Die Arbeiterfrage: Eine Einführung [2., völlig umgearb. und stark verm. Aufl. Reprint 2018] 9783111652610, 9783111268781


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German Pages 623 [624] Year 1897

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Table of contents :
Vorwort zur zweiten Auflage
Inhalt
Erklärung der Abkürzungen
Erstes Kapitel. Kritik der geltenden Wirtschaftsordnung vom wirtschaftlichen und sozialen Standpunkte aus
Zweites Kapitel. Die kulturellen und politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung
Drittes Kapitel. Die Gewerkvereinsbewegung
Viertes Kapitel. Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine
Fünftes Kapitel. Kritik der Wirksamkeit der Gemerkvereine
Sechstes Kapitel. Die Arbeiterversicherung
Siebentes Kapitel. Die Arbeiterschuhgesetzgebung
Achtes Kapitel. Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber
Neuntes Kapitel. Konsum- und Produktivgenossenschaften
Zehntes Kapitel. Die ländliche Arbeiterfrage
Elftes Kapitel. Die Wohnungsfrage
Zwölftes Kapitel. Alkoholismus und Arbeiterfrage
Dreizehntes Kapitel. Sozialismus und Kommunismus
Vierzehntes Kapitel. Staatssozialismus
Fünfzehntes Kapitel. Die Bodenreformbewegung
Sechszehntes Kapitel. Christentum und Arbeiterfrage
Siebzehntes Kapitel. Der Anarchismus
Achtzehntes Kapitel. Kommunale Sozialpolitik
Neunzehntes Kapitel. Darwinismus und Sozialpolitik
Zwanzigstes Kapitel. Die soziale Bewegung in Frankreich
Einundzwanzigstes Kapitel. Die soziale Bewegung in England
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Die soziale Bewegung in Deutschland) Österreich und der Schweiz
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Die Arbeiterfrage: Eine Einführung [2., völlig umgearb. und stark verm. Aufl. Reprint 2018]
 9783111652610, 9783111268781

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Die Arbeiterfrage. Eine Einführung.

Von

Br. Heinrich Herkuer, ordentlicher Professor der Volkswirtschaftslehre an der Technischen Hochschule in Karlsruhe.

Zweite, völlig umgearbeitete und stark vermehrte Auflage.

Berlin SW.S Wilhelmstr. 119/120.

I. Guttentag, Verlagsbuchhandlung. 1897.

Druck von DobrzynSkt & Walter, Berlin 8., Kommandantenftr. 44

Vorwort zur zweiten Auflage. (\>

^Hn den letzten Wochen ist in weitverbreiteten und einflußreichen Organen der deutschen Tagespresse wieder ein ganz besonders lebhafter Kampf gegen einen Teil der deutschen Hochschullehrer geführt worden. Man hat sogar danach getrachtet, die Staatsgewalt zu einem Ein­ schreiten gegen sie zu veranlassen. Solche Hetzen sind ja schon öfters vorgekommen. Die jüngste wird von künftigen Geschlechtern gewiß ebenso entschieden verurteilt werden, als man heute allgemein die Maßregelungen verdammt, welchen konstitutionell und national gesinnte Gelehrte in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zum Opfer gefallen sind. Ein Unterschied besteht nur insofern, als die vormärzliche Be­ kämpfung gewisser Gelehrter von relativ recht kleinen Gruppen, oft nur von einzelnen Persönlichkeiten der regierenden Kreise auszugehen pflegte, während die modernen Angriffe gegen die akademischen Nationalökonomen sich zweifellos der herzlichen Zustimmung eines großen Teiles nicht nur konservativer, sondern auch solcher Bürger erfreuen, die sich für liberal halten. Ich für meinen Teil habe in diesen Vorkommnissen nur die Be­ stätigung für eine Ansicht gefunden, die sich mir schon seit Jahren aufgedrängt hat: die deutschen Hochschullehrer haben sich m. E. noch viel zu wenig darum bemüht, die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit auch einem größeren Publikum zugänglich zu machen. An und für sich wäre es ja natürlich richtiger, daß der Hochschul­ lehrer sich ausschließlich der Ausbildung seiner Schüler und der selb­ ständigen Forschung hingäbe, daß er die Popularisirung seiner Unter­ suchungen vorwiegend schriftstellerischen Kräften überließe.

IV Allein thatsächlich ist die Zahl derjenigen Schriftsteller, welche ge­ nügende Unabhängigkeit, Fähigkeit und Neigung besitzen, dieser Aufgabe zu entsprechen, bei uns noch viel zu gering.

Soll sich also der gefähr-

liche Zwiespalt zwischen den wirtschasts- und sozialpolitischen Äuffaffungen der Laien- und Gelehrtenwelt nicht noch mehr erweitern und vertiefen, so kann sich, wie ich glaube, der Gelehrte nicht ganz der Pflicht ent­ ziehen, auch selbst für die weitere Verbreitung seiner wissenschaftlichen Überzeugungen zu wirken. Aus diesen Erwägungen heraus ist meine Einführung in dre Ar­ beiterfrage entstanden.

Die freundliche Aufnahme, welche der bescheidene

Versuch fand, hat mich bestimmt, andere Arbeitspläne zurückzustellen und noch weiter fast drei Jahre diesem Werke zu widmen. So ist die erste Auflage dergestalt umgearbeitet und erweitert worden, daß die vorliegende zweite Auflage mehr als den doppelten Umfang der ersten erreicht hat. Die Arbeit war im wesentlichen gegen Ende 1890 abgeschlossen. Es war mir daher leider nicht mehr möglich, mich mit einer Reihe neuester Erscheinungen der sozialpolitischen Litteratur auseinander zu setzen, mit denen mir eine Auseinandersetzung an und für sich äußerst verlockend gewesen wäre. meines

Ich nenne insbesondere die glänzende Schrift

sehr verehrten Breslauer Kollegen W. Sombart: Sozialismus

und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert. (Jena 1896, Fischer). Möchte es im Übrigen meiner „Arbeiterfrage" beschieden sein, alte Freunde zu erhalten, neue zu erwerben und der großen nationalen Sache des sozialen Fortschritts zu dienen. Karlsruhe, 19. März 1897.

Heinrich Hertmer.

Inhalt. Seite

Erstes Kapitel: Kritik der geltenden Wirtschafts­ ordnung vom wirtschaftlichen und sozialen Standpunkte aus..................................................................

1—14

Die ursprünglichen Grundgedanken des wirtschaftlichen Liberalismus 1, 2. Seine Erfolge und Lichtseiten 2, 3. Be­ schränkte Verwirklichung seiner humanen Ziele 4. Freiheit des Arbeitsvertrages und Besonderheiten der Arbeit als Ware 4—6. Tendenzen der Einkommensverteilung im König­ reich Sachsen 7, 8. Vermögensverteilung in Preußen 9. Wirtschaftliche Nachteile großer Ungleichmäßigkeiten der Einkommens- und Vermögensverteilung 10. Kapital- und Warenausfuhr als Folge der Unterkonsumtion der großen Volksmassen 11. Erhaltung minder produktiver Technik trotz freier Konkurrenz, Aufhebung der Konkurrenz durch Koalition 12, 13. Anmerkungen 13, 14.

Zweites Kapitel: Die kulturellen und politischen Ge­ fahren der geltenden Wirtschaftsordnung.... Wirkung der geschlossenen Hauswirtschaft auf das Familien­ leben 15, 16. Wirtschaftliche Bedingungen für die Sittlichkeit der bäuerlichen Bevölkerung 17; der Landarbeiter 18; der Hausindustriellen 18, 19; der Fabrikarbeiter 19—21. Sitt­ liche Gefährdung der Arbeiterinnen (Verkäuferinnen, Kellnerinnen) 21,22. Zunahme der Kriminalttät im Deutschen Reiche 22. Sittliche Gefahren des Reichtums 23,24. Einfluß ungünstiger sozialer Verhältnisse auf das Bildungswesen 25; auf die Tagespresse 26; auf das Theater 27, 28; auf die bildende Kunst 29. Politische Folgen wirtschaftlicher Wandelungen 30. Verwandtschaft zwischen wirtschaftlichem und politischem Individualismus 31. Grundgedanken des letzteren 32. Seine kapitalistische Entartung 33. Gefahren des Zwiespaltes zwischen politischer und wirtschaftlich-sozialer Entwicklung 34. Anmerkungen 35, 36.

15—36

Inhalt.

VI

Sette

Drittes Kapitel:

Die Gewerkvereinsbewegung............... 87-56

England als Heimat der Gewerkvereine 37. Beseitigung der Koalitionsverbote 38, 39. Äußere Entwicklung der Gewerkvereine und ihre gesetzliche Anerkennung 40. „Neue Gewerkvereine", Gewerkvereinsföderationen 41. Gewerk­ vereinskongresse 42. Parlamentarisches Komitee, Gewerk­ vereinsstatistik 43. Schiedsgerichte (R. Kettle) und Einigungs­ kammern (Mundella) 44. Entwicklung des deutschen Koalitionsrechtes 44, 45. Die deutsche Vereinsgesetzgebung als Hindernis gewerkschaftlicher Bestrebungen 46,47. Sozial­ demokratische Gewerkschaften 47, 48. Unterschätzung der gewerkschaftlichen Bestrebungen durch die politischen Führer 49, 50. Hirsch - Duncker'sche Gewerkvereine 50, 51. Unterstützungsverein deutscher Buchdrucker 62. Gewerkschafts­ bewegung in Österreich, in der Schweiz und in Frankreich 63, in Nordamerika und Australien 54. Anmerkungen 65, 56.

Viertes Kapitel: Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine................................................57—80 Beschaffung der Einnahmen und deren Verwendung. Vor­ teile der Verbindung mit Versicherungszwecken 67. Ver­ sicherung gegen Arbeitslosigkeit 68—60. Beiträge und Leistungen einiger wichtigerer Gewerkvereine 61. Or­ ganisation der Vereine 62. Charakteristik eines kräftigen Vereins 63. Gewerkvereinspolitik 64. Bedingungen für den körperschaftlichen Abschluß der Arbeitsverträge 65. Kampfes­ mittel 66. Notwendigkeit der Unternehmerorganisation 67. Friedliche Schlichtung der Arbeitsstreitigkeiten 68. Gleitende Lohnskalen 69. Lebensgang eines Gewerkvereinlers 70—72. Stellung und Wirksamkeit der Gewerkvereinsbeamten 73—76. Haltung der englischen Gewerkvereine in politischer Be­ ziehung 76. Sozialistische Strömungen unter den „Neuen Gewerkvereinen" 77. Wirksamkeit der deutschen sozial­ demokratischen Gewerkschaften und Hirsch-Duncker'scher Ge­ werkvereine 78, 79. Anmerkungen 60.

Fünftes Kapitel: Kritik der Wirksamkeit der Gewerk­ vereine..................................................................................81—112 Die Einwände der Anhänger der Lohnfondstheorie 81. Widerlegung derselben 82. Lassalle's „ehernes" Lohngesetz 83. Kritik 84. K. Marx anerkennt die Möglichkeit von Lohn­ steigerungen durch Koalitionen 84,85. Wirtschaftliche Folgen der Lohnsteigerungen, Abwälzung auf die Konsumenten 85,86. Abwälzung auf den Handel, Rückwälzung auf die Arbeit­ geber 87, 88. Folgen für die Produktionstechnik 89. Wirt­ schaftliche Folgen kürzerer Arbeitszeit 90—92; insbesondere auf

VII

Inhalt.

Seite

die Produktionstechnik in der Textilindustrie 93, 94. Sozial aufsteigende Arbeiter als Voraussetzung technischer Fort­ schritte 95. Adam Smith über die wirtschaftlichen Vorteile sozialer Verbesserungen 96. Beurteilung der Gewerkvereine durch englische Staatsmänner und Großindustrielle 97, 98. Schwierigkeiten der Lohnerhöhung 99. Wirtschaftliche Be­ dingungen für die Blüte der Arbeiterverbände 100. Hinder­ nisse der Organisation 101. Die „industrielle Reservearmee" 102. Geschichtliche Entwicklung der Arbeitslosigkeit in England 103. Einfluß der Wanderungen 104. Fürsorge für minderwertige Arbeitslose 105. Organisationen der Arbeiterinnen 105, 106. Bedrohung öffentlicher Interessen durch Arbeitsstreitig­ keiten 107. Verstaatlichung als Vorbeugungsmittel und Bedenken dagegen 108, 109. Erziehliche Leistungen der Gewerkvereine 110, 111. Anmerkungen 111, 112.

Sechstes Kapitel: Die Arbeiterversicherung.................113—139 Notwendigkeit der Arbeiterversicherung 113, 114. Freies Hilfskassenwesen in England 114, 115. Pläne zur Ein­ führung einer obligatorischen, staatlichen Altersversicherung 115, 116. Reichsgesetzliche Zwangs-Arbeiterversicherung in Deutschland 116. Kaiserl. Botschaft vom 17. Nov. 1881 117. Krankenversicherung 118, 119. Haftpflicht und Unfallver­ sicherung 119,120. Jnvaliditäts- und Altersversicherung 121. Allgemeine Würdigung der deutschen Arbeiterversicherung 122, 123. Kritik der Krankenversicherung 123, 124; der berufsgenossenschaftlichen Organisation der Unfallversicherung 124—127; der Jnvaliditäts- und Altersversicherung 127, 128. Pläne zur Reform der deutschen Arbeiterversicherung 129—131. Versicherung gegen Arbeitslosigkeit auf kommunaler Grund­ lage 131. Der Entwurf des Prof. Adler für Basel 131. Kritik 132—134. Der Sparzwang nach Prof. Schanz 135. Kritik 135, 136. Abschließende Betrachtungen 136—138. Anmerkungen 138, 139.

Siebentes Kapitel: Die Arbeiterschutzgesetzgebung

. . . 140—169

Wesen des Arbeiterschutzes 140. Seine Anfänge in Eng­ land 140—142. R. Owen's Verdienste 142. Die Zehnstunden­ bewegung 143. Sittliche und körperliche Entartung der Fabrikarbeiter 144,145. R. Oastler, Th. Sadler, Lord Ashley und Macaulay als Förderer des Arbeiterschutzes 146. Die Fabrikinspektoren 146. Wirkungen der englischen Fabrikgesetzbung 147. Anfänge des Arbeiterschutzes in Deutsch­ land 148. Abneigung Bismarck's 149, 150. Kaiserl. Erlasse vom 4. Februar 1890 151. Reform des deutschen Arbeiter­ schutzes 152. Entwicklung des Arbeiterschutzes in Frank­ reich 153; in der Schweiz und in Österreich 154. Inhalt des

Inhalt.

VIII

Seite

Arbeiterschutzes, Arbeitsordnungen, Sonntagsruhe 155. Truck­ verbot, Werkstättenhygiene 156. Kinderarbeit 156, 157. Jugendliche Arbeiter 157. Weibliche Arbeitskräfte 157, 158. Gesetzlicher Maximalarbeitstag in der Schweiz und in Österreich. Seine Beurteilung von seiten der englischen Gewerkvereine 159. Sittliche und politische Bedeutung des Arbeiterschutzes 160. Organisation der Fabrikaufsicht 160,161. Weibliche Inspektoren 162, 163. Gewerbegerichte 163, 164. Internationale Arbeiterschutzgesetzgebung 164—166. An­ merkungen 166—169.

Achtes Kapitel: Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeit­ geber . ................................................. ................................ 170-179 Gewinnbeteiligung 170. Arbeiterausschüsse 171,172. Ihr geringer Einfluß in manchen Fällen 173. Arbeiterwohnungen 173, 174. Pensionsinstitute und ihre Gefahren 174. Be­ rechtigung der Wohlfahrtseinrichtungen gegenüber einer sozial sehr tiefstehenden Arbeiterklasse 175, 176. Patri­ archalische Beziehungen 176, 177. Hauswirtschaftliche Aus­ bildung junger Arbeiterinnen 177. Volksbildungsbestrebungen 178. Anmerkungen 178, 179.

Neuntes Kapitel: Konsum- und Produktivgenossenschaften........................................................................... ... 180-199 Anfänge des Genossenschaftswesens in England und Robert Owen 180, 181. Die Pioniere von Rochdale 182, 183. Miß­ erfolge der englischen Produktivgenossenschaften 163. Groß­ handelsgenossenschaften 183, 184. Genossenschaften in Frank­ reich 184, 185; in Deutschland, Schulze-Delitzsch 185, 186. Sein Streit mit Lassalle 187. Würdigung der Konsum­ vereine 187, 188. Ihre Verkennung durch Lassalle 189. Die Grenzen ihrer Wirksamkeit 190. Wesen der Produktiv­ genossenschaft 191,192. Die Arbeiter-Aktiengesellschaft 192,193. Genossenschaften und Gewerkvereine 193,194. Die Produktions­ und Konsumgenossenschaft Oberwil bei Basel 194, 195. Ge­ nossenschaftsbewegung und schweizerische Sozialdemokratie 195, 198. Anmerkungen 199.

Zehntes Kapitel:

Die ländliche Arbeiterfrage............. 200—240

Südwestdeutsche Arbeitsverfassung 200, 201. Die west­ fälischen „Heuerlinge" 201,202. Englische Agrarverfassung 203. Preußische Agrarstatistik 204, 205. Entstehung der Land­ arbeiterklasse in Nordostdeutschland 206—206. Das Jnstenverhältnis 208. Erschütterungen des Jnstenverhältnisses 209, 210. Verwandlung des Insten in einen Deputanten 210. Verminderung des Bedarfs an ständigen Arbeitskräften bei kapitalistischer Gestaltung der Wirtschaft 210. Die „Sachsen-

Inhalt.

IX Seite

gängerei" 211, 212. Lebensweise der Sachsengänger 213. Umfang der Abwanderung 214. Ergebnisse der Sachsen­ gängerei 215. Wirtschaftliche und psychologische Motive der Landarbeiterwanderungen 216, 217. Preußische Gesinde­ ordnung 218. Allgemeine Würdigung der Landarbeiterfrage des deutschen Ostens 219. Nationalpolitische Seite 220. Gewerkvereine der englischen Landarbeiter 220, 221. Die „Seßhaftmachung" der Landarbeiter 222, 223. Leistungs­ fähigkeit des landwirtschaftlichen Kleinbetriebes 223—232. Günstigere Stellung der bäuerlichen Betriebe gegenüber der Agrarkrisis 232, 233. Gesetzlicher Schutz der landwirtschaft­ lichen Großbetriebe 233, 235. Rentengutsgesetzgebung in Preußen 236, 237. Verwandte Bestrebungen in England 238. Anmerkungen 238—240.

Elftes Kapitel:

Die Wohnungsfrage..................................... 241—265

Ergebnisse der Wohnungsstatistik 241,242. Besondere Ver­ teuerung der kleineren Wohnungen 243, 244. Einfluß der Wohnungsnot auf die Sittlichkeit 245. Wohnungselend und Sterblichkeit 246, 247. Ursachen der städtischen Wohnungs­ not 248. Wohnungsverhältnisse der Landarbeiter 249, 250. Statistik der ländlichen Wohnungszustände in Baden 251. Wohnungsgesetzgebung in England, Frankreich, Baden und Hessen 251. Miquel's Entwurf eines Wohnungsgesetzes für das Deutsche Reich 252, 253. Lösung der Wohnungsftage durch Arbeitgeber, die Arbeiterstadt Saltaire 254. Hausbau­ prämien und Vorschüsse für die Arbeiter der königl. Stein­ kohlengruben in Saarbrücken 255, 256; bei Fr. Krupp in Essen 256. Mülhäuser Arbeiterstadt 257, 258. Arbeiter­ wohnungsgenossenschaften in Hannover, Göttingen und Berlin 268, 259. Wohnungsreform nach den Plänen von Lechler und Schäffle 260, 261. Anmerkungen 262, 263.

Zwölftes Kapitel:

Alkoholismus und Arbeiterfrage . . 264—284

Anteil der Arbeiterklasse an der Trunksucht 264—266. Besondere Versuchungen der Arbeiter zum Alkoholgenuß 267, 268. Einfluß der Brennereien betreibenden Rittergutsbesitzer auf die Ausbreitung und niedrige Besteuerung des Brannt­ weingenusses in Deutschland 269—271. Beziehungen zwischen Alkoholismus und Truckwesen in England, Belgien und Deutschland 271—273. Beförderung der Trinkunsitten durch schlechte Organisation der Arbeitsvermittlung 273. Die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zur Alkoholftage 274. Die Trunksucht nicht allein Folge des sozialen Elendes 275,276. Beteiligung der englischen Arbeiter an der Mäßigkeits­ bewegung 277; insbesondere der Gewerkvereinler 278, 279. Sozialistische Opposition dagegen 280. Bedeutung der

X

Inhalt.

Seite

Mäßigkeitsbewegung für die aufsteigende Klassenentwicklung der Arbeiter 281. Pflichten der oberen Stände 282. An­ merkungen 283, 284.

Dreizehntes Kapitel:

Sozialismus und Kommunismus 285—319

Wirtschaftlich liberaler Charakter der bisher behandelten Reformen 285, 286. Begriff des Sozialismus und Kom­ munismus 287. Wissenschaftliche Bedeutung des Marxismus und seine Entwicklung aus der Philosophie Hegels und Feuerbach's 288. Die materialistische Geschichtsauffassung 289, 290. Marx' Theorie vom Mehrwerte 291, 292. Rate und Masse des Mehrwertes 293. Die Produktion der industriellen Reservearmee 295. Die Zentralisation des Kapitals und Expropriation der Expropriateurs 296. Die Bildung der Durchschnittsprofitrate 297. Das Gesetz der sinkenden Profitrate 298. Die Wirtschaftskrisen 299. Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung durch R. Stammler 300, 301. Sombart's Interpretation der Werttheorie 301,302. Prüfung der Zentralisationstendenzen im modernen Wirt­ schaftsleben an der Hand der deutschen Statistik 303—305; auf Grund der Handwerkerenquöte des Vereins für Sozial­ politik 305—309. Grenzen für die Ausdehnung des Groß­ betriebes im Gewerbe 309. Zentralisation der Betriebe bedeutet nicht immer Zentralisation des Kapitaleigentums 310. Irrige Ansichten von Marx über die Stellung des Klein­ bauerntums 311. Vollmar's Urteil über die Lebensfähigkeit des bäuerlichen Betriebes 311, 312. Hebung der englischen Arbeiterklasse nach den Erhebungen der königl. Arbeits­ kommission 312, 313. Der Kommunismus tritt weder mit Naturnotwendigkeit ein, noch erscheint er als Gebot der Zweckmäßigkeit 314, 315. Die Freiheit in der kommunistischen Gesellschaft 317, 318. Anmerkungen 318, 319.

Vierzehntes Kapitel:

Staatssozialismus....................... ... . 320—353

Begriff des Staatssozialismus. Entstehung des demo­ kratischen Staatssozialismus 320. Seine Wirkungen 321. Autoritärer Staatssozialismus vertreten durch St. Simon, Robert Owen 322. Disraeli und Carlyle 323, 324. v. Radowitz, L. v. Stein 325. Seine Theorie der sozialen Monarchie 326. K. Rodbertus-Jagetzow, Friedrich Pilgram 327. Die akademischen deutschen Staatssozialisten: Adolf Wagner, Gustav Schmoller und Albert Schäffle 327—330. Die Praktiker des autoritären Staatssozialismus: Napoleon III. 331. Bismarck 332—334. Kaiser Wilhelm II. 335. Kritik des autoritären Staatssozialismus 336, 337. Unmöglichkeit eines wirklich persönlichen Regiments unter modernen Verhältnissen 338. Die sozialpolitische Stellung des Beamtentums 339.

Inhalt.

XI Seite

Ursachen für die sozialpolitische Befangenheit mancher Beamten 340, 341. Bismarck als Gegner der wirtschaftlich neutralen Haltung der Beamten 342. Sozialpolitische Leistungen des Beamtentumes der absoluten Monarchie in Preußen 343—345; in Österreich 346, 347. Abweisung des autoritären Staatssozialismus 348, 349. Anmerkungen 349-353.

Fünfzehntes Kapitel: Die Bodenreformbewegung

.... 354—367

Stellung der Bodenreformer zwischen Liberalismus und Kommunismus 354. Grundrententheorie Ricardos als Aus­ gangspunkt 355. Die Lehren von Henry George 355—357; von Michael Flürscheim 357. Die imaginären Kapital­ bildungen 359, 360. Kritik der Bodenreformbewegung vom praktisch-politischen Standpunkte aus 360. Sinken der land­ wirtschaftlichen Grundrente in Westeuropa 360—363. Reform­ bedürftigkeit der städtischen Grundeigentumsverhältnisse 363. Besteuerung der städtischen Grundrente 364—366. An­ merkungen 366, 367.

Sechzehntes Kapitel: Christentum und Arbeiterfrage

. 368—386

Stellung des Christen gegenüber der Güterwelt 368—370; gegenüber seinen Mitmenschen 370, 371. Christlicher So­ zialismus 371. Christlich-demokratischer Kommunismus von Lamennais 372, 373. Milderung der Gebote der christlichen Nächstenliebe durch die offiziellen Kirchen 374. Demokratische Züge des Christentums 375, 376. Leo XIII. über die sozialen Pflichten der Besitzenden 377. Sulze's Gemeinde-Ideal 377. Möglichkeit eines allgemeinen sozialpolitischen Programmes in der katholischen Kirche 378—381. Dessen Schwierigkeit innerhalb der evangelischen Kirchen 382. Versuch der Ver­ einigung nationalistischer, sozialistischer und christlicher Grund­ sätze im Programme der Nationalsozialen 383, 384. Soziale Aufgabe des Christentums 385. Anmerkungen 385, 386.

Siebzehntes Kapitel: DerAnarchismus................................. Begriff des Anarchismus 387. Seine Bekämpfung zum Teil Sache des Irrenarztes und Strafrichters 388. Der Anarchismus als Volksbewegung in Rußland 388. Sein Zusammenhang mit der Räuberromantik, Netschajew und Bakunin 388, 389. Günstige Entwicklungsbedingungen des Anarchismus in Rußland und Frankreich 390. Deutscher Anarchismus 391. Kampf der Sozialdemokratie gegen den Anarchismus 392. Seine Förderung durch Polizeiagenten in Deutschland und in Frankreich 393. Aristokratischer An­ archismus von Fr. Nietzsche 394—396. Gefahren des Nietzscheanismus 396, 397. Friedlicher Anarchismus von P. I. Proudhon 398—400. Stammler's Kritik des an-

387—405

XII

Inhalt. Seite

archistischen Ideales bloßer Konventionalgemeinschaft 401, 402. Der friedliche Anarchismus als berechtigte Reaktion gegen ein Übermaß von Zentralisation und Bureaukratismus 402. Kritik von Massow's gegenüber den Zuständen der preußischen Verwaltung 403. Berührungspunkte zwischen dem friedlichen Anarchismus und den höchsten sittlichen Idealen des Christentums 404. Anmerkungen 404, 405.

Achtzehntes Kapitel:

Kommunale Sozialpolitik............... 406—440

Frühere Verkennung der sozialpolitischen Leistungsfähig­ keit der Gemeinde namentlich in Deutschland 406. Ursachen dieser Erscheinung 407, 408. Enge Beziehungen zwischen sozialen Fragen und kommunaler Thätigkeit 409. Die Ge­ meinde als Arbeitgeber 410,411. Einfluß deutscher Gemeinden auf die Einführung der Gewerbegerichte 412. Die bourses du travail französischer Gemeinden 413, 414. Kommunale Arbeitsnachweisanstalten in Deutschland 415, 416. Statistik des Münchener Arbeitsnachweises 418—420. Nationale Be­ deutung der öffentlichen Gesundheitspflege in den Städten 417. Hansen's Theorie der drei Bevölkerungsstufen 421. Kritik auf Grund der deutschen Statistik 422 — 425. Pflege der Hygiene durch die Schulen 426. Kommunale Fürsorge für gute Volksernährung 427. Opposition einzelner Darwinisten gegen die Hygiene 426. Sozialer Wert der Schule 429. Über­ füllung der Schulklassen 430, 431. Kommunale Pflege der Volksbildung 432. Charakter der Armenpflege 433—435. Private Wohlthätigkeit 435. Reform der Armenpflege 436, 437. Allgemeine Teilnahme an dem Leben der Gemeinde und Erweiterung ihrer Autonomie 437, 438. Anmerkungen 438-440.

Neunzehntes Kapitel:

Darwinismus und Sozialpolitik 441-467

Verschiedenheiten in der politischen Stellung der Dar­ winisten 441. Darwins Ansichten über die Unentbehrlichkeit des Kampfes ums Daseins auch für die Menschen 442. Seine Zweifel inbetreff der Auslese durch die bestehende Wirtschafts­ ordnung 443. Alfred Russell Wallace als Sozial- und Bodenreformer 443, 444. Sozialreformerischer Evolutionismus von Benjamin Kidd 444—446. Mißverständnis der kommunistischen Gleichheitsforderung 446. Betonung der aristokratischen Seite des Darwinismus durch Haeckel 447, 448. O. Ammons so­ zialanthropologische Prädestinationslehre und Kritik derselben 448—460. Verkennung der Bedeutung, welche der sozialen Klasse im Kampfe ums Dasein zufällt 461,462. Abhängigkeit der Klassenbildung von politischen und technischen Ereignissen 462—464. Anmerkungen 464—467.

Inhalt.

XIII Seite

Zwanzigstes Kapitel: Die soziale Bewegung in Frank­ reich ..................................................................................... 468-489 Arbeiterklasse und Bürgertum vor und während der Re­ volution 468—470. Marat als Vertreter proletarischer Strö­ mungen 471. Schreckensherrschaft der Bergpartei 472. Die Verschwörung von Gracchus Babeuf 473. Administrativer Zentralismus Napoleons I 474. Seine Sozial- und Wirt­ schaftspolitik 476, 476. Die Julirevolution und die St. Simonisten 476—478. Charles Fourier 478 — 480. Louis Blanc 480, 481. P. I. Proudhon 481, 482. Soziale Reformer 483. Das Bürgerkönigtum 484. Ausbruch der Februar­ revolution 485. Mangel eines klaren sozialpolitischen Pro­ grammes 485, 486. Das Recht auf Arbeit und die National­ werkstätten 486, 487. Die Junischlacht 487. Napoleon's 111. sozialistischer Imperialismus 488—490. Der Kommune-Auf­ stand 490, 491. Sozialpolitische Wirksamkeit der dritten Re­ publik 491. Französische Arbeiterparteien 492. Lage der französischen Arbeiterklasse 493. Der bureaukratische Zen­ tralismus als Fessel sozialer Fortschritte 494. Kleinbürger­ licher Charakter des französischen Wirtschaftslebens 495. Agrarprogramm der Marxisten 496,497. Anmerkungen 498,499.

Einundzwanzigstes Kapitel: Die soziale Bewegung in England.............................................................................. 500-529 Industrielle Revolution 600—602. Politische Zustände in England am Vorabende der französischen Revolution 603. Ihre Wirkung auf England 504, 505. Elend der Fabrik­ bevölkerung 605. Diagnose von Ricardo, Malthus und Owen 606. Reformbewegung 607. Das neue Armengesetz 508. Die Chartisten 508, 509. Die Antikornzoll-Liga 510. So­ ziale Litteratur. Thomas Carlyle 511, 512. Charles Dickens, Thomas Hood, Disraeli 513. Die christlichen Sozialisten 514. John Stuart Mill 515, 516. Ausdehnung des Wahlrechtes 517. Einfluß der Arbeiterklasse auf Whigs und Tories 518. Kgl. Arbeitskommission von 1691 518. Minderheitsbericht 519, 520. Sozialpolitische Leistungen des Kabinets GladstoneRosebery 621. Die „Independent Labour Party" 521, 522. Sozialistische Bestrebungen 522. Die Fabier-Gesellschaft 623 bis 525. Kirchlicher Sozialismus 525, 526. Dringlichkeit einer Reform der Grundeigentumsverhältnisse 627. An­ merkungen 527—529.

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Die soziale Bewegung in Deutschland einschließlich Oesterreichs und der Schweiz..................................................................... .. . 530-608 Die deutsche Gesellschaft vor dem Ausbruche der französischen Revolution 630. Der letzteren Einfluß auf die Entwicklung

XIV

Inhalt. Seite

des bürgerlichen Bewußtseins 531. Reaktion nach den Be­ freiungskriegen 632. Bürgerliche Opposition in den Rhein­ landen 533. Karl Marx und Friedrich Engels 634. Das Kommunistische Manifest 535, 536. Die 1848 er Bewegung. Sorge des Bürgertumes vor proletarischen Strömungen 537. Die Arbeiterbewegung in Berlin 538, 539. Die Arbeiter­ bewegung in Köln. Neue Rheinische Zeitung 540. Wirt­ schaftlicher Aufschwung der 50 er Jahre 541. Die neue Aera in Preußen. Ferdinand Lassalle 542. Offenes Antwort­ schreiben 544. Gründung des Allgemeinen deutschen Arbeiter­ vereines 545. Lassalle's Kampf gegen Schulze-Delitzsch 546, 547. Lassalle und Bismarck 547. Lassalle's Charakter und Weltanschauung 548. August Bebel, Wilhelm Liebknecht und das Aufkommen der Internationalen 549, 650. Vereinigung der Lassalleaner und Internationalen 651. Sozialdemokratische Gewerkschaften 552. Attentate und Sozialistengesetz 653. Stellung der deutschen Wissenschaft zur sozialen Frage 553 bis 562. Karl Rodbertus und Lorenz Stein 554. Friedrich Engels 555. Marlo, von Bernhardi 556. Die deutschen Volkswirte 557. E. Dühring, Fr. A. Lange, Karl Marx, Lujo Brentano 558, 559. Die Staatssozialisten A. Schäffle und A. Wagner 559. Karl Rodbertus 560. Discriptive Schule, G. Fr. Knapp und seine Schule 561. Der Verein für Sozial­ politik 662. Die Stellung der bürgerlichen Parteien zur sozialen Frage 662—669. Die konservative Partei 562. Urteile Herman Wagners und Rudolf Meyer's über sie 663. Die christlich-soziale Partei Stöcker's 564. Ihr Programm 564, 565. Die Sozialpolitik der Katholiken 566, 567. Die liberalen Parteien 667, 568. Die süddeutsche Volkspartei 569. . Die Entwicklung der Sozialdemokratie mit der Aufhebung des Sozialistengesetzes 569—584. Wahlerfolge 570. Neue Or­ ganisation und neues Programm 571. Die Opposition der „Jungen" 572. Vollmar's Eldorado-Reden 573,674. Vollmar's „Staatssozialismus" 576. Zwistigkeiten zwischen politischen und gewerkschaftlichen Führern 576. Vollmar's Agrarpro­ gramm 577, 678. Bebel's Übertritt zu Vollmar in Breslau 579. Die Protestanten der Sozialdemokratie: Schönlank, David, Quarck, Bernstein 560—582. Die Beschickung der Parteitage 683,684. Bismarck über die Verdienste der Sozial­ demokratie 585. Sozialdemokratische Wähler und „zielbewußte Genossen" 686. Die jüngste Stellungnahme der bürgerlichen Parteien 586—696. Das katholisch-soziale Programm von 1893 587. Die süddeutsche Volkspartei 588. Die national­ liberale Partei, Mittelstandsbewegung und Antisemitismus 589,590. Vorteile der Sozialdemokratie vor anderen Parteien 590. Abschreckende Wirkung ihrer „prinzipiellen" Agi­ tation 591. Gegenseitige Beeinflussung von Sozialdemokratie

Inhalt.

XV Seite

und Bürgertum 592. Die national-soziale Bewegung 693. Naumann als Vertreter kriegerischer Eroberungspolitik 594. Sein Marxismus 596. Die soziale Bewegung in Österreich 596-698. Die sozialdemokratische Wahlrechtsbewegung 596. Schwierigkeiten der gewerkschaftlichen Bewegung 597. Agra­ rische und kleinbürgerliche Entwicklung des österreichischen Wirtschaftslebens 598. Die soziale Bewegung in der Schweiz 598—601. Geringe Erfolge der Sozialdemokratie 599. Ab­ neigung einer politisch freien Gesellschaft gegen kommunistische Bestrebungen 600. Die Lehren, welche sich für das deutsche Volk aus den englischen und schweizerischen Zuständen er­ geben 601. Anmerkungen 601—603.

Erklärung der Abkürzungen. A. f. s. G. — Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, herausgegeben von Dr. Heinrich Braun. I—III Tübingen; IV—X Berlin. Art. — Art. im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, herausgegeben von Conrad, Elster, Lexis und Loening. Jena. Fischer. 6 Bde. 1890—1894. Art. S. I. — Artikel im ersten Supplementband des Handwörterbuches der Staatswissenschaften. Jena 1895. I. f. G. V. — Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche. Leipzig. I—XXI. I. f. N. St. — Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. I-LXVIII. 3 Folgen. N. Z. — Neue Zeit, herausgegeben von Karl Kautsky.

Stuttgart.

S. d. V. f. S. — Schriften des Vereines für Sozialpolitik. LXX1V.

Leipzig.

Jena. I—XV. I bis

S- C. — Sozialpolitisches Centralblatt, herausgegeben von Dr. H. Braun. Berlin. 1-1V. S. P. — Blätter für soziale Praxis. Frankfurt und Berlin. I—V. Halb­ jahr. S. P. S. P. — Soziale Praxis, Sozialpolitisches Centralblatt, herausgegeben von Dr. Jastrow. Berlin. IV—VI. Z. s. St. W. — Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. I-LIII.

AruckfeHter. S. 108, 16. Zeile, lies im statt vom. S. 108, 26. Zeile, lies seiner statt ihrer. S. 489, 31. Zeile, lies 1864 statt 1869.

Tübingen.

Erstes Kapitel.

Kritik -er geltenden Wirtschaftsordnung vom wirtschaft­ lichen und sozialen Standpunkte aus?) Die aufgeklärten Geister des vorigen Jahrhunderts waren von der Überzeugung erfüllt, daß ein höchstes Wesen die Welt zu dem Zwecke der irdischen Beglückung der Menschheit erschaffen habe. Die Menschen und ihre Triebe sind von Natur aus gut, da Gott, der nur Gutes wollen kann, sie ins Leben gerufen hat. Wenn die Betrachtung der thatsächlichen Zustände so viel Unglück, Bosheit, Verkehrtheit und Un­ kultur aufweist, so kommt das nur daher, daß die Menschen ihre Verhältniffe nicht nach den von Gott gegebenen natürlichen Gesetzen sich entwickeln lassen. Die ganze künstliche Ordnung, die im Laufe der Zeiten im Widersprüche mit jenen Gesetzen aufgerichtet worden ist, muß deshalb beseitigt werden. An deren Stelle hat ein Zustand natür­ licher Freiheit zu treten. Dann wird auch die von Gött gewollte Ordnung,. Harmonie und Schönheit des Daseins überall und ist.reichstem Maße erblühen. Sobald jedermann sein Interesse, das er selbst ja am besten versteht, soweit frei verfolgen kann, als es das gleiche Recht des Mitmenschen gestattet, wird auch das höchste Glück des Ganzen, das doch immer nur das größte Glück der größten Zahl bedeutet, von selbst erwachsen. Der Staat braucht allein dafür zu sorgen, daß das Eigenthum geschützt und der frei geschlossene Vertrag geachtet werdeZeder ist dann auf sich selbst gestellt, Herr seiner Geschicke, Schmied seines Glückes. Frei von jeder künstlich gestalteten Ungleichheit werden int Wettbewerbe die Anlagen der Menschen die vollste Ausbildung erfahren. Darf jeder frei seine Thätigkeit und den Ort derselben wählen, so werden die vorhandenen Arbeitskräfte sich am zweckmäßigsten auf die einzelnen Produktionszweige verteilen. Wo Arbeitskräfte fehlen, steigt durch die ungenügende Befriedigung der Nachfrage der Lohn und sorgt Herkner, Die Arbeiterfrage. 2. Au fl.

i

2

Kritik der geltenden Wirtschaftsordnung.

dafür, daß Arbeiter zuwandern. Ebenso wird der sinkende Lohn die Abwanderung aus überfüllten Arbeitszweigen und Gebieten herbeiführen. Die hohen Warenpreise und Gewinne derjenigen Unternehmungen, deren Produktenmenge dem Bedarfe noch nicht genügt, werden zur Erweiterung der Produktion bis auf die Höhe der Nachfrage veran­ lassen. Geringerer Gewinn bei zurückgehender Nachfrage wird dazu nöthigen, andere, dem gesellschaftlichen Bedarfe besser entsprechende Ver­ wendungsweisen der Produktionsmittel auszusuchen. Der Arbeiter, dessen Lohn nach Maßgabe seiner Arbeitsleistungen ausfällt, und dem der Genuß des erarbeiteten Einkonunens gesichert ist, wird schon im eigensten Interesse auf gute Arbeitsleistungen bedacht sein. Im freien Wettbewerbe wird nur derjenige Unternehmer, der die Ansprüche des Publikums am besten befriedigt, sich behaupten. Die Freiheit des Verkehrs bedingt eine natürliche und somit gerechte Entwicklung der Preise und der Vergütungen für Arbeitsleistungen, für Boden- und Kapitalnutzungen. So wird int freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte jeder im eigenen Interesse dasjenige thun, was dem Wohle des Ganzen am zuträglichsten ist. überall wird mit dem kleinsten Aufwande das größtmögliche Ergebnis erzielt werden. Eine stetige Verbesserung der materiellen Lage der Menschheit ist die notwendige Frucht der natür­ lichen Freiheit. Wenn die Vorkämpfer des Liberalismus von der Aufhebung der Gebundenheit des ländlichen Grundeigentumes, von der Beseitigung der gutsherrlichen Lasten, unter denen der Bauer fast erlag, von der Durchbrechung der zünftigen Schranken, die im städtischen Gewerbe jeden Fortschritt und jede Initiative unterdrückten, wenn sie von der persönlichen Freiheit, der Freiheit der Wissenschaft, von der Aufklärung und Bildung des Volkes und von der Teilnahme des Bürgertums an der Staatsgewalt ein bisher unbekanntes Aufblühen der Produktion erwarteten, so haben sie sich, wie der Gang der Dinge in unserem Jahrhunderte zeigt, durchaus nicht getäuscht. Die moderne Produktions­ und Verkehrstechnik hat einen Aufschwung genommen, der ohne Beispiel dasteht. Der Handspinner des vorigen Jahrhunderts brauchte 11 Stunden, um eine Strähne Garn herzustellen; der Spinner am Selfaktor erzeugt, unterstützt von zwei Hilfsburschen, 1000 Strähnen in einer einzigen Stunde. Der Handweber webte 8 Ellen im Tage; der Maschinenweber, der mehrere Kraststühle zugleich versieht, 250 Ellen. Um 5 Tonnen Roheisen in schmiedbares Eisen zu verwandeln, bedurfte man mittels des Herdfrischens 1 Va Wochen, mittels des Puddelns l'/2 Tage, heute mittels des Bessemerprozesses 20 Minuten.

Wirtschaftliche Erfolge des Liberalismus.

3

Am Ende des vorigen Jahrhunderts gab es eine einzige Rübenzucker­ fabrik in Schlesien. Tonnen Rüben

Heute werden in Deutschland über 10 Millionen

auf Zucker verarbeitet.

Die dunklen Ahnungen über

die Ernährungsbedingungen der Pflanzen und die Züchtung der Tiere Haben sich innerhalb weniger Jahrzehnte in klare Erkenntnisse ver­ wandelt, und schon beschäftigt sich die Chemie ernsthaft mit dem Pro­ bleme, Stärkemehl aus Cellulose herzustellen,

d. h. also das Holz der

Wälder, das Gras, selbst Stroh und Spreu in unerschöpfliche Quellen menschlicher Nahrungsstoffe zu verwandeln. Am Beginne des Jahrhunderts waren Eisenbahnen, Dampfschiff­ fahrt,

Elektromagnetismus,

Telegraphie

und

Telephonie

unbekannt.

Beim Eintritt in das zwanzigste Jahrhundert wird das gesamte Eisen­ dahnnetz eine Länge aufweisen, die doppelt so groß ist als die Ent­ fernung des Mondes von der Erde. in Kopenhagen,

daß

Magnetnadel ausüben. bereits gelungen,

Im Jahre 1820 entdeckte Oerstedt

die elektrischen Ströme

eine Wirkung

auf

die

In unseren Tagen ist es der Elektrotechnik

die Wasserkraft des Neckars bei Lauffen auf eine

Entfernung von 175 Kilometer nach Frankfurt zu übertragen.

Die

Fortschritte der Telephonie lassen die Laute des Berliners an das Ohr des Wieners dringen. Und soll noch von den Wunderwerken der Jngenieurkunst gesprochen werden, von der Gotthardbahn, den kühnen Brückenbaulen der alten und neuen Welt, den Brücken über den Mississippi, den Duero, den Niagara, der Brücke von New-Bork nach Brooklyn? All'

diese Umwälzungen

werden

durch die

Verbesserungen des

Schulunterrichtes, des Nachrichtenverkehrs und der Presse jedem zum Bewußtsein gebracht. Befördert die deutsche Briefpost doch über 900 Millionen Zeitungsnummern im Jahre. Die Bevölkerung Europas hat sich seit dem Anfange dieses Jahr­ hunderts mehr als verdoppelt.

Trotzdem hat die Zunahme des materiellen

Reichtumes die Zunahme der Bevölkerung weit überholt. Größere Kreise des Volkes als früher nehmen an den Gütern der Gesittung teil und sind sich ihrer Bestimmung bewußt. Überall ist die Sehnsucht nach -einet freieren, volleren Entwicklung persönlicher Eigenart gestiegen. Wer fühlt sich da nicht versucht, mit dem schwäbischen Dichter -auszurufen:

„Die Welt wird schöner mit jedem Tag; man weiß nicht,

was noch werden mag!" Wer will es denjenigen verargen, deren Auge, von solchem Glanze geblendet,

nicht auch

sofort die Gefahren

Kulturperiode erkennen mag!

und

Uebelstände unserer

4

Kritik der geltenden Wirtschaftsordnung.

