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German Pages 246 [248] Year 1997
FRÜHE NEUZEIT Band 31
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt
Ralf Georg Bogner
Die Bezähmung der Zunge Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bogner, Ralf Georg: Die Bezähmung der Zunge : Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit / Ralf Georg Bogner. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Frühe Neuzeit; Bd. 31) NE: GT ISBN 3-484-36531 -5
ISSN 0934-5531
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorrede 1. Systemreferenzen von Texten und Gültigkeitskriterien für Interpretationen 1.1. Systemreferenzen in der Interpretationspraxis (am Beispiel von Gryphs »Reyen« über die Macht der Zunge) 1.1.1. Der Text-Text-Vergleich 1.1.2. Der Text-Prätext-Vergleich 1.1.3. Der Vergleich der sprachlichen Realisate 1.2. Systemreferenz und Systemabgrenzung in Texten zur Zunge 1.2.1. Systemabgrenzung mittels bibliographischer und lexikographischer Rubrizierung 1.2.2. Explizite Systemabgrenzung in literarischen Texten zur Zunge 1.2.3. Systemdefinition in literarischen Texten zur Zunge 1.3. Systemreferenzen und der Nachweis der Gültigkeit einer Interpretation (am Beispiel von Gryphs Text zur Zunge) 1.3.1. Der Nachweis einer Systemreferenz durch einen Vergleich der sprachlichen Realisate 1.3.2. Der Nachweis einer Systemreferenz durch einen Text-Prätext-Vergleich 1.3.3. Der Nachweis einer Systemreferenz durch einen Text-Text-Vergleich 1.4. Resümee und Ausblick 2. Frühneuzeitliche Literatur und Prozeß der Zivilisation 2.1. Nonnen für das Sprechverhalten und Zivilisationstheorie . . . . 2.1.1. Elias' Zivilisationstheorie und einige ihrer zentralen Elemente 2.1.2. Reglementierung des Sprechens als Teil des Zivilisationsprozesses 2.1.3. Bisherige Forschungen über die Disziplinierung des Sprechens
XI
1 1 4 7 7 9 10 12 17 22 23 30 40 43 44 47 48 50 52
VI 2.2. Verhaltenslehrbücher der frühen Neuzeit und Schichtenmodell der Zivilisationstheorie 2.2.1. Ordensregeln als Verhaltenslehrbücher für die geistlichen Eliten des Mittelalters 2.2.2. Ergänzungen und Erweiterungen der Ordensregeln in der frühen Neuzeit 2.2.3. Lateinische Aszetika als neue Verhaltenslehrbücher für die geistlichen Eliten der frühen Neuzeit 2.2.4. Funktionalisierung der Predigt in der frühen Neuzeit als Massenmedium zur Propagierung von Verhaltensstandards 2.2.5. Fürstenspiegel und Hofliteratur als Verhaltenslehrbücher für die weltlichen Eliten der frühen Neuzeit . . 2.3. Texte der weltlichen Obrigkeit zur Verhaltensreglementierung 2.3.1. Obrigkeitliche Verbote von Gotteslästerung und Meineid 2.3.2. Verbreitung der obrigkeitlichen Verhaltensvorschriften von der Kanzel 2.3.3. Durchgängige Vereidigung aller Lebensbereiche . . . . 2.4. Resümee und Ausblick 3. Literarische Strategien zur Vermittlung von Normen des Sprechens.. 3.1. Steuerung konventionalisierter Sprechhandlungen durch Positiv-Listen und Negativ-Kataloge 3.1.1. Verbot von Flüchen und phrasenhaften Ausreden 3.1.2. Empfehlung positiv bewerteter Sprechhandlungen 3.2. Strukturierung der Texte nach spezifischen Ordnungsmustern 3.2.1. Ordnung nach den Sonn- und Feiertagen 3.2.2. Ordnung nach dem Dekalog 3.2.3. Ordnung nach dem ABC 3.3. Literarische Legitimation spiegelnder Strafen an der Zunge 3.3.1. Reduktion der Artikulationsorgane auf die Zunge 3.3.2. Konzeptualisierung der Zunge als verantwortlicher Handlungsträger 3.3.3. Reduktion der Funktionen der Zunge auf das Sprechen 3.3.4. Bestrafung negativ bewerteter Sprechhandlungen an der Zunge 3.4. Bildliche Bestialisierung der Zungensünder 3.5. Veränderungen im Kanon der Zungenlaster 3.6. Diffamierung des Sprechverhaltens anderer religiöser Gemeinschaften
... ...
