerseits von der Höhe der abzuwehrenden Gefahr und andererseits von der „Zuverlässigkeit des Übernehmers“ ab.334 Welchen konkreten Inhalt die neue Pflicht hat und ob der originäre Verkehrspflichtige diese Pflicht erbracht hat, lässt sich nur anhand sämtlicher Umstände des 331
Vgl. BGH NJW 1990, 1111, 1112. In der deutschen Rechtsprechung und Literatur wird diese Problematik jedoch nicht einheitlich behandelt. Vgl. eingehend dazu MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 473; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 61; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 57; Fuchs, JZ 1994, 533, 536. Zur anderen Ansicht vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 1 d, S. 420; Bamberger/Roth/Spindler, § 823 Rn. 266; Spindler, S. 781 f. 332 Vgl. BGHZ 120, 124, 129; BGH NJW 1965, 197, 1999; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 61. 333 Vgl. BGH NJW-RR 1987, 147 f. 334 MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 469.
B. Adressat von Verkehrspflichten
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Einzelfalls bestimmen. Es ist noch darauf hinzuweisen, dass die neue Pflicht auf einen zumutbaren Rahmen zu beschränken ist.335 Ansonsten wäre die Übertragung der Verkehrspflicht bedeutungslos und die Handlungsfreiheit des originären Verkehrspflichtigen massiv beeinträchtigt. (2) Haftung für Fehlverhalten des Übernehmers? Hinsichtlich der Haftung des originären Verkehrspflichtigen ist noch die Frage umstritten, ob er für ein Fehlverhalten des Übernehmers deliktsrechtlich verantwortlich sein soll. Dabei geht es im Grunde um die Problematik, ob und ggf. in welchem Umfang das Verschulden des Übernehmers dem originären Verkehrspflichtigen zugerechnet wird. Hier kommt zunächst die Vorschrift des § 278 BGB in Betracht, welche die Zurechnung fremden Verschuldens regelt. Die Anwendung dieser Zurechnungsnorm setzt allerdings voraus, dass zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger ein Schuldverhältnis bereits vorliegt. In der hier diskutierten Konstellation besteht aber offensichtlich kein Schuldverhältnis zwischen dem originären Verkehrspflichtigen und dem Geschädigten, bevor das deliktische Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung begründet wird. Infolgedessen lehnt die herrschende Meinung es ab, den durch Fehlverhalten des Übernehmers verursachten Schaden dem originären Verkehrspflichtigen zuzurechnen. Zusätzlich wird auch als Gegenargument vorgebracht, dass eine solche Zurechnung zu einem eklatanten Wertungswiderspruch zu § 831 BGB führen würde.336 Demgegenüber schlagen die Vertreter der Gegenansicht verschiedene Lösungsansätze vor, um die Vorschrift des § 278 BGB in Anwendung zu bringen.337 Hier ist der herrschenden Meinung zuzustimmen. In der Rechtsprechung ist die praktische Relevanz dieses Streits mit der Herausbildung des Rechtsinstituts des Organisationsverschuldens deutlich geringer geworden.338 cc) Außen- und Innenverhältnis Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, sind die Haftung des Übernehmers und die Haftung des originären Verkehrspflichtigen voneinander separat zu beurteilen. 335
Beispielweise kann die Pflicht zur Überwachung bzw. Kontrolle bei einer Urlaubsvertretung entfallen; vgl. OLG Köln VersR 1995, 801, 802. 336 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 5 c, S. 420; MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 472. 337 Zur Darstellung verschiedener von Vertretern der Gegenansicht vorgelegter Lösungsvorschläge vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 62; v. Bar, S. 269 ff.; Mertens, VersR 1980, 397, 408; Vollmer, JZ 1977, 371, 373 f. 338 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 62; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 56; MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 472.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
Falls beide ihre jeweilige Pflicht verletzt haben, sind sie grundsätzlich nebeneinander für den gleichen Schaden verantwortlich. Gemäß § 840 I BGB haften sie im Außenverhältnis gegenüber den Geschädigten gesamtschuldnerisch. Dafür kommen die Vorschriften von §§ 421 ff. BGB zur Anwendung. Im Innenverhältnis geht es um die endgültige Haftungsverteilung zwischen dem Übernehmer und dem originären Verkehrspflichtigen. Diese kann nicht einheitlich behandelt werden, vielmehr kommt es auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Dabei ist eine Vereinbarung hinsichtlich der Haftungsverteilung zwischen den Betroffenen von entscheidender Bedeutung. Es wäre durchaus möglich, dass letztendlich der Schaden von einem der beiden allein getragen wird.339
C. Konkrete Bestimmung von Verkehrspflichten I. Konkretisierungsbedürftigkeit der Verkehrspflichten Nach der zu Beginn dieser Arbeit angegebenen Definition sind die Verkehrspflichten als Gefahrenvermeidungs- und -abwendungspflichten zu verstehen. Offensichtlich ist diese Definition sehr abstrakt formuliert. Für die Anwendung von Rechtsbegriffen ist seit langem das folgende Grundprinzip verankert: Je allgemeiner ein Rechtsbegriff ist, desto größer ist der Bedarf an dessen Konkretisierung.340 Angesichts der abstrakten Definition und des nicht abschließend bestimmbaren Inhalts wird das Rechtsinstitut der Verkehrspflichtlichten als ein unbestimmter Rechtsbegriff angesehen.341 Dementsprechend herrscht ein hohes Bedürfnis an der Konkretisierung, um dieses Rechtsinstitut praktisch anwenden zu können. Der Begriff „Gefahr“, der bildet das Kernstück der Definition der Verkehrspflichten bildet, erscheint nicht konkret genug und muss daher weiter verfeinert werden. Es trifft zu, dass jede Verkehrspflicht auf Abwehr oder Abwendung einer bestimmten Gefahr abzielt. Aber umgekehrt darf man daraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass aus jeglicher Gefahr eine Verkehrspflicht abgeleitet werden kann. Infolgedessen müssen genauere Kriterien entwickelt werden, um die spezifischen Gefahren zu identifizieren, aus denen sich Verkehrspflichten ergeben können. Außerdem weisen die Verkehrspflichten geringe Grade an inhaltlicher Bestimmtheit auf. Es ist zwar klar, dass die Verkehrspflichten Durchführung von Maßnahmen zur Gefahrensteuerung zum Inhalt haben. Allerdings reicht eine solche abstrakte Formulierung nicht völlig aus, um die den Verkehrspflichtigen obliegenden 339
Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 65. Zur allgemeinen Darstellung vom unbestimmten Rechtsbegriff vgl. Engisch, S. 193 ff.; Reuthers/Fischer/Birk, Rn. 835 ff. 341 Vgl. Wilhelmi, S. 164. 340
C. Konkrete Bestimmung von Verkehrspflichten
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Aufgaben festzulegen. Deswegen muss deutlich gemacht werden, nach welchen Maßstäben die konkreten Inhalte der Verkehrspflichten zu bestimmen sind. Es ist nicht schwer auszumachen, dass sich die Verkehrspflichten in fast allen Bereichen des Lebens finden lassen. Selbstverständlich haben die Verkehrspflichten in jedem Lebensbereich ihre eigene Ausprägung. Gerade aus diesem Grund wird die konkrete Bestimmung von Verkehrspflichten im Schrifttum bisweilen als „ein typisches Kommentarproblem“ bezeichnet.342 Insbesondere in den Kommentaren, werden dann nach Lebensbereichen verschiedene Fallgruppen entwickelt.343 In diesem Rahmen wird für die jeweilige Fallgruppe getrennt ausgeführt, welche Regeln bei der Konkretisierung der darunter fallenden Verkehrspflichten zu berücksichtigen sind. Aufgrund der spezifischen Eigenschaften jedes Lebensbereichs weichen die für jede Fallgruppe geltenden Regeln mehr oder weniger voneinander ab. Aber trotz der Vielfalt der Fallgruppen können doch ein paar gemeinsame Kriterien herangezogen werden, nach denen sich es bestimmen lässt, welche konkreten Anforderungen an den Verkehrspflichtigen zu stellen sind. Die Ermittlung solcher Kriterien und deren Verwendung stellen die Gegenstände der folgenden Untersuchungen dar. Dabei ist keine Unterscheidung notwendig zwischen einerseits denjenigen Kriterien, auf denen die Existenz der Verkehrspflichten beruht, und andererseits denjenigen zur Bestimmung deren Umfangs bzw. Intensität, weil diese im Grunde identisch sind.344
II. Grundprinzip: Erforderlichkeit und Zumutbarkeit Inhaltlich befassen sich die Verkehrspflichten mit der Durchführung bestimmter Maßnahmen zur Gefahrenverhütung oder Schutzgewährung. In der ständigen Rechtsprechung des BGH findet sich im Zusammenhang mit der Bestimmung der Verkehrspflichten nicht selten folgende Formulierung: „derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, ist grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern“.345 Daraus ist als Grundprinzip zu schlussfolgern, dass die Verkehrspflichten einerseits erforderlich und andererseits zumutbar sein müssen.346
342
Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 4, S. 412. Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 73 ff.; MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 548 ff.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 75 ff.; v. Bar, S. 43 ff.; Deutsch/Ahrens, Rn. 338 ff. 344 MükoBGB/Wagner, § 823 Rn. 399, 421. 345 BGH VersR 1990, 498, 499; VersR 2002, 247, 248; 2003, 1319; VersR 2006, 233; NJW 2010, 1967; vgl. auch BGHZ 121, 367, 375; BGH NJW 1996, 3208. 346 Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 330; v. Bar, S. 114; Kolb, S. 59. 343
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
1. Erforderlichkeit Wie bereits mehrfach angedeutet, dass sich die Verkehrspflichten inhaltlich an die Durchführung solcher Maßnahmen richten, die für die Gefahrensteuerung erforderlich sind. Der Bedeutung der Erforderlichkeit lässt sich aus folgenden zwei Perspektiven beleuchten: Erstens kann eine Verkehrspflicht erst dann in Betracht gezogen werden, wenn es für erforderlich ist, bestimmte Gefahr abzuwenden. Dies erklärt, wo und wann eine Verkehrspflicht entsteht. Zweitens müssen die geforderten Maßnahmen dafür ausreichend sein, die Verwirklichung der drohenden Gefahren erfolgreich zu verhindern. Um das Ziel der Gefahrenverhütung zu erreichen, können die Pflichtenträger entweder die Gefahren unter eigene Kontrolle bringen oder ausreichende Sicherheitsvorkehrungen durchführen. Aber unter Umständen können sie auch, anstatt direkt auf die Gefahrenquellen einzuwirken, mit entsprechendem Hinweis den Geschützten vor den Gefahren warnen.347 Dann können die potentiellen Geschädigten dadurch mit den Gefahren umgehen, dass sie entweder einen ausreichenden Sicherheitsabstand zum Gefahrenbereich halten oder selbst erforderliche Schutzmaßnahmen vornehmen.348 Im Einzelfall ist es häufig anzutreffen, dass der Pflichtenträger bereits bestimmte Maßnahmen zur Gefahrenabwehr durchgeführt hat. Der Geschädigte macht jedoch geltend, dass der Pflichtenträger andere viel stärkere Vorkehrungen hätte treffen müssen, wodurch die Gefahren effizienter kontrolliert oder vollständig abgewendet werden könnten.349 Der Verkehrspflichtige hat schon alles Notwendige getan, wenn die von ihm vorgenommene Maßnahme für die Gefahrenabwehr ausreichend ist. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass er bereits seine Verkehrspflicht erfüllt hat. Damit können andere striktere Maßnahmen nicht mehr verlangt werden, auch wenn diese ihm zumutbar sind, weil es an der Erforderlichkeit fehlt.350
347 Vgl. OLG Schleswig VersR 2000, 1118, 1120; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 26; Deutsch/Ahrens, Rn. 332; v. Bar, S. 84 ff. 348 Anhand dieses Kriteriums hat v. Bar die Verkehrspflichten nach deren Inhalt in zwei Grundtypen unterteilt: Ein Typ bezieht sich auf die „Verkehrspflichten zur Einwirkung auf den Gefahrenherd“, z. B. die Streu- oder Beleuchtungspflicht; das andere Typ bezieht sich auf die Verkehrspflichten zur Ermöglichung des „selbstverantwortlichen Umgang“ des potentiellen Bedrohten mit der Gefahr, z. B. die Warn-, Hinweis- und Instruktionspflichten. Ausführlich dazu vgl. v. Bar, S. 83 ff. 349 Beispielweise hat der Verkehrspflichtige bereits ein Warnschild aufgestellt und dadurch auf die in seinem Bereich bestehenden Gefahren deutlich hingewiesen. Aber es wird von dem Geschädigten geltend gemacht, dass der Pflichtenträger den Gefahrenbereich hätte komplett abgesperrt müssen. 350 Vgl. BGH NJW 2006, 611, 612; Deutsch/Ahrens, Rn. 332.
C. Konkrete Bestimmung von Verkehrspflichten
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2. Zumutbarkeit Es hat sich als unpraktisch erwiesen, umfassenden Schutz vor allen Gefahren zu bieten.351 Ansonsten würde das Ausmaß von Verkehrspflichten uferlos ausgedehnt. Dies würde unweigerlich zu einer erheblichen Beeinträchtigung der menschlichen Handlungsfreiheit führen. Deswegen können die Verkehrspflichten nicht grenzenlos gelten, sondern müssen in einem vernünftigen Rahmen bleiben. Um eine Überforderung des Pflichtenträgers zu vermeiden, hat die Rechtsprechung das Kriterium der Zumutbarkeit entwickelt.352 Diese stellt ein maßgebliches Kriterium dar, anhand dessen sich die Grenze einer Verkehrspflicht feststellen lässt. Die Zumutbarkeit ist natürlich nach Maßgabe der besonderen Umstände jedes Einzelfalls festzulegen. Dabei ist nach Auffassung des betroffenen Verkehrskreises zu ermitteln, ob ein „verständiger, umsichtiger und in vernünftigen Grenzen vorsichtiger“ Mensch die in Frage stehende Maßnahme zur Gefahrenabwehr für zumutbar hält.353 Bei Überprüfung der Zumutbarkeit ist vor allem die Handlungsmöglichkeit des Adressaten zur Gefahrvermeidung in Rücksicht zu nehmen. Dabei handelt es sich nicht nur um die faktische, sondern auch um die rechtliche Möglichkeit.354 Außerdem werden auch die wirtschaftlichen Elemente berücksichtigt, um die Zumutbarkeit einer Verkehrspflicht zu beurteilen. In Bezug auf die Zumutbarkeit wird in der Literatur auch die Ansicht vertreten, dass die Auferlegung einer Verkehrspflicht zumutbar sei, soweit die damit verbundene Haftpflicht einfach von ihrem Adressaten versichert werden könne.355 Dabei handelt es sich eigentlich um die haftungsrechtliche Relevanz der Versicherungsumstände. Diese spezifische Frage wird später in diesem Abschnitt gesondert erläutert.356
III. Konkrete Kriterien zur Bestimmung der Verkehrspflichten Die vorliegenden Ausführungen weist darauf hin, dass in der Rechtsprechung und Literatur die Erforderlichkeit und Zumutbarkeit als Grundprinzip für Bestimmung von Verkehrspflichten aufgestellt werden. Aber die beiden gelten immer noch als unbestimmte Rechtbegriffe und sind also nicht ausreichend konkret. Ihre Anwen351 Vgl. z. B. BGH NJW 2006, 610; 2007, 1683; 2013, 48; VersR 1975, 812; 2006, 1083; 2007, 72; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 422 m.w.N.; Erman/Schiemann, § 823 Rn. 80. 352 Zur ausführlichen Darstellung des Rechtsbegriffs der Zumutbarkeit im deutschen Deliktsrecht vgl. Scholz, S. 26 ff. 353 Vgl. Wilhelms, S. 257 f.; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 35. 354 Mu¨ KoBGB/Wagner, § 823 Rn. 421. 355 Jansen, AcP 216 (2016), 112, 129. 356 Detailliert dazu siehe unten unter Titel „Kapitel 3 C. III. 4.“.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
dung bedarf deshalb weiterer Klärung. Dabei muss stets eine Interessenabwägung vorgenommen werden, die mit Hilfe einiger konkreter Kriterien erfolgt. Welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden müssen, lässt sich allerdings nur je nach der spezifischen Situation des jeweiligen Einzelfalls ermitteln. Die faktischen Umstände jedes Einzelfalls weichen zwar sehr stark voneinander ab, aber einige gemeinsame Elemente liegen dem zu Grunde. Deshalb kann es durchaus sinnvoll sein, solche Elemente hervorzuheben und deren Zusammenspiel bei der Bestimmung von Verkehrspflichten genauer zu erläutern. Wie bereits schon festgestellt, ist das Rechtsinstitut der Verkehrspflichten an sich eine Schöpfung der deutschen juristischen Praxis. Deshalb sollte man sich selbstverständlich auch an die Rechtsprechung wenden, wenn es um die Bestimmung des Inhalts und Umfangs von Verkehrspflichten geht. Dazu hat die Judikatur hat reichhaltiges Material geliefert, aus dem sich viele wichtige Kriterien entwickelt haben. 1. Die Gefahr als Kernelement Da die Verkehrspflicht allgemein als ein deliktisches Gefahrsteuerungsgebot bezeichnet wird, stellt die Gefahr selbstverständlich ihr Kernelement dar. Für die konkrete Bestimmung einer Verkehrspflicht ist das Kriterium der Gefahr hinsichtlich der folgenden beiden Aspekte von großer Bedeutung: Es ist allgemein bekannt, dass in allen Lebensbereichen verschiedene Gefahren oder Risiken lauern. Allerdings ist auch schon deutlich geworden, dass sich nicht an jede Gefahr eine bestimmte Verkehrspflicht knüpfen wird. Eine der wichtigsten Aufgaben bei Konkretisierung von Verkehrspflichten besteht in der Abgrenzung zwischen der besonderen Gefahr, die eine bestimmte Verkehrspflicht nach sich zieht, und dem allgemeinen Lebensrisiko, welches der Geschädigte selbst in Kauf nehmen muss.357 Nachdem das Bestehen einer abzuwehrenden besonderen Gefahr festgelegt wird, ist weiter mit Hilfe von Merkmalen dieser Gefahr der Umfang der Verkehrspflicht zu definieren. Im Einzelfall müssen unter anderem die Größe, Intensität, Eintrittswahrscheinlichkeit und Erkennbarkeit der bedrohten Gefahr in Betracht gezogen werden.358 Allgemein gesprochen: Je höher diese Parameter sind, desto strengere Maßstäbe sind bei der konkreten Bestimmung der Verkehrspflicht anzulegen.359
357
Ausführlich zur Darstellung der Theorie des allgemeinen Lebensrisikos und ihrer Anwendung im deutschen Deliktsrecht vgl. Mädrich, S. 96 ff. 358 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 424; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 26 ff.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 29. 359 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 4 b, S. 414.
C. Konkrete Bestimmung von Verkehrspflichten
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2. Schutzwürdigkeit des (potentiellen) Geschädigten Es ist bereits deutlich geworden, dass das Rechtsinstitut der Verkehrspflichten auf dem Grundgedanken des Vertrauensschutzes beruht.360 Die Verkehrspflicht lässt sich dementsprechend durch die berechtigten Erwartungen des Verkehrs legitimieren.361 Im gesellschaftlichen Verkehr ist das Vertrauen allerdings nicht einseitig, sondern gegenseitig. Umgekehrt darf der Verkehrspflichtige auch legitime Erwartungen auf ein Mindestmaß an Selbstschutz des potentiellen Geschädigten haben.362 Dies wird von Wagner als „Reziprozität der Sorgfaltsanforderungen“ genannt, welche von großer Bedeutung für die Bestimmung der Verkehrspflichten ist.363 Deswegen ist es bei Bestimmung der Verkehrspflichten notwendig, die mögliche Eigenvorsorge des Geschädigten ebenso mit zu berücksichtigen.364 Im Allgemeinen ist die Frage zu beantworten, ob ein durchschnittlich vernünftiger und umsichtiger Angehöriger des betroffenen Verkehrskreises der Gefahr ausweichen kann. Entscheidend dafür ist vor allem die Erkennbarkeit der Gefahr für den Geschädigten. Erst wenn die drohende Gefahr von dem Geschädigten richtigerweise und rechtzeitig erkannt werden kann, ist zusätzlich zu prüfen, ob er über die Fähigkeit und Kenntnisse verfügt, um sich selbst vor der Gefahr zu schützen. Im Einzelfall lässt sich die erforderliche Eigenvorsorge des Geschädigten nur unter Berücksichtigung aller Umstände festlegen. Für bestimmte Personengruppen (z. B. Kinder und ältere Menschen) muss selbstverständlich ihre besondere Schutzwürdigkeit in Rücksicht genommen werden.365 Dass der Geschädigte seine erforderliche Eigenvorsorge nicht erbringt, stellt eigentlich ein Argument für den Ausschluss der Verkehrspflicht bzw. Haftung dar. Deswegen wird im Schrifttum immer wieder betont, dass ein solches Argument mit großer Vorsicht behandelt werden sollte.366 Darüber hinaus könnte es auch möglich sein, dass dieses Argument im Rahmen des Mitverschuldens des Geschädigten (§ 254 BGB) berücksichtigt wird.367 Auf die spezifische Frage, wie das Fehlver-
360 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 3 b, S. 410; Looschelders, SchuldR BT, Rn. 1178; Raab, JuS 2002, 1041, 1045. 361 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 426 ff.; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 27 ff.; Raab, JuS 2002, 1041, 1044 f.; Edenfeld, VersR 2002, 272, 274. 362 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 30; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 426; Edenfeld, VersR 2002, 272, 277. 363 MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 426 ff. 364 Vgl. Erman/Schiemann, § 823 Rn. 80. 365 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 433 ff. 366 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 31; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 32; Möllers, VersR 1996, 158. 367 Zur Abgrenzung vom Mitverschulden des Geschädigten und dem Haftungsausschluss wegen Unterlassens des erforderlichen Selbstschutzes vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 31.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
halten des Geschädigten auf die Verkehrspflicht einwirkt, wird später in dieser Arbeit eingegangen werden.368 3. Ökonomische Elemente Bei Feststellung des Umfangs der Verkehrspflichten sollten auch ökonomischen Elementen Rechnung getragen werden. Dies spiegelt sich unter anderem in den folgenden Aspekten wider: Zunächst sind Aufwand und Nutzen gegeneinander abzuwägen.369 Beim Aufwand handelt es sich um sämtliche Aufwendungen für die Erbringung der Verkehrspflichten, z. B. die Infrastruktur- und Personalkosten zur Durchführung bestimmter Maßnahmen.370 Beim Nutzen handelt es sich um die bedrohten Rechtsgüter des potentiellen Geschädigten. Dabei sind nicht nur die Höhe des möglichen Schadens und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sondern auch die Rangstufe der bedrohten Rechtsgüter in Betracht zu ziehen.371 Wenn mit enormem Aufwand nur ein sehr geringer Nutzen erreicht werden könnte, dann wäre aus wirtschaftlicher Perspektive die Zumutbarkeit der betroffenen Verkehrspflicht in Zweifel zu ziehen.372 Außerdem ist die Verkehrspflicht eher demjenigen aufzulegen, der wirtschaftlichen Gewinn aus der Gefahrenquelle zieht.373 Dies lässt sich durch die Grundregel der Zusammengehörigkeit von Vorteil und Risiko gut erklären: Wer Vorteile aus der Schaffung einer Gefahrenquelle zieht, hat auch die Gefahrenquelle zu kontrollieren, um die möglichen daraus entstehenden Nachteile für andere Menschen zu vermeiden.374 Je mehr Gewinn der Verkehrspflichtige daraus ziehen kann, desto eher ist zu erwarten, dass er höhere Aufwendungen für die Gefahrenabwehr tragen kann. Nicht zuletzt ist noch darauf hinzuweisen, dass bei der Bestimmung der Verkehrspflichten die persönliche wirtschaftliche Situation des Pflichtenträgers keine 368
Siehe unten unter „Kapitel 5 C. I.“. Dies bildet eigentlich die Anlehnung an die sog. „Learned-Hand-Formel“ des USamerikanischen Rechts. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 424; Brüggemeier, S. 67 ff. 370 Dabei sind nicht nur die finanziellen Kosten, sondern noch der zeitliche Aufwand und Einsatz der Arbeitskraft in Berücksichtigung zu nehmen; vgl. Kolb, S. 59; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 4 b, S. 414. 371 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGHZ 58, 149; BGH NJW 1965, 197; 2007, 762; vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 33; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 31; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 4 b, S. 414; Rothe, NJW 2007, 740 ff.; Steffen, VersR 1980, 409, 411. 372 Vgl. BGHZ 58, 149, 157 f.; 31, 73, 74. Im Schrifttum wird zwar immer die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Aufwand und Nutzen betont. Die Rechtsprechung hat allerdings eine relative zurückhaltende Haltung dazu eigenommen. Ausführlich zu den Gründen dafür vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 34. 373 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 35. 374 Vgl. v. Bar, S. 125. 369
C. Konkrete Bestimmung von Verkehrspflichten
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Rolle spielt. Die Verkehrspflicht ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen, während die individuelle finanzielle Leistungsfähigkeit des Verkehrspflichtigen offensichtlich ein subjektives Element bildet und dem Geschädigten in der Regel nicht bekannt ist.375 Infolgedessen darf der Verkehrspflichtige folgerichtig nicht geltend machen, dass er mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert ist, um sich von der Verkehrspflicht bzw. Haftung zu befreien. In der Praxis kommt es häufig vor, dass eine Pflicht wegen der schweren wirtschaftlichen Belastung für deren Träger als unzumutbar angesehen wird.376 Es ist notwendig zu betonen, dass die wirtschaftliche Belastung nur eines verschiedener Elemente darstellt, die bei Zumutbarkeitsprüfung zu berücksichtigen sind.377 Die Beurteilung der Zumutbarkeit erfolgt vielmehr nach sorgfältiger Abwägung von Interessen der potentiellen Verantwortlichen und Geschützten. Die wirtschaftlichen Elemente können eine untergeordnete Rolle spielen, insbesondere wenn die Grundrechte in die Interessenabwägung einbezogen werden.378 Eine erhebliche Beschränkung von Grundrechten des potentiellen Verantwortlichen lässt Zweifel an der Zumutbarkeit der Verkehrspflichten aufkommen, auch wenn die drohende Gefahr und mögliche Schädigung nur mit wenig Aufwand vermieden werden können.379 4. Versicherungsbezogene Elemente? Für das deutsche Haftungsrecht ist die haftungsrechtliche Relevanz bestimmter Versicherungsumstände, z. B. die Haftpflichtversicherungspflicht des Schädigers oder die Versicherbarkeit der eingetretenen Schäden,380 kein fremdes Thema, obwohl noch keine übereinstimmende Meinung dazu besteht. Um den möglichen Zusammenhang zwischen der Verkehrspflichtbestimmung und den Versicherungsumständen zu erläutern, wird im Folgenden zunächst der Meinungsstand des Schrifttums dargestellt. Anschließend ist auf die betreffende Rechtsprechung näher einzugehen. Es wird hier der Frage nachgegangen, ob und inwiefern sich die Gerichte von den Versicherungsumständen leiten lassen, wenn sie die Problematik der Haftung wegen Verkehrspflichtverletzung behandeln. Aufgrund einer umfassenden Darstellung der 375 376
515. 377
Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 35 m.w.N. Vgl. BGHZ 58, 149; 31, 73; BGH NJW 1984, 801; 1995, 2631; VersR 1977, 334; 1965,
Daneben sollte noch eine Vielzahl von anderen Elementen in die Abwägung einbezogen werden, wie z. B. die Durchführungszeit der angeforderten Maßnahme. Deshalb ist es persönlich unzumutbar, bei Schneefall von dem Eigentümer zu fordern, noch während der Nacht den Fußgängerweg zu seinem Haus zu streuen. Dazu vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 333. 378 Vgl. Wilhelms, S. 258. 379 BGH NJW 2006, 611, 612: „Dabei kann es im vorliegenden Fall dahinstehen, ob der Aufwand im Rahmen der Abwägung zu Art. 5 III und 2 II GG eine entscheidende Rolle spielen könnte“. 380 Zur Erläuterung des Terminus „Versicherungsumstände“ vgl. Makowsky, S. 7.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
Literaturauffassung und Rechtsprechung wird schließlich eine eigene Stellungnahme abgegeben. a) Ansichten in der Literatur aa) Zustimmende Ansichten In der deutschen Literatur wird nicht selten die haftungsrechtliche Relevanz bestimmter Versicherungsumstände ausdrücklich anerkannt.381 Nach dieser Auffassung kommt den Versicherungsumständen eine besondere Rolle für die richterliche Rechtsfortbildung der Verkehrspflichtdogmatik zu. Die folgende Darstellung enthält eine Auswahl der Begründungen der bedeutendsten Vertreter dieser Meinungsrichtung. (1) Ansicht von Ehrenzweig Schon im Jahr 1950 hat Ehrenzweig in einem seiner Beiträge den Zusammenhang zwischen Versicherung und Haftung erläutert und dementsprechend das Konzept „assurablitité oblige“ erstellt.382 Wie der deutsche Titel seines Beitrags besagt, hat Ehrenzweig deutlich „die Versicherung als Haftungsgrund“ anerkannt und insbesondere den Akzent auf die Versicherbarkeit der Schäden gelegt. Seiner Meinung nach ist bei der Haftungsbegründung bzw. -verteilung die Frage entscheidend, wer im Einzelfall am ehesten den Versicherungsschutz gegen die die Schäden verursachenden Risiken schaffen sollte.383 Diese Frage könne nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Versicherungsmöglichkeit des Schädigers und des Geschädigten beantwortet werden. (2) Ansicht von Bars Die ausgeprägteste Ansicht derjenigen, welche die Berücksichtigung von Versicherungselementen bei der Entscheidung zur Haftung befürworten, ist die Ansicht von Bars. Seine Auffassung stimmt im Wesentlichen mit der vorher von Ehrenzweig vertretenen Ansicht überein, ist jedoch noch viel tiefgehender. Als Grundlage für seine These dienen die Entwicklung der Haftpflichtversicherung und ihre Rückwirkung auf das Haftungsrecht:384 Seit dem Jahr 1871, in dem das Reichshaftpflichtgesetz in Kraft trat, hat sich die Haftpflichtpflichtversicherung in Deutschland über rund hundertfünfzig Jahre ent-
381
von Bar, AcP 181 (1981), 289, 326 ff.; Jansen, S. 116 ff.; Ehrenzweig, JBl 1950, 253. Ehrenzweig, JBl 1950, 253. 383 Konkreter gesagt: Hierbei ist zu prüfen, „wem die Prämienzahlung am ehesten zuzumuten sei“; Ehrenzweig, JBl 1950, 253, 256; Makowsky, S. 283. 384 von Bar, S. 41; ders., AcP 181 (1981), 289, 317 ff. 382
C. Konkrete Bestimmung von Verkehrspflichten
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wickelt.385 Dabei ist deutlich geworden, dass in Deutschland die Haftpflichtversicherung nicht mehr, wie in ihren Anfangszeiten, nur untrennbar mit der Gefährdungshaftung verbunden ist. Vielmehr hat sie sich schon seit langem auf den Bereich der Verschuldenshaftung ausgedehnt.386 Entsprechend dieser Entwicklungstendenz hat sich in der Praxis die Funktion der Haftpflichtversicherung allmählich gewandelt. Sie richtet sich nicht mehr ausschließlich auf den Schutz des Schädigers, also dessen Freistellung von begründeten Haftungsansprüchen Dritter. Nunmehr dient sie zugleich auch und sogar überwiegend dem Interessenschutz des potentiellen Deliktsopfers.387 Ein derartiger Funktionswandel der Haftpflichtversicherung entfaltet dann zugleich seine Wirkung auf das geltende Haftungsrecht. Nach von Bar hat der Versicherungsgedanke zwar auf eine „am wenigsten greifbar(e)“ Weise das Haftungsrecht beeinflusst, führt aber subtil zur Erweiterung und auch Verschärfung der Verkehrspflichten.388 Dafür bildet ein gutes Beispiel, dass in bestimmten Berufsgruppen, für welche die Haftpflichtversicherung einführt wird, besonders strenge Verkehrspflichten von den Gerichten festgelegt werden.389 Es bleibt noch zu ergänzen, dass nach der Ansicht von Bars im Einzelfall nicht nur die Versicherungselemente auf Seite des Schädigers, sondern auch diejenigen auf Seite des Geschädigten, wie z. B. seine Möglichkeit zum Abschluss einer Selbstversicherung, in die Abwägung einbezogen werden sollten.390 Dies bedeutet vielmehr nichts anderes, als dass die Versicherungselemente nicht nur der Begründung bzw. Ausdehnung der Haftung, sondern auch deren Verneinung bzw. Beschränkung dienen.391 (3) Andere wichtige Ansichten In der Literatur ist die Ansicht von Bars auf eine breite Zustimmung anderer Autoren gestoßen: Nach der Ansicht von Mertens besteht die Aufgabe des Haftungsrechts darin, die im jeweiligen Einzelfall entstandenen Schäden zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten gerecht zu verteilen. Aufbauend auf diesem Verständnis der Funktion des Haftungsrechts sollten die versicherungsbezogenen Argumente selbstverständlich eine Rolle bei Haftungsentscheidung spielen. Dementsprechend hat Mertens die versicherungswirtschaftlichen Elemente in die „distributive(n) Elemente“ einge385 Zu einer detaillierten Darstellung der Entwicklungsgeschichte der deutschen Haftpflichtversicherung bis Anfang der 1980er Jahren vgl. von Bar, AcP 181 (1981), 289, 294 ff. 386 von Bar, AcP 181 (1981), 289, 311. 387 von Bar, AcP 181 (1981), 289, 315. 388 von Bar, S. 40 f. 389 von Bar, S. 46 ff., 139; ders., AcP 181 (1981), 289, 315. 390 von Bar, AcP 181 (1981), 289, 327. 391 Makowsky, S. 282 f.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
ordnet, die bei Bestimmung von Verkehrspflichten in die Abwägung einzubeziehen seien.392 Auch Kötz vertritt eine ähnliche Meinung.393 Stürner befürwortet ebenfalls die richterliche Schadenszuweisung des geltenden Haftungsrechts. In der Rechtsprechung würden ständig sehr strenge Verkehrspflichten begründet,394 durch die eine viel zu hohe Anforderung an die Sorgfalt der Adressaten („optimale Sorgfalt“) gestellt würden. Die Haftung für deren Verletzung wird deswegen von Stürner als „eine neue Haftungskategorie zwischen Risiko- und Verschuldenshaftung“ bezeichnet.395 Aus der Sicht von Stürner ergeben sich diese strengen Verkehrspflichten einerseits aus einem gestiegenen Schutzbedürfnis des Verkehrs in einer modernen Gesellschaft. Andererseits werde die Auferlegung solcher gesteigerten Pflichten auch dadurch gerechtfertigt, dass deren Adressaten eine besser entwickelte Versicherungsmöglichkeit zustehe.396 Auch nach Jansen sollten bestimmte versicherungsbezogene Elemente, wie z. B. die bessere Versicherbarkeit oder das Bestehen einer Pflichtversicherung, für die Haftungsentscheidung relevant seien.397 Er begründet dies damit, dass im deutschen Haftungsrecht die einfache Versicherbarkeit einer Haftpflicht nicht selten als Begründung für ihre Zumutbarkeit angeführt werde.398 Seine Argumentation gründet sich auch auf dem Aufstieg und Funktionswandel der Haftpflichtversicherung im letzten Jahrhundert. Davon ausgehend weist Jansen auf das engen Zusammenhang zwischen dem deutschen Haftungsrecht und dem Versicherungsrecht hin: Zumindest auf Seiten der Gerichte bilde dieser Zusammenhang ein gewichtiges Argument für die Auferlegung einer strengeren Verkehrspflicht, wenn der Pflichtadressat bereits über eine Haftpflichtversicherung verfügt oder eine abschließen kann.399 Dass bei der Bestimmung der Verkehrspflichten die versicherungsbezogenen Elemente berücksichtigt werden, verbindet sich mit der von Jansen aufgestellte These, dass sich die Verkehrspflichten von echten Verhaltenspflichten entkoppelten,400 weil es dabei nicht um die Sanktion eines Fehlverhaltens, sondern um die Schadenszuweisung handele.401
392
Mertens, VersR 1980, 397, 402. Kötz, FS Steindorff, S. 660 ff. 394 Als Beispiele dafür sind die Streupflichten, elterliche Aufsichtspflichten über Kinder und Schadensverhütungspflichten des Grundstückseigentümers zu nennen; Stürner, VersR 1984, 297, 308. 395 Stürner, VersR 1984, 297, 308. 396 Stürner, VersR 1984, 297, 308. Zur gleichen Ansicht von Bars vgl. von Bar, AcP 181 (1981), 289, 291, 324. 397 Jansen, S. 116; ders., AcP 216 (2016), 112, 128. 398 Jansen, AcP 216 (2016), 112, 129. 399 Jansen, S. 375. 400 Dazu siehe oben 401 Jansen, S. 375. 393
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Eine ähnliche Auffassung bringt Eberl-Borges in seiner Anmerkung zu einer Entscheidung des BGH, die den Umfang der elterlichen Aufsichtspflicht über ein fünfjähriges Kind behandelt,402 zum Ausdruck. Seiner Meinung nach ist bei der Bemessung der elterlichen Aufsichtspflicht unter anderem auch zu berücksichtigen, wem von den am Schadensverlauf Beteiligten, also den Eltern oder dem Geschädigten, eine bessere Versicherbarkeit zusteht.403 Weiter merkt er an, dass es in Deutschland üblich sei, dass sich die Eltern durch eine kostengünstige Haftpflichtversicherung vor einem durch das Kind verursachtem Schadensrisiko schützen.404 Im Gegensatz dazu lasse sich der Selbstschutz der potentiellen Opfer nur durch den Abschluss einer Vollkaskoversicherung realisieren, welche vergleichsweise wesentlich teuer sei.405 Davon ausgehend wird dann von Eberl-Borges vertreten, den Eltern eine gesteigerte Aufsichtspflicht aufzuerlegen. bb) Ablehnende Ansichten Den oben dargestellten Ansichten stehen in der Literatur freilich zahlreiche andere Auffassungen entgegen, die eine kritische Stellung dazu nehmen, bei Haftungsbegründung nach § 823 BGB, insbesondere bei der Bestimmung von Verkehrspflichten, auch versicherungsrelevanten Elemente zu berücksichtigen.406 Ausdrücklich hat Drewitz die haftungsrechtliche Relevanz der Versicherungselemente verneint. Er begründet seine Absage damit, dass sich die Versicherung nicht als ein gesetzlicher Haftungstatbestand qualifiziert. Im geltenden Haftungsrecht gebe es keine gesetzliche Bestimmung, welche das Bestehen einer Versicherung als Tatbestandsmerkmal der Haftung benenne.407 Seine These folgt aus dem traditionellen Verständnis, dass sich die Versicherung, die als vertragliche Beziehung zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer zu verstehen ist, funktionell nur an den Interessen des Versicherungsnehmers, nicht aber an dem Schutz der potenziellen Opfern orientiert.408 Aus der Vielzahl der Gegenmeinungen kommt der Ansicht von Larenz und Canaris eine repräsentative Rolle zu. Ausgehend vom traditionellen Verständnis des Haftungsrechts halten diese Autoren daran fest, dass die Verschuldenshaftung nicht, wie bei Gefährdungshaftung, der gerechten Risikoverteilung dient. Sie beinhalte 402
BGH NJW 2009, 1952. In dieser Entscheidung hat der BGH festgestellt, dass ein Aufsichtspflichtiger dazu verpflichtet ist, ein fünfeinhalbjähriges Kind auf einem Spielplatz in regelmäßigen Abständen von höchstens 30 Minuten zu kontrollieren. 403 Eberl-Borges, LMK 2019, 295924. 404 Eberl-Borges, LMK 2019, 295924; vgl. auch Bernau, NZV 2009, 329, 331 Fn. 40. 405 Eberl-Borges, LMK 2019, 295924. 406 Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III, S. 399 ff.; Drewitz, Die Versicherung folgt der Haftung, 1977, S. 23. 407 Drewitz, Der Grundsatz: Die Versicherung folgt der Haftung, 1977, S. 33. 408 Fuchs, AcP 191 (1991), 318, 319.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
vielmehr den Vorwurf eines Fehlverhaltens.409 Ihrer Ansicht nach bietet das Bestehen einer Versicherung auf Seiten des Schädigers keinen Anhaltspunkt für Haftungsbegründung. Selbstverständlich könne der Nichtabschluss einer Versicherung nicht als Fehlverhalten bzw. Verkehrspflichtverletzung angesehen werden.410 Infolgedessen sprechen sich Larenz und Canaris ausdrücklich dagegen aus, die Begründung der deliktischen Haftung an dem Bestehen einer Versicherung auszurichten. Die Verkehrspflicht, deren Verletzung von ihnen als eine Voraussetzung der Verschuldenshaftung angesehen wird, sollte dementsprechend nicht nach Maßgabe der Versicherungselemente bestimmt werden. In seiner Dissertation befasst sich auch Makowsky mit dem Einfluss des Bestehens einer Versicherung auf das Haftungsrecht. Hinsichtlich der Frage der haftungsrechtlichen Relevanz der Versicherung unterscheidet er zwischen zwei Ebenen: eine ist die Haftungsbegründung und die andere ist die Legitimierung strenger Verkehrspflichten. Dementsprechend weist er einerseits darauf hin, dass die Versicherungselemente keine Auswirkung auf der Haftungsbegründungsebene haben.411 Nach seiner Ansicht werden die Verkehrspflichten, deren traditioneller Definition entsprechend, als Pflichten zur Vermeidung oder Abwendung vorwerfbarer Rechtsgutsgefährdungen verstanden.412 Durch Abschluss einer Versicherung werde die Rechtsgütergefährdung aber weder vermieden noch abgewendet. Mit anderen Worten gesagt, die Gefahr für die Rechtsgüter der Schutzwürdigen wird auch nicht durch den fehlenden Abschluss der Haftpflichtversicherung erhöht.413 Aus diesem Grund kommt Makowsky zu der Schlussfolgerung, dass die Versicherbarkeit des Schadensrisikos kein Kriterium zur Verkehrspflichtbestimmung bildet. Andererseits ist er aber der Ansicht, dass es ein Grund für die Rechtfertigung von der strengen Verkehrspflichten darin bestehen kann, dass den Adressaten dieser Verkehrspflichten eine zumutbare Möglichkeit zur Verfügung steht, das Haftpflichtrisiko durch eine Versicherung abzudecken.414 b) Ansicht der Rechtsprechung Anders als die heftige Diskussion im Schrifttum ist die Rechtsprechung vorsichtiger und zurückhaltender in der Frage der haftungsrechtlichen Relevanz der Versicherungsumstände. In der Rechtsprechung kommt es sehr selten vor, dass die Haftungsbegründung bzw. Verkehrspflichtbestimmung weitergehend oder gar vollständig ausdrücklich argumentativ auf die Versicherungsumstände abgestützt wird. Dies lässt sich möglicherweise darauf zurückführen, dass im geltenden Recht 409 410 411 412 413 414
Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 4 b, S. 416 f. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 4 b, S. 416. Makowsky, S. 296 ff. Makowsky, S. 297. Makowsky, S. 292. Makowsky, S. 299.