Aber gerade je leichter, namentlich in den oberen Klaffen, die tiefen Schatten und schweren Gebrechen unserer Kultur übersehen werden können, um so notwendiger ist es, sie nachdrücklich zu betonen. Wenn in der Folge diese Aufgabe in Angriff genommen wird, so geschieht es nicht, wie oberflächliche oder tendenziöse listischer Analysen

manchmal meinen,

Häßlichen, Verderbten und Verkommenen. und deskriptiveil Volkswirte sind

Auch dem sozialpolitischen

Sonne, Licht,

Farbe lieber als Nacht und Grauen,

Beurteiler rea­

aus einer gewiffen Freude am Glanz, Glück uni>

als Not und Elend.

die Verherrlichung und das Preisen des Gesunden Kranken geholfen.

Allein

hat noch teinent

Wenn wir unsere Gesittung erhöhen wollen, so ist das erste Er­ fordernis, sie streng, unbeirrt durch die Fortschritte unseres Jahr­ hunderts, auch auf ihre Kehrseite hin zu prüfen. Und da zeigt sich, daß gerade diejenigen Ideen des Liberalismus, von denen seine edelsten und hochherzigsten Anhänger am tiefsten durch­ drungen waren, die Ideale der Freiheit,

der Gerechtigkeit und der

allgemeinen Wohlfahrt sich erst in sehr beschränktem Umfange verwirklicht haben. Heute, nachdem die thatsächliche Entwicklung schon ein fruchtbares Arbeitsgebiet der empirischen Forschung eröffnet hat, und nachdem die hervorragendsten Denker sich aufs eifrigste darum bemüht haben, die Irrtümer des Liberalismus zu ergründen, fällt es nicht mehr schwer zu zeigen, warum die schönsten, rosigen Träume des jugendfrischen Liberalis­ mus eben zum guten Teile Träume geblieben sind. Als die Freiheit der Arbeit verkündet, und der Arbeiter als ein dem Arbeitgeber gleichberechtigter Kontrahent anerkannt, als der Ver­ trag

über Kauf und Verkauf der Waare Arbeit gleichgestellt worden

war änderen Kauf- und Verkaufsverträgen des geschäftlichen Lebens, da hatte die Arbeiterschaft in ihrer aufsteigenden Klaffenbewegung zweifels­ ohne eine wichtige Etappe erreicht.

Dem heidnischen Altertume war der

Arbeiter noch Sklave, Sache gewesen; das Christentum hatte im Arbeiter wenigstens die Persönlichkeit insofern anerkannt, Hörige nicht nur Pflichten, sondern auch

als der Unfreie und

gewisse Rechte besaß.

Noch

beffer gestaltete sich die Stellung des gewerblichen Arbeiters in der ZunftDErfassung. Aber immer bestand ein Dienstverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter, kein bloßes Vertragsverhältnis. Nun riß der Liberalismusalle besonderen Standesrechte nieder und erkannte allen Volksgenossen, in wirtschaftlicher Hinsicht der Hauptsache nach Freilich

das

gleiche Recht zu.

erhielt der Arbeiter mit. der rechtlichen Gleichheit beim Ab­

schlüsse des Arbeitsvertrages nicht auch die gleiche wirtschaftliche Machte

Besonderheiten der Arbeit als Ware.

tiie gleiche faktische Freiheit wie der Arbeitgeber.

5 Gibt man zu, daß

nur dann eine echte Freiheit beim Vertragsabschlüsse vorhanden ist, wenn jeder der Kontrahenten die Vorschläge des anderen ablehnen kann, ohne wesentlich empfindlichere Nachteile als der andere zu erfahren, so kann in der

liberalen Wirtschaftsordnung

von

einem thatsächlich freien

Arbeitsvertrage in der Regel nicht gesprochen werden.

Der besitzlose

Arbeiter kann seine Arbeitskraft nur bethätigen, wenn er einen Arbeit­ geber findet, der ihm die zur Arbeit notwendigen Produktionsmittel zur Verfügung stellt.

Kommt ein Arbeitsvertrag nicht zustande, so ist der

Arbeiter im allgemeinen nicht in der Lage, aus eigener Kraft sein Leben zu fristen. anheim.

Er fällt der Armenpflege mit all' ihren entehrenden Folgen

Der Arbeitgeber dagegen kann, auch wenn es nicht möglich ist,

einen Arbeitsvertrag abzuschließen, entweder sein Vermögen und dessen Rente zur Lebensführung verwenden, oder selbst, ohne Beiziehung von Hilfskräften, arbeiten. So groß immer die wirtschaftlichen Nachteile sein mögen, die ihn treffen, wenn er keine fremden Arbeitskräfte erhalten kann, den Vergleich mit dem Zustande, in dem ein besitz- und arbeitsloser Arbeiter sich befindet, können sie keinenfalls bestehen.

Mit Recht hat man daher gesagt, der

Arbeiter befinde sich ständig in der Lage des Falliten, der um jeden Preis

losschlagen

muß,

und

sprichwörtlich geworden ist.

dessen

Ausverkauf zu Schleuderpreisen

Die Ungunst der Stellung des Arbeiters

wird indeß noch durch eine Reihe anderer Momente verstärkt. Während andere Waren von der Persönlichkeit des Verkäufers getrennte Er­ gebnisse menschlicher Thätigkeit darstellen,

ist die Arbeit die Thätigkeit

des Menschen selbst und von ihm unzertrennlich.

Wer Kapital verleiht,

Boden verpachtet, Wohnungen vermietet. Waren verkauft, wird durch die entsprechenden Erträge in seiner wirtschaftlichen Lage berührt. Seine Persönlichkeit aber bleibt vollkommen frei. Anders beim Arbeiter. Der Unternehiner, der durch den Lohnvertrag die Verfügung über eine Ar­ beitskraft erworben hat. erwirbt immer auch eine gewisse Verfügung über die Persönlichkeit des Arbeiters selbst. Indem der Arbeitgeber eine Arbeitsleistung aufträgt, bestimmt er, unter welchen Verhältnissen in Bezug auf Temperatur, Beschaffenheit der Luft, Unfallsgesährdung und Mitarbeiterschaft die Person des Arbeiters sich befinden wird. ungünstiger die Stellung

des Arbeiters

Je

aber beim ganzen Vertrags­

abschluffe ist, destoweniger kann er auch in all' den genannten, oft sehr wesentlichen Momenten sein Interesse sicher stellen. Andere Waren als die Arbeit werden nie um ihrer selbst willen, sondern nur mit Rücksicht auf die Bedarfsverhältnisse produziert.

Die

Arbeitskraft aber entwickelt sich mit dem Menschen selbst, der ohne Rück-

6

Kritik bet geltenden Wirtschaftsordnung.

sicht auf die Bedarfs- und Marktverhältniffe ins Leben tritt. nun der Preis

Fällt

anderer Waren unter die Kosten, so kann durch Ein­

schränkung der Produktion vergleichsweise leicht wieder eine entsprechende Preisgestaltung

herbeigeführt werden.

Was

soll der Arbeiter thun,

wenn seine Arbeit weniger begehrt wird und der Lohn fällt? Vereinzelt wird er, um sein Einkommen auf das Niveau seines Lebensbedarfes zu erheben, nur umsomehr

arbeiten.

Er wird

eine größere Zähl von

Stunden hindurch und, wenn es seine physischen Kräfte gestatten, viel­ leicht noch fleißiger und intensiver als früher schaffen. Eben dadurch wird aber das Verhältnis zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage immer mehr zum Nachteile des Arbeiters verschoben, bis schließlich der Zuwachs der Arbeit auf der

einen, die Abnahme der Vergütung auf

der anderen Seite den Arbeiter zu Grunde richtet, und auf diesem grausamen Wege vielleicht eine gewiffe Verminderung des Arbeits­ angebotes sich endlich vollzieht. Während Recht und Moral unserer Zeit den Arbeiter als Menschen und Selbstzweck anerkennen, macht die geltende Wirtschaftsordnung sein Schicksal davon abhängig, daß es einem Arbeitgeber vorteilhaft erscheint, ihn zu beschäftigen.

Es besteht aber keinerlei Gewähr dafür, daß die

Unternehmer stets soviel Arbeit begehren, als angeboten trnrb,2) oder daß sie die Arbeit nur unter Bedingungen erhalten können, die den Arbeitern eine menschliche Existenz gestatten. Häufig haben technische Erfindungen, wirtschaftliche Krisen, die Verdrängung der kleineren und mittleren minder produktiven Betriebsformen durch den Großbetrieb Masten von Arbeitern überflüssig gemacht und sie den bittersten Notständen, ja dem Hungertyphus preisgegeben. Denn noch immer geht die Armenpflege-, oder was man euphemistisch so nennt, von der in der modernen Wirt­ schaftsordnung durchaus nicht immer begründeten Voraussetzung aus> der arbeitswillige und haltende Beschäftigung.

arbeitsfähige Arbeiter finde stets eine ihn er­ So verfällt der Arbeitslose nur zu leicht dem

Verbrechen, dem Laster oder schwerem Siechtume.

Die Arbeitslosigkeit

ist indes nicht nur für den unmittelbar von ihr betroffenen Arbeiter ein gräßliches Unglück, eine zahlreiche Armee von Arbeitslosen übt durch ihr dringliches, vorbehaltloses Arbeitsangebot auch auf die Lage derjenigen Arbeiter, die noch eine Beschäftigung haben, den verhängnis­ vollsten Druck aus. Ein Mißverhältnis zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachsrage zieht

endlich

auch deshalb

so schwere Konsequenzen

nach sich, weil die Arbeit nicht die leichte Beweglichkeit anderer Waren besitzt. Der Arbeiter kann keineswegs ebenso leicht als andere Waren­ verkäufer den besten Markt für seine Waren aufsuchen. Ein Familien-

Tendenzen der Einkommensverteilung.

7

vater kann zumeist seine Arbeit nur dann an einem anderen Platze verwerten, wenn er die Mittel besitzt, dorthin zu übersiedeln. Das wird selten genug zutreffen. Auch ist der Arbeiter nicht in der Lage, Proben seiner Arbeit zu versenden und etwa auf diesem Wege sich anderwärts eine Stellung im voraus zu sichern. Dabei fehlt es öfters an einer geeigneten Organisation des Arbeitsmarktes. Noch gibt es keinen Kurszettel, der Tag für Tag das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit an den maßgebenden Plätzen des Wirtschafts­ gebietes zur allgemeinen Kenntnis bringt. Angesichts der ungünstigen Stellung, in der sich der vereinzelte Arbeiter beim Abschlüsse des Arbeitsvertrages befindet, angesichts der Bedrohung vieler kleinerer und mittlerer Betriebe durch den Groß­ betrieb, angesichts des schweren Gewichtes, das Eigentum, Erbrecht und Konjunkturen zu Gunsten des Besitzes in die Wagschale werfen, wird man auch darauf gefaßt sein, daß der sich selbst überlassene Verkehr durchaus nicht, wie der ursprüngliche Liberalismus erwartete, zu einer stetig fortschreitenden Ausgleichung zwischen Arm und Reich geführt hat. Mit leidlicher Bestimmtheit läßt sich die Tendenz, welche unter den heutigen Zuständen für die Verteilung des Volkseinkommens maß­ gebend ist, aus den Ergebnissen der Einkommensbesteuerung ablesen. Insbesondere dürfte die Kgl. sächsische Statistik der Einkommensbesteuerung für diesen Zweck geeignet sein. Sachsen ist industriell hoch entwickelt, also eilt Gebiet modernen Wirtschaftslebens, und besitzt bereits seit dem Jahre 1879 eine ziemlich zuverlässige Ermittlung der Einkommen. Vergleicht man den Stand der Dinge des genannten Jahres mit dem von 1894, so ergibt sich folgendes: (Siehe die auf S. 8 folgende Tabelle.) Ein Blick auf die Tabelle zeigt, daß die Armen nicht, wie der Sozialismus annimmt, immer zahlreicher und ärmer geworden sind. Im Gegenteile. Die relative Bedeutung der untersten Einkommens­ klaffen (bis 800 Mk.) zeigt eine sehr entschiedene Abnahme. Sie sind erheblich (um 28,91 und 19,04) hinter der durchschnittlichen Zunahme von 137,40 zurückgeblieben. Die unverhältnismäßig starke Zunahme in den Klaffen 800—1250 Mk. deutet darauf hin, daß viele Angehörigen der unteren Stufen in die oberen aufgestiegen sind. Weniger stark an der Zunahme ist der sogenannte Mittelstand, sowohl der niedere (etwa bis 3300 Mk.) als auch der höhere (3300—9600 Mk.) beteiligt. Immerhin büßt er an seiner relativen Bedeutung nichts ein, sondern weist immer noch eine mehr als durchschnittliche Zunahme auf. Eine alle anderen Klassen weit überholende Aufwärtsbewegung ist aber in

Kritik der geltenden Wirtschaftsordnung.

8

Es betrug die Zahl der eingeschätzten physischen Personen im Königreiche Sachsen 1894

1879 mit einem Einkommen von

SL absolut

sjFS Bge

absolut Bäe 5*3

Wird die Zahl der Eingeschätzten im Jahre 1879 gleich 100 gesetzt, so ergiebt sich eine Zu­ nahme auf

eine Zunahme oder Abnahme gegenüber der Durchschnitts« zunähme

Mark

über 300 800 950 1100 1250 1400 1600 1900 2 200 2 500 2 800 3 300 4 800 9 600 26 000 54 000 100 000 200 000 300 000 500 000 1 000 000

unter 300 800 bis „ 950 „ 1 100 „ 1250 „ 1400 „ 1 600 „ 1 900 „ 2 200 „ 2 500 „ 2 800 „ 3 300 4 800 „ 9 600 „ 26 000 „ 54 000 „ 100 000 „ 200 000 300 000 „ „ 500 000 1 000 000 Überhaupt

77 060 751 626 57164 39 662 28 142 17 787 22 507 20149 14 362 10 481 7 104 9714 13 215 10 857 4 091 592 170 50 121 4 2

7,11 69,28 5,27 3,66 2,59 1,64 2,08 1,86 1,32 0,97 0,65 0,90 1,22 1,00 1,38 0,05

83 609 5,61 889 648 59,69 133 502 8,96 86 980 5,83 59 915 4,02 37192 2,50 40 385 2,71 34 200 2,29 25 655 1,72 18 294 1,23 12 060 0,81 15 927 1,07 22 828 1,52 19 062 1,27 8 754 0,59 1 764 0,12 629 196 39 . 0,06 0,022 16 5 1, 1 084 751 1 490 558

(Nach der Zeitschrift des Kgl. Sächsischen Statistischen Bureaus. Heft III und IV. ©.211, 212.)

108,49 118,36 233,54 219,30 212,90 209,10 179,43 169,74 178,63 174,54 169.76 163,96 174,74 175,57 213,98 297,47 370,00 392,00 425,00 400,00 250,00

— —

+ + + +

+ +

+ + + + + + + + + + + + +

28,91 19,04 95,14 81,90 85,50 71,70 42,03 32,34 41,23 37,14 32,36 26,56 37,34 38,17 75,58 160,07 232,60 264,60 287,60 262,60 112,60

137,40 XL. Jahrgang 1894.

den obersten Klaffen, insbesondere in denjenigen mit einem Einkommen von 54 000—500 000 Mk. eingetreten. Man kann also sagen, die gegenwärtige Einkommensverteilung verstärkt relativ am meisten die Schichte des mittleren Arbeiterstandes und die Gruppe der Millionäre. Ist die Verteilungstendenz auch nicht so ungünstig, als die Gegner des Liberalismus behaupten, so läßt sich doch weder leugnen, daß die Ein­ kommensverteilung eine äußerst ungleichmäßige ist (65,30 Proz. der Ein­ geschätzten haben ein Einkommen unter 800 Mk.), noch daß die unteren Schichten der Gesellschaft auf der Leiter des Wohlstandes sehr viel langsamer emporklimmen als die obersten?)

Unterkonsumtion als Folge der herrschenden Einkommensverteilung.

9

Auch die Ergebnisse der Veranlagung zur preußischen Ergänzungs­ steuer geben kein erfreuliches Bild der Vermögensverteilung, wie die nachstehende Tabelle beweist. Hörrstcht über die erstmaligen Veranlagungsergebnisse zur preußische« Hrgänzungssteuer im Jahre 1895.

Vermögen exklusive Mobiliarbesitz Mk. 6 000- 20 000 20000— 32000 32 000— 52 000 52 000— 100 000 100 000— 200 000 200 000- 500 000 500 000—1 000 000 1 000 000—2 000 000 mehr als 2 000 000

Zensiten absolut 563 370 203 834 162 262 122 683 57 179 29 373 8 375 3 429 1827

Veranlagtes Vermögen %

absolut in Tausend Mk.

48,89 17,69 14,08 10,65 4,96 2,55 0,73 0,30 0,16 (6. P.

%

2 978 304 9,5 7,13 2 214 248 10,59 3 286 804 4 279 289 13,78 12,86 3 993 809 4 500 373 14,50 2 279 304 9,60 2 453 064 7,90 14,05 4 360 638 S. C. V. Nr. 18.)

Man kann eine Vermögensverteilung unmöglich gut heißen, bei der die zwei obersten, die Millionäre umfassenden Stufen, die 5256 Angehörige zählen, zusammen noch um 1 621 150000 Mk. mehr be­ sitzen, als die zwei untersten Stufen, obwohl diese 767 204 Zensiten darstellen. Und doch bringen die Zahlen nur den Gegensatz der Be­ sitzverteilung innerhalb der besitzenden Klassen zum Ausdrucke. Diese Einkommens- und Vermögensverteilung ruft nicht nur vom sozialen, sondern auch vom Standpunkte des wirtschaftlichen Fortschrittes schwere Bedenken hervor. Die Ungunst der Einkommensverteilung schädigt die Entfaltung des Masscnkonsums, die Hemmung dieses Konsums aber wieder die Entwicklung der Produktion. Das alles steht ja im Verhältnisse innigster Wechselwirkung. Der Unternehmer sucht unter dem Drucke der freien Konkurrenz möglichst an Lohnausgaben zu sparen, da ja der Lohn für ihn privatwirtschaftlich unter die Produktionskosten fällt. Nun muß aber ein großer Teil von Unternehmern den Absatz seiner Waren in Arbeiterkreisen suchen. Ze größer die Lohnersparnis auf der einen Seite, desto geringer die Konsum- und Kaufkraft auf der anderen. Ze glücklicher die Unternehmer als Lohnherren, desto mehr ersticken sie ihre zukünftige Kundschaft im Keime, und desto unerfreulicher gestalten sich für sie die Marktverhältnisse. Die Unternehmer müssen sich vom sicheren Boden der Massenproduktion mehr und mehr auf das glatte

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Kritik der geltenden Wirtschaftsordnung.

Parquet der Luxus- und Modeindustrie begeben. Sie müssen immer neue Produkte erfinden, um das konsumkrästige aber wenig zahlreiche Publikum der oberen Einkommensklaffen zu neuen Ausgaben anzureizen. So begünstigt der wirtschaftliche Liberalismus die Steigerung desLuxus in hohem Grade. Würde diese Verfeinerung der Lebensweise in der Regel zu einer höheren geistigen Bethätigung derer, die sie genießen, führen, so würde wenigstens ein kultureller Vorteil erwachsen. Leider kann man sich aber der Einsicht nicht verschließen, daß ein großer Teil des modernen Luxus, namentlich der maßlose Toilette- und Tafelluxus gewiffer Kreise, dieser Bedingung durchaus nicht entspricht. Er wird vielmehr der guten Sitte, dem Geschmacke und vor allem der Bildung des Gemütes überaus gefährlich. Indes, so tolle Ausschreitungen des Luxus auftreten, er ist doch nicht imstande, das durch die ungleichmäßige Einkommensverteilung gestörte Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion wiederher­ zustellen. Schließlich wendet immer nur ein verhältnißrnäßig kleiner Bruchteil der wohlhabenden Klaffen sein ganzes Einkommen auf dir Konsumtion. Die Fürsorge für die Familie oder deren Zukunft und der „Wille zur Macht" treiben zur stetigen Vergrößerung des Ver­ mögens selbst dort, wo das Einkommen, das es abwirft, längst schon die normalen Bedürsniffe überschreitet. So werden Jahr für Jahr un­ geheure Beträge des Volkseinkommens der unmittelbaren Nachfrage nachGenußinitteln entzogen und als Kapitalien angelegt. Im Deutschen Reiche sollen jährlich etwa zwei, in Großbritannien vier Millionen Mark kapitalisiert werden. Man sollte meinen, daß diese „Sparsamkeit" oder „Enthaltsamkeit" nur günstige Wirkungen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu Tage fördern könnte. Die neuen Anlagen, welche gegründet werden, verstärken einerseits die Nachfrage nach Arbeitern, erhöhen alsoden Lohn, während andererseits das reichliche Angebot von Waren die Preise ermäßigt und sie insofern auch minder wohlhabenden Kreisen zugänglich macht. Diese Entwicklung würde aber den Absichten der Kapitalisten nicht entsprechen. Sie kapitalisieren einen Teil ihres Ein­ kommens nicht deshalb, um Löhne zu erhöhen und Preise zu drücken. Sie streben nach einer den überlieferten Anschauungen entsprechenden Höhe des Gewinnes. Beginnt die Verwertung der Produkte im An­ lande diesen Gewinn nicht mehr zu liefern, so drängt man zum Exporte, nach neuen Märkten, um den Preisfall aufzuhalten. Steigt der Lohn, so sucht man sich durch Einführung arbeitsparender Maschinen oder billigerer Arbeitskräfte (Weiber und Kinder an Stelle erwachsener Männer) zu helfen. Sind diese Wege nicht mehr gangbar, so wird-

Kapital- und Warenausfuhr als Folge der Unterkonsumtion.

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das ersparte Kapital wohl unmittelbar in einem Teile des Auslandes angelegt, der bei geringerer Kapitalsättigung noch höhere Gewinne ver­ spricht. Die Engländer sollen jährlich eine Milliarde Mark int Aus­ lande anlegen. Auch das Deutsche Reich hat fast allen Ländern des Erd­ balles bereits Kapital geliehen. Auf Hunderte von Millionen Mark belaufen sich die Zinsen, die das Ausland an uns zu entrichten hat. Um nahezu eine Milliarde hat im Zahre 1894 die deutsche Einfuhr die Ausfuhr übertroffen, und dennoch ist der deutsche Edelmetallvorrat noch um 257 Millionen Mark gewachsen. Deutschland erfreut sich meist einer günstigen Zahlungsbilanz. Zn den europäischen Militär­ staaten sorgen überdies die ungeheuren Bedürfniffe der Armee und Flotte dafür, daß Zahr für Zahl Schulden gemacht werden und dem­ zufolge dem Konsums entzogene Einkommensteile eine bequeme und gewinnsichere Anlage in Staatsschuldverschreibungen finden. So mildert der starke öffentliche Konsum einigermaßen das Mißverhältnis zwischen Produktion und privater Konsumtion. Allerdings wird auf diese Weise die Wurzel des Übels, die ungleichmäßige Einkommensverteilung, nicht ausgerottet. Die ständige Ausdehnung der Staatsschulden für wirt­ schaftlich unproduktive Zwecke erhöht vielmehr den Zinsfuß, oder hält wenigstens sein Fallen auf. Der auf die Kapitalrente entfallende Teil des Volkseinkommens wird also gesteigert, während die Verzinsung der Staatsschulden nicht selten durch Anspannung der indirekten Ver­ brauchssteuern, also durch eine Einschränkung der Konsumkraft der Massen, erzielt wird. Wenn aber trotz der Luxusindustrieen, trotz des Exportes von Waren und Kapital, trotz der ungeheuren Kreditbedürfniffe der modernen Staatswesen einmal der Fall eintritt, daß der anlagesuchende Kapitalist keine ihn, ausreichend erscheinende Zinsen mehr erhält, und der Unter­ nehmer seine Waren nur zu Preisen anbringt, welche die HerkömmlicheHöhe des Gewinnes, ja selbst die Deckung der Kosten nicht mehr ge­ statten? Wird die große Triebfeder des privatkapitalistischen liberalen Wirtschaftssystems, der Gewinn, geschwächt, dann ermattet eben auch» der Gang des ganzen Getriebes, der ganzen Volkswirtschaft. Es tritt die Krise, die Depression ein. Große Kapitalien bleiben müssig liegen, die Waren, für die annehmbare Preise nicht erzielt werden können^ werden in den Magazinen aufgespeichert. Alles kommt ins Stocken. Die Arbeiter werden entlassen, geraten in Not und Elend, weil zu viel produziert worden ist. So lähmen die Störungen des wirtschaftlichen Kreislaufes, die aus der unvollkommenen Einkommensverteilung ent­ springen, die Energie des wirtschaftlichen Fortschrittes. „Wir dürfen,"

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Kritik der geltenden Wirtschaftsordnung.

wie Nodbertus sagt, „nicht einmal die nationalen Produktionsmittel mit voller Kraft arbeiten lassen, denn bei unserer mangelhaften Ver­ teilung des Nationaleinkommens fehlt uns für deren volle Anspannung der innere Markt, und der auswärtige ist immer nur ein prekärer Notbehelf." Und an anderer Stelle: „Es kommt uns teuer zu stehen, daß die Arbeit so billig ist". Dabei bleibt noch zu beachten, daß die geltende Wirtschaftsord­ nung dem Unternehmer kein unmittelbares Interesie an der Vervoll­ kommnung der Produktion einflößt. Der Unternehmer hat nur ein Interesse am Gewinn. Es ist aber möglich, daß höhere Gewinne sich aus, absolut betrachtet, niedriger stehenden Betriebsformen ergeben. Geringe Kapitalverwendung, zurückgebliebene Technik und niedriger Lohn können unter Umständen bessere Gewinnaussichten eröffnen als hoher Lohn und vorgeschrittene Technik. Insofern der freie Verkehr niedrige Arbeitslöhne begünstigt, kann er auch den Eifer für die Anwendung der besten Technik abschwächen. So finden wir, daß in den Ländern mit niedrigen Löhnen trotz der wirtschaftlichen Freiheit noch lange nicht alle Maschinen und technischen Fortschritte zur Anwendung gelangt sind, die der menschliche Erfindungsgeist bereits für die Zwecke der Güter­ versorgung zur Verfügung gestellt hat. Nicht einmal vom Standpunkte des Produktionsintereffes vermögen also die herrschenden Zustände eine Prüfung unbedingt zu bestehen. Nach sehr vorsichtigen Berechnungen kommt z. B. Hermann Losch zu dem Schluffe, daß wir unsere nationale Warenmasse ohne Steigerung der Arbeit um mindestens 29 Proz. er­ höhen könnten, wenn die Produktionsweise überall auf die volle Höhe der modernen Technik gehoben würdet) Der freie Verkehr vermag deshalb zur billigsten Befriedigung aller Bedürfniffe nicht immer zu führen. Es kommen für diesen Mangel freilich noch andere Momente in Betracht. Das wirtschaftliche Inter­ esse kann zur Aushebung der Konkurrenz, zur Koalition treiben. Und Mar tritt dieser Fall überall dort ein, wo es unmöglich ist, das Warenangebot zurückzuziehen, selbst wenn die Preise unter die Geftehungskosten fallen, also bei industriellen Anlagen, die mit einem großen, unwiderruflich festgelegten Kapitale arbeiten. Dann ersteht aus iber Konkurrenz das Kartell, das Monopol mit der entsprechenden Preis­ gestaltung. Und endlich, wie das Selbstintereffe im freien Verkehr nicht immer ^um Wettbewerb, so führt der Wettbewerb auch nicht immer zur Ver­ billigung. Die übermäßige Zahl kleiner Handelsbetriebe hat z. B keine Ermäßigung der Gewinnaufschläge veranlaßt, sondern nur eine Ver-

Freier Wettbewerb sichert nicht unbedingt vollkommene Technik u. billige Produktion.

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teilung des möglichen Gesammtgewinnes dieses Geschäftszweiges auf eine größere Zahl von Unternehmern. Zwischen diesen besteht eine stillschweigende Übereinstimmung, die hohen Preise, welche allein jedem einzelnen bei der vermehrten Konkurrentenzahl seinen Geschäftsbetrieb noch möglich machen, so lange zu behaupten, als es irgendwie angeht.

Anmerkungen. 1. Außer den Werken der großen liberalen Ökonomen Quesnay, Turgot, Smith, Ricardo, Malthus und Say: Bonar, Philosophy und Political Economy in some of theirhistoricalrelations. London 1893. 6.59—199; Dietzel, Art.Individualismus; Hasbach, W., Die allgemeinen philosophischen Grundlagen der von Fr. Quesnay und Ad. Smith begründeten politischen Ökonomie. Leipzig 1890; Derselbe, Untersuchungen über Adam Smith und die Entwicklung der politischen Ökonomie. Leipzig 1891; Derselbe, Die philosophischen Grundlagen der von Quesnay und Smith begründeten politischen Ökonomie. Pernerstorfer's Deutsche Worte. Wien 1893. S. 129 f.; Marko, Untersuchungen über die Organisation der Arbeit. 1. Bd. 2. Aufl. Tübingen 1885. S. 260 f., 2. Bd. 2. Aufl. Tübingen 1884. S. 50—349; Oncken, Die Maxime: Laissez fair et laissez passer, ihr Ursprung, ihr Werden, ein Beitrag zur Geschichte der Freihandelslehre. Bern 1887. Kritisierend gegenüber dem Liberalismus verhalten sich die kommunistische und staatssozialistische Litteratur ebenso wie die Schriften der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie. Es sind also insbesondere die Werke in Betracht zu ziehen, die später in dem Kapitel über die Stellung der deutschen Wissenschaft gegenüber der Arbeiter­ frage aufgeführt werden. Über die Stellung des Arbeiters als eines Waarenverkäufers vergleiche man die Brentano'schen Arbeiten, ferner Marx, Kapital. 3. AuflHamburg 1883. S. 143 f.; Thorion, W. Th, Die Arbeit, deutsch von H. Schramm. Leipzig 1870. S. 47 f.; Tönnies, gerb., Der moderne Arbeitsvertrag und die Arbeitslosigkeit, in: Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie- und Handelsstädten, Bericht über den am 8. und 9. Oktober 1893 vom Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt a. M. veranstalteten sozialen Kongreß. Berlin 1894. Mehr oder minder vollständige Zusammenfassungen der am Liberalismus geübten Kritik: Herkner, Soziale Reform als Gebot des wirk sch aftlichen Fort­ schrittes. Leipzig 1891. S. 1—15, 33-86; Derselbe, Art. Krisen; Knies, Die politische Ökonomie vom geschichtlichen Standpunkte. Neue Auflage. Braunschweig 1883. S. 180-349; Lexis, Art. Überproduktion; Paulsen, Ethik. 2. Aufl. Berlin 1891. S. 686; Mill, Z. St., Ges. Werke (herausgegeben von Gomperz). 12. Bd. Leipzig 1880, Der Sozialismus. S. 160 f.; Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers. 3. Bd, Tübingen 1891. S. 419 f., Wagner, Ad., Lehrund Handbuch der politischen Ökonomie, Grundlegung der politischen Ökonomie. Leipzig 1893. S. 794 f.; Wittelshöfer, O., Untersuchungen über das Kapital.

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Kritik der geltenden Wirtschaftsordnung.

Tübingen 1890. S. 75 — 262; Derselbe, über das Verhältnis von Konsumtion -und Kapitalisation in der modernen Wirtschaft. (Mitteilungen der Gesellschaft öster­ reichischer Volkswirte. Wien 1891) 2. Die Aufnahmen der beschäftigungslosen Arbeitnehmer, welche im Deutschen Reiche am 14. Juni und 2. Dezember 1895 veranstaltet worden sind, haben zu dem Ergebnisse geführt, daß im erstgenannter Zeitpunkte, beide Geschlechter zusammen, 299 352, im letztgenannten 771 005 Arbeitslose vorhanden waren. Im übrigen ver­ gleiche inan Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches, Jahrgang 1896. Ergänzung zum vierten Heft, Berlin 1896. 3. Es gibt Leute, die sich mit der unverhältnismäßigen Verstärkung der Einkommensklassen von 9600 Mk. aufwärts in folgender origineller Weise zu trösten wissen: „Die Ansammlung in der obersten Klasse beweist also nur, daß es unter den heutigen Verhältnissen einer größeren Zahl von Gewerbetreibenden re. möglich ist, durch Hebung ihres Geschäftes und durch Kapitalerübrigungen sich ein sorgen­ freies Alter zu sichern, und dies ist sozial günstig, ja notwendig, denn dem Meister -garantiert niemand eine Altersrente, er muß für sich selbst sorgen. Könnte er dies nicht, so wäre er schlechter gestellt, als der gewöhnliche Arbeiter." (Ammon, O. H)te Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen. Jena 1895. S. 252.) 4. Losch, H., Nationale Produktion und nationale Berufsgliederung. Leipzig 4892. S. 267.

Zweites Kapitel.

Die kulturellen und politischen Gefahren -er geltenden Wirtschaftsordnung. Wie der Gedanke des Liberalismus auf den Gebieten des wirt­ schaftlichen und sozialen Lebens neben herrlicher Frucht auch böses Unkraut gedeihen ließ, so hat die Entwicklung der sittlichen und geistigen Kultur unter dem Einfluffe der modernen Erwerbsverhältnisse keines­ wegs nur Fortschritte aufzuweisen. Die nachstehenden Betrachtungen beabsichtigen nicht einen Überblick ober die wirtschaftlichen Grundlagen der heutigen sittlichen und geistigen Kultur überhaupt darzubieten. Sie sollen nur die Gefahren zum Be­ wußtsein bringen, denen sie durch gewisse Zustände unserer Erwerbs­ ordnung ausgesetzt ist. Die Sittlichkeit der Völker und deshalb auch ihre Zukunft ruhen Hm Schoße der Familie. Die Frage nach dem Einflüsse, den unsere wirtschaftlichen Zustände aus die Sittlichkeit ausüben, ist für mich gleichbedeutend mit der Frage: Wie wirkt unsere Wirtschaftsordnung auf das Familienleben?') Charakteristisch für unsere Wirtschaftsstufe ist, daß Haushalt und Erwerbs- oder Produktionswirtschaft sich immer gründlicher von ein­ ander scheiden. Eine Thätigkeit um die andere, die vordem noch im Haushalte geübt worden, wie Backen, Spinnen, Weben, Stricken, Nähen, Waschen u. s. w., löst sich von der häuslichen Wirtschaft als selbständiger Beruf los. Die Familie ist heute, vom wirtschaftlichen Standpunkte angesehen, ganz überwiegend eine bloße Konsumtionsgemeinschast. Zn früherer Zeit war sie auch eine Produktions­ gemeinschaft. Die Familie stellte das, was sie brauchte, zum nicht ge­ ringen Teile selbst her. Die gemeinsame Produktionsthätigkeit der Familie für den eigenen Bedarf schloß alle ihre Glieder eng aneinander. -Es ist kein Zufall, daß wir in den Ländern, die wir ob der Kraft

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Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung.

und Reinheit ihres Familienlebens bewundern, die geschlossene Haus­ wirtschaft, die Eigenproduktion, den Kollektivbesitz noch in beträchtlicher Ausdehnung antreffen. Ich möchte da namentlich auf die Verhältnisse der Südslaven hinweisen. „Jedem Mitgliede der Hausgemeinschaft wird vom Staresina (dem Familienhaupte) die entsprechende Arbeit zugeteilt. Während die erwachsenen Männer und Weiber die Feldwirtschaft betreiben, backen die älteren Weiber das Brot, die jungen Snase sorgen für das Kochen, die jüngeren Knaben oder Mädchen treiben das Vieh auf die Weide, wenn sie nicht in die Schule gehen. Zur Feldarbeit nimmt das Weib außer dem Spinnrocken sein kleines Kind mit, das es auf dem Rücken oder in der Wiege trägt. . . . Die Frauen lösen sich in ihren Ver­ richtungen jede Woche ab, während welcher sie den inneren Hausdienst, dann das Kochen, das Brotbacken und die Reinhaltung des Hauses besorgen. Von diesem Dienste sind die jüngst Verheirateten auf ein Jahr, die altersschwachen Weiber hingegen auf immer befreit, wie über­ haupt für die arbeitsunfähigen Familienglieder alle Arbeiten von den anderen besorgt werden. . . . Auch die vollständige Anfertigung der Leinenzeuge und der Wäsche gehört zu den Obliegenheiten der Weiber; einige Grundparzellen liefern hierzu den nötigen Flachs. . . . Die durch das heilige Familienband so eng verknüpften Hausgenoffen bilden eine Art von gemütlicher und fröhlicher Gesellschaft, so daß das Bei­ sammenleben für sie eine besonders anziehende Kraft besitzt. ... Es gewährt ein großes Vergnügen, die zum Mittags- und Abendeffen zahl­ reich versammelte Familie im fröhlichen Gespräche zu sehen, da in der Gesellschaft stets heitere Laune herrscht. . . . Unternimmt man in schöner Jahreszeit die Reise durch südslavisches Gebiet, etwa durch die anmutigen Gegenden Kroatiens und Slavoniens, und sieht man die Hunderte der mit der Feldarbeit beschäftigten Hände, das Treiben des Viehes auf den Wiesen und Anhöhen, zur Erntezeit die große Zahl von jungen und schönen Mädchen und Weibern, die mit ihren lieb­ lichen Gesängen und fröhlichen Liedern die ganze Gegend erfüllen, so empfängt das kälteste Herz jene wonnigen Eindrücke, die man nimmer im Leben vergessen sann."2) Mit diesen Schilderungen des Baron Rajacsich stimmt durchaus überein, was Kanitz von den Serben erzählt: „Der Abend findet die Familie um die große Feuerstelle, am lustig brennenden Feuer im Hause des Starjesina versammelt. Die Männer schnitzen und bessern an Werkzeugen und Geräten für Feld und Haus. Die älteren ruhen von der Arbeit aus, rauchen und besprechen das für den nächsten Tag

Familienleben und Warenproduktion.

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zu Schaffende, oder Angelegenheiten des Dorfes und des Landes. Die Frauen gruppiren sich still arbeitend im Kreise neben ihnen; die kleinen munteren Sprößlinge spielen zu den Füßen der Eltern oder bitten den Großvater, ihnen vom Car Trojan oder Marko Kraljevic zu erzählen. Dann nimmt wohl der Starjesina oder einer der anderen Männer die mit einer Saite bespannte Gusla von der Wand. Ihre begleitenden monotonen Töne Hallen durch den weiten Raum. Den Sagen folgen Heldenlieder und solche, welche in feuriger Sprache die einstige Not des Vaterlandes erzählen und seine Befreiungskämpfe verherrlichen. So wird das Haus des Starjesina zum gemütlichen Sammelpunkte der ganzen Familie. An seinem Herde entzündet sich die Liebe des ein­ zelnen für die alten Traditionen der Familie und des Volkes, und die helllodernde Begeisterung der Gesamtheit für Freiheit und Vater­ landswohl." 3) Unter solchen Voraussetzungen sind uneheliche Geburten begreif­ licherweise fast unbekannt. Bei den cis-österreichischen Südslaven in Görz, Gradisca, Zstrien und Dalmatien bewegt sich der Prozentsatz unehelicher Geburten zwischen 2 und 3; der Durchschnitt für die Monarchie beträgt 15.4) Ze mehr die Familie durch die Entwicklung der Technik und des Verkehrs vom Boden der Eigenwirtschaft auf den der Warenproduktion und des Gelderwerbes gedrängt wird, desto größer werden die Gefahren, die sie bedrohen. Früher fand die Arbeit der Famille eine natürliche Schranke an der Einfachheit der herrschenden Lebensweise und deshalb auch des Bedarfes. Heute können Geldgier, höhere Lebensansprüche, steigende Lebensmittelpreise und öffentliche Abgaben, sowie fallende Lohn­ sätze zu einer Anspannung der Erwerbsthätigkeit führen, unter der das Familienleben verkümmern und verwelken muß. Wir können uns die eingetretenen Wandlungen gut zum Bewußt­ sein bringen, wenn mir das Familienleben der Landwirtschaft, Haus­ industrie und Fabrikarbeit betreibenden Bevölkerungsgruppen nachein­ ander ins Auge fassen. Am meisten entsprechen noch unsere bäuerlichen Wirtschaften dem ftüher allgemein herrschenden Zustande der Eigenproduktion. Noch heute wird ein guter Teil der bäuerlichen Wirtschaftserträge iin Haus­ halte selbst verbraucht. Frau und Kinder finden in der eigenen Wirt­ schaft einen ihren Kräften angemessenen Wirkungskreis. Die Mannig­ faltigkeit der Arbeitsaufgaben, der häufige Aufenthalt im Freien, ferner elterliche Aufsicht und häusliche Zucht erhalten Leib und Seele gesund. Herkner, Die Arbeiterfrage. 2. Aufl.

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Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung.

Weit weniger günstig liegen die Dinge schon bei den Land­ arbeitern, insbesondere denjenigen des deutschen Ostens?) Die Reste eigner Wirtschaft auf seiten der Gutstagelöhner werden durch die Steigerung der Intensität der gutsherrlichen Betriebe immer mehr be­ seitigt. Auch der Naturallohn weicht vor dem Geldlohne zurück. Die Lebenshaltung verschlechtert sich. Der Landarbeiter wird ein Proletarier, der mit seinem Weibe die Familie verlassen und deshalb nur zu häufig sich selbst überlassen muß, um durch Lohnarbeit den täglichen Lebens­ unterhalt zu verdienen. Zu diesen Mißständen tritt der häufige Wechsel des Wohnortes, welcher durch die Umgestaltung der Landarbeiterverhältnisse herbeigeführt wird. Wenn der Mietsherr den Einliegern die Wohnung, der Gutsherr den Znstleuten den Kontrakt kündigt, so ist, wie Prof, v. d. Goltz bemerkt, „in der Regel damit gleichzeitig für sie die Not­ wendigkeit verbunden, auch den Ort ihres Wohnsitzes und ihrer Arbeits­ stätte zu verändern, von Altersgenossen und Freunden, vielleicht von Verwandten sich zu trennen. Von einer eigentlichen Heimat ist bei vielen von ihnen keine Rede mehr; das Heimaisgefühl ist aber gerade bei der niederen Bevölkerung die Grundlage für die Vaterlandsliebe. Es bietet für den Sozialpolitiker kein erfreuliches Bild, wenn an den üblichen Umzugsterminen auf der verkehrsreichen Landstraße im Laufe eines einzigen Tages eine ganze Reihe von Arbeiterfamilien mit ihren Habseligkeiten vorüberkommt, um einen neuen Wohnsitz aufzusuchen . . Zn dieser Weise wechseln jährlich Tausende von Arbeiterfamilien ihren Wohnsitz, ihre Arbeitsstätte, ihren Arbeitgeber; mit jedem Wechsel geht ein Stück Liebe und Anhänglichkeit zu Heimat, Freunden, Arbeitgebern verloren. Nach dem bekannten Sprichworts: „Dreimal umziehen ist so viel wie einmal Abbrennen", ist auch der materielle Verlust, den die Arbeiter durch den Umzug erleiden, kein geringer. Dies Wandern der Arbeiter von einem Gute oder Dorfe zum andern hat im Laufe der Jahre immer mehr zugenommen und ist ein dunkles Blatt der gegen­ wärtigen Arbeitsverhältniffe"?) Zm Vergleiche zu diesem Nomaden- und Vagabundenleben, zu dem ein wachsender Bruchteil der Landarbeiterklaffe des Ostens gedrängt wird, muß der Zustand des Familienlebens der Hausindustriellen noch immer als günstiger bezeichnet werden. Die Familie wird hier nicht auseinandergerissen und besitzt eine größere Stetigkeit in Bezug auf den Wohnort. Das ist aber freilich auch der einzige Vorzug. Man muß sich hüten, das Familienleben der Hausindustriellen so zu idealisiren, wie es einzelne ältere deutsche Nationalökonomen gethan haben. Zn der That sind die Wohnungs-, Ernährungs-, Erwerbs- und

Familienleben der Hausindustriellen und Fabrikarbeiter.