54 54 56 58
64 69 77 77 79 82 84 86 87 89 97
100 102 108 113 . . . 117 . . . 119 122 132 135 144 148 152
VII
Schlußwort
159
Literatur Quellen Forschung
161 161 198
Register Personen Anonyma Begriffe
221 221 229 231
Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct: Hann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft - und heisst nun Tugend. Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches
Was früher unerreichbar, fem, teuer, verboten durch Gesetze oder allmächtige Richtschnur gewesen, das wurde jetzt in vielen Fällen jedem möglich und zugänglich, der die Mittel oder den Verstand dazu besaß. Viele Leidenschaften, Neigungen und Gelüste, die bisher an verkehrten Orten verborgen wurden oder überhaupt unbefriedigt blieben, konnten und durften nun öffentlich volle oder wenigstens teilweise Befriedigung suchen. In Wirklichkeit lag auch darin mehr Zwang, Ordnung und gesetzliche Einschränkungen, Laster wurden bestraft, und Befriedigung wurde bezahlt, schwerer und teurer als einst, nur waren die Gesetze und Formen andere und ließen den Menschen auch hierin, wie in allem übrigen, die Illusion, daß das Leben auf einmal weiter, üppiger und freier geworden sei. Ivo Andric, Die Brücke über die Drina
Vorrede
Die moderne Alltagskommunikation wird von einem komplexen Verhaltenskodex bestimmt. Eine offensichtliche, eigennützige Lüge beispielsweise erregt Widerwillen; notorischen Aufschneidern wird mit Verachtung begegnet; ein Mensch, der sich von böswilligen Reden anderer verleumdet und in seiner Ehre angegriffen fühlt, greift zu den unterschiedlichsten Mitteln, um seinen guten Namen wiederherzustellen; die Schwatzhaftigkeit wird als schlechte Charaktereigenschaft eingestuft und kann einen Menschen völlig diskreditieren. Wer wiederum Kenntnisse von den kompromittierenden Geheimnissen anderer erlangt, befindet in einem diffizilen Entscheidungsfindungsprozeß, ob er sein Wissen weitergeben oder für sich behalten soll; die Zuverlässigkeit hinsichtlich des Einhaltens von Zusagen und Versprechen genießt große Achtung; der ehrliche tröstliche Zuspruch in schwierigen Situationen begründet hohe und dauerhafte Wertschätzung; die Offenherzigkeit eines Gesprächspartners wird oftmals geradezu als Auszeichnung und als Privileg empfunden. Alltägliche Kommunikationssituationen wie diese beeinflußt und lenkt demnach ein vielfältiges Regelwerk normativer und emotionaler kultureller Standards, das zum Beispiel auf gewisse Äußerungen anderer hin zu bestimmten Antworten oder emotionalen Reaktionen prädisponiert, das spezifische Sprechweisen aus bestimmten Kontexten tendenziell ausschließt, das Wertungen Uber die Dialogpartner aus der Analyse von deren Reden bereitstellt Die kulturellen Standards, die heute die Gestaltung der alltäglichen Kommunikation prägen, sind weitgehend bereits während des Mittelalters von den theologischen Fachschriftstellern der Kirche im Rahmen einer differenzierten ethischen Theorie des Sprechhandelns unter Rückbezug auf die Bibel und die antike Philosophie erarbeitet und systematisiert worden.1 Über Verhaltenslehrbücher werden die christlichen Werte und Normen für das Sprechverhalten bald in die geistlichen und weltlichen Eliten, seit dem späten 15. Jahrhundert zunehmend auch in die breite Bevölkerung getragen. Während der folgenden Jahrhunderte betreiben die Kirchen massiv die Akkulturation dieser Regeln für das Sprechverhalten Uber alle zeitgenössischen Medien als integralen Teil der Christianisierung Europas. Die Literatur der frühen Neuzeit hat maßgeblichen Anteil an diesem Prozeß der Vermittlung und Durchsetzung von Normen für die Gestaltung der Kommunikation oder, wie es in der moralistischen Terminologie der Zeit heißt, an Vgl. Casagrande/Vecchio, P£chds, 1991.