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keine solche Haftungsnorm besteht, in welcher die Versicherungsumstände deutlich als Tatbestandsmerkmal der Haftung aufgenommen werden. Dennoch lassen sich aber auch einige Entscheidungen finden, welche ausdrücklich oder konkludent die versicherungsbezogenen Argumente bei Bestimmung von Verkehrspflichten berücksichtigen. aa) Entscheidungen zur elterlichen Aufsichtspflicht Die in § 832 BGB festgelegte elterliche Aufsichtspflicht über ihre unmündigen Kinder dient nicht nur dem Kinderschutz, sondern auch dazu, Dritte vor möglichen Schäden zu schützen, die wegen mangelnder Reife durch die Kinder verursacht werden könnten. Wie oben bereits erwähnt, zielt die Aufsichtspflicht der Eltern darauf ab, die personenbezogene Gefahr, also die von minderjährigen Kindern ausgehende Gefahr für Dritte, zu vermeiden oder abzuwenden. Deswegen gehört sie im Wesentlichen zu den Verkehrspflichten im weiteren Sinnen. In der Rechtsprechung zeichnet sich die Tendenz ab, dass die versicherungsbezogenen Umstände als Argument für die Auferlegung einer strengeren elterlichen Aufsichtspflicht angeführt und damit relevant für die Haftungsentscheidung erachtet werden.415 Im Folgenden werden zwei Entscheidungen des BGH hierzu beispielhaft ausgewählt und dargestellt. Beide befassen sich mit der elterlichen Verantwortung für durch minderjährige Kinder verursachte Brandschäden. (1) Unzulängliche Verwahrung von Streichhölzern (BGH, Urteil vom 17 – 05 – 1983 – VI ZR 263/81) Durch eine vom BGH im Jahr 1983 erlassene Entscheidung werden die beklagten Eltern zum Ersatz der Sachschäden verpflichtet, die ihr siebeneinhalbjähriger Sohn dem Kläger dadurch zufügte, dass er „in der Scheune des Klägers einen kleinen Haufen Stroh angezündet“ hatte.416 Die Eltern hatten zwar schon das Kind über die Brandgefahr aufgeklärt und auch regelmäßig seinen unerlaubten Besitz von Zündmitteln kontrolliert. Trotzdem war das Gericht der Meinung, dass die Eltern ihrer elterlichen Aufsichtspflicht nicht genügend nachgekommen seien. Der Ansicht des VI. Senates nach besteht die Aufsichtspflichtverletzung vielmehr darin, dass die Eltern wegen der unzulänglichen Verwahrung von Streichhölzern zu Hause ihrem Sohn einen leichten Zugriff darauf ermöglichten.417 In der oben erwähnten Entscheidung ist es offenbar, dass das Gericht der Eltern eine deutlich gesteigerte Aufsichtspflicht auferlegt hat. Dies könnte vielleicht die Kritik hervorrufen, die an die Eltern gestellten Anforderungen würden hier in einer 415 BGH NJW 1983, 2821; 1993, 1003; 1995, 3385; 1996, 1404; OLG Hamm MDR 1995, 370; LG Lüneburg NJW-RR 1998, 97. 416 BGH NJW 1983, 2821. 417 BGH NJW 1983, 2821.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
Weise überspannt, dass die Aufsichtspflicht die Grenze der Zumutbarkeit überschreite. Allerdings hielt der VI. Senat diese Pflicht noch für zumutbar. Ein wichtiges von ihm angeführtes Argument lautet vielmehr, dass das von unmündigen Kindern ausgehende Schadensrisiko für die Eltern „in zumutbarer Weise versicherbar“ sei.418 (2) Aufsichtspflicht bei Zündelneigung des Kindes (BGH, Urteil vom 27 – 02 – 1996 – VI ZR 86/95) Die gleiche Ansicht hat der BGH in einer anderen Entscheidung zur elterlichen Aufsichtspflicht bei Zündelneigung des Kindes wiederholt geäußert. In diesem Fall wurde eine alleinerziehende Mutter auf Ersatz für die von ihrem minderjährigen Sohn verursachten Brandschäden verklagt. Nach den tatsächlichen Feststellungen war der Mutter bekannt, dass ihr Sohn zum Zündeln neigte.419 Der VI. Senat hat einerseits der Mutter eine engmaschige Überwachungspflicht auferlegt, die „im praktischen Leben … nur schwer zu realisieren ist“.420 Andererseits hatte er sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass eine solche strenge Pflicht „nicht unzumutbar“ sei. Als Argument für Zumutbarkeit dieser Pflicht wurde insbesondere angeführt, dass die Mutter die Möglichkeit hatte, das Schadensrisiko zu versichern, und es auch so gemacht hatte.421 Hier ist noch darauf hinzuweisen, dass in dieser Entscheidung die Versicherungsumstände zwar vom BGH berücksichtigt werden, aber nicht die einzigen Elemente bei der Bestimmung der Aufsichtspflicht darstellen. Diese Pflicht wird vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls begründet. Nach Ansicht des BGH bleibt auch das Ausmaß der Gefahr, die außenstehenden Dritten droht und von Alter, Eigenart und Charakter des Kindes abhängt, entscheidend für die Haftungsbegründung.422 Das Argument, dass sich die Eltern gegen die Haftung aufgrund einer Pflichtverletzung durch eine Haftpflichtversicherung schützen konnten, wird vom BGH im Rahmen der Zumutbarkeit angeführt, um eine solche strenge Aufsichtspflicht zu rechtfertigen.423 bb) Entscheidungen zur allgemeinen Verkehrspflicht Neben den oben angeführten Entscheidungen zur elterlichen Aufsichtspflicht lassen sich in der Rechtspraxis auch solche Entscheidungen finden, in welchen die Versicherungsumstände absichtlich oder unabsichtlich von Gerichten bei Bemessung der allgemeinen Verkehrspflicht in Erwägung gezogen werden. 418 419 420 421 422 423
BGH NJW 1983, 2821.Vgl. auch BGB-RGRK/Kreft, § 832 Rn. 29. BGH NJW 1996, 1404. BGH NJW 1996, 1404, 1405 BGH NJW 1996, 1404, 1405. BGH NJW 1996, 1404, 1405. Makowsky, S. 65 f., 286.
C. Konkrete Bestimmung von Verkehrspflichten
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Zunächst ist der im Rahmen dieser Arbeit vielfach erwähnte „Waschmaschinenfall“ zu nennen.424 Wie bereits dargestellt, wurde in diesem Fall der Beklagten eine extrem gesteigerte Verkehrspflicht auferlegt, deren tatsächliche Erhaltung kaum zu erwarten ist. Zur Rechtfertigung dieser fast unzumutbaren Verkehrspflicht verwendet das OLG Düsseldorf auch das versicherungsbezogene Argument: Auf dem Hintergrund der derzeitigen Versicherungspraxis bestanden für den Gebäudeeigentümer und die Mieter kaum zumutbare Versicherungsmöglichkeiten bezüglich des Schadensrisikos, das von einem technischen Defekt der Waschmaschinen eines anderen Mieters ausgeht.425 Schließlich ist noch auf die schon oben dargestellte Entscheidung einzugehen, also den „Treibjagdfall“ des OLG Oldenburgs.426 In diesem Fall nehmen die versicherungsbezogenen Elemente eine noch viel zentralere Position bei Bestimmung der Verkehrspflicht ein: Die dem Jagdveranstalter auferlegte Verkehrspflicht hat die Kontrolle des gültigen Jagdscheins zum Inhalt, deren Ausstellung der Abschluss der erforderlichen Jagdhaftpflichtversicherung voraussetzt. Der Jagdveranstalter haftet also gerade dafür, dass er wegen seiner Verkehrspflichtverletzung dem Geschädigten keinen Schutz der Jagdhaftpflichtversicherung gewährt.427 c) Stellungnahme: Die vorangegangenen Ausführungen erlauben zumindest folgende Schlussfolgerung Die Auffassung, dass bei der Bestimmung der Verkehrspflichten die Versicherungsumstände zu berücksichtigen sind, wird teilweise in der Rechtsprechung und auch in der Literatur vertreten. Allerdings wird dies auch von zahlreichen Autoren heftig kritisiert, die an einem traditionellen Verständnis der Verkehrspflichten festhalten und diese als echte Verhaltenspflichten begreifen. Nach hier vertretener Ansicht ist vor allem abzulehnen, bei Bestimmung der Verkehrspflichten ausschließlich die versicherungsbezogenen Elemente zu berücksichtigen. Weder das Bestehen einer Versicherung noch die bessere Versicherbarkeit allein kann zur Begründung der Deliktshaftung führen. Auch in den Entscheidungen, welche die Haftungsrelevanz der Versicherungsumstände befürworten, stehen bei Haftungsbegründung noch die gefahrbezogenen Parameter im Zentrum. Allerdings ist anzuerkennen, dass die versicherungsbezogenen Elemente einen wesentlichen Einfluss auf die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Verkehrspflicht haben. Das Kriterium der Zumutbarkeit dient dazu, den übermäßigen Eingriff in die Handlungsfreiheit des Haftpflichtigen zu vermeiden. Hätte der Haftpflichtige aber bereits eine Versicherung für sein Haftpflichtrisiko abgeschlossen oder bestünde eine bessere Versicherbarkeit dieses Risikos, würde die Auferlegung einer strengeren 424 425 426 427
OLG Düsseldorf NJW 1975, 171. OLG Düsseldorf NJW 1975, 171. OLG Oldenburg VersR 1979, 91. OLG Oldenburg VersR 1979, 91.
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Kap. 3: Verkehrspflichten im dt. Deliktsrecht: Einzelfragen
Verkehrspflicht nicht „gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot“ verstoßen.428 In diesem Sinne weicht die Meinung des Verfassers tatsächlich vom traditionellen Verständnis der Verkehrspflicht ab: Sie dient danach nicht mehr nur zur Festlegung von zumutbaren Verhaltensanforderungen. Vielmehr hat sie auch die gerechte Schadenszuweisung zwischen Schädiger und Geschädigtem zum Zweck.
IV. Zusammenfassung Als ein unbestimmter Rechtsbegriff ist die Verkehrspflicht bei der Anwendung dieses Rechtsbegriffs konkretisierungsbedürftig. Dabei ist als Grundprinzip festgelegt, dass die Verkehrspflicht sowohl erforderlich als auch zumutbar sein muss. Zur Bestimmung der Verkehrspflicht müssen einerseits die Erwartung des Verkehrs und andererseits die Erwartung des möglichen Pflichtenträgers abgewogen werden. In diesem Sinne geht es hier im Kern um eine Aufgabenverteilung der Gefahrenabwehr zwischen den betroffenen Parteien.429 Als konkrete Parameter kommen unter anderem die Merkmale der drohenden Gefahr und die mögliche Eigenvorsorge des Geschädigten sowie einige ökonomische Elemente in Betracht. Diese Elemente sind nicht unabhängig voneinander. Vielmehr bilden sie zusammen ein sog. „bewegliches System“.430 Im Einzelfall ist unter Berücksichtigung dieser Elemente eine zusammenfassende Interessenabwägung vorzunehmen. Dadurch lassen sich der Inhalt und Umfang der konkreten Verkehrspflicht bestimmen. In den letzten Jahrzehnten führte die Entwicklung der Haftpflichtversicherung zur Erweiterung der Verkehrspflichten.431 Im heutigen Haftungsrecht sind die private Haftung und die kollektiven Sicherungssystemen eng miteinander verzahnt. In der Rechtsprechung ist die Tendenz klar zu beobachten, dass bei Bestimmung der Verkehrspflicht auch solche Elemente wie die bessere Versicherbarkeit und Versicherungspflichten berücksichtigt werden. Offensichtlich fügen sich diese versicherungsbezogenen Elemente nicht in die traditionelle Verkehrspflichtendogmatik ein, nach welcher die Verkehrspflicht als echte Verhaltenspflicht zu verstehen ist. Dies weist stark darauf hin, dass die Verkehrspflicht in ihrer heutigen Gestalt als ein Mittel zur Haftungszuweisung betrachtet werden kann.
428 429 430 431
Makowsky, S. 299 m.w.N. Vgl. Mertens, VersR 1980, 397, 402. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 4 b, S. 414. Erman/Schiemann, Vor § 823 Rn. 3, 11.
Kapitel 4
Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts A. Überblick über das chinesische Deliktsrecht I. Historische Entwicklung 1. Vor dem chinesischen Deliktshaftungsgesetz Vor Inkrafttreten des chinesischen Deliktshaftungsgesetzes im Jahr 2017 gab es im chinesischen Recht kein spezifisches Gesetz über die deliktische Haftung für Verletzung von Rechten bzw. Rechtsgütern. Für die Behandlung der Deliktsfälle sind die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts der Volksrepublik China und zwei Justiziellen Interpretationen des chinesischen OVG von wichtiger Bedeutung: a) Allgemeine Grundsätze des Zivilrechts der Volksrepublik China Die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts der Volksrepublik China (AGZ) sind am 1. Januar 1987 in Kraft getreten.432 Dieses aus 156 Vorschriften bestehende Gesetz ist das erste grundlegende Einzelgesetz im Zivilrecht seit Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949. Es gilt zwar als grundlegende Leitlinie des Zivilrechts, kann aber nicht lediglich als allgemeiner Teil des Zivilgesetzbuches angesehen werden:433 Unter den Regeln der AGZ überwiegen die allgemeinen Bestimmungen, die für sämtliche Felder des Zivilrechts gelten. Darüber hinaus enthalten die AGZ auch einige Vorschriften, die im jeweiligen besonderen Teil des Zivilrechts und sogar in anderen Rechtsgebieten Anwendung finden.434 Die Vorschrift des § 106 II AGZ ist dem Deliktsrecht zuzuordnen und regelt die Verschuldenshaftung für Verletzungen von Vermögen, Körper oder Persönlich432
Die Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts der Volksrepublik China [ ] sind am 12. 4. 1986 auf der 4. Sitzung des 6. Nationalen Volkskongresses verabschiedet worden und am 1. 1. 1987 in Kraft getreten. 433 Die AGZ sind vielmehr „als Kombination eines detaillierten Allgemeinen Teils und eines nur Grundzüge umfassenden Besonderen Teils“ zu verstehen; vgl. BU Yuanshi, § 10 Rn. 1. 434 Beispielweise werden im 8. Kapitel der AGZ die Vorschriften des internationalen Privatrechts festgelegt.
106
Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
keitsrecht.435 Diese Bestimmung wurde deswegen lange Zeit, nämlich bis zum Inkrafttreten des chinesischen Deliktshaftungsgesetzes im Jahr 2007, als deliktische Generalklausel angesehen.436 Die speziell für die deliktische Haftung wie z. B. die Produkthaftung (§ 122 AGZ) und die Tierhalterhaftung (§ 127 AGZ) geltenden Bestimmungen sind im dritten Abschnitt des sechsten Kapitels der AGZ festgelegt.437 In der gleicherweise für Vertrags- wie Deliktshaftung geltenden Vorschrift des § 134 I AGZ werden zehn verschiedene Formen aufgezählt, in denen die zivilrechtliche Haftung übernommen wird. Darunter sind die „Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes“ [ ] (§ 134 I Nr. 5 AGZ) und der „Schadenser] (Nr. 8) für die Deliktshaftung von großer Bedeutung. satz“ [ b) Justizielle Interpretationen des chinesischen OVG Im chinesischen Rechtssystem stellt die „Justizielle Interpretation“ [ ]438 durch das Oberste Volksgericht der VR China (OVG) eine wichtige Quasi-Rechtsquelle dar.439 Dabei handelt es sich um die Ansichten des OVG zu der konkreten Anwendung eines bestimmten Gesetzes oder der Rechtsanwendung auf eine bestimmte Fallgruppe oder Frage.440 § 32 des Gerichtsorganisationsgesetzes der VR China bildet die gesetzliche Grundlage für die Kompetenz des OVG zur Ausarbeitung von justiziellen Interpretationen.441 Hier spielt das OVG im Grunde die Rolle eines „Ergänzungsgesetzgebers“, obwohl ihm weder nach dem Verfassungsgesetz der VR China noch nach dem GGG die Gesetzgebungskompetenz eingeräumt wird.442 Im Folgenden sind zwei justizielle Interpretationen vorzustellen, die für die Rechtsanwendung bei deliktischen Streitfällen von Bedeutung sind: 435 Vgl. BU Yuanshi, § 10 Rn. 42. Das Verschuldensprinzip wird von den AGZ als Grundsatz für die Deliktshaftung (und auch für die Vertragshaftung) festgelegt (§ 106 III AGZ). Außerhalb der Verschuldenshaftung werden in den AGZ auch die verschuldensunabhängige Haftung bei Durchführung hochgefährlicher Arbeiten (§ 123 AGZ) und die Billigkeitshaftung (§ 132 AGZ) geregelt. 436 Vgl. WANG Liming, Jurist 3/2009, S. 23; YANG Lixin, S. 54; ZHANG Xinbao, CJL 4/ 2001, S. 48. 437 Der Titel dieses Abschnitts lautet: „Zivilrechtliche Haftung für Rechtsverletzungen“ [ ]. 438 In der deutschen Literatur wird dieser Begriff mit „justizielle Auslegung oder Interpretation“ übersetzt; vgl. Ahl, ZChinR 2007, S. 251. 439 Zur detaillierten Vorstellung der justiziellen Auslegung durch das OVG vgl. Ahl, ZChinR 2007, S. 251 ff.; BU Yuanshi, § 4 Rn. 3 ff. 440 Vgl. BU Yuanshi, § 4 Rn. 3 f. Die justizielle Interpretation erscheint in einer der folgenden vier verschiedenen Formen, als „Erläuterungen“ [ ], „Bestimmungen“ [ ], „Replik“ [ ] oder „Entscheidungen“ [ ]. Zur Unterscheidung dieser Formen vgl. Werthwein, S. 14. 441 Vgl. Werthwein, S. 14. 442 Vgl. Manthe, S. 11.
A. Überblick über das chinesische Deliktsrecht
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aa) Ansichten des OVG zur Implementierung der AGZ Bei Anwendung der AGZ in der Praxis waren einige konkrete Fragen aufgetreten. Da die Bestimmungen der AGZ nicht ausführlich genug waren, blieben die Antworten auf diese Fragen vorerst offen. Aus diesem Grund wurde ein Jahr nach Inkrafttreten der AGZ eine justizielle Interpretation vom OVG erlassen, deren Titel lautet: „Versuchsweise durchgeführte Ansichten des OVG zu einigen Fragen der Implementierung der AGZ“.443 Die Ziffern 142 bis 164 der AGZ-Ansichten stehen unter dem gemeinsamen Titel „Die Zivilrechtliche Haftung“. Alle diese Vorschriften behandeln konkrete Fragen zur Haftung aus unerlaubter Handlung. Die meisten davon lassen sich als Ergänzung entsprechender Bestimmungen der AGZ ansehen. Dadurch werden einerseits die Voraussetzungen der Deliktshaftung konkretisiert (Ziff. 149 – 154). Andererseits werden deren Rechtsfolgen näher erörtert, z. B. die Regeln zur Berechnung des Schadensersatzes (Ziff. 143 – 147). Außerdem werden in den AGZ-Ansichten auch einige neue Regeln festgelegt, z. B. die Haftung von Anstiftern und Gehilfen (Ziff. 148). bb) Erläuterungen des OVG zum Schadensersatz für Personenschäden In der chinesischen Rechtspraxis begegnen die Gerichte einer großen Anzahl von Fällen, in denen die schadenstiftenden Ereignisse die Verletzung von Leben, Körper oder Gesundheit zur Folge haben. Zur Förderung richtiger Rechtsanwendung in diesen Fällen verabschiedete das OVG Ende des Jahres 2003 seine Erläuterungen zum Schadensersatz für Personenschäden.444 Unter der Bezeichnung „Personen] werden jene Verletzungsfolgen verstanden, die sich aus der schäden“ [ Verletzung von Leben, Körper oder Gesundheit ergeben.445 Für die Verletzung des Persönlichkeitsrechts gilt diese justizielle Interpretation nicht. Die Personenschäden-Erläuterungen umfassen insgesamt 36 Vorschriften. In der ersten und letzten Vorschrift werden der sachliche und persönliche sowie zeitliche 443 Die Versuchsweise durchgeführte Ansichten des OVG zu einigen Fragen der Implementierung der AGZ (im Folgenden kurz: „AGZ-Ansichten“) wurden am 26. 1. 1988 von der Urteilskommission des OVG verabschiedet. 444 Die Erläuterungen des OVG zu einigen Fragen der Anwendung des Rechts bei der Behandlung von Fällen des Ersatzes von Personenschäden (im Folgenden kurz: „Personenschäden-Erläuterungen“) wurden am 4. 12. 2003 auf der 1299. Sitzung des Rechtsprechungsausschusses des Obersten Volksgerichts verabschiedet und traten am 1. 5. 2004 in Kraft. Die Übersetzung dieser justiziellen Interpretation findet sich bei Göbel, ZChinR 2004, S. 87 ff. Zur ausführlichen Darstellung dieser justiziellen Interpretation vgl. Göbel, ZChinR 2004, S. 248 ff. 445 § 1 I der Personenschäden-Erläuterungen des OVG lautet: „Verklagt in Fällen der Verletzung von Leben, Gesundheit oder Körper der zum Ersatz Berechtigte den Ersatzpflichtigen mit der Forderung, Vermögensschäden und immaterielle Schäden zu ersetzen, hat das Volksgericht [die Klage] für zulässig zu erklären.“
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
Anwendungsbereich dieser justiziellen Interpretation festgelegt. §§ 2 bis 35 der Personenschäden-Erläuterungen bilden den Hauptteil dieser justiziellen Interpretation und können grob in folgende Teile gegliedert werden: § 2 der Personenschäden-Erläuterungen ist die einzige Bestimmung, welche die Haftungserleichterung bzw. -freistellung des Schädigers beim Mitverschulden des Geschädigten betrifft. Sie stellt deshalb eine Ergänzung und Ausweitung der Grundregel des Mitverschuldens (§ 131 AGZ) dar. Sodann kommen die §§ 3 bis 5 der Personenschäden-Erläuterungen in Betracht, die sich zur Haftung mehrerer Schädiger verhalten. Die daran anschließenden elf Vorschriften befassen sich mit Sondertatbeständen und der Haftung für unerlaubte Handlungen, die in bestimmten Lebensbereichen auftreten. Dazu gehören z. B. die Haftung aus Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht446 und die Haftung des Arbeitgebers für Fehlverhalten des Arbeitnehmers.447 §§ 17 – 34 der Personenschäden-Erläuterungen sind sämtlich detaillierte Regelungen über die Berechnung des Schadensersatzes.448 Sie beziehen sich auf verschiedene Schadensposten, z. B. die Behandlungskosten (§ 19), den Verdienstausfall (§ 20) und die Entschädigung bei Behinderung (§ 25) oder Tötung (§ 29). 2. Gesetz der VR China über die deliktische Haftung Am 1. Juli 2010 ist das Gesetz der VR China über die deliktische Haftung in Kraft getreten. Dieses Gesetz, das auf den oben erwähnten Gesetzen und justiziellen Interpretationen basiert, wird als ein umfassendes Gesetz über die Haftung aus unerlaubter Handlung angesehen.449 Einige Regeln, die vorher nur in den justiziellen 446 Nach überwiegender Ansicht stellt die in § 6 der Personenschäden-Erläuterungen festgelegte Sicherheitsgewährleistungspflicht das Äquivalent zur Verkehrspflicht im deutschen Deliktsrecht dar. 447 § 8 der Personenschäden-Erläuterungen lautet: „Fügen die gesetzlichen Repräsentanten, Verantwortlichen oder Arbeiter von juristischen Personen oder anderen Organisationen in Erfüllung ihrer Aufgaben [anderen] Personen Schäden zu, übernehmen gemäß § 121 AGZ diese juristischen Personen bzw. anderen Organisationen die zivilrechtliche Haftung. Führen Handlungen, die die genannten Personen nicht im Zusammenhang mit der Erfüllung von Aufgaben ausführen, zu Schäden [anderer] Personen, muss der Handelnde die Schadensersatzhaftung übernehmen.“ 448 Die einzige Ausnahme ist § 18 der Körperschäden-Erläuterungen. Diese Vorschrift befasst sich mit dem Schmerzensgeldanspruch derjenigen Angehörigen des Verletzten oder Verstorbenen, die immaterielle Schäden erleiden. Diese Vorschrift ist zugleich eine Verweisungsnorm, die auf die Anwendung der „Erläuterungen des OVG zu einigen Fragen der Feststellung der zivilrechtlichen Deliktshaftung für immaterielle Schäden“ verweist. 449 Im Rahmen des GdH ist der Begriff „Haftung aus unerlaubter Handlung“ im weiteren Sinne zu verstehen, d. h. sie umfasst nicht nur die Haftung aus rechtswidriger Handlung, sondern auch die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung.
A. Überblick über das chinesische Deliktsrecht
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Interpretationen erschienen waren, wurden in den Rang eines Gesetzes erhoben.450 Außerdem wurden auch einige neue Regeln in das chinesische Deliktshaftungsgesetz eingefügt. Die Verabschiedung des GdH ist auch von großer Bedeutung für die chinesische Zivilrechtskodifikation. a) Mangel im Gesetzgebungsverfahren des GdH In diesem Zusammenhang muss auf eine Besonderheit hingewiesen werden: Obwohl das chinesische Deliktshaftungsgesetz zu den grundlegenden zivilrechtlichen Gesetzen gehört, wurde es nicht vom Nationalen Volkskongress der VR China (NVG), sondern von seinem Ständigen Ausschuss erlassen. Dies widerspricht offensichtlich der Bestimmung des § 7 II GGG, der zufolge die Gesetzgebungskompetenz für grundlegende Gesetze des Zivilrechts ausschließlich dem NVG zusteht.451 Der vermutliche Grund dafür könnte darin liegen, dass dieses Gesetz durch den Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses schneller und reibungsloser verabschiedet werden konnte. Dies entsprach dem damaligen dringenden Bedürfnis in der Rechtspraxis nach einem umfassenden Gesetz, das speziell die Problematik der Haftung für unerlaubte Handlung behandelt.452 Dieser Mangel in Bezug auf das Gesetzgebungsverfahren ist im Schrifttum auf Kritik gestoßen.453 Bisher hat die chinesische höchste gesetzgebende Körperschaft leider keine zufriedenstellende Antwort darauf gegeben.454 Nach hier vertretener Ansicht kann man sich nur darauf verlassen, dass dieser erhebliche Mangel im Zuge der zukünftigen Kodifikation des chinesischen Zivilgesetzbuches durch den NVG behoben wird.
450 Vgl. WANG Liming, Jurist 2/2010, S. 85 ff.; CHENG Xiao, S. 9 f.; ZHANG Xinbao, S. 11; ZHOU Youjun, S. 1 ff. 451 Nach § 7 III GGG kann der Ständige Ausschuss des NVG die Gesetze erlassen und ändern, deren Gesetzgebungskompetenz nicht ausschließlich dem Nationalen Volkskongress zufällt. Außerdem kann der Ständige Ausschuss zwischen den Tagungen des Nationalen Volkskongresses die vom Nationalen Volkskongress festgelegten Gesetze teilweise ergänzen oder ändern, soweit die Ergänzung oder Änderung den grundlegenden Prinzipien der betreffenden Gesetze nicht zuwiderläuft. 452 Normalerweise besteht der NVG aus rund 3.000 Abgeordneten, während sein Ständiger Ausschuss in der Regel nur ca. 160 Mitglieder hat. Deswegen gibt es weniger Kontroversen und Hindernisse, wenn ein Gesetz durch den Ständigen Ausschuss des NVG verabschiedet wird. Vgl. BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 218. 453 Vgl. WANG Zhu, LS 5/2010, S. 28; BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 218 f. 454 Im Schrifttum versucht ein Autor, eine verfassungskonforme Auslegung hinsichtlich des Gesetzgebungsverfahrens betreffend dieses Gesetz vorzunehmen; vgl. WANG Zhu, LS 5/2010, S. 28 ff.
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b) Inhaltsübersicht des GdH Als ein umfassendes Gesetz enthält das GdH inhaltlich nicht nur die Bestimmungen zur allgemeinen Deliktshaftung, sondern auch viele besondere Haftungstatbestände für typisierte Sachverhalte. Dieses Gesetz hat insgesamt 92 Bestimmungen und besteht aus zwölf Kapiteln, die sich grob in drei Teile gliedern lassen: In den ersten vier Kapiteln dieses Gesetzes werden die grundlegenden Regeln zur Deliktshaftung festgelegt, z. B. die geschützten Rechtsgüter (§ 2 GdH), das Verschuldensprinzip (§ 6 GdH) und die Haftungsformen (§ 15 GdH).455 Deshalb können die Kapitel 1 bis 4 in ihrer Gesamtheit als „Allgemeiner Teil“ des chinesischen Deliktshaftungsgesetzes betrachtet werden.456 In den folgenden sieben Kapiteln werden nacheinander besondere Haftungstatbestände in unterschiedlichen Bereichen geregelt, z. B. die Produkthaftung (Kapitel 5), die Haftung für Umweltverschmutzung (Kapitel 8) und die Tierhalterhaftung (Kapitel 10). Das letzte Kapitel des GdH steht unter dem Titel „Ergänzende Regel“. In diesem Kapitel befindet sich nur eine einzige Vorschrift, die das Datum des Inkrafttretens des chinesischen Deliktshaftungsgesetzes festlegt.457
3. Das chinesische Zivilgesetzbuch Seit März 2015 hat der chinesische Gesetzgeber die Kodifikation des chinesischen Zivilgesetzbuches auf die Tagesordnung gesetzt. Der allgemeine Teil des Zivilrechts ] wurde zunächst als Einzelgesetz verder VR China [ abschiedet und ist im Oktober 2017 in Kraft getreten.458 Dieses Einzelgesetz ist bereits im Ganzen in das erste Buch des chinesischen ZGB übernommen worden.459 Am 28. 5. 2020 ist das Zivilgesetzbuch der VR Chna (im Folgenden kurz: „ChZGB“) auf der 3. Sitzung des Ständigen Ausschusses des 13. Nationalen Volkskongresses verabschiedet worden. Nach § 1260 S. 1 ChZGB wird dieses Gesetzbuch am 1. 1. 2021 in Kraft treten. 455 Die Titel der einzelnen Kapitel lauten: „Allgemeine Bestimmungen“ (Kapitel 1); „Haftungstatbestände und -formen“ (Kapitel 2); „Haftungsbefreiung und -minderung“ (Kapitel 3); „Besondere Vorschriften zum Haftpflichtigen“ (Kapitel 4). Zur anderen Ansicht vgl. ZHANG Xinbao, S. 9. 456 Vgl. BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 219. 457 Vgl. BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 219. 458 Der allgemeine Teil des Zivilrechts der VR China ist bereits am 15. 3. 2017 auf der 5. Sitzung des Ständigen Ausschusses des 12. Nationalen Volkskongresses verabschiedet worden und wird am 1. 10. 2017 in Kraft treten. 459 Siehe „Erläuterung zum Allgemeinen Teil des Zivilgesetzbuches der VR China (Ent]. Dieses Dokument wurde am wurf)“ [ 15. 3. 2017 auf der 5. Sitzung des Ständigen Ausschusses des 12. Nationalen Volkskongresses verkündet. Vgl. WANG Liming, TULJ 6/2014, S. 14 ff.; WANG Zhu, JNPC 4/2017, S. 44 ff.
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Das ChZGB enthält insgesamt 1.260 Vorschriften und ist in sieben Bücher unterteilt: Allgemeiner Teil (Buch 1), Sachenrecht (Buch 2), Vertragsrecht (Buch 3), Persönlichkeitsrecht (Buch 4), Ehe- und Familienrecht (Buch 5), Erbrecht (Buch 6) und Deliktshaftungsrecht (Buch 7). Das letzte Buch des chinesischen ZGB enthält alle gesetzlichen Vorschriften über die deliktische Haftung. Sowohl inhaltlich als auch strukturell ist es überwiegend identisch mit dem geltenden chinesischen GdH. Dies ist signifikant vom deutschen Regelungsmodell geprägt, im Rahmen dessen die unerlaubte Handlung als ein gesetzliches Schuldverhältnis im Teil des Schuldrechts des BGB. Bei der Kodifikation hat der chinesische Gesetzgeber ein besonderes Augenmerk auf die folgenden beiden Aspekte gelegt: Zum einen müssen die geltenden gesetzlichen Vorschriften weiter revidiert und harmonisiert und sodann in das chinesische ZGB integriert werden. Zum anderen muss gewährleistet werden, dass das Buch zur Deliktshaftung in seiner Systematik mit anderen Büchern des chinesischen ZGB übereinstimmt.