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Bildungsverhältniffe auch hier nur zu oft die denkbar traurigsten. Die in die Wohnstätte verpflanzte gewerbliche Arbeit ist, wie W. Sombart ’) sich ausdrückt, „das Gift, das die letzten Spuren von Haus- und Familienleben wegfrißt". Von behaglichem Wohnen, gesundem Schlafen ist in diesen engen, niedrigen Räumen, in denen vom Morgengrauen bis in die späte Nacht die Luft verderbende Arbeitsprozeffe vorgenommen werden, keine Rede. Bei dem Drucke, der namentlich durch die Kon­ kurrenz der Fabrikarbeit ausgeübt wird, sind die Löhne so niedrig, daß alle, selbst die schwächsten und zartesten Familienglieder mit arbeiten müssen, wenn auch nur der notdürftigste Lebensbedarf beschafft werden soll. Die Eltern werden zur Ausbeutung der Kinder gedrängt. Zn den Fabriken sind durch das Eingreifen des Staates die schlimmsten Auswüchse der Kinderarbeit beseitigt. Zn der Hausindustrie bestehen sie in zum teil furchtbarer Ausdehnung weiter. Die aus der Schule heim­ kehrenden Kinder müssen sofort an die Arbeit, und diese wird bei drängenden Aufträgen oder sehr niedriger Entlohnnng bis spät in die Rächt fortgesetzt. Daß solche Kinder in der Schule den ihnen ent­ zogenen, Schlaf nachholen, daß sie vor körperlicher Übermüdung zu jeder Teilnahme am Unterrichte unfähig sind, wird jedermann nur natürlich finden. Roch ärger sind die Gefahren, mit denen das Fabriksystem das Familienleben unserer Arbeiterbevölkerung bedroht. Die Fabrik zerrt Mann und Frau, Eltern und Kinder auseinander. Die Erwerbs­ arbeit wird aus dem Heim der Arbeiter in den Arbeitssaal der Fabrik verlegt. Oft müssen die Eltern die Wohnung schon in früher Morgen­ stunde, ehe ihre Kinder erwacht sind, verlassen und kehren erst heim, wenn die Kleinen bereits schlafen. Des Tags über sind die Kinder, die noch nicht in die Fabrik gehen, der Obhut einer mitleidigen Nach­ barin oder alten Großmutter, oft auch nur derjenigen der älteren -Geschwister anvertraut. Die Arbeitsstätte, in der Vater und Mutter schaffen, kann so weit entfernt sein, daß es ihnen nicht möglich ist, sich mit den Ihren zum Mittagsmahle zu vereinigen. Und wenn es selbst geschieht, die Mittagspause ist ja so kurz bemessen, daß nicht von einer Mahlzeit, sondern nur von einem hastigen Hinunterwürgen der meist schlecht zubereiteten Speisen die Rede sein kann. Nur an Sonntagen fällt vielleicht einmal ein Strahl wirklicher Lebensgemeinschaft in diesen Kreis. Die modernen Verhältnisse schädigen indes das Familienleben nicht nur dadurch, daß sie des Tags über oft die Familienglieder von einander trennen; unter dem Einflüsse der Wohnungsnot und der hohen Mietspreise werden in die Wohnungen, 2*

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Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung.

die ohnehin meist schon durch die eigene Familie übermäßig stark be­ setzt sind, auch noch fremde Elemente, Schlafburschen, Schlafmädchen und Kostgänger aufgenommen. Die verhängnisvolle Einwirkung solcher Zustände auf die Sittlichkeit wird erheblich dadurch verstärkt, daß diese Wohnungen häufig keine der Zahl der Bewohner entsprechende Anzahl von Betten aufweisen. Es kommt sogar vor, daß drei Personen im Durchschnitt auf ein Bett entfallen. Schon in der Aufnahme nur einer fremden Person liegt in so engen Wohnungen eine große Ver­ schlimmerung der Zustände. „Am meisten ist dies bei Schlafmädchen der Fall, welche bei der schlechten Bezahlung der weiblichen Arbeit im Gegensatze zu derjenigen der Männer meist nicht in der Lage sind, soviel zu bezahlen, dass ihnen ein besonderes Zimmer eingeräumt wird. Sie schlafen dann in der Regel mit einem der Kinder in einem Bette, was bei dem lockeren Leben vieler dieser Mädchen fast mit Notwendigkeit zu einer frühzeitigen Verderbnis der Kinder solcher Arbeiterfamilien führen muß. Die Akten der Staatsanwaltschaft enthalten nach dieser Seite lehrreiches Material und enthüllen Zustände der schlimmsten Art, welche sich nach den ge­ führten Untersuchungen ganz unmittelbar als die Folge elender Wolhnungsverhältnisse ergeben.8) Zst es angesichts solcher Zustände denn ein Wunder, wenn die Kinder im Säuglingsalter massenhaft dahinsterben, wenn die Über­ lebenden roh und unwissend aufwachsen, wenn sie körperlich und sittlich verkommen, wenn die Frau früh dahinsiecht, wenn der Mann, der zu Hause keine leise Spur von Behagen finden kann, seine Erholung in der Branntweinschenke sucht, wenn er der Untreue, der Trunksucht, der Arbeitsscheu verfällt, jede Empfänglichkeit für höhere Bestrebungen verliert; wenn die Auffassung immer mehr an Boden gewinnt, die größte Dummheit, die man begehen könne, sei eine Heirat? Der mörderische Einfluß unserer Zustände auf das Familienleben der arbeitenden Klaffen kommt vielleicht in nichts überzeugender zum Ausdrucke als in der Thatsache, daß dasjenige, was sonst als das Heklagenswertheste angesehen werden muß, nämlich der Verlust der Eltern, für Proletarierkinder unter Umständen zum Glück und Segen ausschlagen kann. Besucht man die Waisenhäuser unserer Fabrikstädte, so ist man betroffen, wie vorteilhaft sich oft die hier untergebrachten elternlosen Geschöpfe in ihrer ganzen körperlichen und geistigen Be­ schaffenheit von der Mehrzahl derjenigen Kinder unterscheiden, deren Eltern zwar noch leben, aber nicht für ihre Familie, sondern für die Fabrik; jener Kinder, die sich in den Gassen der Arbeitsquartiere

Sittliche Gefährdung der Arbeiterinnen.

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tummeln, mit der gelb-grün-gräulichen Gesichtsfarbe, dem ungeordneten Haar, in dem die kleinen schwarzen Finger sich so unheimlich viel zu schaffen machen; mit der abgewaschenen, über und über geflickten, oft auch nicht geflickten und schmutzigen Baumwollgewandung. Mit der Darlegung dieser gewiß betrübenden Zustände °) ist das vorhandene Elend noch nicht zur Genüge gekennzeichnet. Ich habe noch nicht gesprochen von den schweren sittlichen Gefahren, denen die un­ verheirateten jugendlichen Arbeiterinnen, Verkäuferinnen, Kellnerinnen und Dienstmägde ausgesetzt sind. Der Familie frühzeitig entrissen, wenn sie überhaupt so etwas wie Familienleben je genoffen haben, stehen sie oft den schwersten Versuchungen schütz- und schirmlos gegenüber: den Versuchungen, die aus dem Zusammenarbeiten mit Männern ent­ stehen; den Versuchungen der Straße, der Wohnung, die sie oft mit Fremden teilen müssen; den Versuchungen, die der kärglichen Ent­ lohnung entspringen. Noch immer hat ja die Klage des Dichters ihre Berechtigung nicht verloren, daß Brot so teuer ist, und so wohlfeil Fleisch und Blut!'°) 3m einzelnen will ich hier nur die Lage der Kellnerinnen be­ sprechen. In norddeutschen Städten erhalten sie oft nicht nur keinen Heller Lohn, sondern „müssen jedes Glas Bier, jedes Stückchen Fleisch, das sie den Tag über verzehren, dem Wirte ebenso hoch bezahlen wie jeder beliebige Gast. Ihr Verdienst sind die Trinkgelder; deshalb muß ihr Bemühen darin gipfeln, recht viele Gäste heranzuziehen und fest­ zuhalten. Versteht es eine, recht viele anzulocken und zu großen Ausgaben zu bestimmen, so bringt der Wirt viel an, und die Kellnerin erhält reichliche Trinkgelder; versteht sie es nicht oder ist sie noch zu anständig, um allerhand Mittelchen anzuwenden, so setzen sich selten Männer zu den Tischen, die sie zu versehen hat, und sie verdient nichts für den Wirt, nichts für sich — und wird eines Tages einfach entlassen." „Diese Wesen," sagt Otto von Leixner") weiter, „sind weiße Sklavinnen, die vollständig rechtlos dastehen. Zuerst saugt der Ver­ mieter sie aus, dann fordert der Wirt, daß sie, um Gäste anzulocken, so ziemlich alles Schamgefühl wegwerfen." Man pflegte früher anzunehmen, daß in Süddeutschland die Ver­ hältnisse der Kellnerinnen wesentlich günstiger gestaltet seien als im Norden. Diese Annahme trifft heute wenigstens für die größeren Städte Süddeutschlands kaum mehr zu. In Karlsruhe giebt es 14 Wirtschaften, in denen die Kellnerinnen nicht nur keinen Lohn erhalten, fonbem sogar noch ein Entgelt an den Wirt leisten müssen. Unter--

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Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung,

suchungen über die Lage der Kellnerinnen in München haben ebenfalls ein recht trauriges Bild zu Tage gefördert. Sie bekommen zwar in der Regel noch freie Kost und Wohnung, auch einen Lohn, etwa 10 bis 15 Mark pro Monat. Von dem Lohne sind aber Hilfen, die sogenannten Wassermädchen, zu bezahlen. So sind auch die süddeutschen Kellnerinnen ganz überwiegend auf die Trinkgelder angewiesen, und diese Unsitte führt zu den gleichen bösen Folgen. Die Kellnerin muß mit ihrer Arbeit bis zu einem gewissen Grade auch ihren Körper zu Markte tragen. „Ter Kellnerinnenberuf," äußerte sich eine Münchener Kellnerin, „ist der schwerste und dabei der wenigst geachtete Beruf; daskommt davon, daß man keinen Gast auf die Hand hinaufschlagen kann, wenn er zudringlich wird." Und eine andere: „Es gibt einem oft einen Stich durchs Herz, wenn man belästigt wird, aber des Geschäfts­ halber darf man nicht grob sein, denn Gasi ist ©aft."12) Und dennoch, so gräßlich die äußeren Bedingungen für die Sittlich­ keit, für das Familienleben unserer arbeitenden Klaffen oft sein mögen, so erklärlich sie jede Rohheit, jede Ausschreitung dieser Kreise machen: immer noch steht ihre durchschnittliche Sittlichkeit überraschend hoch über dem Niveau der äußeren Bedingungen. So mächtig ist der sittliche Fonds in unserem Volke gewesen, so trefflich ist die Menschennatur, daß viele, deren Sinken nur allzu be­ greiflich wäre, sich noch immer tapfer zu behaupten verstanden haben. Zeder, der einmal einen Blick in das Leben unserer Arbeiterbevölkerung, geworfen hat, wird auf eine Fülle von rührenden Zügen, Zügen der Anhänglichkeit, der Hingebung, der Liebe und Treue gestoßen sein. Aber niemand kann verkennen, daß die Gefahren von Tag zu Tag. anschwellen. Das beweist schon das unheimliche Wachstum der Krimi­ nalität. Von 1882 — 1893 hat sich die Volkszahl im Deutschen Reiche um etwa 9 Proz. vermehrt. In demselben Zeitraume ist aber die Zahl der wegen Vergehen und Verbrechen gegen die Reichsgesetze Ver­ urteilten um 34 Proz. gestiegen, von 329 968 auf 430 403. Die Zahl der verurteilten jugendlichen Personen (der 12—18jührigen) ist sogar um 41 Proz. gewachsen, nämlich von 31000 auf 43 776.") Das Kapital von Sittlichkeit, das wir aus früheren Zeiten über­ nommen haben, schmilzt wie der Schnee unter dem Wehen des Föhns zusammen und wird einst geschwunden sein, wenn nicht bald ein Wandel erfolgt. Und doch wird durch die herrschenden Zustände nicht nur das Familienleben der arbeitenden Klassen, sondern auch dasjenige der oberen Gesellschaftsschichten gefährdet, jener Schichten, die in ihrer Mehrheit so-

Familienleben der „oberen Zehntausend".

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eifrig auf die Erhaltung alles Bestehenden bedacht sind. Diese Schädigung erfolgt auf zwei Wegen: einmal durch die Lebensweise, die der übermäßige Reichtum in gewissen Kreisen entwickelt hat, und dann durch den äußerst wirksamen Einfluß, den die sittliche Verwilderung der unteren Schichten des Volkes auf die besitzenden Klassen ausübt. Sehen wir uns also das Familienleben in den durch Besitz her­ vorragenden Kreisen ein wenig an. Sonder Zweifel bestehen viele Familien, in denen die Überlieferungen aus früheren, bescheideneren Zeiten noch mächtig sind, in denen sich ferner zum Besitz auch eine edle Gemütsbildung gesellt hat. Zhr Familienleben läßt nichts zu wünschen übrig. Allein kein scharfer Beobachter unserer Zeit wird leugnen, daß man oft auch traurigen, sehr traurigen Verhältnissen begegnet.") Der Herr des Hauses jagt trotz des bereits erlangten Überflusses von früh bis abends rücksichtslos und gierig dem Gelderwerbe nach; er hat keine Zeit für die Familie, kein Auge für die Erziehung seiner Kinder. Die geringe Zeit, die den Erwerbsintercssen entzogen wird, dient der sogenannten Geselligkeit, einer hohlen Repräsentation. Die vornehme Frau wird durch ein zahlreiches Dienstpersonal all' dessen enthoben, was früher das Leben einer deutschen Hausfrau erfüllte. Amme, Bonne, Gouvernante und Hofmeister sorgen für die Kinder, Haushälterin, Koch, Köchin, Zofen und Diener für das Hauswesen. Hat die Gnädige wirklich Talent für Musik, Malerei oder Litteratur, dann läßt sich diese Lebensweise vielleicht noch in mancher Hinsicht recht­ fertigen. Es kommt aber vor, daß des Geschickes Mächte wohl den äußeren Glanz, aber kein Talent gespendet haben. Da aber doch nicht die ganze Zeit mit Besuchen, Gesellschaften, Bällen, Konzerten, Theater, „Wohlthätigkeit" und anderem Sport und last not least Toilette­ sorgen vertändelt werden kann, so muß die Neigung zum Dilettiren geheuchelt werden. Denn in der Kinderstube oder im Hauswesen darf eine elegante Dame ihr Leben nicht verbringen. Vielleicht dämmert auch zuweilen diesen Herrschaften eine leise Ahnung davon, daß die Kinder unter der Aussicht einer tüchtigen Gouvernante, eines charakter­ vollen Hofmeisters noch eher gedeihen können, als wenn man die Er­ ziehung, die doch nur in eine Verziehung ausarten würde, selbst in die Hand nehmen wollte. So gelangen wir schließlich zu demselben Ergebnisse wie bei manchen Arbeiterfamilien: die Überweisung der Kinder an Fremde, in eine Anstalt, ist oft deren einzige Nettungsmöglichkeit.

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Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung.

Wenn aber auch der übermäßige Reichtum nicht so schwere sittliche Gefahren in sich bergen würde (und hier ist ja nur ein kleiner Teil davon angedeutet worden), die sittliche Verwilderung der arbeitenden Klaffen allein würde hinreichen, um schwere Schatten auch auf das Leben der übrigen Gesellschaft zu werfen. So ängstlich sie darauf be­ dacht sein mag, jeder Berührung mit den Volksmassen auszuweichen, der Einfluß macht sich doch geltend. Der Unternehmer braucht Arbeiter, die Hausfrau braucht Dienstboten. Weder Unternehmer noch Haus­ frauen werden leugnen, daß ihnen Arbeiter- und Dienstbotenfrage schon manche schwere Stunde bereitet hat. Weder Unternehmer noch Haus­ frauen werden in Abrede stellen, daß sie es lieber mit gesitteten, als moralisch verwilderten Leuten zu thun haben. Der sittlichen Beschaffen­ heit der Dienerschaft komnit um so größeres Gewicht zu, je mehr Kinderpflege und Kindererziehung ihnen überlassen werden. Mit diesem Hinweise sind die Einwirkungen noch lange nicht er­ schöpft. Verbrechen, Laster, Rohheit, wie sie sich aus der wirtschaftlich ungenügenden Lage des Volkes entwickeln, vergiften das Dasein der oberen Schichten auf Schritt und Tritt. In welchen größeren Städten dürfen unsere Frauen und Töchter, ungeachtet der unaufhörlichen Ver­ mehrung der Polizei, es denn noch wagen, ohne besonderen Schutz Parks und Waldungen zu besuchen? Und erst die Art und Weise, in der sich so manche der von unserer Wirtschaftsordnung mißhandelten und herabgedrückten Töchter des Proletariats an der vornehmen männlichen Zugend physisch und moralisch, natürlich unbewußt, rächt! Es kann hier auf eine nähere Darlegung verzichtet werden. Der Einfluß des Hinterhauses auf das Vorderhaus ist schon oft genug und von berufener Seite geschildert worden?) Es liegt wirklich eine tiefe Symbolik in bent Zwiegespräch, daß Henrik Zbsen in „Klein Eyolf" Alfred und Rita Allmers führen läßt: Allmers: Zm Grunde genommen haben wir nicht viel gethan für die armen Leute da unten. Rita: Gar nichts haben wir für sie gethan. Allmers: Wir haben kaum an sie gedacht. Rita: Niemals mit Teilnahme an sie gedacht. Allmers: Wir, die wir die „goldenen Berge" hatten. Rita: Unsere Hände waren ihnen gegenüber verschlossen, und unsere Herzen auch. Allmers: Da dürfen wir uns am Ende doch nicht darüber wundern, daß sie nicht das Leben aufs Spiel gesetzt haben, um klein Eyolf zu retten. —

Schädigung des Bildungswesens.

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Ich glaube, wir alle haben „klein Epolf's", die wir durch die Ver­ nachlässigung unserer sozialen Pflichten mit dem Untergange bedrohen. Auch die Wirksamkeit des Volksschulunterrichtes und die Pflege der Wissenschaft erleidet durch sozial ungünstige Verhältnisse manchen Schaden. Ungenügende Ernährung und Übermüdung durch lange Erwerbsarbeit oder weiten Weg zur Schule machen die Kleinen oft unfähig, etwas von denr dargebotenen Lehrstoff aufzunehmen. In Wien haben Erhebungen der Schulleiter vor einigen Jahren folgendes Ergebnis herbeigeführt: 119 Schulkinder erhielten kein Mittagmahl, 324 öfters kein Mittagmahl, 585 Schulkinder wiesen im allgemeinen Nahrungsmangel auf, 266 erhielten mittags nur ein Stück Brot, 184 Kinder ein kaltes Mittagmahl, 900 Kinder mittags nur Brot und Kaffee oder Gemüse. Im Jahre 1889 gab das Londoner Schulamt an, daß 44 000 Schulkinder oder 13 Proz. Hunger litten.16) Der Einfluß solcher Zustände auf die Volksbildung bedarf keiner ^Erläuterung. Aber auch die Wiffenschaft hat unter ihnen zu leiden. Die Leute, die heute als Studirende und Lehrer an unsere Hoch­ schulen gelangen, gehen mit verschwindenden Ausnahmen nicht aus den arbeitenden Klassen hervor. Ein in durchschnittlicher Lage befind­ licher Lohnarbeiter ist nicht im Stande, die Kosten zu erschwingen, die das akademische Studium seines Kindes erfordern würde. Der Ersatz­ bezirk für die Männer der Wissenschaft wird durch die sozialen Schranken ungebührlich eingeschränkt. Kaum ein Fünftel der Bevölkerung hat die äußere Möglichkeit, einen wissenschaftlichen Beruf zu ergreifen. So bleiben denn viele, die durch die Natur berufen wären, der Hochschule fern, während wieder viele ohne inneren Beruf, nur gefördert durch die sozial günstige Lage, die akademische Laufbahn einschlagen. Es wird also schon auf diese Weise die natürliche Auslese für die ge­ lehrten Berufsarten durch gesellschaftliche Einrichtungen in verhängnis­ voller Weise durchkreuzt. Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, daß bei der durch die gelehrten Körperschaften und Regierungen erfolgenden Auslese nicht selten Rücksichten konfessioneller, politischer und gesellschaft­ licher Natur eine ebenso große Rolle spielen, zuweilen sogar eine größere, als die auf wissenschaftliche Leistungen und wiffenschaftliche Befähigung.") Schlimmer als um die Pflege der Volksschule und der Wiffen­ schaft ist es mit der Litteratur bestellt, namentlich ihrem einflußreichsten Zweige, der Tagespresse. Ist der Zeitungsunternehmer ein Mann, der nach bestem Wiffen und Gewissen das Publikum so vollkommen wie nur möglich über den Gang der öffentlichen Angelegenheiten unterrichten will? Es gibt aller-

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Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung.

dings Zeitungsunternehmer, die ihre Thätigkeit nicht als ein Geschäfts sondern als ein hehres Amt im Dienste der Volksaufklärung auffassen. Zm allgemeinen aber würde man sich der Lächerlichkeit preisgeben,, wenn man an einen Zeitungsunternehmer solche Zumutungen stellen wollte. Die Zeitung ist ein Geschäft, ein kapitalistisches Unternehmen, so gut wie die Förderung von Kohlen oder die Fabrikation von Spiritus eins ist. Daraus ergibt sich, daß die Kosten möglichst herabzudrücken,, die Einnahmen möglichst zu steigern sind. Wahrhaft gebildete, schriftstellerisch begabte und unabhängig ge­ sinnte Männer werden sich nur schweren Herzens in ein solches Unter­ würfigkeitsverhältnis begeben, wie es heute viele Zeitungsverleger von ihren Redakteuren verlangen. Es füllt sich deshalb so manche Redaktions­ stube mit Leuten, die zu allem fähig sein mögen, nur nicht dazu, dem Volke eine wirklich gesunde Geisteskost darzubieten. Wozu soll sich auch der Unternehmer den unbequemen Bedingungen unabhängig gesinnter Journalisten unterwerfen? Man kommt auch ohne sie aus. Einige Spalten der Zeitung werden mit bloßem Nachdrucke, ein anderer Teil wird mit der von Korrespondenz-Unternehmungen aufs billigste ge­ lieferten Ware ausgefüllt. Das Publikum, selbst das besitzende und gebildete, ist ja bei uns in Bezug auf seine politische Geistesnahrung, so überaus bescheiden. Leute, die im übrigen das Geld mit vollen Händen geradezu zum Fenster hinauswerfen, Leute, die den höchsten Bildungsschichten angehören, wählen zuweilen einfach diejenige Zeitung, die am wenigsten kostet. Nun kommt cs aber noch darauf an, die Einnahmen möglichst zu erhöhen, also zunächst viele Abonnenten zu gewinnen. Für diesen Zweck gibt es bewährte Mittel. Man trägt den sozialen, nationalen und politischen Vorurteilen derjenigen Kreise, auf die man spekulirt, im ausgedehntesten Maße Rechnung. Man wiederholt dasjenige, was die Abonnenten gerne hören, man verschweigt, was ihnen unangenehm sein könnte. Man stellt die Gesinnung der Abonnenten als die allein ver­ nünftige, besonnene, würdige, weise, objektive, patriotische hin. Mit Recht konnte Ibsen sagen, viele Zeitungen werden heute von den Abon­ nenten redigirt, von ihren Käufern. Der Abonnentenfang wird übrigens keineswegs nur uin der Abon­ nenten selbst willen betrieben. Man legt nur deshalb Wert auf eine große Auslage, um möglichst viele Inserate zu bekommen. Zn diesen liegt die eigentliche Goldgrube. Die unverschämteste Reklame, ärztliche Charlatanerie, ja Kuppelei dürfen sich im Inseratenteile mancher unserer großstädtischen Organe ungestört breit machen. Non ölet! Dieser Satz.

27

Kapitalismus, Tagespresse und Theater.

"

gilt hier mehr als irgendwo. Ein österreichischer Unterrichtsminister hat deshalb das Verbot erlaffen, daß Schulbücher in Zeitungspapieir eingeschlagen werden. Den metallenen Glanzpunkt aber bilden die Beziehungen der Tages­ presse zu den Größen der Hochfinanz.

Man

erinnert

sich

noch des

schamlosen Treibens der Pariser Presse, das durch die Panama- und andere Enthüllungen weiteren Kreisen bekannt geworden ist.

Damals­

beklagte sich ein großes Pariser Journal nicht etwa darüber, daß ihm Käuflichkeit vorgeworfen worden war, nein, sondern darüber, daß man geglaubt hatte, es sei so billig zu haben gewesen.

Es mag bei uns ja

etwas besser als in Frankreich, Oesterreich oder Amerika sein.

Aber

eine Gründerpresse ist auch bei uns nicht unbekannt, das System der Zeitungsbeteiligungen ist auch bei uns ausgeübt worden.

Prof. Wuttke

hat einst über unsere Preßzustände ein Werk veröffentlicht, das zwar viel geschmäht, aber leider nicht widerlegt worven ist.18) Den populärsten Zweig der Litteratur stellt die Tagespreffe dar;, den populärsten Zweig der Kunst das Theater. Die Verheerungen, die der Kapitalismus anrichtet, sind hier nicht geringer als dort. das Theater wird von den Abonnenten geleitet.

Auch-

Welchen Kreisen diese

angehören, ist bekannt. Es wird ganz vorwiegend dem Geschmacke der besitzenden Klassen Rechnung getragen. Dieser Geschmack ist, wie die Erfahrung genugsam zeigt, durchaus nicht überall der beste.

Ein großer

und für die Kassenerfolge maßgebender Teil des Publikums geht ja nicht eines Kunstgenusses wegen ins Theater. Das Theater bildet eine Zerstreuung, nachdem des Tages Treiben verbraucht hat, was au geistiger Kraft vorhanden war. Das Ronacher- und Apollotheater in Berlin und die zahlreichen ähnlichen Unternehmungen anderer Städte beweisen im Vereine mit den fabelhaften

Erfolgen

gewiffer platter

Schwänke, Operetten und Ballets, ich nenne nur Charley'S Tante, aufsdeutlichste, welche Fähigkeiten unsere Großstädter im allgemeinen noch ins Theater mitbringen.

Weil das Leben ihre Kraft völlig verbraucht,,

darf ihnen als Erholung nur das geboten werden, dessen Aneignung keine Kraft mehr beansprucht. Die Nerven, durch Not und Sorge des Tages erschöpft, reagiren auf keine Reize mehr, außer auf die des Lichtes und der Farbe, der leichten Musik, kurz, die der gewöhnlichsten Sinnlichkeit. Das Theater ist ein Geschäft, gerade so wie das Zeitungsunternehmen.

Es wird, wie ein. neuerdings vielgenannter Schriftsteller^")

bemerkt, von einem Kapitalisten für Kapitalisten sirter Dichter und Schauspieler betrieben.

mit Hilfe proletari-

„Man begründet ein Theater,

wie man ein Grundstück kaust oder ein Haus erbaut, mit der Hoffnung

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Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung.

auf kommende Käufer. Und wenn Schiller e§ einst beklagte, daß gar zu oft die Schlachtopfer der Wollust von den Töchtern der Wollust gespielt würden, so sind wir heute bereits so weit, daß nicht der vierte Teil sämmtlicher Schauspielerinnen von ihrem Gehalte die Ansprüche der Direktoren an Toilette und Schmuck befriedigen kann.... Die Frage nach dem Talent kommt kaum noch in Betracht; die wichtigsten Fragen an die Agenten lauten: ,Ist sie hübsch?" und ,Hat sie was an­ zuziehen?" Eine bürgerlich ehrbare Schauspielerin wird von dem Normaldirektor mit äußerster Geringschätzung behandelt: sie ist auf ihre Gage angewiesen, sie muß sich drücken lassen, sie ist nicht „pikant", und ihr zu Liebe versammelt sich in den Logen nicht die goldene Bankjugend". Und wenn die eben berührten Schäden an Hof- und Stadttheatern geringer sind, so treten hier wieder die Rücksichten auf den politisch und sozial korrekten Inhalt der Stücke umsomehr in den Vordergrund. Ich erinnere an die Schicksale, die Hauptmann's „Weber", Fulda's „Verlorenes Paradies", „Sklavin" und „Talisman", Zbsen's „Ge­ spenster", Hartlebens „Hannah Zagert" erlitten haben. Und dabei ist das Publikum zuweilen noch ängstlicher und engherziger als selbst Stadträte und Intendanten. Vor mehr als 110 Jahren las Friedrich Schiller in einer öffent­ lichen Sitzung der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim eine Abhandlung vor: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. Er sagte da unter anderem: „Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchem von dem denkenden, besseren Teile des Volkes das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in mildern Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Nichtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volkes." Diese Worte würden, heute ausgesprochen, die blutigste Satire auf unsere Zustände bedeuten. Von dem „Lichte der Weisheit"", das viele unserer Theater ausströmen, ist bereits die Rede gewesen. Zum Glücke sorgen unsere sozialen Verhältniffe wenigstens dafür, daß dieses Licht „in mildern Strahlen" nicht noch „durch den ganzen Staat sich verbreitet". Den Volksmaffen ist unser Theater ja so gut wie verschlossen. Die Zahl der Plätze, deren Preise Lohn­ arbeitern erschwinglich wären, ist äußerst beschränkt, und dann be­ ginnen die Vorstellungen in der Regel schon vor dem Schluffe der täglichen Arbeitszeit, selbst die sogenannten „Volksvorstellungen"" zu ermäßigten Preisen. Wo alles leidet, kann auch die bildende Kunst nicht verschont bleiben?') „Die besten Vorbedingungen für Kunstempfänglichkeit"",

29

Kapitalismus und bildende Kunst.

bemerkt Walter Grane sehr richtig, „bietet eine einfache gesunde Lebens­ führung, die nicht abgestumpft ist durch überangestrengtes Arbeiten und nicht degenerirt ist durch das ewige Hasten nach Geldgewinn." Diese Vorbedingungen werden aber durch die heutigen Verhältnisse nur in sehr beschränktem Ausmaße geliefert.

Die kleine

Schar derjenigen,

deren Zahlungsfähigkeit für Kunstwerke höheren Stiles ausreicht,

hat

nur zu oft auf der Geldjagd und in einem sybaritischen Luxus das Empfinden für echte große Kunstübung verloren. lichen Aufgaben fehlt es ebenfalls bei uns.

An großen öffent­

Wir haben ja kein großes

öffentliches Volksleben und müssen überdies

stets

fürchten,

daß das

Wenige, was davon etwa vorhanden ist, mit der Wurzel ausgerottet wird. Unsere öffentliche Kunst hat überwiegend politischen und höfischen Znteressen zu dienen.

Stellt aber eiimtat ein Privatmann der Kunst

edle, große Aufgaben, dann gehen die so hervorgerufenen Werke doch in der Regel für das Publikum verloren. eleganten Villa oder

Sie verschwinden in einer

einem hochrageilden Schloße.

Wir haben

in

Deutschland ja nur einen Grafen Schack besessen. Die notwendige Rücksicht auf die kapitalistischen oder höfischen Konsumenten der Kunst engt das Schaffen des Künstlers in ungebühr­ licher Weise ein.

Ein Geheimer Kommerzien- oder Finanzrat wird ein

Bild nickt ankaufen, das etwa eine Arbeiterversammlung, eine Arbeits­ einstellung, das Elend einer Arbeiterwohnung, einer Werkstätte u. dgl. m. packend zur Darstellung bringt. Vor einigen Zähren zeigte die Kunst eine gewisse Neigung zur Wahl sozial bedeutsamer Sujets; ich erinnere an Achille d'Orsi's Bronze „Proximus tuus“, Meunier's „Heimkehrende Bergleute", Emil Schwab's „Arbeiter-Ausschuß". Neuerdings ist da­ von weniger zu merken. Die Kunst muß eben heute mehr denn je nach Brot gehen. Das sagt alles. Schon vor Zähren empörten sich, wie Gustav Schmoller^) einmal bemerkt, alle edleren Künstlernaturen über die Geschmacklosigkeit, mit der jene Emporkömmlinge der Börse, jene überrasch reich gewordenen Industriellen die Bilder nach der Elle, nach der Eitelkeit, nach dem Maße der angebrachten Nuditäten kaufen. Und diese Klagen haben ihre Berechtigung noch nicht ganz verloren. Es ist charakteristisch für unsere Zeit, daß am meisten das Portrait und die Landschaft gepflegt werden.

Das Portrait dient teilweise der

Eitelkeit, und die Landschaftsmalerei erfreut sich des großen Vorzuges, wahr sein zu können, ohne jemanden zu verletzen. die Musik des sozialen Momentes.

Sie

entbehrt wie

Darin liegt in einer sozial so zer­

klüfteten Epoche wie der unseren ihre Stärke.

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Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung.

Ich wende mich den politischen Gefahren zu. Wie die wirtschaftlichen Entwicklungsstufen der Haus- und Stadt­ wirtschaft ihren politischen Ausdruck in der ständischen Gliederung fanden, so schuf der Übergang von der Stadt- zur Volks- und Welt­ wirtschaft allmählich den politischen Liberalismus.^) Zn ihm versuchte zunächst das Handel- und gewerbetreibende Bürgertum, dem die städtische Autonomie eine wirksame Wahrnehmung seiner über das städtische Weichbild bereits weit hinausragenden Interessen nicht mehr darbot, einen gewissen Anteil an der emporkommenden oder emporgekommenen modernen Territorialgewalt zu erringen. An und für sich mußte der Wunsch, an der Bestimniung des Staatswillens teilzunehmen, umso lebendiger auftreten, je zahlreicher und wichtiger die wirtschaftlichen Angelegenheiten wurden, die in Folge der aus wirtschaftlichen uyd politischen Gründen eingetretenen Verwaltungs-Zentralisation ihre Ent­ scheidung von Seiten der Staatsregierung fanden, und je kräftiger noch kleinbürgerliches Zunftwesen und adeliger Feudalismus sich den Inter­ essen von Handel und Industrie zu widersetzen vermochten. Zeigte in­ des eine die Absolutie anstrebende Staatsgewalt Verständniß für die wirtschaftlichen und geistigen Interessen des emporstrebenden Bürger­ tumes, war ein Land wirtschaftlich nicht homogen entwickelt, lagen neben industriell vorgeschrittenenen Gebieten auch noch weite Strecken natural­ wirtschaftlich-agrarischer Natur, schloß also eine den Ideen des politi­ schen Liberalismus entsprechende Volksvertretung die Gefahr einer Majorisirung der wirtschaftlich höher entwickelten Gebiete durch solche eines zurückgebliebenen Wirtschaftslebens ein, dann konnten die politi­ schen Interessen des Bürgertumes gar wol mit denen des aufgeklärten Despotismus zeitweise Hand in Hand gehen, wie in Frankreich unter Colbert, in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen, in Oesterreich unter Karl VI., Maria Theresia und Josef II. und noch heute in Rußland. Wo die genannten Voraussetzungen aber nicht zutrafen, wie zuerst in den Niederlanden, in England, später auch in Frankreich und auf deutschem Boden, da bildete sich die geordnete Teilnahme an der Staats­ gewalt geradezu zu einer Lebensfrage für die emporstrebenden Kreise des Bürgertumes aus. Die politischen Theorien,^) welche diesem Bedürfnisse ihre Ent­ stehung verdanken, lassen die Blutsverwandtschaft mit dem Grund­ gedanken des wirtschaftlichen Liberalismus nicht verkennen. Auch auf politischem Gebiete geht man auf das Natürliche zurück, auf das Recht, bas mit dem Menschen geboren wird. Man verwirft zunächst alle

Grundgedanken des politischen Individualismus.

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überlieferten Obrigkeiten, man denkt sich Recht und Staat weg, als bestünden sie nicht, und prüft, ob in der eigenen menschlichen Natur Grund und Notwendigkeit dafür zu finden ist, daß sie bestehen. Und nur soweit man dies findet, erkennt man sie als vernünftig und not­ wendig an. So wird die Lehre vom Naturstande, vom Staatsvertrage, vom Naturrechte ausgebildet. Der Natursiand ist der Zustand ohne Gesetz, ohne Regel und Obrigkeit. Es herrscht völlige Ungebundenheit des Menschen, und alleir ist alles erlaubt. Die unbegrenzte Freiheit aller vernichtet aber die Freiheit aller. Der Mensch findet deshalb in seiner eigenen Natur das Vernunstgebot, ein jeder müsse seine Freiheit so weit einschränken, daß die der andern daneben bestehen kann. Die Menschen anerkennen gegenseitig die Unverletzlichkeit ihrer Personen, sie gestehen einander Mein und Dein zu. Sie schützen das Eigentum und die Verbindlich­ keit der Verträge. Zum Schutz mm Person, Eigenthum und Vertragssreiheit wird eine ordnende Macht, die Staatsgewalt, bestellt. Sie leitet ihre Befugnisse von der Einwilligung der Regierten ab. Kein Mensch kann eine Gewalt über andere haben, wenn diese sie ihm nicht übertragen haben. Es gibt keine Gewalt aus eigenem Ansehen, es gibt nur eine vertragsmäßig eingeräumte Gewalt. Da die Staats­ gewalt aber nur eingesetzt worden ist zur Sicherheit und Freiheit der Menschen, so widerstreitet sie ihrem Zwecke und verliert die Existenz­ berechtigung, wenn sie in Willkür sich verwandelt und die Freiheit unterdrückt. „Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden. Wenn unerträglich wird die Last — greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew'gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst — Der alte Urständ der Natur kehrt wieder. Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht — Zum letzten Mittel, wenn kein anderes mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben — Der Güter höchstes dürfen wir vertheid'gen Gegen Gewalt. — Es sind das dieselben Gedanken, welche die Niederländer erfüllten, als sie sich gegen Philipp von Spanien erhoben, welche die Engländer zur Vertreibung des Hauses Stuart bestimmten, mit welchen die Nordamerikaner ihre Unabhüngigkeitserklärung begründeten.^)

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Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung.

„Wir erachten es", heißt es da, „als selbstoffene Wahrheit: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewiffen unveräußerlichen Rechten begabt sind; daß zu diesem Leben Freiheit und das Streben nach Glück gehöre. Daß, diese Rechte zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingesetzt sind, welche ihre gerechten Befugnisse von der Einwilligung der Negierten ableiten; daß, so oft eine Regierungsform gegen diese Ziele zerstörend wirkt, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern und abzuschaffen, eine neue Re­ gierung einzusetzen und sie auf solche Grundsätze zu bauen, ihre Befugniffe solcher Gestalt einzurichten, als ihm am meisten geeignet scheint, seine Sicherheit und sein Glück zu bewirken." Und noch in unserem Zahrhunderte findet sich ein mehr oder minder blasser Abglanz dieser Zdeen in denjenigen Verfassungen, die unter dem Eindrücke bürgerlich-revolutionärer Bewegungen zu stände gekommen sind. Dieser politische Liberalismus sprach vom Menschen schlechthin. Er gab sich nicht als die politische Philosophie einer bestimmten Klaffe, sondern als die des ganzen Volkes, der ganzen Menschheit, nach Abzug der Privilegirten. Er mußte auch wirklich versuchen, das ganze Volk um sein Banner zu scharen, wenn er den Kampf mit dem fürstlichen Absolutismus oder den alten feudalen und kirchlichen Mächten erfolg­ reich aufnehmen wollte. Zn einen verhängnisvollen Widerspruch zu seinen eigenen Grund­ gedanken geriet aber der politische Liberalismus, sobald er gesiegt hatte, sobald ihm politische Macht zugefallen war. Run galt in der Regel nur derjenige, der eine, wenigstens für die äußerliche Betrachtung, selbständige wirtschaftliche Stellung inne hatte, als Voll- oder Aklivbürger. Man knüpfte das Stimmrecht an den Nachweis eines gewissen Eigentums, oder an die Zahlung einer direkten Steuer, der ein Besitz oder selbständiges Geschäft zu Grunde lag. Der Geselle bei dem Kaufmanne oder Handwerker, der Dienstbote, überhaupt jedermann, der, wie ßcmt26) ausführte, „nicht nach eigenem Triebe, sondern nach der Verfügung anderer genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten", entbehrte der bürgerlichen Persön­ lichkeit. Vielfach war es nur durch solche Beschränkungen möglich, die liberalen Errungenschaften gegenüber noch ungebildeten, von Gegnern der neuen Ordnung beherrschten Volksmaffen aufrecht zu erhalten. Auch brauchte die Einschränkung des Wahlrechtes als besondere In­ konsequenz oder empfindlicher Nachteil nicht zu gelten, so lange die

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Kapitalistischer Liberalismus.

Zahl der sogenannten selbständigen Existenzen einen großen Bruchteil des Volkes ausmachte, und für die meisten Gesellen und Dienstboten noch die begründete Aussicht bestand, in nicht zu ferner Zeit zu wirt­ schaftlicher Selbständigkeit zu gelangen, d. h. also so lange noch Hand­ werk, Hausindustrie, mittel- und kleinbäuerlicher Betrieb und Klein­ betrieb des Detailhandels vorherrschten. Zn dem Maße aber, als der Großbetrieb die selbständigen kleinen Existenzen verminderte und immer zahlreichere Gesellschastsschichten entwickelte, deren Lebensführung auf Löhnen, Honoraren und Gehalten begründet ist, gingen die Voraus­ setzungen des alteil politischen Liberalismus verloren. Auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete ist der Liberalismus in eine schwere Krise dadurch gerathen, daß, nicht am welligsten durch ihn selbst bedingt, in dem Wirtschaftsleben eine ungeheure Umwälzung sich vollzog. Da­ durch verloren die überlieferten äußeren Formen des Liberalismus ihre Berechtigung. Es schien aber im nächsten Interesse des höheren Bürger­ tums zu liegen, diese überlebten Formen zu erhalten anstatt, unter Berücksichtigung der veränderten wirtschaftlichen Grundlage, aus den Kerngedanken des Liberalismus neue Formen schöpferisch zu gestalten. So wurde der politische Liberalismus gar mancherorts zu einer Kari­ katur, ja er artete zu einer drückenden Klassenherrschaft bürgerlicher und feudaler Kapitalisten aus. Immerhin hat der politische Liberalismus auch in dieser Entstellung noch manches Gute geschaffen. Die Pflege der Justiz und des öffentlichen Unterrichtes, der Finailzverwaltung und Wohlfahrtspolizei im Staats- und Gemeindeleben hatten manchen Fort­ schritt aufzuweisen. Allein solche Vorteile konnten die politisch rechtlosen Klaffen umso­ weniger auf die Dauer mit diesem kapitalistischen Liberalismus versöhnen, als sich die Beschränkung der Staatsthätigkeit auf den Rechtsschutz, wie sie ursprünglich dem politischen Liberalismus vorschwebte, als unausführ­ bar erwies. Die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit des Einzelnen von dem Ganzen und seinen Organen war trotz des Liberalismus überall gewachsen. Die allgemeine Schul- und Wehrpflicht, die steigenden Steuerlasten, die zahlreichen Eingriffe des Staates und der kommunalen Körper in das wirtschaftliche und soziale Dasein brachten diese Ab­ hängigkeit auch dem letzten Einwohner des Landes zu immer deutlicherem Bewußtsein. Die vom Wahlrecht ausgeschloffenen Volksmaffen fanden auf Seiten der herrschenden Klaffen oft nur taube Ohren für ihre Interessen und Beschwerden. Je weniger sie in der Politik mitzu­ sprechen hatten, umso ungenirter konnten ihnen die Kosten der Politik, die Blut- und Geldsteuern zugewälzt werden, und der Ausbeutung Herkner, Die Arbeiterfrage. 2. 2(ufl.

q

34

Die kulturellen u. politischen Gefahren der geltenden Wirtschaftsordnung.

der arbeitenden Klassen durch den keine wehrende Schranke gezogen.

Grund-

und Kapitalbesitz

wurde

Za der vom Klassenregimente ent­

artete Liberalismus gewährte den arbeitenden Klaffen nicht nur keinen Schutz, er versuchte sogar, ihnen die im wirtschaftlichen und politischen Liberalismus liegenden Mittel zu ihrer Erhebung (die Koalitions- und Affoziationsfreiheit, die Vereins-, Preß- und Versammlungsfreiheit) vor­ zuenthalten oder sie derselben zu berauben. Aber wenn die Beschränkung des Wahlrechtes auf die Besitzenden zur Klassenherrschaft des Besitzes führt, wird nicht eine Ausdehnung der politischen Rechte auf das ganze Volk zur Klassenherrschaft der Besitzlosen über die Besitzenden führen? Wie frühere Untersuchungen

gezeigt haben, werden die Armen

zwar unter dem Walten der heutigen Wirtschaftsordnung nicht ärmer, sie nehmen innerhalb gewisser bescheidener Grenzen sogar teil an der Steigerung des Volkseinkommens, aber in den oberen Einkommensstufen fallen die Fortschritte unverhältnismäßig größer aus. Nicht bei den mittleren Klassen ist die stärkste Attraktionskraft zu finden, sondern es bestehen zwei Attraktionszentren, von denen das eine zur Zeit noch ein wenig unter, der andere erheblich über dem Niveau des Mittelstandes liegt. Es tritt somit ein Widerstreit zwischen den Tendenzen der wirt­ schaftlichen und politischen Entwickelung auf: wachsende wirtschaftliche und soziale Differenzirung und immer stärkerer Drang nach Erreichung gleicher politischer Rechte. Vergegenwärtigt man sich noch dasjenige, was ftüher über die Einwirkungen der gegenwärtigen Erwerbsverhältniffe auf die weltliche und geistige Kultur angeführt wurde, so liegt der Ernst der Lage nach allen Seiten offen zu Tage.

Anmerkungen. 1. Vgl. auch Tönnies, 15 Thesen über die Erneuerung des Familienlebens in:

Die Eisenacher Zusammenkunft zur

Bewegung.

Berlin 1894.

Förderung und Ausbreitung der ethischen

S. 268 f.

2. Umlauft, Die österr.-Ungar. Monarchie. 2. Auflage. 3. de Laveleye,

Wien 1883. S. 499 f.

Das Ureigentum, deutsch von K. Bücher.

Leipzig 1879.

S. 375. 4. Oesterreichische Statistik XXXI. Band, 3. Heft.

Wien 1892.

S. V.

Anmerkungen.

35

5. Vgl. Die gewerblich-sittlichen Verhältnisse der evangelischen Landbewohner I. Band Ostdeutschland, bearbeitet von Pastor H. Witten6erg und Pastor Dr. E. Hückstädt. Leipzig 1895, und Pastor H. Wittenberg, Was kann in sozialer Beziehung zur Hebung der Sittlichkeit auf dem Lande ge­ schehen? Göttingen 1896. S. 103 105, 108, 112, 113, 115, 121 (Die Zukunft der Landbevölkerung von H. Sohnrey 1. Bd., 3. Heft). 6. v. d. Goltz, Die ländliche Arbeiterklaffe und der preußische Staat. Zena 1893. S. 134. 7. Sombart, Die Hausindustrie in Deutschland. A. f. s. G., IV. S. 103 f. 8. Wörishoffer, Vorstand der Großh. Bad. Fabrikinspektion, Die soziale Lage der Fabrikarbeiter in Mannheim. Karlsruhe 1891. S. 208. 9. Belege für die vorausgegangene Darstellung sind in den zahlreichen amtlichen und privaten Arbeiten über die Zustände der Industriearbeiter zu finden, insbe­ sondere für England in Engels, Lage der arbeitenden Klassen in England, 2. Auflage. Stuttgart 1892, und in den zahlreichen Blaubüchern über Kinder­ arbeit, Frauenarbeit, Bergwerksverhältnisse u. s. w.; Booth, Life and Labour of the people in London. Bis 1896 7 Bände; für Frankreich: Villerme, Tableau -de l’etat physique et moral des ouvriers employes dans les manufactures de coton, de laine et de soie. 2 Bde. 1838; für Deutschland: Thun, Die In­ dustrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. Leipzig 1879; Herkner, Die oberelsässische Baumwollindustrie und ihre Arbeiter. Strahburg 1887; Göhre. Drei Monate Fabrikarbeiter. Leipzig 1891; Die Not des vierten Standes, von einem Arzte. Leipzig 1894; für Oesterreich: Braf, Studien über nordböhmische Arbeiterverhältnisse. Prag 1881; Singer, Untersuchungen über die sozialen Zu­ stände in den Fabrikbezirken des nordöstlichen Böhmen. Leipzig 1885. 10. Frau Dr. Minna Wettstein-Adelt, 3V2 Monate Fabrikarbeiterin. Berlin 1893;Benoist, Les ouvrieres de Vaiguil!eäParis Paris 1895; Olberg, Oda, Das Elend in der Hausindustrie der Konfektion. Leipzig 1896; Gnauck-Kühne, Schutz der Arbeiterinnen gegen sittliche Gefahren. S. P. S. C., V. 26; Die­ selbe, Die Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papierwaren-Jndustrie. I. f.G. V. 20 Vd., S. 432 f. 11. O. v. Leixner, Soziale Briefe aus Berlin. Berlin 1891. S. 67 f. 12. Cohen, Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Münchener Kellnerinnen. A. f. s.G., V. S. 97. 13. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. XVI. Berlin 1895. 14. Vgl. z. B. v. Leixner, Plauderbriefe an eine junge Frau. Leipzig 1890. S. 158 f. 15. Z. B. in Sudermann's „Ehre". 16. Flurs che im. Der einzige Rettungsweg. 3. Auflage. Dresden 1894. S. 295; Brückner N., Erziehung und Unterricht vom Standpunkte der SozialPvlitik. Berlin 1895. S. 100 f. 17. Die akademische Laufbahn und ihre ökonomische Regelung. Berlin 1895. S. 58. 18. Wuttke, H., Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. 5. Auslage. Leipzig 1875; Mehring, F., Der Fall Lindau. Berlin 1890; Derselbe, Kapital und Presse. Berlin 1891; Harden, M., Apostata N. F. Berlin 1892. S. 25 f., 53 fv 194 f.

im Deutschen Reiche.