XII der Bezähmung der Zunge. Die ethische Konnotation des Wortes zur Bezeichnung dieses Artikulationsorgans hat sich in der Gegenwartssprache lediglich in einigen Redewendungen und Sprichwörtern erhalten (die Zunge hüten, eine spitze Zunge haben, mit gespaltener Zunge sprechen); die ethischen Forderungen der Theorie zur Bezähmung der Zunge jedoch sind heute zu kulturellen Standards, zu allgemeinen und akzeptierten Verhaltensregeln für die Gestaltung von Gesprächen geworden. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der geradezu unüberschaubaren Menge an frühneuzeitlichen Texten zur Zunge aus fast allen Gattungen, von Enzyklopädie und Florilegium Uber Lyrik und Drama bis hin zum Reisebericht, von Predigt und religiöser Gebrauchsliteratur über den Roman bis hin zum Fachschrifttum. Kapitel 1. versucht unter Rückgriff auf rezente Diskussionen über Intertextualität in der frühen Neuzeit, einen prominenten und vieldiskutierten Text von Andreas Gryphius (den ersten »Reyen der HSfflinge« aus »Leo Armenius«) als Reflexion auf die ethische Theorie des Sprechverhaltens neu zu interpretieren und kritisch von den bisherigen Deutungen abzusetzen. Kapitel 2. stellt die Texte zur Zunge aus dem 16. bis 18. Jahrhundert in den größeren Kontext von Modellen zur Disziplinierung und Christianisierung Europas während der frühen Neuzeit, vor allem in den Kontext von Norbert Elias' kultursoziologischem Modell einer Theorie des Zivilisationsprozesses. Kapitel 3. schließlich widmet sich, ausgehend von Reiner Wilds Bestimmung der didaktischen Funktion von Literatur im Prozeß der Zivilisation, einer Analyse von literarischen Strategien zur Vermittlung von Normen des Sprechens. Damit werden erstmals von Seiten der germanistischen Literaturwissenschaft drei mögliche, aber bei weitem nicht alle denkbaren Perspektiven auf ein Korpus von Texten geworfen, welches ein gelehrter Kritiker dieser Arbeit als einen bislang nicht entdeckten Subkontinent bezeichnet hat. Die drei skizzierten Kapitel verstehen sich daher als Streifzüge, vielleicht Expeditionen, als exemplarische Studien, die den Anspruch einer vollständigen Erschließung von Themen, von Darstellungsmustern, von intertextuellen und diskursiven Bezügen und von literarischen Strategien der Texte zur Zunge nicht erfüllen können und wollen. Auch eine nur annähernde Erfassung aller frühneuzeitlichen Einzelpublikationen zur moralischen Gestaltung des Sprechens hat aufgrund der Umfänglichkeit des Materials trotz langjähriger Forschungsarbeiten in zahlreichen deutschen, österreichischen und US-amerikanischen Bibliotheken nicht gelingen können (von einer Erfassung aller Texte, die sich in längeren Passagen oder Abschnitten mit der Zunge befassen, ganz zu schweigen). Das Verhältnis von untersuchten Titeln protestantischer und katholischer Provenienz ist durch geeignete Textauswahl quantitativ annähernd ausgewogen gestaltet worden. Allerdings haben quellen- und darstellungsbedingt einige spezifische, konfessionell einseitig akzentuierte Schwerpunkte, beispielsweise in der protestantischen Erzählsammlung und in der katholischen Anweisungsliteratur für Geistliche, gesetzt werden müssen.