II. Allgemeines zur Deliktshaftung im Rahmen des chinesischen Rechts Die oben genannten geltenden Gesetze und justiziellen Interpretationen sind die wichtigsten Rechtsquellen des chinesischen Deliktsrechts.460 Im nachfolgenden Abschnitt beschränkt sich die Untersuchung auf die allgemeinen Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Deliktshaftung. 1. Deliktsrechtliche Generalklausel Es ist im chinesischen Schrifttum heftig umstritten, welche Bestimmung des GdH die deliktsrechtliche Generalklausel darstellt.461 In § 2 I GdH wird die Deliktshaftung für die Verletzung von zivilen Rechten und Interessen festgelegt.462 Anschließend werden die deliktsrechtlich geschützten zivilen Rechte und Interessen in § 2 II GdH konkret aufgelistet. Deswegen wird in der Lehre zum Teil die Meinung vertreten, dass § 2 GdH (oder genauer gesagt dessen
460 Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von besonderen Gesetzen, welche die deliktische Haftung in bestimmten Bereichen speziell regeln. Sie sind ebenfalls von großer Bedeutung für die Rechtspraxis. Als Beispiele sind das Produktqualitätsgesetz, das Verbraucherschutzgesetz, das Straßenverkehrssicherheitsgesetz und das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb der VR China zu nennen. Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 95 f.; ZHANG Xinbao, S. 10. 461 Zur ausführlichen Darstellung verschiedener Meinungen Vgl. GAO Shengping, S. 12 ff. 462 § 2 I GdH lautet: „Wer zivile Rechte oder Interessen verletzt, muss nach diesem Gesetz die deliktische Haftung übernehmen.“
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
erster Absatz) die deliktsrechtliche Generalklausel ist.463 Zu bedenken ist allerdings, dass § 2 I GdH eine abstrakte Norm ist und es ihr insbesondere an dem Zurechnungsgrund fehlt.464 Nach der herrschenden Lehre soll § 6 I GdH als die Generalklausel gelten.465 Der einzige Unterschied zwischen §§ 2 I und 6 I GdH besteht darin, dass die letztgenannte Vorschrift das Verschulden als den allgemeinen Zurechnungsgrund ausdrücklich anerkennt.466 Obwohl im chinesischen Deliktsrecht auch verschuldensunabhängige Haftung (§ 7 GdH) und Billigkeitshaftung (§ 24 GdH) bestehen, gelten die beiden Vorschriften lediglich als Ausnahmen vom Verschuldensprinzip.467 Hier ist ebenfalls der herrschenden Lehre zu folgen. § 2 GdH kann leider nicht als eine selbständige Anspruchsgrundlage angesehen werden. Er dient nur zur Verdeutlichung des gegenständlichen Schutzbereiches des chinesischen Deliktshaftungsgesetzes. Im Vergleich dazu enthält § 6 I GdH den Tatbestand (Verletzung von zivilen Rechten oder Interessen) und den Zurechnungsgrund (Verschulden) sowie die Rechtsfolge (deliktische Haftung). Deswegen qualifiziert er sich als die deliktsrechtliche Generalklausel. Zudem ist dieser Meinung aus rechtshistorischen Erwägungen zuzustimmen: Vor Inkrafttreten des GdH wurde immer § 106 II AGZ als die Generalklausel des chinesischen Deliktsrechts betrachtet. § 6 I GdH wiederum ist sowohl inhaltlich als auch strukturell dem § 106 II AGZ vergleichbar. Um die Einheitlichkeit des Rechtssystems zu gewährleisten, ist weiterhin § 6 I GdH als deliktsrechtliche Generalklausel anzusehen. Diese Ansicht wird auch von Gesetzgeber des chinesischen Zivilgesetzbuchs akzeptiert. Der oben genannte Streit wird im Rahmen des ChZGB gelöst. § 1165 I ChZGB, also die zweite Bestimmung des 7. Buchs „Deliktshaftung“, ist inhaltlich völlig gleich mit § 6 I GdH und funktioniert als die deliktsrechtliche Generalklausel nach Inkrafttreten des ChZGB. 2. Aufbau der Verschuldenshaftung im chinesischen Deliktsrecht Im chinesischen Deliktsrecht herrscht erhebliche Uneinigkeit über die grundlegenden Voraussetzungen der Verschuldenshaftung. Der zentrale Streitpunkt dreht sich um die bis heute noch nicht entschiedene Frage, ob die Rechtswidrigkeit eine
463
Vgl. YANG Lixin, S. 35 ff. Vgl. BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 219. 465 Vgl. CHENG Xiao, S. 33; ZHANG Xinbao, JLA 10/2012, S. 29; WANG Liming, Jurist 2/2010, S. 90 f. 466 § 6 I GdH lautet: „Wenn ein Handelnder schuldhaft zivile Rechte oder Interessen anderer verletzt, ist er dafür deliktsrechtlich verantwortlich.“ 467 Vgl. ZHOU Youjun, S. 123 ff. 464
A. Überblick über das chinesische Deliktsrecht
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unentbehrliche Voraussetzung für die Verschuldenshaftung ist.468 Doch zumindest die folgenden Grundtatbestände lassen sich aus der Generalklausel (§ 6 I GdH bzw. § 1165 I ChZGB) deutlich herausarbeiten. Dabei sind nach wohl überwiegender Ansicht im Schrifttum die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale zu unterscheiden.469 a) Objektive Tatbestandsmerkmale Zu den objektiven Tatbestandmerkmalen gehören die Verletzungshandlung, die Rechts- bzw. Interessenverletzung und der Kausalzusammenhang zwischen den beiden.470 Dementsprechend werden die objektiven Tatbestandmerkmale wie folgt dreifach untergliedert: Es muss zunächst eine Verletzungshandlung vorliegen. Dabei handelt es sich um ein menschliches Verhalten, das auf freiem Willen beruht. Als Verletzungshandlung im deliktsrechtlichen Sinne kommt nicht nur positives Tun sondern auch negatives Unterlassen in Betracht, soweit eine Pflicht zum Handeln besteht. Nach der Lehre kann sich die Pflicht zum Handeln aus Gesetz, Vertrag oder vorangegangenem Tun ergeben; unter besonderen Umständen lässt sie sich auch aus dem Grundsatz von Treu und Glauben herleiten.471 Außerdem wird auch das deutsche Rechtsinstitut der Verkehrspflichten von der chinesischen Lehre rezipiert, um die Quelle der Pflichten zum Handeln zu erweitern. Aufgrund der Bestimmungen der §§ 2 I und 6 I GdH lässt sich feststellen, dass im chinesischen Deliktsrecht nicht die Pflichtverletzung sondern die Verletzung einer geschützten individuellen Rechtsposition den Anknüpfungspunkt der deliktischen Haftung darstellt.472 Dafür muss die Verletzung an einem derjenigen Rechte oder Interessen eingetreten sein, die nach § 2 II GdH schutzwürdig sind.473 Außerdem muss die Verletzung von Rechten bzw. schutzwürdigen Interessen gerade durch die Verletzungshandlung herbeigeführt werden. Das heißt, dass zwischen den beiden ein Kausalzusammenhang bestehen muss. Nach überwiegender Lehre im Schrifttum kommen im Rahmen der Kausalitätsprüfung sowohl die Äquivalenz- als auch die Adäquanztheorie zur Anwendung.474 468 Diese Frage wird in einem späteren Teil dieser Arbeit aus rechtsvergleichender Perspektive eingehender erörtert. Dazu siehe unten unter „Kapitel 5 B.“. 469 Vgl. NPCSC Law Committee, S. 20 ff.; YANG Lixin, S. 151 ff.; WANG Liming, 1. Halbband, S. 279 ff.; ZHANG Xinbao, S. 25 ff. 470 Vgl. CHENG Xiao, S. 208 f.; ZHOU Youjun, S. 133 f. 471 Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 5; YANG Lixin, S. 166 f.; ZHANG Xinbao, S. 27; CHENG Xiao, S. 208 f. 472 Vgl. Bollweg/Doukoff/Jansen, ZChinR 2011, S. 93. 473 Vgl. CHENG Xiao, S. 208 f. 474 Vgl. CHENG Xiao, S. 225 ff.; WANG Liming, 1. Halbband, S. 378 ff.; YANG Lixin, S. 182 ff.; ZHANG Xinbao, S. 30 ff. In Ausnahmenfällen (z. B. die kumulative oder alternative
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
b) Subjektives Tatbestandsmerkmal: Verschulden aa) Verschuldensformen In subjektiver Hinsicht muss der Eingriff des Schädigers schuldhaft gewesen sein. Dies bildet somit den Kern der Verschuldenshaftung. Das Verschulden im chinesischen Deliktsrecht kommt – wie auch im deutschen Recht – in zwei Formen vor, nämlich als Vorsatz und als Fahrlässigkeit. Im chinesischen Deliktshaftungsgesetz fehlt es an einer gesetzlichen Definition von Vorsatz. Nach der Lehre im Schrifttum handelt es sich dabei um das Wissen und Wollen der Verwirklichung eines Verletzungstatbestandes.475 Der Vorsatz ist von besonderer Bedeutung für die Feststellung der Mittäterschaft und die Haftungsverteilung zwischen mehreren Schädigern.476 Außerdem stellt die vorsätzliche Schadensherbeiführung durch den Geschädigten einen Haftungsausschlussgrund dar (§ 27 GdH bzw. § 1174 ChZGB). Die Fahrlässigkeit wird ebenfalls nicht gesetzlich definiert. Sowohl nach überwiegender Ansicht in der Literatur als auch nach der Rechtsprechung soll die Fahrlässigkeit als Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt begriffen werden.477 In erster Linie orientiert sich die objektiv geforderte Sorgfalt an den Anforderungen, die an eine durchschnittlich vernünftige und umsichtige Person des betreffenden Verkehrskreises zu stellen sind. Außerdem werden auch die konkrete Lage und soziale Rolle des Handelnden in den Blick genommen.478 In der Rechtsprechung wird allerdings nicht immer genau geklärt, ob ein Schädiger vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt. Stattdessen wird nur pauschal beurteilt, ob ihn ein Verschulden trifft.479 bb) Verschuldensfähigkeit? (1) Keine gesetzliche Vorschrift Im Rahmen des deutschen Rechts ist bei Begründung einer deliktischen Haftung die Verschuldensfähigkeit des Schädigers stets zu prüfen.480 Die Lage im chinesischen Deliktsrecht steht im krassen Gegensatz dazu. Im chinesischen Deliktshaftungsgesetz lässt sich überhaupt keine Vorschrift zur Verschuldens- bzw. DeliktsKausalität) muss aber die Äquivalenz- oder Adäquanztheorie modifiziert werden; detailliert dazu vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 381 ff.; ZHOU Youjun, S. 200. 475 Vgl. CHENG Xiao, S. 264 ff. 476 Vgl. ZHOU Youjun, S. 250 f. 477 Vgl. CHENG Xiao, S. 275 ff. 478 Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 326 ff. 479 Vgl. BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 221. 480 ] auch als Bei einer unerlaubten Handlung kann die „Verschuldensfähigkeit“ [ „Deliktsfähigkeit“ [ ] bezeichnet werden.
A. Überblick über das chinesische Deliktsrecht
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fähigkeit finden. Das Fehlen einer solchen Bestimmung ist in der Literatur auf massive Kritik gestoßen.481 § 32 GdH (auch § 1188 ChZGB) ist die einzige Bestimmung, welche die Haftung für von zivilrechtlich Geschäftsunfähigen oder beschränkt Geschäftsfähigen verursachte Schäden regelt:482 Nach § 32 I GdH (bzw. § 1188 I ChZGB) ist der Vormund ohne Rücksicht auf eigenes Verschulden für die durch zivilrechtlich Geschäftsunfähige oder beschränkt Geschäftsfähige herbeigeführten Schäden verantwortlich. Mit dem Einwand, dass er seiner Aufsichtspflicht genügt habe, kann die Haftung des Vormunds nicht ausgeschlossen, sondern lediglich gemindert werden. Noch verwirrender ist der zweite Absatz dieser Vorschrift. Dieser thematisiert die Frage, auf welche Weise Schadensersatz zu leisten ist, wenn die Schäden von Geschäftsunfähigen oder beschränkt Geschäftsfähigen verursacht werden. Nach § 32 II GdH (bzw. § 1188 II ChZGB) soll der Schadensersatzbetrag zuerst aus dem eigenen Vermögen des Geschäftsunfähigen oder beschränkt Geschäftsfähigen gezahlt werden. Reicht sein Vermögen für die volle Zahlung nicht aus, muss der Vormund den noch offenstehenden Betrag zahlen. (2) Problematik der Bestimmung des § 32 GdH und Lösungsvorschlag Die Bestimmung des § 32 GdH wird im Schrifttum unter den folgenden Aspekten heftig kritisiert: Einerseits macht diese Vorschrift die deliktische Haftung des Geschäftsunfähigen oder beschränkt Geschäftsfähigen davon abhängig, ob er eigenes Vermögen hat. Dies weicht erheblich von der Verschuldenshaftung ab, ohne dass es irgendeinen berechtigten Grund dafür gibt.483 Andererseits kann diese Vorschrift zu unfairen Ergebnissen führen. Falls das schädigende Kind eigenes Vermögen hat, muss es in jedem Fall die Haftung übernehmen, auch wenn es überhaupt kein Verschulden trifft. Eine solche verschuldensunabhängige Zurechnung läuft dem Grundprinzip des Minderjährigenschutzes offensichtlich zuwider.484 Außerdem wird der Vormund durch diese Vorschrift gerade nicht dahingehend motiviert, die Vormundschaft sorgfältig auszuüben. Auch dies ist dem Minderjährigenschutz nicht zuträglich.485 481
Vgl. YANG Daixiong, LF 2/2012, S. 56 ff.; CHENG Xiao, S. 275 ff.; ZHOU Youjun, S. 242 ff. 482 ] im chinesischen Recht ist der Die zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit [ parallele Begriff zur Geschäftsfähigkeit im deutschen Recht. Dabei handelt es sich ebenfalls um die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte selbständig vollwirksam vorzunehmen. Ob eine Person zivilrechtlich geschäftsunfähig, voll oder beschränkt geschäftsfähig ist, ist je nach Alter und Geisteszustand zu bestimmen. 483 Vgl. YANG Daixiong, LF 2/2012, S. 60. 484 Vgl. WANG Zejian, S. 490 f.; CHENG Xiao, S. 392 f. 485 Vgl. YANG Daixiong, LF 2/2012, S. 60; JIN Keke/HU Jianming, CJL 5/2012, S. 112.
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
Hier vertretener Ansicht nach besteht der entscheidende Kritikpunkt darin, dass im chinesischen Recht die zwei Begriffe der Geschäftsfähigkeit und der Verschuldensfähigkeit unrichtigerweise miteinander verwechselt werden. Eigentlich unterscheiden sich die beiden Rechtsbegriffe deutlich voneinander, sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Bedeutung als auch der dogmatischen Funktion.486 Um diese inhärente Problematik des chinesischen Deliktsrechts komplett zu überwinden, wird im Großteil der einschlägigen Literatur dringend vorgeschlagen, im zukünftigen chinesischen ZGB die Verschuldens- bzw. Deliktsfähigkeit ausdrücklich zu verankern.487 Leider wird dieser Vorschlag nicht vom Gesetzgeber angenommen. c) Haftungsausschlussgründe Die vorstehend beschriebenen Tatbestandsmerkmale kann man sozusagen als positive Voraussetzungen für die deliktische Haftung bezeichnen. Im Kontrast dazu bestehen im chinesischen Deliktsrecht auch einige negative Voraussetzungen für die deliktische Haftung. Das bedeutet, dass das Vorliegen einer solchen Voraussetzung die deliktische Haftung ausschließt. Gerade aus diesem Grund werden solche Voraussetzungen als Haftungsausschlussgründe bezeichnet.488 Sowohl im GdH als auch im ChZGB werden Notwehr und Notstand ausdrücklich geregelt. Beide sind die typischsten Haftungsausschlussgründe. Darüber hinaus kommen auch höhere Gewalt und Vorsatz des Geschädigten489 als gesetzliche Haftungsausschlussgründe in Betracht. Nach der herrschenden Lehre im Schrifttum werden auch die Einwilligung des Geschädigten und die Selbsthilfe als Haftungsausschlussgründe betrachtet.490 Sämtliche oben aufgeführten Haftungsausschlussgründe können zwar zur Verneinung der deliktischen Haftung führen, dogmatisch jedoch sollten sie an unterschiedliche Stellen des Deliktsaufbaus gesetzt werden. Beispielweise kann die höhere Gewalt als ein Argument dafür angeführt werden, dass den Schädiger kein Verschulden trifft. Sie könnte unter Umständen auch dafür sprechen, dass kein Zusammenhang zwischen Verletzungshandlung und Schaden besteht. 486 Zur ausführlichen Darstellung verschiedener Ansichten zum Verhältnis zwischen Geschäfts- und Verschuldensfähigkeit im chinesischen Schrifttum vgl. GAO Shengping, S. 389 ff.; CHENG Xiao, S. 287 f. Zur Unterscheidung von Geschäfts- und Verschuldensfähigkeit im Rahmen des deutschen Rechts vgl. unter anderem Wolf/Neuner, BGB AT, § 12 Rn. 4 ff.; Brox/Walker, BGB AT, Rn. 262. 487 Vgl. JIN Keke/HU Jianming, CJL 5/2012, S. 109 ff.; YANG Daixiong, LF 2/2012, S. 62 f.; ZHOU Youjun, S. 243 f.; CHENG Xiao, S. 291. 488 Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 386 ff. 489 § 27 GdH bzw. § 1174 ChZGB lautet: „Ist der Schaden vom Geschädigten vorsätzlich herbeigeführt worden, übernimmt der Handelnde nicht die Haftung.“ 490 Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 402; CHENG Xiao, S. 294 ff.
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Sowohl nach deutschem Recht als auch nach der traditionellen chinesischen Zivilrechtslehre werden Notwehr, Notstand und Selbsthilfe sowie die Einwilligung des Geschädigten als „Rechtfertigungsgründe“ [ ] bezeichnet, welche die Rechtswidrigkeit der Verletzungshandlung entfallen lassen. Da die Rechtswidrigkeit vom chinesischen Deliktsrecht nicht ausdrücklich anerkannt wird, werden solche Aspekte unter der Bezeichnung „Haftungsausschlussgründe“ [ ] grob zusammengefasst.491 Nach hier vertretener Ansicht ist diese Bezeichnung zu vage. Bei der Prüfung des Deliktsaufbaus ist daher eine nähere Differenzierung bzw. eine genauere Betrachtung nötig. 3. Rechtsfolgen der unerlaubten Handlung Die konkreten Haftungsformen im chinesischen Deliktshaftungsgesetz sind viel umfangreicher als im deutschen Deliktsrecht. Nach § 15 GdH (auch § 179 ChZGB) kommen vor allem die folgenden Formen in Betracht, welche allein oder verbunden angewandt werden können: ];
[1] Einstellung der Verletzungen [ [2] Beseitigung von Behinderungen [ [3] Beseitigung von Gefahren [ [4] Rückgabe von Vermögensgütern [
]; ]; ];
[5] Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes [ [6] Schadensersatz [
];
[7] Entschuldigung [
];
];
[8] Beseitigung von Auswirkungen, Wiederherstellung des Rufes [ ]. In der Tat können die oben aufgelisteten Haftungsformen hinsichtlich ihres Zwecks in die folgenden beiden Kategorien unterteilt werden: Nach überwiegender Ansicht im Schrifttum knüpfen die ersten drei Haftungsformen im Kern an die Abwehransprüche an, die später in § 21 GdH erneut betont werden.492 Sie haben also Präventionszweck und dienen der Vorbeugung von Schäden.493 Demgegenüber haben die übrigen Haftungsformen die nachträgliche Schadenswiedergutmachung zum Zweck. Dabei kommen die Wiederherstellung des
491
Vgl. WANG Liming, PULJ 1/2012, S. 18 ff. § 21 GdH lautet: „Wenn die rechtsverletzende Handlung die Sicherheit von Personen oder Vermögen anderer gefährdet, kann der, dessen Rechte verletzt werden, aus der Verletzung der Rechte den Verletzer für die Einstellung der Verletzungen, die Beseitigung von Behinderungen, die Beseitigung von Gefahren usw. haftbar machen.“ 493 Vgl. CHENG Xiao, S. 656 ff. 492
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
ursprünglichen Zustandes (§ 15 Nr. 5 GdH)494 und der Schadensersatz (Nr. 6)495 in der Rechtspraxis am häufigsten zur Anwendung. Nach hier vertretener Ansicht stellt die Vorschrift des § 15 GdH (bzw. § 179 ChZGB) nur eine extrem grobe Zusammenfassung von möglichen Rechtsfolgen einer unerlaubten Handlung dar. Dabei mangelt es dem chinesischen Gesetzgeber an systematischem und logischem Denken. Dies führt zu einer Vielzahl von Problemen, z. B. hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Schadensersatz und Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes oder zwischen deliktischen Abwehransprüchen und dinglichen Ansprüchen usw.496 Aus Platzgründen wird im Rahmen dieser Arbeit nicht auf diese Fragen eingegangen. 4. Zusammenfassung Aus den vorstehenden Ausführungen wird deutlich, dass im chinesischen Deliktsrecht § 6 I GdH bzw. § 1165 I ChZGB die deliktische Generalklausel darstellt. Auf diese Vorschrift stützt sich die Verschuldenshaftung. Zur Haftungsbegründung müssen einerseits sämtliche objektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt sein. Dabei sind die Verletzungshandlung, die Verletzung bestimmter Rechte oder Interessen und der Kausalzusammenhang zwischen ihnen zu prüfen. Andererseits muss den Schädiger ein Verschulden, nämlich Vorsatz oder Fahrlässigkeit, treffen. Außerdem müssen auch Haftungsausschlussgründe Berücksichtigung finden. Die deliktische Haftung entsteht erst dann, wenn alle objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale gleichzeitig erfüllt sind und keine Haftungsausschlussgründe vorliegen. Als konkrete Rechtsfolge kommen die in § 15 GdH geregelten Haftungsformen in Betracht. Davon ist der Schadensersatz von überragender Bedeutung.
494 Nach hier vertretener Ansicht ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes allgemeiner Natur. Sie ist dem Begriff „Naturalrestitution“ im deutschen Recht ähnlich. Die Rückgabe von Vermögensgütern kann als eine besondere Form der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes angesehen werden. Gleichfalls können Entschuldigung, Beseitigung von Auswirkungen und Wiederherstellung des Rufes als Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes in solchen Fällen angesehen werden, in denen die in § 2 GdH aufgezählten Persönlichkeitsrechte (z. B. Ehre, guter Ruf) verletzt werden. Zu einer ähnlichen Ansicht vgl. ZHOU Youjun, S. 61 ff. 495 Zur näheren Erläuterung der Bedeutung des in § 15 Nr. 6 GdH geregelten Schadensersatzes vgl. CHENG Xiao, S. 663 ff. 496 Vgl. ZHOU Youjun, S. 66 ff.; CHENG Xiao, S. 660 ff. Zur ausführlichen Darstellung diesbezüglicher Streitigkeiten vgl. GAO Shengping, S. 189 ff.
B. Sicherheitsgewährleistungspflicht im chinesischen Deliktsrecht
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B. Sicherheitsgewährleistungspflicht im chinesischen Deliktsrecht I. Gesetzliche Grundlagen ] wurde zum ersten Die sog. Sicherheitsgewährleistungspflicht [ Mal vom OVG der VR China in einer justiziellen Interpretation geregelt. Nach § 6 I der Personenschäden-Erläuterungen sind die Personen, die gewerblichen oder anderen sozialen Aktivitäten (etwa in Hotels, Gastronomie- oder Vergnügungsstätten) nachgehen, in einem vernünftigen Rahmen dazu verpflichtet, die Sicherheit zu gewährleisten und andere Menschen vor Schaden zu bewahren. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, müssen sie für dadurch entstandene Körperschäden von Geschädigten haften. Die vorstehende Regelung wurde später vom Gesetzgeber in das chinesische Deliktshaftungsgesetz übernommen. Die Sicherheitsgewährleistungspflicht lässt sich in § 37 GdH finden.497 Dies zeigt, dass diese Pflicht in einem grundlegenden zivilrechtlichen Gesetz festgelegt wird.498 Hier ist darauf hinzuweisen, dass die Vorschriften von § 37 GdH und § 1198 ChZGB im Vergleich zu der Regelung von § 6 der Personenschäden-Erläuterungen in dreierlei Hinsicht geändert wurden: Erstens hat sich die Bezeichnung des Pflichtenträgers geändert. Nach § 6 der Personenschäden-Erläuterungen ist Pflichtenträger, wer gewerblichen oder anderen sozialen Aktivitäten nachgeht. Nach § 37 GdH bzw. § 1198 ChZGB wird die Sicherheitsgewährleistungspflicht demjenigen auferlegt, welcher Verwalter von öffentlichen Räumen oder Organisator von Massenveranstaltungen ist. Es scheint, dass die frühere Vorschrift viel flexibler ist und im Hinblick auf die Pflichtenträger einen größeren Umfang aufweist.499 Zweitens wurde der sachliche Schutzbereich der Sicherheitsgewährleistungspflicht erweitert.500 In § 6 der Personenschäden-Erläuterungen wird lediglich die Haftung für Körperschäden geregelt. Dies erscheint deshalb leicht nachvollziehbar, weil diese justizielle Interpretation speziell für die Rechtsanwendung bei der Be497 § 37 GdH lautet: „[Abs. 1] Wenn Verwalter von öffentlichen Räumen, wie Hotels, Kaufhäuser, Banken, Bus- und Eisenbahnhöfen und Vergnügungsstätten, und die Organisatoren von Massenveranstaltungen ihrer Pflicht, die Sicherheit zu gewährleisten, nicht voll nachkommen, und andere geschädigt werden, haften sie für die Verletzungen von Rechten. [Abs. 2] Wird durch die Handlung eines Dritten ein anderer geschädigt, so haftet der Dritte für die Verletzung von Rechten; wenn ein Verwalter oder Organisator seiner Pflicht, die Sicherheit zu gewährleisten, nicht voll nachgekommen ist, haftet er entsprechend ergänzend.“ 498 Vgl. WANG Shengming, S. 190; CHENG Xiao, S. 458. 499 § 1198 I ChZGB ist völlig identisch mit § 37 I GdH, und § 1198 I S. 1 ChZGB ist § 37 II GdH gleich. Aber § 1198 II ChZGB hat noch den zweiten Satz, welcher lautet: „Dem Verpflichteten ein Ausgleichsanspruch gegenüber dem Dritten zusteht, nachdem er Schadensersatz geleistet hat“. 500 Vgl. CHENG Xiao, S. 458 f.
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
handlung von Streitfällen hinsichtlich Körperschäden erlassen wurde. Demgegenüber soll der Pflichtenträger nach § 37 GdH bzw. § 1198 ChZGB sowohl für Körperschäden als auch für Vermögensschäden haften, die sich aus einer Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht ergeben. Drittens unterscheiden sich die beiden Vorschriften hinsichtlich der Haftung für das Fehlverhalten Dritter. Zwar ordnen beide die sog. Ergänzungshaftung des Pflichtenträgers für die von Dritten verursachten Schäden an, doch besteht ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich des möglichen Regressanspruchs des Pflichtenträgers. In § 6 II der Personenschäden-Erläuterungen wird ausdrücklich geregelt, dass dem Verpflichteten ein Ausgleichsanspruch gegenüber dem Dritten zusteht, nachdem er Schadensersatz geleistet hat. In § 37 GdH findet sich eine solche Regelung bedauerlicherweise nicht. Diese Änderung führt hat zu heftigem Streit in Lehre und Rechtsprechung geführt.501 Allerdings wird dieser Ausgleichsanspruch des Pflichtenträgers wieder in § 1198 II S. 2 ChZGB festgelegt. Neben den oben genannten beiden Vorschriften wird die Sicherheitsgewährleistungspflicht auch in § 18 II des Verbraucherschutzgesetzes der VR China geregelt. Diese Vorschrift wurde erst im Jahr 2013 durch die zweite Revision des Verbraucherschutzgesetzes neu eingefügt. Offensichtlich dient dies zur Anpassung des Verbraucherschutzgesetzes an das chinesische Deliktshaftungsgesetz.502
II. Einzelheiten 1. Rechtsnatur und dogmatische Zuordnung Nach der wohl überwiegenden Ansicht im chinesischen Schrifttum ist die Sicherheitsgewährleistungspflicht deliktsrechtlicher Natur.503 Ihre Verletzung kann zur deliktischen Haftung des Pflichtenträgers führen, wobei eine Schadensersatzpflicht als die hauptsächliche Rechtfolge entsteht. Im Wesentlichen stellt die Haftung aus Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht einen Anwendungsfall der Verschuldenshaftung dar.504 Deswegen ist es vor allem notwendig zu klären, auf welcher dogmatischen Ebene des Aufbaus der Verschuldenshaftung die Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht einzuordnen ist:
501
Vgl. ZHOU Youjun, S. 306. Vgl. LI Shishi, S. 183. 503 Vgl. CHENG Xiao, S. 459 f.; XI Xiaoming, S. 270 f.; ZHANG Xinbao, S. 171 ff. 504 Vgl. WANG Liming, 2. Halbband, S. 148 ff.; ZHOU Youjun, S. 311; CHENG Xiao, S. 460.; XI Xiaoming, S. 270. 502
B. Sicherheitsgewährleistungspflicht im chinesischen Deliktsrecht
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Bei den Fällen, in denen die Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht vorliegt, geht es dem Grunde nach um ein Unterlassungsdelikt oder eine mittelbare Schädigung.505 Hierbei kommt also ein Unterlassen des Pflichtenträgers in Betracht. Wie oben dargestellt, setzt die Haftung für ein Unterlassen im Rahmen des chinesischen Deliktsrechts voraus, dass eine Pflicht zum aktiven Handeln besteht. Abstrakt gesehen handelt es sich bei der Sicherheitsgewährleistungspflicht um eine Verhaltenspflicht. Um die Sicherheit der potentiellen Geschädigten zu gewährleisten, muss der Pflichtenträger aktiv etwas tun, z. B. auf eine Gefahr hinweisen oder bestimmte Maßnahmen zur Gefahrenabwehr durchführen.506 Daraus lässt sich schließen, dass erst mit Hilfe der Sicherheitsgewährleistungspflicht das Unterlassen des Pflichtenträgers als Verletzungshandlung im deliktsrechtlichen Sinne bewertet werden kann. Ferner kann man aus der Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht ableiten, dass der Pflichtenträger nur dann haften soll, wenn er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.507 Dies spricht stark dafür, dass den Pflichtenträger ein Verschulden treffen muss. Daneben müssen allerdings noch andere Faktoren oder Tatsachen berücksichtigt werden, um das Verschulden des Pflichtenträgers festzulegen. Die obigen Erläuterungen machen deutlich, dass die Sicherheitsgewährleistungspflicht eine wichtige Rolle bei der Haftungsbegründung spielt. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass man aus der Verletzung dieser Pflicht allein die deliktische Haftung des Pflichtenträgers nicht ableiten kann. Darüber hinaus muss noch besondere Aufmerksamkeit der Frage gewidmet werden, ob ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen der Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht und dem Schadenseintritt bestehen muss.508 Besonders bedeutsam ist diese Frage für die Haftungsbegründung bei solchen Fällen, in denen der Schaden von einem Dritten unmittelbar verursacht wird.509 2. Pflichtenträger Dem Wortlaut des § 37 GdH bzw. § 1198 ChZGB zufolge ist der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht entweder „Verwalter eines öffentlichen Raums“ [ ] oder „Organisator einer Massenveranstaltung“ [ ].
505
Vgl. WANG Liming, 2. Halbband, S. 148. Vgl. CHENG Xiao, S. 461; ZHANG Xinbao, S. 171 f. 507 Vgl. WANG Liming, 2. Halbband, S. 161 ff.; ZHOU Youjun, S. 480. 508 Vgl. YANG Lixin, S. 438; ZHANG Xinbao, S. 177 ff. 509 Vgl. WANG Liming, 2. Halbband, S. 169 f.; ZHANG Xinbao, S. 179 f. Ausführlich zur Haftungsproblematik in diesem Zusammenhang siehe unten unter „Kaptiel 5 C. II.“. 506
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
In § 37 I GdH und § 1198 I ChZGB werden zwar einige typische Beispiele für öffentliche Räume aufgelistet (Hotels, Banken, Kaufhäuser, Bahnhöfe und Vergnügungsstätten), aber es handelt sich dabei nur um eine nicht abschließende Aufzählung. Jede räumliche Konstellation, die der Öffentlichkeit zugänglich ist, kann als ein öffentlicher Raum angesehen werden. Entsprechend trifft deren Verwalter die Sicherheitsgewährleistungspflicht. Beim hier bezeichneten Verwalter handelt es sich um denjenigen, der die tatsächliche Verwaltung und Kontrolle über einen öffentlichen Raum ausübt. Deswegen ist es denkbar, dass der Verwalter nicht identisch mit dem Eigentümer ist. Auch der Mieter eines öffentlichen Raums oder eine Immobilienverwaltungsgesellschaft kann Verwalter sein.510 Ebenso fehlt es an einer gesetzlichen Definition des Begriffs der Massenveranstaltung. Als übliche Massenveranstaltungen kommen beispielweise Konzerte, Fußballspiele, Messen und Ausstellungen in Betracht. Für die Feststellung, ob eine Aktivität eine Massenveranstaltung darstellt, ist die Anzahl der Teilnehmer als ein wichtiges Element zu berücksichtigen. Der ausschlaggebende Faktor ist jedoch immer auch die Zugangsmöglichkeit für die Öffentlichkeit.511 Deswegegen dürfte eine private Party oder ein Familientreffen nicht als Massenveranstaltung angesehen werden, auch wenn es eine Vielzahl von Teilnehmern gibt. Im Schrifttum wird die Vorschrift des § 37 GdH (bzw. § 1198 ChZGB) teilweise mit dem folgenden Argument kritisiert: Der Kreis der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht werde derart eng gefasst, dass diese Vorschrift den Bedürfnissen der chinesischen Rechtspraxis nicht entsprechen könne.512 Um den Geltungsbereich der Sicherheitsgewährleistungspflicht zu erweitern, sprechen sich die Vertreter dieser Ansicht für eine analoge Anwendung der Vorschrift des § 37 GdH (bzw. § 1198 ChZGB) aus.513 Außerdem wird bezweifelt, ob mit der Bezeichnung „Verwalter“ bzw. „Organisator“ der richtige Pflichtenträger identifiziert ist.514 Offensichtlich begreifen die Vertreter der oben dargestellten Ansicht die Sicherheitsgewährleistungspflicht mithin als eine allgemeine deliktsrechtliche Pflicht. Dann liegt die Frage nahe, in welchem Verhältnis die Sicherheitsgewährleistungspflicht und die allgemeine Verkehrspflicht zueinander stehen. Darauf wird später einzugehen sein.515
510 511 512 513 514 515
Vgl. NPCSC Law Committee, S. 159; CHENG Xiao, S. 464. Vgl. NPCSC Law Committee, S. 160. Vgl. ZHOU Youjun, S. 309; YANG Lixin, S. 432. Vgl. ZHOU Youjun, S. 309. Vgl. Bollweg/Doukoff/Jansen, ZChinR 2011, S. 97. Siehe unten unter „Kapitel 4 B. III.“.
B. Sicherheitsgewährleistungspflicht im chinesischen Deliktsrecht
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3. Pflichteninhalt und konkrete Bestimmung Mit der langen gesetzlichen Bezeichnung „Sicherheitsgewährleistungspflicht“ wird nur der Zweck beschrieben, dem diese Pflicht dient. Sie bringt aber den konkreten Pflichteninhalt nicht zum Ausdruck. Abstrakt gesagt muss der Pflichtenträger bestimmte Maßnahme ergreifen, um die potentiell Geschädigten vor Gefahren zu schützen. Nach der Rechtsprechung kann der Sicherheitsgewährleistungspflicht inhaltlich auf verschiedene Art und Weise Genüge getan werden, z. B. durch Hinweis auf die Gefahr, Erschwerung bzw. Kontrolle des Zugangs zum Gefahrenbereich.516 Hinsichtlich der Kategorisierung der Pflicht machen sich einige Autoren die Erfahrungen des deutschen Deliktsrechts zunutze. Dementsprechend wird die Sicherheitsgewährleistungspflicht grob in zwei Kategorien unterteilt: Eine Kategorie umfasst diejenigen Pflichten, die sich auf die direkte Einwirkung auf die Gefahrenquelle beziehen, z. B. Aufsichts- oder Fürsorgepflichten. Zur anderen Kategorie gehören die Pflichten, die keine direkte Einwirkung auf die Gefahrenquelle beinhalten, sondern dazu dienen, den potentiellen Geschädigten die Möglichkeit zu bieten, mit der Gefahr zu umgehen und mögliche Verletzungen zu vermeiden, z. B. Warn- oder Verbotspflichten.517 Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass im Einzelfall die Sicherheitsgewährleistungspflicht konkretisierungsbedürftig ist. Welche konkreten Vorkehrungen der Pflichtenträger zur Gefahrenabwehr treffen muss, lässt sich selbstverständlich nur nach den konkreten Umständen des Einzelfalls bestimmen. Darüber hinaus ist die Sicherheitsgewährleistungspflicht keine grenzenlose Pflicht. Eine absolute Sicherheit ist utopisch und daher kann nicht gewährleistet werden. Um die notwendige Handlungsfreiheit des Pflichtenträgers zu gewähren, muss dessen Pflicht auf einen zumutbaren Umfang beschränkt werden.518 Nach der chinesischen Rechtsprechung519 und Lehre sind vor allem folgende Elemente bei Konkretisierung der Sicherheitsgewährleistungspflicht im Einzelfall zu berücksichtigen: An erster Stelle ist die Gefahrenhöhe in Betracht zu ziehen. Je größer die drohende Gefahr ist, desto wirkungsvollere Maßnahmen zur Gefahrenabwendung bzw. -vermeidung muss der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht ergreifen. Bei der 516
Vgl. XI Xiaoming/WANG Liming, S. 252 ff. Detailliert zu dieser Kategorisierung vgl. v. Bar, S. 84 ff. Zur Einführung dieser Kategorisierung in das chinesische Deliktsrecht vgl. ZHANG Xinbao, S. 176 f.; ZHANG Xinbao/ TANG Linqing, CJL 3/2003, S. 84 ff.; ZHOU Youjun, S. 309 f. 518 Vgl. LIU Zhaocheng, LS 5/2014, S. 78. 519 Seit Jahren wurde in den „Amtsblättern des OVG der VR China“ [ ] eine Vielzahl von wichtigen Entscheidungen von chinesischen Volksgerichten publiziert, welche die Haftung aus der Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht betreffen. In der Rechtspraxis sind diese Entscheidungen für die Rechtsanwendung von exemplarischer Bedeutung. Eine tabellarische Zusammenfassung dieser Entscheidungen bei CHENG Xiao, S. 459; LI Yougen, ELR 2/2009, S. 22 ff. 517
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
Gefahrenhöhe kommt es hauptsächlich auf zwei Faktoren an, nämlich zum einen die Höhe des möglichen Schadens und zum anderen die Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens.520 Weiter müssen auch die Erkennbarkeit der drohenden Gefahr und die Möglichkeit ihrer Vermeidung berücksichtigt werden. Im Einzelfall ist nicht nur zu prüfen, ob der Pflichtenträger die Gefahr hätte erkennen und vermeiden können, sondern auch, ob es für den Geschädigten zumutbar war, sich selbst zu schützen.521 Außerdem darf der Aufwand für Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nicht vernachlässigt werden. Dabei ist insbesondere abzuwägen, ob die Höhe dieses Aufwands in einem angemessenen Verhältnis zu den bedrohten Rechtsgütern steht.522 Schließlich ist darauf zu achten, ob der Pflichtenträger einen Gewinn aus seinem Geschäft oder der von ihm organisierten Veranstaltung zieht.523 Dies lässt sich damit begründen, dass der durch ein Geschäft oder eine Veranstaltung erzielte Gewinn grundsätzlich mit dem dadurch verursachten Risiko übereinstimmen sollte.524 Das bedeutet also, dass derjenige, dem der Gewinn zusteht, normalerweise auch der Träger des Risikos ist. An den Pflichtenträger werden höhere Anforderungen gestellt, wenn er Gewinn aus dem das Risiko verursachenden Geschäft bzw. der Veranstaltung ziehen kann.525 Die oben erwähnten – bei Konkretisierung der Sicherheitsgewährleistungspflicht zu berücksichtigenden – Elemente sind nahezu identisch mit denjenigen, welche bei Bestimmung der Verkehrspflicht nach deutschem Recht in Betracht gezogen werden sollten.526 Dies weist zumindest auch auf den ausgeprägten Einfluss der deutschen deliktsrechtlichen Lehre auf das chinesische Deliktsrecht hin.527 4. Rechtsfolge der Pflichtverletzung Im Hinblick auf die Rechtsfolge aus der Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht unterscheidet die Vorschrift des § 37 GdH zwischen zwei Konstellationen: 520
Vgl. ZHOU Youjun, S. 310; CHENG Xiao, S. 465; LIU Zhaocheng, LS 5/2014, S. 78. Vgl. LIU Zhaocheng, LS 5/2014, S. 78; ZHANG Xinbao/TANG Linqing, CJL 3/2003, S. 80; ZHOU Youjun, S. 310. 522 Vgl. XI Xiaoming/WANG Liming, S. 262 f.; ZHOU Youjun, S. 310. 523 Vgl. CHENG Xiao, S. 466; YANG Lixin, Draft, S. 208. 524 Vgl. ZHANG Xinbao/TANG Linqing, CJL 3/2003, S. 80; CHENG Xiao, S. 466. 525 Vgl. CHENG Xiao, S. 466; ZHOU Youjun, S. 310. 526 Siehe oben unter „Kapitel 3 C. III.“. 527 In der Tat stützen sich einige chinesische Autoren bei Konkretisierung der Sicherheitsgewährleistungspflicht direkt auf die Erfahrungen des deutschen Rechts zur Bestimmung der Verkehrspflicht. Vgl. ZHOU Youjun, S. 310; LIU Zhaocheng, LS 5/2014, S. 78; ZHANG Xinbao/TANG Linqing, CJL 3/2003, S. 80 ff. 521
B. Sicherheitsgewährleistungspflicht im chinesischen Deliktsrecht
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Bei der ersten Konstellation handelt es sich um das Zwei-Personen-Verhältnis zwischen dem Geschädigten und dem Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht. Nach § 37 I GdH (bzw. § 1198 ChZGB) ist der Pflichtenträger für die dem Geschädigten entstandenen Schäden verantwortlich, die kausal auf die Nichterfüllung der Sicherheitsgewährleistungspflicht zurückzuführen sind. Die zweite Konstellation bezieht sich auf Drei-Personen-Verhältnisse. Umfasst sind Situationen, in denen zwar auch eine Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht vorliegt, der Schaden aber unmittelbar von einem Dritten verursacht wird. Nach § 37 II GdH (bzw. § 1198 II ChZGB) muss der Pflichtenträger, der seiner Sicherheitsgewährleistungspflicht nicht nachkommt, eine „entsprechende Ergänzungshaftung“ übernehmen. Ein solches Haftungsmodell lässt sich nicht im Deliktsrecht anderer Länder finden. Deswegen wird es von einigen Autoren als die ursprüngliche Schöpfung des chinesischen Deliktsrechts bezeichnet.528 Hinsichtlich des Verständnisses der „entsprechenden Ergänzungshaftung“ besteht allerdings eine Vielzahl von Streitigkeiten. Vor allem zwei Probleme sind hierbei von Bedeutung: Erstens bleibt das Verhältnis zwischen dieser Vorschrift und der Vorschrift des § 12 GdH (bzw. § 1172 ChZGB) unklar, welche die Teilhaftung von mehreren Nebentätern anordnet. Zweitens ist es auch heftig umstritten, ob dem Pflichtengträger ein Regressanspruch gegen den als unmittelbarer Schädiger auftretenden Dritten zusteht. Darauf wird in Kapitel 5 dieser Arbeit näher eingegangen.529
III. Verhältnis zwischen Sicherheitsgewährleistungspflicht und Verkehrspflicht 1. Gleichsetzung der Sicherheitsgewährleistung mit der Verkehrspflicht? Ein Großteil der chinesischen Fachliteratur betrachtet die im chinesischen Deliktsrecht festgelegte Sicherheitsgewährleistungspflicht als Parallele zur Verkehrspflicht im deutschen Deliktsrecht.530 Zunächst muss man akzeptieren, dass die Sicherheitsgewährleistungspflicht tatsächlich ein Beispiel für die Rezeption deutscher Rechtsinstitutionen in das chi-
528 Außerhalb § 37 II GdH lässt sich die Ergänzungshaftung auch in §§ 32 II, 34 II, 37 II, 40 GdH finden. Detailliert zu diesem spezifischen Haftungsmodell vgl. YANG Lixin, S. 253 ff.; LI Zhongyuan, LS 3/2010, S. 78 ff. 529 Siehe unten unter „Kapitel 5 C. II.“. 530 Vgl. ZHANG Xinbao, S. 171 f.; ZHANG Xinbao/TANG Linqing, CJL 3/2003, S. 82 f.; FENG Jue, CJL 4/2009, S. 62 f.; LI Hao, S. 20 ff.; ZHOU Youjun, Verkehrspflichten, S. 18 ff.; BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 225; WANG Liming, 2. Halbband, S. 154 ff.