36

Die kulturellen u. politischen Gefahrm der geltenden Wirtschaftsordnung.

19. Liesegang, Infelices possidentes. Die Zukunft (M. Harden). 3. Bd^ Nr. 28; Schönbach, Über Lesen und Bildung. 5. A. 1897. S. 1-29. 20. Harden, M., Die Zukunft. 2. Bd. Nr. 15. Vgl. auch Lorenz, S., Di^ Prostitution in der Kunst. N. Z. XI, S. 375 f. 21. Crane, Walter, Kunst und Volkstum. Die Kunst für Alle. X: S. 296 fv 312 f., 330 f., 346 f.; Reich, E., Die bürgerliche Kunst und die besitzlosen Volksklafsen. Leipzig 1892; Burckhard, Aesthetik und Sozialwiffenschaft. Stuttgart 1895. (Die Kunst und die soziale Frage.) 22. Schmoll er. Über einige Grundfragen des Rechtes und der Volkswirt­ schaft. 2. Auflage. Jena 1875. S. 111. 23. Vgl. Bücher, K., Die Entstehung der Volkswirtschaft. Tübingen 1893. S. 67 ff.; Herkner, Sozialreform und Politik. Z. f. St. W. LI. S. 575 ff. 24. Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. Berlin 1863. S. 1—99. 25. Lieber, Über bürgerliche Freiheit. Heidelberg 1860. S. 410. 26. Kant's Sämmtliche Werke (G. Hartenstein). 7 Bd. Leipzig 1868Metaphysik der Sitten. I. Teil. S. 132.

Drittes Kapitel.

Die Gewerkvereinsbewegung. Die schweren Nachteile, welche freier Wettbewerb und kapitalistische Produktionsweise der Arbeiterklaffe zufügten, mußten frühzeitig zu kräftigen Reaktionen führen. Durch engen Zusammenschluß und ein­ heitliches, planmäßiges Vorgehen haben die wirtschaftlich Schwachen versucht, ihre Stellung zu befestigen. Sofern solche Vereinigungen von Lohnarbeitern ausgehen, einen dauernden Charakter besitzen und der Aufrechterhaltung oder Verbefferung der Arbeitsbedingungen dienen, pflegen sie als Gewcrkvereine (Gewerkschaften, Fachvereine, Berufs­ vereine) bezeichnet zu werden. Entsprechend der Thatsache, daß die wirtschaftliche Umwälzung sich auf englischem Boden am frühesten vollzogen hat, haben diese Vereinigungen auch in England bis jetzt ihre vollkommenste Ausbil­ dung erreicht. Englische') Erfahrungen sind es vor allem, die hier angezogen werden müssen, wenn man eine zutreffende Vorstellung von der Leistungsfähigkeit und Tragweite der Gewerkvereine gewinnen will. Die Gewerkvereine hatten auch in England ursprünglich mit den größten gesetzlichen Hindernissen zu kämpfen. Das gemeinsame Vor­ gehen (Koalition) der Arbeiter in bezug auf die Festsetzung des Arbeitsverhältniffes war mit strengen, fast drakonischen Strafen bedroht. Diese Verbote waren aus der Auffassung hervorgegangen, daß der Staat selbst das Recht habe, das Arbeitsverhältnis zu regeln. Versuchten nun Arbeiter durch verabredete Arbeitsverweigerung einen Druck gegen­ über dem Unternehmer auszuüben, so erschien das als eine Auflehnung gegen die vom Staate getroffene Ordnung der Arbeitsbedingungen. -Eine Auflehnung gegen sich selbst konnte der Staat nicht dulden. Nun kam aber in England gegen das Ende des vorigen Zahrhunderts die Bestimmung des Arbeitsverhältniffes durch staatliche Beamte (Friedensrichter) thatsächlich immer mehr und mehr außer

Die Gewerkvereinsbewegung.

38 Übung.

Im Interesse der emporstrebenden Großindustrie und der von

ihr getragenen modernen Fabrikantenklasse wurde vom Parlamente die Freiheit des Arbeitsvertrages anerkannt.

Dessen ungeachtet blieben

die alten Koalitionsverbote nicht nur weiter bestehen, sie wurden sogar 1799

noch aufs äußerste verschärft.

galt jetzt freiheit.

als

Die Koalition der Lohnarbeiter

eine Beeinträchtigung

des Grundsatzes der

Gewerbe­

Nach den zur Herrschaft kommenden liberalen Theorieen sollte

das Wirtschaftsleben lediglich Individuen beruhen.

auf der

isolirten Aktion der einzelnen

Allerdings hielt man an diesem

atomistischen

Liberalismus nur dann fest, wenn es sich um Arbeiter handelte.

Ganz,

offen wurden von Unternehmern Verabredungen zur Herabsetzung der Löhne eingegangen, ohne daß sie gerichtlichen Verurteilungen ausgesetzt worden wären. Derartige Ungerechtigkeiten mußten

den Haß der Arbeiter gegen

die herrschenden Gesellschaftsklassen und die von ihnen liche Ordnung

auf das äußerste

entflammen.

gestützte staat­

Oft genug kam es zu

blutigen Gewaltakten. Es gelang den Koalitionsverboten übrigens auch nicht, die Koalitionen der Arbeiter wirklich zu beseitigen.

Im geheimen blieben die Verbin­

dungen bestehen. Unter fürchterlichen Schwüren zu unverbrüchlicher Ge­ heimhaltung und unbedingtem Gehorsam gegen die Führer erfolgte die Aufnahme neuer Mitglieder.

Eine unverantwortliche, gemeinschädliche

Despotie der Gewerkschaftshäupter war die nothgedrungene Folge. Einige Radikale wie Hume, McCulloch und Place verbanden sich deshalb zu dem Zwecke, die Abschaffung der Koalitionsverbote durchzusetzen. Der Einfluß der Führer, schrieb Place, würde bald aufhören, wenn das Gesetz aufgehoben würde. „Es ist das Gesetz und nur das Gesetz, das die Leute veranlaßt, Diejenigen,

ihren

Führern

dieses

Vertrauen

welche die Leitung in der Hand haben,

zn

schenken.

sind der Masse

nicht bekannt, und nicht ein Mann unter zwanzig kennt vielleicht die Person irgend eines Leitenden. Es ist Regel unter ihnen, keine Fragen zu stellen und eine

andre Regel unter denen, die das meiste wissen,

entweder, wenn gefragt, keine Antwort oder eine irreführende Antwort zu geben." zu

Und

an anderer Stelle:

existiren aufhören.

Arbeiter während

Rur durch

„Die Koalitionen werden bald

den Druck der Gesetze sind die

langer Perioden zusammengehalten worden; wenn

diese Gesetze abgeschafft sein werden, werden die Koalitionen den Stoff verlieren, der sie zur festen Masse zusammenkittet."

(Webb.)

Dem außerordentlichen parlamentarischen Geschicke der genannten Männer gelang es in der That, 1824 die Abschaffung der Koalitions-

Gewährung der Koalitionsfreiheit in England.

39

Verbote gewissermaßen durch die gesetzgebenden Körper zu schmuggeln. Die nächste Folge war aber nicht die, welche man erwartet hatte. Im Gegenteile, die Koalitionen breiteten sich rasch noch weiter aus. Die Unternehmer, dadurch erschreckt, versuchten nun die Verbote wieder ein­ zuführen. Allein, wenn die Arbeiter auch nichts gethan halten, um die Koalitionsfreiheit zu erobern, so waren sie nun doch fest entschlossen, sie ausrecht zu erhalten. Von der Wiedereinführung waren ernste re­ volutionäre Bewegungen zu befürchten. Das neue Gesetz von 1825 ließ das Recht des gemeinsamen Vorgehens der Arbeiter beim Abschlüsse des Arbeitsvertrages bestehen und bedrohte nur die Anwendung von Gewalt und Einschüchterungsmitteln mit Gefängnißstrafen. Damit hatte man den Berufsvereinigungen der Arbeiter einen ge­ wissen Spielraum zugestanden. Ursprünglich gehörten zu einem Vereine nur die Arbeiter, welche an demselben Orte derselben Beschäftigung oblagen. Die Gewerkvereine, wie man diese Organisationen zu nennen pflegte, stellten also lediglich örtliche Verbände dar. Ihre Aufgabe bestand in der Unterstützung arbeitsloser Mitglieder, mochte diese Arbeits­ losigkeit durch eine Krise, durch Arbeitseinstellung, Krankheit oder Jnvalidität entstanden sein. Diese Art der Organisation konnte aber weder den Anforderungen der Freizügigkeit Genüge leisten, noch eine wirkungs­ vollere Macht entfalten. So strebte man schon seit den 20 er Jahren danach, zwischen den Verbänden desselben Gewerbes an verschiedenen Orten Vereinigungen herbeizuführen. Diese hatten indes keinen Bestand. Die Ausbreitung erfolgte schließlich vielmehr in der Weise, daß die Mitglieder eines lokalen Verbandes, die sich an andere Plätze begeben mußten, dort Zweigvereine begründeten. Mit dieser Ausdehnung, die für den einzelnen Arbeiter den Rückhalt, welchen er vonseiten des Verbandes erwarb, wesentlich verstärkte, entstand zugleich die Not­ wendigkeit einer Zentralleitung. Nachdem allgemeine Delegirtenversammlungen sich dieser Aufgabe nicht gewachsen gezeigt hatten, wurde eine ständige Behörde, aus einem Generalsekretär und einem Exekutiv­ komitee bestehend, mit der Wahrnehmung der Vereinsangelegenheiten betraut. Im übrigen erzielten die Verbände auch dadurch eine größere Festigkeit, daß die Arbeiter verschiedener Beschäftigungen in ein und derselben Industrie darauf verzichteten, nach Maßgabe dieser Be­ schäftigungen noch gesonderte Vereine zu bilden. Es kamen Ver­ schmelzungen aller derselben Industrie angehörenden Gewerkoereine zu stände. Die Arbeiter der Maschinenindustrie gingen hierin voran und gründeten im Jahre 1850 die „Vereinigte Gesellschaft der Maschinen­ bauer".

40

Die G ewerkvereinsbewegung.

Bis in die 50 er Zahre hinein hatten die Gewerkvereine unter der Mißgunst der öffentlichen Meinung, welche die Stimmung der durch die Arbeitseinstellungen gereizten Arbeitgebervereine widerspiegelte, schwer zu leiden. Za es fehlte nicht an Versuchen, sie im Wege der Gesetz­ gebung nochmals zu unterdrücken. Die Feindschaft gegen die Gewerk­ vereine nahm insbesondere im Zahre 1866 eine bedrohliche Höhe an, als in Sheffield das Haus eines Arbeiters, der aus einem Gewerk­ verein getreten war, in die Lust flog.2) Allein unterdessen hatten sich die größeren Gewerkvereine bereits soweit befestigt, daß sie über ausgezeich­ nete Verwaltungsbeamte verfügten. Diese an der Spitze der Vereine stehenden Generalsekretäre, die alle in London ihren Wohnsitz hatten, verbanden sich mit einigen der Arbeitersache ergebenen bürgerlichen Gelehrten wie den Positivisten Frederic Harrison, Prof. Beesly und Henry Crompton zur Abwehr der drohenden Gefahren. Zu diesen Männern gesellte sich noch Lujo Brentano, der aus Deutschland nach England gekommen war, um die Entwicklung der Gewerkvereine zu studiren. So führte die parlamentarische Untersuchungskommission, eingesetzt, um die Mißbräuche der Gewerkoereine ans Licht zu bringen, im Gegenteile zu einer glänzenden Rechtfertigung. „Es wurde allen ehrlichen Forschern klar, daß für dieses verbrecherische Vorgehen (in Sheffield) der Trade-Unionismus als Ganzes nicht verantwortlich zu machen war. Es stellte in Wirklichkeit nur die in so isolirten und rohen Gewerben, wie die der Ziegler und der Schleifer, noch wirkenden Nach­ klänge der barbarischen Gewohnheiten einer Zeit dar, wo die Arbeiter sich außerhalb des Gesetzes und tyrannisch bedrückt fühlten." (Webb.) Die Folge war ein Gesetz, das die Gewerkvereine anerkannte, ihren nach juristischer Auffassung bisher herrenlosen Geldern Schutz gewährte, das Recht Land zu erwerben und das jus stand! in judicio erteilte. Der rechtlichen Anerkennung folgte, die gesellschaftliche und politische bald nach. Beamte der Gewcrkoereine wurden zu Unterstaatssekretären, zu Mitgliedern des Handelsamtes, zu Friedensrichtern und Fabrik­ inspektoren ernannt. Allgemein wurden die Führer der Gewerkvereine als legitime Vertreter der Arbeiter ihrer Industrie angesehen. Eine wirtschaftlich schwere Zeit brach über die Gewerkvereine während der langandauernden Krise der 70er Zahre herein. Einige schlecht organisirte Vereine konnten den erhöhten Ansprüchen, welche die große Arbeits­ losigkeit an ihre Kaffen stellte, nicht entsprechen und brachen zusammen. Indes der weitaus größere Teil überstand auch diesePrüfung mit Erfolg. Die Gewerkvereine, von denen bisher die Rede war, stellten Ver­ bindungen gelernter Arbeiter dar, d. h. solcher Arbeiter, deren Leistungen

,9teue Gewerkvereine", Gewerkvereinsföderationen.

41

eine bestimmte mehrjährige Berufsbildung erfordern. Dank den auf­ opfernden Bemühungen von Männern wie John Burns, Tom Mann, Ben Tillett u. a. m. ist es mit Ende der 80 er Zahre aber auch ge­ lungen, ungelernte Arbeiter nach Art der Gewerkvereine zu organisiren. Unter diesen Umständen konnte im Herbste 1889 sogar von den Lon­ doner Dockarbeitern, einer in jeder Hinsicht überaus tief stehenden Arbeiterschichte, ein Ausstand siegreich durchgeführt werden. Der große Erfolg, der freilich nur mit Hilfe einer außerordentlichen allgemeinen Sympathie des Publikums errungen worden ist, hat viele andere Angelernte Arbeiter (Gasarbeiter und Arbeiter der Verkehrsgewerbe) dazu ermutigt, ebenfalls den Weg gewerkschaftlicher Organisation zu betreten. Die „neuen Gewerkvereine" sind zur Zeit noch vorwiegend bloße Kampfvereine, die sich mit Krankenunterstützung und Altersver­ sorgung nicht befassen. Sie entbehren noch der starken wirtschaftlichen Grundlage der älteren Verbände, da ihre Mitglieder, selbst niedrig -entlohnt, auch nur geringe Beiträge entrichten können. Angesichts dieser Schwäche treten die Führer lebhaft für das Eingreifen des Staates, namentlich für Feststellung eines gesetzlichen Maximalarbeits­ tages auch für männliche erwachsene Personen ein, während die Häupter der älteren Bewegung der Staatshilfe entbehren zu können -glaubten. Die lokalen Zweigvereine derselben Stadt haben sich mancherorts zu Gewerkschaftsräten (Trades Councils) vereinigt. Zhre Zahl beläuft sich auf etwa 120, die zusammen ein Drittel der gesamten Gewerkvereinter umschließen. Diese Föderationen verfolgen in erster Linie den Zweck, die Interessen der Arbeiter innerhalb der Gemeindeverwaltung wahrzunehmen. Sie sorgen dafür, daß auch Arbeiter in die lokalen Vertretungskörper gelangen, und bemühen sich die Annahme der FairWages-jUaufet bei der Vergebung der.Gemeindearbeiten durchzusetzen, d. h. tiefe Arbeiten dürfen dann nur an solche Unternehmer vergeben werden, die sich verpflichten, die von dem betreffenden Gewerkvereine anerkannten Arbeitsbedingungen innezuhalten. Einen Einfluß auf die Leitung der -einzelnen Organisationen und deren gewerkschaftliche Politik besitzen die Gewerkschaftsräte aber nicht. Die Zweigvereine, aus deren Vertreter sie sich zusammensetzen, sönnen naturgemäß dem State keinerlei Macht zuführen, die sie nicht selbst besitzen. Ihre Macht ist aber durch die Zentralexekutive der nationalen Verbände stark beschränkt. Letztere sehen den Anschluß der Zweigvereine an Gewerkschaftsräte übrigens nicht sonderlich gern. Sie betrachten das Dasein von regierenden Körperschaften, in denen sie nicht unmittelbar vertreten sind, mit Miß-

Die Gewerkvereinsbewegung.

42 trauen und Eifersucht.

Es wird den Zweigvereinen der Anschluß an

die Räte zwar nicht ausdrücklich untersagt, sie werden aber keinesfalls dazu ermutigt.

Am Gegensatze zu den Gewerkvereinen selbst weisen die

Gewerkschaftsräte seit den

letzten 30 Zähren kein Zeichen des Wachs­

tums oder der Entwicklung auf.

Sie stellen einen nützlichen Sammel­

punkt für die Gewervereinler der

betreffenden Ortschaft dar,

tragen

aber wenig zur Solidarität oder politischen Wirksamkeit der Bewegung, als Ganzes bei. Als nationale Föderation der Gewerkvereine ist der Gewerkschafts­ kongreß zu nennen,

der seit 1871

Fernerstehenden und namentlich deutung

allerdings

alljährlich

abgehalten wird.

Von

auf dem Kontinente wird seine Be­

sehr oft überschätzt.

„Aus Delegirten sämtlicher

großen nationalen und Grasschaftsvereine, sowie solchen der wichtigsten Gewerkschaftsräte und einer großen Anzahl von lokalen Vereinen zu­ sammengesetzt und von vielen besoldeten Beamten besucht, ist der Kongreß, ungleich den» Gewerkschaftsrate, eine wirkliche Vertretung, aller

Elemente der Gewerkvereinswelt.

handlungen

Daher

enthüllen

seine Ver­

sowohl den höheren Verwaltungsbeamten derselben

den Politikern der

wie

großen Parteien den Zdeengang der verschiedenen

Kategorieen von Gewerkschaftlern und damit der großen Lohnarbeiter­ gemeinschaft überhaupt. Weiter giebt die Kongreßwoche eine unüber­ treffliche Gelegenheit zum freundschaftlichen Meinungsaustausch zwischen den Repräsentanten der verschiedenen Berufszweige und führt häufig zu gemeinsamem Vorgehen oder der Bildung erweiterter Verbände. Trotz­ dem bleibt der Kongreß mehr ein Aufmarsch der Gewerkvereinskräfte, als ein echtes Arbeiterparlament." (Webb.) Die Mitglieder des Kongreffes besitzen eben keinerlei gesetzgebende, die vertretene Arbeiterwelt bindende Befugnisie.

Von der Gemeindevertretung des Kongreßortes dargebotene

Empfangsfeierlichkeiten

und

Festlichkeiten, Festreden u. dergl. spielen

eine große Rolle. Eine ungeheure Maffe von Resolutionen wird vor­ gelegt, deren ernsthafte verantwortliche Beratung ganz unmöglich ist. Dem Redner werden höchstens 5 Minuten, später 3, zum Schluß sogar nur 60 Sekunden Redezeit gewährt.

Die maßgebenden Führer nehmen

an den Verhandlungen geringen Anteil. Die einzige wichtigere An­ gelegenheit, die den Kongreß beschäftigt, ist die Wahl des Parlamen­ tarischen Gewerkschaftskomitees, dem die politische Vertretung der Ge­ werkvereinswelt im folgenden Geschäftsjahr anvertraut wird. Die Aufgaben des Komitees schrieben worden.

sind

noch nicht

ausdrücklich um­

Seine Wirksamkeit besitzt wegen unzulänglicher Kräfte

(ein besoldeter Sekretär und ein Schreibgehilfe) eine geringe Tragweite.

Ausdehnung der Gewerkschaftswelt.

4A

„Die Jahresleistung des Komitees hat sich in den letzten Zähren in der That je auf ein paar Deputationen an die Regierung, zwei oder drei Rundschreiben an die Vereine, eine kleine Beratung mit befreun­ deten Politikern und die Zusammenstellung eines ausführlichen Berichtesan den Kongreß beschränkt, der nicht ihre eigenen Leistungen, sondern die im Laufe der Session zustande gekommenen Gesetze und andere parlamentarische Vorgänge schildert. Die Folge ist, daß die Exekutiv­ komitees des Vereinigten Textilarbeiterbundes und der Bergarbeiter­ föderation einen viel bedeutenderen Einfluß in den Vorzimmern des> Parlamentes ausüben, als das Komitee, das die Vertretung der ge­ samten Gewerkvereinswelt darstellt; und geübte Bearbeiter, wie die Herren Zohn Burns, John Havelock, Wilson oder George Howell^ können sich rühmen, mehr Reformen in einer einzigen Session durch­ gedrückt zu haben, wie das Parlamentarische Komitee in der letzten Zeit während der ganzen Dauer eines Parlamentes bewirkt hat." (Webb.) Die Zahl der Gewerkvereinler darf für 1892 auf etwa 1500 000 oder 20 Proz. der gesamten Arbeiterklasse angenommen werden, dar­ unter ungefähr 100000 Arbeiterinnen?) Den Hauptsitz der Bewegung stellen die 7 nördlich 'vom Humber und Dee gelegenen Grafschaften dar, die wenigstens 726 000 Mitglieder von Gewerkschaftsvereinigungen zählen. Über die Beteiligung der Arbeiter der einzelnen Industrien an der Bewegung im Zahre 1892 giebt die nachstehende Tabelle Aufschluß: England Schott­ und Wales land Maschinenbau und Metallgewerbe . . Baugewerbe............................................. Bergbau................................................. Gewebeindustrie.................................. Bekleidungs. und Lederindustrie . . . Druckgewerbe....................................... Verschiedene unbedeutende Berufe . . Landarbeiter, Transportgewerbe u. s. w.

233 450 114 500 325 750 184 270 78 650 37 950 46 550 302 880 1 324 000 |

45 300 24 950 21 250 12 330 8 400 5 650 7 450 21 670 447 000

Irland

Gesammtfumme

8 250 8 550

287 000 148 000 347 000 200 000 90 000 46 000* 58 000 335 000 1511000



3 400 2 950 2 400 4 000 10 450 40 000

Die Organisationen der Arbeiter haben Gegenorganisationen der Arbeitgeber hervorgerufen. Die Arbeitseinstellungen wurden mit Arbeits­ aussperrungen beantwortet. Trotz vieler hartnäckiger Kämpfe haben die Organisationen doch nicht zu einem dauernden Kriegszustände geführt. Nachdem Arbeitgeber und Arbeiter in den Streitigkeiten ihre Kräfte

44

Die Geiverkveremsbewegung.

erprobt hatten, lernten sie sich als gleichberechtigte Parteien beim Ab­ schlüsse des Arbeitsvertrages anerkennen. Man kam dahin überein, die Arbeitsbedingungen im Wege friedlicher Beratungen festzustellen und die aus den abgeschlossenen Verträgen sich ergebenden Streitig­ keiten durch Ausschüsse, gebildet aus den Vertretern beider Teile, zu schlichten. So haben sich zum Teil ständige Einrichtungen, Einigungs­ kammern und Schiedsgerichte, entwickelt. Bei ersteren, deren Ent­ stehung mit dem Namen des Wollwarenfabrikanten Mundella in Nottingham verknüpft wird, gilt es im Wege der Verhandlungen (Ne­ gotiation) die Zwistigkeiten aus der Welt zu schaffen, während bei Schiedsgerichten nach R. Kettle die vertragsmäßige Unterwerfung unter einen unparteiischen Schiedsrichter eintritt, der von beiden Parteien gemeinsam ernannt worden ist. Die Unmöglichkeit, bei derartigen Ver­ handlungen anders als durch ruhige, sachgemäße und rein geschäftliche Erwägungen einen Erfolg zu erzielen, hat die Vertreter der Gewerkvereine dazu geführt, die jeweiligen Marktverhältnissc der Zndustrie auf das sorgsamste zu studiren. Zm allgemeinen wird, wenigstens von feiten der älteren Gewerkvereine, nur dann, wenn die Marktlage es wirklich rechtfertigt, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen verlangt. All­ mählich ist eine Fortbildung des Arbeitsverhältnisses erwachsen, derzufolge nicht mehr einzelne Arbeiter den Arbeitgebern, sondern deren Organisationen beim Abschlüsse des Arbeitsvertrages sich gegen­ überstehen. Damit ist aber auch die Freiheit, welche von der gegen­ wärtigen Wirtschaftsordnung vorausgesetzt wird, auf beiden Seiten nicht nur formell, sondern zum nicht geringeren Teile auch materiell verwirklicht worden. Für das Gebiet des Deutschen Reiches ist die Koalitionsfreiheit erst durch die Gewerbeordnung von 1869 zur allgemeinen Anerkennung gelangt. Wenn bis dahin fast überall Verabredungen der Arbeiter zu dem Zwecke eines einheitlichen Vorgehens beim Abschlüsse des Arbeits­ vertrages mit schweren Freiheitsstrafen bedroht waren/) so lagen die Ursachen teils in dem herrschenden Polizeigeiste, teils in der Abneigung, den Arbeiter als einen mit dem Unternehmer gleichberechtigten Kontra­ henten bei der Feststellung der Arbeitsbedingungen gelten zu lassen, teils aber auch in der Befürchtung des atomistischen Liberalismus, daß die Koalitionen zu einer Wiedergeburt der korporativen Organisationen des Arbeiterstandes führen und so die eben erst schwer errungene Ge­ werbefreiheit ernstlich bedrohen könnten. So wollte z. B. I. G. Hoffmann$) 1841 den Gesellen nicht einmal die Errichtung eigener Hilfs­ kassen gestatten, denn solche Einrichtungen zögen Zusammenkünfte der

Koalitionsrecht in Deutschland.

45

Gesellen nach sich, die ihnen Gelegenheit gäben, „sich als eine Körper­ schaft zu betrachten, welche gemeinsame Rechte zu verteidigen und unter sich selbst Polizei zu handhaben habe". Schon während der sechziger Zahre halten sich indes in Preußen hervorragende Mitglieder der Fort­ schrittspartei, wie Schulze-Delitzsch und Waldeck, um die Abschaffung der strengen Koalitionsverbote vielfach bemüht. Während nun der § 152 der Reichsgewerbeordnung erklärte: „Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Ver­ einigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Ar­ beitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder Entlaffung der Arbeiter werden aufgehoben," fügte derselbe Para­ graph aber in Absatz 2 noch hinzu: „Zedern Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder Klage noch Einrede statt." Der Gesetzgeber zeigte also, wie L. Brentano treffend bemerkt, „die unliebenswürdige Miene des durch die Tatsachen zwar überwundenen, aber innerlich nicht bekehrten Doktrinärs, indem er Preis- und Lohnverabredungen zwar gestattete, aber gleichzeitig für unverbindlich erklärte." Im übrigen bedroht § 153 denjenigen, der andere durch Anwen­ dung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzung, oder durch Verrufserklärung bestimmt, oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen teilzunehmen, oder ihnen Folge zu leisten, oder andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, mit Gefängnisstrafe bis zu drei Monaten, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetze nicht eine höhere Strafe ein­ tritt. Auch hier tritt die Abneigung gegen das Koalitionswesen deut­ lich hervor. Die Strafe trifft ja nur denjenigen, der andere bestimmen will, einer Koalition sich anzuschließen, oder der Andere hindern will, zurückzutreten. Dagegen ist keinerlei Strafe vorgesehen für solche, welche andere verhindern, sich an einer Koalition zu beteiligen, oder welche andere nötigen, von einer Koalition zurückzutreten. Also die Nötigung ist nur strafbar, wenn sie zur Unterstützung einer Koalition unternommen wird. Sie bleibt straflos, wenn sie sich gegen das Zustandekommen oder die Aufrechterhaltung einer Koalition richtet. Zum Überfluffe sind in Preußen die Polizeibehörden noch durch Ministerialerlaß vom 11. April 1886 (sogenannten Puttkamerschen Streik­ erlaß) angewiesen worden, selbst schon diejenigen streikenden Arbeiter zu einer Strafe heranzuziehen, welche andere durch Überredung zu be­ stimmen suchen, die Arbeit niederzulegen. Ungeachtet dieser zahlreichen

46

Die Gewerkvereinsbewegung.

Handhaben, welche die Gewerbeordnung zur Lähmung der ArbeiterKoalition darbietet, so ist auch noch öfters der grobe Unfugspara­ graph des Allgemeinen Strafrechtes herangezogen worden, um gegen Äußerungen vorzugehen, mittels deren der Zuzug fremder Arbeiter in Werkstätten, deren Arbeiter die Arbeit niedergelegt hatten, abgehalten werden sollte. Die vorgeführten Bestimmungen der Gewerbeordnung beziehen sich nicht auf dauernde, geordnete Vereinigungen der Arbeiter zur Beein­ flussung der Arbeitsbedingungen. Sobald die Koalition zum Gewerk­ vereine wird, unterliegt sie den Vorschriften der Vereinsgesetzgebung. Ein Reichsvereinsgesetz besteht nicht, und die Tatsache, daß die liberale Partei ihren in den 70er Jahren maßgebenden Einfluß nicht zur Er­ stimpfung eines liberalen Vcreinsgesetzes verwertet hat, bildet zweifels­ ohne einen der schwersten Vorwürfe, die gegen sie gerichtet werden können. Die zur Zeit geltende Vereinsgesetzgebung der Einzelstaaten6) stammt meistenteils aus den Reaktionszeiten, welche auf die Bewegung von 1848 gefolgt sind. Das preußische Gesetz (11. März 1850) wurde 1849 octroyirt und erst von der gleichfalls auf Grund eines octroyierten Dreiklaflenwahlrechtes gewählten Kammer zum Gesetze erhoben. Es bestimmt in § 8: „für Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, gelten außer vorstehenden Bestimmungen nachstehende Beschränkungen: a) sie dürfen keine Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen; b) sie dürfen nicht mit anderen Vereinen gleicher Art zu gemein­ samen Zwecken in Verbindung treten, insbesondere nicht durch Komitee's, Ausschüsie, Zentralorgane oder ähnliche Einrichtungen oder durch gegenseitigen Schriftwechsel." Nach der Rechtsprechung gelten aber Arbeitervereine schon als politische, sobald sie beabsichtigen, behufs Erlangung günstiger Lohn­ oder Arbeitsbedingungen die Hilfe des Staates in Gesetzgebung oder Verwaltung für sich in Anspruch zu nehmen und dies in Versamm­ lungen zu erörtern. Es würde also bereits die Erörterung der Frage, ob für die Angehörigen des Berufes, den der Gewerkverein vertritt, etwa die Einführung einer gesetzlichen Maximalarbeitszeit geboten er­ scheint, den betreffenden Gewerkverein zu einem politischen Vereine stempeln. Es hängt unter solchen Umständen also größtenteils von dem Belieben der Behörde ab, ob sie einem Gewerkvereine die Auf­ nahme von Arbeiterinnen und die Zusammenfassung der Ortsvereine zu einer nationalen Föderation gestattet.

Unsicherheit des rechtlichen Bestandes der Gewerkvereine in Deutschland.

47

Die gleichen Hindernisse, welche die preußische Gesetzgebung auf­ stellt, sind auch in der sächsischen und bayerischen enthalten. Zn bezug auf die denkbar strengste Handhabung dieser Waffen steht Sachsen an der Spitze. Zn Württemberg und Baden liegen dagegen gesetzliche Hinderniffe für die Entwicklung der Gewerkvereine nicht vor. Seit einigen Zähren ist unter der Führung von M. Hirsch, Lieber, Hitze, Roesicke u. a. m. im Reichstage eine Aktion zur reichsgesetzlichen Anerkennung der „Berufsoereine" im Gange. Ob ihr ein Erfolg beschieden sein wird, steht noch dahin. Die wenig freundliche Stellung, welche das Bürgerliche Gesetzbuch den politischen Vereinen gegenüber einnimmt, zeigt zur Genüge, daß der Bundesrat einer fortschrittlichen Entwicklung des Vereinswesens durchaus abgeneigt ist. Es ist auch das von der Regierung gegebene Versprechen, im Wege der Landes­ gesetzgebung die Verbote zu beseitigen, welche zur Zeit der Verbindung gleichartiger politischer Vereine entgegenstehen, immer noch nicht erfüllt worden. Während die partikulare Vereins- und Versammlungsgesetzgebung dem Gewerkschaftswesen so große Schwierigkeiten bereitet, hat die Reichsverfaffung das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Stimm­ recht eingeführt. Es wird dem deutschen Arbeiter also sehr schwer gemacht, selbstständig und aus eigener Kraft vom Boden der gegebenen Ordnung aus seine wirtschaftliche Lage zu verbeffern, aber er kann bei jeder Reichstagswahl ohne weiteres durch Abgabe sozialdemokratischer Stimmzettel seiner Unzufriedenheit demonstrativen Ausdruck verleihen. Diese Zustände machen die überaus rasche Ausbreitung der politischen Arbeiterbewegung ebenso begreiflich wie die Schwächlichkeit des deutschen Gewerkschaftswesens. Im übrigen hat sich die Entwicklung der deutschen Gewerkvereine auch in drei Richtungen zerspalten, nämlich in die der sozialdemokratischen Gewerkschaften, der Deutschen (Hirsch-Duncker) Ge­ werkvereine und in die einiger Arbeiterverbände, welche engere Bezieh­ ungen zu einer politischen Partei bisher noch ausgeschlossen haben. Lassalle selbst, in den Vorstellungen des „ehernen Lohngesetzes" befangen, stand dem Koalitions- und Gewerkschaftswesen verständnislos gegenüber. Erst unter bent Einflüsse von v. Schweitzer wurden von der Partei der Lassalleaner 1868 Gewerkschaften ins Leben gerufen, um auf diese Weise weitere Kreise der Arbeiter schließlich auch für die politischen Ziele der Bewegung zu gewinnen. Indeß schon nach Zahresfrist wurden die von Schweitzer begründeten Gewerkschaften als solche wieder zerstört und in einen „Allgemeinen Arbeiter-Unterstützungs-

48

Die Gewerkvereinsbewegung.

verband" umgewandelt, dessen Mitgliederbestand von anfangs 35 000 1871 schon auf 4257 zusammengeschmolzen war. Dagegen war sich der marxistische Flügel der deutschen Sozial­ demokratie (Bebel-Liebknecht) der Tragweite des Gewerkschaftswesens besser bewußt7) und rief viele lokale und zentralisirte Vereinigungen ins Leben. Sie nahmen einen so guten Fortgang, daß bereits die Leiter der politischen Bewegung über eine „Versumpfung" der Arbeiter­ bewegung durch die Gewerkschaften zu klagen begannen. Da fegte 1878 das Sozialistengesetz all' diese Gründungen hinweg. Die GewerkschaftsVerbünde hatten bereits 58 000 Mitglieder in 29 Verbänden und 1300 Zweigvereinen nebst 15 Gewerkschastsblättern aufzuweisen gehabt. Ungeachtet der durch das Sozialistengesetz geschaffenen schwierigen Verhältnisse wurden doch im Laufe der achtziger Zahre wieder Gewerk­ schaften, meist als Lokalvereine, gegründet. Selbstverständlich mußten sie äußerst zahm und vorsichtig auftreten. Im November 1887 traten die Zentralausschüsse sämtlicher deutscher Gewerkschaften zu einer Zentralkommission der Gewerkschaften Deutschlands mit dem Sitze in Hamburg zusammen. Sie hatte eine einheitliche Leitung der Bewegung und die Unterstützung bei Arbeitseinstellungen zu regeln. Die von ihr 1890 veranstaltete, aber als unzuverlässig bezeichnete Statistik der ge­ werkschaftlichen Verbände ergab 275 000 Personen in über 60 Fach­ verbänden mit 4000 Zweigvereinen, dazu noch 712 Verwaltungsstellen solcher Orte, wo das „Vertrauensmännersystem" besteht, mit 73000 Mit­ gliedern und 100 000 Mitglieder der lokalen Fachvereine. Nach dieser Ausstellung würden sich also insgesamt etwa 450000 Handwerker und Fabrikarbeiter in gewerkschaftlichen Organisationen befunden haben. Nach Oldenberg darf man die Mitgliederzahl der Gewerkschaften für 1895 auf 253 226 annehmen. Wenn auch die Zahlen der Gewerk­ schaftskommission von 1890 den wirklichen Bestand ganz erheblich über­ schritten haben mögen, so zeigt die Ziffer 253 226 doch, daß seither von einem besonderen Aufschwänge der Gewerkschaften durchaus nicht ge­ sprochen werden kann. Der Stillstand ist teils auf die geschäftlich weniger günstige Zeit der letzten Jahre teils auf die Meinungs­ verschiedenheiten zurückzuführen, welche noch immer über die Or­ ganisationsfrage (lokale Vereine durch Vertrauensmännersystem locker zusammengehalten oder Zentraloerbände mit lokalen Zahlstellen) bestehen. Ein Gewerkschaftskongreß in Halberstadt 1892 vermochte keine Einigung herbeizuführen. Die Angelegenheit ist auch thatsächlich um so schwieriger zu entscheiden, als entsprechend den politischen Tagesströmungen die Haltung der Behörden in den einzelnen Staaten gegenüber den gewerk-

Stellung der deutschen Sozialdemokratie zu der Gewerkvereinsbewegung.

schaftlich Organisirten liegt.

49

selbst wieder erheblichen Schwankungen unter­

Was in dem einen Teile desselben Landes gestattet ist, ist im

anderen verboten; was heute geduldet wird, schon wieder verfolgt werden. keiten,

kann morgen vielleicht

Dazu treten die großen

Schwierig­

die in der Natur der Sache selbst liegen, in dem „Beruss-

dünkel"

gewisser

Arbeitergruppen,

in

der

Verschiedenartigkeit

der

Interessen der Arbeiter desselben Berufes in verschiedenen Betriebs­ formen u. s. w. Nicht zu vergessen ist endlich der Gegensatz, der

zwischen der

politischen und der gewerkschaftlichen Bewegung besteht und auf dem Kongresse der sozialdemokratischen Partei in Köln 1893 ganz besonders schroff zu Tage trat.

Von Interesse sind

da namentlich die Aus­

führungen von A. Bebel, der damals erklärte:

„Zn Deutschland ist

durch die sozialpolitische, zumal die Versicherungs-Gesetzgebung, dieser Zweig der gewerkschaftlichen Thätigkeit entzogen und ihr damit ein Lebensnerv durchschnitten worden, der gerade in England und bei den deutschen Buchdruckern zur Blüte beigetragen hat.

Weitere wichtige

Gebiete, deren Bearbeitung mit zu den Hauptaufgaben der Gewerk­ schaften gehörten, sind ihnen durch die Gesetzgebung auf dem Gebiete der Gewerbeordnung entzogen worden, und das wird noch in größerem Umfange eintreten, wenn der Berlepsch'sche Entwurf oder auch unser eigener Arbeiterschutz-Gesetzentwurf Gesetz werden sollte. Von diesem Gesichtspunkte aus beleuchte man einmal die Frage! Mit jeder Er­ weiterung der staatlichen Befugnisse wird das Feld der gewerkschaft­ lichen Thätigkeit noch mehr eingeengt. . . . Wir mögen gewerkschaftlich organisirt sein wie wir wollen, wenn das Kapital einmal allgemein eine solche Macht erobert hat, wie bei Krupp und Stumm, in der Dortmunder Union, in den Kohlen- und Eisenbezirken Rheinlands und Westfalens, dann ist es mit der gewerkschaftlichen Bewegung aus, dann hilft nur noch der politische Kampf. Aus ganz natürlichen und selbst­ verständlichen Ursachen wird den Gewerkschaften ein Lebensfaden nach dem andern abgeschnitten." knecht aus:

Zn verwandtem Sinne sprach sich W. Lieb­

„Wir alle sind für Gewerkschaften,

aber dagegen, daß

man in ihnen das Hauptziel erblickt, daß man glaubt, durch sie allein könne die Macht des Kapitals gebrochen werden. Das Kapital kann nicht auf seinem eigenen Boden vernichtet werden.

Man muß ihm den

Boden unter den Füßen wegziehen und ihm die politische Macht aus den Händen reißen. Und das ist nur möglich durch politischen Kampf." So glaubt man auf seiten der politischen Führer immer und immer wieder vor einer Überschätzung der Gewerkschaften, vor VerHer kn er, Die Arbeiterfrage.

2. Aufl.

4

50

Die Gewerkvereinsbewegung.

Wässerung, Verflachung und Versumpfung der Arbeiterbewegung durch Gewerkschaftsfanatismus ernstlich warnen zu müssen. Bedenkt man, welch' hohe Ansprüche die Gewerkschaft an ihre Mitglieder in Bezug auf Beiträge, persönliches Hervortreten und Dis­ ziplin stellen muß, welch' empfindliche Schädigung dem einzelnen Arbeiter aus der Beteiligung an Gewerkschaften durch Entlassung und Pro­ skription im Wege „schwarzer Listen" droht, so ist es durchaus ver­ ständlich, wenn die Warnungen vor Überschätzung der Gewerkschaften nur allzu bereitwillig aufgenommen werden, und der deutsche DurchschnittsArbeiter den „politischen Kampf" bevorzugt, d. h. insgeheim einen sozial­ demokratischen Stimmzettel in die Urne wirft und vielleicht in der Verschwiegenheit seines Kämmerleins noch eine. sozialdemokratische Zeitung oder Agitationsbroschüre liest. Der ganze Geist, welcher in den maßgebenden Organen der sozialdemokratischen Partei herrscht, muß eine lebhaftere Beteiligung an den gewerkschaftlichen Bestrebungen verhindern. Wenn tagtäglich wiederholt wird, wie alles an der vor­ handenen Wirtschaftsordnung bis ins Mark hinein verfault sei, wie die bürgerliche Gesellschaft ihrem Bankerotte entgegeneile, wenn man in der Regel dasjenige, was vom Boden der gegebenen Verhältnisse aus unter­ nommen wird, mit Spott und Hohn verfolgt, wenn man, wie Bebel es ge­ than, die Organisation des Arbeitsnachweises und die Bekämpfung der Ar­ beitslosigkeit zu „gleichgültigen Dingen" rechnet, wenn man es liebt, sich an Stimmzettel- und Redeerfolgen zu berauschen, dann ist es ganz un­ möglich, aus den deutschen Arbeitern tüchtige Gewerkschaftler zu machen. Warum soll man sich noch um der Förderung der Gewerkschaften willen besondere Opfer auferlegen, jetzt mit großen Opfern kleine Ver­ besserungen erkämpfen, wenn man bereits an der Schwelle des tausend­ jährigen Reiches steht, das nach den von Marx und Engels entdeckten Entwickelungsgesetzen mit Naturnotwendigkeit eintreten wird? Erst wenn es dem reformatorisch gesinnten Flügel der sozial­ demokratischen Partei gelungen sein wird, die doktrinär-Utopistischen und revolutionären Tendenzen völlig zu überwinden, darf auf eine all­ gemeinere und kräftigere Blüte des deutschen Gewerkschaftswesens ge­ rechnet werden. Wie die oben erwähnten Gewerkschaften in Personalunion mit dev Sozialdemokratie stehen, so gehören die leitenden Persönlichkeiten der „Deutschen (Hirsch-Duncker'schen) Gewerkvereine"8) derjenigen Partei an, welche früher als fortschrittlich, neuerdings als freisinnig bezeichnet wird. Die Beziehungen zu der politischen Organisation sind so innige, daß auf dem Verbandstage zu Breslau 1876 sogar die Einführung

Die Hirsch - Duncker'schen Gewerkvereine.