XIII
Der bereits im Titel der Arbeit angelegte Rückgriff auf das Epochenkonstrukt der frühen Neuzeit2 ist ausdrücklich als Plädoyer gegen den Barockbegriff zu verstehen. Die hier untersuchten Texte lassen sich aus den Blickwinkeln der Intertextualitäts- und der Zivilisationstheorie sowie der Geschichte der didaktischen Funktionalisierung von Literatur viel schlüssiger und plausibler mittels des Konzepts der frühen Neuzeit periodisieren, das heißt gegenüber Texten zur ethischen Gestaltung der Kommunikation aus den literarhistorischen Perioden davor und danach kontrastiv abheben als mittels des stilgeschichtlichen Terminus des Barock. Der Untersuchungsgegenstand wird in dieser Arbeit von der klassischen literarischen Gattungstrias in Richtung auf die literarischen Gebrauchsformen und punktuell auch auf das Fachschrifttum ausgeweitet, ohne freilich die spezifisch literarischen und rhetorischen Textherstellungsmuster aus dem Blick verlieren zu wollen. Die drei vorliegenden Studien müssen sich schließlich aus pragmatischen Gründen weitgehend auf die Untersuchung frühneuzeitlicher Texte aus dem deutschsprachigen Raum beschränken. Die ins Deutsche übersetzten französischen und englischen Traktate zur Zunge sowie die zahllosen neulateinischen Texte aus den verschiedensten Kulturräumen würden freilich in Richtung auf die Erforschung eines gesamteuropäischen kultur- und literargeschichtlichen Phänomens weisen. So wäre denn idealiter - um nochmals den gelehrten Kritiker zu zitieren - viel mehr als ein Subkontinent, nämlich ein ganzer Kontinent zu erforschen gewesen, ja einmal mehr müßte vielleicht dem Diktum des Hl. Jakobus zugestimmt werden, demzufolge die Zunge eine ganze Welt voll Ungerechtigkeit in sich berge (Jak 3, 6). Die Tatsache aber, daß sogar die Lexikographen des monumentalen Zedlerschen »Universal Lexicon[s]« davor zurückgeschreckt sind, »eine vollkommene Land=Charte dieser Welt [...] an das Licht zu stellen«, 3 mag die Beschränkungen, die Fragmentarität, mag manche perspektivisch bedingte Auslassungen, Verallgemeinerungen und Überzeichnungen in der vorliegenden Arbeit wenn schon nicht rechtfertigen, so wenigstens doch verzeihlich erscheinen lassen. Mannheim, im August 1996
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RGB
Zu dieser Periodisierung vgl. z.B. Kemper, Lyrik 1, 1987, S. 23-35; Klinisch, Epochencharakter, 1975; Mieck, Periodisierung, 1968; vgl. zur Periodisierung der Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts des weiteren Bahner, Dilemma, 1976; Brauneck, Literatur, 1971; Por, Epochenstil, 1982; Rosenberg, Epochengliederung, 1987; Schulz-Buschhaus, Gattungsmischung, 1985; Spiewok, Wie, 1989; Weimann, Bestimmung, 1976. Zedier, Lexicon, 1961/64 [1732/54], Bd. 64, Sp. 298.
1.
Systemreferenzen von Texten und Gültigkeitskriterienfür Interpretationen
1.1.