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
nesische Zivilrecht bildet.531 Die Materialien zur Ausarbeitung der „Personenschäden-Erläuterungen“ zeigen, dass sich die rechtstheoretischen Grundlagen für die Sicherheitsgewährleistungspflicht auf die Lehre der Verkehrspflichten im deutschen Recht zurückführen lassen.532 Inhaltlich steht die Vorschrift des § 37 GdH bzw. § 1198 ChZGB im Wesentlichen im Einklang mit der Vorschrift des § 6 der Personenschäden-Erläuterungen. Entsprechend ist auch sie vom deutschen Deliktsrecht beeinflusst.533 Allerdings sollte die Sicherheitsgewährleistungspflicht nicht mit der Verkehrspflicht gleichgesetzt werden. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden besteht im Hinblick auf den Pflichtenträger: Die Verkehrspflichten im deutschen Deliktsrecht sind von allgemeiner Natur. Es gibt keine Beschränkung hinsichtlich des Pflichtenträgers. Demgegenüber beschränkt sich der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht auf bestimmte Personenkreise. Im Rahmen des § 6 der Personenschäden-Erläuterungen ist es gegebenenfalls möglich, durch ausdehnende Auslegung von „anderen sozialen Aktivitäten“ den Begriff des Pflichtenträgers weiter zu erfassen. Bei der Vorschrift des § 37 GdH bzw. § 1198 ChZGB besteht diese Möglichkeit jedoch nicht, weil ihr Wortlaut so deutlich und begrenzt ist, dass überhaupt kein Raum für eine ausdehnende Auslegung des Begriffs des Pflichtenträgers bleibt.534 Nach der Auffassung der Verfasser der Personenschäden-Erläuterungen bildet die Sicherheitsgewährleistungspflicht vielmehr nur den gesetzlichen Ausdruck einer Sorgfaltspflicht, der bestimmte Personen in besonderen Lebensbereichen nachkommen müssen.535 Bei Ausarbeitung des chinesischen Deliktshaftungsgesetzes hat auch der Gesetzgeber auf diesem Standpunkt beharrt.536 Dies weist deutlich darauf hin, dass der chinesische Gesetzgeber es absichtlich abgelehnt hat, die Sicherheitsgewährleistungspflicht als eine allgemeine deliktsrechtliche Pflicht zu begreifen. 2. Allgemeine und besondere Verkehrspflicht Hier vertretener Ansicht nach ist die allgemeine Verkehrspflicht als ein Oberbegriff zu begreifen. Die Sicherheitsgewährleistungspflicht stellt im Rahmen dieses Oberbegriffs einen der Untertypen der Verkehrspflichten dar. Oder einfach ausgedrückt: Die Sicherheitsgewährleistungspflicht ist eine besondere Verkehrspflicht. 531
Vgl. Bollweg/Doukoff/Jansen, ZChinR 2011, S. 97; BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 225. Vgl. HUANG Songyou, S. 99; CHEN Xianjie, RULR 3/2004, S. 20. 533 Vgl. NPCSC Law Committee, S. 158 ff.; ders., Legislation Background and Views, S. 623 ff.; ZHOU Youjun, S. 291. 534 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 174 ff. 535 Vgl. HUANG Songyou, S. 100; FENG Jue, CJL 4/2009, S. 69. 536 Vgl. NPCSC Law Committee, S. 159 ff.; WANG Liming, 2. Halbband, S. 151. 532
B. Sicherheitsgewährleistungspflicht im chinesischen Deliktsrecht
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Im deutschen Recht gibt es bereits die Abgrenzung von allgemeiner und besonderer Verkehrspflicht: Bei der allgemeinen Verkehrspflicht handelt es sich um eine generell geltende Pflicht zur Gefahrvermeidung oder -abwendung. Eine besondere Verkehrspflicht ist stets mit einem bestimmten Lebensbereich verbunden und dient zur Abwehr der für diesen Lebensbereich typischen Gefahren.537 Sie stellt die besondere Ausprägung, also Konkretisierung, der allgemeinen Verkehrspflicht in diesem Lebensbereich dar. Die allgemeine Verkehrspflicht ist nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, sondern wurde durch Richterrecht entwickelt. Demgegenüber sind die besonderen Verkehrspflichten im Gesetz fest verankert. Die Vorschriften §§ 831 – 838 BGB sind als Beispiele für die im BGB spezifisch geregelten Verkehrspflichten anzusehen.538 Im chinesischen Recht stellt sich die Lage ähnlich dar. Auf der einen Seite kommt im chinesischen Deliktshaftungsgesetz eine Vielzahl von besonderen Verkehrspflichten in Betracht. Die Sicherheitsgewährleistungspflicht wurde speziell zum Zwecke der Abwehr der spezifischen Gefahren geschaffen, die in einem öffentlichen Raum lauern, oder die eine Massenveranstaltung mit sich bringt. Deswegen ist es unproblematisch, diese Pflicht als eine besondere Verkehrspflicht zu behandeln. Darüber hinaus bestehen im chinesischen Deliktshaftungsgesetz noch andere Beispiele besonderer Verkehrspflichten, z. B. die Produkthaftung (§§ 41 ff. GdH bzw. §§ 1202 ff. ChZGB) und die Haftung für die durch Sachen verursachten Schäden (§§ 85 ff. GdH bzw. §§ 1252 ff. ChZGB).539 Auf der anderen Seite hat es der chinesische Gesetzgeber abgelehnt, die Verkehrspflicht im allgemeinen Sinne gesetzlich zu normieren. Wie zu Anfang dieser Arbeit bereits klargestellt, besteht die wichtigste Funktion der Verkehrspflicht darin, die Quellen von Verhaltenspflichten zu erweitern. Im chinesischen Recht stellt sich die Frage gleichermaßen: Woraus ergibt sich eine Pflicht zum aktiven Handeln, wenn sie weder im Gesetz geregelt noch aus einem Vertrag oder einem vorangegangenen Tun abgeleitet wird?540 Im Schrifttum lehnen sich einige Autoren daher stark an das deutsche Rechtsinstitut der Verkehrspflicht an. Sie vertreten die Ansicht, dass die allgemeine Verkehrspflicht als eine wichtige Quelle von Verhaltenspflichten anerkannt werden
537
Beispielweise bezweckt die in § 836 BGB geregelte Gebäudeunterhaltspflicht, die in der deutschen Rechtsprechung und Literatur als eine besondere Verkehrspflicht angesehen wird, die Abwehr von solchen spezifischen Gefahren, die mit dem Einsturz eines Gebäudes oder der Ablösung dessen Gebäudeteilen in Zusammenhang stehen; vgl. MüKoBGB/Wagner, § 836 Rn. 2; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 79 VI 1a, S. 488; Deutsch/Ahrens, Rn. 470 ff. 538 Genauer gesagt: §§ 831, 832, 833 S.2, 834, 836, 837 und 838 BGB; vgl. v. Bar, S. 21 ff.; Brüggemeier, S. 520; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 411. 539 ZHOU Youjun, S. 292 f. 540 Vgl. ZHENG Xiaojian/TAO Bojin, JNPC 6/2011, S. 131 ff.
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Kap. 4: Vergleichende Betrachtung des chinesischen Deliktsrechts
sollte.541 Andere Autoren gehen eher vom Prinzip von Treu und Glauben aus, um eine Verhaltenspflicht zu begründen.542 Das Prinzip von Treu und Glauben ist jedoch so abstrakt, dass es für seine Anwendung konkreterer Kriterien bedürfte. Hierzu ziehen diese Autoren jedoch spontan die Kriterien zur Konkretisierung der Verkehrspflichten heran, obwohl sie dies nicht ausdrücklich anerkennen. In der Rechtsprechung sieht die Situation ähnlich aus. Die meisten Gerichte gehen zwar auch vom Prinzip von Treu und Glauben aus, greifen bei der konkreten Begründung der Verhaltenspflicht jedoch auf die deutsche Theorie der Verkehrspflichten zurück.543 3. Zusammenfassung Die vorstehenden Ausführungen haben nicht nur das Verhältnis zwischen der Sicherheitsgewährleistungspflicht und der Verkehrspflicht geklärt, sondern auch aufgezeigt, wie das deutsche Rechtsinstitut der Verkehrspflicht in das chinesische Recht übertragen wurde. Mit Schaffung der Sicherheitsgewährleistungspflicht durch § 6 der Personenschäden-Erläuterungen wurde die Theorie der Verkehrspflichten zum ersten Mal in die chinesische Rechtssetzung eingeführt. Danach wurde diese Pflicht neben einigen anderen besonderen Verkehrspflichten im chinesischen Deliktshaftungsgesetz festgelegt. Die Verkehrspflicht im allgemeinen Sinne wird im chinesischen Schrifttum immer wieder betont. Die von der deutschen Lehre und Rechtsprechung entwickelten Kriterien zur Konkretisierung der Verkehrspflicht werden auch von den chinesischen Gerichten konkludent übernommen, um im Einzelfall eine Verhaltenspflicht zu begründen.
541 Vgl. ZHOU Youjun, S. 308; ders., LS 1/2007, S. 97; ZHANG Xinbao, S. 27; YANG Lixin, S. 432. 542 Vgl. CHENG Xiao, S. 213. 543 Vgl. ZHENG Xiaojian/TAO Bojin, JNPC 6/2011, S. 131.
Kapitel 5
Funktionaler Rechtsvergleich A. Einführung und Überblick Aus den vorstehenden Ausführungen lässt sich insgesamt feststellen, dass das chinesische Deliktsrecht zwar erheblich vom deutschen Recht beeinflusst wird, aber auch in gewissem Maße seine eigene Charakteristik aufweist. Die Unterschiede zwischen den Deliktsrechten beider Länder spiegeln sich nicht nur im Aufbau der deliktischen Haftung sondern auch in einigen spezifischen Fragen hinsichtlich der konkreten Anwendung des Rechtsinstituts der Verkehrspflichten wider. Diese Unterschiede stellen den Ausgangspunkt der Rechtsvergleichung dar.544 Der im Folgenden durchzuführende Vergleich bezieht sich zunächst auf die Grundfrage der Rechtswidrigkeit. Dort liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem deutschen und chinesischen Deliktsrecht. Anschließend erfolgt ein Vergleich in Bezug auf zwei spezielle Fragen: Bei der ersten Frage geht es um die Verkehrspflichten gegenüber unbefugt handelnden Geschädigten. Die zweite Frage bezieht sich auf die Haftungsproblematik beim Dazwischentreten Dritter. Sowohl in der deutschen als auch in der chinesischen Rechtspraxis treten diese beiden Fragen sehr häufig auf. Allerdings werden sie im Rahmen der jeweiligen Rechtsordnungen beider Länder unterschiedlich behandelt. Die folgenden Ausführungen beschränken sich nicht auf einen reinen Vergleich der Gesetztexte beider Länder. Vielmehr ist im Rahmen der Untersuchung ein funktionaler Rechtsvergleich vorzunehmen.545 Gegenstand des folgenden Vergleichs sind somit die jeweiligen Lösungsansätze beider Länder zu ein und derselben Problematik. Die durch diese rechtsvergleichende Analyse gewonnenen Erkenntnisse dienen dazu, die betreffende Problematik besser zu lösen und auch die jeweiligen Rechtssysteme beider Länder zu optimieren.546
544
Vgl. Zweigert/Kötz, S. 4 ff. Zur detaillierten Darstellung der Methode der funktionalen Rechtsvergleichung vgl. Zweigert/Kötz, S. 31 ff. 546 Vgl. Zweigert/Kötz, S. 4 ff.; Rabel, S. 6; Rainer, S. 73. 545
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
B. Dogmatische Grundfrage: Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der deliktischen Haftung? I. Fragestellung Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem deutschen und chinesischen Deliktsrecht besteht hinsichtlich der Frage, ob im Rahmen der Verschuldenshaftung die Rechtswidrigkeit eine eigenständige bzw. erforderliche Voraussetzung darstellt.547 Die Rechtswidrigkeit wird im deutschen Deliktsrecht eindeutig genannt (§ 823 I BGB), im chinesischen Deliktsrecht aber nicht. In der einschlägigen chinesischen Literatur besteht eine endlose Debatte zur Problematik der Rechtswidrigkeit. Im deutschen Schrifttum werden diesbezügliche Fragen, wie beispielweise die Funktion der Rechtswidrigkeit und Kriterien zu deren Beurteilung, ebenfalls kontrovers diskutiert.548 Sowohl im chinesischen als auch im deutschen Deliktsrecht muss die gleiche Kernfrage beantwortet werden, nämlich in welchem Verhältnis die Rechtswidrigkeit und das Verschulden zueinander stehen. Deswegen ist zu diesem Punkt eine Untersuchung aus rechtsvergleichender Perspektive von großer Bedeutung.
II. Meinungsstreit im chinesischen Recht Im chinesischen Recht ist die Frage der Rechtswidrigkeit deswegen heftig umstritten, weil diese nach wie vor nicht ausdrücklich als eine Voraussetzung für die deliktische Haftung im Gesetz vorgesehen wird: weder in der deliktischen Generalklausel (§ 6 I GdH bzw. § 1165 I ChZGB) noch in ihrer Vorläufervorschrift (§ 106 AGZ). Allerdings sollte dies nicht zur voreiligen Schlussfolgerung verleiten, dass der chinesische Gesetzgeber es ablehnt, die Rechtswidrigkeit als eine unentbehrliche Voraussetzung der Verschuldenshaftung zu betrachten. In der Tat haben die Quellmaterialien zur Ausarbeitung des chinesischen Deliktshaftungsgesetzes gezeigt, dass diese Frage vom Gesetzgeber absichtlich offen gelassen wurde.549 Die unklare Haltung des Gesetzgebers führt einerseits zum Meinungsstreit im Schrifttum550 und andererseits zur uneinheitlichen Behandlung in der Rechtspraxis.551 547 Vgl. Binding, S. 39; BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 220 ff.; Bollweg/Doukoff/Jansen, ZChinR 2011, S. 93. 548 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 3, S. 364 ff.; Kötz/Wagner, Rn. 103 ff.; Deutsch/Ahrens, Rn. 77 ff. 549 Vgl. NPCSC Law Committee, Legislation Background and Views, S. 24; ZHOU Youjun, S. 211. 550 Zur zusammenfassenden Darstellung der unterschiedlichen Ansichten im chinesischen Schrifttum vgl. GAO Shengping, S. 78 ff.
B. Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der deliktischen Haftung?
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1. Die wohl überwiegende Ansicht Im chinesischen Schrifttum sind die meisten Autoren der Ansicht, dass die Rechtswidrigkeit eine unentbehrliche Rolle beim Aufbau der Verschuldenshaftung spielt.552 Das Kernargument für diese Ansicht besteht darin, dass bei der Haftungsbegründung die Rechtswidrigkeit und das Verschulden voneinander getrennt behandelt werden können und müssen: Die Rechtswidrigkeit ist ein Ergebnis der rechtlichen Bewertung des menschlichen Verhaltens. Dabei handelt es sich um den objektiven Verstoß gegen die Rechtsordnung. Demgegenüber richtet sich das Verschulden an den (widerrechtlich) Handelnden. Dabei geht es um die subjektive Vorwerfbarkeit seines Verhaltens.553 Ein anderes starkes Argument für diese Ansicht beruht darauf, dass die Rechtswidrigkeit nicht einmal vom OVG in seinen justiziellen Interpretationen deutlich als Voraussetzung der Verschuldenshaftung anerkannt wird.554 Wie oben dargestellt, im chinesischen Zivilrecht spielen die justiziellen Interpretationen des OVG tatsächlich die Rolle von Quasi-Rechtsquellen. Infolgedessen spricht dies zumindest dafür, dass in der Rechtspraxis die Rechtswidrigkeit als eine notwendige Voraussetzung der deliktischen Haftung behandelt wird.555 Die Vertreter dieser Ansicht gehen davon aus, dass im chinesischen Deliktsrecht die Rechtwidrigkeit tatsächlich als „ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal“556 der Verschuldenshaftung fungiert. In Bezug auf die Frage, wie sich die Rechtswidrigkeit beurteilen lässt, lehnen sich die meisten Vertreter dieser Ansicht stark an die Verhaltensunrechtslehre des deutschen Rechts an.557
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In Art. 12 und 13 „der Richtlinien für die Behandlung der Deliktsfälle vom zivilrechtlichen Senat 1 das Oberen Gerichts der Stadt Shanghai“ [ ] wird die Rechtswidrigkeit deutlich als ein notwendiges Tatbestandsmerkmal der deliktischen Haftung anerkannt. Vgl. auch CHENG Xiao, S. 261. 552 Vgl. YANG Lixin, S. 162 ff.; ZHANG Xinbao, S. 25 f.; ZHOU Youjun, S. 212. 553 Um die Rechtswidrigkeit und das Verschulden voneinander abzugrenzen, haben sich die meisten Vertreter der vorstehenden Ansicht im Grunde an die Lehre und Erfahrungen des deutschen Rechts angelehnt. Vgl. z. B. ZHOU Youjun, S. 212. 554 Vgl. z. B. § 1 der „Erläuterungen des Obersten Volksgerichts zu einigen Fragen zur Feststellung der Pflichten zum Ersatz der infolge Zivilrechtsverletzung entstehenden immateriellen Schäden“ [ ]; Nr. 7 der „Antworten des des Obersten Volksgerichts auf einige Fragen der Verhandlung von Ehr(verletzungs)fällen“ [ ]. 555 Vgl. ZHANG Xinbao, S. 24; YANG Lixin, S. 161; ZHOU Youjun, S. 212. 556 BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 220. 557 Vgl. YANG Lixin, S. 164; ZHOU Youjun, S. 220 ff.; LI Chengliang, TULJ 5/2010, S. 93.
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
2. Gegenansicht Nicht selten wird auch im chinesischen Schrifttum die Gegenansicht vertreten, dass die Rechtswidrigkeit keine eigenständige Voraussetzung der Verschuldenshaftung darstellt.558 Vor allem behaupten die Vertreter der Gegenansicht, dass der Wortlaut des § 6 I GdH bzw. § 1165 I ChZGB weder den Begriff „Rechtswidrigkeit“ noch andere vergleichbare Ausdrücke (z. B. „widerrechtlich“, „ungerecht“) enthält.559 Das Kernargument der Gegenansicht besteht vielmehr darin, dass das Merkmal „Rechtswidrigkeit“ bereits in das Merkmal „Verschulden“ integriert ist.560 Diese These beruht auf einer Objektivierung des Verschuldens: Obwohl das Verschulden durchweg als ein subjektiver Tatbestand angesehen wird, ist es im modernen Deliktsrecht eigentlich nach objektiven Maßstäben zu bestimmen.561 Es ist durchaus klar, dass bei der Fahrlässigkeitsprüfung die im Verkehr erforderliche Sorgfalt eine entscheidende Rolle spielt. Die im Verkehr erforderliche Sorgfalt ist selbstverständlich nicht an der individuellen Aufmerksamkeit des konkreten Schädigers zu messen, sondern daran, welche Sorgfaltsanforderungen an einen durchschnittlich einsichtigen Menschen des betreffenden Verkehrskreises zu stellen sind.562 Infolgedessen wird von den Vertretern der Gegenansicht geltend gemacht, dass mit Objektvierung des Verschuldens die Rechtswidrigkeit und Verschulden schwer voneinander abzugrenzen sind.563 Da die Vorschrift des § 6 I GdH bzw. § 1165 I ChZGB das Verschulden deutlich zum Ausdruck gebracht habe, sei es von geringer Bedeutung, noch zusätzlich die Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der Verschuldenshaftung anzuerkennen. Dementsprechend werden Umstände wie Notwehr und Notstand, die nach der traditionellen Lehre den Rechtfertigungsgründen zuzuordnen sind, von den Vertretern der Gegenansicht als Gegenargumente gegen ein Verschulden angesehen und ] gemeinsam unter der Bezeichnung „Haftungsausschlussgründe“ [ zusammengefasst.
558 Vgl. WANG Liming, PULJ 1/2012, S. 14 ff.; ders., 1. Halbband, S. 345 ff.; KONG Xiangjun/YANG Li, TPSL 2/1993, S. 44 ff. 559 Vgl. WANG Liming, PULJ 1/2012, S. 13. Nach hier vertretener Ansicht ist dieses Argument allerdings nicht haltbar. 560 Vgl. WANG Liming, PULJ 1/2012, S. 12 ff.; ders., 1. Halbband, S. 345 ff. 561 Vgl. CHENG Xiao, S. 275; WANG Liming, 1. Halbband, S. 311 ff.; ZHOU Youjun, S. 252 f. 562 Vgl. Kolb, S. 17. 563 Vgl. WANG Liming, PULJ 1/2012, S. 17.
B. Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der deliktischen Haftung?
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III. Rechtswidrigkeit im deutschen Recht 1. Allgemeines Das deutsche Deliktsrecht ist stark davon geprägt, dass die Haftung für unerlaubte Handlung stets die Rechtswidrigkeit der Verletzungshandlung voraussetzt.564 Dies gilt für alle drei kleinen Generalklauseln des deutschen Deliktsrechts:565 Nach dem Wortlaut des § 823 I BGB ist jemand zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er „widerrechtlich“ (und auch schuldhaft) die Verletzung eines dort aufgeführten Rechtsguts verursacht hat. Soweit sein Verhalten für rechtmäßig gehalten wird, betrifft ihn keine deliktische Haftung, auch wenn er absichtlich die Rechtsgutverletzung herbeigeführt hat, z. B. die Durchführung eines lauteren Wettbewerbes oder die rechtmäßige Ausübung des Rechts auf Redefreiheit. Im Aufbau des Schadensersatzanspruchs aus § 823 I BGB steht die Rechtswidrigkeit nach der Tatbestandmäßigkeit vor dem Verschulden. Der Norm des § 823 II BGB knüpft die deliktische Haftung an den schadensverursachenden Verstoß gegen ein Schutzgesetz an. Die Schutzgesetzverletzung an sich kann bereits darauf hinweisen, dass der Täter widerrechtlich handelt.566 Nach § 826 BGB kann sich die deliktische Haftung auch aus einer vorsätzlichen sittenwidrigen Handlung ergeben, weil offensichtlich die vorsätzliche sittenwidrige Schadenszufügung im Widerspruch zur Rechtsordnung steht.567 Deswegen spricht dies dafür, dass das Verhalten des Täters rechtswidrig ist.
2. Beurteilung der Rechtswidrigkeit des § 823 I BGB Bei § 823 II oder § 826 BGB lässt sich die Rechtswidrigkeit daraus ableiten, dass sich der Täter gegen ein gesetzliches Verhaltensgebot- bzw. verbot oder vorsätzlich gegen die guten Sitten handelt.568 Hierbei kommt also ein verhaltens- bzw. handlungsbezogener Rechtswidrigkeitsbegriff in Betracht: Das Verhalten des Täters wird deswegen als widerrechtlich bezeichnet, weil er eine Verhaltensnorm verletzt hat, die sich entweder aus gesetzlichen Vorschriften oder aus Anstand und guten Sitten ergibt. Die Lage stellt sich allerdings anders dar, wenn man die Rechtswidrigkeit im Rahmen des § 823 I BGB prüft. Dabei sind der früher heftige Streit um Erfolgs- und 564
Vgl. Katzenmeier, AcP 203 (2003), 79, 112 f. Vgl. Mohr, JurA 2013, 567, 570. 566 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. A 7; Katzenmeier, AcP (203) 2003, 79, 112 f.; Fikentscher/Heinemann, Rn. 638; Kötz/Wagner, Rn. 126. 567 Vgl. Fikentscher/Heinemann, Rn. 638. Zur ausführlichen Erörterung des Verhältnisses zwischen Rechtswidrigkeit und Sittenwidrigkeit siehe Deutsch/Ahrens, Rn. 300 ff. Vgl. auch Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 78 II 1, S. 449 ff. 568 Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 126; Fikentscher/Heinemann, Rn. 638. 565
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
Handlungsunrecht und die entsprechende Umwandlung der Unrechtslehre nennenswert. Im Folgenden wird auf die beiden Unrechtslehre und ihre jeweilige Schwäche näher eingegangen. a) Erfolgsunrecht Ursprünglich wurde im deutschen Recht die Erfolgsunrechtslehre vertreten, welche im Rahmen der Rechtswidrigkeitsbeurteilung vom eingetretenen Verletzungserfolg ausgeht. Der Erfolgsunrechtslehre nach ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 823 I BGB die Rechtswidrigkeit nicht positiv zu begründen: Einerseits kann die Rechtswidrigkeit durch die Tatbestandmäßigkeit, also durch die Verletzung eines im § 823 I BGB genannten absoluten Rechtsguts, indiziert werden. Andererseits kann diese durch Rechtsgutverletzung indizierte Rechtswidrigkeit wiederlegt werden, wenn dem Handelnden ein Rechtfertigungsgrund zusteht.569 Die Erfolgsunrechtslehre hat bei deren Anwendung die folgenden Schwächen aufgezeigt: Die Erfolgsunrechtslehre kann zwar bei einem Vorsatzdelikt oder fahrlässigen unmittelbaren Eingriff reibungslos angewendet werden,570 ist allerdings bei der nichtvorsätzlichen Verletzung durch mittelbare Handlung oder Unterlassung auf Probleme gestoßen. In diesem Zusammenhang darf die Rechtswidrigkeit nicht ohne weiteres durch die Rechtsgutverletzung indiziert werden. Ansonsten würde eine Vielzahl rechtmäßiger Handlungen nur wegen bloßer Verursachung einer Rechtsgutverletzung als widerrechtlich eingestuft.571 Neben den von § 823 I BGB enumerativ aufgezählten absoluten Rechtsgütern fallen auch die sogenannten Rahmenrechte in den Schutzbereich dieser Vorschrift. Typische Beispiele hierfür sind das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Die beiden sind zwar dogmatisch in die „sonstigen Rechte“ im Sinne von § 823 I BGB einzuordnen, aber sie wurden tatsächlich von Rechtsprechung und Lehre zusammen entwickelt.572 Es ist klar, dass bei Verletzung von Rahmenrechten die Rechtswidrigkeit nicht durch die bloße Beeinträchtigung des Schutzbereichs indiziert werden kann. In diesem Zusammenhang lässt sie sich vielmehr positiv begründen: Dabei ist es also durch eine umfassende Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen festzulegen, ob die zum Schaden führenden Handlung rechtswidrig ist. In Einzelfällen müssen alle maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden. Deswegen ist hier die
569
Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 6 a, S. 363. Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 105; Deutsch/Ahrens, Rn. 82. 571 Beispiele dazu vgl. Kötz/Wagner, Rn. 107. 572 Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 257. Ausführlich zur Entwicklungsgeschichte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. C 1 f., D 1 f. 570
B. Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der deliktischen Haftung?
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Herausarbeitung von verschiedenen Fallgruppen von großer praktischer Bedeutung.573 b) Handlungsunrecht Um die oben dargestellte inhärente Schwäche der Erfolgsunrechtslehre zu überwinden, wurde später die Handlungsunrechtslehre aufgestellt. Dieser Lehre nach wird eine Handlung, welche kausal für die Rechtsgutverletzung ist, nur insoweit als rechtswidrig beurteilt, als der Handelnde gegen eine bestimmte Verhaltensnorm, nämlich ein Verhaltensgebot oder -verbot, verstoßen hat.574 Hiermit wird ein verhaltensbezogener Rechtswidrigkeitsbegriff zu Grunde gelegt. Die Rechtswidrigkeit lässt sich also nicht aus der Rechtsgutverletzung, sondern aus dem Verstoß gegen eine Verhaltenspflicht ableiten. Ein solches verhaltensbezogenes Verständnis der Rechtswidrigkeit ist auch nicht einwandfrei. Hinsichtlich der folgenden Aspekte ist ihre Plausibilität in Zweifel zu ziehen: Die im Rahmen der Handlungsunrechtslehre zu prüfende Verhaltenspflicht deckt sich grundsätzlich mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, die bei Fahrlässigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist.575 Dies würde weiter dazu führen, dass die Abgrenzung von Rechtswidrigkeit und Fahrlässigkeit unschärfer geworden ist. Wie bereits dargestellt, um die Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Fahrlässigkeit zu retten, wird die Lehre von äußerer und innerer Sorgfalt aufgestellt. Mit Hilfe des Begriffspaars werden zwar in Extremfällen die Rechtswidrigkeit und Fahrlässigkeit voneinander getrennt, aber diese Unterscheidung ist kaum von praktischer Bedeutung.576 Eine andere Problematik der Handlungsunrechtslehre, wie in dieser Arbeit mehrfach erwähnt, ist vielmehr darin zu sehen, dass ein verhaltensbezogenes Rechtswidrigkeitsverständnis nicht zum Zustand der heutigen Rechtsprechung passt. Die Verkehrspflicht, wegen deren Verletzung ein Verhalten als rechtswidrig qualifiziert wird, entkoppelt sich tatsächlich von einer echten Verhaltenspflicht. Hieraus wird die Funktionsumwandlung des Rechtswidrigkeitsbegriffs ausgehend von einer Verhaltensbewertung hin zu einer Schadenszuweisung klar ersichtlich. Dementsprechend wird anstelle des verhaltensbezogenen Verständnisses die Ansicht vertreten, die Rechtswidrigkeit des deutschen Deliktsrechts als einen haftungsbezogenen Begriff zu verstehen.577 573 Zu den verschiedenen Fallgruppen von Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bzw. des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vgl. Staudinger/ Hager, § 823 Rn. C 147 ff., D 34 ff. 574 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 II 6 a, S. 364 f. 575 Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 105; Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 236; Brüggermeier, S. 69 ff.; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 7. 576 Vgl. Kötz/Wagner, Rn. 120. 577 Jansen, AcP 202 (2002), 517, 536 ff.
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
IV. Funktionelle Betrachtung der Rechtswidrigkeit Bekanntlich wird das deutsche Deliktsrecht von drei kleinen Generalklauseln, nämlich den Vorschriften von § 823 I, § 823 II und § 826 BGB, geprägt. Im Rahmen dieser deliktsrechtlichen Struktur kommt der Rechtswidrigkeit eine bedeutende Rolle als Filter zu. Als eine der Voraussetzungen von unerlaubter Handlung dient dieser Begriff vor allem dazu, ein unkontrollierbares Ausufern der deliktischen Haftung zu vermeiden. Nachfolgend wird diese sogenannte Filterfunktion der Rechtswidrigkeit aus zwei Perspektiven näher erläutert: 1. Definition des deliktsrechtlichen Schutzbereichs Im Hinblick auf die erste Filterfunktion der Rechtswidrigkeit, also die Definition des Schutzbereichs des Deliktsrechts, sind zunächst die traditionellen absoluten Rechtsgüter bzw. Rechte einerseits und die sogenannten Rahmenrechte andererseits voneinander zu unterscheiden. Die traditionellen absoluten Rechtsgüter bzw. Rechte wie das Leben oder Eigentum haben klare Inhalte und scharfe Konturen. Bei ihnen sind die „Kernbereiche des deliktsrechtlichen Schutzumfangs“ bereits vom Gesetzgeber definiert.578 Gerade aus diesem Grund kann die Rechtswidrigkeit durch Rechts(gut)verletzung, also durch den Eingriff in den vom Gesetzgeber definierten Schutzbereich, indiziert werden.579 Dementsprechend erscheint hier die Funktion der Rechtswidrigkeit zur Definition des Schutzbereichs des Deliktsrechts nicht so signifikant. Bei den Rahmenrechten stellt sich die Rechtslage aber anders dar. Weder das allgemeine Persönlichkeitsrecht noch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb wird vom Gesetzgeber ausdrücklich definiert. Beide wurden von der Rechtsprechung geschaffen und sind als „richterrechtliche Schöpfung“ anzusehen.580 Sie weisen zwar in gewissem Maß einen absoluten Charakter auf, haben allerdings keinen deutlich festgelegten Zuweisungsgehalt. Mit anderen Worten sind ihre Schutzbereiche noch nicht scharf begrenzt.581 Deswegen kann die Rechtswidrigkeit auf keinen Fall durch eine Verletzung von Rahmenrechten indiziert werden. Vielmehr ist umgekehrt durch die positive Feststellung der Rechtswidrigkeit zu beurteilen, ob ein deliktsrechtlich schützenswertes Interesse verletzt wird. Nach der h.M. erfolgt hier die positive Feststellung überwiegend durch eine umfassende Güter- und Interessenabwägung.582 In diesem Zu578
Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 164. Dies gilt zumindest für die unmittelbare Schädigung. 580 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. D 1. 581 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. C 17, D 4; Medicus/Lorenz, SchuldR BT, Rn. 1308; Kötz/Wagner, Rn. 404; Fikentscher/Heinemann, Rn. 1584. 582 Diese Ansicht wird sowohl vom BGH als auch von der herrschenden Lehre vertreten; vgl. BGHZ 13, 334, 338; BGH NJW 2012, 2197, 2200; Kötz/Wagner, Rn. 404; BGB-RGRK/ 579
B. Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der deliktischen Haftung?
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sammenhang kann man sagen, dass die Tatbestandmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit eigentlich gleichzeitig überprüft werden. Hierbei wird die Funktion der Rechtswidrigkeit zur Definition des Schutzbereichs des Deliktsrechts viel sichtbarer. 2. Filterfunktion bei mittelbarer Rechtsgutsverletzung Auch wenn bereits feststeht, dass ein Eingriff in den Schutzbereich des Deliktsrechts vorliegt, ist der Verletzungserfolg nicht jedem zuzurechnen, dessen Verhalten dafür adäquat kausal ist. Hier kommt selbstverständlich die zweite Filterfunktion der Rechtswidrigkeit in Betracht. An dieser Stelle ist es notwendig, unmittelbare und mittelbare Eingriffe voneinander abzugrenzen.583 a) Unmittelbarer Eingriff Aus einer deskriptiven Betrachtungsweise ist ein unmittelbarer Eingriff in die durch § 823 I BGB geschützten Rechtsgüter bzw. Rechte stark davon geprägt, dass der Verletzungserfolg recht nahe bevorsteht.584 In diesem Zusammenhang wird niemand bezweifeln, dass die Handlung des unmittelbaren Schädigers sehr gefährlich ist. Die Gefahr, die eine unmittelbare Schädigungshandlung mit sich bringt, ist so dringend, dass sich sie sofort in einen tatsächlichen Verletzungserfolg umwandeln kann. Rechtlich ist die unmittelbare Verletzungshandlung als solche deswegen schlechthin verboten, weil sie nahezu zwangsläufig zur Rechts(gut)verletzung führt.585 Dies erklärt auch, weshalb beim unmittelbaren Eingriff die Rechtswidrigkeit direkt von der Tatbestandmäßigkeit bzw. der Rechts(gut)verletzung indiziert werden kann. Was der unmittelbare Schädiger verletzt, ist vielmehr eine „Erfolgsvermeidungspflicht“, die im Wesentlichen auch als eine Verhaltenspflicht im weiteren Sinne begriffen werden kann.586 b) Mittelbarer Eingriff aa) Pflichtverletzung als Maßstab Beim mittelbaren Eingriff ist die Rechtslage demgegenüber anders. Hier wird der Verletzungserfolg nicht allein durch die Handlung des mittelbaren Schädigers, sondern erst durch Dazwischentreten einer eigenen Handlung des Geschädigten oder Steffen, § 823 Rn. 46; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 7. Zur Gegenansicht vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 80 II, S. 498 f. 583 Die Abgrenzung von unmittelbarem und mittelbarem Eingriff kann nicht nur für fahrlässige Delikte, sondern auch für Vorsatzdelikte gelten. Ausführlich dazu vgl. MüKoBGB/ Wagner, § 823 Rn. 23 f.; vgl. auch Brüggemeier, FS E. Schmidt, S. 44 f. 584 Vgl. v. Bar, S. 155 f.; Möllers, S. 161. 585 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 80 II, S. 366; Möllers, S. 161. 586 Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 80 II, S. 366.