51

eines Reverses beantragt werden konnte, durch dessen Unterschrift jeder Beitretende zu erklären gehabt hätte, „weder Mitglied noch Anhänger einer anderen, insbesondere sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu sein". Der Antrag wurde in der allerdings modiftzirten Fassung „weder Mitglied noch Anhänger der Sozialdemokratie zu sein", mit 19 gegen 1 Stimme angenommen?) Die Entwicklung der Deutschen Gewerkvereine nahm ihren Aus­ gangspunkt von einer Arbeiterversammlung, die am 28. September 1868 im Universum zu Berlin unter dem Vorsitze des fortschrittlichen Reichstagsabgeordneten Franz Duncker stattfand. Außer ihm und SchulzeDelitzsch ist hier ganz besonders Dr. Max Hirsch zu nennen, der sich, soeben von einer den englischen Arbeiterverhältniffen gewidmeten Studien­ reise zurückgekehrt, mit wahrem Feuereifer um die Ausbreitung der Gewerkvereinsidee unter den deutschen Arbeitern bemühte. Er entwarf einen Organisationsplan, demzufolge die in Orts-, eventuell auch Bechirksvereine gegliederten nationalen Gewerkoereine zu einem Verbände -ber Deutschen Gewerkvereine mit Zentralrat, Verbandsanwalt (Dr. Max Hirsch selbst) und Verbandsorgan (Der Gewerkverein) zusammentraten. Von den englischen Gewerkvereinen unterscheiden sich die durch Dr. Hirsch begründeten insbesondere dadurch, daß sie die Unterstützung auch im Salle derjenigen Arbeitslosigkeit, die nicht durch Arbeitsstreitigkeiten hervor­ gerufen worden war, keineswegs als ihre erste Aufgabe ansahen, daß sie keinen Nachweis in Bezug auf die Zurücklegung einer bestimmten Lehrzeit von den Beitretenden verlangten, daß sie, wie der Verein der Fabrik- und Handarbeiter, auch Arbeiter verschiedener Berufe in einem Vereine zu­ sammen faßten und sogar selbstständige Gewerbetreibende aufnahmen. Trotz­ dem erzielte die Bewegung im Anfange einen guten Fortgang. Entscheidend dafür war der Anschluß der Berliner Maschinenbau- und Metallarbeiter gewesen. Einige mißglückte Arbeitseinstellungen (Waldenburger Streik) und der Einstuß der Kriegsjahre 1870/71 bewirkten indes bald einen jähen Rückschlag. Später dürsten der rasche Fortschritt der Sozial­ demokratie und eine gewisse Vernachlässigung des Kampfes um Er­ langung besserer Arbeitsbedingungen der Ausbreitung der Deutschen Gewerkvereine abträglich gewesen fein. Erst von dem Krankenversiche­ rungsgesetze von 1883, das Gewerkvereinskassen anerkannte, beziehungs­ weise ihre Mitglieder von dem Beitritte zu Zwangskaffen befreite, datirt ein neuer, und zwar stetiger Aufschwung. Dagegen mußte die Verbandsinvalidenkaffe, zum Teile infolge der Einführung der reichs­ gesetzlichen Alters- und Znvaliditätsversicherung, sich 1889 auslösen. Die Znvalidenkasse des Gewerkvereines der Maschinenbau- und Metall-

52

Die Gewerkveremsbewegung.

arbeiter hat sich noch einige Jahre länger erhalten, ist aber nun dem gleichen Schicksale verfallen. Der Mitgliederbestand betrug 1892 57 797, 1893 61 153, 1894 67 058, 1895 68 717; von der letztgenannten Ziffer gehörten 28 951 dem Gewerkvereine der Maschinenbau- und Metallarbeiter, 11 625 dem Vereine der Fabrik- und Handarbeiter an. Vermutlich hängt der erfreuliche Fortschritt der Bewegung mit der größeren Ausmerksamkeit zusammen, welche mehrere Gewerkvereine seit den achtziger Jahren der Unterstützung für den Fall der Arbeitslosig­ keit (Unterstützung der Arbeitslosen „am Ort") zugewendet haben. Ohne Anlehnung an politische Parteien, urwüchsig aus den kon­ kreten Bedürfnissen der Arbeiter selbst, ist der Unterstützungsverem Deutscher Buchdrucker 10) im Jahre 1866 entstanden. Er ist zur Zeit noch immer der einzige deutsche Gewerkverein, der den Vergleich mit den großen englischen Arbeiterverbänden nicht zu scheuen hat. Nach Anerkennung des Vereins durch die Organisation der Prinzipale ist eine Tarifgemeinschaft abgeschlossen worden. Die Tariskommission sungirt auch als Einigungsamt bei Streitigkeiten über Auslegung des Lohntarifes. Als untere Instanzen sind in den 12 Kreisen, in welche die Tarifgemeinschaft zerfällt, Schiedsgerichte vorhanden. Andere, ursprünglich ebenfalls unabhängig erwachsene Gewerkvereine, wie die der Tabakarbeiter und der Handschuhmacher, haben sich später den sozialdemokratischen Gewerkschaften angeschloffen. Möglicherweise werden sich in der Zukunft auch noch gewerk­ vereinsähnliche Verbände entfalten, deren Ursprung auf evangelischoder katholisch-soziale Bestrebungen zurückzuführen ist. Namentlich itt den Bergwerksgebieten Westfalens") sind bemerkenswerthe Ansätze zu. einer derartigen Entwickelung bereits vorhanden. In Österreichs) legen die vereinsgesetzlichen Bestimmungen der freien Entwickelung des Gewerkschaftswesens ähnliche Hindernisse in den Weg wie int Deutschen Reiche. In gleich ungünstigem Sinne wirken ferner die weite Verbreitung und zwangsgenoffenschaftliche Organisation der Kleingewerbe, die tiefgehenden nationalen und kulturellen Gegen­ sätze. Auch hier haben es nur die Buchdrucker zu einem leistungs­ fähigen Vereine gebracht. Vereine nach Art der Hirsch-Dunckerschen bestehen nicht. Dagegen sind im Anschlüsse an die Sozialdemokratie zahlreiche Fachvereine entstanden. Ende 1896 betrug der Mitglieder­ stand 99 434 Personen, darunter 3501 Frauen, in 787 gewerkschaft­ lichen Organisationen. Ihre Gesamteinnahmen beliefen sich vom 1. Januar bis 30. Juni 1896 auf 492 585 fl., die Ausgaben auf 300760 fl.; darunter 11969 fl. für Reiseunterstützung, 50067 fl.

Die Gew erkvereinsbewegung in Österreich, in der Schweiz und in Frankreich.

53

■für Arbeitslosenunterstützung, 70194 fl. für Kranken- und Znvalidenunterstützung. Es erscheinen 19 deutsche, 12 tschechische und 2 slovenische Fachblätter in einer Gesamtauflage von 119850 Exemplaren. Die Gegensätze zwischen der politischen und der wirthschaftlichen Bewegung sind ähnlich wie im Deutschen Reiche. Zn der Schweiz") hat das freie Feld, welches die demokratische Versaffung für die politische Betätigung der Arbeiterklasse darbietet, deren Interessen auch ganz nach dieser Seite hin entwickelt. Nur unter Buch­ druckern, Uhrmachern und neuerdings Eisenbahnbediensteten besteht ein regeres Gewerkschaftsleben. Ein Allgemeiner Gewerkschaftsbund umfaßt einschließlich der ebengenannten Berufe nur 9495 Mitglieder, von denen 3000 auf den Uhrmacherverband, 1100 auf den Typographenbund, 900 auf den Metallarbeiterverband, 1136 auf die Holzarbeitergewerk­ schaft entfallen. Noch entscheidender als in Deutschland hat die Gesetzgebung Frankreichs") die Bildung von Gewerkvereinen unterdrückt. Um das Wiederaufleben der alten Zünfte und Gesellenverbände zu verhüten, erklärte das Gesetz vom 17. Juni 1791 jede Verbindung zwischen Gewerksgenossen zur Förderung ihrer angeblich gemeinsamen Interessen sür ein Attentat auf die Freiheit und die Menschenrechte, das mit 500 Livres und Entziehung des aktiven Bürgerrechtes für die Dauer eines Zahres zu bestrafen sei. Im Übrigen waren Koalitionen zum Zwecke der Arbeitseinstellung auch noch durch den Code penal Art. 414 bis 416 strengstens verboten. Erst unter dem zweiten Kaiserreiche (durch Gesetz vom 28. Mai 1864) kamen wenigstens die Koalitions­ verbote in Wegfall. Da die Regierung aber weitgehende Befugnisse auf dem Gebiete des Vereins- und Versammlungswesens behielt, so waren die Arbeitseinstellungen tatsächlich von der guten Stimmung der Behörden in empfindlicher Weise abhängig. Nach dem besonders von der dritten Republik den Berufsvereinigungen (Syndikaten) der Arbeiter und Arbeitgeber die administrative Duldung gewährt worden war, wurden sie durch Gesetz vom 21. März 1884 anerkannt und unter gewissen Voraussetzungen (Negistrirung) mit der juristischen Persönlichkeit ausgestattet. Seither haben auch in Frankreich die Gcwerkvereine größeren Einfluß gewonnen, wenngleich das Hauptinteresse der fran­ zösischen Arbeiter, gleich der Mehrzahl ihrer kontinentalen Genossen, den politischen Fragen bewahrt geblieben ist. Oft mögen auch die Lehren Proudhon's, der Arbeitseinstellungen und Koalitionen verwarf, der Ausbildung gewerkschaftlicher Organisationen verhängnißvoll geworden sein. Nach amtlichen Nachrichten gab es am 1. Juli 1894 2178 gesetz-

54

Die Gewerkvereinsbewegung.

mäßig konstituirte industrielle und komnierzielle Arbeiterberufsvereine' mit 408025 Mitgliedern. Außerdem bestehen noch Vereine, die den gesetzlichen Bedingungen nicht nachgekommen sind. Obwohl die nordamerikanischen Gewerkvereine ,s) nicht int unmittel­ baren Anschlüsse an die englischen Verbände, sondern selbstständig aus den durch die moderne Wirtschaftsordnung gegebenen Organisationsbedürfnissen der Arbeiter entstanden sind, so haben doch die englischen Erfahrungen auf die Einrichtung der amerikanischen Gewerkoereine, insbesondere auf ihr Kassenwesen, einen erheblichen Einfluß ausgeübt. Die bunte Zusammensetzung der amerikanischen Lohnarbeiterschaft aus verschiedenen Rassen und Nationalitäten, die rapiden Fortschritte der Produktionstechnik, die den Berufswechsel sehr begünstigen und den Bedarf nach gelernten Arbeitern oft vermindern, endlich die ziemlich günstige Lage, deren sich einzelne Arbeitergruppen unter den eigen­ artigen Bedingungen der amerikanischen Volkswirtschaft erfreuen, das alles hat die amerikanischen Gewerkvereine die Höhe der englischen Entwickelung noch nicht erreichen lassen. Auch Schiedsgerichte und' Einigungskammern sind erst im Entstehen begriffen. Die Zahl der organisirten Arbeiter wurde 1892 auf 825000 oder 10 Proz. der Lohn­ arbeiter des Landes berechnet. Zu den am besten organisirten Berufen zählen die Bediensteten der Eisenbahnen, die Zimmerleute, Eisen- und Stahlarbeiter, Buchdrucker, Zigarrenarbeiter, Bergarbeiter, Schneider, Maler und Dekorateure. Zm Gegensatze zu den nordamerikanischen Verhältnissen sind die Gewerkvereine der australischen Kolonien") aus den englischen hervor­ gegangen, stellen zum Theil sogar nur Zweigniederlassungen der letzteren dar. Von den vollkommensten Arbeiterverbänden abstammend, haben sie dann unter dem Einflüsse einer ungewöhnlich vorteilhaften Wirt­ schaftslage ein Gewicht und Ansehen gewonnen, dessen sich selbst die englischen Mutterverbände noch nicht erfreuen. Ein australischer Gewerk­ verein, der nicht mindestens den Achtstundentag besitzt, darf auf standesgenössische Anerkennung nicht rechnen. Die an Zahl bedeutendsten Vereine sind die der Bergarbeiter und Schafscheerer. Neuerdings haben auch die ungelernten ländlichen Arbeiter die Bahn der Organisation betreten. Zwischen den verschiedenen Berufsvereinen herrscht eine selbst in England unerreichte Solidarität. Die Vertreter der Gewerkvereine einer Kolonie bilden einen Ausschuß (Trades Hall), welcher eine all­ mächtige Autorität in der Arbeiterwelt ausübt. Das Einigungsverfahren entspricht dem englischen.

Anmerkungen. 1. Die besten Aufschlüsse über die geschichtliche Entwicklung der englischen Ge­ werkvereine erteilen: Brentano, Lu jo, Die Arbeitergilden der Gegenwart. 2 Bde. Leipzig 1871/72; Derselbe, Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Rechte. Leipzig 1877; Derselbe, Auerbach u. Lotz, Arbeitseinstellungen und Fortbildung des Arbeitsvertrages. Leipzig 1890 (S. d. V. f. S. XLV); Derselb e, Art. Gewerkvereine in England; Derselbe, Entwicklung und Geist der englischen Arbeiterorganisationen. A. f. s. G. VIII. S. 75; Howell, George, The Con­ flicts of Capital and labour. 2. ed. London 1890 (deutsch: Die englische Gewerk­ vereinsbewegung von Hugo, C. Stuttgart 1896); Derselbe, Trade Unionisme new and old London 1891; v. Schulze-Gaevernitz, Zum sozialen Frieden. Leipzig 1890. 2 33b. S. 224 - 486; Thornton, Die Arbeit, deutsch, von Schramm. Leipzig 1870; Webb, Sidney and Beatrice, The history of trade unionisme. London 1894. (deutsch von Bernstein, R. [mit Noten und einem Nachworte versehen von Bernstein, @.], Die Geschichte des Britischen Trade - Unionismus. Stuttgart 1895.) Die Zitate S. 38, 40, 42, 43 btytfen sich auf die deutsche Ausgabe S. 68, 85, 221, 419, 424. 3. Vier Fünftel aller organisirten Arbeiterinnen gehören den Gewerkvereinen der Textrlgewerbe von Lancashire an. 2. Besonders zu nennen sind Newton, Wm., Allan, Applegarth, Guile und Odger. 4. Stieda, Art. Koalition und Koalitionsverbote 4. 5. Die Befugnis zum Gewerbebetriebe. Berlin 1841. S. 145. 6. Ball, Das Vereins- und Versammlungsrecht in Deutschland. Berlin 1894. Guttentag'sche Sammlung Deutscher Reichsgesetze. No. 33. 7. Vgl. die Ausführungen im Volksstaat (1873) bei Meyer, R., Der Eman­ zipationskampf des vierten Standes. I. Bd. Berlin 1882. S. 314. Interessant ist auch ein kürzlich von der Leipziger Volkszeitung veröffentlichter Brief, den Marx 1869 an den Hauptkassier der Allg. Deutschen Metallarbeiterschaft gerichtet hat: „Niemals dürfen die Gewerkschaften mit einem politischen Vereine in Zusammenhang gebracht oder von einem solchen abhängig gemacht werden, wenn sie ihre Aufgaben erfüllen sollen; geschieht dieses, so heißt das ihnen den Todesstoß geben. Die Ge­ werkschaften sind Schulen für den Sozialismus. In den Gewerkschaften werden die Arbeiter zu Sozialisten herangebildet, weil ihnen da tagtäglich der Kampf mit dem Kapital vor die Augen geführt wird. Alle politischen Parteien, mögen sie sein, welche sie wollen, ohne Ausnahme, begeistern die Masse der Arbeiter nur eine Zeit­ lang, vorübergehend; die Gewerkschaften hingegen fesseln die Masse der Arbeiter auf die Dauer; nur sie sind imstande, eine wirkliche Arbeiterpartei zu repräsentiren und der Kapitalmacht ein Bollwerk entgegenzusetzen. Zu der Einsicht ist die größere Masse der Arbeiter gelangt, daß ihre materielle Lage gebessert werden muß, mögen sie einer Partei angehören, welcher sie wollen Wird nun aber die materielle Lage des Arbeiters gebessert, dann kann er sich mehr der Erziehung seiner Kinder widmen, Frau und Kinder brauchen nicht in die Fabrik zu wandern, er selbst kann seinen Geist mehr bilden, seinen Körper mehr pflegen, er wird dann Sozialist, ohne daß er es ahnt." Über die Entwicklung der sozialdemokratischen Gewerkschaften unterrichten im übrigen: Schmoele, Art. Gewerkvereine in Deutschland; Derselbe, Die sozial-

56

Die Gerverkoereinsbewegung.

demokratischen Gewerkschaften in Deutschland seit dem Erlasse des Sozialisten­ gesetzes. Erster vorbereitender Teil. Zena 1896; Oldenberg, Art. S. I. GeGewerkvereine in Deutschland; Die Organisationsfrage (herausgegeben von der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands). Hamburg 1891; Protokoll der Verhandlungen des ersten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands zu Halber­ stadt. Hamburg 1892; Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Köln. Berlin 1893. S. 180 f. Müller, H., Die Stärkung der Gewerkschaftsbewegung durch Konsumgenossenschaften. Zürich 1896. S. 9 f. 8. Über die Deutschen Gewerkvereine unterrichten außer den genannten Arbeiten von Schmoele und Oldenberg insbesondere: Bamberger, L., Die Arbeiterfrage unter dem Gesichtspunkte des Vereinsrechtes. Stuttgart 1873. 5. 95 f., S. 282 f. (Anlage II. Statuten des Verbandes der deutschen Gewerk­ vereine, Anlage III. Statuten der Gewerkvereine der deutschen Maschinenbau- und Metallarbeiter, Anlage IV. Statuten der deutschen Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit. Nebst Geschäftsordnung für die Ortsverbände und ihre Beamten); Brentano, L., Die Hirsch-Duncker'schen Gewerkuereine, Z. f. G. V. III. S. 487f.; Hirsch, M., Die Arbeiterfrage und die Deutschen Gewerkoereine. Leipzig 1893; Derselbe, Arbeitsstatistik der Deutschen Gewerkvereine für das Zahr 1894. Berlin 1895; Derselbe, Die Entwicklung der Arbeiterberufsvereine in Großbritannien und Deutschland. Berlin 1896. 9. Ein Antrag, diesen Revers fallen zu lassen, wurde auf dem Delegirtentage der Gewerkvereine der graphischen Berufe und Maler Deutschlands zu Berlin am 6. April 1896 mit 13 gegen 6 Stimmen abgelehnt. 10. Zahn, Fr., Die Organisation der Prinzipale und Gehülfen im deutschen Buchdruckgewerbe. Leipzig 1890. S. d. V. f. S. XLV. S. 329 f. 11. Weber, L., Lic. Ein christl. Gewerkverein. Zukunft (Harden) III. Nr. 14. 12. Herkner, Art. Gewerkvereine in Oesterreich; Braun, A., Die Gewerk­ schaftsbewegung in Oesterreich. S. P. S. C. IV. S. 307. 13. Berghoff-Jhing, Die sozialistische Arbeiterbewegung in der Schweiz. Leipzig 1895. S. 235 f. Herkner, Art. Gewerkvereine in der Schweiz; Platter, Der Allgemeine Schweizerische Gewerkschaftsbund. Das Handelsmuseum in Wien. Bd. 11. S. 377 f., 389 f. 14. Lexis, W., Gewerkoervine und Unternehmerverbände in Frankreich. Leipzig 1879. (S. d. V. f. S. XVII); Derselbe Art. 0.1. Gewerkvereine in Frankreich; v. d. Osten, Die Fachvereine und die soziale Bewegung in Frankreich. I. f. G. V. XV. S. 1031 f.; Derselbe, Art. Gewerkvereine in Frankreich; Royal Com­ mission on Labour. Foreign Reports vol. VI. France, London 1893. 15. Sartorius v. Waltershausen, Die nordamerikanischen Gewerkschaften unter dem Einflüsse der fortschreitenden Produktionstechnik. Berlin 1886; Der­ selbe, Art. Gewerkvereine in den Vereinigten Staaten von Nordamerika; Der­ selbe, Art. S. I. Gewerkverein in d. V. St. 16. v. Schulze-Gaevernitz, Art. Die Gewerkvereine in Australien; vgl. auch Bauer, St., Arbeiterfragen und Lohnpolitik in Australasien. I. f. N. St. III. F. 2. Bd. S. 641.

Viertes Kapitel.

Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerk­ vereine.') Die Gewerkvereine erheben von ihren Mitgliedern Eintrittsgelder -und wöchentliche Beiträge.

Die Höhe der letzteren schwankt in England

zwischen 1 d. und 1 s. und mehr.

Zm übrigen behalten sich die Vereine

die Befugniß vor, wenn Arbeitseinstellungen oder andere besondere Um­ stände es erheischen, noch außerordentliche Beiträge zu erheben. Vereine, die bereits in den Besitz

größerer Reservefonds gelangt sind, beziehen

natürlich aus deren Anlage ein Zinseinkommen. Da die Anlagen aber jederzeit realistrbar sein müssen, so ist ihr Zinsfuß ein ziemlich niedriger. Die Mittel der Vereine werden entweder für die Bestreitung der Kosten, die durch Arbeitskämpfe erwachsen, oder für Versicherungszwecke verausgabt. Zuweilen findet nach Maßgabe dieser beiden vornehmsten Aufgaben der Vereine eine Kassentrennung statt. In der Regel dient indes eine Kasse allen Anforderungen. Da die Beträge, welche den Versicherungszwecken dienen, durch größere Arbeitsstreitigkeiten empfindlich geschmälert werden können, so macht die Kassenvereinigung die Vereine leicht friedfertig und flößt ihnen eine gewisse Scheu vor Arbeitsein­ stellungen ein. Daraus ist den älteren Gewerkoereinen von den so­ genannten „neuen" öfters ein Vorwurf gemacht worden und die letzteren, haben sich auch meist auf die Sammlung von Streikfonds beschränkt. Mit Recht kann aber gegen diese Kritik eingewendet werden, daß gerade die Pflege

aller Zweige der Arbeiterversicherung, ganz abgesehen von

ihrem hohen Werte als Selbstzweck, erst im stände ist, den Vereinen einen festen Mitgliederbestand zu gewährleisten. Vereine, die sich auf die Unterstützung

bei

Arbeitsstreitigkeiten beschränken,

Mitglieder nur zu rasch,

verlieren ihre

wenn eben keine Aussichten vorhanden sind,

mittels der Vereine eine Besserung der Arbeitsbedingungen zu erreichen. Das haben die „neuen" Gewerkvereine bald genug erfahren müssen, wie die nachstehende Übersicht über ihren Mitgliederbestand darthut?)

58

Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine. 1889

Nationale Union der Gasarbeiter.

1890

.

1891

1892

1893

35 719

36 108

30 793 15 000

Nationale Union der vereinigten See­ ....

60 525

60 000

20 000

20 000

Union der Dock- und Werftarbeiter .

leute und Schiffsheizer

30 932

57 000

30 000

22 913

14 000



24 978

13 000

8 493

10 743

Nationale Union der Dockarbeiter

.

Eher verdienen die Einwürfe Beachtung, welche gegen die KassenVereinigung vom versicherungstechnischen Standpunkte aus erhoben werden. Immerhin ist die Zahlungsfähigkeit durch das Recht, außer­ ordentliche Umlagen auszuschreiben, bisher in der Regel thatsächliche behauptet worden. Es giebt Fälle, in denen die Mitglieder außer den regelmäßigen Wochenbeiträgen oft monatelang eine Extrasteuer bis zu 5 8. entrichtet haben, um die Zahlungsfähigkeit des Vereines aufrecht zu erhalten. Das eigentliche Rückgrat für die Wirksainkeit der Gewerkvereine besteht in der Unterstützung, die dem Mitgliede im Falle der unver­ schuldeten Arbeitslosigkeit zu Teil wird. Wie keine andere Organisation ist eben die Berufsvereinigung int stände, die dornenreichen Probleme der Arbeitsvermittlung und der Sicherung gegen Arbeitslosigkeit einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Der gut entwickelte Gewerkverein hat überall, wo sein Gewerbe in erheblicherem Umfange betrieben wird> eine Zweigniederlassung. Die Zentralstelle des Vereines erhält fort­ laufende Berichte über den Stand des Arbeitsmarktes, verfügt also über die denkbar beste Sachkenntnis. Da die Lasten, welche dem Vereine aus der Unterstützung der Arbeitslosen erwachsen, ganz beträchtliche sind, so besteht auf seiten des Vereines ein lebhaftes Interesse, diese Sachkennt­ nis in dem Sinne auszunutzen, daß arbeitslose Mitglieder ntöglichst bald wieder eine Beschäftigung erhalten. Der Verein ist auch besser als andere im stände, eine billige Entscheidung darüber zu fällen, ob der Arbeitslose durch eigene Schuld seine Stellung verloren hat oder nicht, und unter welchen Bedingungen er verpflichtet ist, Arbeit wieder anzunehmen. Gegen Betrügereien besitzt der Verband die empfindliche Strafe des Ausschlusses. Eine große Zahl von Gewerkvereinen und zwar die meisten der solid entwickelten Verbände unterstützen ihre stellenlosen und deshalb stellensuchenden Mitglieder mit einem Wochenzuschuß, der „unemployed benefit“ genannt zu werden pflegt. Zn Bezug auf die Höhe des Wochenzuschusies besteht keine Übereinstimmung?) Zm allgemeinen wird er durch eine Skala bestimmt, deren Sätze mit der Dauer der Arbeits­ losigkeit herabgehen. So gewährt z. B. die Vereinigte Gesellschaft der Zimmerleute und Tischler während der ersten zwölf Wochen 10 s., in den nächstfolgenden zwölf Wochen aber nur 6 s. Andere Vereine be­ ginnen mit höheren Sätzen, wie z. B. der Gewerkverein der Londoner

Die Unterstützung der Arbeitslosen.

59

Wagenbauer, der 18 s. zahlt. In der Textilindustrie kommen ober auch Anfangssätze von nur 3 s. und 6 d. vor. Die Erfahrung lehrt, daß hohe Sätze, ungeachtet aller Wachsamkeit der Vereinsorgane, zum Müßiggänge verleiten. Einige Vereine, wie die Bierbrauer und Eisen­ gießer, bringen vom Wochenzuschuffe die Vereinsbeiträge in Abzugs andere, wie die Maschinenbauer, erlassen die Beiträge den Unbeschäf­ tigten ganz, wieder andere, wie die Typographen, nur teilweise. Zn der Regel wird verlangt, daß einer bereits eine gewisse Zeit hindurch Mit­ glied gewesen sein muß, ehe er zum Empfang der Unterstützung be­ rechtigt ist. Derjenige, der den Zuschuß beansprucht, muß sich in ein Vakanzenbuch eintragen und die Eintragung in bestimmten Zeitinter­ vallen wiederholen. Wer durch eigene Schuld (Trunkenheit, Arbeits­ untüchtigkeit, unordentliche Führung) die Arbeit verloren hat, besitzt keim Recht auf die Unterstützung, eine Regel, die freilich nicht immer ganz streng zur Anwendung kommen soll. Viele Vereine gewähren außer der Arbeitslosenunterstützung noch einen Zuschuß denjenigen Mitgliedern, die eine Reise antreten, nt» Arbeit zu suchen. Andere Vereine und dazu gehören namentlich die­ jenigen der Baugewerbe, zahlen überhaupt nur Reisegelder, etwa 1 s. d. pro Tag. Die Reisenden stehen ebenfalls unter Kontrolle. Trotz-dem ist es nid)t immer möglich gewesen, Mißbräuche auszuschließen. Manches Mitglied hat sich aus diesem Wege die Mittel zu einer kleinen Ferienreise verschafft. Deshalb haben einige Vereine diese Art dev Unterstützung ganz aufgehoben. In einzelnen Gewerben pflegen sich die Arbeitgeber, welche Arbeiter brauchen, unmittelbar an die Vereine zu wenden. Der Verein dev Dubliner Bäckergehilfen verbietet seinen Mitgliedern sogar auf anderem Wege als durch das Vereinsbureau Arbeit anzunehmen. Zm allge­ meinen ist der Arbeitslose darauf angewiesen, sich persönlich um eine Stelle zu bemühen, wobei er allerdings in mannigfacher Weise von seinem Vereine gefördert wird. Einige Vereine zahlen dem Mitglieds daß dem unbeschäftigten Genossen eine Arbeitsgelegenheit verschafft, eine kleine Prämie. Die größten Vereine veröffentlichen periodische Berichte über den Stand des Arbeitsmarktes an den Hauptplätzen ihres Ge­ werbes. Andere veröffentlichen Listen derjenigen Geschäfte, in denen die Mitglieder vermutlich Stellung finden werden. Die Kosten, welche den Vereinen aus der Unterstützung ihrer Arbeitslosen erwachsen, sind ganz beträchtlich. Obwohl die Mitglieder der Gewerkvereine anerkanntermaßen die Elite der englischen Arbeiter­ klaffe darstellen, so befindet sich doch auch von ihnen, selbst in wirt-

60

Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine. .

schastlich günstigen Zeiten, ein Teil außer Arbeit. Die mittlere Zahl der 88 Gewerkvereine mit 396495 Mitgliedern, über deren Verhältnisse das arbeitsstatistische Amt des englischen Handelsministeriums zu berichten litt der Lage ist, betrug: 1887 8,2 Proz. 1890 2,1 Proz. 1893 7,5 Proz. 1888 4,9 „ 1891 3,5 „ 1894 6,9 „ 1889 2,1 „ 1892 6,3 „ 1895 5,8 „ Die Gesammtsumme der an Arbeitslose gezahlten Unterstützungeit belief sich in der Zeit von 1867—1894 bei den Vereinigten Maschinen­ bauern auf 1550142, bei den Eisengießern auf 547 983, bei den Kesselschmieden und Eisenschiffbauern auf 547369, bei den Vereinigten Zimmerleuten und Tischlern auf 474377 und bei den Londoner Setzern auf 136 720, also bei den genannten Vereinen zusammen auf 3256591 Pfund Sterling?) Durch die Arbeitslosenunterstützung fällt eines der schliinmsten Äbel, das den Arbeiter unter der Herrschaft des freien Wettbewerbes trifft, die Vorbehaltlosigkeit des Arbeitsangebotes, das ständige und maßlose gegenseitige Unterbieten weg. Die Arbeiter verständigen sich im Vereine über die Bedingungen, unter denen sie ihre Arbeit anbieten wollen. Wer zu diesen Bedingungen keine Arbeit erhält, wird von der Gesamtheit unterstützt. So wird es ihm erst möglich gemacht, sein Arbeitsangebot vom Markte zurückzuziehen. Er braucht nicht mehr niedrigere Ansprüche zu stellen, und dadurch die Lage seiner Genossen zu gefährden. Im übrigen kann erst dann, wenn der Arbeiter gegen Arbeitslosigkeit versichert ist, eine wirksame Versicherung im Falle der Krankheit und der Invalidität eintreten. Nur der gegen Arbeitslosigkeit versicherte Arbeiter ist eben im stände, unter allen Umständen die laufenden Beiträge für die Kranken- und Jnvalidenkasse zu entrichten und so seine Mitgliedschaft bei diesen Organisationen zu behaupten. Aus diesen Er­ wägungen ergiebt sich die Größe des Fehlers, welchen die deutschen Ge­ werkvereine dadurch begangen haben, daß sie die Arbeitslosenversicherung anfänglich glaubten vernachlässigen zu dürfen. Zm übrigen gewähren die englischen Vereine natürlich noch Unterfftützungsgelder bei ordnungsmäßig unternommenen Arbeitskämpfen und, sofern sie auch Hilfskassen darstellen, Beiträge im Falle der Erkrankung, bei Unfällen, bei Invalidität und beim Tode des Mitgliedes und seiner Frau. Äber die Beiträge, welche die Mitglieder einiger wichtigerer Gewerk­ vereine entrichten, und über die Leistungen, welche sie unter den verschiedenen Umständen vom Vereine erhalten, giebt die nebenstehende tabellarische Übersicht Auskunft?)

Beiträge und Leistungen einiger wichtigerer Gewerkvereine.

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Wöchent­ liche Unter­ stützung bei Arbeits­ losigkeit

61

Zahlung bei Auswan­ derung oder Verlust des Werk­ zeugs Gesammtbetrag

Wöchent­ liche Unter­ stützung bei Aus­ ständen

Maschinen­ bauer

1 s

10sb.26Woch. darnach 5 s

12

5

50 bis 100

10 s !Osb.l4Woch. Lstrl. 10 7sb.3O „ bis für Werk­ 7 8 6 s darnach zeuge

10 8 und 5 8 durch Umlage

Dampf­ maschinen­ bauer

1 3

10 s

12

6

50 bis 100

10 s 10sb.!4Woch. Lstrl. 10 bis 7 s 5.14 „ für Werk­ 6 8 4 s 5.24 „ zeuge

10 s und 5 s durch Umlage

1 8

10sb.26Woch. 5 s 13.26 „ 4s darnach

100

7 8 bis 4 8

7s b.!4Woch. 3s 5. 9 „

1 S

9s b.13Woch. 8 s 5.13 „ 6sb.26 „

10

5

100

7V2 bis 5 8

11 s, besondere 9 s 5.13Woch. Unter­ Unter­ 8 s 5.13 „ stützungen stützung f. 6s 5.26 „ seit 1873 Frau u. Kinder

1 S

12sb.26Woch. 6 s darnach so lange die Krankheit dauert

12

5

100 bis 50

8s bis 7 8

10sb.l2Woch. 6s5.12 „

6

100

58 bis 48

Reiseunter­ stützung 9 s 98 Tage im Jahr

Kessel­ schmiede und Sisenschiffbauer

Gsengießer

Zimmerleute und Tischler

12

6

Auswan­ derung Verlust der Vorteile.

15 s bis ?'/-»

Stein­ metzen

10; bei 6V* d 10sb.l3Woch. Tod bis d. Un­ 5sb.!3 „ lsV,d fall 50

Maurer

7dbts 9d

15sb.!3Woch. 9sb.!3 „ 5sß.l3 „

10

5

50

9s bis 5s

Stukkateure

6 d

10 s

10

6

50

5s

Schneider

7 d

10 s bis 7 s

6

4

Nichts

5 8 b. 2V2s

Reiseunterst.

Londoner Setzer

8 d

Nichts

15

5

Nichts

8 8b. 48

12 s Lstrl. 3 bis bis 16 Woch. Lstrl. 10

Typogra­ phische Gesellschaft

5 d

Nichts

10

Nichts Nichts

12 s oder 10 s

Geringere Beiträge

12 8 bis 21 s

Reiseunter­ stützung 9 s

Nichts

15 sb. zum vollen Wochen­ lohn

Reiseunter­ stützung 9 8

Nichts

15 s

Nichts

15 s

O'/z 8

8 8 8 3 b. 6s bis 20 Woch.

Nichts

25 s

20 s

62

Die Wirksamkett insbesondere der englischen Gewerkvereine.

Außer den vorgeführten Aufgaben befassen sich viele Vereine noch mit der Gewährung von Rechtsschutz, der insbesondere dann für den Arbeiter große Bedeutung erlangt, wenn es sich darum handelt, die Ansprüche zur Geltung zu bringen, welche ihm aus dem Haftpflichtgesetze erwachsen. Die Gcwerkvereine fördern endlich noch die gewerbliche Er­ ziehung, sie streben danach, sich über alle in ihren Beruf einschlagenden Angelegenheiten möglichst genau und zuverlässig zu unterrichten und stehen unter Umständen auch anderen Organisationen bei, die in Arbeitsstreitigkeiten verwickelt sind. Ein gut entwickelter Verein leitet nicht nur durch den Rückhalt, -den er seinen Mitgliedern beim Abschlüsse des Arbeitsvertrages gewährt, eine fortschreitende Verbefferung der Arbeitsverhältniffe ein, sondern -verschafft auch eine ausreichende Sicherung gegen alle Gefahren, die dem Arbeiter daraus erwachsen, daß sein Lohneinkommen stockt, sobald er seine Arbeitskraft überhaupt nicht zur Nutzung anbieten kann oder für "bie angebotene Arbeitskraft keiner entsprechenden Nachfrage begegnet. Der Gewerkverein gliedert sich in lokale Zweigvereine oder Logen. Zeder Zweigverein besitzt als Beamte einen Vorsitzenden, Schatzmeister, Sekretär und mehrere Ordner. Letztere haben die Ordnung im Sitzungszimmer zu halten, die Karten der Mitglieder zu prüfen, den Eingang der Beiträge zu überwachen u. s. w. Die Regierung des Gesammtvereins wird durch einen leitenden Ausschuß (Exekutiv- oder Zentralrat) und Beamte (2 Vorsitzende, 1 Schatzmeister, 1 Sekretär) besorgt. Sie gehen aus allgemeinen Mitgliederabstimmungen hervor. Die Beamten, unter denen der Generalsekretär in der Regel die maß­ gebende Persönlichkeit ist, werden durch den Ausschuß kontrolirt. Zm -übrigen zeigt die Verfaffung der Gewerkvereine in bezug auf die Ab­ grenzung der Befugniffe zwischen Zentral- und Lokalinstanz erhebliche Verschiedenheiten. Zn einzelnen Vereinen wie in denen der Berg-arbeiter von Durham stellt die Zentralstelle wenig mehr dar als einen Ausschuß von Delegirten, die genau den Instruktionen ihrer Wähler entsprechend vorzugehen haben. Auch in solchen Gewerkschaften, deren verschiedene Zweige über weit von einander entfernte Gebiete des Landes zerstreut sind, kommt den Lokal- oder Bezirksvereinen eine große Selb­ ständigkeit zu. Da indeß die Verfügung über die Geldmittel immer in den Händen des Zentralrates liegt, und es von seiner Entscheidung -abhängt, ob die Zweigvereine in ihren Arbeitsstreitigkeiten unterstützt werden sollen, so darf der Einfluß des Zentralrates unter keinen Um­ ständen unterschätzt werden. Das Beispiel eines straff zentralisirten Vereines bieten die Kesselmacher und Eisenschiffbauer. Die Macht-

Charakteristik eines kräftigen Vereines

63

Peilung der ständigen Beamten wechselt ebenfalls von Verein zu Verein. Der Typus eines kräftigen Vereines läßt sich folgendermaßen zeichnen: Er umfaßt alle Arbeiter des Berufes, oder wenn nicht alle, -so doch einen so großen Theil von ihnen, daß er als Vertretung des ganzen Berufes gilt und seine Entscheidungen allgemein als bindende -anerkannt werden. Er besitzt einen starken zentralen Exekutivausschuß, der die Mitglieder wirklich repräsentirt und dem diese daher auch un­ bedingtes Vertrauen schenken. Dieser Umstand befähigt den Verein, die Verhandlungen mit den Arbeitgebern unter den denkbar geringsten Reibungen durchzuführen, entweder von Fall zu Fall, oder im Wege eines ständigen gemeinsamen Ausschusies. Zn ihm werden die Fragen des Arbeitsverhältnifses (Lohnhöhe, Arbeitszeit, gleitende Skalen u. s. w.) verhandelt und Vereinbarungen abgeschlossen, auf deren Beobachtung die Unternehmer sich wirklich verlassen können. Ein mächtiger Gewerk­ verein geht sogar soweit, daß er gegenüber den Unternehmern die volle -Haftung für die Jnnehaltung der getroffenen Abmachungen durch seine Mitglieder übernimmt und den Arbeitgeber, der durch schlechte Arbeit -eines Mitgliedes geschädigt worden ist, aus Vereinsmitteln schadlos Hält. Selbstverständlich sucht sich der Verein dadurch, daß er den betreffenden Mitgliedern Geldstrafen auferlegt, wieder zu decken. Die Gewerkvereine trachten stets danach, als Körperschaft mit den Unternehmern zu verhandeln (collective bargaining wie S. und B. Webb sagen) und unter den Arbeitern des betreffenden Berufs die Alleinherr­ schaft zu erwerben. Wenn sie demzufolge möglichst alle Arbeiter des Berufs in den Verein zu ziehen trachten, so können sie doch nicht umhin, sich .gewisse Beschränkungen aufzuerlegen, ohne welche die auf Verbesserung der Arbeitsbedingungen abzielende Politik unausführbar sein würde. Die Vereine fordern vom Eintretenden, daß er imstande ist, den berufs­ üblichen Lohn am Orte zu verdienen, daß er eine bestimmte Lehrzeit (3—5 Fahre) zurückgelegt hat, daß er überhaupt im Rufe eines tüchti­ gen, leistungsfähigen Arbeiters steht. Eine solche Auswahl ist unbe­ dingt geboten. Wenn der Verein von den Unternehmern gewiffe Minimalleistungen für seine Mitglieder fordert, so muß er auch --einerseits eine gewiffe Garantie für das übernehmen, was diese selbst den Unternehmern leisten. Arbeiter von unterdurchschnittlichen Leistun­ gen werden von den Unternehmern natürlich entlassen, wenn sie ihnen durchschnittliche Löhne zahlen müssen. Die arbeitslosen Mitglieder aber fallen dem Gewerkvereine zur Last. Zn bezug aus die Lehrzeit ivird freilich oft Dispens ertheilt; nur etwa 10 Proz. der Mitglieder sollen

64

Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine.

eine durch Lehrvertrag geschlossene regelrechte Lehrzeit von 5 oder gar 7 Zähren abgeleistet haben. Mit den Lehrlingsverhältnissen befassen sich die Gewerkvereine auch noch in dem Sinne, daß sie, um der übermäßigen Verwendung un­ geübter jugendlicher Arbeitskräfte (Lehrlingszüchterei) und der daraus folgenden, die Löhne drückenden Überfüllung des Berufes vorzubeugen, auf die Znnehaltung eines gewissen Verhältnisses zwischen Lehrlingen und ausgelernten Gehilfen (etwa 3 Lehrlinge auf 7 Gesellen) hin­ arbeiten. Manche Gewerkvereine halten ihre Mitglieder auch davon ab, mit Richt-Gewerkvereinlern zusammen zu arbeiten. Das Maß, in dem diese Absichten zur Verwirklichung gelangen, hängt natürlich ganz von der Stärke der Organisation ab. Am ehesten gelingt der Ausschluß der Nichtgewerkvereinler noch dort, wo die Arbeiter in Gruppen zusammen arbeiten wie beim Schiffsbau. Zn der Regel sind die Vereine sehr be­ reit, dem Arbeitgeber brauchbare Arbeitskräfte nachzuweisen. Um möglichst wenig Arbeitslose unterstützen zu müssen, legen die Vereine Wert darauf, die vorhandene Arbeit gleichmäßig unter die Mitglieder zu verteilen, beziehungsweise eine solche Verteilung durch Herabsetzung der Arbeitszeit, durch Einschränkung regelmäßiger Über­ stunden und der Akkordarbeit anzubahnen. Die Gewerkvereine sind aber keineswegs im Prinzipe gegen Über­ stunden und Akkordarbeit. Zn manchen Gewerben besteht der Mißbrauch, daß auch normaler Weise Überzeit gearbeitet wird. Die Festsetzung einer regelmäßigen Arbeitszeit durch den Verein hat dann nur den Sinn, daß der Preis der Arbeitsleistung über diese Grenze hinaus erheblich steigt. Es tritt auf Seiten der Arbeiter deshalb eine förmliche „Gier nach Überzeit" auf, und nur diese Mißstände sind es vor allem, welche einsichtige Vereins­ leitungen zu bekämpfen suchen. Gegen gelegentliche, ausnahmsweise erfolgende Überarbeit sind die Vereine durchaus nicht eingenommen. Zm Gegenteil, sie sagen sich mit Recht, daß dann, wenn sie in Zeilen dringender Aufträge die Überzeit verweigerten, die Unternehmer not­ wendigerweise neue Arbeitskräfte in den Beruf ziehen müßten, welche bei normalem Geschäftsgänge eine Überfüllung des Arbeitsmarktes, also einen Druck auf die Löhne herbeiführen würden. Auch bei der Stellungnahme mancher Gewerkvereine gegen die Akkordarbeit handelt es sich im Allgemeinen nur um eine Bekämpfung gewisser Mißbräuche (zu rasche Erschöpfung der Arbeitskraft durch allzu hastiges Arbeitstempo, Lohndrückerei durch Bemessung der Akkordlohn-

Bedingungen für den körperschaftlichen Abschluß des Arbeitsvertrages.

ß5

sätze nach den Leistungen einiger weniger ganz hervorragender Arbeiter), welche sich leicht an dieses Lohnsystem anheften. Häufig treten die Gewerkvereine verwandter Berufsarten oder einzelne ihrer Zwcigvereine zu Föderationen zusammen, um so ihre Macht im industriellen Leben noch zu verstärken. Über Zahl und Größe der Föderationen macht das Arbeitsdepartement 1895 folgende Mitteilungen: °) Baugewerbe......................................... Möbel- und Holzbearbeitung - Industrie Maschinenbau, Metallgewerbe, Schiffbau Bergbau und Steinbruchindustrie . . Textilgewerbe..................................... Druckereigewerbe................................ Dockarbeit, Transportgewerbe....

Zahl der Zahl der Zahl ihrer Föderationen föder. Vereine Mitglieder 29 274 76 349 3 58 7 699 4 72 165 429 12 93 386 890 10 173 108 95 3 23 25 501 9 13 17 300 63 852 266 628

Unter den Föderationen hat sich insbesondere die der Bergarbeiter durch die großen Ausstände von 1890 und 1893 bemerkbar gemacht. Da die Gewerkoereine, wie früher dargethan worden ist, in erster Linie danach streben, mit den Arbeitgebern körperschaftlich zu verhandeln, so geraten jüngere Vereine, welche thatsächlich noch nicht die maßgebende, anerkannte Vertretung der Arbeiter des betreffenden Berufes darstellen, leicht in Streitigkeiten mit den Arbeitgebern. Letztere sprechen eben den Organen des Vereines die Befugilis ab, als Vertreter der Arbeiter­ schaft das Wort zu führen, und für diese verbindliche Abmachungen zu treffen. Andrerseits lasten es die Unternehmer, wie die Arbeitskommission von 1891 gezeigt hat, nicht leicht zu Differenzen mit Organisationen kommen, die thatsächlich bereits die Arbeiterschaft des Gewerbes hinter sich haben. Man darf deshalb nicht ohne weiteres sagen, daß die jüngeren Vereine streiklustiger seien als die älteren. Die Weigerung der Unternehmer, mit den jüngeren Vereinen zu verhandeln, ist es vielmehr, welche diese oft sehr gegen ihren Wunsch in den Kampf treibt, während bei den älteren, bereits anerkannten Verbänden eben schon durch die bloße Thatsache der Anerkennung von seiten der Unter­ nehmer eine reichlich fließende Quelle von Streitigkeiten versiegt. Ist eine Arbeitseinstellung eingetreten, so pflegen manche Vereine in der Nähe der Werkstätten, die vom Streik betroffen worden sind, Posten auszustellen (picketing), welche die Aufgabe haben, Arbeiter, die bereit wären, Arbeit in dem Unternehmen anzunehmen, von diesem Vorhaben abzuhalten. Die Posten werden selbst zu dem Versprechen Herkner, Die Arbeiterfrage. 2. Ausl.