Systemreferenzen in der Interpretationspraxis (am Beispiel von Gryphs »Reyen« über die Macht der Zunge)
Jenes Chorlied, das den Abschluß des ersten Aktes v o n Andreas Gryphius' Tragödie » L e o Armenius« (Erstauflage 1650) bildet, nimmt sich zum Gegenstand ein Thema, das auf moderne Leserinnen und Leser ziemlich befremdend wirkt. Der Text befaßt sich mit der Zunge des Menschen und ihrer Macht: Satz. 509 Das Wunder der Natur / das fiberweise Thir Hat nichts das seiner Zungen sey zu gleichen; Ein wildes Vih entdeckt mit stummen Zeichen / Des innern Hertzens Sinn; durch Reden herrschen wir! Der Thfirme Last / und was das Land beschwert / Der Schiffe Baw' / und was die See duichflhrt / 515 Der Sternen grosse Krafft/ Was Lufft und Flamme schafft / Was Chloris list in ihren Gilten schauen / Was das gesetzte Recht von allen VSlckem wil / Was Gott der Welt ließ von sich selbst vertrauen / 520 Was in der Blfitte steht / was durch die Zeit verfil; Wird durch diß Werckzeug nur entdecket. Freundschafft / die Todt und Ende schrecket / Die Macht / die wildes Volck zu Sitten hat gezwungen; Des Menschen Leben selbst beruht auff seiner Zungen. Gegensatz. 525 Doch / nichts ist das so scharff / als eine Zungen sey! Nichts das so tieff uns Anne st&rtzenkSnne. Ο daB der Himmel stumm zu werden gSnne! Dem / der mit Worten frech: mit Reden / viel zu frey. Der Stldte Grauß / das Leichen-volle Feld / 530 Der Schiffe Brandt I das Meer durch Blut verstellt. Die schwartze Zauberkunst / Der eiteln Lehre Dunst / Die macht durch Gifft I den Parcen vorzukommen /
2 Der V§lcker grimmer Haß / der ungeheure Krig / 535 Der Zanck der Kirch' und Seelen eingenommen/ Der Tugend Vntergang / der grimmen Laster Sig / Jst durch der ZungenMacht gebohren: Durch welche Lib und Trew verlohren. Wie manchen hat die Zung' in seine Grufft verdmngen. 540 Des Menschen Tod beruht auff jedes Menschen Zungen. Zusatz. Lernt / die ihr lebt / den Zaum in eure Lippen legen! Jn welchen Heil und Schaden wohnet; Vnd was verdammt / und was belohnet. Wer Nutz durch Worte such't / sol jedes Wort erwegen. 545 Die Zung ist dieses Schwerdt So schätzet und verletzt. Die Flamme so verzehrt Vnd eben wol ergetzt. Ein Hammer welcher baut und bricht / 550 Ein Rosenzweig / derreuchtund sticht / Ein Strom der trlncket und ertrlncket: Die Artzney welch' erquickt undkrincket. Die Β ahn: auff der es offt gefehlet und gelungen. Dein Leben / Mensch / und Todt hllt stits auf deiner Zungen.1
Dieses Chorlied, dieser »Reyen«, der die Macht der menschlichen Zunge thematisiert, scheint nun seinerseits eine unbezwingbare Macht auf die Germanisten unseres Jahrhunderts ausgeübt zu haben. Diese drei Strophen haben, wie nur wenige andere deutschsprachige Texte der frühen Neuzeit, eine große Zahl höchst verschiedener Deutungen gefunden. Die namhaftesten Gelehrten der Zunft sind sich uneins gewesen, ob dieser Text die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes beschreibe und umgrenze,2 den zeitgenössisch aktuellen Stand der Meta-Reflexion auf Sprache resümiere,3 ob mit diesen Zeilen und ihrem Zentralbegriff Zunge kritisch auf die Kunst der Rhetorik4 abgehoben werde. Ein modischer literaturwissenschaftlicher Pluralismus nun rühmte die Geschichte jener verschiedenen Deutungen sogar als Indiz für den hohen poetischen Wert des Textes, abzulesen an dieser seiner vielfältigen Interpretierbarkeit. Doch dieses Lob und diese Position sind, wenigstens im vorliegenden Falle, fragwürdig. Bei allen Differenzen nämlich gleichen sich all die vielen Interpretationen in einer bestimmten Hinsicht völlig, und zwar in ihrem Erkenntnisinteresse. Jede der Interpretationen bezieht den Text und seinen Zentralbegriff Zunge auf einen Theoriebereich des 17. Jahrhunderts, setzt ihn mit 1 2 3 4
Gryphius, Dramen, 1991, S. 35f. Vgl. z.B. Gaede, Poetik, 1978, S. 64f. Vgl. z.B. Steinhagen, Wirklichkeit, 1977, S. 105f. Vgl. z.B. Barner, Barockrhetorik, 1970, S. 90.