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
einer Verletzungshandlung eines Dritten herbeigeführt.587 Nach dieser Beschreibung des Handlungsablaufes könnte eine Vielzahl von Handlungen, die mittelbar kausal für den Verletzungserfolg sind, scheinbar als mittelbare Verletzungshandlung angesehen werden. Hier wird die Rechtswidrigkeit durch die Tatbestandsmäßigkeit nicht mehr plausibel indiziert. Ansonsten würde dies zu extrem absurden Ergebnissen führen. Anders als beim unmittelbaren Eingriff ist mit einer mittelbaren Verletzungshandlung kein nahe bevorstehender Verletzungserfolg verbunden. Vielmehr wird der Geschädigte dadurch nur einer Gefahr ausgesetzt, die sich normalerweise nach einiger Zeit und erst mit Hinzutreten weiterer Umstände in einen tatsächlichen Verletzungserfolg umwandelt.588 Dabei kann die Beurteilung der Rechtswidrigkeit selbstverständlich nicht an die bloße Verursachung der Rechtsgutverletzung geknüpft werden. Hier gibt es also keinen Raum für die Anwendung der Erfolgsunrechtslehre. Bei einem mittelbaren Eingriff in die deliktsrechtlich schutzwürdigen Rechtsgüter ist die Rechtswidrigkeit vielmehr danach zu beurteilen, ob eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt. Von allen für den Verletzungserfolg adäquat kausalen Handlungen sind also nur diejenigen von deliktsrechtlicher Relevanz, bei denen die Täter die erforderliche Sorgfaltspflicht verletzt haben. Mit Hilfe des Begriffs der Rechtswidrigkeit werden alle für den Verletzungserfolg adäquat kausalen Handlungen weiter gefiltert. bb) Verhaltensbewertung oder Schadenszuweisung? Diese Ausführungen verdeutlichen, dass bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit einer mittelbaren Verletzungshandlung eine bestimmte Sorgfaltspflicht als Maßstab herangezogen wird. Im heutigen Schrifttum besteht aber noch Streit über das Verständnis dieser Sorgfaltspflicht. Hinter den unterschiedlichen Meinungen steht die funktionelle Auseinandersetzung der Rechtswidrigkeit: Die traditionelle Verhaltensunrechtslehre geht von einer zweistufigen Struktur der Haftungsnorm aus. Dementsprechend wird die Sorgfaltspflicht, die im Rahmen der Rechtswidrigkeit zu prüfen ist, als eine echte Verhaltenspflicht, nämlich ein Verhaltensgebot, verstanden. Wer den durch die Sorgfaltspflicht gestellten Verhaltensanforderungen nicht entspricht, hat ein Fehlverhalten begangen. Er muss dann für die hieraus entstehenden Folgen haften. Der Schadensersatzanspruch ist also als Sanktion für das Fehlverhalten zu begreifen. In diesem Sinne kann man die 587
Vgl. Stoll, AcP 162 (1963), 203, 227. Davon ausgehend kann die Verletzung durch Unterlassen auch als mittelbarer Eingriff angesehen werden. Zur Veranschaulichung der Ähnlichkeit zwischen Verletzung durch Unterlassen und mittelbarem Eingriff vgl. Deckert, JurA 1996, 348, 349; Raab, JuS 2002, 1041, 1042; Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 646. 588 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 80 II, S. 366.
B. Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der deliktischen Haftung?
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Schlussfolgerung ziehen, dass der verhaltensbezogene Rechtswidrigkeitsbegriff funktionell der Bewertung derjenigen Handlungen dient, durch die der Verletzungserfolg adäquat verursacht wird. Dementsprechend kann die hier geprüfte Sorgfaltspflicht bzw. Verkehrspflicht als „Gefahrvermeidungspflicht“ bezeichnet werden.589 Dieses verhaltensbezogene Verständnis der Rechtswidrigkeit ist allerdings im Schrifttum auf Kritik gestoßen. Die Kritik basiert im Wesentlichen auf der Funktionsumwandlung des deutschen Haftungsrechts, die sich in der Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte widerspiegelt.590 Obwohl das Haftungsrecht noch Steuerungswirkung auf das Verhalten von Menschen hat, liegt sein Hauptzweck heute nicht mehr darin, eine Sanktion für menschliches Fehlverhalten bereitzuhalten. Die Aufgabe des heutigen Haftungsrechts ist vielmehr darin zu sehen, die berechtigte Schadenszuweisung zwischen den Beteiligten an einem Schadensereignis zu verwirklichen.591 Dementsprechend stellt sich ein verhaltensbezogenes Verständnis der Rechtswidrigkeit bzw. die zweistufige Struktur der Haftungsnorm als unterkomplex und dysfunktional heraus.592 Der Begriff der Rechtswidrigkeit dient vielmehr dazu, einen der Beteiligten an einem Schadensereignis haftbar zu machen. Nach diesem Verständnis lässt sie sich eher als ein haftungsbezogener Begriff verstehen. 3. Zusammenfassung Den vorliegenden Ausführungen ist klar zu entnehmen, dass der Begriff der Rechtswidrigkeit eigentlich mit einem „Filter“ verglichen werden kann.593 Mit Hilfe dieses Begriffs wird die deliktische Haftung in einem angemessenen Rahmen eingeschränkt. Zusammenfassend lässt sich seine Filterfunktion wie folgt beschreiben: Erstens dient der Begriff der Rechtswidrigkeit zur Festlegung bzw. Definition des Bereichs derjenigen Interessen, die im Rahmen des deutschen Deliktsrechts geschützt werden sollten. In diesem Sinne ist selbstverständlich ein erfolgsbezogenes Verständnis der Rechtswidrigkeit angebracht. Hierdurch wird dem Aspekt Rechnung getragen, dass nicht jedes Interesse deliktsrechtlich geschützt wird. Beim unmittelbaren Eingriff in die klassischen absoluten Rechtsgüter kann die Rechtswidrigkeit durch die Tatbestandmäßigkeit indiziert werden. Dies lässt sich zum einen auf die eindeutigen Schutzbereiche dieser Rechtsgüter oder Rechte, zum anderen auf den drohenden bevorstehenden Verletzungserfolg zurückführen. Beim Eingriff in ein Rahmenrecht, wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder das Recht am einge589 590 591 592 593
Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 80 II, S. 366. Deteilliert dazu siehe oben unter „Kapitel 2 A. II. 2.“. Jansen, AcP 202 (2002), 517, 535. Jansen, AcP 216 (2016), 112, 130. Vgl. BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 220.
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
richteten und ausgeübten Gewerbe, wird die sogenannte Indizwirkung der Tatbestandmäßigkeit allerdings ausgeschlossen. Dabei sind die deliktischen Schutzbereiche vielmehr durch eine positive Rechtswidrigkeitsfeststellung zu bestimmen, die mit Hilfe einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung erfolgt. Zweitens zeigt sich die Filterfunktion der Rechtswidrigkeit bei der Haftungsbegründung für Unterlassen oder der mittelbaren Schädigung. Hierbei ist in der Lehre umstritten, wie der Begriff der Rechtswidrigkeit zu interpretieren ist. Während sich das verhaltensbezogene Verständnis der Rechtswidrigkeit an der Verletzung der Verhaltenspflicht orientiert, ist das haftungsbezogene Verständnis auf die Nichterbringung der Sorgfaltsobliegenheit gerichtet. Dem verhaltensbezogenen Verständnis nach dient die Rechtswidrigkeit der Bewertung der den Verletzungserfolg verursachenden Handlung. Dadurch wird sichergestellt, dass nicht jede als adäquat kausal angesehene Handlung deliktsrechtlich verboten ist. Im Unterschied dazu dient der haftungsbezogene Rechtswidrigkeitsbegriff der Zuweisung der eingetretenen Schäden. Dadurch wird also sichergestellt, dass nicht jeder Handelnde, dessen Handlung kausal für die Schäden haftungsverantwortlich ist. Zwischen den oben genannten beiden Ansichten besteht zwar Streit über das Verständnis der Rechtswidrigkeit, jedoch ist unbestritten, dass nicht jede für den Verletzungserfolg adäquate kausale Handlung objektiv zurechenbar ist. Folgt man entweder dem verhaltens- oder haftungsbezogenen Verständnis, orientiert sich die Beurteilung der Rechtswidrigkeit an der Nichteinhaltung eines bestimmten Sorgfaltsstandards. Bei Unterlassen oder mittelbarer Schädigung werden also mit Hilfe der Rechtswidrigkeit die echt zurechenbaren Verletzungshandlungen bzw. die Haftungsträger ausgefiltert.
V. Vorschlag für das Verständnis des Deliktsaufbaus im chinesischen Recht 1. Umfassende Regelung des § 2 II GdH Nach der funktionellen Beschreibung der Rolle, die der Begriff der Rechtswidrigkeit im deutschen Deliktsrecht spielt, kann nun die oben bereits erwähnte, aber noch nicht entschiedene Frage beantwortet werden: Ist im chinesischen Recht der Begriff der Rechtswidrigkeit ebenfalls eine notwendige Voraussetzung für den Aufbau der Deliktshaftung? Um die vorliegende Frage zu beantworten, muss zunächst die umfassende Regelung des § 2 II GdH in den Blick genommen werden. In dieser Vorschrift wird eine Vielzahl von zivilen Rechten und Interessen aufgezählt, die im chinesischen Deliktshaftungsgesetz schützenswert sind. Im Vergleich zu § 823 I BGB sind die von § 2 II GdH geschützten Rechte und Interesse viel umfangreicher:
B. Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der deliktischen Haftung?
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Neben den traditionellen absoluten Rechten (z. B. Leben, Gesundheit und Eigentum) sind in § 2 II GdH auch einige besondere Persönlichkeitsrechte geregelt, z. B. das Recht auf guten Ruf [ ], das Recht auf Ehre [ ], das Recht auf ] und die Eheschließungsautonomie [ ]. Anders als Privatsphäre [ die traditionellen absoluten Rechten haben die besonderen Persönlichkeitsrechte keine genau festgelegte Reichweite. Weiterhin ist zu anzumerken, dass § 2 II GdH nur eine nicht abschließende Aufzählung der deliktsrechtlich schützenswerten Rechte und Interessen enthält.594 Sowohl dem Wortlaut des § 2 II GdH nach als auch dem Willen des Gesetzgebers entsprechend können sonstige persönlichkeits- und vermögensrechtliche Interessen im Rahmen des chinesischen Deliktsrechts geschützt werden. Eine solche umfassende Regelung, aus der ein breiter deliktsrechtlicher Schutzbereich entsteht, wird auch vom chinesischen ZGB übernommen. Darüber hinaus besteht im chinesischen ZGB ein spezifischer Teil, also das 4. Buch, in dem das Persönlichkeitsrecht gesondert geregelt wird.595 Dann wäre es eher erforderlich, die Schutzbereiche des Persönlichkeitsrechts zu definieren und die Haftung angemessen einzuschränken. In Bezug auf den Rechtsgüterschutzes weist das chinesische Deliktsrecht genügend Flexibilität auf. Allerdings muss die Anwendung einer solchen umfassenden Regelung in gewissem Maße beschränkt werden. Ansonsten würde das wichtige Ziel des modernen Deliktsrechts, die Handlungsfreiheit zu gewährleisten, ins Leere gehen. 2. Rechtswidrigkeit als der einzige Lösungsansatz? Die obige Darstellung macht deutlich, dass die Hauptproblematik des chinesischen Deliktsrechts darin liegt, auf welche Weise sein extrem großzügiger Schutzbereich in einem angemessenen Rahmen eingeschränkt werden kann. Auch das chinesische Recht bedarf eines „Filters“, um eine „Flut“ an deliktischer Haftung in der Rechtspraxis zu vermeiden. Aus der funktionellen Betrachtung der Rechtswidrigkeit im deutschen Deliktsrecht geht eindeutig hervor, dass diesem Begriff eine besondere Filterfunktion zukommt. Infolgedessen wird im chinesischen Schrifttum die Meinung vertreten, die Rechtwidrigkeit als eine ungeschriebene, aber dennoch selbstverständliche Vor594
Vgl. BU Yuanshi, ZfRV 2010, S. 219. Nach dem am 28. 12. 2019 amtlich verkündeten Entwurf besteht das chinesische ZGB aus sieben Büchern. Unter dem Titel „Persönlichkeitsrecht“ enthält das 4. Buch alle Vorschriften, bei denen es sich um die Inhaberschaft und den Schutz des Persönlichkeitsrechst handelt. Nach der Definitionsklausel ( § 990 des Entwurfs) enthält das Persönlichkeitsrecht im Sinne des chinesischen ZGB nicht nur die besonderen Persönlichkeitsrechte wie etwa das Recht am eigenen Bild und das Recht auf Privatsphäre, sondern auch das Persönlichkeitsrecht im allgemeinen Sinne, das aus der persönlichen Freiheit und der Menschenwürde stammen. 595
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
aussetzung der Deliktshaftung anzusehen.596 Da weder der Begriff der „Rechtswidrigkeit“ noch derjenige der „Widerrechtlichkeit“ im Wortlaut der chinesischen deliktsrechtlichen Generalklausel erscheint, stellt eine solche Interpretation im Grunde eine teleologische Reduktion dar. Die oben gestellte Ansicht entspricht zwar wohl der herrschenden Meinung, aber ihre Plausibilität erscheint zweifelhaft. Im Rahmen des geltenden chinesischen Deliktsrechts wird die Filterfunktion der Rechtswidrigkeit eigentlich von anderen Tatbestandsmerkmalen übernommen: Bei Eingriffen in diejenigen Rechte oder Interessen, die weder deutliche Zuweisungsgehalte noch scharfe Konturen haben, muss eine umfassende Güter- und Interessenabwägung vorgenommen werden. Erst danach kann beurteilt werden, ob überhaupt das verletzte Recht oder Interesse deliktsrechtlich schützenswert ist. Während dieser Vorgang im deutschen Recht „positive Feststellung der Rechtswidrigkeit“ genannt wird, wird er im chinesischen Recht als Prüfung des Vorliegens einer Verletzungshandlung im deliktischen Sinne bezeichnet. Entscheidend ist dabei selbstverständlich nicht die Begriffswahl für diesen Prüfungsvorgang, sondern die Abwägung der im konkreten Fall widerstreitenden Interessen. Unabhängig von der Bezeichnung dient dieser Prüfungsvorgang zur deutlichen Definition des Schutzbereichs des Deliktsrechts. Dieses Prüfverfahren ist in den beiden Rechtsordnungen identisch. Bei Unterlassen oder mittelbarer Schädigung ist es für die Haftungsbegründung bedeutsam, die echt zurechenbaren Verletzungshandlungen auszufiltern. Dabei kommt der Pflichtverletzung bzw. dem Verstoß gegen bestimmte Sorgfaltsstandards eine zentrale Bedeutung zu. Ob dieser Faktor als Rechtswidrigkeit oder nur als ein Teilaspekt der Fahrlässigkeit zu verstehen ist,597 stellt demgegenüber einen belanglosen Streit um Worte dar. Im Aufbau der chinesischen Deliktshaftung wird das Verschulden (Vorsatz und Fahrlässigkeit) ausdrücklich als eine Voraussetzung festgelegt. Bei Prüfung der Fahrlässigkeit wird die Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt als Kriterium herangezogen. Aus diesem Grund wird im chinesischen Schrifttum nicht selten die Ansicht vertreten, dass sich das Merkmal „Rechtswidrigkeit“ in das Merkmal „Verschulden“ integrieren lässt.598 Dieser Ansicht ist zuzustimmen.
596
Vgl. YANG Lixin, S. 162 ff.; ZHANG Xinbao, S. 25 f.; ZHOU Youjun, S. 212. Entscheidend für die Fahrlässigkeitsprüfung ist die Festlegung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (äußere Sorgfalt). Daneben bleibt immer Raum für die Prüfung einiger subjektiver Elemente, z. B. der Erkennbarkeit dieser Sorgfaltspflicht für den Schädiger und der Vermeidbarkeit ihrer Verletzung (innere Sorgfalt). Außerdem muss auch die Schuldfähigkeit des Schädigers berücksichtigt werden. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 30 ff.; v. Bar, S. 172 ff.; Kötz/Wagner, Rn. 120 ff.; Deutsch/Ahrens, Rn. 135 ff. 598 Siehe oben unter „Kapitel 5 B. II. 2.“. 597
C. Haftung bei Fehlverhalten des Geschädigten oder Dritten
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3. Zusammenfassung Die obigen Ausführungen legen die Schlussfolgerung nahe, dass im chinesischen Deliktsrecht andere alternative Tatbestandsmerkmale verfügbar sind, die anstelle des spezifischen Begriffs der Rechtswidrigkeit im deutschen Recht zu einer angemessenen Einschränkung des deliktsrechtlichen Schutzbereichs dienen. De lege lata ist es nicht notwendig, mittels teleologischer Reduktion die Rechtswidrigkeit als eine Voraussetzung der Deliktshaftung zu behandeln. Auch de lege ferenda ist es nicht erforderlich, bei einer zukünftigen Kodifikation die Rechtswidrigkeit ausdrücklich in die deliktische Generalklausel einzufügen. Zwischen Deutschland und China besteht zwar ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Grundstruktur des Deliktsrechts, aber das deutsche Deliktsrecht hat zugleich eine Vorbildwirkung für das chinesische Deliktsrecht. Niemand wird bezweifeln, dass die umfassende Generalklausel des chinesischen Deliktsrechts einer weiteren Präzisierung bedarf. Im deutschen Deliktsrecht werden mit Hilfe der drei kleinen Generalklauseln die Rechte und Interesse in differenzierter Weise behandelt. Dies ist von besonderer Bedeutung, um die im chinesischen Deliktsrecht umfassend geschützten Rechte und Interessen weiter zu konkretisieren.
C. Haftung des Verkehrspflichtigen bei Fehlverhalten des Geschädigten oder Dritten I. Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten 1. Fragestellung a) Begriff „Unbefugte“ In der Praxis taucht immer wieder die Frage auf, ob und ggf. inwiefern ein „Unbefugter“ auch unter dem Schutz der Verkehrspflichten stehen.599 Ein typisches Beispiel für unbefugtes Verhalten ist das Betreten eines Privatgrundstücks ohne Zustimmung des Eigentümers. In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage: Wie sieht die Rechtslage hinsichtlich der Haftung aus, wenn der Unbefugte dort geschädigt wird? In der einschlägigen Literatur wird das unbefugte Verhalten des Geschädigten in einem extrem weiten Sinn verstanden, sodass es in nahezu jedem rechtswidrigen
599
Diesbezügliche Rechtsprechung des deutschen RG und BGH siehe z. B. RGZ 76, 187; 87, 128; BGH NJW 1985, 1078; 1999, 2364; VersR 1956, 794. Vgl. Czernik, S. 6 ff.; Stoll, S. 264 ff.; Mayr, S. 138 f.; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 42; BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 161 ff. Diesbezügliche Rechtsprechung der chinesischen Volksgerichte siehe unten unter „Kapitel 5 C. I. 2. b)“.
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
Verhalten bestehen könnte.600 Deshalb wird beispielsweise der fiktive „AusländerFall“, in dem ein ohne Aufenthaltsberechtigung in Deutschland reisender Ausländer auf dem Bürgersteig ausrutscht und sich verletzt, auch unter dem Thema „Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten“ diskutiert.601 Die in Rechtsprechung und Schrifttum diskutierten Beispielsfälle zu diesem Thema sind so zahlreich, dass es sehr schwer fällt, eine genaue Definition des „Unbefugten“ zu nennen.602 Doch das Gemeinsame dieser Fälle ist relativ einfach festzustellen: Ein verwerfliches Verhalten des Geschädigten liegt bereits vor, sei es widerrechtlich oder sogar strafbar, sei es der Gestattung bzw. Widmung der Verkehrspflichtigen zuwider.603 In diesem Sinn kann das „Unbefugtsein“ des Geschädigten mit der Verwerflichkeit seines Verhaltens gleichgesetzt werden. b) Betroffene Fallkonstellationen Wie oben dargelegt, gibt es für den Begriff des „Unbefugten“ keine einheitliche Definition. Er existiert vielmehr als Stichwort für die Beschreibung bestimmter Fallkonstellationen.604 Eindeutig erfasst sind zunächst alle Fälle, in denen der Geschädigte ohne Berechtigung den Gefahrenbereich betritt oder sich dort aufhält. Das ist z. B. der Einbrecher, der nachts widerrechtlich in ein Haus eindringt und infolge des frisch gebohnerten Bodens ausrutscht,605 oder derjenige, der sich nach unbefugtem Betreten einer Werkstatt an der laufenden Sägemaschine verletzt.606 Auch folgende Situationen sind nicht selten: Der potentiell Verantwortliche hat auf eine bestimmte Art und Weise bereits auf die drohenden Gefahren deutlich hingewiesen wie z. B. an der Baustelle, wo er ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Gefahr durch Kran!“ angebracht hat. Der Geschädigte hat aber solche Hinweise vorsätzlich oder aus Fahrlässigkeit nicht beachtet und sich in die Gefahr begeben.607 Darüber hinaus kommt auch die folgende Konstellation in Betracht: Die Zugangsberechtigung zum Gefahrenbereich wird zwar nicht auf bestimmte Personen beschränkt, aber der Geschädigte hat im Gefahrenbereich etwas Verwerfliches 600
Vgl. Mayr, S. 139. Vgl. Schwab, JZ 1967, 13, 15. Weitere Beispiele von „Unbefugten“ vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 423 f.; Schröder, AcP 179 (1979), 567 ff.; Marburger, JurA 1971, 481, 483. 602 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 436; Marburger, JurA 1971, 481, 494; Mayr, S. 147. Zur ausführlichen Erklärung des Begriffs des „Unbefugten“ vgl. Czernik, S. 16 ff.; zur Kritik an das Begriffspaar „befugt/unbefugt“ vgl. Gerecke, S. 164 ff. 603 Vgl. Mayr, S. 140. 604 Vgl. Czernik, S. 21. 605 Vgl. Stoll, AcP 162 (1963), 203, 234; Deutsch/Ahrens, Rn. 349; Edenfeld, VersR 2002, 272, 275. 606 Vgl. z. B. OLG Schleswig SchlHA 1957, 232 f.; vgl. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 568. 607 Vgl. z. B. BGH NJW 1995, 2631. 601
C. Haftung bei Fehlverhalten des Geschädigten oder Dritten
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getan.608 Das betrifft beispielsweise den Fall, dass sich ein Dieb, der während der Öffnungszeiten ein Kaufhaus betritt, beim Befahren der unsicheren Rolltreppe verletzt.609 Neben dem unberechtigten Zutritt in den Gefahrenbereich wird auch der bestimmungswidrige Gebrauch gefährlicher Gegenstände als „unbefugt“ angesehen.610 c) Gegenstand der folgenden Untersuchung In allen oben genannten Fällen würde sich der mögliche Verantwortliche mit dem Argument verteidigen: Der unbefugt Handelnde habe nicht unter dem Schutz der Verkehrspflicht gestanden.611 Es erscheint jedoch fragwürdig, dem Geschädigten nur wegen dessen Fehlverhaltens den Schutz der Verkehrspflicht zu verweigern.612 Im Hinblick auf den „Ausländer-Fall“ wird niemand bezweifeln, dass der ohne gültige Aufenthaltserlaubnis in Deutschland reisende Ausländer auch unter dem Schutz derjenigen Verkehrspflicht steht, die der Sicherheit der Fußgänger auf dem Bürgersteig dient.613 Deswegen bedarf es noch näherer Erläuterungen, auf welche Weise sich das verwerfliche Verhalten des Geschädigten auf das Bestehen der Verkehrspflicht auswirken kann. Auch bei der Bejahung der Verkehrspflicht gegenüber Unbefugten ist noch weiter auf eine andere wichtige Frage einzugehen, ob und wie nämlich das Fehlverhalten des Geschädigten bei der Prüfung des Mitverschuldens berücksichtigt wird. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen. 2. Darstellung der deutschen und chinesischen Rechtslage a) Rechtslage in Deutschland aa) Frühere Rechtsprechung Die Rechtsprechung des Reichsgerichts hatte es generell abgelehnt, den unbefugt handelnden Geschädigten in den Schutzbereich der Verkehrspflicht einzubeziehen.614 Im sog. „Damentoilette-Fall“ hatte das Reichsgericht über die Frage zu entscheiden, ob der Wirt für die Schäden eines männlichen Gastes haften sollte, der wegen ungenügender Beleuchtung auf der zur Damentoilette führenden Treppe 608
Vgl. Mayr, S. 153 m. w. N. Vgl. Marburger, JurA 1971, 481, 501 ff. Andere ähnliche Fälle vgl. v. Bar, S. 189; Schwab, JZ 1967, 13, 17 f. 610 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 42; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 40. 611 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 40. 612 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 424. 613 Vgl. Schwab, JZ 1967, 13, 15. 614 Vgl. RGZ 76, 187; 87, 128. 609
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
hinfiel und sich dadurch verletzte. Das Reichsgericht hatte die Klage abgewiesen, nur weil der Kläger am Eingang zur Damentoilette stürzte, „wo er nichts zu suchen hatte.“615 Diese Vorstellung beruhte vor allem auf dem absoluten Schutz des „Kernbereichs der Eigentumsfreiheit“616 : Wer unbefugt in diesen Kernbereich einbricht, verdient den deliktsrechtlichen Schutz nicht. Das bedeutet nichts anderes, als dass der Geschädigte allein durch sein unbefugtes Verhalten als solches den Schutz der Verkehrspflicht verliert. In einer seinen früheren Entscheidungen ist auch der BGH der oben dargestellten Ansicht des RG gefolgt.617 Nach dieser rigorosen Auffassung wurde das Fehlverhalten des Geschädigten schlicht als Haftungsausschlussgrund betrachtet. bb) Heutige Ansicht Da diese Ansicht der früheren Rechtsprechung oftmals zu ungerechten Ergebnissen führte, stieß sie im Schrifttum auf starke Kritik.618 Der BGH hat in seiner späteren Rechtsprechung an dieser Vorstellung nicht festgehalten sondern die „Unbefugten“ mehrmals dem Schutz der Verkehrspflichten unterstellt. Das erfolgte vor allem bei solchen Konstellationen, in denen die drohenden Gefahren außergewöhnlich groß waren.619 Der verwerflich Handelnde kommt nach der Rechtsprechung des BGH auch dann in den Genuss des personellen Schutzbereichs, wenn der Verkehrspflichtige mit dem unbefugten Verhalten rechnen kann.620 Außerdem werden Minderjährige oder geistig behinderte Personen grundsätzlich geschützt, auch wenn sie sich unbefugt in den Gefahrenbereich begeben und sich dadurch verletzt haben.621 Dies trifft insbesondere solche Fälle, in denen die gegenständlichen Gefahrenquellen hohe Anziehungskraft auf Kinder und Jugendliche ausstrahlen.
615
Vgl. RGZ 87, 128, 129. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 572. 617 Vgl. BGH NJW 1957, 499. 618 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 424; v. Bar, S. 186; Schwab, JZ 1967, 13, 17 f.; Marburger, JurA 1971, 481, 503; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 42; BGBRGRK/Steffen, § 823 Rn. 227. 619 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGH VersR 1955, 205; 1956, 794; 1966, 562; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 43. 620 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGH NJW 1975, 108; 1983, 624; 1988, 1588; 2002, 1265; vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 44. 621 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGH VersR 1973, 582; 1983, 636; NJW 1975, 108; 1995, 2631; 1997, 582; 1999, 2364. Aber ein absoluter Schutz der Kinder in jedem Fall wird auch vom BGH abgelehnt. Dabei sollten der Selbstschutz der Kinder und die Verantwortung der Eltern berücksichtigt werden. Vgl. BGH NJW 1994, 3348; NJW-RR 1992, 981; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 45; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 438. 616
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In der heutigen Literatur wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass der unbefugt Handelnde dann ebenfalls durch die Verkehrspflicht geschützt wird, wenn das gleiche Schadenereignis ebenso auch bei einer befugten Person hätte eintreten können,622 also das verwerfliche Verhalten des Geschädigten nicht zu einer Gefahrenerhöhung führt.623 In solchen Konstellationen sei es nur ein Zufall, dass anstelle eines Befugten ein unbefugt Handelnder verletzt wird.624 Deswegen sei der entstehende Schaden demjenigen zuzurechnen, der die Gefahrenlage geschaffen oder hat andauern lassen.625 b) Rechtslage in China Die dargestellte Problematik taucht auch im chinesischen Deliktsrecht immer wieder auf. Im Laufe der Gesetzgebung des chinesischen Deliktshaftungsgesetzes wurde die Frage aufgeworfen, ob die unbefugt Handelnden aus dem personellen Schutzbereich der in § 37 GdH bzw. § 1198 ChZGB festgelegten Sicherheitsgewährleistungspflicht ausgenommen werden sollten.626 Letztlich hat der chinesische Gesetzgeber diese Frage leider offen gelassen. Der Grund dafür liegt unter anderem darin, dass der sog. „Unbefugte“ ein recht vager Begriff ist und deswegen nur schwer definiert werden kann. Die Beurteilung, ob der Geschädigte ein Unbefugter ist, hängt wesentlich von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Auch wenn der Geschädigte als Unbefugter anerkannt wird, kann noch nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass er nicht schutzwürdig ist.627 aa) Rechtsprechung In der Rechtspraxis kommen nicht selten solche Fälle vor, in denen die Geschädigten unbefugt mit der Gefahrenquelle in Berührung gekommen. Dabei haben
622 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 424; Schröder, AcP 179 (1979), 567, 584 ff.; Edenfeld, VersR 2002, 272, 275 f.; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 52; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439. Zur Übersicht des Meinungsstandes der Lehre in der einschlägigen Literatur vgl. Gerecke, S. 156 ff. 623 Vgl. v. Bar, S. 190; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 424; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 43. 624 Vgl. v. Bar, S. 187; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 52. 625 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe OLG Stuttgart VersR 1977, 384; OLG Braunschweig r+s 1993, 339; OLG Dresden NJW-RR 2007, 1619; vgl. Czernik, S. 83. Diese Ansicht ist aber bisher noch nicht vom BGH in seiner Rechtsprechung bestätigt worden. 626 Vgl. NPCSC Law Committee, S. 161; GAO Shengping, S. 454; YANG Lixin, S. 433; XI Xiaoming/WANG Liming, S. 257 ff.; XIONG Jinguang, S. 275 f.; ZHOU Youjun, S. 312. 627 Vgl. NPCSC Law Committee, S. 161; XI Xiaoming/WANG Liming, S. 260.
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
die chinesischen Gerichte auch zu entscheiden, ob und wie ein unbefugtes Verhalten des Geschädigten die deliktische Haftung der Verkehrspflichtigen beeinflusst. In der Rechtsprechung besteht aber bislang keine einheitliche Meinung dazu.628 Die meisten chinesischen Gerichte lehnen es ab, die unbefugt Handelnden wie z. B. Diebe oder Einbrecher in den Schutzbereich der Verkehrspflicht einzubeziehen. Aber in einigen Ausnahmefällen werden die Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten auch von den chinesischen Gerichten anerkannt.629 Das Volksgericht der Mittelstufe von Guangzhou der Provinz Guangdong ist einmal auf die folgende Konstellation gestoßen: Eine Dame war auf dem nassen Boden in der Herrentoilette eines Hotels ausgerutscht und wurde dadurch körperlich verletzt. Sie verklagte dann den Hotelbetreiber auf Schadensersatz.630 Das Gericht hat der Klage der Dame stattgegeben und die deliktsrechtliche Haftung des Hotelbetreibers festgestellt. Dies steht in krassem Gegensatz zu dem vom RG im „Damentoilette-Fall“ vertretenen Standpunkt. Darüber hinaus wurde in diesem Urteil auch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Klägerin ein Mitverschulden am Schaden getroffen hat. Dies führte dazu, dass die Höhe des Schadensersatzes entsprechend gekürzt wurde. bb) Ansichten im Schrifttum Die Problematik der Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten wird in der chinesischen Literatur nur vereinzelt und oberflächlich diskutiert. Aus der diesbezüglichen Untersuchung lässt sich aber zumindest die folgende These ableiten: Das unbefugte bzw. verwerfliche Verhalten des Geschädigten wird stets als Argument für die Milderung oder sogar den Ausschluss der Haftung des Verkehrspflichtigen in Betracht gezogen.631 Nach Auffassung der meisten Autoren wird das Fehlverhalten des Geschädigten als ein Indiz für sein Mitverschulden angesehen.632
628
Zur Darstellung von zwei in der chinesischen Rechtsprechung vertretenen unterschiedlichen Ansichten vgl. ZHANG Min’an, JLLR 1/2006, S. 131. 629 Beispiele in der chinesischen Rechtsprechung siehe Urteil vom Volksgericht der Mittelstufe von Foshan der Provinz Guangdong vom 21. 7. 2003 ( [2003] 749 ); Urteil vom Volksgericht der Mittelstufe von Guangzhou der Provinz Guangdong vom 19. 3. 2009 ( [2008] 2772 ). 630 Siehe das Urteil vom Volksgericht der Mittelstufe von Guangzhou der Provinz Guangdong vom 19. 3. 2009 ( [2008] 2772 ). Hierbei ist nicht schwer zu erkennen, dass der Sachverhalt dieser Konstellation annähernd gleich mit dem Sachverhalt des oben dargestellten „Damentoilette-Falls“ im deutschen Recht ist. 631 Vgl. CHENG Xiao, S. 463; ZHOU Youjun, S. 312; ZHANG Min’an, JLLR 1/2006, S. 130 ff.; ders., SLB 2/2006, S. 110 ff. 632 Vgl. ZHOU Youjun, S. 312; ZHANG Min’an, JLLR 1/2006.
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Darüber hinaus wird in der einschlägigen chinesischen Literatur immer mit Nachdruck betont, dass den Minderjährigen ein besonderer Schutz zu gewähren ist. In einer Vielzahl von Fällen sind die Minderjährigen deliktsrechtlich geschützt, auch wenn sie verbotswidrig einen Gefahrenbereich betreten oder sich unbefugt sich einer gefährlichen Sache nähern.633 3. Lösungsansatz zur Bestimmung der Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten a) Grundlegender Standpunkt aa) Grundprinzip Gegen die Anerkennung von Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten wird immer wieder das folgende Argument vorgebracht: Der Schaden hätte durchaus vermieden werden können, wenn der verwerflich handelnde Geschädigte sein Fehlverhalten unterlassen hätte. Die vorstehende Darstellung der betreffenden Rechtslage in Deutschland und in China hat aber zumindest eines deutlich gemacht: Die Tatsache, dass der Geschädigte verwerflich gehandelt hat, führt nicht zwangsläufig zum Haftungsausschluss des potentiell Verantwortlichen.634 Es ist also offensichtlich, dass die Rechtsschutzversagung nur wegen des Fehlverhaltens des Geschädigten vom Deliktsrecht beider Länder abgelehnt wird. Als sonstige mögliche Rechtsfolge kommt noch die Haftungsmilderung in Betracht. Außerdem ist nicht selten festzustellen, dass in Einzelfällen das sog. „Unbefugtsein“ des Geschädigten überhaupt keinen Einfluss auf die Haftung des Verkehrspflichtigen hat. Allerdings wird niemand bezweifeln, dass ein Fehlverhalten des Geschädigten rechtlich fragwürdig ist und daher mit negativen Rechtsfolgen verknüpft werden sollte. Aber es ist ungerecht, die rechtliche Missbilligung eines solchen Fehlverhaltens in der Weise auszudrücken, dass der verwerflich Handelnde dem Schutzbereich der Verkehrspflicht gänzlich entzogen wird.635 Stattdessen erfolgt die negative Bewertung des verwerflichen Verhaltens in den meisten Fällen vielmehr dadurch, dass dem Handelnden bestimmte straf- oder verwaltungsrechtliche Sanktionen oder andere zivilrechtliche Nachteile auferlegt werden. Deshalb sollte hier als Grundprinzip festgelegt werden, dass der unbefugt Handelnde nicht allein wegen seines eigenen Fehlverhaltens seines deliktsrechtlichen Schutzes beraubt werden darf. Die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit das Fehlverhalten des Geschädigten auf Inhalt und Umfang der Verkehrspflicht Einfluss hat, kann nicht allgemein beantwortet werden, sondern muss von Fall zu Fall ent633 634 635
Vgl. ZHANG Min’an, SLB 2/2006, S. 110; YANG Lixin, S. 441. Vgl. Mertens, VersR 1980, 397, 402. Vgl. Mayr, S. 150.
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schieden werden. Dabei müssen natürlich alle maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls berücksichtigt werden. bb) Ablehnung der Gegenansicht Aufgrund des oben festgestellten Prinzips ist außerdem auch die Ansicht abzulehnen, es lasse sich nur anhand des sogenannten „Rechtsgefühls“ beurteilen, ob der verwerflich handelnde Geschädigte in den Schutzbereich der Verkehrspflicht fällt.636 Das Rechtsgefühl als solches ist ein viel zu abstrakter Begriff und aufgrund seiner Vagheit sehr schwer fassbar. Daher würde diese Ansicht zu willkürlichen Ergebnissen führen. Da ein verwerfliches Verhalten entweder gegen Gesetze oder gegen gute Sitten verstößt, tendiert das Rechtsgefühl dazu, es als negativ zu bewerten. Deswegen besagt diese Ansicht eigentlich nichts anderes, als dass der Geschädigte allein wegen seines Fehlverhaltens aus dem Schutzbereich der Verkehrspflicht auszunehmen ist.637 b) Rückgriff auf den Grundgedanken des Vertrauensschutzes Das verwerfliche Verhalten des Geschädigten stellt vielmehr nur ein tatsächliches Element dar, das zusammen mit anderen Tatsachen bei der Konkretisierung der Haftung wegen Verletzung der Verkehrspflicht zu berücksichtigen ist. Dabei ist es notwendig, auf die Grundsätze zur Begründung der Verkehrspflichten zurückzugreifen. Diese werden vom Grundgedanken des Vertrauensschutzes beherrscht. Hier ist insbesondere auf das beiderseitige Vertrauen der Betroffenen hinzuweisen. Wer sich einer Gefahrenquelle nähert, kann in der Regel darauf vertrauen, dass er von demjenigen geschützt wird, der die Gefahrenquelle schafft oder unterhält. Demgegenüber hat der potentiell Verantwortliche aber auch eine legitime Erwartung an die erforderliche Eigenvorsorge des eventuell Geschädigten. aa) Vertrauen des Geschädigten auf den Sicherheitsschutz Dem Grundgedanken des Vertrauensschutzes folgend ist in der hier untersuchten Fallkonstellation einerseits zu fragen, ob der verwerflich handelnde Geschädigte auf den Sicherheitsschutz vertraut oder vertrauen durfte. Die Antwort darauf lässt sich nicht pauschal geben, sondern hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab: 636 Vgl. Matthiessen, S. 102 f. Nach seiner Meinung kann „die Frage nach der Schutzwürdigkeit“ des verwerflich handelnden Geschädigten „letztlich nur vom Rechtgefühl beantwortet werden“. Diese Meinung ist so exzentrisch, dass sie sehr selten in der einschlägigen Literatur zu finden ist. Zur Kritik an dieser Meinung vgl. Mayr, S. 149. 637 Vgl. Mayr, S. 149.