66

Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine.

ermächtigt, daß der Gewerkverein den Zugereisten eine Entschädigung zu zahlen bereit sei, wenn sie auf die Annahme der Arbeit Verzicht leisten. Zn der Sturm- und Drangperiode der Gewerkvereine kam es auch wohl vor, daß Arbeitern, die sich am Streike nicht beteiligten, die Werkzeuge weggenommen oder beschädigt wurden (rattening). Davon ist jetzt nicht mehr die Rede, und auch das Aufstellen von Posten kommt bei vielen Vereinen mehr und mehr außer Übung. Die Vereine haben jetzt in der Presse andere und bessere Mittel, um die Thatsache des Streikes allen Berufsgenossen bekannt zu machen. Einschüchterung oder beständige Verfolgung derjenigen Arbeiter, die trotz des Streikes arbeiten wollen, ferner Besetzung der Werkstätten, ist in England strenge ver­ boten. Wie die Arbeiter sich bei Arbeitseinstellungen gegenseitig unter­ stützen, so auch die Unternehmer. Das kann in der Weise geschehen, daß keiner der streikenden Arbeiter bei einem anderen Unternehmer eine Stelle bekommt. Zuweilen werden sogar alle Vereinsgenossen der streikenden Arbeiter entlassen (Lock-out). Zm übrigen suchen die durch eine Arbeitseinstellung betroffenen oder zu einer Aussperrung veran­ laßten Unternehmer nach Kräften Ersatzmänner (blacklegs) heranzu­ ziehen. Sie verpflichten sich wohl auch dazu, Arbeiter, welche nach­ weisen können, daß sie mit Gewerkvereinen nichts zu thun gehabt haben, stets zu bevorzugen. Die schärfste Waffe haben solche Arbeitgeber in der Hand, welche zugleich die Hauswirte der Arbeiter sind und somit streikenden Arbeitern die Wohnung aufkündigen können. Ist ein Streik für die Arbeiter vorteilhaft ausgefallen, haben sich die Unternehmer herbeigelassen, mit dem Verein zu verhandeln und eine Vereinbarung abzuschließen, so ist die Anerkennung der Organisation durch die Unternehmer noch keineswegs in allen Fällen sicher gestellt. Es kommt jetzt vor allem darauf an, ob die Arbeiter das von ihren Vertretern getroffene Übereinkommen auch streng einhalten. Die Fälle sind nicht selten, in denen ein Teil der Mitglieder sich schließlich nicht als gebunden erachten will, sich vom Vereine loslöst, einen neuen Verein gründet u. s. w. Es ist eine der schwierigsten Aufgaben für die Vereins­ leitung, solchen Vorkommnissen, die natürlich das Ansehen des Vereins untergraben/ thunlichst vorzubeugen. Am besten wird der Zweck, die Mitglieder dem Vereine treu zu erhalten, noch immer durch die Pflege der Hilfskasseneinrichtungen erreicht. Ein Mitglied, das beim Austritte aus dem Vereine wertvolle, durch langjährige Beitragsleistungen er­ worbene Unterstützungsansprüche zu verlieren hat, wird sich hüten, einen Verein im Stich zu lassen oder durch Ungehorsam gegen die ordentlichen

Notwendigkeit der Unternehmerorganisation.

67

Vereinsbeschlüsse seine Ausschließung herbeizuführen. So sind denn Vereine, welche auch die Kranken- und Invalidenversicherung pflegen, nicht nur

aus finanziellen Gründen sehr darauf bedacht, aussichtslose

und unbegründete Arbeitseinstellungen zu verhüten, sondern sie können auch viel besser für das Verhalten ihrer Mitglieder haften und genießen deshalb auf Seite der Unternehmer größeres Vertrauen. Hat ein Verein schon eine so große Ausdehnung erreicht, daß er seinen Mitgliedern im allgemeinen untersagen kann, mit Nicht-Gewerkvereiulern

zusammenzuarbeiten, dann erhält

ein vom Vereine

aus­

geschlossenes Mitglied in dem betreffenden Gewerbe überhaupt kaum mehr eine Stellung, ein Umstand, der die Entwicklung der Disziplin und der Subordination gegenüber den Vereinsbeschlüffen außerordentlich fördern muß.

Man begreift, daß

die Gewerkoereine

eifrig danach

trachten, eine solche Stellung zu gewinnen oder zu behaupten. Die Unternehmer lassen sich um so eher zu Verhandlungen bereit finden, je mehr sie darauf rechnen können, daß Konzessionen von ihrer Seite auf längere Zeit hinaus Frieden für die Industrie schaffen und nicht nur zu einer fortgesetzten Steigerung der Ansprüche auf Seiten der Arbeiter führen werden. Sodann wird die Stimmung der Unter­ nehmer gegenüber den Vereinen sich freundlicher gestalten, wenn diese, wie es bereits in der That zumeist der Fall ist, darauf halten, daß die Mitglieder sich tüchtiger Arbeitsleistungen und eines anständigen Be­ nehmens befleißigen. Andere Schwierigkeiten für den körperschaftlichen

Abschluß der

Arbeitsverträge liegen ausschließlich auf der Unternehmerseite. Der einzelne Unternehmer kann nicht leicht andere Bedingungen annehmen -als seine Konkurrenten.

Es müssen also auch die Unternehmer selbst

organisirt sein, wenn zwischen Arbeitern und Unternehmern wie von Körperschaft zu Körperschaft verhandelt werden soll. Die Organisation der Arbeitgeber ist aber keineswegs immer so leicht durchzuführen. gegenseitige Konkurrenz, die sie sich auf dem Markte bereiten, oft in dauernder Spaltung.

Die

hält sie

Die Gewerkvereine trachten die Unter­

nehmerorganisation insofern zu begünstigen, als sie diejenigen Arbeits­ bedingungen, welche zwischen ihnen und einigen Unternehmern verein­ bart

worden sind,

auszudehnen suchen.

auf alle gleichartigen Unternehmungen überhaupt So ergibt sich für nicht

organisirte Unternehmer

die Gefahr, schließlich Arbeitsbedingungen annehmen zu müssen, deren Feststellung sie keinen Einfluß gehabt haben,

auf

und sie ziehen es

chann meist vor, sich den mit den Gewerkvereinen verhandelnden Unter­ nehmern anzuschließen.

68

Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gerverkvereine.

Zst die Organisation beider Parteien soweit vorgeschritten, daß ihre Vertreter in gemeinsamer Sitzung miteinander verhandeln, dann kann die Schlichtung auftretender Arbeitsstreitigkeiten in dreifacher Weise erfolgen: entweder im Wege der bloßen Verhandlung unter den unmittelbar Beteiligten (Negotiation, Conciliation), oder, wenn diese aus eigener Znitiative zu einem Kompromiß nicht gelangen können, durch gütliche Vermittlung einer unbetheiligten Persönlichkeit (Mediation) oder endlich dadurch, daß die streitenden Teile sich wenigstens über eine Person einigen, deren Schiedsspruch für sie bindend sein soll (Arhitration). Zn Jndustrieen, die für den Weltmarkt arbeiten und deshalb eine Lohnerhöhung nicht ohne weiteres auf die Konkurrenten abwälzen können, in denen ferner zum vollen Verständnisse der schwebenden Streitigkeiten eine genaue Kenntniß der oft recht verwickelten technischen und wirt­ schaftlichen Einzelheiten gehört, haben Schiedsgerichte von seiten gewerbsfremder Personen weniger befriedigt und sind mehr und mehr durch das Einigungtz- oder Vermittelungsverfahren verdrängt worden?) Schiedssprüche durch gewerbskundige Personen fällen zu lassen, geht aber selten an, da sie in der Regel nicht für unparteiisch genug erachtet werden. Sobald die Schiedssprüche der Marktlage nicht vollkommen entsprechen, wird der Theil, der sich für geschädigt hält, bald neue Entscheidungen anstreben und dauernder Friede kann nicht erblühen. Dagegen sind Schiedsgerichte in Gewerben beliebt, in denen der Zahlungsfähigkeit der Unternehmer eine feste Grenze nicht gezogen ist,, und die einschlägigen Verhältnisse auch von gewerbsfremden Personen eher erfaßt werden können, z. B. im Verkehrswesen, in der Gasindustrie. Aus dieser keineswegs unbedingten Anwendbarkeit des schieds­ gerichtlichen Verfahrens ergibt sich schon, daß es unmöglich durch staatliches Eingreifen allgemein obligatorisch gemacht werden kann. Unter den von den Unternehmer- und Arbeiterorganisationen mit einander vereinbarten Arbeitsbedingungen haben die sogenannten „gleiten­ den Lohnskalen" (sliding scales) großes Interesse erregt?) Die glei­ tenden Lohnskalen stellen ein Verfahren dar, demzufolge die Löhne automatisch, entsprechend dem Steigen oder Fallen der Verkaufspreise der Arbeitsprodukte, in bestimmtem Verhältniffe erhöht oder herabgesetzt werden. Die Verkaufspreise werden an bestimmten Zeitpunkten aus den Büchern gewisser Unternehmer durch einen Nevisionsausschuß, in dem beide Teile vertreten sind, ermittelt. Es gibt auch Beschränkungen in dem Sinne, daß der Lohn unter keinen Umständen unter ein fest­ gesetztes Minimum sinken darf. Die Unternehmer bedingen sich da­ gegen wieder aus, daß die Löhne über ein gewisses Niveau der Preis-

69

Gleitende Lohnskalen

steigerung der Produkte hinaus dieser in langsamerem Verhältnisse folgen (sogenannte graduirte Skalen). Mittels der Lohnskalen werden von vornherein alle Arbeitsstreitigkeiten im Entstehen verhindert, die darin ihren Grund haben,

daß

die Arbeiter im Hinblicke

auf eine Preis­

steigerung ihrer Arbeitsprodukte eine Lohnerhöhung anstreben, oder daß die Unternehmer zu einer Lohnherabsetzung schreiten wollen, Preise gefallen sind. gehende Konjunkturen Stetigkeit.

weil die

Die Lohnverhältniffe werden durch rasch vorüber­ weniger

berührt

und

gewinnen

eine

größere

Die Entwicklung der Löhne folgt derjenigen der Preise.

Arbeiter und Arbeitgeber sehen also die Lohnentwicklung voraus und haben Gelegenheit, sich

diesen Verhältnissen

entsprechend

einzurichten.

Allerdings sind die Skalen nicht überall leicht anzuwenden, namentlich dort nicht, wo die Zahl der verschiedenen Produkte, deren Preise die Bemeffungsgrundlage abgeben

sollen, sehr groß ist.

Auch stimmt die

Bewegung der Warenpreise nicht immer mit der Bewegung des Ge­ winnes überein, und gerade an dieser wollen die Arbeiter doch eigentlich teilnehmen.

Durch Lohnskalen ist natürlich der Arbeitsvertrag nicht für

immer abgeschlossen. ergeben,

Von Zeit

zu Zeit kann sich die Notwendigkeit

eine Veränderung in den Normallöhnen und Normalpreisen,

welche für die Berechnungen den Ausgangspunkt bilden, vorzunehmen. Kann hierüber eine Einigung nicht erzielt werden, so ist auch hier der Ausbruch eines Streikes nicht ausgeschloffen. Immerhin haben die Skalen Großes für die Beförderung des gewerblichen Friedens geleistet, besonders im Bergbau, in der Eisen- und Baumwollindustrie. Daß Lohnskalen nur bei guter Organisation beider Parteien durch­ geführt werden können, ist klar. Nun haben aber gerade die Skalen vereinzelt die

verhängnisvolle Wirkung gehabt, die Grundlagen,

denen sie sich erheben, zu unterhöhlen.

auf

Die Arbeiter glaubten, im Be­

sitze der Skalen, hie und da überhaupt des Gewerkvereines nicht mehr zu bedürfen und vernachlässigten seine Entwicklung. So verlor der Verein der Bergarbeiter von Cleveland unter der Herrschaft der Skalen die Hälfte seines Mitgliederbestandes. Außer den allgemeinen Streitigkeiten, deren Schlichtungsmethoden bisher besprochen worden sind, gibt es noch solche des einzelnen Falles, die sich nur auf einzelne Angehörige der Organisationen beziehen und häufig

die Auslegung der korporativ

betreffen.

abgeschlossenen Arbeitsverträge

Zn der Regel gelingt es, solche Zwistigkeiten durch die Ver­

handlungen der Sekretäre der Lokalorganisationen beizulegen. Zur weiteren Veranschaulichung der Thätigkeit der Gewerkvereine möge noch der

nachstehende

Auszug

aus

einer Schilderung dienen.

70

Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine.

welche in dem Werke von S. und B. SBebb9) ein

gelernter Arbeite?

liefert, der sich nach Beendigung seiner Lehrzeit dem Gewerkvereine seines Berufes angeschlossen und verschiedene Ämter in ihni bekleidet hat. *

* *

Erst wenn ein junger Mensch sich dem Ende seiner Lehrzeit nähert, wird er von den Gewerkvereinlern mehr beachtet und zum Eintritte iw ihre Organisation aufgefordert.

Man lädt ihn in das Klubhaus ein,,

macht ihn mit Vereinsbeamten und Berufsgenosien bekannt.

Die Vor­

teile, welche der Verein bietet, insbesondere der Nutzen der Arbeitslosen­ unterstützung, werden ihm klar gemacht.

Er sieht, daß die besseren

Elemente seines Berufes Mitglieder des Gewerkvereins sind. hause werden Rauchkonzerte und Liederabende veranstaltet. da alle auf das Gewerbe bezüglichen Neuigkeiten. Freundschaften zu schließen.

Im Klub­

Man erfährt!

Es bietet Gelegenheit,

Das alles übt auf den jungen Arbeiter

große Anziehungskraft aus, und er läßt sich nun als Kandidat für die Aufnahme in den Zweigverein vorschlagen. Am nächsten Vereinsabend macht der Vorsitzende bekannt, daß sich ein Kandidat gemeldet hat. Die Mitglieder, welche den Kandidaten zur Aufnahme empfehlen, werden ersucht näheren Bericht zu erstatten. Den ,-ehrbaren" Brüdern wird nun dargethan, daß der Bewerber seine Lehrzeit ordnungsgemäß zurückgelegt habe, daß er ein tüchtiger Arbeiter und zuverlässiger Mensch sei, der dem Vereine gewiß Ehre machen werde. So wird denn die Aufnahme beschlosien. Der Thürhüter führt dem vor der Thür harrenden Bewerber in zeremoniöser Weise herein. Die Versammlung erhebt sich.

Die Aufnahmesormel und

ein Teil der

Statuten werden verlesen. Der Kandidat gelobt durch einfache Er­ klärung Treue und Gehorsam den Statuten und stellt diese Sufageauch schriftlich aus.

Nun wird er nach Erlegung der Eintrittsgebühren

als Mitglied eingetragen,

erhält die Mitgliedskarte und die Statuten.

Als ordentliches Mitglied der Loge (des Zweigvereines) hat der junge Mann das Recht,

an den Vereinsversammlungen teilzunehmen..

Zn solchen werden zunächst finanzielle Angelegenheiten erledigt: die Mit­ gliederbeiträge eingesammelt, die Unterstützungen wegen Krankheit ober Beschäftigungslosigkeit ausgezahlt.

Dann müssen Fremde und Nicht-

Mitglieder das Lokal verlaffen, und die eigentliche Verhandlung beginnt mit Verlesung des Protokolls

der letzten Sitzung.

Die seither ein­

gegangenen Geschäftsstücke und die Art ihrer Erledigung wird vor­ getragen. Die Sensation des Abends aber bildet der Bericht der Delegirten, die bei einem Unternehmer eine Beschwerde des Vereins vor-

Bilder aus betn Leben des Gewerkt»ereinlers.

71

zutragen gehabt haben. Zst die Sache nicht zur Zufriedenheit aus­ gefallen, so beschließt man, den Bezirks-Ausschuß um seinen Rat anzu­ gehen. Um zehn Uhr wird die Sitzung geschlossen. Der Sekretär eilt heim, um noch seine Bücher in Ordnung zu bringen, das Protokoll einzutragen. Berichte an Zentralrat und Bezirksausschuß zu entwerfen und die notwendigen Briefe zu schreiben. Die Logensitzungen spielen im Leben des jungen Arbeiters eine große Rolle. Er fühlt, daß er an der Leitung einer bedeutenden nationalen Einrichtung teilnimmt. Außerdem stellt der Verein einen Hort gegen jeden Akt wirtschaftlicher Tyrannei dar, eine Instanz, bei der er immer sympathische Aufnahme findet. Hier kann er wegen Geld­ bußen, Abzügen, roher Behandlung durch einen Werkführer u. s. w. Klage führen. Vom Leben des Gesamtvereines erfährt das junge Mitglied zu­ nächst nur durch das Monatszirkular Näheres. Es setzt ihn in unmittel­ bare Beziehung zu der ganzen Welt seines Berufes. Da werden alle Mitglieder, die Unterstützung beziehen, mit Namen genannt, über die. Lage des Geschäftes und die Zahl der Arbeitslosen an den verschiedenen Niederlaffungen des Vereines wird berichtet, und die Vereinsgenossen senden Bemerkungen über verschiedene Angelegenheiten ein. Zn gleichem Sinne wirkt der Zahresbericht, ein stattlicher, mehrere hundert. Seiten umfaffender Band, der eine genaue Übersicht über die ganze Thätigkeit des Vereines gewährt. Ein Stocken des Geschäftsganges tritt ein. Unser Gewerkvereinler wird entlassen. Mit der Reisekarte seines Vereines ausgestattet, begibt er sich auf die Wanderschaft, um eine neue Stelle zu suchen. Am Abend in einem Vereinsorte angelangt, wird zunächst der Sekretär aufgesucht. Dieser prüft die Wanderkarte und weist, wenn die Länge des zurückgelegten Weges genügt, 6 s. in bar und ein Nachtlager an. Zst dem Sekretär eine freie Stelle bekannt, so wird der Wanderer ver­ anlaßt, sich um sie zu bewerben. Sobald Arbeit gefunden ist, werden die Logensitzungen wieder eifrig besucht, schon um bald gesellige Beziehungen pflegen zu können. Bei der nächsten Wahl erhält das strebsame Mitglied einen untergeordneten Posten, etwa als Rechnungsrevisor oder Verwalter. Allmählich steigt es empor: es wird in den Logenausschuß gewählt, endlich gar zum Zweigsekretär. Es ist das die höchste Stelle innerhalb des Zweigver­ eines. Die Bezahlung ist noch sehr dürftig, 10—15 s. per Vierteljahr. Dabei wird fast die ganze freie Zeit, oft sogar ein Teil der Arbeitszeit von verantwortungsreichen Geschäften in Anspruch genommen. Zu den

72

Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine.

Pflichten des Sekretärs gehört auch die Vertretung der Loge im Ge­ werkschaftsrate (Trades-Council). Indeß von neuem wird die Laufbahn des jungen Mannes unter­ brochen. Es wird ihm von feinem Arbeitgeber gekündigt; vielleicht wegen eines Wortwechsels mit einem Werkführer, vielleicht weil er in seiner Vereinsthätigkeit zu stark hervorgetreten ist. Am Platze selbst findet sich keine geeignete Arbeitsstelle und abermals muß aus die „Walze" gegangen werden. Diesmal ist nur in einer Stadt, in der noch kein Verein besteht, Arbeit zu bekommen. Der ganze Ehrgeiz des richtigen Gewerkschafters geht nun dahin, einen Zweigverein ins Leben zu rufen. Er agitirt zunächst unter seinen Arbeitsgenossen in der Fabrik, er be­ sucht abends Orte, an denen die Arbeiter seines Gewerbes mit Vorliebe verkehren. Einige werden für die Idee gewonnen. Man tritt mit dem Zentralrat in Verbindung. Schließlich kommt der Generalsekretär, um in einer großen öffentlichen Versammlung die glänzende Wirksamkeit des Vereines darzuthun. Es komnit daraufhin in der That zur Grün­ dung einer Loge, und es ist nicht mehr als billig, daß man denjenigen, der sich dabei die größten Verdienste erworben hat und überhaupt in den Vercinsangclegenheiten wertvolle Erfahrungen besitzt, zum Sekretär wählt. Es gehört in der That sehr viel Unisicht, Gewandtheit und Arbeits­ lust dazu, um die Leute, die der Loge beigetreten sind, ihr auch dauernd zu erhalten. Mittlerweile tritt eine aufsteigende Konjunktur ein. Die Stunde ist da, welche über Blüte oder Untergang des Vereines ent­ scheidet. Einstimmig wird in der Loge eine Resolution zu Gunsten einer Lohnerhöhung oder Herabsetzung der Arbeitszeit angenommen. Das erregt unter den Arbeitern der Stadt großes Aufsehen und Interesse. Sie strömen dem Vereine zu, um die Bewegung zu unterstützen und ihrer Erfolge teilhaftig zu werden. Vorerst ist allerdings erst noch die Zustimmung des Zentralrates einzuholen. Rach langen Verhandlungen und genauen Aufschlüssen über den Stand der Dinge am Platze gibt er endlich die Erlaubnis zum Vorrücken. Nachdem der Zweigverein noch einen Fonds zur Deckung derjenigen Kosten gesammelt hat, welche der Gcmcrkverein nicht übernimmt, ist alles gerüstet, und der Sekretär übermittelt den Unternehmern die Wünsche der Arbeiter und die Kün­ digung. Die Arbeitgeber haben von dem herannahenden Sturme be­ reits Witterung erhalten und eine Vereinigung gebildet. Die Arbeiter werden aufgefordert, eine Deputation zu Verhandlungen zu schicken. Das geschieht. Die Arbeiter, noch nicht an solche Diskussionen gewöhnt, werden durch den Widerspruch ihrer Prinzipale erregt, und diese wieder sind noch zu sehr von dem Gefühle beherrscht, daß es eigentlich unter

Geschäfte der Beamten des Gewerkvereines.

73

ihrer Würde ist, mit ihren Leuten wie von Macht zu Macht zu unter­ handeln. Die Konferenz kann eine Einigung nicht erzielen. Da eilt der Generalsekretär herbei, um noch in letzter Stunde einen friedlichen Ausgang zu ermöglichen. Vergebens. Die Arbeitgeber, die ihn nicht fennen, wollen es nur mit ihren Leuten zu thun haben. Die Kündigungs­ frist läuft ab, der Streik beginnt. Die Arbeitgeber setzen alle Hebel in Bewegung, um Ersatzmänner aufzutreiben. Allein wegen des guten Geschäftsganges ist deren Zahl ungenügend und noch ungenügender die Qualität ihrer Leistungen. So bleibt schließlich nichts übrig, als nach­ zugeben. Ein Unternehmer nach dem andern bewilligt im wesentlichen die Forderungen der Arbeiter. Der Bestand der Loge ist gesichert. Wäre der Streik fehlgeschlagen, so würde sie bald von der Bildfläche verschwunden sein. Nach der glücklich durchgeführten Gründung eines Zweigvereines für den eigenen Beruf strebt unser Gewerkvereinler weiter. Es gilt, tiie Sache der Gewerkvereine auch in anderen Gewerben der Stadt vor­ wärts zu bringen. So wird er immer bekannter, man verlangt ihn oft als Redner, er wird Sekretär des Gewerkschaftsrates, nimmt an den Gemeindeangelegenheiten Anteil, gelangt in den Schulrat oder in den Stadtrat. Dadurch geht er allerdings seinem Vereine mehr und mehr verloren. Er wird in die politische Laufbahn gezogen und viel­ leicht zum Parlamentsmitglied gewählt. Die Partei, der er mit zum Siege verholscn hat, verschafft ihn« wohl gar einen Posten in der Regierung. Will der Gewerkvereinler aber der Gewcrkvereinslaufbahn treu 'bleiben, so muß er aus dem Gewerkschastsrate austreten und sich ganz seinem Vereine widmen. Man wühlt ihn dann zum Bezirksdelegirten mit einer Besoldung von 2 Lstr. bis 2 Lstr. 10 per Woche. Er ist nun kein Lohnarbeiter mehr, sondern gehört der Gewerkvereinsbureaukratie an. Die neue Stellung erfordert die Übersiedelung in eine im Mittelpunkte des Bezirkes gelegene Stadt. „Jeden Morgen erhält er einen ganzen Haufen Briefe über Ver­ einsgeschäfte. Der Generalsekretär schreibt ihm, er solle unverzüglich eine der Filialen des Distriktes behufs Prüfung der Bücher aufsuchen, ba dem Bureau Unregelmäßigkeiten gemeldet worden sind. Ein Tele­ gramm des Schriftführers einer Filiale verlangt seine sofortige An­ wesenheit zum Zwecke der Schlichtung eines Konflikts, der in einem großen Geschäfte ausgebrochen. Ein Dritter ersucht ihn um Ein­ berufung einer Massenversammlung des Gewerbes im ganzen Distrikt, amt darüber abstimmen zu laffen, ob wegen eines wirklichen oder ein-

74

Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine.

gebildeten Übelstandes' ein allgemeiner Streik proklamirt werden solle oder nicht. Der Sekretär des Unternehmervereins einer anderen Stadt setzt eine Zusammenkunft mit ihm fest, um miteinander über die Stück­ löhne für eine neue Art von Arbeiten zu diskutiren. Endlich fordert ihn der Sekretär seines Distriktsausschusses zur Teilnahme an einer Zusammenkunft mit dem Distriktsausschuß einer anderen Gewerkschaft auf, die mit jenem vereinbart worden ist, um eine schwierige Streit­ frage über die Abgrenzung von Arbeiten zwischen den Mitgliedern der beiden Gewerbe beizulegen. Unser Freund wendet zuerst eine halbe Stunde mit Briefschreiben auf. Er setzt einen Tag fest für die außerordentliche Revision der Rechnungen der verdächtigten Filiale, benachrichtigt den Generalsekretär mit ein paar eiligen Zeilen über seine Bewegungen in den nächsten Tagen, und schreibt dein Filialsekretär, er sei unbedingt gegen die vor­ geschlagene Massenzusammenkunft behufs Abstimmung über einen Streik, und zwar aus dem Grunde, weil eine zahllos besuchte eine wahllosbestimmende Versammlung („an aggregate meeting an aggravated meeting“) fei, und beraume statt dessen eine engere Konferenz der Ver­ treter der verschiedenen Filialen an. Dann eilt er zum Bahnhof, um pünktlich auf dem Schauplatze des ihm soeben mitgeteilten Konflikts einzutreffen. Hier findet er, daß eine Anzahl der Mitglieder die Arbeit eigenwillig niedergelegt haben und vor dem Eingang der Werkstätten umherlungern. Halb überredet er sie und halb gebietet er ihnen, die Arbeit sofort wieder aufzunehmen, während er selbst ins Geschäftsbureau geht, um den Unternehmer aufzusuchen. Zst es eine Vcreinswerkstätte in einem guten Gewerkvereinsdistrikt, so wird er bestens empfangen, und die Angelegenheit ist in wenigen Minuten erledigt. Mit dem nächsten Zuge geht es in die Nachbarstadt, wo er zwei oder drei Stunden mit dem Sekretär der Unternehmer verbringt, um mit Auf­ wand seines ganzen Scharfsinns die neuen Lohnsätze so zu drechseln, daß sie den Wochenverdienst der Mitglieder seiner Gewerkschaft, wenn nicht erhöhen, so doch mindestens auf ihrer alten Höhe belassen. Abends muß er zum Distriktszentrum zurück, um in der langen unb heißen Debatte einer kombinirten Sitzung die schwierige Frage durch­ zudreschen, zu welchem Gewerbszweig die von den Verbänden einander bestrittene Arbeit wirklich gehört, und wo die thatsächliche Grenzscheide zwischen den beiden Berufen liegt. So ist er Tag für Tag unterwegs und beschließt seine Thätigkeit spät abends mit Berichten an das im Hauptquartier seines Vereines sitzende Exekutivkomitee über den Staut» des Gewerbes, Organisations- und andere Angelegenheiten."")

Die Stellung des Generalsekretärs.

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Hat er nun Zahre hindurch die zahlreichen und schwierigen Geschäftezur Zufriedenheit des Vereines verwaltet, so wird er wohl schließlich für den Posten des Generalsekretärs kandidirt. Nachdem die Abstimmungsergebnisse aus allen Zweigvereinen gesammelt sind, ergibt sich, daß dieMehrheit der Stimmen auf ihn gefallen ist. Abermals muß übersiedelt werden entweder nach London, oder Manchester oder Newcastle, wo eben das Hauptquartier des betreffenden Vereines ist. Die Besoldung beträgt nun 200— 300 Lstrl. im Zahre. Die höchste Stelle, welche der Verein ihm bieten kann, ist damit erklommen. Um lange in dieser Stellung zu verbleiben, ist es not­ wendig, daß er die Fühlung mit den Empfindungen der Arbeiterwelt nicht verliert. Und die Gefahr einer Entfremdung ist für den Beamtem eines großen Vereines heute in der That nicht gering zu achten. Er wird in der bürgerlichen, Gesellschaft mit Vergnügen aufgenommen. Er bezieht ein kleines Haus in einem der Vororte, in denen die kleine Bourgeoisie wohnt. Der Verkehr mit Freunden aus der Arbeiterwelt kommt dann leicht ins Stocken. Der Bekanntenkreis wechselt und mit der neuen Lebensweise tritt allmählich leicht auch eine Änderung in beit Gesinnungen ein. Er steht den Beschwerden der Arbeiter immer kritischer gegenüber und ist geneigt Arbeitslose als Leute, die durch eigene Schuld Schiffbruch gelitten haben, anzusehen. „Begibt er sich mit seinem hohen Hute, seinem guten Uberzieher und einem geschniegelten Schirm zum Vereinsbüreau, so werden ihm leise, aber tief empfundene Flüche vom Mitgliedern, die auf Arbeitsuche sind, nachgeschleudert, und wenn btt Betreffenden anderwärts Arbeit gefunden, so verbreiten sie dort Ge­ schichten über seine Anmaßung und seinen Hochmut." Es kommt zu immer tieferen Differenzen und er legt schließlich die Stelle als Generalsekretär nieder, um eine bürgerliche Anstellung zu. übernehmen oder selbst ein Geschäft zu gründen. Der Gewerkschaftsbeamte, der zu vornehm für seine Stellung wird, ist aber nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, nehmen die englischen Gewerkvereine die vorhandene Erwerbsordnung als Grundlage für ihre Thätigkeit unumwunden an, und diese Thätigkeit selbst ist ganz über­ wiegend auf die Lösung rein wirtschaftlicher Aufgaben gerichtet. Dabei ist eine Befassung mit politischen Fragen im weiteren Sinne des Wortes nicht ausgeschloffen. Die Haftpflicht, die gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages, die Fabrik- und Bergwerksgcsetzgebung überhaupt, die

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Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine.

Arbeitsvcrhältniffe der staatlichen und kommunalen Betriebe, das alles sind Tinge, mit denen sich die Gewerkvereine oft sehr eifrig beschäftigen. Aber nie werden diese Probleme als politische Parteifragen behandelt, nie verpflichten sich die Gewerkvereine als solche für ein politisches Parteiprogramm. Und gerade der Umstand, daß sie sich von vorn­ herein ebenso wenig für die Tories wie die Whigs binden, nötigt beide Parteien dazu, auf die Stimmungen in der Gewerkschaftswelt sorgfältig Rücksicht zu nehmen. Sympathisiren auch die meisten Gewcrkoereinler noch mit der liberalen und radikalen Partei, so ist es doch keineswegs ausgeschlossen, daß gewisse Gewerkvereine einmal die konservative Rich­ tung bevorzugen, rocim sie gerade von ihr eine wirksamere Vertretung der besonderen Berufsinteresscn glauben erwarten zu dürfen. Bei den letzten Wahlen (1895) haben z. B. die Textilarbeiter von Lailcashire ungeachtet aller Anerkennung, die sie für die von dem liberalen Kabinett Rosebery durchgesetzte Reform des Fabrikgesetzcs hegten, den antiliberalen Kandidaten zum Siege vcrholfcn. Sie schienen ihnen eben größere Garantien für die Berücksichtigung ihrer besonderen, auf Bimetallismus, auf Verbot der indischen Einfuhrzölle gegen Baumwollfabrikate u. dgl. m. gerichteten Wünsche zu gewähren. Natürlich gibt cs auch Gcwcrkvereinler, die als Staatsbürger erklärte Anhänger einer bestimmten Partei sind. Aber in diesem Sinne werden auch alle Partcischattirungen Englands Anhänger unter den Gewerkvereinlern besitzen. Mit dieser Parteistellung hat die Thätig­ keit des Vereins selbst nichts zu schaffen. Es wäre undenkbar, daß ein Verein seinen Mitgliedern das Versprechen abforderte, einer bestimmten Partei nicht anzugehören, wie cs z. B. leider die Deutschen Gewerk­ vereine (Hirsch-Duncker) noch immer thun. Und wenn die sozialistischen Gewerkschaften Deutschlands auch keine Reverse von ihren Mitgliedern verlangen, daß sie sich der sozialdemokratischen Partei anschließen, so ist cs doch höchst unwahrscheinlich, daß Arbeiter, welche sich etwa als ent­ schiedene Parteigänger der nationalliberalen oder der Zentrumspartei be­ merkbar gemacht hätten, in einer Gewerkschaft zu einem Schatten von Einfluß gelangen könnten. Alle in der deutschen Gewerkschaftsbewegung hervortretenden Persönlichkeiten sind offene Anhänger der Sozialdemokratie. Ebenso wie in parteipolitischer Hinsicht besteht auch in kirchlichreligiösen Fragen unter den englischen Gewcrkvcreincn unbedingte Toleranz. Zn den Vereinssitzungen ist die Berührung solcher Angelegen­ heiten verboten. Indem die Gewerkvereine sich so ganz auf die Verhältnisse be­ schränkten, die allen ihren Angehörigen als Lohnarbeitern eines be-

Die Gewerkvereine und der Sozialismus.

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stimmten Berufes thatsächlich gemeinsam sind, haben sie ihre imposante Stärke erlangt und alle aufwärtsstrebenden Arbeiter eines Gewerbes in ihrem Lager zu vereinigen vermocht. In den letzten Zähren ist über die Stellung der Gewerkvereine zur Staatshilfe und zum Sozialismus viel hin- und hcrgestritten worden. Die Abneigung der früher streng individualistisch gesinnten Gewerk­ vereine gegen den Gedanken der staatlichen Intervention hat zweifels­ ohne abgenommen, schon deswegen, weil der englische Staat, mehr und mehr demokratisirt, ein ganz anderer geworden ist. Aber auch heute noch wird die Frage der Staatshilfe in erster Linie nach praktischen Gesichtspunkten entschieden. Die meisten der älteren, fest gefügten, mächtigen Verbände sind noch immer wirtschaftlich liberal, oder wie man in Deutschland zu sagen pflegt, mauchcsterlich gesinnt. Sie fühlen sich stark genug, um aus eigener Kraft mehr und besseres zu erreichen, als ihnen Parlamentsgesetze bieten könnten, und befürchten von einer Ausdehnung der sozialpolitischen Thätigkeit des Staates auch eine ungünstige Rückwirkung auf das Interesse der Arbeiterwelt an den Gewerkvercinen. Anders die „neuen", aus ungelernten Arbeitern be­ stehenden schwächern Verbände. Zm Bewußtsein der engen Grenzen, die ihrem Einflüsse gezogen werden, sind sie eifrige Befürworter der Staatsintervention. Sozialistische Vorstellungen sind unter den englischen Arbeitern immer verbreitet gewesen, aber in den letzten Jahrzehnten mehr als sogenannte „Sonntagsideale".") Wenn die neuen Gewerkvereine auch zur Popularisirung sozialistischer Gedanken viel beigetragen haben, so sind doch auch ihre Mitglieder keine revolutionären Sozialdemokraten, sondern konstitutionelle Staatssozialisten. Ihre vornehmsten Führer, wie Zohn Burns und Tom Mann, sind aus der „Sozialdemokratischen Föderation" ausgetreten, und ihre Parole heißt nicht mehr wie früher, jeder Gewerkvereinler müsse Sozial­ demokrat, sondern jeder Sozialdemokrat müsse Gewerkvereinler werden.") Die Beschlüsse, welche auf einigen Gewerkvereinskongreffen zu Gunsten der Verstaatlichung der Produktionsmittel gefaßt worden sind, können als Gegenargumente nicht verwendet werden. Abgesehen davon, daß solche Kongreßresolutionen (man vergleiche das oben S. 42 über die wahre Bedeutung des Kongresses Ausgeführte) keine praktische Be­ deutung haben, das Abstimmungsverfahren war so unvollkommen ge­ ordnet, daß die Mehrheit der Stimmen keineswegs die Mehrheit der Gewerkvereinswelt vertrat. Es wurde nach Köpfen der Delegirten abgestimmt. Der Delegirte eines ganz kleinen unerheblichen Lokal-

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Die Wirksamkeit insbesondere der englischen Gewerkvereine.

Vereines konnte denselben Einfluß ausüben, wie der Delegirte eines großen, Zehntausende von Arbeitern umfassenden nationalen Vereines. Erst 1895 auf dem Kongresse in Cardiff ist an Stelle der Abstimmung -nach den Köpfen der Delegirten die nach der Zahl der Vereinsmitglieder getreten, welche von den Delegirten vertreten werden. Die Folge war, daß eine Resolution zu Gunsten des Sozialismus nicht nur nicht erfolgte, sondern die übergroße Mehrheit (614000 gegen 170000 Stimmeil) sogar gegen die politische Taktik der sozialdemokratischen ■Independent Labour Party demonstrirte. Von den deutschen Gewerkschaften sozialistischer Richtung'^) hat erst die kleinere Hälfte die Unterstützung namentlich in Arbeitslosigkeits-, Krankheits-, Znvaliditäts- und Sterbefällen eingeführt. Die Mehrheit -will von der Pflege der Arbeiterversicherung nach dem Muster der englischen Gewerkvereine nichts wissen. Die Vereine verlören dann .ihren Charakter als Kampsvereine, sie würden „Harmoniedusler", sie schwächten das Klassenbewußtsein der Arbeiter ab. Za manche Gewerk­ schaften sehen möglichst niedrige Beiträge und dem entsprechend auch die Abwesenheit von Unterstützungsleistungen, abgesehen etwa von einem geringfügigen Reisegelde, als Grundbedingung für die Blüte ihrer Ent­ wicklung an. Ze leichter die Mitgliedschaft gemacht wird, desto zahl­ reicher der Mitgliederbestand, desto größer die Macht der Gewerkschaft. Es hat sich diesen Vorstellungen gegenüber aber auch in Deutsch­ land je länger, desto deutlicher ergeben, daß Gewerkschaften ohne sorgfältigen Ausbau von Unterstützungseinrichtungen den reinen Tauben­ schlag darstellen. Die Leute treten ihnen bei, verbleiben einige Wochen .in ihnen und drehen ihnen, da sie keine greifbare Förderung erfahren, bald wieder ganz den Rücken. So hat z. B. der Verband der Schneider, der keine größeren Unterstützungen zahlt, in einem Fahre 12 000 Mit­ glieder aufgenommen; dennoch war der Mitgliederbestand am Ende des Zahres nur 9000 gegen 7000 am Anfange. Innerhalb eines Zahres -waren also 10 000 wieder ausgetreten. Der Holzarbeiterverband mit 24 000 Mitgliedern verlor innerhalb eines Quartales allein 4481. Der Unterstützungsverein der Buchdrucker, der wie bekannt den englischen es Arbeitsvertrages befürwortet, die an die Gedanken des Staats­ sozialismus anklang. Und in der That, wo gegen die Verstaatlichung eines Wirtschafts­ zweiges kein Einwand erhoben werden kann, oder wo die Verstaatlichung bereits durchgeführt ist, wie z. B. in Deutschland in bezug auf die Eisenbahnen, dort wird die Lösung in dem Sinne erfolgen dürfen, daß alle Bediensteten, denen im öffentlichen Interesse der Verzicht auf die Koalitionsfreiheit zugemutet wird, auch die Vorteile der Beamten­ stellung erhalten, d. h., daß sie nicht bloß auf bestimmte kurze Zeit, sondern auf Lebenszeit angestellt werden und, so lange sie sich keines Disziplinarvergehens schuldig machen, Anspruch auf Beschäftigung, be­ ziehungsweise Gehalt erlangen. Zn ähnlicher Weise könnte die An­ gelegenheit in den kommunalen Gaswerken geordnet werden. Dagegen habe ich mich mehr und mehr überzeugt, daß vom Kohlen­ bergbau und in den Nahrungsmittelgewerben eine Fortbildung des Arbeitsvertrages, welche auch die Arbeiter zufriedenstellen würde, von staatssozialistischen Einrichtungen nicht erwartet werden darf. Abgesehen von den nicht unerheblichen Gründen, die vom politischen Standpunkte aus gegen die Verstaatlichung des gesamten Kohlenberg­ baues erhoben werden könnten, dürfte auch die wirtschaftliche Natur der für den Weltmarkt arbeitenden und von all' seinen Konjunkturen abhängigen Kohlenwerke es nicht gestatten, allen ihren Arbeitern die Stellung von Subalternbeamten zuzuerkennen. Eine Verstaatlichung bes Kohlenbergbaues ohne die Verwandelung ihrer Arbeiter in Subalternbeamte bietet aber, wie die Arbeiterverhältniffe auf den staatlichen Gruben in Deutschland zeigen, keinerlei Garantie für eine befriedigende Entwicklung der Arbeiterverhältniffe. Die staatlichen Gruben übertreffen in sozialer Hinsicht die privaten Gruben keineswegs und sind auch von Arbeitseinstellungen nicht verschont geblieben. Die staatssozialistische Ordnung des Arbeitsverhältnisses in den Kohlengruben ist aber auch garnicht notwendig. Nicht als ob Arbeits­ einstellungen im Kohlenbergbau nicht sehr große Nachteile für das ge­ samte Wirtschaftsleben eines Landes hervorrufen könnten. Im Gegen­ teil: ein allgemeiner Kohlenarbeiterausstand gehört gewiß zu den gefähr­ lichsten Störungen, die es geben kann. Aber gerade die überaus ver­ heerende Wirkung, die ein solcher Ausstand nicht nur für die besitzenden Klaffen, sondern vor allein für die Arbeiterwelt selbst hätte, bedeutet ffür die Arbeiter der Kohlengruben eine gar nicht zu unterschätzend^

Arbeitsstreitigkeiten im Kohlenbergbau und im Verkehrswesen.

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Schranke. Die Kohlenarbeiter können nur dann, wenn ihre Forderungen die Sympathie der öffentlichen Meinung besitzen, eine Arbeitseinstellung großen Stiles wagen. Es wäre nun durchaus nicht gerechtfertigt, eine Arbeitergruppe, welche zwar eine gefährliche Waffe besitzt, diese aber nur dann mit Erfolg benutzen kann, wenn sie vom Publikuni gebilligte Zwecke verfolgt, besonderen Einschränkungen zu unterwerfen, ohne ihnen, wie die Dinge liegen, eine angemessene Entschädigung für die geminderte Freiheit bieten zu können. Die Unbequemlichkeiten und Störungen, die aus der Koalitionsfreiheit der Kohlenarbeiter entspringen können, stehen an Bedeutung jedenfalls hinter denjenigen zurück, die mit der Ver­ staatlichung des gesamten Kohlenbergbaues verknüpft sein würden. Ähnlich wie der Fall der Kohlenarbeiter ist derjenige der Verkehrs­ bediensteten dort zu beurteilen, wo das Transportgewerbe durchaus Privaten überlaffen ist. Auch hier bietet die Benachteiligung des ge­ samten Publikums durch einen größeren Streik eine praktisch ausreichende Sicherheit dafür, daß Ausstände nicht aus Mutwillen unternommen werden. Ist die Funktion der Verkehrsanstalten gesichert, und das ist selbst in England ungeachtet der Koalitionsfreiheit ihrer Arbeiter im großen Ganzen doch immer der Fall gewesen, so scheiden die Nahrungsmittel­ gewerbe aus dem Kreise derjenigen Berufe überhaupt aus, in denen Arbeitseinstellungen öffentliche Interessen schädigen. Erst ein allgemeiner Streik der Bäcker- und der Metzgergehilfen eines großen Gebietes könnte empfindliche Schwierigkeiten Hervorrufen. Unter den gegenwärtigen Verhältniffen, bei der selbst in England praktisch bedeutungslosen Organisation der Bäcker und Metzger, liegt diese Möglichkeit aber so fern, daß ein Anlaß zu eingehenderer Erörterung nicht vorliegt. Es soll mit diesen Darlegungen die Möglichkeit ernster Störungen durch Arbeitseinstellungen nicht geleugnet, sondern nur dargethan werden, daß die Mittel zur Verhütung solcher Störungen noch mehr Anlaß zu Bedenken bieten als diese selbst. Es ist ferner auch fraglich, ob ohne solche Störungen die öffentliche Meinung der besitzenden Klaffe sich über­ haupt hinreichend mit den Fragen der Fortbildung des Arbeitsverhältniffes befassen würde, ob sie nicht ein Mene Tekel darstellen, das für absehbare Zeiten im Interesse der aufsteigenden Klaffenbewegung der Arbeiter gar nicht entbehrt werden kann. Wie immer man über die Gewerkschaftsbewegung urteilen mag — und die an ihr geübte Kritik hat ja gezeigt, daß die Gewerkschaft nicht im stände ist, allein und unter allen Umständen, die Nachteile, welche die Arbeiterklaffe unter der heutigen Erwerbsordnung treffen, zu be-

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Kritik der Wirksamkeit der Gewerkoereine.

festigen — alle vorurteilslosen Beobachter stimmen doch darin überein, daß für die Erziehung der Arbeiter zu selbständigen Menschen und freien, gleichberechtigten Bürgern nichts so viel geleistet hatt als die Gewerkschaftsbewegung. Und solche erziehliche Leistungen haben nicht nur die berühmten großen englischen Trade-Unions auszuweisen. Auch kleinere und schwächere Verbände, selbst solche mit Arbeiterinnen als Mitgliedern, stehen in diesem Punkte nicht zurück. In letzterer Hinsicht hat eben erst Frau Elisabeth Gnauck-Kühnes") die zur besseren Ermittlung der Verhält­ nisse der Berliner Arbeiterinnen selbst als Arbeiterin in einem Papier­ warenunternehmen gearbeitet hat und dem evangelisch-sozialen Kongresse angehört, also eine Voreingenommenheit für die Wirksamkeit sozial­ demokratisch angehauchter Organisationen wohl nicht besitzt, folgendes äußerst beachtenswerthe Urteil gefällt: „Dieser sittliche tragende Einfluß der Gewerkschaft kann nicht hoch Henug angeschlagen werden. Für Zugezogene, von der Familie Los­ gelöste, für Schlafmädchen ist der Verein vielleicht der einzige Halt, der ihnen auch zugleich Schutz und Anregung gewährt; für diejenigen, welche im engen häuslichen Kreise leben, ist er eine Schule, welche sie zu Gemeinsinn und Verständnis für ihre Lage, den ersten Erforder­ nissen zu einem erfolgreichen, gemeinsamen Kampfe um verbesserte Arbeitsbedingungen, erzieht. Der Gemeinsinn der organisirten Arbeite­ rinnen bethätigt sich äußerlich durch Zahlung des wöchentlichen Bei­ trages von 15 Pfennigen und größeren Opfern bei Streiks und Aus­ sperrungen; den Bierboykott 1894 unterstützten die weiblichen Mitglieder des Fachvereines ohne Rücksicht darauf, ob sie der sozialdemokratischen Partei angehörten oder nicht. An Mitgliederbeiträgen brachten die dem Verbände angehörigen 325 weiblichen Arbeiter im Fahre 1894 562 M. H Pf. auf, ein Betrag, der angesichts ihrer Einnahme ihre Opfer­ willigkeit besser beweist als Worte. An praktischen Vorteilen bietet der Verein dafür die wöchentlich einmal erscheinende Buchbinderzeitung, welche belehrende wirtschaftliche und rein fachliche Artikel, sowie einen unterhaltenden Teil bietet, den Arbeitsnachweis, eine Bibliothek, welche jeden Sonnabend Abend geöffnet ist und viel benutzt wird, belehrende Vorträge und verschiedene Festlichkeiten im Laufe des Jahres. Weit höher als diese Vorteile ist aber neben dem schon erwähnten sittlich tragenden Einflüsse die erziehliche und die schützende Wirkung der Organisation anzuschlagen. Der erziehende Einfluß des Vereines zeigt sich äußerlich. Die Ver­ sammlungen verlaufen teils ruhig, teils angeregt, immer aber würdig___

Erziehliche Erfolge der Gewerkvereine.