3 einer spezifischen Wissensdisziplin der Zeit in Verbindung, ordnet ihn in einen gewissen zeitgenössischen Diskurs ein. Die Unterschiede zwischen den Interpretationen ergeben sich daraus, daß an jeweils unterschiedliche Theoriebereiche, Wissensdisziplinen, Diskurse appelliert wird. Kurz und in den Worten der Intertextualitätstheorie gesagt, dem »Reyen« werden durch die Interpretationen eine Reihe unterschiedlicher historischer Systemreferenzen zugesprochen. 5 Konsequent gedacht müßte der modische Pluralismus mithin zugestehen, daß Gryphius' Text sich mit bestem Fug gleichzeitig und gleichermaßen auf so differente historische Systeme wie Sprachreflexion, Vernunftkritik und Rhetorik und noch einige andere mehr beziehen lasse. Ein Zugeständnis, das sich selbst des historischen Unfugs überführt - sofern nicht, wie es manchen poststrukturalistischen Theoretikern beliebt, prätendiert wird, in jedem Text sei immer schon das Universum aller anderen Texte, Codes und Diskurse mit eingeschlossen.6 Im Gegenzug zu jener Beliebigkeit, die jede neue behauptete Systemreferenz des Textes als Bereicherung begrüßt, muß es jedoch möglich sein, die vorliegenden Interpretationen und ihre Argumente und Begründungen zu prüfen und aus einer Zahl von Deutungen diejenigen auszuschließen, die bestimmten Gültigkeitskriterien nicht genügen. Es muß im Anschluß an Klaus Willy Hempfers »Überlegungen zu einem Gültigkeitskriterium für Interpretationen« möglich sein, den »wissenschaftliche[n] Interpretationsprozeß eines Textes« als »zunehmend adäquatere (Re-)Konstruktion der historisch, das heißt in der ursprünglichen Kommunikationssituation idealiter möglichen Rezeption« zu konzipieren und demzufolge als »Rekonstruktionsinstanzen der historisch möglichen Textdeutung« historische Systemreferenzen und Intertextualitätsrelationen zu erkunden. 7 Und diese »(Re-)Konstruktion« muß umso eher möglich sein, als jüngste Studien die intertextuelle Organisation frühneuzeitlichen Schreibens schlüssig als »Aktualisierung von ArgumentSchablonen« beschreiben, als »Bezugnahme eines Textes auf ein traditionelles Repertoire von Topoi, die von zeitgenössischen Lesern erkannt und abgerufen werden konnten« (Barbara Bauer 8 ); wenn in diesem Sinne Topik als die »Nahtstelle für intertextuelle Prozesse« verstanden werden kann, insofern sie Vorgaben strukturiert, Systemreferenzen steuert und die Aktualisierung von Prätexten organisiert( WolfgangNeuber 9 ), wird die jeweilige topische Bezugnahme eines Textes auf bestimmte Systeme auch historisch rekonstruierbar sein.
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Vgl. Broich/Pfister, Intertextualität, 1985, S. 52-58; Hempfer, Überlegungen, 1983; Hempfer, Intertextualität, 1991. Vgl. Broich/Pfister, Intertextualität, 1985, S. 9. Hempfer, Überlegungen, 1983, hier S. 14. Bauer, Intertextualität, 1994, S. 32. Neuber, Topik, 1994, S. 254.