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Offensichtlich durfte der Einbrecher in ein Privatgrundstück nicht darauf vertrauen, dass zu seinem Schutz spezielle Maßnahmen durchgeführt werden. Daher bestehen in der Regel keine Verkehrspflichten, die ausschließlich dem Sicherheitsschutz von Einbrechern dienen.638 Aber der Dieb, der während der Öffnungszeit einen Laden betritt und auf seine Gelegenheit wartet, hat auch wie die anderen Kunden ein schutzwürdiges Vertrauen in die Sicherheit der Rolltreppe und sollte durch die entsprechende Verkehrspflicht geschützt werden.639 bb) Erwartung des Verkehrspflichtigen an die Eigenvorsorge des Geschädigten Weiter ist ein besonderer Akzent auf die Erwartung des potenziellen Trägers der Verkehrspflicht zu legen. Es ist also zu prüfen, ob er auf eine angemessene Eigenvorsorge des Geschädigten vertrauen darf. Für den Verkehrspflichtigen erfolgt die Bestimmung seines eigenen Sorgfaltsaufwands grundsätzlich unter der Prämisse, dass sich der potenziell Geschädigte sorgfältig verhält und in gewissem Maße selbstverantwortlich ist.640 Ob und inwiefern sich der Geschädigte um seine eigene Sicherheit zu kümmern hat, ist auch unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls festzulegen. (1) „Unbefugtsein“ des Geschädigten bildet kein Indiz für fehlende Eigenvorsorge In der hier untersuchten Konstellation liegt bereits ein verwerfliches Verhalten des Geschädigten vor. Es mag deswegen nahe liegend erscheinen, dass sich der Geschädigte nicht sorgfältig verhalten und nicht die erforderliche Eigenvorsorge getroffen hat. Nach hier vertretener Meinung ist jedoch diese Annahme höchst fragwürdig. Entscheidend ist nicht allein das Vorliegen eines verwerflichen Verhaltens des Geschädigten, sondern die Frage, ob und welchen Einfluss dieses Fehlverhalten auf die Wahl des Sorgfaltsniveaus des Verkehrspflichtigen hat.641 Bei der Wertung des „Unbefugtseins“ des Geschädigten und der Beurteilung des „Nicht-Treffens“ seiner Eigenvorsorge zeigen sich vielmehr unterschiedliche Bewertungsausrichtungen, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen: Ein Verhalten ist als verwerflich zu bezeichnen, wenn es gegen gesetzliche Vorschriften oder die guten Sitten verstößt. Allgemein gesehen knüpft die Ver638
Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 43. Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 423 f. Zur anderen Ansicht vgl. Marburger, JurA 1971, 481, 502. 640 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 32. 641 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 437. 639
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werflichkeit eines Verhaltens stets an die Verletzung einer bestimmten Verhaltenspflicht an. Solche Verhaltenspflichten richten sich überwiegend an der Würdigung und Berücksichtigung der Rechtsgüter anderer Menschen aus. Demgegenüber handelt es sich bei der Eigenvorsorge um die Sorgfalt für den Schutz der eigenen Rechtsgüter und Interessen. Es lässt sich also schlussfolgern, dass allein das Vorliegen eines Fehlverhaltens des Geschädigten nicht unbedingt dessen fehlende Eigenvorsorge bedeuten muss. Offensichtlich ergeben sich hier zwei getrennte Fragestellungen, die nach völlig unterschiedlichen Kriterien zu beantworten sind: Zum einen, ob der Geschädigte etwas Verwerfliches getan hat und daher als Unbefugter anzusehen ist. Zum anderen, ob er die erforderliche Eigenvorsorge getroffen hat. Aber nur die letztere Frage ist bedeutsam für die Erwartung des Verkehrspflichtigen. In diesem Sinn kann man folgern, dass das „Unbefugtsein“ des Geschädigten eigentlich irrelevant für die Begründung der Haftung wegen Verletzung der Verkehrspflicht ist.642 (2) Anwendung der Schutzzwecklehre Den obigen Ausführungen ist zu entnehmen, dass das unbefugte bzw. verwerfliche Verhalten des Geschädigten die Verletzung bestimmter Verhaltensnormen voraussetzt. Für die Beantwortung der Frage, ob der Geschädigte die erforderliche Eigenvorsorge geleistet hat, ist die Anwendung der Schutzzwecklehre von großer Bedeutung. Dabei ist zu prüfen, ob ein innerer Zusammenhang zwischen dem Fehlverhalten des Geschädigten und der Ermangelung der erforderlichen Eigenvorsorge besteht.643 (a) Schutzzweck der vom Geschädigten verletzten Verhaltensnorm Hier ist zunächst der Schutzzweck der vom Geschädigten verletzten Verhaltensnorm zu bestimmen. Erstreckt sich der vom Gesetzgeber angestrebte Zweck auch auf den Schutz des Übertreters der Norm, dann kann man grundsätzlich daraus schließen, dass der Geschädigte die erforderliche Eigenvorsorge nicht trifft. Dies könnte in gewissem Maße die Wahl des Sorgfaltsniveaus des Verkehrspflichtigen beeinflussen. Bezweckt die vom Geschädigten verletzte Verhaltensnorm aber ausschließlich den Schutz anderer Personen, dann bedeutet das, dass diese Verhaltensnorm keine Aufforderung zur Eigenvorsorge an den Geschädigten darstellt. Deswegen kann das Fehlverhalten des Geschädigten nicht ohne weiteres als Argument gegen die Begründung der Verkehrspflicht angeführt werden.
642
Vgl. Mayr, S. 149. Vgl. Schwab, JZ 1967, 13, 15 ff.; Marburger, JurA 1971, 481, 491; Hasselblatt, S. 71; Mayr, S. 144 f.; BGB-RGRK/Steffen, § 823 Rn. 162. 643
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(b) Anwendung am Beispiel des „Damentoilette-Falls“ Am Beispiel des unbefugten Betretens der Toilette lässt sich die oben dargestellte Anwendung der Schutzzwecklehre gut illustrieren.644 Niemand wird bezweifeln, dass in einer modernen und zivilisierten Gesellschaft die folgende Verhaltensregel gilt: Es ist männlichen Personen generell verboten, Damentoiletten zu betreten, und umgekehrt genauso. Das lässt sich entweder aus den guten Sitten oder der Zweckbestimmung des Hausrechtinhabers ableiten. Eine solche Verhaltensregel dient dem Schutz der Frauen vor der Gefahr sexueller Belästigungen oder Übergriffe. Sie bezweckt keineswegs den Schutz derjenigen, die diese Verhaltensregel übertreten. Deswegen kann ein Mann, der widerrechtlich eine Damentoilette betritt, als „Unbefugter“ bezeichnet werden. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass er nicht für sich selbst vorsorgt. Vielmehr sollte er auch in den personellen Schutzbereich der Verkehrspflicht des Inhabers der Damentoilette fallen. c) Konkrete Kriterien Vom Grundgedanken des Vertrauensschutzes ausgehend sind weiter die konkreten Kriterien zur Bestimmung des Umfangs der Verkehrspflichten zu berücksichtigen. Im Folgenden soll näher darauf eingegangen werden, wie solche Kriterien in den Fällen anzuwenden sind, in denen sich der Geschädigte verwerflich verhalten hat. aa) Gefahrerhöhung als Zentralelement Nach allgemeiner Meinung wird die Begründung einer Verkehrspflicht durch das Moment der Gefahrerhöhung gerechtfertigt.645 Es wird jemandem deshalb eine Pflicht zur Gefahrenvermeidung oder -abwendung auferlegt, weil seine Sache oder sein Verhalten die Rechtsgüter anderer einer erheblichen Gefahr aussetzt. Bei der hier diskutierten Konstellation zeigt sich eine Besonderheit: Einerseits ist der räumliche Bereich oder Gegenstand (z. B. nasser rutschiger Boden in einem Kaufhaus), für dessen Sicherheit der Verkehrspflichtige zuständig ist, objektiv gefährlich. Andererseits hätte das Schadenereignis nicht eintreten können, wenn sich der Geschädigte nicht unbefugt in diese Gefahrenlage begeben oder sein verwerfliches Verhalten unterlassen hätte. Daher ist für die Haftungsbegründung die Frage von entscheidender Bedeutung, ob sich das verwerfliche Verhalten des Geschädigten gefahrerhöhend auswirkt.646 Im 644 Eine eingehendere Erläuterung mit weiteren Beispielen findet sich bei Schwab, JZ 1967, 13, 18; Marburger, JurA 1971, 481, 491; Mayr, S. 144 f. 645 Vgl. v. Bar, S. 189; Edenfeld, VersR 2002, 272, 275. 646 Vgl. Mayr, S. 146; Gerecke, S. 174 f.
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Fall einer bejahenden Antwort muss der Geschädigte grundsätzlich den Schaden selbst tragen, denn er hat sich durch sein eigenes Verhalten in die Gefahr gebracht. Dies entspricht auch dem privatrechtlichen Grundprinzip der Selbstverantwortung.647 bb) Vergleich mit einem „Befugten“ Um die oben gestellte Frage zu beantworten, ist von einer hypothetischen vergleichbaren Situation auszugehen, in welcher der Geschädigte aber nichts Verwerfliches getan hat.648 Es ist also zu prüfen, ob das gleiche Schadenereignis auch bei einer befugten Person hätte eintreten können.649 Durch diesen Ansatz wird verdeutlicht, ob überhaupt zwischen dem Fehlverhalten des Geschädigten und der Gefahrerhöhung ein hinreichender Zusammenhang besteht. Funktionell gesehen spielt dieser Vergleich eigentlich die Rolle eines „Filters“, durch den die für die Begründung der Verkehrspflicht irrelevanten Tatsachen ausgeschieden werden. (1) Vorliegen eines vergleichbaren Befugten Diesem Ansatz liegt die Prämisse zugrunde, dass im Einzelfall ein vergleichbarer Befugter existiert. Diese Voraussetzung ist sicherlich dann gegeben, wenn bei dem gleichen Schadenereignis sowohl der unbefugt Handelnde als auch andere, aber befugte Personen verletzt werden.650 In den meisten hier untersuchten Fällen ist allerdings nur der Unbefugte zu Schaden gekommen. Dann stellt sich die Frage, ob ein vergleichbarer Befugter denkbar wäre. Das setzt voraus, dass der vergleichbare Befugte nicht nur rein hypothetisch, sondern auch real existieren kann. Dabei kommt es selbstverständlich auf die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls an. Dieser Vergleichsansatz ist im deutschen Schrifttum mancherorts auf Kritik gestoßen. Er wird vor allem mit dem Argument abgelehnt, dass sein Geltungsbereich sehr begrenzt sei.651 Dieser Ansatz kranke „oftmals bereits auf Seiten des Tatbestandes“, weil in den meisten Fällen die Alternative, dass der Schaden auch einen befugten Nutzer trifft, verfehlt ist.652 Allerdings ist nach hier vertretener Meinung die oben angesprochene Kritik nicht überzeugend. Der Vergleich zwischen der tatsächlichen Lage, in der sich der unbefugte Geschädigte befindet, und der hypothetischen Situation, die einen Befugten 647
Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 43. Zur Kritik an diesem Lösungsansatz vgl. Czernik, S. 75 f. 649 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 436; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 51; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 43; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 424. 650 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 425; v. Bar, S. 189. 651 Vgl. Bamberger/Roth/Spindler, § 823 Rn. 247; Czernik, S. 75 f. 652 Vgl. Czernik, S. 75 f. 648
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betreffen würde, stellt nur ein Kriterium dar, das in derartigen Fällen zu berücksichtigen ist. Auch wenn im Einzelfall kein vergleichbarer Befugter gefunden werden könnte, kann das nicht dazu führen, dass der vorliegende Ansatz wegen der fehlenden Vergleichsmöglichkeit scheitert. Diese Situation kann bedeuten, dass eine befugte Person überhaupt nicht zum Geschädigten werden kann. Diese Schlussfolgerung führt aber nicht unbedingt zum Haftungsausschluss des möglichen Verkehrspflichtigen. Es müssen noch andere Kriterien berücksichtigt werden, auf die unten noch näher eingegangen wird. (2) Mögliches Ergebnis I: Schadenseintritt auch bei einem Befugten Der Vergleich könnte zu dem möglichen Ergebnis führen, dass unter den konkreten Umständen auch ein Befugter zu Schaden kommen würde. Dies könnte sehr stark dafür sprechen, dass das Fehlverhalten des Unbefugten irrelevant für die Gefahrerhöhung ist. Wenn auch ein Befugter ebenso gefährdet wird, ist die Verkehrspflicht unabhängig vom „Befugtsein“ des möglichen Geschädigten zu begründen. Der Verkehrspflichtige hat auf jeden Fall die Aufgabe der Gefahrabwendung zu übernehmen, und zwar ohne Rücksicht darauf, wessen Rechtsgüter tatsächlich verletzt werden.653 Auch wenn der Unbefugte nicht geschädigt wird oder sogar gar kein Schadenereignis auftritt, hat der Verkehrspflichtige dennoch entsprechende Maßnahmen gegen die möglicherweise drohende Gefahr zu treffen. Im Hinblick auf die Erfüllung der Verkehrspflicht ist es für ihn von keiner Bedeutung, wer überhaupt der tatsächlich Geschädigte wird. Das aufgetretene Schadenereignis ist überwiegend auf die Nichteinhaltung der Verkehrspflicht zurückzuführen. Der Unbefugte ist nur zufällig im Gefahrenbereich gewesen.654 Seine Anwesenheit hat die dort bereits bestehende Gefahr nicht erhöht, sondern lediglich aktualisiert. Daher muss der Verkehrspflichtige gegenüber den im jeweiligen Einzelfall tatsächlich geschädigten Unbefugten haften. In dieser Fallkonstellation hat der Verkehrspflichtige eine Gefahrenquelle geschaffen oder unterhalten. Davon betroffen sind nicht nur die Rechtsgüter eines Befugten, sondern auch die eines Unbefugten. Bei der Schädigung eines Unbefugten handelt es sich vielmehr um eine sogenannte „zufällige Schadensverlagerung“.655 Aus der Perspektive des Verkehrspflichtigen gesehen beruht es auf reinem Zufall, dass nicht ein Befugter, sondern eine unbefugte Person zu Schaden gekommen ist.656
653
Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 42 f.; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439. 654 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 43; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439. 655 Czernik, S. 73. 656 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 52; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439; Soergel/ Krause, § 823 Anh. II Rn. 43.
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Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass der beim Unbefugten eingetretene Schaden auch die Verwirklichung derjenigen Gefahr darstellt, die vom Verkehrspflichtigen abzuwenden war. Aus diesem Grund ist es auch sachgerecht, dem Verkehrspflichtigen diese rechtlichen Nachteile zuzurechnen. Dadurch wird der Verkehrspflichtige veranlasst, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt anzuwenden.657 Deshalb haftet der Streupflichtige – wie im oben genannten Extrembeispiel des „Ausländer-Falls“ – auch gegenüber dem Reisenden, der keinen gültigen Aufenthaltstitel besitzt.658 Niemand wird bezweifeln, dass das Fehlen eines Aufenthaltstitels in keinem Zusammenhang mit der Erhöhung der Rutschgefahr steht. Nach hier vertretener Ansicht erscheint auch die anfangs erwähnte Entscheidung des RG sehr fragwürdig: Der Gastronom sollte für die Verletzung eines männlichen Gastes haften, der auf der zur Damentoilette führende Treppe hinfiel. Es ist leicht zu erkennen, dass wegen der ungenügenden Beleuchtung auch eine befugte Person, also ein weiblicher Gast, der gleichen Absturzgefahr ausgesetzt wäre und ähnlichen Schaden hätte erleiden können.659 (3) Mögliches Ergebnis II: Kein Schadenseintritt bei einem Befugten In den meisten hier untersuchten Fällen kommt der oben ausgeführte Vergleich allerdings zum gegenteiligen Ergebnis: Das beim Unbefugten aufgetretene Schadenereignis würde auf keinen Fall einen Befugten treffen. Dieses Ergebnis kann sich unter anderem daraus ergeben, dass ein Befugter überhaupt nicht in Kontakt mit der Gefahrenquelle käme. Nach hier vertretener Ansicht gibt in dieser Fallkonstellation im Grunde keinen vergleichbaren Befugten. Es könnte auch sein, dass der Befugte zu einem anderen Zeitpunkt oder auf gewöhnliche bzw. ungefährliche Weise den Gefahrenbereich betritt. Außerdem würde der Befugte natürlich dann nicht zu Schaden kommen, wenn er wegen seiner Vertrautheit mit den Örtlichkeiten die dort bestehende Gefahr kennen und dann vermeiden könnte.660 Es zeigt sich in den oben beschriebenen Konstellationen deutlich, dass nur der unbefugt Handelnde gefährdet wird. Vor allem ist in solchen Fällen gesichert, dass sich das vom Unbefugten begangene Fehlverhalten gefahrerhöhend auswirkt. Nun ergibt sich die Frage, ob der Verkehrspflichtige Vorkehrungen treffen soll, um die nur Unbefugten drohende Gefahr abzuwenden. Grundsätzlich darf ein Unbefugter nicht darauf vertrauen, dass ausschließlich zu seinem Schutz spezielle Maßnahmen vom
657
Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 6 a, S. 424; Schröder, AcP 179 (1979), 567, 584 ff. 658 Vgl. Mayr, S. 146; v. Bar, S. 189. Ein anderes Beispiel in der deutschen Rechtsprechung siehe BGH NJW 1966, 1456. 659 Weitere Beispiele dazu vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 52 m.w.N. 660 Vgl. Mayr, S. 142; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 52.
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Verkehrspflichtigen ergriffen werden.661 Dies könnte als wichtiges Gegenargument bei der Begründung der Verkehrspflicht angeführt werden. Nach hier vertretener Auffassung überzeugt dieses Gegenargument allerdings nicht. Das Ausbleiben der Schadensfolgen beim Befugten besagt eigentlich nur, dass in solchen Fällen das Argument, dass zufälligerweise der Unbefugte statt eines Befugten verletzt wird, nicht geltend gemacht werden kann. Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass der Unbefugte gar nicht schutzwürdig ist. Ansonsten würde der Unbefugte lediglich wegen seines Fehlverhaltens des deliktsrechtlichen Schutzes beraubt wird. Auch wenn das vorliegende Argument ausscheidet, könnte die nur dem Schutz des Unbefugten dienende Verkehrspflicht auch durch andere Gründe gerechtfertigt werden. Deshalb ist es notwendig, noch andere Kriterien in Betracht zu ziehen. cc) Naheliegendes unbefugtes Verhalten des Geschädigten Eine Verkehrspflicht gegenüber Unbefugten könnte auch für die Fälle begründet sein, in denen das unbefugte Verhalten des Geschädigten sehr naheliegend ist.662 Dies gilt insbesondere für die Konstellation, in der nur der Unbefugte von der Gefahr betroffen ist. In der Regel ist ein unbefugtes Verhalten dann als naheliegend zu bezeichnen, wenn der Verkehrspflichtige es kennt oder aufgrund der ihm zugänglichen Umstände und Fakten vernünftigerweise damit rechnen kann. Dieser Lösungsansatz ist im Rahmen dieser Arbeit weiter zu verfolgen. (1) Vorhersehbarkeit des unbefugten Verhaltens des Geschädigten Im Kern dieses Lösungsansatzes steht die Vorhersehbarkeit des unbefugten Verhaltens für den Verkehrspflichtigen. Der beim Unbefugten eingetretene Schaden ist deswegen dem Verkehrspflichtigen zuzurechnen, weil dieser Schaden auf die Verwirklichung einer für ihn vorhersehbaren Gefahr zurückzuführen ist. Dieser Ansatz steht auch im Einklang mit dem Vertrauensgrundsatz: Wenn der Verkehrspflichtige mit dem unbefugten Verhalten rechnen kann, darf er selbstverständlich nicht darauf vertrauen, dass sich der Geschädigte rechtmäßig und ordentlich verhalten wird. Es ist bereits geklärt, dass der Bereich, für den der Verkehrspflichtige zuständig ist, oder die ihm gehörende Sache objektiv gesehen eine Gefahrenquelle darstellt. Ist das unbefugte Verhalten für den möglichen Pflichtenträger nicht vorhersehbar, dann gibt es keine Veranlassung, ihm eine Verkehrspflicht aufzuerlegen, weil es für die 661
Vgl. Möllers, VersR 1996, 153, 154; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 43. Dies wird in der deutschen Rechtsprechung mehrfach anerkannt; dazu vgl. BGH NJW 1983, 624, 625; 1988, 1588 ff.; 2002, 1265 f.; VersR 1982, 854, 855. Ausführlich zu dieser Rechtsprechung vgl. Czernik, S. 32 ff. Dies gilt dann als eines der häufigsten Argumente für eine Begründung der Verkehrspflicht gegenüber Unbefugten; vgl. Mayr, S. 138; Staudinger/ Hager, § 823 Rn. E 44; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 42. 662
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Pflicht zur Abwendung einer unvorhersehbaren Gefahr an der Zumutbarkeit fehlt.663 Ansonsten würde der mögliche Pflichtenträger in seiner Handlungsfreiheit maßgeblich beeinträchtigt. Wenn aber z. B. der Eigentümer das unbefugte Betreten seines Grundstücks oder die unsachgemäße Benutzung seiner Sache vorhersehen kann, sollte er selbstverständlich damit rechnen, dass der unbefugt Handelnde von der dort lauernden Gefahr bedroht wird.664 Werden keine Sicherungsmaßnahmen dagegen getroffen, lässt der Eigentümer tatsächlich eine Gefahr für die Rechtsgüter anderer andauern.665 Es ist deshalb sowohl erforderlich als auch zumutbar, ihn mit der Verkehrspflicht zu belasten. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Unbefugte die lauernde Gefahr nicht kennen kann. (2) Widerlegung der möglichen Gegenargumente (a) Selbstgefährdung des Unbefugten? Der oben dargestellte Lösungsansatz könnte auf Widerstand stoßen. Das erste Gegenargument geht von der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Opfers aus. Danach setzt sich der Unbefugte freiwillig einer Gefahr aus, wenn er ohne Erlaubnis ein fremdes Grundstück betritt. Die sich aus unvertrauter Umgebung ergebende Gefahr hätte aber vermieden werden können, wenn der Geschädigte die notwendigen Verhaltensanforderungen eingehalten hätte. Da er auf eigene Gefahr gehandelt hat, sollte er selbstverständlich den dadurch entstandenen Schaden auch selbst übernehmen.666 Nach hier vertretener Ansicht ist das oben genannte Gegenargument nicht überzeugend. Es ist bereits darauf hingewiesen, dass das verwerfliche Verhalten nur die Verletzung der Verhaltenspflicht indizieren kann, die meistens den Schutz der Rechtsgüter anderer bezweckt. Demgegenüber ist die Selbstgefährdung auf das Außerachtlassen der zum Selbstschutz gebotenen Sorgfalt zurückzuführen. Deshalb lässt sich aus dem Fehlverhalten nicht unbedingt herleiten, dass der Geschädigte auf seine eigene Gefahr handelt. Ob eine Selbstgefährdung des unbefugten Geschädigten vorliegt, ist vielmehr nach den konkreten Umständen jedes Einzelfalls zu beurteilen. In der Regel kann keine Selbstverantwortung angenommen werden, wenn die lauernde Gefahr für den Geschädigten nicht deutlich erkennbar ist.667
663
Vgl. Czernik, S. 37. Vgl. z. B. OLG Hamm, MDR 2014, 221. Weitere Rechtsprechung dazu vgl. Mayr, S. 138 m.w.N.; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 44 m.w.N. 665 Vgl. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 571. 666 Vgl. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 576 m.w.N.; Stoll, S. 264 ff. 667 Vgl. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 580; Schwab, JZ 1963, 13, 14. 664
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(b) Zum Schutz des Verkehrspflichtigen? Das zweite Gegenargument beruht auf dem Schutz der möglichen Verkehrspflichtigen.668 In den meisten Fällen stellt das verwerfliche Verhalten nicht nur eine bloße Selbstgefährdung des unbefugten Geschädigten, sondern auch einen aktuellen widerrechtlichen Eingriff in die geschützte Rechtssphäre anderer dar.669 Nach diesem Gegenargument stellt das unbefugte Eindringen in ein Privatgrundstück einen (widerrechtlichen) Eingriff in fremdes Eigentum oder in fremden Besitz dar. Würde hier dem Eigentümer noch eine Verkehrspflicht gegenüber dem Unbefugten auferlegt, bestünde die Besorgnis, dass der Eigentumsschutz ausgehöhlt würde. Dies würde sowohl dem Grundgedanken des Eigentumsschutzes als auch der Idee der Gerechtigkeit widersprechen. Hier vertretener Ansicht nach ist auch dieses Gegenargument abzulehnen. Niemand wird bestreiten, dass der Verkehrspflichtige vor rechtswidrigen Angriffen auf seine rechtlich geschützten Interessen oder Rechtsgüter geschützt werden sollte. Allerdings ist die Gewährung eines absoluten Schutzes völlig unpraktikabel. Das Fehlverhalten des Unbefugten kann zwar für ihn zu nachteiligen Rechtsfolgen führen, wie z. B. der Schadensersatzpflicht aus unerlaubter Handlung oder dem Beseitigungs- bzw. Unterlassungsanspruch, aber kann ihn nicht seines deliktsrechtlichen Schutzes berauben. Das hier diskutierte Gegenargument zielt nicht, wie es vorgibt, auf den Schutz der möglichen Verkehrspflichtigen sondern vielmehr auf eine verschleierte Form der Bestrafung des Unbefugten ab. Der Unbefugte soll für sein Fehlverhalten dadurch bestraft werden, dass er den deliktsrechtlichen Schutz völlig verliert. Eine solche Bestrafung ist unberechtigt und wurde bereits mehrfach kritisiert. Im Rahmen dieses Gegenarguments wird die Schädigung des Unbefugten als Mittel zum Schutz der Rechtsgüter des Verkehrspflichtigen angesehen. Dies scheint jedoch sehr fragwürdig, weil die private Rechtsverfolgung nur ausnahmeweise zugelassen ist.670 Es liegt nun natürlich nahe, das Rechtsinstitut der Notwehr (§ 227 BGB) in Betracht zu ziehen, das der Verteidigung gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff dient.671 Einerseits muss die Notwehrhandlung zur Abwehr des Angriffs erforderlich sein. Andererseits ist es geboten, dass das durch den Angriff bedrohte und das durch die Abwehr verletzte Rechtsgut nicht in einem offensichtlichen Missverhältnis zueinander stehen.672 668
Vgl. Schwab, JZ 1963, 13, 17. Vgl. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 577. 670 Vgl. Medicus/Petersen, BGB AT, Rn. 149 f. 671 Vgl. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 578. 672 Da das Verhältnismäßigkeitserfordernis nicht in § 227 BGB deutlich geregelt wird, ist es bestritten, ob es auch eine notwendige Voraussetzung der Notwehr darstellt. Aber auch nach dem allgemeinen Verbot des Rechtsmissbrauchs ist eine übermäßige Notwehr zu untersagen, wenn zwischen dem durch die Abwehr verletzten und dem durch den Angriff bedrohten 669
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Die oben beschriebenen Anforderungen an Erforderlichkeit und Angemessenheit können für die hier diskutierte Konstellation analog angewendet werden. Damit wird das vorliegende Gegenargument völlig entkräftet: Nach Ansicht von Schröder ist die Schädigung des Unbefugten nicht einmal für die Abwehr des Angriffs auf die Rechtgüter des Verkehrspflichtigen erforderlich, denn dadurch „wird die Störung nicht beseitigt, sondern sie besteht fort“.673 Auch wenn die Erforderlichkeit unterstellt wird, sind zusätzlich die betroffenen Interessen des Unbefugten und des möglichen Verkehrspflichtigen gegeneinander abzuwägen. Dabei müssen natürlich alle faktischen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Eine Unausgewogenheit zwischen den betroffenen Interessen liegt insbesondere dann vor, wenn einerseits der Unbefugte körperlich schwer verletzt und anderseits nur ein vermögensrechtliches Interesse des Verkehrspflichtigen geschützt wird. Nicht zuletzt ist erneut zu betonen, dass der Verkehrspflichtige das unbefugte Verhalten vorhergesehen hat oder hätte vorhersehen müssen. Dies stellt den rechtfertigenden Grund für die Begründung einer Verkehrspflicht dar, die ausschließlich dem Schutz des Unbefugten dient. Ist das unbefugte Verhalten dagegen auf keinen Fall vorhersehbar, gibt es auch keinen berechtigten Anlass zur Anerkennung einer Verkehrspflicht, selbst wenn zwischen den betroffenen Interessen des Unbefugten und denen des Pflichtenträgers eine grobe Unverhältnismäßigkeit vorliegt. (3) Bestimmung der Vorhersehbarkeit des unbefugten Verhaltens Da die Vorhersehbarkeit des Fehlverhaltens ausschlaggebend für die Pflichtbegründung ist, sollte im jeweiligen Einzelfall vor allem geprüft werden, ob ein unbefugtes Verhalten so naheliegend erscheint, dass der mögliche Verkehrspflichtige seine Augen nicht davor verschließen durfte. Für die Bestimmung der Vorhersehbarkeit ist deswegen die Frage von entscheidender Bedeutung, ob ein durchschnittlich umsichtiger Mensch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls mit dem Fehlverhalten des Unbefugten rechnen kann. Hierbei sollten selbstverständlich objektive Maßstäbe herangezogen werden. Dafür, ob ein unbefugtes Betreten naheliegt, kommt es natürlich nicht auf die subjektive Zweckwidmung des Eigentümers sondern auf die tatsächliche Zugangsmöglichkeit zu dem Grundstück an. Als Faktoren sind beispielweise die Anziehungskraft der Gefahrenquelle, die Häufigkeit des Auftretens des unbefugten Verhaltens sowie die potentiell bedrohten Personengruppen zu berücksichtigen.674 Ein Fehlverhalten könnte als vorhersehbar Rechtsgut eine offensichtliche Unverhältnismäßigkeit besteht. Dazu vgl. Medicus/Petersen, BGB AT, Rn. 156 f. 673 Schröder, AcP 179 (1979), 567, 578 f. 674 Vgl. OLG Düsseldorf VersR 1977, 1011, 1012; 1998, 1021 f.; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 44.
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insbesondere dann bezeichnet werden, wenn im Gefahrenbereich das gleiche oder ein ähnliches Verhalten schon vorher stattgefunden hat. Unter Umständen kann es auch für die Wahrscheinlichkeit eines unbefugten Betretens sprechen, wenn der Eigentümer den Zugang zu seinem Grundstück nicht hinreichend steuert.675 4. Sonstige Fragen a) Grenzen der Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten Auch wenn mit Hilfe des oben dargestellten Lösungsansatzes festgelegt wird, dass ein Unbefugter unter den personellen Schutzbereich der Verkehrspflichten fällt, muss der Pflichtenträger keinen absoluten Schutz des Unbefugten gewährleisten. Es versteht sich von selbst, dass die Verkehrspflicht gegenüber Unbefugten auch durch die allgemeinen Anforderungen an Erforderlichkeit und Zumutbarkeit begrenzt wird. Normalerweise kann man davon ausgehen, dass eine vernünftige Person sich nicht einer Gefahr aussetzen wird, wenn sie diese Gefahr erkennt. In den hier diskutierten Fällen kommt es nicht selten vor, dass sich der Geschädigte trotz der bereits erfolgten Warnung vor einer Gefahr (z. B. durch ein Warnzeichen oder ein Verbotsschild) in den Gefahrenbereich begibt. Dann stellt sich die Frage, ob eine solche Maßnahme ausreichend ist, um die Gefahr zu vermeiden. Auf diese Frage gibt es allerdings keine einheitliche Antwort. Hier gilt es unter anderem zu prüfen, ob ein solcher Hinweis deutlich sichtbar ist und von den betroffenen Personen (Erwachsene oder Kinder) ernst genommen wird.676 Außerdem ist eine Vielzahl anderer Faktoren zu berücksichtigen, z. B. die Größe der drohenden Gefahr und das Gefahrenbewusstsein der potentiellen Opfer. b) Besonders schützenswerte Personen In diesem Rahmen zählen Kinder und geistig eingeschränkte Menschen zu einem besonders schützenswerten Personenkreis der Verkehrspflichten. Dies wird sowohl im deutschen Recht als auch im chinesischen Recht als Grundregel festgelegt. Dies ist damit zu begründen, dass diese Menschen normalerweise wegen mangelndem Gefahrenbewusstsein die drohenden Gefahren nicht richtig einschätzen können.677
675 Vgl. BGH NJW 1975, 108; OLG Schleswig VersR 2003, 82; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 44. 676 Vgl. OLG Düsseldorf VersR 1998, 1021 f. 677 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 352; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 45 ff.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 45; Deutsch/Ahrens, Rn. 349; Czernik, S. 87 ff.; Mayr, S. 138; Möllers, VersR 1996, 153, 154 ff.
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In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass der Hinweis auf die Gefahr von Minderjährigen nicht ernst genommen wird.678 Dies trifft insbesondere dann zu, wenn es unter Umständen für die Minderjährigen einen Anreiz gibt, den Gefahrenbereich zu betreten oder sich der gefährlichen Sache zu nähern.679 In diesem Zusammenhang ist es offensichtlich, dass eine bloße Warnung vor der drohenden Gefahr nicht ausreichend ist, um die schutzwürdigen Minderjährigen von der Gefahrenstelle fernzuhalten. Stattdessen muss der Träger der Verkehrspflicht andere wirkungsvollere Schutzmaßnahme ergreifen, z. B. die Erschwerung des Zugangs zum Gefahrenbereich oder Durchführung von spezifischen Vorkehrungen.680 Der besondere Schutz der Minderjährigen darf allerdings nicht in dem Sinn falsch verstanden werden, dass der Verkehrspflichtige auf jeden Fall für die Schäden von Minderjährigen haften muss. Ansonsten würde er überfordert und seine Handlungsfreiheit erheblich beeinträchtigt. Die Verkehrspflichten sind immer auf einen zumutbaren Rahmen beschränkt. In Ausnahmefällen darf der Verkehrspflichtige auch auf den Selbstschutz der Minderjährigen oder den von ihren Eltern zu gewährenden Schutz vertrauen.681 c) Mitverschulden des Unbefugten In den meisten hier diskutierten Fällen könnte das verwerfliche Verhalten des Geschädigten eine Rolle bei der Prüfung seines Mitverschuldens spielen.682 Das besagt aber nicht, dass den Unbefugten in jedem Fall ein Mitverschulden trifft. Beim Mitverschulden des Geschädigten handelt es sich um ein Verschulden gegen sich selbst. Es ergibt sich aus der Verletzung einer Obliegenheit, die dem Schutz seiner eigenen Rechtsgüter und Interessen dient.683 Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist klar geworden, dass das Fehlverhalten des Unbefugten in der Verletzung einer Verhaltenspflicht liegt, die meistens dem Schutz eines anderen dient. Zwischen dem Fehlverhalten des Geschädigten und seinem Mitverschulden besteht also kein notwendiger Zusammenhang.684 Erst wenn
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Vgl. Czernik, S. 120 ff.; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 38. Vgl. z. B. BGH NJW 1995, 2631, 2632. 680 Bei der Frage, welche Maßnahme durchzuführen ist, kommt es natürlich auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Zu den Beispielen für eine hinreichende Beachtung der Verkehrspflicht gegenüber unbefugt handelnden Kindern vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 47. 681 Beispiele dazu siehe Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 45. 682 Vgl. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 579 ff.; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439 ff.; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 52. 683 Vgl. Looschelders, SchuldR AT, Rn. 1101. 684 Zu den konzeptionellen Unterschieden zwischen Mitverschulden des Geschädigten und seinem verwerflichen Verhalten vgl. Mayr, S. 181 ff. 679
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das unbefugte Verhalten gerade wegen der drohenden Gefahr verboten ist, kann ein Mitverschulden daraus abgeleitet werden.685 Im Einzelfall muss deswegen nach den konkreten Umständen ermittelt werden, ob den unbefugt handelnden Geschädigten ein Mitverschulden trifft. Für die Feststellung des Mitverschuldens ist es einerseits erforderlich, dass das Fehlverhalten zur Gefahrenerhöhung führt. Andererseits muss die Gefahr für ihn erkennbar sein.686 Grundsätzlich liegt ein Mitverschulden des Unbefugten vor, wenn er, z. B. durch ein Verbots- oder Hinweisschild, vor den mit seinem Fehlverhalten verbundenen Gefahren gewarnt worden ist.687 5. Zusammenfassung Sowohl im deutschen Recht als auch im chinesischen Recht wird der Begriff des „Unbefugten“ sehr umfassend verstanden. Deswegen handelt es sich bei der Diskussion über die Verkehrspflichten gegenüber Unbefugten dem Grunde nach um eine andere Frage, ob nämlich der verwerflich handelnde Geschädigte in den personellen Schutzbereich der Verkehrspflicht fallen sollte. Dabei wird vor allem als Grundregel festgelegt, dass der Geschädigte nicht nur wegen seines Fehlverhaltens aus dem Schutzbereich ausgeschlossen wird. Sein Fehlverhalten darf also nicht ohne weiteres der Grund für den Haftungsausschluss sein. Zur Beantwortung der vorliegenden Frage ist vornehmlich auf das Prinzip des Vertrauensschutzes sowie das Zentralelement der Gefahrenerhöhung abzustellen. Dabei ist zuerst zu prüfen, ob das gleiche Schadensereignis auch bei einem „Befugten“ eintreten würde. Das Ergebnis, dass unter gleichen Umständen ein Befugter ebenso zu Schaden kommen würde, spricht sehr dafür, dass das Fehlverhalten des Geschädigten irrelevant für die Gefahrerhöhung ist. Er sollte auch unter dem Schutz des Verkehrspflichtigen stehen. In dieser Konstellation ist der Verkehrspflichtige sowieso für die Abwendung der Gefahr verantwortlich, und zwar ohne Rücksicht darauf, wessen Rechtsgüter tatsächlich verletzt werden. Wenn ein Befugter nicht zu Schaden kommen würde, kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass die Gefahr erst durch das verwerfliche Verhalten des Geschädigten erhöht oder aktualisiert wird. Dann ist zu prüfen, ob der Verkehrspflichtige dieses Fehlverhalten voraussehen kann. Wenn das der Fall ist, stellt das Fehlverhalten kein ungewöhnliches Element dar. In diesem Zusammenhang hat der Verkehrspflichtige grundsätzlich für den Schaden einzustehen. Eine solche Zurechnung ist deshalb sachgerecht, weil der Schaden dann eigentlich die Verwirklichung einer für ihn vorhersehbaren Gefahr ist. Das Fehlverhalten des Geschädigten 685 686 687
Vgl. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 580. Vgl. Schröder, AcP 179 (1979), 567, 580. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 439 m.w.N.
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kommt demgegenüber als wichtiges Element bei der Überprüfung des Mitverschuldens in Betracht.
II. Haftung des Verkehrspflichtigen beim Dazwischentreten Dritter 1. Einführung in die Problematik a) Charakteristik der zu untersuchenden Konstellationen Sowohl in der deutschen als auch in der chinesischen Rechtspraxis sind nicht selten solche Konstellationen aufgetreten, in denen zwar eine Verkehrspflichtverletzung vorliegt, aber die Schädigung unmittelbar von einem Dritten verursacht wird.688 Bei demselben Schadenereignis sind dann der Dritte und der Verkehrspflichtige jeweils als unmittelbarer bzw. mittelbarer Schädiger zu betrachten. Einerseits lässt sich die Verletzung unmittelbar auf ein fahrlässiges oder sogar ein vorsätzliches Fehlverhalten des Dritten zurückführen. Andererseits wäre dieses Schadenereignis aber nicht eingetreten, wenn der Verkehrspflichtige seine Pflicht ordnungsgemäß erfüllt hätte. Deshalb liegt das Besondere solcher Konstellationen darin, dass der Schaden sowohl auf das aktive schädigende Handeln des Dritten als auch auf das Unterlassen des Verkehrspflichtigen zurückzuführen ist. b) Fragestellung Da in solchen Konstellationen mehrere Personen betroffen sind, erscheint die Problematik der Haftungsbegründung und -verteilung sehr kompliziert. Die Untersuchungen im Rahmen dieses Abschnitts konzentrieren sich im Wesentlichen auf die Beantwortung der nachfolgenden Fragen: Es muss in erster Linie sorgfältig geprüft werden, ob und ggf. inwieweit der Verkehrspflichtige für das Fehlverhalten des Dritten haftet. Dabei muss also eine sachgerechte Grenze der Verkehrspflicht gezogen werden. Außerdem muss auch das Außenverhältnis zwischen dem Geschädigten und mehreren Schädigern geklärt werden. Diesbezüglich bestehen zwischen dem deutschen und dem chinesischen Deliktsrecht auffallende Unterschiede, die eine nähere Erörterung verdienen. Schließlich muss noch das Innenverhältnis zwischen dem als mittelbarer Schädiger angesehenen Verkehrspflichtigen und dem als unmittelbarer Schädiger angesehenen Dritten veranschaulicht werden. Dabei geht es im Kern um die endgültige Haftungsverteilung zwischen den beiden Schädigern. 688 Es ist hier sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass der im Rahmen dieses Abschnitts diskutierte Dritte selbstständig, also unabhängig von Weisungen des Verkehrspflichtigen ist. Deswegen ist die Haftung des Verkehrspflichtigen für den weisungsgebundenen Dritten, nämlich den Verrichtungsgehilfen, nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen.