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Bemerkenswert ist, wie der Hang zu äußerm Tand unter dem Einflüsse der Organisation abnimmt; in den Versammlungen der Gewerkschaft fallen geputzte Frauen auf; die ständigen Besucherinnen, unter denen auch die Siebenzehnjährigen vertreten sind, kleiden sich sorgfältig aber einfach. ... Wir finden unter diesen weiblichen Vereinsgliedern strebsame Naturen, welche in den Pausen der Fabrikzeit und in den Abendstunden ihre Schulbildung erweitern und einen tadellosen Brief schreiben. Das Urteil der älteren Arbeiter über diese weibliche Zugend lautet dahin, daß sie, wenn die Bedeutung der Kampfesorganisation einmal erfaßt worden ist, treue und zum Teil eifrige Mitglieder werden."

Anmerkungen. 1. Vgl. Bernstein, Zur Frage des ehernen Lohngesetzes, Neue Zeit IX. 1. Bd. insbes. S. 369 f. u. 503 f.; Brentano, Die Lehre von den Lohnsteigerungen. I. f. N. u. St. 16. Bd.; ©. 251-281; Marx, Das Kapital 1. Bd. 3. Aust. Hamburg 1883 S. 624 f. 2. Bd. 1885 S. 445, 446. 2. Lassalles Reden und Schriften, herausgegeben von E. Bernstein. Berlin 1893. II. S. 421 f. 3. Marx, Das Elend der Philosophie. Stuttgart 1885. S. 171 f.; Derlelbe, Das Kapital, 3. Aufl. S. 636. 4. Vgl. auch Webb u. Cox, The eight hours day. London 1891. S. 93 bis 139; Rost, Der achtstündige Normalarbeitstag. Leipzig 1896. S. 107—141. 5. Schoenhof, The Economy of High Wages. New-York and London 1892. S. 34, (zitirt nach Brentano, Über das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitszeit. Leipzig 1893. S. 37.) 6. Brentano, Über das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung. 2. Auflage. Leipzig 1893; Rost, Der achtstündige Normalarbeits­ tag. Leipzig 1896. S. 87—107. 7. S. P. S. C. IV. S. 91. 8. Die folgenden Ausführungen nach R. Martin, Zur Verkürzung der Arbeitszeit in der mechanischen Textilindustrie. A. f. s. G. VIII. S. 256 f. 9. Bericht für 1891 S. 8. 10. Brentano, S. d. V. f. S. XLV. S. LXXV. 11. The Nineteenth Century, November 1892. S. 680. 12. Final Report of the Royal Commission on Labour. London 1894. S. 112. 13. Nineteenth Annual Report of the Local Government Board. London 1890. S. 371. Second Annual Report of the Labour Department. London 1895. S. 84.

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Kritik der Wirksamkeit der Gewerkvereine.

14. Final Report of the Royal Commission on Labour. London 1894. S. 79. 15. st. st. O. S. 75. 16. Über die Schwierigkeiten, welche aber einer Erhebung der Landarbeiter durch Gewerkvereine entgegenstehen, vgl. Hasbach, Die engl. Landarbeiter. S. V. f. S. L1X. Leipzig 1894, S. 313. 17. Final Report, S. 79 f. 18. Gertrud Dyhrenfurth, Die gewerkschaftliche Bewegung unter den eng­ lischen Arbeiterinnen. A. f. s. G. VII. S. 205 f. 19. Über die Erfolge der ländlichen Gewerkvereine in England in dieser Be­ ziehung stehe Hasbach, a. a. O. S. 324. 20. E. Gnauck-Kühne, Die Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papier­ warenindustrie. Z. f. G. V. XX. S. 435 f.

Sechstes Kapitel.

Die Arbeilerversicherung. Ein vollkommen ausgebildeter Gewerkverein tritt für seine Mit­ glieder ebenso gut im Falle der Arbeitsunfähigkeit, bedingt durch Krank­ heit, Unfall, Invalidität oder hohes Alter, als im Falle der Arbeits­ losigkeit ein. Es besteht somit für die Mitglieder solcher Verbände keinerlei Anlaß, noch besonderen Arbeiterversicherungs-Organisationen sich anzuschließen. Allein es gibt auch weniger gut entwickelte Vereine, die nur die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit übernehmen. Es gibt ferner große Gebiete, in denen es die Arbeiter zu einer gewerkschaft­ lichen Organisation nur in vereinzelten Fällen gebracht haben. Das Bedürfnis der Arbeiter, bei Krankheit, Unfall u. s. w. nicht sofort der Armenpflege überantwortet zu werden, ist aber so mächtig, daß dort, wo kräftige Gewerkvereine aus diesem oder jenem Grunde nicht ent­ standen sind, immerhin Vereinigungen der Arbeiter ins Leben traten, die sich die Aufgabe stellten, in den genannten Fällen für ihre Mitglieder zu sorgen. Der Weg des individuellen Sparens gewährt dem Arbeiter ja schon deshalb keine ausreichende Sicherheit, weil das Mißgeschick leicht viel früher eintreten kann, als es einem Arbeiter selbst bei gutem Lohne möglich ist, eine Summe zu ersparen, welche zur Deckung seines Bedarfes auf längere Zeit hinaus ausreicht. Im übrigen sind die Lohnverhältniffe für viele Arbeiter derart, daß sie selbst bei einer durch Jahrzehnte fortgesetzten Sparsamkeit es nicht ermöglichen, ein Kapital anzu­ sammeln, welches die Lebensführung eines z. B. im 55. Lebensjahre invalide werdenden Arbeiters bis ans Ende seines Daseins sicher stellen würde. Soll sich also der Arbeiter gegen diese Notfälle aus eigener Kraft irgendwie sichern, so kann dies mit Erfolg nur dadurch geschehen, daß eine größere Zahl von Arbeitern zur gemeinsamen Übernahme der Herkner, Die Zlrbcitersrcicfc. *>. SiufI.

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Die Arbeiterversicherung.

Gefahr zusammentritt. Treffen doch die genannten Wechselfälle nicht alle Arbeiter oder wenigstens mit sehr verschiedener Wucht und in sehr ver­ schiedenem Lebensalter. Schließen sich die Arbeiter zu einer Hilfskasse zusammen, so findet eine Verteilung des Risikos auf alle Arbeiter statt. Die leichter oder gar nicht betroffenen Mitglieder treten für ihre rninder glücklichen Genossen ein, und es wird möglich, durch verhältnismäßig kleine Prämienzahlungen eine leidliche Sicherung gegen Störungen im Bezug des Arbeitslohnes zu gewinnen. Das Bedürfnis nach derartigen gegenseitigen Unterstützungsvereinen ist ein so elementares, daß die Arbeiter auch dort schon sehr früh Hilfskassen, namentlich zur Unter­ stützung im Falle der Krankheit, begründet haben, wo die Hilfsverbände des alten Zunftwesens aufs gründlichste zerstört worden waren, und die Gesetzgebung, wie in Frankreich, jede Vereinigung von Arbeitern mit dem größten Mißtrauen verfolgte. Zur Krankenunterstützung traten in der Regel im Todesfälle noch Begräbnisgelder. Häufig wurden die Unterstützungen schlechthin in Notlagen gewährt, mochten diese nun durch Krankheit, Unfall oder Invalidität entstanden sein. Von einer strengen versicherungstechnischen Grundlage war keine Rede, da ja auch die hier­ für notwendigen statistischen Aufzeichnungen noch fehlten. Erfüllt von dem Gedanken „Alle für einen, einer für alle" sorgte man durch Umlagen dafür, daß die Mittel zur Auszahlung der statutenmäßigen Unterstützungen aufgebracht wurden. Oft versprachen die Kaffen mehr als sie halten konnten. Auch ließ die Verwaltung zu wünschen übrig, und gewiffenlose Elemente mißbrauchten das Vertrauen der Genoffen. Dabei fehlte es nicht an Drangsalirungen durch die Behörden, da sie in den Hilfskassen Organisationen erblickten, welche je nach Bedarf auch anderen als rein humanitären Bestrebungen zu dienen vermöchten. Zn der That sind viele Gewerkvereine aus solchen Unterstiitzungsverbänden hervorgegangen. Ungeachtet all' dieser Schwierigkeiten ist das freie Hilfskaffenwesen, besonders in England, mächtig emporgeblüht.') Die finanziellen Grund­ lagen haben sich unter dem Einflüsse einer vernünftigen Staatsaufsicht erheblich gebessert. Einige dieser Kassen, wie die Odd-Fellows und die Foresters besitzen weit über eine halbe Million Mitglieder. Die Mit­ gliederzahl der gesamten „friendly societies“ in Großbritannien und Irland, welche an dieBehörde berichten, betrug 1892 8320262 mit einem Vermögen von 26003061 Lstrl?) Die Fürsorge, die sie entwickeln, erstreckt sich in erster Linie auf Unterstützungen bei Krankheiten und auf Begräbnisgelder. Aller­ dings haben solche Kassen auch die Versicherung gegen die wirtschaftlichen Folgen der Betriebsunfälle nicht ohne Erfolg übernommen. Das roctr.

Altersversicherungspläne in England.

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aber nur deshalb möglich, weil durch die staatliche Haftpflichtgesetzgebung ein Teil dieser Lasten auf die Betriebsunternehmer übertragen worden ist. Auf dem wichtigen Gebiete der Altersversorgung haben sie wenig geleistet. Der Mißerfolg muß, wie Baernreither ausführt, auf zwei mächtige Hindernisse zurückgeführt werden, von denen das eine materieller, das andere psychologischer Natur ist: selbst für die bester bezahlten Arbeiter sind die Beiträge zu einer genügenden Altersversicherung noch unerschwinglich hoch, und zudem fehlt noch den meisten Arbeitern die Einsicht und die Kraft, „für ein weit in der Zukunft liegendes Be­ dürfnis, von dem man überdies weiß, daß es in ein Lebensalter fällt, das viele gar nicht erleben werden, lästige Verpflichtungen in der Gegen­ wart einzugehen." Unter diesen Umständen ist neuerdings von verschiedenen Seiten eine allgemeine obligatorische staatliche Altersversicherung oder wenigstens eine staatliche Förderung der Altersversicherung vorgeschlagen worden. Ersteres ist durch die Projekte von Canon Blackley3) und Charles Booth geschehen, letzteres durch den bekannten englischen Staatsmann Chamberlain?) Er wies darauf hin, daß nach dem Zensus von 1891 im Vereinigten Königreiche 1372601 Personen älter als 65 Jahre seien; im Jahre 1892 fielen von diesen 401904 der Armenversorgung zur Last, also etwa 29,28 Proz. Im Hinblick auf die größere Sterblichkeit der arbeitenden Klassen glaubte er annehmen zu dürfen, daß ungefähr die Hälfte der Arbeiter in ihrem Alter nicht mehr im Stande sei, sich selbst zu erhalten. Tie ohnehin dornenreiche Angelegenheit der Alters­ versicherung wird in England noch besonders verwickelt durch die Inter­ essen der zahlreichen und mächtigen freien Hilfskaffen der Arbeiter, die sich zum Teil ja schon mit der Altersversicherung befassen und besonders vom Staate zu errichtende Anstalten mit großem Argwohne aufnehmen. -Chamberlain glaubte früher, die sich kreuzenden Interessen mit folgendem Vorschlage versöhnen zu können: Jeder Arbeiter, der vor Vollendung des 25. Lebensjahres bei einer Sparkasse 5 Lstrl. eingezahlt hat, soll mon feiten des Staates einen Zuschuß von 15 Lstrl. erhalten. Zahlt er dann noch weiter jedes Jahr 20 s. ein, so ist er berechtigt, vom 65. Lebensjahre an bis an sein Lebensende 5 s. wöchentlich von der Sparkasse als Reute zu beziehen. Die großen Schwächen des vor­ geführten Planes liegen zu nahe, als daß sic einer besonderen Aus-einandersetzung bedürfen würden. Man vergegenwärtige sich nur ein­ mal das Verhältnis zwischen dem einen Zuschuß gewährenden Staate und den äußerst mannigfach organisirten und sundirten Spar- und Anterstützungsvereinen, in deren Verwaltung der Staat doch nicht oder

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Die Arbeiterverstcherung.

nur möglichst wenig eingreifen soll. Chamberlain hat deshalb seinen Plan dahin umgeändert, daß jedes Mitglied einer freien Hilfskaffe 1V2 d. in in der Woche von seinem 18. Zahre an zahlen solle. Diese Versicherungs­ summen seien staatlich sicher zu stellen, und der Staat habe ebenso Diel dazu zu geben. Dann würden die 65 jährigen ebenfalls eine wöchent­ liche Rente von 5 s. beziehen. Allein auch dieser Vorschlag ist von den Hilsskassen verworfen worden. Bei einem Entwürfe, der von Sir Walter Foster und Labouchöre eingebracht worden ist, handelt es sich nur um eine Reform der Armen­ pflege in dem Sinne, daß jede Person, welche während der letzten dem Unterstützungsanspruche vorangegangenen fünf Zahre keine Armenpflege genoffen, noch eines groben Mißbctragens sich schuldig gemacht hat, zum Bezüge einer Rente von 5 s. per Woche, beziehungsweise zum Bezüge einer 5 s. nicht übersteigenden Summe, welche zur Ergänzung ihres Einkommens auf 10 s. notwendig ist, fürderhin berechtigt sein soll. Es wird also unter gewissen Voraussetzungen klipp und klar ein Recht auf Unterstützung gewährt, dessen Geltendmachung irgend welche ent­ ehrende Folgen nicht in sich schließt?) Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Lösung der Frage mehr in der letztgenannten Richtung einer Milderung der Armengesetzgebung erfolgt. Der subsidiäre Charakter, der nach englischer Anschauung der Staatshilfe zukommen soll, bliebe bestehen und die Triebfedern, welche auf seiten der Arbeiter eine selbständige und unabhängige Entwicklung des Hilfskasscnwesens anbahnen, würden in keiner Weise lahm gelegt. In ganz anderem Sinne ist die Ausbildung der Arbeiterversiche­ rung im Deutschen Reiche erfolgt. Zur Bekämpfung der Notlagen, die für Arbeiter aus Krankheit, Unfall, Alter oder Invalidität ent­ springen, ist eine reichsgesetzliche Zwangsversicherung eingeführt worden. Teils mögen es die prinzipiellen und praktischen Mängel, welche bem freien Hilfskassenwcsen überhaupt ankleben, und die bei der an eine bureaukratische Bevormundung gewöhnten deutschen Arbeiterschaft doppelt schwer ins Gewicht fallen, teils aber auch die Antipathien maß­ gebender Kreise, ein freies Vereinsleben der Arbeiterklasse zu befördern, gewesen sein, die zum Ausbau der reichsgesetzlichen Fürsorge geführt haben. Za, als durch das Sozialistengesetz jede selbständige Bewegung der arbeitenden Klassen in Deutschland unterbunden war, wurde es gerade­ zu eine moralische Pflicht des Reiches, selbst für die Arbeiter einzutreten. Zin übrigen entsprach eine reichsgesetzliche Arbeiterversicherung auch ganz den sozialpolitischen Zdeen des Fürsten Bismarck, welcher, der Ausbildung der Fabrikgesetzgebung und des Gewerkschaftswescns abge-

Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881.

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■neigt, schon unter dem 18. März 1863 in einem Schreiben an den Minister des Innern Grafen zu Eulenburg die Errichtung von Alters­ versorgungsanstalten für die arbeitenden Klassen warm befürwortet hattet) Zn überaus feierlicher Form wurde in der bekannten kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 das Programm für die reichsgesetz­ liche Arbeiterversicherung aufgestellt: „Schon int Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht aus­ schließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere kaiserliche Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von neuem ans Herz zu legen, und würden Wir mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Bei­ standes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlaflen. Zn Unseren darauf gerichteten Bestrebungen sind Wir der Zustimmung aller verbün­ deten Regierungen gewiß und vertrauen auf die Unterstützung des Reichstages ohne Unterschied der Parteistellung. Zn diesem Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regie­ rungen in der vorigen Session vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht auf die im Reichstage stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung unterzogen, um die erneute Beratung desselben vorzu­ bereiten. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder durch Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Teil werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemein­ wesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volks­ lebens steht. Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volks­ lebens und das Zusammenfassen der letzteren in die Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutze und staatlicher Förderung

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Die Arbeitervcrsicherung

werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich« machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht ge­ wachsen sein dürfte." Die erste Reform, die auf Grund dieses Programms zu stände kam,, war das Krankenversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883. Hier ist das Vorgehen durch den Umstand erheblich erleichtert worden, daß Kranken­ versicherungsorganisationen, teils von Arbeitgebern, teils von Arbeitern, teils von Geineinden begründet, schon allenthalben bestanden. Man hatte die bereits bestehenden Einrichtungen eigentlich nur durch Aus­ sprechen des Versicherungszwanges zu verallgemeinern. Nachdem spätere Maßnahmen von 1885 und 1886 die Versicherungspflicht auf bieArbeiter der Transportgewerbe ausgedehnt und es der Landesgesetz­ gebung anheim gestellt haben, auch die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter einzubeziehen, ist die Zahl der wirklich versicherten Personen (inklusive der Versicherten bei den Knappschaftskaffen) im Fahre 1893:. 7 584 904 ’). Es sind im allgemeinen Lohnarbeiter, die ein Einkommen von weniger als 2000 Mk. im Jahre beziehen. Die Organisationen, welche die Versicherung zu übernehmen haben, werden gebildet: 1) durch die Orts- und Gemeindekrankenkaffen; ihre Errichtung liegt den Ge­ meindebehörden ob, und sie dienen vornehmlich den Arbeitern der Klein­ gewerbe. 2) Die Betriebs-, Bau-, Jnnungs- und Knappschastskassen. Diese hat der Arbeitgeber einzuführen. Abgesehen von den Mitgliedern der Jnnungskaffen sind es großindustrielle Arbeiter, die in dieser Kategorie von Kaffen versichert werden. Die gesetzlichen Minimalleistungen der Kaffen bestehen darin, daß die Erkrankten erhalten: für 13 Wochen freie ärztliche Behandlung nebst Heilmitteln und bei Erwerbs­ unfähigkeit ein Krankengeld zur Hälfte des durchschnittlichen Tagelohnes, oder an Stelle dieser Leistungen freie Anstaltspflege nebst dem halben Krankengelde für Angehörige; ferner dieselbe Fürsorge für Wöchnerinnen auf die Dauer von vier Wochen, und im Todesfall ein Sterbegeld zum 20 fachen Betrage des Tagelohnes. Die dazu nötigen Mittel werden durch Wochenbeiträge (bis zu 3 Prozent des Durchschnittslohnes) auf­ gebracht, welche die Versicherten zu Zweidrittel, ihre Arbeitgeber zu Eindrittel zu tragen haben. Diesen Leistungen entspricht auch die Ver­ tretung beider Teile im Vorstande der Kaffen. Es bleibt den Arbeitern aber auch die Möglichkeit offen, freie Hilfskassen zu errichten. Die Mitgliedschaft bei einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden freien Hilfskaffe befreit von der Zugehörigkeit zu einer der oben genannten Kaffen. Es besteht aber nur ein Kaffenzwang, nicht aber eine Zwangs­ kasse.. Für die freien Hilfskassen beigetretenen Arbeiter haben deren

Kranken- und Unfallversicherung in Deutschland.

Hg

Arbeitgeber keine Beiträge zu leisten. Zm Zahre 1893 entfielen an die verschiedenen Kassenarten Mitglieder:8) Gemeindekrankenversicherung. . . 1236 736 Ortskrankenkassen .... . . 3 240 371 Betriebskrankenkassen . . . . . 1782 614 Baukrankenkassen .... . . 31 188 Znnungskrankenkassen . . . . . 90 528 Knappschaftskassen .... . . 478 100 Landesrechtliche Hilsskassen . . . 63 007 Freie Hilfskassen .... . . 662 360 Zn dem gleichen Zahre wurde verausgabt: für ärztliche Behandlung . . 21 423 856 M. „ Arznei u. s. w.............. 17 693 412 „ „ Krankengeld................. 45 775 471 „ „ Anstaltsverpflegung . . 17 078 959 „ zusammen 101 971 698 M. Die Zahl der Erkrankungsfällebetrug 2 794 027, die der Krank­ heitstage 46199 436. Erst nachdem die Krankenversicherung geordnet worden war, konnte die Versicherung gegen die Betriebsunfälle, welche sich zum großen Teile auf die Krankenkassen stützt, mit Erfolg in Angriff genommen werden. Zm Zahre 1871 war ein Haftpflichtgesetz angenommen worden. Es gewährte dem Arbeiter, der durch einen Unfall verletzt worden war, indes nur dann Entschädigung, wenn er ein Verschulden des Arbeitgebers oder eines Betriebsbeamten nachweisen konnte. Die Schwierigkeit dieser Beweislast entzog den Arbeitern in den meisten Fällen die Wohlthaten des Gesetzes. So beschloß die Reichsregierung, den zivilistischen Grundsatz des Schadensersatzes überhaupt fallen zu lassen und an dessen Stelle eine aus dem Boden des öffentlichen Rechtes sich bewegende Fürsorge für die durch Betriebsunfälle betroffenen Arbeiter und deren Hinter­ bliebene einzuführen. Der erste Entwurf beabsichtigte für die Zwecke der Versicherung eine Reichsanstalt ins Leben zu rufen. Bei dieser sollten die Unternehmer ihre Arbeiter versichern. Zn die Aufbringung der Mittel hätten sich Reich, Arbeitgeber und Arbeiter zu teilen gehabt. Der Reichszuschuß wurde indes als eine „sozialistische" Maßregel vom Reichstage verworfen. Erst auf einen dritten Entwurf hin kam eine Einigung unter den gesetzgebenden Faktoren zu stände. Das Unfallversicherungsgesetz vom 6. Zuni 1884 (mit Nachträgen aus den Zähren 1885, 1886 und 1887) erstreckt sich so ziemlich auf

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Die Arbeiterversicherung.

alle Lohnarbeiter mit weniger als 2000 Mk. Jahreseinkommen. Aus­ genommen sind noch die Arbeiter des Handels und derjenigen gewerb­ lichen Kleinbetriebe, in denen keine Motoren zur Verwendung gelangen. Sofern die Unfälle nur eine Erkrankung oder Erwerbsstörung von weniger als 13 Wochen begründen, fallen sie den Krankenkassen zur Last. Zn den übrigen Fällen tritt die Unfallentschädigung ein, und diese umfaßt: 1) bei Verletzungen die Kosten des Heilverfahrens und eine Rente für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit bis zu 662/3 Prozent des durchschnittlichen Zahresarbeitsverdienstes oder an Stelle dieser Leistungen freie Anstallspflege bis zur Beendigung des Heilverfahrens und eine Rente für die Angehörigen des Verletzten wie im Todesfall; 2) bei Tötungen die Beerdigungskosten bis zum 20 fachen Betrage des Tage­ lohnes und eine Rente für die Hinterbliebenen vom Todestage ab (für die Wittwe und Kinder bis zu 60 Prozent, für bedürftige Eltern 20 Prozent des Zahresarbeitsverdienstes). Zur Übernahme dieser Lasten sind die Unternehmer nach Maßgabe ihres Berufes in besondere Berufsgenossenschaften vereinigt worden. Die Beiträge werden int Verhältnis zu den von den einzelnen Unternehmern gezahlten Löhnen umgelegt. Zm Zahre 1893 betrug die Zahl der versicherten in den Gewerblichen Berufsgenoffenschaften . . 5 168 Landwirtschaftlichen Berufsgenoffenschaften (ungefähr)............................................ 12 289 bei den staatlichen und kommunalen Aus­ führungsbehörden ................................. 660 Zusammen

Arbeiter') 973 415 462

18 118 850

Für 201 401 Verletzte hatte die Krankenversicherung, für 62 729 die Unfallversicherung auszukommen. Getödtet wurden durch Unfall 6 336 Arbeiter, die 12 763 Hinterbliebene zurückließen; dauernd er­ werbsunfähig 2 507. Besonders groß ist die Zahl der schweren Unfälle im Bereiche der Knappschafts-, Baierischen Holzindustrie-, Müllerei-, Brennerei- und Mälzerei-, Speditions-Speicherei- und Kelle­ rei- sowie der Fuhrwerks-Berufsgenossenschaften. Die Entschädigungs­ beträge erreichten die Höhe von 38 163 800 M. Roch größere Schwierigkeiten als die Unfallversicherung türmte die Einführung der Alters- und Znvalidenversorgung aus. Da es galt, durch Prämienzahlungen der Arbeitgeber und Arbeiter zu Gunsten der letzteren einen Rentenanspruch für den Fall zu begründen, daß

Jnvaliditäts- und Altersversicherung in Deutschland.

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Invalidität oder hohes Alter ihre Erwerbsfähigkeit beschränkt, so hatte man mit den Störungen in den Prämienzahlungen zu kämpfen, welche durch Verdienstlosigkeit, durch den Wechsel des Arbeiters von Ort zu Ort, von Beruf zu Beruf und durch die zeitlich sehr wechselnde Höhe des Einkommens hervorgerufen werden. Das Gesetz betr. die Znvaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Zuni 1889, das im Reichstage nur mit einer geringen Majorität angenommen wurde, verfolgt, wie schon seine Bezeichnung sagt, einen doppelten Zweck. Derjenige, der ein gewisses Minimum nicht mehr zu verdienen im stände ist, empfängt ohne Rücksicht auf sein Alter eine Invalidenrente. Wer aber das 70. Lebensjahr vollendet hat, der hat wiederum, ohne Rücksicht auf die wirkliche Höhe seines Einkommens, einen Anspruch auf Altersrente. Zur Aufbringung der Mittel vereinigen sich Reich, Arbeitgeber und Arbeiter. Ersteres trägt zu jeder Reute, die zur Auszahlung gelangt, pro Jahr 50 Mk. bei. Letztere steuern zu gleichen Teilen bei und zwar, je nachdem die Arbeiter der I. u© h* u© (NOt'WMN © CO CO © t— kO h©* kt) t- t©

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ie wichtigeren sozialpolitischen Tagesfragen in bestimmter Weise zu beantworten. Immerhin übt es gewiß auf die Haltung der katholischen Parteien in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz einen nicht zu unterschätzenden Einfluß. -als

So hat z. B. das deutsche Zentrum

einzige unter den bürgerlichen Parteien des Reichstages an der

•Bäckereiverordnung entschieden festgehalten,

ein Vorgehen, das gewiß

Katholisch-soziale Strömungen.

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den Mahnungen der päpstlichen Encyclica durchaus entspricht. Aber cs ist doch schon sehr fraglich, ob auch die belgischen Katholiken geneigt, sein werden, das Arbeiterschutzprogramm des Papstes wirklich durch­ zuführen. Andererseits nehmen wieder Mitglieder des deutschen Zentrums, und englische Katholiken in der Frage der Arbeitervereine und der Koa­ litionen eine etwas andere Stellung als der Papst ein. So erklärte erst jüngst das führende Blatt der deutschen Katholiken, die Berliner „Germania" (12. II. 1897), in einer Besprechung des Hamburger Hafenarbeiterausstandes: „Nicht jeder Streik ist als ein Mißbrauch des Koalitionsrechtes zu betrachten — im Gegenteile: es kann Situationen geben, und es hat oft solche gegeben, in denen der Streik des letzte erlaubte Mittel war." Auf dem gleichen Standpunkte steht das andere große Zentrumsblatt, die „Kölnische Volkszeitung" (z. B. Nr. 97 vom 8. II. 1897). Und bei dem Streike der Londoner Dockarbeiter war es Kardinal Manning, der nicht wenig dazu beigetragen hat, daß dieser Kampf einen den Arbeitern vorteilhaften Ausgang nahm. Man darf unter diesen Umständen wohl sagen, daß mit der päpst­ lichen Encyclica, trotz ihrer vorsichtigen Allgemeinheit und Unbestimmtheit,, doch schon die äußersten Grenzen dessen erreicht sind, was noch ohne schwere Erschütterung der kirchlichen Autorität und Disziplin geboten werden kann. Welche Verwirrung hervorgerufen werden könnte, wenn die oberste Autorität der katholischen Christenheit nicht ein so weisesMaß von Selbstbeschränkung innehielte, wenn sie sich dazu fortreißen ließe, für die Programme einzutreten, welche einzelne katholische Schrift­ steller als logische Folge des Katholizismus aufstellen, das wird jedem klar werden, der z. B. Ruhland's Wirtschaftspolitik des Vaterunsers in Betracht zieht. Da werden die sehr individuell gefärbten agrar­ politischen Ideen des Verfassers nachträglich aus dem Herrengebeteabgeleitet, und er glaubt dadurch ein wirtschaftspolitisches System auf christlicher Grundlage geschaffen zu haben, ein System, das seiner Über­ zeugung nach über die nur von Menschenhänden geschriebene National­ ökonomie ebenso weit hinausragt, wie das Christentum über die Heid-, nische Weltanschauung.'') Wir haben die Frage, ob es möglich ist, auf Grund eines christ­ lichen Bekenntnisses zu einem bestimmten sozialen Programme zu gelangen, unter der denkbar günstigsten Voraussetzung geprüft. Selbst die katholische Kirche, in der ja der Papst eine in ihrer Art einzige Autorität besitzt, kann nur ziemlich allgemeine sozialpolitische Leitsätze aufstellen, die als Aktionsprogramm für eine politische Partei nicht entfernt ausreichen. Man lasse sich darin nicht durch die Erfolge der

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Christentum und Arbeiterfrage.

deutschen Zentrumspartei täuschen. Das Zentrum ist nicht als katholisch­ soziale Partei ins Leben getreten. Es verdankt kirchenpolitischen Streitigkeiten seine Entstehung. Erst im Znteresse des kirchenpolitischen Kampfes mußte das Zentrmn allinählich su einer Reihe anderer .Fragen Stellung nehmen. Als kirchenpolitische Partei allein hätte es sich kaum auf die Dauer behaupten, jedenfalls nicht denjenigen politischen -Einfluß erringen können, dessen es bedurfte, um seine kirchenpolitischen Ziele zu erreichen. Ta die Arbeiterschaft der hochentwickelten rheinischen Zndustriebezirke größtenteils dem Katholizismus angehört und unter der Herrschaft des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes zum Reichstage eine politische Macht bedeutet, so mußte das Zentrum, wollte es diese Massen nicht der Sozialdemokratie überlassen, auch selbst Sozialpolitik treiben. -Es hat lange gedauert, ehe es gelang, wenigstens über die Grundlinien dieser Politik unter den hervorragendsten Parteiführern eine gewisse Übereinstimmung zu erzielen. Das päpstliche Programm erschien erst, nachdem innerhalb des Zentrums schon eine weitgehende Verständigung -erzielt worden war. Es ist fraglich, ob die päpstliche Encyclica mehr durch die soziale Politik des Zentrums oder die soziale Politik des Zentrums durch die päpstliche Encyclica beeinflußt worden ist. Es braucht kaum näher dargethan zu werden, daß die evangelischen Kirchen noch viel weniger daran denken können, sozialpolitische Pro­ gramme aufzustellen, die für ihre Angehörigen Verbindlichkeit besäßen. Es wird die Unmöglichkeit und Unzulässigkeit eines solchen Vorganges von den hervorragendsten Vertretern des Protestantismus vollkommen zugestanden. Hie und da hat ja freilich auch einmal ein evangelischer Theologe geglaubt, es ließe sich unmittelbar vom Christentum eine Brücke zur Wirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik schlagen. P. Göhre erwähnt ,z. B., daß er selbst jahrelang int stillen um dieses Problem sich ge­ müht habe. Es sei ihm aber allmählich klar geworden, es werde ewig ein Problem bleiben. „Mit demselben Rechte, demselben Beweismaterial, derselben Beweiskraft kann ein Christlich-Sozialer dem Handwerk helfen wollen durch Jnnungszwang und Befähigungsnachweis oder Genossen­ schaften und Fachschulen. Dieselben sittlichen Motive können für beider­ lei Handlungsweise geltend gemacht roerben."12) Auch die Partei des Pfarrers Fr. Naumann hat in ihren zu Erfurt 1896 beschlossenen Grundlinien anerkannt, daß ihr NationalSozialismus nicht die für einen Christen oder evangelischen Christen allein zulässige Form der politischen Bethätigung darstellt. Sie erklärt .in § 7: Zm Mittelpunkt des geistigen und sittlichen Lebens unseres

Christentum und Politik.

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Volkes steht uns das Christentum, das nicht zur Parteisache ge­ macht werden darf, sich aber auch im öffentlichen Leben als Macht des Friedens und der Gemeinschaftlichkeit bewähren soll."") Proseffor Sohm führte dort aus, das Christentum sei geistlich, die Politik aber weltlich. „Dort handelt es sich um geistliche Güter, hier um weltliches Besitztum. Politik kämpft mit äußeren Zwangsmitteln und um Machtintereffen, das Christentum dagegen kennt nicht das welt­ liche Schwert. Es gilt da das Wort: Stecke dein Schwert in die Scheide! Eine christliche Politik, und eine christliche Sozialpolitik gibt «s also nicht. Man kann Politik nur treiben im Namen des Volkes, das unser geborener Herr ist und um deswillen wir leben. Aber als Persönlichkeiten, wenn auch nicht als Politiker, stehen wir auf christ­ licher Grundlage. Das Christentum stellt das wesentliche Stück unserer inneren Persönlichkeit dar; unser Glaube — das sind wir selbst, das ist unsere Kraft in dem sonst verlorenen Kampf, in den wir gehen----Das Programm darf also nicht bloß ein Arbeitsprogramm sein, wir brauchen ein Glaubensprogramm, das Ausdruck unserer Persönlichkeit ist----- Wir müssen wehen kaffen das Zeichen des größten Herrn der Welt als Diener Zesu Christi." Zch muß gestehen, so sehr auch ich nicht an die Möglichkeit einer spezifisch christlichen Sozialpolitik in dem Sinne glaube, daß unmittel­ bar aus den Evangelien Maximen des sozialpolitischen Handelns ab­ geleitet werden könnten, die hier von Sohm entwickelte doppelte Buch­ haltung geht denn doch zu weit. Hier wird ein Dualismus zwischen der religiös-geistlich-kirchlichen Sphäre und der weltlich-politisch-irdischen gelehrt, der zu den bedenklichsten Zweideutigkeiten und Widersprüchen führt. Es handelt sich doch immer um dieselbe Person, für deren Handeln eine Einheit der sittlichen Anschauung bestehen muß. Es geht doch nicht an, daß ich als Politiker Dinge thue, die ich als Christ auf das entschiedenste zu verwerfen gehalten bin. Das Christentum als solches kann mir nicht sagen, ob in einem bestimmten Gewerbszweige «ine acht- oder eine neunstündige Maximalarbeitszeit am Platze ist, ob es zweckmäßiger ist, diese Abkürzung auf dem Wege der gewerkschaftlichen Entwicklung oder dem der Gesetzgebung zu erstreben, ob die Versiche­ rung gegen Arbeitslosigkeit allein Sache der Gewerkschaften sein soll oder der Kommune, oder ob ein staatlicher Sparzwang einzutreten hat. Aber das Christentum verbietet mir, für eine Lösung einzutreten, welche das Interesse der Arbeiter verkürzen oder den Arbeitgebern ungerechte Opfer aufbürden würde. Was im einzelnen Falle als ungerecht zu gelten hat, ist Sache meines Gewissens. Dieses Gewiffen wird aber

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Christentum und Arbeiterfrage.

auch nicht ruhen, solange nicht alle Einsichten erworben sind, um ein sachlich zutreffendes, möglichst gerechtes Urteil zu fällen. Sobald ich aber einmal etwas als ungerecht anerkannt habe, dann darf ich es auch als Politiker nicht thun. Andernfalls wird dieses Christentum zu einer Art Sonntagsrock, den man nur eben Sonntags zum Besuche der Kirche anlegt, und um den man sich die ganze Woche hindurch bei der Arbeit nicht mehr kümmert. Mag das Christentum auch nicht in technischen Details der Politik als Richtschnur dienen können, so stellt es doch eine Reihe hinreichend klarer sittlicher Grundsätze auf, die niemand, der sich als Christ bekennt, außer Acht lassen darf, weder als Politiker noch in irgend einer anderen Bethätigungsweise. Zu diesen Grundsätzen gehört jedenfalls der, daß man, wenn man auch dazu die Macht haben sollte, noch nicht berechtigt ist, andere ihres Besitzes zu berauben, mag auch mit solchem Angriffe großer Vorteil verknüpft sein. Auf den internationalen Verkehr ange­ wendet, heißt das: die christliche Lehre verbietet, lediglich in chauvinistischem Machtinteresse, andere Völker mit Eroberungskriegen zu überziehen. Dieser Grundsatz hat es ja immerhin zu wege gebracht, daß christliche Mächte, wenn sie den Kriegspsad beschreiten, sich als den angegriffenen Teil hinzustellen bemühen. Zm Gegensatze zu diesem Verfahren, das doch als eine Art Hul­ digung der christlichen Sittenlehre aufgefaßt werden muß, steht nun das Programm des „nationalen Sozialismus auf christlicher Grund­ lage" in Deutschland. Da wird in §§ 1 und 2 ziemlich bestimmt eine nationale Eroberungspolitik gefordert. Und wer nach der Fassung der Grundlinie etwa noch im Zweifel sich befände, dem wird durch den. Kommentar, welchen Naumann veröffentlicht hat, in unzweideutigster Weise offenbar werden, daß es sich in der That um kriegerische Ex­ pansionsbestrebungen handelt. Man mag über diese Politik denken, wie man will, so viel ist dochsicher, daß sie von einer spezifisch christlichen Partei nicht gefordert werden darf. Es ist den Christen nicht erlaubt, das Christentum alsMacht des Friedens lediglich auf die Angehörigen der eigenen Nation zu beschränken und Gott in einen Nationalgott zu verwandeln. Man wird auch aus dieser Entwicklung die Überzeugung schöpfen können, daß das Christentum durch die Hineinzerrung in die Politik nur Schaden leiden kann. Ze höher aber das Christentum als soziale Macht geschätzt wird, desto sorgsamer werden solche Schädigungen zu. vermeiden sein.

Soziale Aufgabe des Christentumes.

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Das Christentum wird seine Aufgabe, unserem Gewissen in jeder Lebenslage als Leitstern zu dienen, dann am allerbesten lösen und er­ füllen, wenn es seine ganze Kraft darauf verwendet, nicht die Ver­ hältnisse und Zustände, sondern die Menschen selbst zu bessern. Bessere Menschen werden bessere Zustände erzeugen. Bei dem großen Wider­ stande, welchen das soziale Elend aber der läuternden Kraft des Christen­ tumes entgegensetzt, und getreu den Mahnungen seines erhabenen Ur­ hebers, wird cs gewiß allen Bestrebungen zur Bekämpfung des Elendes seine volle Sympathie zuwenden müssen, aber nicht im Wege partei­ politischer Bethätigung, sondern dadurch, daß es die ihm allein zugäng­ lichen Mittel zur Verschärfung des sozialens Gewissens im Geiste der christlichen Nächsten- und Bruderliebe zu unermüdlicher, unabhängiger und uneingeschränkter Anwendung bringt. Das Christentum darf nicht dadurch verweltlicht werden, daß man es im Interesse einzelner politischer Parteien oder Nationen verwendet, es darf aber auch nicht im Wege einer doppelten sittlichen Buchführung von seiner Einwirkung auf beliebige menschliche Mtionsgebiete vollkommen ausgeschlossen sein, sondern das gesamte menschliche Handeln ist möglichst auf die Höhe derjenigen Sittenlehre zu heben, welche das neue Testament klar verkündet.

Anmerkungen. 1. Über das Verhältnis von Christentum und Arbeiterfrage handeln vom katholischen Standpunkte aus: Brüll, Art. katholisch-soziale Reformbestrebungen; Devas, Charles S., Grundsätz der Volkswirtschaftslehre (deutsch von W. Kämpfe) Freiburg 1896. S. 479—500; v. Hertling, Aufsätze und Reden sozialpolitischen Inhalts. Freiburg 1884; Hitze, Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft. Paderborn 1881; Derselbe, Schutz dem Arbeiter. Köln 1890; v. Ketteler, Arbeitsfrage und Christentum. 3. Aust. 1864; Meyer, R., Der Eman­ zipationskampf des vierten Standes. I. 2. Aufl. Berlin 1882, S. 85—95, 347—368, 435; II. Berlin 1875. S. 35, 96, 238 f., 731, 741. Perin, Die Lehren der Nationalökonomie seit einem Jahrhundert. Freiburg 1882; Ratzinger, Die Volks­ wirtschaft in ihren sittlichen Grundlagen. 2. Aufl. Freiburg 1895; Ruhland, Die Wirtschaftspolitik des Vaterunser. Berlin 1895; Stimmen aus Maria-Laach über die soziale Frage. Freiburg I. und II. Bd.; Staatslexicon, heraus­ gegeben im Auftrage der Görres-Gesellschaft von A. Bruder. Freiburg, 5 Bde. Thun, A., Die Sozialpolitik des deutschen Katholizismus. I. f. G. V. 1882, S. 821; Wermert, Neuere sozialpolitische Anschauungen im Katholizismus Deutsch­ lands. Zena 1885. Herkner, Die Arbeiterfrage. 2. Aufl.

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Christentum und Arbeiterfrage.

Vom protestantischen Standpunkte aus; Baumgarten O., Art. Neuere evangelisch-soziale Reformbestrebungen; Göhre, P., Die evangelisch-soziale Bewegung, Leipzig 1896; Harnack, A., Die evangelisch-soziale Aufgabe im Lichte der Geschichte der Kirche. Preuß. Jahrbücher 1894. S. 502—542; Hi lty, C., Einige Gedanken über die Gründung christlich-sozialer Vereine. Bern 1896; Kambli, Die sozialen Parteien und unsere Stellung zu denselben. St. Gallen 1887; Naumann, Das soziale Programm der evangelischen Kirche. Erlangen und Leipzig 1891; Derselbe, Was heißt christlich-sozial? Leipzig 1896. 2 Hefte; Todt, Der radikale deutsche Sozialismus und die christliche Gesellschaft. Wittenberg 1877; Uhlhorn, G, Katholizismus und Protestantismus gegenüber der sozialen Frage. Göttingen 1887; Derselbe, Art. Evangelisch-soziale Reformbestrebungen; auch die Berichte über die Verhandlungen der evangelisch-sozialen Kongresse, Berlin bei K. G. Wiegandt, sind zu berücksichtigen. Über den christlichen Sozialismus in England: Brentano, L., Die christlich­ soziale Bewegung in England. I. f. G. V. VII. 1883. S. 737—807; Kaufmann, Art. Der neuere christlich- und ethisch-reformatorische Sozialismus in England. Mancherlei Einblicke in die katholisch-sozialen Gedankenkreise der französischen Gesellschaft bietet Zola's Rom, deutsch von A. Berger. 2 Bde. 1896. 2. Vgl. Ruhland, a. a. O. S. 26; Uhlhorn, G., Katholizismus und Pro­ testantismus. S. 28 f. 3. Apostelg. 2. 44, 45; 4. 32, 34, 35. 4. Vgl. Weitling, Wilhelm, Das Evangelium eines armen Sünders. (Samm­ lung gesellschaftswissenschaftlicher Aufsätze, herausgegeben von Fuchs, E., 4. und 5. Heft.) München 1896. 5. Laveleye, Die sozialen Parteien der Gegenwart. Tübingen 1884, S. 9; Harnack, a. a. O. S. 515. 6. a. a O. S. 510. 7. Lamennais, Worte des Glaubens, übersetzt von Börne, L. VIII. 8. Eneyclica Leo XIII., de conditione opificum, vom 15. Mai 1891. 9. Encyclica de conditione opificum. 10. Göhre, P., a.a.O. S. 153; in demselben Sinne wie Sülze spricht sich auch Uhlhorn aus, a. a. O. S. 58: „Was mit dem Kirchenvorstand zu schaffen ist, muß mit diesem geschaffen werden, und selbst wenn andere Kräfte heranzuziehen nötig wird, muß doch der Kirchenvorstand den Mittelpunkt bilden. Nur kein Vereins­ leben auf Kosten des Gemeindelebens. Die Gemeinde selbst mit ihrem Kirchenvorstande ist der beste Verein für Innere Mission. Die Gemeinde ist der gegebene richtige Rahmen für das christliche und kirchliche Leben. Der Zusammenhang mit der Gemeinde erhält es gesund." 11. a. a. O. S. 88. 12. a. a. O. S. 186, 187. 13. Die Erfurter Versammlung der National-Sozialen. Von A. M. Die Wahr­ heit (Chr. Schrempf), Stuttgart, Nr. 76 S. 163. 14. Es ist erfreulich, daß wenigstens die hervorragendsten evangelischen Theologen von solchen Verirrungen sich vollkommen fern gehalten haben.

Siebzehntes Kapitel.