4 1.1.1. Der Text-Text-Vergleich Dieser historischen Überprüfung hat sich gerade eine fachintern so anerkannte und wissenschaftsgeschichtlich wirkungsreiche Studie wie Wilfried Barners Aufsatz »Andreas Gryphius und die Macht der Rede« zu unterziehen.10 Der vorliegende Text aktualisiere, so Barner, nicht allein das System der Rhetorik höchst kunstvoll als Instrument der Textgestaltung, er beziehe sich auch auf die Rhetorik, indem er sie reflektiere und problematisiere. Und noch viel mehr als das: Das Chorlied lasse die Bedeutung des Begriffs Zunge »eigentümlich in der Schwebe« zwischen der »formulierte[n] Ansprache eines einzelnen an einen bestimmten Zuhörerkreis« und der »allgemeine[n] Sprachfähigkeit des Menschen«, ferner der Kunst der Rhetorik und schließlich der »menschlichen Ratio schlechthin« (333). Gryphius beziehe sich auf diese Weise zurück auf ein »Thema« mit einer langen Tradition, dessen »Topen« sich seit der »Zeit der ersten Sophistik« und »ungeachtet aller politisch-sozialen Veränderungen [...] bis in das 17. Jahrhundert hinein erhalten« hätten (345). Doch Barner nennt die Topen dieses Themas genausowenig wie die Stellen, an denen sie in dem Text zu diesem Thema zu suchen und zu finden wären. Und ebenso verweigert er nähere Auskunft bezüglich der Texte einiger Autoren der frühen Neuzeit (Harsdörffer, Schottelius, Weise), die sich seinen (Namens-)Angaben zufolge ebenfalls auf jene Topen bezogen haben sollen (vgl. 346). Als Nachweis einer Systemreferenz wäre doch auf jeden Fall ein Text-Text-Vergleich zu erwarten gewesen, das heißt eine Parallelisierung von mehreren Texten, die sich auf ein System beziehen, ein Vergleich hinsichtlich ihrer Themen, Topen, ihrer Metaphorik, Terminologie und so fort. Statt aber den »Reyen« an sein Thema zu binden, statt die Systemreferenz zu belegen, ergeht sich die Studie in einer Kumulation biographischer Daten: In einer bunten Revue präsentieren sich Gryphs Erlebnis politischer und konfessioneller Rhetorik, seine eigene brillante Beredsamkeit und seine Beziehungen zu berühmten Rednern (vgl. 336-341). Daß »[e]ine solche Konvergenz von Dichtung und Biographie«, wie Barner meint, »schwerlich Zufall sein (kann)« (341), genauergesagt, daß die Konvergenz zwischen einem Text zur Zunge und den auf Rhetorik bezogenen Lebensdaten ihres Autors schwerlich Zufall sein könne, dies wird sich allerdings als Argument für die Gültigkeit einer Interpretation schwerlich halten lassen. Denn allgemeine Informationen zu Ausbildungsweg, beruflicher Tätigkeit und persönlichen Bindungen eines Autors können keine positiven, eindeutigen Belege für die Systemreferenz eines einzelnen Textes liefern (es sei denn für einen Positivisten). Vielmehr wird die Gültigkeit von Interpretationen, welche Systemreferenzen behaupten, danach zu beurteilen sein, ob durch einen Text-Text-Vergleich von mehreren Texten, die sich gemeinsam auf ein System, auf ein Thema, auf einen Diskurs beziehen sollen, die Systemreferenz denn tatsächlich belegt wird. 10
Vgl. Bamer, Gryphius, 1968.
5 So trivial diese Anforderung erscheinen mag, so selten leisten offensichtlich Interpretationen ihr Genüge. Für Helmuth Kiesel zum Beispiel ist der »Reyen« in den »Kontext der zeitgenössischen >Hofliteratur