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2. Überblick zur Rechtslage in Deutschland und in China a) Rechtslage in Deutschland aa) Haftungsbegründung In der deutschen Rechtsprechung wird eine Haftung des Verkehrspflichtigen grundsätzlich auch dann bejaht, wenn ein Dritter den Schaden direkt verursacht hat.689 Auch in der Literatur wird überwiegend diese Meinung vertreten.690 Es wird schon jetzt darauf hingewiesen, dass sich die Verkehrspflichten generell in zwei Kategorien unterteilen lassen, nämlich in Fürsorgepflichten und in Sicherungspflichten.691 Dementsprechend unterscheidet die Literatur bei der Haftungsbegründung der Pflichtenträger auch zwischen diesen beiden Kategorien, wenn durch Dritte verursachte Schäden vorliegen: Die Fürsorgepflichten ergeben sich meistens aus der Übernahme bestimmter Schutzaufgaben. Die Fürsorgepflichten haben also gerade den Zweck, die Rechtsgüter eines anderen vor Fremdeinwirkung zu schützen.692 Deshalb müssen die Pflichtenträger für die durch Dritte verursachten Schäden verständlicherweise haften.693 Anders stellt sich die Situation bei den Sicherungspflichten dar. Der Träger einer Sicherungspflicht muss den gefahrlosen Zustand seines eigenen Bereichs gewährleisten. Er ist nur insoweit für die durch Dritte verursachten Schäden verantwortlich, als er erfahrungsgemäß mit dem Fehlverhalten Dritter rechnen kann.694 bb) Rechtsfolgen In den hier diskutierten Fällen liegt einerseits ein unmittelbar zur Rechtsgutverletzung führendes Fehlverhalten Dritter und andererseits eine Nichtbeachtung von Verkehrspflichten vor. Dabei haben der Dritte und der Verkehrspflichtige unabhängig voneinander durch ihr Verhalten, also durch aktives Tun der Erstere und durch Unterlassen der Letztere, gemeinsam einen Schaden schuldhaft verursacht. Bei dieser Schadensverursachung wirken beide nicht miteinander abgestimmt,
689 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe RGZ 138, 21; BGHZ 37, 165; BGH NJW 1987, 2671; 1990, 1236; 2007, 1683; NJW-RR 1990, 789; VersR 1976, 149. 690 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 431; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 36; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 33; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 III 4 d, S. 415. 691 Siehe oben unter „Kapitel 3 A. II.“. 692 Vgl. v. Bar, S. 99. 693 Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 36; Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 33. 694 Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe BGH NJW 1980, 223; OLG Hamm VersR 1979, 191. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 432.
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sondern nebeneinander.695 Es ist hier also von einer Nebentäterschaft des Dritten und des Verkehrspflichtigen auszugehen. Da der Dritte und der Verkehrspflichtige als Nebentäter angesehen werden, kommt die Vorschrift des § 840 I BGB zur Anwendung. Danach haften beide gesamtschuldnerisch – auch Solidarhaftung genannt. Das heißt, im Außenverhältnis gegenüber dem Geschädigten müssen der Dritte und der Verkehrspflichtige für den ganzen Schaden einstehen (§ 421 BGB). Da der Geschädigte nur einmal Schadensersatz fordern kann, hat die Leistung eines jeden der beiden „befreiende Wirkung“ für den jeweils anderen (§ 422 I BGB).696 Beim Innenverhältnis geht es um die endgültige Schadens- bzw. Haftungsverteilung unter mehreren Schädigern, also zwischen dem Dritten und dem Verkehrspflichtigen. Diese richtet sich nach der Vorschrift des § 426 BGB. Falls einer der beiden Schädiger mehr als seinen internen Haftungsanteil geleistet hat, hat er gemäß § 426 II BGB einen Ausgleichanspruch (auch Regressanspruch genannt) gegenüber dem anderen Schädiger. Zu welchem Anteil alle Nebentäter im Verhältnis zueinander verpflichtet sind, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. So ist es möglich, dass der Dritte, der den Schaden unmittelbar zufügt, den gesamten Schaden allein zu ersetzen hat. Die alleinige Verantwortung des Dritten kommt insbesondere dann in Betracht, wenn ihm ein vorsätzliches Fehlverhalten vorzuwerfen ist.697 Andernfalls wird zwischen dem Dritten und dem Verkehrspflichtigen die Schadensersatzpflicht aufgeteilt. Die Haftungsquoten sind dann nach dem jeweiligen Maß des Verursachungsbeitrags bzw. Verschuldens zu bestimmen.698 b) Rechtslage in China Im chinesischen Deliktsrecht werden der schädigende Dritte und der Verkehrspflichtige ebenfalls als Nebentäter behandelt.699 Allerdings hat der chinesische Gesetzgeber ein ganz unterschiedliches Regelungsmodell für die Haftung der Nebentäter gewählt.
695
Vgl. Peifer, S. 196, Rn 1. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 840 Rn. 14; Looschelders, SchuldR AT, Rn. 1282. 697 BGH NJW 1971, 459; 1990, 1236. 698 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 840 Rn. 15. 699 Im chinesischen Deliktsrecht sind mehrere Schädiger als Nebentäter anzusehen, wenn sie unabhängig voneinander, d. h. ohne bewusstes und gewolltes Zusammenwirken, den tatbestandlichen Erfolg herbeiführen. In der einschlägigen chinesischen Literatur wird die Nebentäterschaft meistens als „mehrere Deliktstäter ohne bewusstes und gewolltes Zusammen] bezeichnet. Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 532 ff.; wirken“ [ CHENG Xiao, S. 376 f.; YANG Lixin, S. 744; ZHANG Xinbao, S. 49; ZHOU Youjun, S. 267 f. 696
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aa) Teilhaftung der Nebentäter Hier kommt vor allem die Vorschrift des § 12 GdH bzw. § 1172 ChZGB in Betracht.700 Diese Vorschrift ist die allgemeine Rechtsnorm zur Haftung der Nebentäter. Im Gegensatz zur Vorschrift des § 840 BGB ordnet § 12 GdH bzw. § 1172 ChZGB ausdrücklich eine Teilhaftung der Nebentäter an. Nach dieser Vorschrift ist sowohl der Dritte als auch der Verkehrspflichtige nur teilweise zum Schadensersatz verpflichtet. Der Geschädigte kann also nicht nach seinem Belieben von jedem der beiden den ganzen Schadensersatz verlangen. Ihre jeweiligen Haftungsanteile hängen von den Umständen des Einzelfalls ab und lassen sich unter anderem nach dem Grad der Verursachung und des Verschuldens bestimmen.701 Im Zweifel sind der Dritte und der Verkehrspflichtige gemäß § 12 HS. 2 GdH bzw. § 1172 ChZGB zu gleichen Anteilen verpflichtet. bb) Entsprechende Ergänzungshaftung des Trägers der Sicherheitsgewährleistungspflicht (§ 37 II GdH) Abweichend von der traditionellen Dichotomie zwischen gesamtschuldnerischer Haftung und Teilhaftung hat die Vorschrift des § 37 II GdH bzw. § 1198 II S. 1 einen neuen Haftungsansatz entwickelt, nämlich die sog. „entsprechende Ergänzungs]. haftung“ [ Nach § 37 II GdH bzw. § 1198 II S. 1 muss der Pflichtenträger für die durch Dritte verursachten Schäden eine entsprechende Ergänzungshaftung übernehmen, soweit er seiner Verpflichtung zur Gewährleistung der Sicherheit nicht ordnungsgemäß nachkommt. Nach der wohl überwiegenden Ansicht im chinesischen Schrifttum lässt sich die entsprechende Ergänzungshaftung wie folgt interpretieren: Auf der einen Seite muss der Dritte, der als unmittelbarer Schädiger angesehen wird, vorrangig für den ganzen von ihm direkt herbeigeführten Schaden einstehen. Die Haftung des Trägers der Sicherheitsgewährleistungspflicht kommt erst dann in Betracht, wenn sich der unmittelbar handelnde Dritte nicht feststellen lässt, oder wenn er den Schaden nicht oder nicht vollständig ersetzen kann.702 Nach überwiegender Auffassung in der Literatur hat der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht eine Einrede ähnlich wie die Einrede der Vorausklage, 700
§ 12 GdH bzw. § 1172 ChZGB lautet: Wenn mehrere Personen durch die getrennte Ausführungen von rechtsverletzenden Handlungen den gleichen Schaden verursachen, und sich die Größe der Verantwortung [der einzelnen Personen] feststellen lässt, übernimmt jeder für sich die entsprechende Haftung. Wenn sich die Größe der Verantwortung [der einzelnen Personen] nicht feststellen lässt, übernehmen sie die Haftung gleichmäßig. Vgl. LIU/Pißler, ZChinR 2010, S. 43. 701 Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 552 f.; ZHANG Xinbao, S. 43; CHENG Xiao, S. 467; ZHOU Youjun, S. 266. 702 Vgl. WANG Liming, 2. Halbband, S. 178 f.; ZHANG Xinbao, S. 180; CHENG Xiao, S. 467 f.; ZHOU Youjun, S. 312.
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die einem gewöhnlichen Bürgen zusteht.703 Mit anderen Worten: Der Pflichtenträger haftet nur subsidiär für die Schäden.704 Aus diesem Grund wird eine solche Haftung als „ergänzend“ bezeichnet. Auf der anderen Seite wird die entsprechende Ergänzungshaftung als Ausnahme vom Prinzip der Totalreparation angesehen.705 Das bedeutet, dass der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht nicht für den ganzen Schaden des Geschädigten haftet. Auch wenn der Dritte den Schaden nicht oder nur teilweise ersetzen kann, ist der Pflichtenträger nicht in jedem Fall zur Zahlung des gesamten (übrigen) Schadensersatzbetrags verpflichtet.706 cc) Problematik Im chinesischen Deliktsrecht werden die beiden oben genannten Vorschriften als grundlegende Regelungen zur Haftungsverteilung zwischen dem Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht und dem Dritten festgelegt. Einige Probleme ergeben sich allerdings aus der Anwendung dieser Vorschriften. Die Problematik besteht hauptsächlich darin, wie das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Vorschriften aufzulösen ist. Weder in der Lehre noch in der Rechtsprechung lässt sich dazu eine einheitliche Meinung finden.707 Die meisten chinesischen Gerichte ziehen in den Fällen, in denen der Schaden sowohl auf ein Fehlverhalten von Dritten als auch auf eine Verletzung der Sicherheitsgewährleistungspflicht zurückzuführen ist, die Vorschrift des § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB als Urteilsgrundlage heran. Aber in der Rechtspraxis finden sich auch nicht selten Urteile, die gemäß § 12 GdH bzw. § 1172 ChZGB eine Teilhaftung zwischen dem Dritten und dem Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht festlegen. Nach Ansicht einiger Autoren ist die Vorschrift des § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB als Sonderschrift anzusehen, die nur für besondere Pflichtenträger gilt.708 Für die anderen Verkehrspflichtigen, die weder Verwalter von öffentlichen Räumen noch 703 Vgl. CHENG Xiao, S. 467; ZHOU Youjun, S. 312. Dafür ist es nicht notwendig, dass ein Zwangsvollstreckungsversuch in das Vermögen des Dritten ganz oder teilweise fruchtlos verlaufen ist. Nur wenn es beweisbar ist, dass der Dritte finanziell unfähig zum Nachkommen seiner Verpflichtung zum Schadensersatz ist, kann der Geschädigte den Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht in Anspruch nehmen. Zur spezifischen Frage im Zivilprozess vgl. SONG Chunlong, ECUPL Journal 3/2017, S. 183 ff. 704 Dabei fehlt es also an der Gleichrangigkeit der Schuldner, die als eine erforderliche Voraussetzung für Gesamtschuld anerkannt wird. Vgl. MüKoBGB/Bydlinski, § 421 Rn. 12 ff.; Looschelders, SchuldR AT, Rn. 1280. 705 Vgl. NPCSC Law Committee, Legislation Background and Views, S. 70; WANG Liming, 2. Halbband, S. 179. 706 Vgl. CHENG Xiao, S. 468; WANG Liming, 2. Halbband, S. 179. 707 Zum Überblick der Streitigkeiten im Schrifttum vgl. SUN Weifei, OL 3/2014, S. 34 ff. 708 Vgl. CHENG Xiao, S. 467; ZHANG Xinbao, S. 180.
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Organisatoren von Massenaktivitäten sind, komme selbstverständlich die allgemeine Vorschrift des § 12 GdH bzw. § 1172 ChZGB zur Anwendung. In der Literatur wird aber auch eine andere Meinung vertreten, dass nämlich die Vorschrift des § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB nur für solche Fälle gelten sollte, in denen der Dritte den Schaden vorsätzlich herbeiführt. Wenn im Einzelfall den Dritten und den Verkehrspflichtigen nur Fahrlässigkeit trifft, sei ihnen nach § 12 GdH bzw. § 1172 ChZGB eine Teilhaftung aufzuerlegen.709 Darüber hinaus bleiben noch einige Fragen offen bezüglich der konkreten Anwendung der Vorschrift des § 37 II GdH. Bisher gibt es in der Praxis keine einheitlichen Regeln, nach denen der Umfang der ergänzenden Haftung zu bestimmen ist. Ebenso umstritten bleibt die Frage, ob dem Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht, der bereits seine entsprechende ergänzende Haftung übernommen hat, ein Regressanspruch zusteht.710 3. Vergleich Aus der Darstellung der jeweiligen Rechtslage in beiden Ländern geht zumindest hervor, dass sowohl dem deutschen als auch dem chinesischen Deliktsrecht das folgende gemeinsame Prinzip zugrunde liegt: Die Haftung des Verkehrspflichtigen lässt sich nicht schlicht dadurch ausschließen, dass der Schaden erst durch das Dazwischentreten von Dritten verursacht wird. Das deutsche und das chinesische Deliktsrecht verfolgen aber unterschiedliche Haftungsmodelle. Sowohl die Teilhaftung als auch die Ergänzungshaftung weichen erheblich von der in § 840 BGB geregelten gesamtschuldnerischen Haftung ab. Der folgende Vergleich konzentriert sich hauptsächlich auf die konkreten Rechtsfolgen im Rahmen des jeweiligen Haftungsmodells. Im Vordergrund stehen dabei insbesondere zwei Fragen: Einerseits wird untersucht, in welcher Art und Weise der Verkehrspflichtige und der unmittelbar schädigende Dritte im Außenverhältnis gegenüber dem Geschädigten haften sollten. Andererseits wird der Fokus auf die endgültige Schadensverteilung zwischen dem Verkehrspflichtigen und dem Dritten gelegt. a) Fallgruppenbildung als Ausgangspunkt aa) Beispielsfälle In den hier behandelten Fällen führen das Unterlassen des Verkehrspflichtigen und das schädigende Verhalten des Dritten unabhängig voneinander, aber gemeinsam zum gleichen Verletzungserfolg. Tatsächlich können die beiden Handlungen auf 709 710
Vgl. SUN Weifei, OL 3/2014, S. 41 ff. Vgl. CHENG Xiao, S. 468.
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verschiedene Weise miteinander kombiniert werden. Um dies zu verdeutlichen sind zwei Beispielsfälle zu nennen: [Beispiel 1] In einem Kaufhaus hat ein Kunde versehentlich einen anderen angerempelt. Der Angerempelte ist ausgerutscht, weil der Boden gerade nass gereinigt wird und somit sehr glatt ist. Er hat sich beim Sturz sein Handgelenk gebrochen. [Beispiel 2] Auf einem Gelände findet ein Open-Air-Konzert statt. Ein paar Zuschauer sind in das benachbarte Grundstück eingedrungen und haben dort die Rasenfläche erheblich beschädigt.711
Im Beispiel 1 ist es offensichtlich, dass der Inhaber des Kaufhauses und der Kunde als Nebentäter für die Körperverletzung des Geschädigten verantwortlich sind. Hinsichtlich der endgültigen Rechtsfolgen sollten zweifellos beide anteilsmäßig als verantwortlich anzusehen sein, sei es nach der Solidarhaftung im deutschen Recht oder nach der Teilhaftung im chinesischen Recht. Im Beispiel 2 müssen sowohl der Konzertveranstalter als auch die Zuschauer für die Beschädigung der Rasenfläche haften, obwohl die Haftung des Konzertveranstalters im deutschen und chinesischen Deliktsrecht unterschiedlich geregelt wird. Aber in der Frage der endgültigen Haftungsaufteilung unterscheidet sich diese Fallkonstellation vom ersten Beispiel. Im zweiten Beispiel sollten ausschließlich die Zuschauer haften. bb) Unterteilung in zwei Fallgruppen Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die jeweiligen Pflichtenträger in den oben genannten zwei Beispielsfällen, nämlich der Kaufhausinhaber (Beispiel 1) und der Konzertveranstalter (Beispiel 2), unterschiedliche Aufgaben pflichtgemäß zu erfüllen haben. Deshalb können die hier behandelten Fälle allgemein in zwei Fallgruppen unterteilt werden. Die konkreten Unterschiede zwischen beiden Fallgruppen sind unter folgenden Aspekten näher zu betrachten. (1) Inhalt der Verkehrspflicht Vor allem sind die zwei Fallgruppen hinsichtlich des jeweils konkreten Inhalts der Verkehrspflichten voneinander zu unterscheiden: Zur Fallgruppe I gehören etwa die Konstellationen, in denen der Pflichtenträger dazu verpflichtet ist, für die Sicherheit der Räumlichkeiten oder Anlagen zu sorgen, die er zur Verfügung stellt. Solche Pflichten bestehen ohne Rücksicht darauf, ob ein Fehlverhalten Dritter vorliegt. Im Gegensatz dazu erfasst Fallgruppe II solche 711 Das Beispiel 2 wurde auf der Grundlage einer Entscheidung des BGH vom 2. 10. 1979 (VI ZR 245/78) ausgearbeitet. Vgl. BGH NJW 1980, 223.
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Konstellationen, in denen die Verkehrspflichten gerade den Zweck verfolgen, das mögliche bzw. denkbare Fehlverhalten Dritter zu vermeiden oder zu verhindern.712 Für die Entstehung der Verkehrspflicht gilt immer der folgende Grundgedanke: Wer eine Gefahrenquelle schafft oder in seinem Verantwortungsbereich andauern lässt, muss entsprechende Vorkehrungen treffen, um die Schädigung anderer zu vermeiden. In den zu Fallgruppe I gehörenden Konstellationen stellen bestimmte Gegenstände, z. B. der nasse Boden oder ein gefährliches Gerät, die Gefahrenquellen für fremde Rechtsgüter dar. Bei der Fallgruppe II sieht die Rechtslage aber anders aus. Dort stellt das Fehlverhalten Dritter die Gefahrenquelle dar. Dieser Unterschied lässt sich anhand der oben genannten beiden Beispielsfälle gut veranschaulichen: Im Beispiel 1 ist der Inhaber des Kaufhauses für die Sicherheit seiner Geschäftsräume zuständig. Er hat also Vorkehrungen zur Erhaltung der Rutschsicherheit des Bodens zu treffen. Demgegenüber hat der Veranstalter des Konzerts im Beispiel 2 dafür zu sorgen, dass das benachbarte Grundstück nicht von den Zuschauern beschädigt wird.713 Er muss entsprechende Maßnahmen ergreifen, um das unbefugte Betreten des benachbarten Grundstücks zu verhindern. (2) Kausalverlauf Im Hinblick auf den Kausalverlauf weisen die beiden Fallgruppen auch einen deutlichen Unterschied auf. Bei Fallgruppe I haben der Dritte und der Verkehrspflichtige tatsächlich gemeinsam den Schadenserfolg herbeigeführt: Der Dritte hat vorsätzlich oder fahrlässig den Kausalverlauf in Gang gesetzt. Der Verkehrspflichtige ist dann in den Kausalverlauf eingetreten. Bei Fallgruppe II ist die Situation aber anders gelagert: Die Nichteinhaltung der Verkehrspflicht bedeutet nur, dass der Pflichtenträger es unterlässt, das Fehlverhalten Dritter zu verhindern oder abzuwehren. Er ist also nicht aktiv in den vom Dritten in Gang gesetzten Kausalverlauf eingetreten. Ihm ist deshalb der vom Dritten allein herbeigeführte Schaden zuzurechnen, weil er entgegen seiner Verpflichtung den Kausalzusammenhang nicht unterbricht. cc) Bedeutung der Fallgruppenbildung Im deutschen und chinesischen Deliktsrecht hat die oben beschriebene Fallgruppenbildung unterschiedliche rechtliche Konsequenzen.
712
Beispielweise ist ein Gastwirt dazu verpflichtet, die Gäste „vor vorhersehbaren rechtswidrigen Gefahren, die von anderen Personen ausgehen zu bewahren“. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 268. 713 Vgl. Staudinger/Hager, § 823 Rn. E 33.
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(1) Bedeutung für das deutsche Recht Im Rahmen des deutschen Rechts lässt sich die Bedeutung der Fallgruppenbildung an der endgültigen Haftungsverteilung ablesen: In den meisten in die Fallgruppe I einzuordnenden Konstellationen ist die Schadensregulierung grundsätzlich zwischen dem Dritten und dem Verkehrspflichtigen aufzuteilen, weil beide jeweils einen aktiven Beitrag zum Schadenseintritt geleistet haben. In den zu Fallgruppe II gehörenden Konstellationen steht allerdings fest, dass nur der als unmittelbarer Schädiger anzusehende Dritte allein aktiv den Eintritt des Schadens bewirkt hat. Somit lässt sich meistens plausibel erklären, warum in den Fällen der Fallgruppe II die Verantwortung von dem Dritten allein getragen werden sollte. (2) Bedeutung für das chinesische Recht Im Rahmen des chinesischen Rechts lässt sich das Anwendungsverhältnis zwischen den Vorschriften von §§ 12 und 37 II GdH (bzw. §§ 1172 und 1198 II ChZGB) mithilfe der oben beschriebenen Fallgruppenbildung deutlich erklären. Nach hier vertretener Ansicht ist § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB als spezielle Vorschrift anzusehen, die ausschließlich in den Fällen der Fallgruppe II Anwendung findet.714 Dafür spricht einerseits der Wortlaut der Vorschrift des § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB. Danach findet diese Vorschrift nur bei solchen Konstellationen Anwendung, bei denen der Schaden durch die Handlung Dritter verursacht wird. Gemäß den vorstehenden Ausführungen ist die Fallgruppe II gerade dadurch gekennzeichnet, dass dort der Schaden allein vom Dritten herbeigeführt wird. Andererseits besteht der Zweck des § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB darin, das Fehlverhalten Dritter zu verhindern.715 In den Fällen der Fallgruppe II haben die Verkehrspflichten gerade den Zweck, das Fehlverhalten Dritter zu verhindern. Bei den zur Fallgruppe I gehörenden Konstellationen, bei denen der Schaden vom Dritten und dem Verkehrspflichtigen gemeinsam verursacht wird, kommt somit nicht die Ergänzungshaftung, sondern die Teilhaftung in Betracht. b) Fallgruppe I Wie oben bereits angedeutet, sind die hier behandelten Fälle dadurch gekennzeichnet, dass die Verkehrspflicht unabhängig vom Fehlverhalten des Dritten besteht. Der Pflichtenträger und der Dritte verwirklichen zwar gemeinsam einen deliktischen Haftungstatbestand, aber sie haben dabei keinen Tatentschluss gefasst, gemeinschaftlich eine unerlaubte Handlung zu begehen. Vielmehr führt ihr zufäl714 715
Vgl. LI Zhongyuan, PULJ 3/2014, S. 687 ff.; SUN Weifei, OL 3/2014, S. 37 ff. Vgl. NPCSC Law Committee, S. 160.
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liges Zusammenwirken zum Eintritt des Schadenereignisses.716 Das ist die typische Konstellation der Nebentäterschaft.717 aa) Besonderheit der Kausalität Sowohl für die Haftungsbegründung als auch für die Art der Schadensteilung ist von entscheidender Bedeutung, welchen Beitrag der Dritte und der Verkehrspflichtige jeweils zum Schadenseintritt geleistet haben. Um das zu klären ist es erforderlich, die Besonderheit der Kausalität bei dieser Konstellation zu berücksichtigen: Mit Hilfe der Äquivalenztheorie kann man zunächst feststellen, dass sowohl das schädigende Verhalten des Dritten als auch das Unterlassen des Verkehrspflichtigen ursächlich für den Verletzungserfolg sind.718 Des Weiteren sind das Fehlverhalten des Dritten und die Nichterfüllung der Verkehrspflicht nur jeweils als Teilursache für den eingetretenen Schaden anzusehen. Das bedeutet, dass der Schaden erst durch das Zusammenwirken von den beiden Teilursachen entsteht. Fehlt eine der beiden, wäre das Schadensereignis nicht eingetreten. Die beiden Ursachen sind also dergestalt miteinander verbunden, dass die eine ohne die andere „haftungsrechtlich irrelevant geblieben“ wäre.719 Mit anderen Worten: Sowohl der Dritte als auch der Verkehrspflichtige haben einen positiven Beitrag zum Eintritt des Schadens geleistet.720 Diese spezifische Kausalitätsform wird in der deutschen Literatur als kumulative bzw. komplementäre Kausalität bezeichnet.721 Daraus kann man schließen, dass entweder das schädigende Verhalten des Dritten oder das Unterlassen des Verkehrspflichtigen eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Tatbestandsverwirklichung einer unerlaubten Handlung darstellt. bb) Vergleich der Lösungsansätze im deutschen und chinesischen Recht Zur Lösung der Haftungsprobleme, die in den oben beschriebenen Konstellationen auftreten, enthalten das deutsche und das chinesische Deliktsrecht völlig unterschiedliche Haftungsmodelle.
716
Vgl. Meier, S. 736. Vgl. Brüggemeier, S. 186. 718 Genauer gesagt: Für das schädigende Verhalten des Dritten gilt die conditio-sine-quanon-Formel. Für das passive Unterlassen des Verkehrspflichtigen gilt die conditio-cum-quanon-Formel. 719 Brüggemeier, S. 186. Vgl. auch Weckerle, S. 93 ff. 720 Vgl. Deutsch, Haftungsrecht, Rn. 151. 721 Zur Terminologie dieser besonderen Kausalitätsform vgl. Brüggemeier, S. 186 ff.; Lange/Schiemann, § 3 XII 2, S. 157 ff.; Weckerle, S. 90 ff. 717
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(1) Lösung nach dem deutschen Recht Im deutschen Recht werden das Außen- und das Innenverhältnis deutlich voneinander getrennt. Im Außenverhältnis gegenüber dem Geschädigten sollen der Dritte und der Verkehrspflichtige nach § 840 BGB als Gesamtschuldner für den gesamten Schaden haften. Gegen jeden der beiden ist der Geschädigte berechtigt, den Schadensersatzanspruch ganz oder teilweise geltend zu machen (§ 421 BGB), insgesamt aber nur einmal. Es ist klar ersichtlich, dass die Anordnung der solidarischen Haftung den Schutz des Geschädigten bezweckt.722 Im Innenverhältnis geht es um die Kernfrage der endgültigen Verteilung der Haftungsanteile und den möglichen Haftungsausgleich zwischen mehreren Schädigern. Das ist der Anwendungsfall des § 426 BGB. Da der Dritte und der Verkehrspflichtige jeweils einen positiven Beitrag zum Schadenseintritt geleistet haben, ist in diesem Fall der jeweilige Anteil an der Entschädigungspflicht danach zu bestimmen, in welchem Maß jeder Schädiger den Schaden herbeigeführt hat.723 Im Hinblick auf das Endergebnis muss jeder Schädiger seine jeweilige Verantwortung übernehmen.724 Wird einer von ihnen über seine interne Haftungsquote hinaus vom Geschädigten in Anspruch genommen, kann er den Ausgleichs- bzw. Regressanspruch gegen den anderen geltend machen. (2) Lösung nach dem chinesischen Recht Nach den vorstehenden Ausführungen kommt für die zur Fallgruppe I gehörenden Konstellationen die Vorschrift des § 12 GdH bzw. § 1172 ChZGB zur Anwendung. Dadurch wird eine Teilhaftung der Schädiger begründet. Im Rahmen des chinesischen Rechts haften der Dritte und der Verkehrspflichtige nicht mehr als Gesamtschuldner, sondern nur pro rata als Einzel- bzw. Teilschuldner. Das bedeutet, dass die beiden Schädiger jeweils nur teilweise zum Schadensersatz verpflichtet sind. Da es hierbei keine Trennung von Außen- und Innenverhältnis gibt, stellt sich auch nicht die Frage des Ausgleichs- bzw. Regressanspruchs. Dies ist eine ganz andere Lösung als diejenige nach dem deutschen Recht. Es ist in der chinesischen Rechtspraxis üblich, dass der Geschädigte durch eine Klage gleichzeitig von dem Dritten und dem Verkehrspflichtigen den Schadensersatz verlangt. Das Gericht wird dann unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls den Haftungsumfang zwischen den beiden aufteilen. Auch wenn der Geschädigte nur gegen den Verkehrspflichtigen Klage erhebt und den Schadensersatz im vollen Umfang geltend macht, wird der Verkehrspflichtige vom Gericht nur zur Zahlung eines bestimmten Teils der Schadensersatzsumme 722
Vgl. Keuk, AcP 168 (1968), 175, 186; Ries, AcP 177 (1977), 543, 551; Weckerle, S. 96. Vgl. MüKoBGB/Bydlinski, § 426 Rn. 21. 724 Allerdings ist es in Ausnahmefällen möglich, dass der Schaden letztendlich vom Dritten allein getragen werden sollte. Dies gilt insbesondere, wenn er vorsätzlich den Schaden verursacht. 723
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verurteilt. Die noch übrig bleibende Summe kann der Geschädigte zusätzlich vom Dritten verlangen.725 Nach überwiegender Ansicht in der chinesischen Literatur ist die Haftungsverteilung unter umfassender Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge durchzuführen.726 Dies entspricht auch der üblichen Praxis der aktuellen Rechtsprechung. cc) Stellungnahme: Die gesamtschuldnerische Haftung als das einzig richtige Modell Der oben dargestellte Vergleich hat gezeigt, dass die zur Fallgruppe I gehörenden Konstellationen im Rahmen des deutschen und chinesischen Rechts ganz unterschiedlich behandelt werden. Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass beide Länder bei der deliktischen Haftung mehrerer Nebentäter zwei unterschiedlichen Modellen folgen: Auf der einen Seite die gesamtschuldnerische Haftung im deutschen Recht und auf der anderen Seite die Teilhaftung im chinesischen Recht.727 Hier vertretener Ansicht nach ist die gesamtschuldnerische Haftung das einzig richtige Modell bei der Haftung mehrerer Nebentäter. In der einschlägigen chinesischen Literatur ist die Vorschrift des § 12 GdH bzw. § 1172 ChZGB überwiegend auf Kritik und Ablehnung gestoßen.728 Der entscheidende Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass die Teilhaftung der Nebentäter ungerecht ist, weil sie zu Lasten des Geschädigten führe.729 Das wird vor allem in dem Fall deutlich, dass einer der Schädiger insolvent wird oder nicht aufgefunden werden kann. Wer trägt dann das Risiko des vollständigen Schadensersatzes? Es ist klar ersichtlich, dass im Rahmen der gesamtschuldnerischen Haftung dieses Risiko von den anderen Nebentätern und nicht vom Geschädigten getragen wird.730 Nach chinesischem Recht hat der Geschädigte ein derartiges Risiko selbst zu tragen, da jeder Nebentäter nur eine Teilhaftung übernimmt. Das bedeutet, dass die vom Geschädigten erlittene Schädigung wegen der Leistungsunfähigkeit oder des Untertauchens eines Nebentäters nicht in vollem Umfang ersetzt werden kann. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen: Bei gesamtschuldnerischer Haftung der Nebentäter werden die oben genannten Risiken die Verwirklichung des Regeressanspruchs des anderen Nebentäters beeinflussen. Bei der Teilhaftung der 725
Vgl. CHENG Xiao, S. 275. Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 550; ZHANG Xinbao, S. 43; YANG Lixin, S. 745 f.; ZHOU Youjun, S. 266. 727 Zur Erklärung, warum der deutsche Gesetzgeber das Modell der gesamtschuldnerischen Haftung mehrerer Nebentäter gewählt hatte, vgl. Keuk, AcP 168 (1968), 175, 185 ff. 728 Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 551; SUN Weifei, ECUPL Journal 3/2010, S. 12 ff. Zur anderen Ansicht vgl. CAO Xianfeng, JSU 2/2014, S. 60 ff. 729 Vgl. WANG Liming, 1. Halbband, S. 551. 730 Vgl. Keuk, AcP 168 (1968), 175, 184; Ries, AcP 177 (1977), 543, 551. 726
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Nebentäter haben solche Risiken eine negative Auswirkung auf die Verwirklichung des vollen Schadensersatzanspruchs des Geschädigten. Nach hier vertretener Ansicht ist die Überwälzung der oben genannten Risiken auf den Geschädigten in ihrer Sachgerechtigkeit sehr zweifelhaft.731 Abgesehen vom möglichen Mitverschulden trifft den Geschädigten üblicherweise kein eigenes Verschulden an dem Schadenseintritt. Dagegen trifft alle Schädiger, die nebeneinander den Schaden zufügen, ein Verschulden für den Schadenseintritt. Es ist kein rechtfertigender Grund ersichtlich, die Schädiger zu privilegieren.732 Infolgedessen sollte z. B. das Insolvenzrisiko eines Schädigers, nicht auf den Geschädigten, sondern auf die übrigen Schädiger überwälzt werden. Andernfalls würde der Geschädigte bei mehreren Schädigern schlechter stehen als gegenüber nur einem einzigen Schädiger.733 Auf diese Weise wird auch der deliktisch Handelnde motiviert, die unerlaubte Handlung zu unterlassen, also bei seinem Handeln die erforderliche Sorgfalt zu beachten.734 Außerhalb der oben erwähnten Risiken wird die Teilhaftung der Nebentäter dem Geschädigten auch andere Nachteile bringen, wie z. B. die Transaktions- bzw. Prozesskosten.735 Es ist auch ungerecht, diese Kosten dem Geschädigten aufzubürden. Gegenüber der Teilhaftung kann der Geschädigte nach dem Modell der gesamtschuldnerischen Haftung besser geschützt werden. Bei der Haftung mehrerer Nebentäter sollte das chinesische Deliktsrecht deswegen das Modell der Teilhaftung nicht mehr verfolgen. De lege lata stellt § 12 GdH die einzige Vorschrift im chinesischen Deliktsrecht dar, welche die Haftung der Nebentäter abschließend regelt. Das bedeutet, dass diese Vorschrift zwingend anzuwenden ist, obwohl sie zu unbilligen Ergebnissen führt. Daher sollte de lege ferenda die Vorschrift in der Zukunft geändert oder sogar aufgehoben werden. c) Fallgruppe II aa) Allgemeines (1) Sich gegen das Fehlverhalten Dritter richtende Verkehrspflichten Es wurde bereits dargelegt, dass alle in diese Fallgruppe einzuordnenden Konstellationen die folgende Gemeinsamkeit aufweisen: Die Träger der Verkehrs731
Vgl. Keuk, AcP 168 (1968), 175, 187 ff. Vgl. Staudinger/Hager, § 840 Rn. 2. 733 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 840 Rn. 1; Staudinger/Hager, § 840 Rn. 2; Erman/Schiemann, § 840 Rn. 1; Keuk, AcP 168 (1968), 175, 187. 734 Vgl. Staudinger/Hager, § 840 Rn. 2. 735 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 840 Rn. 1; Erman/Schiemann, § 840 Rn. 1. 732
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pflichten haben geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das mögliche Fehlverhalten Dritter zu verhindern, wesentlich zu erschweren oder die potenzielle Verletzung zu vermeiden. Diese Pflichten verfolgen zwar einen gemeinsamen Zweck, ihre Inhalte können aber vielfältig sein. Dabei kann es sich inhaltlich um die Aufsicht oder Kontrolle über bestimmte Personen handeln, deren Fehlverhalten die Verletzung anderer Menschen verursachen könnte. Die Pflichtenträger können aber gegebenenfalls nur dazu verpflichtet werden, den potenziell Geschädigten auf die Gefahren hinzuweisen, die von dem vorhersehbaren Fehlverhalten Dritter ausgehen. Der konkrete Inhalt dieser Pflicht ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Sowohl im deutschen als auch im chinesischen Recht wurden solche Pflichten bereits anerkannt. In der deutschen Rechtsprechung lassen sich solche Pflichten aus den Grundsätzen der allgemeinen Verkehrspflichten ableiten.736 Dabei kommen konkrete Kriterien zur Bestimmung der Verkehrspflichten zur Anwendung. Im chinesischen Recht werden solche Pflichten unter der Bezeichnung von Sicherheitsgewährleistungspflichten gesetzlich festgelegt. Nach dem genauen Wortlaut der gesetzlichen Vorschrift sind die Pflichtenträger Verwalter von öffentlichen Räumen oder Organisatoren von Massenveranstaltungen. Aber nach der chinesischen Lehre und Rechtsprechung können auch andere Rechtssubjekte unter Umständen zur Verhinderung des Fehlverhaltens Dritter verpflichtet sein.737 (2) Überblick über die nachstehende Untersuchung Im Zivilrecht herrscht das Prinzip der Selbstverantwortung, nach dem jeder grundsätzlich nur für sein eigenes Verhalten einzustehen hat. Mit anderen Worten: Die Verantwortung für fremdes Fehlverhalten ist auf Ausnahmefälle beschränkt. Hierfür muss ein hinreichender Grund bestehen. Deswegen konzentriert sich die folgende Untersuchung vor allem auf die Haftungsbegründung. Dabei ist die Frage zu beantworten, unter welchen Umständen eine Verkehrspflicht zur Verhinderung des Fehlverhaltens anderer vorliegt. Außerdem muss noch geklärt werden, in welchem Umfang der Verkehrspflichtige für das Fehlverhalten anderer haftet. Dabei geht es darum, die Haftung des Verkehrspflichtigen in einem zumutbaren Rahmen zu begrenzen, um seine nötige Handlungsfreiheit zu gewährleisten. Darüber hinaus sind auch die Folgen der Haftung des Pflichtenträgers im deutschen und chinesischen Recht zu vergleichen, wenn eine solche Verkehrspflicht 736
Beispiele in der deutschen Rechtsprechung siehe RGZ 138, 21; BGH NJW 1980, 223; 1987, 2671; 1990, 1236; 2007, 1683; 2004, 1449; OLG Köln VersR 2016, 673; OLG Hamm VersR 2017, 54. 737 Dies könnte auf zwei Wegen erfolgen: Entweder durch die analoge Anwendung der Vorschrift des § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB oder mit Hilfe der Grundsätze der allgemeinen Verkehrspflichten.
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verletzt wird. Das Deliktsrecht beider Länder weist dabei erhebliche Unterschiede auf. bb) Begründung bzw. Begrenzung der Haftung des Verkehrspflichtigen (1) Gefahrerhöhung Zur Begründung einer Pflicht, welche die Vermeidung oder Verhinderung fremden Fehlverhaltens zum Inhalt hat, muss man wieder auf den Grundgedanken der Gefahrerhöhung zurückgreifen. In den hier behandelten Fällen ist dann die Frage zu behandeln, welche Rolle dem Verkehrspflichtigen bei der Gefahrerhöhung zukommt. Zweifellos stellt das Fehlverhalten Dritter eine Gefahr für die Rechtsgüter anderer Menschen dar. Es ist auch klar erkennbar, dass diese Gefahr ausschließlich auf den freien Willensentschluss des Dritten zurückzuführen ist. Dies bedeutet aber nicht, dass die Gefahrerhöhung überhaupt nichts mit dem möglichen Verkehrspflichtigen zu tun hat. Bei der Gefahrerhöhung kann der Verkehrspflichtige durchaus eine wichtige Rolle spielen, wenn nämlich durch sein Verhalten das deliktische Handeln des Dritten erst ermöglicht oder erleichtert wird. In diesem Zusammenhang könnte es sachgerecht sein, dem Verkehrspflichtigen den durch den Dritten allein zugefügten Schaden zuzurechnen. Um die vorstehenden Ausführungen zu veranschaulichen, ist hier von dem oben beschriebene Beispiel 2 auszugehen: Der Rasen auf dem benachbarten Gelände wird zwar von einigen der Zuschauer beschädigt, aber diese Beschädigungsgefahr wird vom Konzertveranstalter erheblich erhöht. Gerade wegen der Veranstaltung des Konzerts hat sich eine große Menge Menschen auf dem Gelände versammelt, auf dem das Konzert stattfindet. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das angrenzende Gelände von jemandem unbefugt betreten wird. Somit lässt sich feststellen, dass durch die Veranstaltung das benachbarte Gelände einer erhöhten Beschädigungsgefahr ausgesetzt wird. (2) Trennung zwischen dem allgemeinen Lebensrisiko und dem spezifischen Schadensrisiko Für die Schadenszurechnung in solchen Fällen könnte die Theorie vom allgemeinen Lebensrisiko in gewisser Hinsicht hilfreich sein.738 Es ist bereits eine allgemein anerkannte Tatsache, dass im gesellschaftlichen Verkehr jeder Mensch mit einer Vielzahl von Risiken konfrontiert ist.739 Dabei muss man das allgemeine Lebensrisiko und das spezifische Schadensrisiko voneinander trennen. Die aus dem spezifischen Schadensrisiko resultierenden Schäden sollten vom Schädiger ersetzt 738 Zur detaillierten Auseinandersetzung der Theorie des allgemeinen Lebensrisikos vgl. Deutsch VersR 1993, 1041 ff.; Mädrich, S. 13 ff. 739 Vgl. Staudinger/Schiemann, § 249 Rn. 89.
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werden. Demgegenüber sind die aufgrund des allgemeinen Lebensrisikos eingetretenen Schäden lediglich vom Geschädigten selbst zu tragen.740 Zu den Risiken, denen ein Mensch im gesellschaftlichen Verkehr ausgesetzt ist, gehören auch die vom Fehlverhalten anderer Menschen ausgehenden Risiken. Im Alltagsleben ist also jeder dem Risiko ausgesetzt, dass seine Rechtsgüter durch Fehlverhalten anderer Menschen verletzt werden. Wäre der Schädiger nicht auffindbar oder zahlungsunfähig, hat der Geschädigte den Schaden selbst zu tragen. Hat aber jemand in gewisser Art und Weise dieses Risiko erhöht, dann hat sich das allgemeine Lebensrisiko zu einem spezifischen Schadensrisiko gewandelt. Wäre der unmittelbare Schädiger nicht auffindbar oder zahlungsunfähig, sollten die rechtlichen Nachteile auch entsprechend auf denjenigen überwälzt werden, der zu dieser Umwandlung des Risikos beiträgt. Die obigen Ausführungen lassen sich durch einen Vergleich zwischen Beispiel 2 und einer denkbaren Alternative dazu gut veranschaulichen. Dafür ist zuerst unter dem grundlegenden Sachverhalt des Beispiels 2 eine andere Situation zu berücksichtigen: Ein Passant betritt das benachbarte Gelände und beschädigt dann die Rasenfläche. Hier ist es offensichtlich, dass der eingetretene Schaden überhaupt nichts mit der Veranstaltung des Konzerts zu tun hat. Falls der Passant nicht auffindbar wäre, sollte der Schaden natürlich nicht vom Konzertveranstalter ersetzt, sondern vom Geschädigten selbst getragen werden. In diesem Sinne kann man davon ausgehen, dass der Schaden aufgrund eines allgemeinen Lebensrisikos eingetreten ist. In Beispiel 2 stellt sich die Lage jedoch anders dar: Die Beschädigung der Rasenfläche wird von einigen Konzertzuschauern verursacht. Dabei entsteht der Schaden durch die Verwirklichung eines spezifischen Risikos, das durch die Veranstaltung des Konzerts hervorgerufen wird. Erst in diesem Zusammenhang ist es sachgerecht, dem Konzertveranstalter die nachteiligen Rechtsfolgen zuzurechnen. Daher hat der Konzertveranstalter den Schaden endgültig zu tragen, wenn die unmittelbar deliktisch handelnden Konzertbesucher nicht auffindbar wären. (3) Vorhersehbarkeit des Fehlverhaltens Dritter Es wurde bereits dargelegt, dass alle Verkehrspflichten auf einen zumutbaren Umfang begrenzt sind. Dies gilt selbstverständlich auch für diejenigen Pflichten, die der Verhinderung des fremden Fehlverhaltens dienen. Der Verkehrspflichtige kann und sollte nicht für jegliches mögliche Fehlverhalten Dritter haften. Vielmehr hat er nur insoweit entsprechende Vorkehrungen zu treffen, als das Fehlverhalten Dritter für ihn vorhersehbar ist.741 Falls das zum Schaden führende Fehlverhalten nicht vom Verkehrspflichtigen vorhergesehen werden kann, wäre es auch unzumutbar, ihm eine
740 741
Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 330. Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 431; Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 36.
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Pflicht zur Verhinderung bzw. Vermeidung dieses Fehlverhaltens aufzuerlegen. Ansonsten würde er in seiner Handlungsfreiheit massiv eingeschränkt. Die Frage, ob das von Dritten begangene Fehlverhalten vorhersehbar ist, lässt sich unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände beantworten. Die Antwort variiert nach den Verhältnissen des Einzelfalls. Es ist ein objektiver Maßstab in Betracht zu ziehen, also zu prüfen, ob eine vernünftige und vorsichtige Person in vergleichbarer Situation das Fehlverhalten vorhersehen kann. Normalerweise sollte man mit demjenigen Fehlverhalten anderer rechnen, das regelmäßig im eigenen Zuständigkeitsbereich oder bei selbst durchgeführten Veranstaltungen vorkommt.742 Dies erfordert allerdings nicht, dass ein solches Fehlverhalten schon vorher einmal tatsächlich aufgetreten ist. Es reicht vielmehr aus, wenn erfahrungsgemäß eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieses Fehlverhaltens besteht.743 In unterschiedlichen Lebensbereichen herrschen auch unterschiedliche Risiken, die vom menschlichen Fehlverhalten ausgehen. Insoweit ist es hier sinnvoll, nach dem jeweiligen Lebensbereich verschiedene Fallgruppen genauer herauszuarbeiten. Nicht zuletzt muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Vorhersehbarkeit des Fehlverhaltens nur eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Haftungsbegründung bildet. Es ist durchaus möglich, dass unter Umständen der Verkehrspflichtige nicht für das Fehlverhalten Dritter haftet, auch wenn er es vorhersehen konnte. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn er darauf vertrauen darf, dass der potentiell Geschädigte sich selbst vor dem Fehlverhalten Dritter schützen oder mit den davon ausgehenden Risiken schadlos umgehen kann. cc) Haftung des Verkehrspflichtigen (1) Vergleich und Fragestellung In Bezug auf die Haftung des Verkehrspflichtigen ist die Rechtslage im deutschen Deliktsrecht klar geregelt. Der Verkehrspflichtige und der unmittelbar handelnde Dritte haften als Gesamtschuldner für den ganzen Schaden.744 Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass hinsichtlich des Außenverhältnisses gegenüber dem Geschädigten kein Unterschied zwischen Fallgruppe I und Fallgruppe II besteht. Diesbezüglich sind beide Fallgruppen im deutschen Recht nach der Vorschrift des § 840 I BGB einheitlich zu behandeln.
742
Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 36; Kolb, S. 69. Vgl. Soergel/Krause, § 823 Anh. II Rn. 36. 744 Der Verkehrspflichtige hat hier zwar nicht unmittelbar den Schaden verursacht, aber er hat doch „eine zurechenbare Bedingung“ dafür gesetzt. Infolgedessen ist er, zusammen mit dem unmittelbar handelnden Dritten, als Nebentäter anzusehen. Vgl. Staudinger/Hager, § 840 Rn. 19; Soergel/Krause, § 840 Rn. 9. 743
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Komplizierter stellt sich die Lage im chinesischen Deliktsrecht dar. In § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB ist zwar ausdrücklich geregelt, dass der Träger der Sicherungsgewährleistungspflicht die entsprechende Ergänzungshaftung übernehmen muss, wenn der Schaden von einem Dritten unmittelbar verursacht wird. Aber es wird in Lehre und Rechtsprechung heftig darüber diskutiert, wie die sogenannte „entsprechende Ergänzungshaftung“ zu verstehen ist.745 Im Rahmen dieser Haftungsform ist zumindest die Haftungsreihenfolge klar ersichtlich: Der Schaden wird vom Dritten allein herbeigeführt. Es ist daher verständlich, dass der Dritte in vollem Umfang für den Schaden haften muss. Der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht ist nach dem unmittelbar handelnden Dritten, also nur subsidiär, für den Schaden verantwortlich. Der Streit betrifft hauptsächlich zwei Fragen, nämlich zum einen das Ausmaß seiner Haftung und zum anderen seinen Ausgleichsanspruch gegen den Dritten. Die beiden Fragen bleiben im chinesischen Recht offen. Für ihre Lösung könnten die Erfahrungen im deutschen Recht in gewissem Maße hilfreich sein. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen. (2) Beschränkung der Haftung des Trägers der Sicherheitsgewährleistungspflicht? (a) Der aktuelle Meinungsstreit Hinsichtlich des Haftungsmaßes geht die herrschende Lehre im chinesischen Schrifttum davon aus, dass die Haftung des Trägers der Sicherheitsgewährleistungspflicht auf einen bestimmten Teil des gesamten Schadenbetrags beschränkt werden soll.746 Das ist auch die übliche Praxis der chinesischen Gerichte. Die Vertreter dieser Ansicht führen dafür die folgenden beiden Argumente an: Zum einen hat der Pflichtenträger nicht positiv zum Schadenseintritt beigetragen. Sein Unterlassen stellt nur eine Bedingung, aber keine Ursache für den Schaden dar.747 Zum anderen trifft den Pflichtenträger, im Vergleich zu dem Dritten, ein geringeres Verschulden.748 Dementsprechend sollte er einer milderen Haftung unterliegen. Nach der herrschenden Lehre lässt sich die Höhe der Haftung des Pflichtenträgers vor allem nach dem Grad seines Verschuldens bestimmen.749 Einige Autoren wollen 745 Zur zusammenfassenden Darstellung des diesbezüglichen Streits im chinesischen Schrifttum vgl. GAO Shengping, S. 460 ff. 746 Vgl. NPCSC Law Committee, S. 160 f.; WANG Shenming, S. 194; WANG Liming, 2. Halbband, S. 178 ff.; YANG Lixin, S. 443; ZHANG Xinbao, S. 180; CHENG Xiao, S. 467 f.; ZHOU Youjun, S. 313. 747 Vgl. CHENG Xiao, S. 467 f.; ZHANG Xinbao, S. 179 f. 748 Vgl. ZHOU Youjun, S. 313. 749 Vgl. WANG Shengming, S. 204; ZHANG Xinbao, S. 180; ZHOU Youjun, S. 313; WANG Liming, 2. Halbband, S. 180 f.
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noch andere Elemente berücksichtigen, z. B. seinen Verursachungsbeitrag zum Schaden, seine Finanzlage und so weiter.750 Aber nicht alle chinesischen Gerichte sind der oben dargestellten Ansicht gefolgt. In der Praxis kommen nicht selten Urteile vor, in denen die Haftung des Trägers der Sicherheitsgewährleistungspflicht nicht in einem bestimmten Ausmaß beschränkt wird. 751 Nach diesen Urteilen haftet er also unbeschränkt für den übrigen Teil des Schadensersatzes, falls der Dritte den Schadensersatz nicht in voller Höhe leisten kann. (b) Stellungnahme Nach hier vertretener Ansicht ist die herrschende Lehre im chinesischen Schrifttum abzulehnen. Die oben angeführten beiden Argumente, auf denen die herrschende Lehre beruht, sind aus folgenden Gründen nicht überzeugend: Da der Träger der Sicherheitsgewährleistung nicht positiv zum Schaden beitragen hat, ist es nicht möglich, seinen Haftungsanteil nach dem Verursachungsbeitrag zu bestimmen.752 Der Pflichtenträger hat ja eine zurechenbare Bedingung für den Eintritt des Schadensereignisses gesetzt.753 Das bedeutet also, dass sein Unterlassen in vollem Umfang kausal für den Schaden ist.754 Es kann zwar nicht geleugnet werden, dass in solchen Fällen das Verschulden des Pflichtenträgers leichter als das Verschulden des Dritten wiegt. Das ist allerdings kein berechtigtes Argument dafür, die Haftung des Pflichtenträgers zu beschränken. Hier hat die herrschende Lehre im Grunde das Außenverhältnis zum Geschädigten und das Innenverhältnis zwischen dem Pflichtenträger und dem Dritten miteinander verwechselt: Die Tatsache, dass den Pflichtenträger beim Schadenseintritt, ein leichteres Verschulden trifft, kann sich nur auf das Innenverhältnis auswirken. Das hat zur Konsequenz, dass einerseits der Pflichtenträger nachrangig haftet und andererseits der Dritte den Schaden endgültig tragen muss.755 Demgegenüber darf das Außenverhältnis aber nicht davon beeinflusst werden. Ansonsten wird der Geschädigte unberechtigterweise dem Risiko ausgesetzt, dass sein Schaden nicht in vollem Umfang ersetzt werden kann. Zwischen dem rechts-
750
Vgl. CHENG Xiao, S. 468; WANG Liming, 2. Halbband, S. 179 f.; YANG Lixin, S. 443. Vgl. WANG Liming, 2. Halbband, S. 179; YANG Lixin, S. 443; ZHANG Xinbao, S. 180; CHENG Xiao, S. 468. 752 Vgl. SUN Weifei, OL 3/2014, S. 40 ff.; ZHANG Xinbao/TANG Linqing, CJL 3/2003, S. 90 f. 753 Vgl. Staudinger/Hager, § 840 Rn. 19; Soergel/Krause, § 840 Rn. 9. 754 Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 184; MükoBGB/Wagner, § 840 Rn. 2. 755 In diesem Sinne kann man wohl sagen, dass der Pflichtenträger, im Vergleich zu der Haftung des Dritten, eine mildere Haftung trägt. 751
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widrig handelnden Pflichtenträger, und dem Geschädigten, den normalerweise kein Verschulden trifft, ist es durchaus gerechter, den Schaden dem Ersteren zuzurechnen. Aus den oben genannten Gründen sollte die Haftung des Pflichtenträgers nicht beschränkt werden. Er ist also zum Ersatz des Teils des Schadens verpflichtet, der nicht vom Dritten ersetzt werden kann. In Extremfällen, wenn z. B. der Dritte untergetaucht ist und nicht mehr aufgefunden werden kann, oder wenn er leistungsunfähig ist, muss der Pflichtenträger den gesamten Schaden ersetzen. (3) Regeressanspruch gegen den unmittelbar handelnden Dritten? (a) Aktueller Meinungsstreit Bisher gibt es keine einheitliche Meinung zu der Frage, ob dem Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht ein Ausgleichs- oder Regressanspruch gegen den Dritten zusteht, nachdem er die ergänzende Schadensregulierung durchgeführt hat. Dieses Problem ist auf die Änderung der einschlägigen Vorschriften zurückzuführen: Ein solcher Regressanspruch wurde einmal ausdrücklich in § 6 II der Personenschäden-Erläuterungen festgelegt. Dies wird allerdings nicht von der Vorschrift des § 37 II GdH erwähnt. Aber der Regressanspruch wird durch die Vorschrift des § 1198 II S. 2 ChZGB wieder gesetzlich festgelegt. Die Schwankung der gesetzlichen Regelung führt zum Meinungsstreit: Einige Autoren sind der Ansicht, dass der Gesetzgeber es bewusst ablehnt, dem Pflichtenträger einen Regressanspruch einzuräumen. Ihr Kernargument dafür lautet, dass der Pflichtenträger eigentlich für sein eigenes Verschulden haftet.756 Die Gegenansicht geht davon aus, dass der Gesetzgeber die Frage des Regressanspruchs nicht verneint, sondern nur offen gelassen hat. Der Pflichtenträger dürfe daher vom Dritten den Ausgleich verlangen, weil der Dritte den Schaden unmittelbar verursacht hat und deswegen endgültig allein haften muss.757 Darüber hinaus wird im Schrifttum noch eine dritte Ansicht vertreten, dass nämlich ein solcher Regeressanspruch nur von geringer praktischer Bedeutung ist. Dafür spricht vor allem das folgende Argument: Die ergänzende Haftung des Pflichtenträgers kommt erst in Betracht, wenn der Dritte nicht auffindbar oder leistungsunfähig ist. Auch wenn dem Pflichtenträger ein Regressanspruch gegen den Dritten zusteht, kann er in diesem Zusammenhang tatsächlich keinen Ausgleich erhalten.758 Der oben beschriebene Streit um den Regressanspruch des Pflichtenträgers hat sich auch auf die Rechtspraxis ausgewirkt. In der chinesischen Rechtsprechung wird dieser Regressanspruch manchmal von Gerichten anerkannt und manchmal abgelehnt. 756 757 758
Vgl. WANG Liming, 2. Halbband, S. 182; YANG Lixin, S. 443. Vgl. ZHOU Youjun, S. 313. Vgl. CHENG Xiao, S. 468.
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(b) Stellungnahme Bei der Diskussion, ob dem Pflichtenträger gesetzlich ein Regressanspruch eingeräumt werden sollte, geht es sich grundsätzlich darum, wer die Deliktshaftung endgültig tragen muss. Deswegen ist hier vor allem die oben erwähnte dritte Ansicht abzulehnen. Die angebliche Aussage, dass ein solcher Regressanspruch praktisch sinnlos sei, erscheint nicht plausibel. Es ist durchaus denkbar, dass der anfangs unauffindbare Dritte später gefunden wird oder dass er seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wiedererlangt. In Fällen hängt letztlich von dem Regressanspruch ab, wem der Schaden letztendlich zuzurechnen ist. Auch die vorstehende zweite Ansicht erscheint sehr problematisch. Das von ihren Vertretern angeführte Argument, der Pflichtenträger müsse für eigenes Verschulden haften, ist nicht überzeugend. Niemand wird bezweifeln, dass den Pflichtenträger ein Verschulden trifft. Die Sicherheitsgewährleistungspflicht dient allerdings nur dem Schutz des Geschädigten. Der als unmittelbarer Schädiger bezeichnete Dritte liegt demgegenüber außerhalb des Schutzbereichs dieser Pflicht. Aus diesem Grund ist nur im Rahmen des Außenverhältnisses gegenüber dem Geschädigten auf das Verschulden des Pflichtenträgers abzustellen. Mit anderen Worten: Dieses Verschulden sollte keine Auswirkung auf das Innenverhältnis zwischen dem Pflichtenträger und dem Dritten haben. Infolgedessen kann das Verschulden nur als Argument für die Begründung der Haftung des Pflichtenträgers angeführt, nicht aber zum Anlass für die Erleichterung oder sogar Befreiung des Dritten von der Haftung genommen werden. (c) Anerkennung des Regressanspruchs des Pflichtenträgers Nach hier vertretener Ansicht sollte der Regressanspruch des Pflichtenträgers gegen den Dritten anerkannt werden. Das bedeutet also, dass der Dritte endgültig für den Schaden aufkommen muss. In krassem Gegensatz zum heftigen Streit über den Regressanspruch des Pflichtenträgers besteht im chinesischen Recht überhaupt kein Streit bei der umgekehrten Frage, ob dem Dritten ein solcher Anspruch gegen den Pflichtenträger zusteht.759 Ein solcher Anspruch steht offensichtlich im Widerspruch zu der logischen Struktur der Vorschrift des § 37 II GdH. Er wird weder von der Lehre noch in der Rechtsprechung anerkannt. Dies deutet zumindest mittelbar darauf hin, dass der Dritte den Schaden letztendlich allein tragen sollte.760 Hat der Dritte keinen Ausgleichsanspruch gegen den Pflichtenträger, drängt sich jedoch die Schlussfolgerung auf, dass dem Pflichtenträger ein Regressanspruch gegen den Dritten zusteht. Ansonsten würde ein Wertungswiderspruch entstehen.
759 760
Vgl. SUN Weifei, OL 3/2014, S. 37 ff. Vgl. SUN Weifei, OL 3/2014, S. 43 f.
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Das wesentlichste Argument für den Regressanspruch des Pflichtenträgers beruht darauf, dass im Kausalverlauf des Schadensereignisses der Dritte und der Pflichtenträger jeweils verschiedene Rollen innehaben: Es ist klar, dass der unmittelbar handelnde Dritte den Kausalverlauf in Gang gesetzt und daher positiv zu den Verletzungsfolgen beigetragen hat. Demgegenüber hat der Pflichtenträger nur den bereits vom Dritten in Gang gesetzten Kausalzusammenhang nicht unterbrochen, obwohl er gerade dazu verpflichtet war. Er hat also keinen positiven Beitrag zu den Verletzungsfolgen geleistet. Aus dieser Perspektive betrachtet stellt das Fehlverhalten des Dritten den einzigen Gefahrenherd dar. Gerade insoweit lässt sich die Fallgruppe II eindeutig von der Fallgruppe I darin unterscheiden,761 dass nämlich der Schaden allein vom Dritten verursacht wird.762 Infolgedessen sollte der Schaden letztendlich auch vom Dritten allein getragen werden. Selbstverständlich sollte auch kein Zweifel am Regressanspruch des Pflichtenträgers bestehen. Dadurch wird der Dritte deutlich mehr motiviert, sein eigenes Verhalten zu regulieren. Dementsprechend wird die drohende Gefahr an ihrer Quelle effizienter kontrolliert bzw. abgewendet. Aus rechtsvergleichender Perspektive gesehen findet die hier vertretene Ansicht auch Unterstützung aus Erfahrungen des deutschen Deliktsrechts. Bei Fallgruppe II stellt sich auch im deutschen Recht die gleiche Frage hinsichtlich des Regressanspruchs. Gemäß § 840 I BGB haften der Verkehrspflichtige und der Dritte nach außen solidarisch für den gesamten Schaden. Nachdem einer von ihnen auf Aufforderung des Geschädigten den Schadensersatz in voller Höhe geleistet hat, liegt die Frage nahe, ob und ggf. in welchem Umfang er einen Ausgleich vom anderen erlangen kann. Nach der deutschen Rechtsprechung hängt die Antwort davon ab, wer zuerst den Schadensersatzanspruch befriedigt hat: Der Verkehrspflichtige hat hier nur eine Beaufsichtigungs- oder Überwachungspflicht verletzt. Das weist darauf hin, dass er eigentlich für fremdes Verschulden haftet.763 Deswegen soll der Schaden nicht endgültig von ihm getragen werden. Nach Leistung des Schadensersatzes hat er einen Anspruch auf Ausgleich in voller Höhe gegen den Dritten. Dadurch wird er im Ergebnis von der Haftung völlig befreit. Umgekehrt steht dem Dritten allerdings kein Regressanspruch gegen den Verkehrspflichtigen zu.764 Insbesondere darf er den Regressanspruch nicht darauf 761
Bei Fallgruppe I sieht die Situation wohl anders aus. Dort liegen vielmehr zwei voneinander unabhängige Gefahrenherde vor: Einer ist die aus vom Verkehrspflichtigen zuständigen Bereich oder Sache ausgehende Gefahr, der andere ist das Fehlverhalten des Dritten. 762 In diesem Zusammenhang tritt die Verkehrspflichtverletzung völlig hinter dem Fehlverhalten durch den als unmittelbarer Schädiger angesehenen Dritten zurück. vgl. MüKoBGB/ Bydlinski, § 426 Rn. 22; vgl. auch MüKoBGB/Wagner, § 840 Rn. 15; BGB-RGRK/Weber, § 426 Rn. 47 f. 763 Vgl. OLG Frankfurt r+s 2010, 485, 487 f.; Staudinger/Looschelders, § 426 Rn. 66. 764 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 840 Rn. 15.
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Kap. 5: Funktionaler Rechtsvergleich
stützen, dass der Verkehrspflichtige eine Beaufsichtigungs- oder Überwachungspflicht verletzt hat.765 Anders als der Verkehrspflichtige haftet hier der Dritte für eigenes Verschulden. Deswegen hat er den gesamten Schaden letztendlich allein zu tragen.766 Ein weiterer wichtiger Grund für die alleinige Haftung des Dritten liegt darin, dass sein Verursachungsbeitrag zum Schaden denjenigen des Verkehrspflichtigen krass übersteigt.767 Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist die sog. „entsprechende Ergänzungshaftung“ im § 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB wohl eher wie folgt zu interpretieren: Der Geschädigte sollte zuerst den Schadensersatzanspruch gegen den Dritten geltend machen. Nur wenn der Dritte den Schadensersatz nicht oder nur teilweise leisten kann, hat der Träger der Sicherheitsgewährleistungspflicht den übrigen Teil des Schadens zu ersetzen.768 Nachdem er den Schadensersatz geleistet hat, steht ihm ein Regressanspruch gegen den Dritten zu. dd) Zusammenfassung Mit Hilfe der vorliegenden Auslegung werden die Unterschiede zwischen dem chinesischem und dem deutschem Recht hinsichtlich der Behandlung der Haftungsproblematik bei der Fallgruppe II weitgehend abgeschwächt. Sowohl im Rahmen des chinesischen als auch des deutschen Deliktsrechts können die folgenden beiden Ziele erreicht werden: Erstens wird das Insolvenzrisiko des unmittelbar schädigenden Dritten auf den Verkehrspflichtigen verlagert. Dadurch kann der Schaden des Geschädigten vollständig ersetzt werden. Zweitens wird der Schaden letztendlich vom Dritten getragen. Dadurch wird der Verkehrspflichtige nicht ungerecht belastet. Der einzige Unterschied zwischen der Rechtslage in beiden Ländern ist in der Haftungsreihenfolge zu finden: Nach deutschem Recht (§ 421 I BGB) kann der Geschädigte nach Belieben vom Dritten oder vom Verkehrspflichtigen den Schadensersatz verlangen. Nach chinesischem Recht (§ 37 II GdH bzw. § 1198 II ChZGB) hat er demgegenüber zuerst vom Dritten die Leistung des Schadensersatzes zu fordern. Dies kann zu zusätzlichen Prozess- bzw. Transaktionskosten führen. In diesem lässt sich sagen, dass der Geschädigte im Rahmen des deutschen Rechts noch besser geschützt wird. 765 Vgl. BGH NJW 1965, 1175 f.; 1980, 2348, 2349; 2004, 951, 953; NJW-RR 2005, 34, 35; Soergel/Gebauer, § 426 Rn. 31 m.w.N. Vgl. auch Staudinger/Looschelders, § 426 Rn. 66; MükoBGB/Bydlinski, § 426 Rn. 22; MüKoBGB/Wagner, § 840 Rn. 15. 766 Vgl. Meier, S. 720. 767 Vgl. MüKoBGB/Wagner, § 840 Rn. 15; BGB-RGRK/Weber, § 426 Rn. 47 f. 768 Diese Auslegung bleibt innerhalb der Grenze des möglichen Wortsinnes: Einerseits kommt die Haftung des Trägers der Sicherheitsgewährleistungspflicht nur „ergänzend“ hinzu. Andererseits muss sein Haftungsbetrag dem übrigen Teil des Schadensersatzes „entsprechen“. In diesem Sinne kann seine Haftung als „entsprechende Ergänzungshaftung“ bezeichnet werden.
Kapitel 6
Fazit Die wesentlichen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen. 1. Die Verkehrspflicht bildet ein besonderes Rechtsinstitut des deutschen Deliktsrechts. Der traditionellen Definition nach lässt sich die Verkehrspflicht als eine Pflicht zur Gefahrvermeidungs- oder -abwendung verstehen. Sie wurde zwar von der Rechtsprechung herausgebildet, findet aber nunmehr ihren dogmatischen Standort in § 823 I BGB. Für die Haftungsbegründung bei Unterlassen oder mittelbarer Schädigung ist die Verkehrspflichtverletzung von entscheidender Bedeutung. Es besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen der Verkehrspflicht und der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Seit Jahrzehnten lässt sich aus der deutschen Rechtsprechung klar entnehmen, dass sich die Verkehrspflicht allmählich von einer echten Verhaltenspflicht entkoppelt. Sie dient also nicht der Festlegung von tatsächlichen Verhaltensanforderungen an deren Adressaten, sondern der fairen Haftungs- bzw. Schadenszuweisung zwischen den Betroffenen. Dementsprechend ist es vertretbar, die Verkehrspflicht als Haftungs- oder Sorgfaltsobliegenheit zu verstehen. Im chinesischen Deliktsrecht wird die in § 37 GdH bzw. § 1198 ChZGB geregelte Sicherheitsgewährleistungspflicht als Adoption des deutschen Rechtskonzepts der Verkehrspflicht angesehen. Allerdings kann diese Pflicht nicht der Verkehrspflicht im allgemeinen Sinne völlig gleichgestellt werden. Sie stellt vielmehr ein Anwendungsbeispiel der allgemeinen Verkehrspflicht in einem bestimmten Lebensbereich, also eine besondere Verkehrspflicht, dar. In der chinesischen Rechtsprechung und Lehre wird aber auch die allgemeine Verkehrspflicht überwiegend anerkannt. Sie dient vor allem der Erweiterung der Quellen der zivilrechtlichen Verhaltenspflichten. Dabei werden die deutsche Theorie über die Verkehrspflichten und die einschlägigen Erfahrungen der deutschen Rechtspraxis von der chinesischen Rechtsprechung und Lehre zu Rate gezogen. 2. Da die Verkehrspflicht einen unbestimmten Rechtsbegriff darstellt, ist sie bei ihrer Anwendung im Einzelfall konkretisierungsbedürftig. Als Grundregel zur Bestimmung der Verkehrspflicht werden einerseits die „Erforderlichkeit“ und andererseits die „Zumutbarkeit“ betont: Eine Verkehrspflicht entsteht, wenn sie für die Gefahrenabwehr erforderlich ist, und sie endet, wenn sie dem möglichen Pflichtenträger unzumutbar ist. Nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes müssen dabei sowohl die Erwartung des Verkehrs als auch die Erwartung des möglichen Pflichtenträgers abgewogen werden.
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Kap. 6: Fazit
Mit Hilfe von Rechtsprechung und Lehre werden einige Elemente herausgearbeitet, die für Konkretisierung der Verkehrspflichten von Bedeutung sind. Dazu gehören unter anderem Merkmale der drohenden Gefahr, mögliche Eigenvorsorge des potentiellen Geschädigten und einige ökonomische Elemente. Außerdem werden auch bestimmte versicherungsbezogene Elemente wie die bessere Versicherbarkeit oder Haftpflichtversicherungspflicht bei der Bestimmung der Verkehrspflicht berücksichtigt. Dies ist auf die enge Verzahnung von Haftungsrecht und Versicherungsrecht zurückzuführen und spricht stark dafür, die Verkehrspflicht als einen haftungsbezogenen Begriff zu verstehen. Im Einzelfall sind durch eine umfassende Interessenabwägung, die unter Berücksichtigung aller einschlägigen Elemente erfolgt, der konkreten Inhalt und Umfang der Verkehrspflicht festzustellen. In der Rechtspraxis ist die Fallgruppenbildung nach unterschiedlichen Lebensbereichen von großer Bedeutung. Im Zuge der Fallgruppenbildung werden detailliertere Kriterien entwickelt und dadurch die Richtigkeit und Genauigkeit der Rechtsanwendung gewährleistet. 3. Die Rechtswidrigkeit bildet das Kernelement des von drei kleinen Generalklauseln geprägten deutschen Deliktsrechts. Im Gegensatz hierzu fehlt ein solcher Begriff im chinesischen Deliktsrecht, das auf einer großen Generalklausel beruht. Im deutschen Recht kommt der Rechtswidrigkeit die sogenannte Filterfunktion zu: Bei Eingriffen in die Rahmenrechte dient die positive Feststellung der Rechtswidrigkeit zur Definition des Schutzbereichs des Deliktsrechts. Bei Unterlassen oder mittelbarer Schädigung werden mittels der Rechtswidrigkeit, die sich an der Verletzung bestimmter Sorgfaltsstandards orientiert, die echt zurechenbaren Verletzungshandlungen bzw. die Haftungsträger ausgefiltert. Dem Deliktsaufbau im chinesischen Recht fehlt zwar die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit, aber die Filterfunktion dieses Begriffs wird von anderen Merkmalen erfüllt: Bei Eingriffen in diejenigen Rechte oder Interessen, die keine deutlichen Zuweisungsgehalte haben, ist durch eine umfassende Abwägung der betroffenen Interessen zu entscheiden, ob eine Verletzungshandlung im deliktischen Sinne vorliegt. Bei Unterlassen oder mittelbarer Schädigung wird die Filterfunktion mittels des Merkmals Fahrlässigkeit durchgeführt, das den Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt voraussetzt und hierdurch, die deliktische Haftung in einem angemessenen Bereich eingeschränkt. Trotz des wesentlichen strukturellen Unterschieds bildet das deutsche Deliktsrecht auch einen Referenzpunkt für das chinesische Deliktsrecht. Auch im chinesischen ZGB wird eine extrem ausgedehnte und damit einschränkungsbedürftige Deliktsgeneralklausel bestehen. Bei ihrer konkreten Anwendung müssen die absoluten Rechte, Rahmenrechte und Interessen in differenzierter Weise behandelt werden. Dafür sind die drei kleinen Generalklauseln des deutschen Deliktsrechts geradezu vorbildhaft. 4. Sowohl in der deutschen als auch in der chinesischen Rechtspraxis ist nicht selten eine Konstellation aufgetreten, in welcher der Geschädigte in unbefugter Art und Weise mit der Gefahrenquelle in Berührung kommt. Die Lösung der Haf-
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tungsproblematik in dieser Konstellation unterliegt dem Grundsatz, dass der unbefugt handelnde Geschädigte nicht nur wegen seines Fehlverhaltens des deliktsrechtlichen Schutzes beraubt werden darf. Im Hinblick auf den konkreten Lösungsansatz ist zuerst zu fragen, ob das gleiche Schadenereignis auch bei einem „Befugten“ hätte eintreten können. Auf diese Weise kann festgestellt werden, ob sich das vorwerfbare Verhalten des Geschädigten gefahrerhöhend ausgewirkt hat. Würde ein Befugter ebenso zu Schaden kommen, muss der Verkehrspflichtige in der Regel für den bloß zufälligerweise beim Unbefugten eingetretenen Schaden haften. Wäre ein Befugter aber nicht zu Schaden gekommen, ist in einem weiteren Schritt die Vorhersehbarkeit des Fehlverhaltens für den Pflichtenträger zu prüfen. In diesem Zusammenhang haftet der Pflichtenträger grundsätzlich nur insoweit, als er das Fehlverhalten hätte voraussehen können. Bei Anwendung des vorstehenden Lösungsansatzes ist insbesondere die mögliche und erforderliche Eigenvorsorge des unbefugten Geschädigten zu berücksichtigen. Dabei kommt es insbesondere auf seine Fähigkeit an, die lauernde Gefahr aus der Gefahrenquelle, der er sich unbefugt nähert, zu erkennen und zu vermeiden. Infolgedessen werden höhere Anforderungen an den der Pflichtenträger gestellt, wenn der unbefugte Geschädigte minderjährig oder geistig eingeschränkt ist. Wird die Verkehrspflicht gegenüber dem Unbefugten anerkannt, kann sein Fehlverhalten noch eine Rolle bei der Prüfung eines Mitverschuldens des Geschädigten spielen. 5. Normalerweise wird die Haftung des Verkehrspflichtigen nicht dadurch beeinflusst, dass der Schaden erst durch vorsätzliches oder fahrlässiges Dazwischentreten eines Dritten verursacht wird. Der Dritte und der Verkehrspflichtige haben gemeinsam, aber ohne bewusstes und gewolltes Zusammenwirken, den Schaden herbeigeführt. Sie werden zusammen als Nebentäter angesehen. Bei Behandlung der Haftungsproblematik in diesem Zusammenhang sind das Außen- und das Innenverhältnis voneinander zu trennen. Im Außenverhältnis gegenüber den Geschädigten sollen der Verkehrspflichtige und der Dritte als Gesamtschuldner haften. Eine Teilhaftung ist deswegen abzulehnen, weil sie zu „unfairen“ Ergebnissen zu Lasten des Geschädigten führt. Das Insolvenzrisiko des unmittelbaren Schädigers (Dritten) sollte nicht vom Geschädigten sondern vom mittelbaren Schädiger (Verkehrspflichtigen) getragen werden. Im Innenverhältnis geht es im Grunde um die Haftungsverteilung zwischen dem Verkehrspflichtigen und dem Dritten. Dabei sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden: In Fallgruppe I dienen die Verkehrspflichten der Sicherheit der Räumlichkeiten oder Anlagen. Dabei haben sowohl der Dritte als auch der Verkehrspflichtige einen positiven Beitrag zum Schadenseintritt geleistet. Die Haftung ist dann zwischen ihnen nach dem jeweiligen Maß des Verursachungsbeitrags bzw. Verschuldens aufzuteilen. In Fallgruppe II verfolgen die Verkehrspflichten den Zweck, denkbares Fehlverhalten Dritter zu verhindern. In diesem Zusammenhang hat nur der Dritte positiv
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Kap. 6: Fazit
zu den Verletzungsfolgen beigetragen. Deswegen sollte die Haftung im Endeffekt vom Dritten allein getragen. Ein Regressanspruch steht dem Verkehrspflichtigen zu, wenn und soweit er Schadensersatz geleistet hat.
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Stichwortverzeichnis Deliktsrechtliche Generalklausel Ergänzungshaftung
111 f.
167 ff.
Fehlverhalten – des Dritten 164 – des Geschädigten 143 Fürsorgepflichten 65 ff. – Allgemeine Fürsorgepflichten – Entstehungsgründe 66 ff.
Treibjagdfall
68
Garantenstellung 72 f. Gefahrenerhöhung 153 f. Indizwirkung
50 f.
Kodifikation des ChZGB 110 f. Rechtswidrigkeit – als haftungsbezogener Begriff 34 f. – erfolgsbezogenes Verständnis 39 f. – Filterfunktion 136 ff. Regeressanspruch 183 ff. Risikozuweisung 33 Schutzpflichten 53 ff. Sicherheitsgewährleistungspflicht Sicherungspflichten 61 ff.
Sorgfaltsobliegenheiten 35 f. Sorgfaltspflicht 45 – innere und äußere Sorgfalt 46 ff.
119 ff.
31
Unbefugte – Definition 143 f. – Mitverschulden 162 f. – Verkehrspflichten zum Schutz des Unbefugten 149 ff. Verkehrspflichten – Adressat 74 ff. – dogmatische Zuordnung 43 ff. – Entwicklungsgeschichte 23 ff. – Erforderlichkeit 90 – Funktionen 27 ff. – Grundkategorien 58 ff. – Kriterien für die Bestimmung 89 ff. – Übertragung und Umwandlung 79 ff. – Zumutbarkeit 91 Verkehrssicherungspflichten 26 Versicherungselemente 95 ff. Vertrauensschutz 81 ff., 151 ff. Waschmaschinenfall
30 ff., 103