Der Anarchismus.') Das griechische Wort dvapxt« bedeutet einen Zustand, in dem kein •ipxos oder «px«ov, d. h. kein Erster, kein Herrscher oder Oberbefehls­ haber vorhanden ist. Zn der Annahme, daß ein solcher Zustand not­ wendig in bloße Willkür und Unordnung ausarten müsse, ist zur Be­ zeichnung dieser Begriffe ebenfalls der Ausdruck „Anarchie" mit Boriliebe gebraucht worden. Anarchisten sind Leute, die einen Herrscher- und gewaltlosen Zustand anstreben. Manche wollen die herrschende Gewalt nur zu dem Zwecke beseitigen, um dem Volke die Freiheit, sich nach Belieben zu organisiren, wieder zurückzugeben. Andere sind der Meinung, daß ein gewaltloser Zustand an sich als der allein menschenwürdige anzusehen sei. Schärfer «als in Bezug auf die Zukunftsideale unterscheiden sich die anarchistischen Richtungen durch ihre Taktik. Ein Teil hofft die Menschen im Wege friedlicher Aufklärung zum Anarchismus zu bekehren; ein anderer ist »davon überzeugt, daß die bestehende Gewalt nur durch Gewalt gechrochen werden kann. Wenn von Anarchisten die Rede geht, denkt das große Publikum fast ausschließlich an diese zweite Gruppe. Es sieht den Dolch Caserios blinken, dem der Präsident der französischen Republik zum Opfer fiel. «Es erinnert sich der Ravachol, Vaillant und Henry, der zahlreichen Bombenattentate und Morde, deren Schauplatz Rußland, früher auch Wien, neuerdings aber hauptsächlich Frankreich und Spanien gewesen ist. Die Versuchung liegt nahe, diese entsetzlichen Erscheinungen kurzer Hand vom Forum des Sozialpolitikers wegzuverweisen. Mögen Straf­ richter und Irrenarzt das ihre thun. Kein Zweifel, die sogenannte „Propaganda der That" entspringt zum Teil den abscheulichsten und -gemeinsten Regungen menschlicher Entartung. Wenn in Paris littera­ rische Bummler, nachdem sie alle Sinnengenüffe erschöpft haben, auf 25*

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Der Anarchismus,

der. Jagd nach neuem, unerhörtem Kitzel für ihre Blasirtheit schließlich­ einen schamlosen Kultus des Verbrechens treiben; wenn einer aus dieser Rotte ausrufen konnte: „Was scheren uns die Opfer,, wenn nur die Geste schön ist? Was kommt auf den Tod unbestimmten Menschen­ volkes an, wenn das Individuum sich durch ihn bekräftigt!" so handelt cs sich ganz gewiß um Pestbcnlcn der modernen Zivilisation, die zu­ dem Probleme der Arbeit in keine nähere Beziehung gebracht werden können. Das Gleiche muß angenommen werden, wenn z. B. in London eine anarchistische Gruppe, nicht etwa zum Zwecke der politischen Pro­ paganda oder zur Beschaffung materieller Mittel für sie, sondern ledig­ lich zur Bereicherung des Thäters, Diebstahl und Einbruch preist, wenn eine Zeitung dieser Verbrecherbande, der „Einbrecher" betitelt, die Auf­ forderung ergehen läßt: „Frisch auf! zum Wachs! zum Dietrich! zum Brecheisen! zum Hammer! zum Beil! zum Bohrer! zur Säge! zuo Zange! zum Keil! zum Schraubenzieher! zum Stemmeisen! zum Ratten­ gift! zum Sack! zum Strick! zum Dolch! zum Revolver! zum Petro­ leum! zur Bombe! Feuer!! Hurra!!!'") Anders liegen die Dinge, wenn nicht nur einige entartete und> verkommene Individuen, sondern größere Volksteile von der Vorstellung, erfaßt werden, es sei die Zuflucht zu Mordwerkzeugen, die Entfeffelung einer Art Guerillakrieges gegen die Stützen der Gesellschaft notwendig, um die Befreiung des Volkes zu erringen. Derartige Erscheinungen kommen in der Geschichte revolutionärer Bewegungen ja häufig vor. Es mag auch an den Brigantaggio, an die „idealen" Räuberhauptmänner erinnert werden, die sich die Mission, das soziale Unrecht zw rächen, zuschreiben und Reiche berauben, brandschatzen und morden, um die Armen und Ausgebeuteten zu unterstützen. Dieser Näuberromantik° hat nicht nur selbst ein Schiller seinen Tribut entrichtet, sie übt noch heute auf die Volksphantasie vieler Gegenden eine — wie es scheint — unverwüstliche Anziehungskraft aus. Der innige Zusammenhang zwischen moderner Propaganda der That und Räuberwesen tritt in einer Schriftder russischen Anarchisten Netschajew und Bakunin überzeugend zu Tage., Sie fordern 1869 die studirende Jugend Rußlands auf, sich nicht mehr um die eitle Wissenschaft, in deren Namen man ihnen die Hände binden wolle, zu kümmern, sondern, wie der nachmals vielgebrauchte Ausdruck lautete, „unter das Volk zu gehen". Das russische Volk befindet sich, ihrer Ansicht nach, in derselben Lage, wie zu Zeiten Alexis', des Vatersdes großen Peter, als ein Räuberhauptmann Stenka Razin sich an die Spitze eines furchtbaren Aufstandes stellte. Die jungen Leute, welche heute aus ihrem Stande austreten und das Leben des Volkes führen,.

Bakunin und Netschajew.

389

werden einen unbesiegbaren Kollektiv-Stenka-Razin bilden, der sich an t)ie Spitze des Emanzipationskampfes stellt und ihn durchführt. Zu tiefem Zwecke darf man sich nicht nur an die Bauern wenden und sie revolutioniren, man muß auch die Räuber herbeirufen. Das Räubertum, erklären Netschajew und Bakunin, ist eine der ehrenhaftesten Formen des russischen Volkslebens. „Der Räuber ist der Held, der Schirmer und Rächer des Volkes, der unversöhnliche Feind des Staates und jeder vom Staate gegründeten gesellschaftlichen und bürgerlichen Ordnung, der Kämpfer auf Tod und Leben gegen diese ganze Zivilisation der Beamten, Edelleute, Priester und der Krone. Der russische Räuber ist der wahre und einzige Revolutionär, der Revolutionär sans phrase, ■ohne aus den Büchern geschöpfte Rhetorik, ein unermüdlicher, unver­ söhnlicher und in der Aktion unwiderstehlicher Revolutionär, ein sozialer und Volksrevolutionär, kein politischer und Klaffenrevolutionär/") Weiteren Einblick in das Wesen des terroristischen Anarchismus bieten die Lehren, welche Netschajew in dem revolutionären Katechismus aufstellt: „Eine schreckliche, unerbittliche, allgemeine Zerstörung ist ge­ boten, aber nicht etwa eine Revolution nach dem Muster des euro­ päischen Westens, die vor der sogenannten Zivilisation und Moralität Halt macht, die sich darauf beschränkt, eine politische Form durch eine andere zu ersetzen und höchstens einen sogenannten revolutionären Staat zu gründen. Die einzige Revolution, die dem Volke zum Heile ge­ reichen kann, ist die, welche jeden Staatsbegriff durch und durch ver­ nichtet. Es darf nicht die Absicht bestehen, dem Volke irgend eine von -oben kommende Organisation aufzudrängen. Die zukünftige Gesellschaft wird aus der Bewegung und dem Leben des Volkes hervorgehen/") Die bescheidene und zu vorsichtige Organisation geheimer Gesell­ schaften ohne äußere Kundgebungen gilt als lächerliches und unerträg­ liches Kinderspiel. „Wir nennen äußere Kundgebungen nur eine Reihe von Handlungen, die positiv irgend etwas, eine Person, eine Sache, ein Verhältnis, das die Volksbefreiung hindert, zerstört. Ohne unser Leben zu schonen, müssen wir mit einer Reihe verwegener, ja sinnloser Attentate in das Leben des Volkes einbrechen und ihm den Glauben an ifeine Macht einflößen, es erwecken, vereinigen und zum Triumphe seiner Sache hinführen/") Dieser Gedanke wurde von Paul Brouffe weiter ■gesponnen, wenn er erklärte: „Thaten werden allseitig besprochen, nach der Ursache der Thaten fragen die indifferenten Massen, sie werden aufmerksam auf die neue Lehre und diskutiren sie. Sind die Menschen ■erst einmal so weit, so ist es nicht schwer, viele von ihnen zu gewinnen." Das ist seine „Propaganda der That".

390

Der Anarchismus.

Der terroristische Anarchismus ist also eigentlich ein Giftpilz, der aus Halbasien zu uns verpflanzt wurde. Angehörige eines politisch unerzogenen und unreifen Volkes haben sich für die radikalen Ideen Westeuropas begeistert. Der Gegensatz, zwischen den thatsächlichen Zuständen und ihren Idealen ist zu gewaltig, als daß die Hoffnung sich behaupten könnte, durch allmähliche, Schritt für Schritt vordringende Nesormarbeit in absehbaren Zeiten auch nur einen kleinen Teil der ausschweifenden Wünsche zu erfüllen. Es muß: also etwas ganz Ungeheures, Außergewöhnliches unternommen werden. Der Zerstörungstrieb der rohen Volksmaffe ist durch schaudererregendeThaten revolutionärer Leidenschaft zu entfesseln, die bestehende Ordnung, überhaupt von der Wurzel aus zu vernichten. Vom Standpunkte der­ jenigen, welche an die Lebenskraft und Zukunft der russischen Dorf­ gemeinde, des Mir, glauben, erscheint die ganze staatliche Ordnung als verderbt und überflüssig. Sie ist nichts anderes als ein Geschöpf undWerkzeug der Tyrannei, der brutalen Gewalt und Ausbeutung, ein­ böser Alp, der auf der natürlichen und volkstümlichen Verfassung dev Dorfgenossenschaft beklemmend lastet. Die Vernichtung des staatlichen Regimentes kann nur zu einer herr­ lichen Wiedergeburt der ursprünglichen, nationalen, die Freiheit sichern­ den Dorfgemeinschaft ausschlagen, welche den eigentlichen Nerv des russischen Volkes bildet?) Der gebildete Russe bäumt sich gegen seinen Staat auf, da er ihm in einer Form gegenüber tritt, welche ein mit westeuropäischen Ideen erfüllter Geist verabscheuen muß. Der Haß gegen den Staat findet aber auch unter den romanischen Völkern Verbreitung. Ihnen ist der Staat gleichbedeutend mit dem jede individuelle, kommunale und provinzielle Freiheit erstickenden Systeme­ straffer Verwaltungszentralisation, das Ludwig XIV., die Revolution und Napoleon I. für Frankreich entwickelt haben, und das von Spanien und Italien verhängnisvoller Weise nachgebildet worden ist?) Im übrigen ähnelt der Romane ja darin dem Slaven, daß auch er im politischen Leben mehr durch ungestüme Leidenschaft und ver­ zehrendes Feuer, als durch sachliche, besonnene, zielbewußte Arbeit zu wirken vermag. Ein kühner Handstreich gegen die Spitze des ganzen Systemes, im heiligen Rußland gegen den weißen Zaren, int schönen Frankreich gegen die allmächtige Pariser Zentralregierung, und der Leviathan, das Ungeheuer Staat, hat Kopf und Leben verloren. Es liegt mit all' der von ihm gestützten Gewalt und Ungerechtigkeit ver­ endend zu den Füßen der triumphirenden Revolutionäre, die es zum

391

Deutscher Anarchismus,

lohenden Scheiterhaufen schleifen, und einem Phönix gleich erhebt sich die freie Gemeinde aus der Asche. Tie allgemeine Disposition der Russen und Romanen für den anarchistischen Terrorismus wird ins Ungemessene gesteigert, wenn die herrschenden Kreise der Gesellschaft selbst das Beispiel geben. Recht und Sittlichkeit mit Füßen zu treten, wenn Gewalt vor Recht geht und das tödliche Miasma schamloser Korruption die politische Welt erfüllt.

In

Frankreich sind die fluchwürdigen Attentate auf die Schurkereien der Panamisten gefolgt, in Italien stehen die Anarchisten feilen Geschäfts­ politikern,

in Rußland

einer ebenso

bestechlichen

als gewaltthätigen

Bureaukratie gegenüber. Der Terrorismus ist indes nicht auf die romanischen und russischen Gebiete beschränkt geblieben. Es wäre eine übel angebrachte Über­ hebung, Deutschland als durchaus immun zu betrachten.

Es hat einen

deutschen Anarchismus gegeben, es giebt noch einen deutschen Anarchismus, und sein Ursprung ist für das Verständnis der unheimlichen Bewegung sogar äußerst lehrreich. Die anarchistische Propaganda der Most und Hasselmann war die erste Frucht des Sozialistengesetzes. Sobald es keine gesetzliche Möglichkeit für die politischen und wirtschaftlichen Bestrebungen der deutschen Arbeiter­ klasse mehr gab, mußten Leute leichtes Spiel haben, die erklärten, man sei jetzt zur Anwendung der Gewalt gezwungen.

Man befände sich

gegenüber den herrschenden Mächten im offenen Kriegszustände, im Stande der Notwehr, der jedes Mittel erlaubt mache. Durch energische geheime Agitation von kleinen, höchstens fünf Mitglieder zählenden Gruppen, durch Attentate und revolutionäre Akte seien die Massen für die bewaffnete Revolution zu gewinnen. „revolutionäre

Kriegswiffenschaft".

Most lehrte seine sogenannte

Er gab

in seinen Blättern An­

weisungen zur Herstellung der gefährlichsten Sprengmittel, zur Ver­ giftung von Dolchen u. s. w. Reinsdorf traf seine Vorbereitungen, um bei der Enthüllung des Niederwalddenkmals die deutschen Fürsten in die Luft zu sprengen, und der Polizeirat Rumpf in Frankfurt a. M. wurde in der That das unglückliche Opfer eines anarchistischen Ver­ brechens. Wenn die anarchistische Bewegung in Deutschland nicht noch größere Verbreitung erlangte, so dürfte das weniger der Polizei als der sozial­ demokratischen Partei zuzuschreiben sein. Die sozialdemokratische Partei hat in ihren hervorragendsten Vertretern keinen Augenblick gezögert, den Anarchismus

aufs entschiedenste zu bekämpfen.

Auf dem ersten

Kongreß der sozialdemokratischen Partei nach dem Erlaß des Sozialisten-

392

Der Anarchismus.

gesetzes — ein Kongreß, der unter den damals herrschenden Verhält­ nissen nur geheim und in sehr romantischer Weise auf Schloß Wyden in der Schweiz stattfinden konnte —, wurden die anarchistischen Führer Most und Hasselmann aus der Partei ausgeschlossen. Man begnügte sich damit, gegen das Sozialistengesetz, das jede gesetzliche Bethätigung der Sozialdemokratie unterdrückte, insofern zu demonstriren, daß man in dem Gothaer Programme aus der Erklärung: „Die sozialistische Arbeiterpartei erstrebt mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat u. s. ro." das Wort „gesetzlich" strich?) Auch der Parteitag in St. Gallen 1887, der ebenfalls noch unter die Herrschaft des Sozialisten­ gesetzes fiel, hat den Anarchismus und seine terroristische Taktik, auf ein vortreffliches Referat W. Liebknechts hin, mit allen Stimmen gegen zwei Stimmenenthaltungen verworfen. Die Resolution besagte: „Der Parteitag erklärt die anarchistische Gesellschaftstheorie, soweit dieselbe die absolute Autonomie des Individuums erstrebt, für anti­ sozialistisch, für nichts anderes als eine einseitige Ausgestaltung der Grundgedanken des bürgerlichen Liberalismus, wenn sie auch in ihrer Kritik der heutigen Gesellschaftsordnung von sozialistischen Gesichts­ punkten ausgeht. Sie ist vor allem mit der sozialistischen Forderung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der gesellschaftlichen Regelung der Produktion unvereinbar und läuft, wenn nicht die Produktion auf den Zwergmaßstab der kleinen Handwerker zurückgeführt werden soll, auf einen unlöslichen Widerspruch hinaus. Der anarchistische Kultus und die ausschließliche Zulassung der Gewaltpolitik beruht auf einem groben Mißverständnisse der Rolle der Gewalt in der Geschichte der Völker. Die Gewalt ist ebenso gut ein reaktionärer als ein revolutionärer Faktor; ersteres sogar häufiger gewesen als das letztere. Die Taktik der individuellen Verwendung der Gewalt führt nicht zum Ziele und ist, insofern sie das Rechtsgesühl der Massen verletzt, positiv schädlich und verwerflich. Für die individuellen Gewaltakte bis aufs äußerste Verfolgter und Geächteter machen wir die Verfolger und Aechter verantwortlich und begreifen die Neigung zu solchen als eine Erscheinung, die sich zu allen Zeiten unter ähnlichen Verhältnissen gezeigt hat, und welche gegenwärtig durch bezahlte Agents-provocateurs für die Zwecke der Reaktion gegen die arbeitende Klaffe ausgenützt wird.'") Der Schlußabsatz dieser Resolution deutet die eigentümliche Stellung an, die von der Polizei dem Anarchismus gegenüber ein­ genommen worden ist.

Förderung des Anarchismus durch Polizeiagenten.

393

Selbstverständlich mußte die Polizei ber. öffentlichen Sicherheit -wegen alle Mittel anwenden, um über das gefährliche Treiben der Anarchisten vollkommen unterrichtet zu werden. Nieniand wird ihr verargen dürfen, daß sie diese Überwachung zum Teil auch durch außer­ ordentliche Geheimagenten vornehmen ließ. Dieses Geschäft besitzt, so notwendig es sein mag, für anständige Menschen geringe Anziehungs­ kraft. Man wird also der Polizei keinen besonderen Vorwurf daraus machen können, daß sie auch die Dienste von Leuten in Anspruch nahm, welche der preußische Polizeiminister der Epoche des Sozialistengesetzes, -Herr von Puttkamer, gelegentlich als „Nicht-Gentlemen" bezeichnete. Die Polizei hätte es aber unter keinen Umständen dahin konnnen lassen dürfen, daß ihre Spione zu Lockspitzeln wurden, daß sie, um der vor­ gesetzten Behörde Material sowie Beweise ihrer Notwendigkeit und ihres Diensteifers verschaffen zu können, zu anarchistischen Verbrechen sogar anstifteten.10) Za es ist vorgekommen, daß Polizeibeamte selbst eine äußerst zweideutige Haltung eingenommen haben. Es sei hier nur an einen aktenmäßig festgelegten Fall erinnert, der eine gewiffe internationale Bedeutung gewonnen hat, an den sogenannten Wohlgemuth-Handel Deutschlands mit der Schweiz. Der Polizeiinspektor A. Wohlgemuth in Mülhausen i. E. glaubte in dem Schneider Lutz in Basel einen Spion gewonnen zu haben und schrieb ihm unter anderem am ü. April 1889: „Halten Sie mich beständig auf dem Laufenden nnd wühlen Sie nur lustig daraus los."11) Es verdient ferner bemerkt zu werden, daß das erste Organ des französischen Anarchismus mit Hilfe des Geldes gegründet worden ist, das ein Polizeiagent im Auftrage des Polizeipräfekten Andrieux geliefert hatte. Und dieses Blatt reizte fast in jeder Nummer zu Attentaten auf und ■gab ausführliche Rezepte zur Bereitung und Verwendung von Spreng­ mitteln.1^) Es scheint überhaupt die Vermutung nicht ohne Grund zu sein, daß Gegner der Arbeiterbewegung versucht haben, sie auf die Abwege des Terrorismus zu locken. Dadurch sollte nicht nur die Bewegung selbst bei den großen Volksmaffen kompromittirt, sondern auch für den Staat ein Kampfplatz eröffnet werden, auf dem er über unbedingt wirk­ same Waffen — Säbel, Flinten und Kanonen — verfügt. Bekanntlich sind dieser macchiavellistischen Politik in Deutschland durch die Aufhebung des Sozialistengesetzes im Zahre 1890 die wesent­ lichsten Grundlagen entzogen worden. Die anarchistischen Regungen, die sich in einer Gruppe deutscher Sozialdemokraten gerade nach Aushebung des Ausnahme-Gesetzes geltend

394

Der Anarchismus.

machten, lassen sich auch nicht als ein Gegendruck auffassen, der einem von der Negierung ausgeübten Drucke entsprochen hätte. Sie stellten vielmehr die natürliche Reaktion gegen die straffe Parteidisziplin dar, welche unter dem Sozialistengesetze von den Parteiführern ausgeübt worden war und ausgeübt werden mußte. Die individualistischen Gefühlen entspringende Bewegung der sogenannten Berliner „Jungen" steht aber auch in Beziehung zu den Lehren des Philosophen FriedrichNietzsche, der um jene Zeit in die Mode zu kommen begann. Ihre litterarischen Wortführer") sind zum Teil begeisterte Bewunderer dieses. Mannes, deffen Namen in einer Besprechung des Anarchismus nicht flüchtig übergangen werden darf. Man hat allerdings bestritten,,4) daß Nietzsche unter die Anarchisten eingereiht werden könne. Er habe nur einen rein philosophischen Indivi­ dualismus oder Egoismus gepredigt, ohne je an eine Anwendung ber Lehre auf die Reform der Gesellschaft gedacht zu haben. Wenn man unter Reform der Gesellschaft nur eine Hebung und Befreiung desarbeitenden Volkes versteht, so hat allerdings Nietzsche ganz gewiß nicht an eine Verwertung seiner Ideen für diesen Zweck gedacht. Er ist kein demokratischer oder kollektivistischer Anarchist. Er will Sklaven und hält Diejenigen für Narren, die sie zu Herren erziehen. Er will nichts wissen von dem „unverhüllten Zähnefletschen der Anarchistenhunde" undden „tölpelhaften Philosophastern und Bruderschaftsschwärmern, welche sich Sozialisten nennen und die ,freie Gesellschaft wollen". Allein, kann es nicht auch einen aristokratischen Anarchismus geben?" eine unbedingte Verwerfung der überlieferten politischen, sozialen und moralischen Vorstellungen zu Gunsten der Starken?") Nietzsche's Reform der Gesellschaft besteht in der Züchtung des Übermenschen. Ein Volk ist ihm der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben großen Männern zu kommen. „Die Menschheit als Maffe dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert — das wäre ein Fortschritt." An Stelle der Lügenlosung vom Wohle der Meisten stellt er die „furchtbare und entziickende Gegenlosung vom Vor­ rechte der Wenigsten" auf und beschwört die herrschenden Mächte, „hart zu sein". Sein Menschheitsideal verkörpert der über die „Sklaven­ moral" des demokratischen Christentums erhabene, „moralinfrcie" Gewalt­ mensch, in dem die „prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie" nicht zu verkennen ist, die Synthese von „Unmensch und Übermensch". Nietzsche's freie, sehr freie Geister haben selbst der Wahr­ heit den Glauben zu kündigen und werden auf den Wahlspruch desAffasinenordens: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt" aufmerksam ge-

395-

Nietzsche über den Staat.

macht.

Ja noch mehr: „Der Verbrechertypus, das ist der Typus des

starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch.

Ihm fehlt die Wildnis, eine gewisse freiere und gefähr­

lichere Natur- und Daseinsform, in der alles,

was Waffe und Wehr

im Instinkt des starken Menschen ist, zu Recht besteht."

„Die Grausam­

keit macht die große Festfreude der Menschheit aus,

sie ist als In­

grediens fast jeder ihrer Formen zugemischt."

„Leidensehen thut wohl.

Leidenmachen noch wohler." Die Grausamkeit, die Lust an der Ver­ folgung, ant Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung, ist das aus­ zeichnende Merkmal einer wirklichen Herrenklaffe.

Von diesem Stand­

punkte aus gelten die Verbrechen eines Cesare Borgia als ein glanzvoll­ unheimliches Wiederaufwachen

des

Nietzsche

Ideals der vornehmen

aller Dinge,

„Judäa sobald

wieder triumphirte, dank jener gründlich pöbelhaften

(deutschen

englischen)

und

und

klassischen

Wertungsweise

bedauert

Ressentiments-Bewegung,

es innig,

daß

welche man die

Reformation nennt." Ärgere Cynismen als Nietzsche haben auch die extremsten Vertreter des Terrorismus

nicht ausgesprochen, und das

berüchtigte Wort des

Pariser Anarchisten Tailhade: „Was scheren uns die Opfer, wenn nur die Geste schön ist? Was kommt aus den Tod unbestimmten Menschen­ volkes an, wenn das Individuum sich durch ihn bekräftigt?" im Lichte des Nitzscheanismus viel von seiner Merkwürdigkeit.

verliert

Bei den sehr gebieterischen Schranken, die der moderne Staat gegen ein Übermenschentum nach dem Herzen Nietzsches aufstellt, ist es nur folgerichtig, wenn der Staat, dieser grimmig gehaßt wird. „Staat?

„neue Götze", von ihm in­

Man höre, was er Zarathustra sagen täfct: ,6>

Was ist das?

Wohlan!

Jetzt thut mir die Ohren auf,

denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker. Staat heißt das kälteste

aller kalten Ungeheuer.

auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: bin das Volk." ... sie

Kalt lügt es

„Ich bin der Staat,

Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für viele und heißen Staat, sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über

sie hin. Wo es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht und haßt ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten. . . . Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen ^ und was er auch redet, er lügt — und was er auch hat, gestohlen hat er's.

396

Der Anarchismus.

Falsch ist Bissige.

alles an ihm;

mit gestohlenen Zähnen

beißt er,

der

Falsch sind selbst seine Eingeweide.

Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich -euch

als Zeichen

des Todes! Viel zu

des Staates.

viele werden

Wahrlich,

geboren:

es winkt den Predigern

für die überflüssigen ward der

Staat erfunden! Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen! er sie schlingt und kaut und wiederkäut! „Auf der Erde ist nichts Größeres als ich: bin ich Gottes" — also brüllt das Untier.

Wie

der ordnende Finger

Und nicht nur Langgeohrte

tmb Kurzgeäugte sinken auf die Kniee! ... Staat nenne ich's, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo Alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme;

Staat,

-wo der langsame Selbstmord Aller — „das Leben" heißt. . . . Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist." Auf die Entwicklung des Anarchismus

können solche Lehren in

doppelter Weise fördernd einwirken. Nehmen wir an, die Angehörigen der oberen Gesellschastsschichten schenkten der Mahnung Nietzsches Gehör, daß „eine gute und gesunde Aristokratie mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hin­ nehme, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und verniindert werden müssen." Nehmen wir an, sie gäben sich alle Mühe, um die Behauptung Nietzsches, das Leben sei im wesentlichen „Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwachen, Unterdrückung, Härte, Aufzwingung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung", durch ihr Betragen zu rechtfertigen.

Es kann heute einem Zweifel wohl nicht

unterliegen, daß diese „Viel-zu-Vielen" sich das nicht bieten lassen würden. Nicht einmal unsere Neger in Ostafrika und Kamerun, die, wie Herr von Wißmann erklärt, ein äußerst seines Gerechtigkeitsgefühl besitzen, lassen sich die Übermenschen ä, la Leist, Wehlau und Schroeder

gefallen.

Die Lehre Nietzsches, zur Maxime

praktischen

Handelns auf Seite der oberen Stände gemacht, müßte eine furchtbare soziale Erhebung heraufbeschwören.

Es würde zu einem neuen „Sklaven­

aufstand" kommen, vielleicht zu einem noch viel wirksameren als das -Christentum ist, dessen Sieg Nietzsche nicht müde wird zu beklagen. Jedenfalls würde sich vom Boden des Nietzscheanismus aus auch kein Argument ° gewinnen

lassen,

welches die Massen des Volkes abhalten

397

Die Gefahren des Nietzschemismus.

könnte, ihr Leben in dieser Weise zu „bejahen" und den Kampf gegen die oberen Schichten bis

aufs Messer zu führen.

Das

Ideal der

Netschajew und Bakunin, die Pandestruktion, die Zerstörung der ganzen Kultur würde nur zu bald erreicht sein. Im übrigen können auch Männer auftreten, welche, von Nietzsches. Größenwahn angesteckt, sich als Übermenschen ansehen, welche, wenn sie in den

oberen Kreisen keine genügende Würdigung finden oder erhoffen,

den Acheron erregen, durch Aufreizung und Aufwiegelung der Mafien revolutionäre Stürme entfesseln. So mancher fühlt sich bereits als„krank gemachter starker Mensch, dem die Wildnis fehlt, jene gewisse freiere und

gefährlichere Natur- und Daseinsform, in der alles, was

von Waffe und Wehr im Instinkt des starken Menschen ist, zu Recht besteht."

Warum

sollen solche Leute nicht versuchen, sich durch Zer­

störung und Umsturz jene Wildnis zu schaffen, in der sie allein ge­ sunden können? Rechtfertigt der Wahlspruch: „Nichts ist wahr, alles, ist erlaubt",

mit

dem Nietzsche

kokettirt,

nicht

jedes

anarchistische

Verbrechen? Also gleich viel, mag der Jünger Nietzsches, der sich mit einer ästhetischen Bewunderung des Meisters nicht zufrieden gibt, sondern deffen Lehre zur Richtschnur seines Handelns auserwählt, den oberen, oder unteren Gesellschaftsschichten angehören, immer wird der Anarchismus dabei seine Rechnung finden. Wir haben bisher den Anarchismus nur in seiner abschreckendsten Form

kennen

gelernt,

als

eine

Recht

und

Sittlichkeit

verneinende

Politik der rohesten, brutalsten Gewalt, der allgemeinen Zerstörung. Immerhin sind auch diese Exzesse nicht allein dem Wahnsinne und dev Schlechtigkeit der Menschen entsprungen. Sie haben in bestimmten gesellschaftlichen und politischen Zuständen einen fruchtbaren Nährboden gefunden. Die schroffen gesellschaftlichen Gegensätze, das gräßliche Elend, in dem nicht unbeträchtliche Schichten des Volkes schmachten; das Über­ maß der Staatsvergötterung und der staatlichen Gewalt, jene erdrückende Anhäufung der öffentlichen Macht, welche die Autokratie Rußlands in der Person des Herrschers und seiner Beamten, die jede selbständige Entfaltung

der

kommunalen

Körper

unterbindende

bureaukratische

Zentralisation Frankreichs darstellt, und ganz besonders der Recht und Sitte schändende Mißbrauch, der oft mit dieser Gewalt getrieben worden ist:

all'

diese traurigen Zustände

sind

zu

ebensoviel Brutstätten des

Anarchismus geworden. Auf deutschem Boden, wo die genannten Erscheinungen sich weniger breit machen, ist der Anarchismus

noch immer nicht recht vorwärts.

398

Der Anarchismus.

getommen. Die deutsche Schweiz und England, die klassischen Gebiete wahrer Volksfreiheit, politischer Dezentralisation und körperschaftlicher Autonomie, sind vom Terrorismus so gut wie ganz verschont geblieben, trotzdem beide Staaten ihres Asylrechtes wegen den eigentlichen Tummel­ platz der Anarchisten aller Länder bilden. Nur in Irland ist noch eine dem Anarchismus verwandte Richtung, das Feniertum, emporgekommen. Dort treffen aber auch die Voraussetzungen der Mißregierung, der mangelnden Selbstbestimmung (Homerule) und die einer unerhörten wirtschaftlichen Ausbeutung des Volkes zu. Ausfällig ist das Vorhandensein anarchistischer Strömungen in den Niederlanden. Es dürfte sich hier aber um eine bloß vorübergehende -Erscheinung handeln. Man hat dort, wie es scheint, allzu lange ge­ zaudert, den arbeitenden Klassen eine ihrer Bedeutung entsprechende Stellung im Staatsleben einzuräumen und dadurch die Arbeiterbewegung won den gesetzlichen Bahnen abgedrängt, ähnlich wie ja auch in den 70er und 80er Jahren in Belgien und in den 40er Jahren in England (Chartismus) durch Verweigerung notwendiger Reformen, Elemente, welche Attentaten, Putschen und einer gewaltsamen Revolution das Wort redeten, vorübergehend emporgekommen sind. Mit den vorausgegangenen Darlegungen ist der Begriff des An­ archismus nicht erschöpft. Es gibt auch anarchistische Richtungen, welche die Anwendung jeglicher Gewalt verschmähen, die in ihrer Abmeigung gegen Gewaltthaten konsequent verfahren und den idealen Zustand einer gewaltlosen Gesellschaft nicht durch terroristische Pro.paganda der That, sondern durch friedliche Belehrung und Aufklärung des Volkes herbeizuführen streben. Der geistig bedeutsamste und ein­ flußreichste Vertreter dieser Anschauungen ist P. I. Proudhon.") .Ursprünglich war er der Ansicht, die Durchführung gewisser von ihm empfohlener wirtschaftlicher Reformen werde jede Art der Regierung überflüssig machen, also eine vollkommene Anarchie gestatten. Später, .in reiferem Lebensalter, hat er die Unrichtigkeit seiner Meinung zu­ gegeben und seine Theorie einer Umarbeitung unterzogen. In der Folge soll nur diese rationellere Form der Proudhonschen Ideen berücksichtigt werden. Er ist strenger Individualist und seine Gedanken stellen in mancher Hinsicht nur eine äußerste Fortbildung der Vorstellungen dar, welche seit der Entwicklung des Jndependentumes aus den Strömungen der Reformation einen so mächtigen Einfluß auf das politische und wirt­ schaftliche Denken der westeuropäischen Gesellschaft gewonnen haben.

P. 2- Proudhon's Föderalismus.

399

Das Individuum ist souverän,'*) aber diese Souveränität wird durch die politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen vollkommen unterdrückt. Daran können Konstitutionalismus, Parlamentarismus, Demokratie und allgemeines Wahlrecht nichts ändern. Der Despot bleibt, mag er Fürst, mag er wie Ibsen sagen würde, kompakte Ma­ jorität heißen. Wenn auch der einzelne alle paar Jahre einmal seine Stimme abgeben darf, so kann ihn das nicht dafür entschädigen, daß der Staat die wichtigsten Seiten seines Daseins beherrscht, daß er wenigstens formell die Alleinherrschaft an sich gerissen hat, daß der Einzelne kein Recht gegen den Staatswillen besitzt und sein ganzer Rechtskreis nur auf Anerkennung und Selbstbeschränkung des Staates beruht. Ebensowenig wie auf politischem findet das Individuum auf wirtschaftlichem Gebiete eine echte Freiheit. Der Besitzlose kann keinen wirklich freien Vertrag abschließen. Der Hunger nötigt ihn, dem In­ haber der Produktionsmittel den ganzen Ertrag seiner Arbeit zu über­ lassen, ausgenommen dasjenige, was zum Lebensunterhalte unbedingt notwendig ist. Wie in der Politik die Zentralisation und Staats­ allmacht eine Epoche der Eroberungskriege, der stehenden Heere und des Militarismus eingeleitet und das Grab der individuellen Freiheit ge­ graben haben, so führen die verkehrten wirtschaftlichen Einrichtungen zu Pauperismus und Handelskrisen. Die moderne Gesellschaft treibt dem Untergange zu. Die sichere Rettung kann nur darin gefunden werden, daß der Grundsatz eines wirklich freien Vertrages auf die ganze Ordnung des menschlichen Zusammenlebens angewendet wird.") Die souveränen Individuen, welche dieselbe Örtlichkeit bewohnen, treten zu einer Gruppe, der Gemeinde, zusammen. Sie übertragen im Wege des Vertrages dieser Gruppe einen Teil ihrer Souveränität. Sie bilden die Gemeinde, um gewisse Aufgaben, denen der Einzelne isolirt nicht gewachsen wäre, durch Vereinigung besser zu bewältigen. Die Gemeinde hat aber keine anderen Befugnisse als diejenigen, die ihr von den Mitgliedern eingeräumt worden sind. Zu diesen Befugnissen gehört insbesondere das Recht, behufs Wahrnehmung derjenigen Interessen, welche die Leistungsfähigkeit der Gemeinde übersteigen, größere Ver­ bände ins Leben zu rufen. Diese höheren Verbände mögen dann wieder für die allgemeinsten Zwecke (Vertretung nach außen, Heer­ wesen) Föderationen eingehen. Die Organe, welche an der Spitze eines solchen Verbandes freier Körperschaften stehen, haben aber immer eine streng begrenzte Aufgabe. Sie besitzen kein Atom mehr Recht, als ihnen durch die Körperschaften übertragen worden ist, von denen sie

400

Der Anarchismus.

ihre Existenz ableiten. Nie können die Vereinigungen mehr Recht be­ sitzen, als sie von ihren Angehörigen empfangen haben, und immer sollen letztere mehr Recht behalten, als sie abgeben. Die letzte und oberste Duelle alles Rechtes bleibt das souveräne Individuum. Eine prinzipiell ähnliche Gestaltung der Dinge schlägt Proudhon auch für das Wirtschaftsleben vor. Auch hier sollen sich freie Gemein­ schaften bilden aus denjenigen, die wirtschaftlich gleiche Interessen der Produktion besitzen. Da alle Produzenten auch Konsumenten sind, so können sie durch Vermittlung einer Tauschbank?°) gleichzeitig eine Or­ ganisation des Konsumes verwirklichen. Die Produzenten- erhalten nach Maßgabe der an die Tauschbank abgelieferten Produkte das Recht, den­ selben Wert in solchen Produkten der Tauschbank zu entnehmen, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Die Konstituirung des Wertes besorgt die Tauschbank, die überdies den Arbeiter aus der Abhängigkeit des Kapitals dadurch befreit, daß sie ihm einen unentgeltlichen Kredit in Tauschbons eröffnet oder, wie Proudhon später vorschlug, aus den bei ihr lagernden Vorräten Rohstoffe und Produktionsmittel, den Produzenten gegen Überlassung des Wertes in fertigen Produkten zur Verfügung stellt. Ist auf diesem Wege Joch und Monopol des Kapitals gebrochen, so stellt die rein vertragsmäßige Ordnung der wirtschaftlichen Beziehungen die denkbar beste Wirtschaftsverfassung dar, eine Organisation, die alle Vorteile des wirtschaftlichen Liberalismus und Kommunismus ohne deren Nachteile in sich schließt. Proudhon hat dieses geläuterte System der Anarchie, soweit es auf das Wirtschaftsleben sich bezieht, als Mutualismus (Durchführung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit), soweit es die politische Ordnung betrifft, als Föderalismus bezeichnet. In der That nähern sich die Föderativverfassungen der Schweiz, und der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika noch am meisten dem politischen Ideale Proudhons. In wirtschaftlicher Hinsicht dürfte ber föderalistische Aufbau der englischen Konsumgenossenschaften seinen Ab­ sichten einigermaßen entsprechen. Auch in der Schweiz sind Konsum­ vereinsbildungen im Werden, deren Entwicklung an die Proudhonschen tsbeen erinnert. Die Bestrebungen Proudhons entströmen derselben Quelle, der wir die ausgezeichneten Werke Tocqueville's, Eötvös' und Laboulaye's, der Gegner einer übermäßigen administrativen Zentralisation, verdanken?') Sie sind hervorgegegangen aus dem Widerwillen gegen die büreaukratische Schablone und Bevormundungssucht, gegen die radikale Ver­ nichtung des naturwüchsigen, eigenartigen Lebens der kommunalen Körper.

401

Die Frage nach der Berechtigung des Rechtszwanges.

ES läßt sich auch die Verwandtschaft mit den Idealen derjenigen nicht verkennen, die wie W. v. Humboldt, John Stuart Mill und Herbert Spencer die Staatsthätigkeit möglichst auf Gewährung des Rechts­ schutzes beschränken möchten. Proudhon und Spencer hoffen in gleicher Weise auf einen sozialen Zustand, in dem alle „Status"-Vorstellungen überwunden und an deren Stelle überall Kontrakte, freie Vertragsverhältniffe getreten sein werden. Dieser Zustand wird von Herbert Spencer im Gegensatze zu dem kriegerischen als der friedliche industrielle Gesellschaststypus bezeichnet. Die Lehre Proudhons baut, logisch vollkommen korrekt, Staat und Gesellschaft, entsprechend dem individualistischen Bewußtsein der neueren Zeiten, von unten, von dem souveränen Subjekte ausgehend, auf und sucht auf diese Weise den verhängnißvollen Zwiespalt zwischen den Interessen der Autorität und Freiheit aus der Welt zu schaffen. Dieser philosophische Anarchismus hat das Verdienst, ein Problem aufgeworfen zu haben, das vorher in der Wissenschaft noch nicht die gebührende Beachtung gefunden hatte: die Frage nach dem Rechte des Rechtes, nach der Berechtigung des Rechtszwanges, gleichviel welches der Inhalt der Rechtsregel sein mag, gleichviel ob das Recht von einem absoluten Herrscher oder einer demokratischen Parlamentsmajorität ge­ setzt worden ist.22) Der Anarchist fragt, wie R. Stammler treffend den Thatbestand kennzeichnet: „Mit welchem Rechte unterwerft Zhr mich Eurem Rechte, auch wenn ich gar nichts mit Euch zu thun haben will? Laßt mich doch mit meinesgleichen, mir Gleichgesinnten, frei vereinigen, und laßt mich in Ruhe, so lange ich Euch nichts zufüge!" „Nein! antwortet darauf unsere Rechtsordnung. — Wer zu mir gehört und mir Unterthan ist, das bestimme ich. Und wer sich zu Ver­ einen zusammenfinden darf, in welcher Art dieses zulässig ist, das ist an sich nicht frei, darüber entscheidet mein Befinden. — Ob Du ein Störenfried bist oder nicht, ob Du vielleicht auswandern und uns gänzlich verlassen willst, darauf nehme ich an sich gar keine Rücksicht: Nach meiner Regel bist Du mir Unterthan. Du bleibst und fügst Dich, und hast abzuwarten ob ich Dir das Fortgehen und Ausscheiden viel­ leicht erlaube — oder ich brauche Gewalt." Eine vollkommene Ersetzung der Rechtsordnung durch eine freie Konventionalgemeinschaft ist nun schon deshalb nicht denkbar, weil die Idee der bloßen Konventionalgemeinschaft keine allgemeine Anwendbar­ keit und Giltigkeit besitzt. Zur rein vertragsmäßigen Vereinigung taugen eben nur diejenigen Menschen, die rechtömündig, vertragsfähig tzerkner, Die Arbeiterfrage. S.Aufl.

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Der Anarchismus.

sind, also nur empirisch besonders qualiftzirte Menschen. Es wird also immer eine Rechtsordnung für die unmündigen Menschen notwendig sein, sie wird Bestimmungen erlassen müssen darüber, bei welchem Alter die Vertragsfähigkeit beginnt u. dgl. m. Zm übrigen wird man selbst bei voller Anerkennung dessen, was die Sitte für die Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens leistet und vielleicht noch leisten könnte, der Idee der bloßen Konventionalgemeinschaft skeptisch begegnen. Man braucht nicht gerade mit Schopen­ hauer in den Menschen Bestien zu erblicken, die in den Käfig des Rechtes eingesperrt werden müssen, damit sie sich gegenseitig keinen Schaden anthun, aber die geschichtlichen Erfahrungen deuten doch darauf hin, daß ohne einen gewissen Kern von Recht und Zwang ein Gemein­ wesen nicht bestehen kann. Vor allem bedarf es schon einer Macht zur Sicherung der Verträge selbst. Ungeachtet dieser Zweifel und Bedenken darf in der anarchistischen und föderalistischen Theorie eine willkommene Reaktion erblickt werden, eine Reaktion gegen die Vergötterung des Staates und Verherrlichung bureaukratischen Regimentes, die unter dem Einflüsse der Hegelschen Philosophie und der staatssozialistischen Zdeenkreise in Deutschland immer mehr emporgekommen ist. Trotz allen Geredes von Selbstverwaltung und Kollegialbehörden hat die bureaukratische Regierung bei uns thatsächlich an Beden gewonnen. Ein hoher preußischer Verwaltungsbeamter hat jüngst geradezu von einer Souveränität der Bureaukratie gesprochen. Woher das? Zn deutschen Landen ist die Regierung politisch nicht der Volksvertretung, sondern dem Landesherrn verantwortlich. Thatsächlich steht indeß der Monarch, namentlich in größeren Staaten, der unmittelbaren 8erwaltung fern. Ein Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. mochten noch im vorigen Zahrhundert durch fortgesetztes eigenes Studium des Landes in vielen Verwaltungsangelegenheiten ihre Rathgeber und Minister an Erfahrung und Kenntnis übertreffen. Das ist heute bei dem unver­ hältnismäßig größeren Umfange der Staatsthätigkeit, bei der ungeherren Komplikation der Verhältnisse und der notwendigen Spezialisirung auf allen Verwaltungsgebieten einem Fürsten einfach unmöglich. Sein Regieren beschränkt sich darauf, die Vorträge seines Zivilkabincktes und die seiner Minister entgegenzunehmen, ihrem Konseil zu vräsidiren und die vorgelegten Gesetze, Verordnungen u. dgl. zu vollzichen. Allein auch der Minister regiert nur theoretisch, formell. Auck er vermag die Einzelheiten seines Verwaltungsgebietes nicht zu versalzen. Die Zahl der Aktenstücke, die sich wegen der Zentralisation bei der

v. Massow über den herrschenden Bureaukratismus.

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Zentralinstanz anhäufen, ist dazu viel zu groß, überdies wird der Minister oft ganz von der Thätigkeit in dem Parlamente, von den Vorträgen beim Monarchen, ferner durch Empfänge von Deputationen und eine Menge repräsentativer Verpflichtungen in Anspruch genommen. So geht schließlich die Souveränität in der Verwaltung auf die Ministerialdezernenten über. Diese sitzen in ihren Bureaus vor un­ geheuren Aktenstößen, lesen und dekretiren nach dem Grundsätze: Quod non est in actis, non est in mundo. Die in Betracht kommenden thatsächlichen Zustände selbst zu ermitteln und zu studiren, sich von den Berichten der unteren Instanzen zu befreien, vas würde schon die Fülle der Geschäftslast gar nicht gestatten, selbst wenn eine Neigung dazu bestände. Die unteren Behörden kommen aber wieder vor lauter Be­ richten an die vorgesetzten Behörden gar nicht dazu, die Dinge selbst zu erfassen und so Beobachtungen zu machen, die des Berichtens wert wären. So gleicht die Zentralverwaltung, wie Herr v. Massow ") ausführt, einem ungeheuren, nach den verschiedensten Systemen gebauten Schiffs­ koloß, mit so und so vielen Maschinen und Schrauben, unlenkbar, außer stände, den Hafen zu verlassen und das Meer zu befahren. Und doch soll das ganze Land nach der Auffassung dieser schwer­ fälligen Zentralinstanz regiert werden. Die Oberpräsidien bilden in Preußen in der Regel nur eine Durchgangsinstanz. Thatsächlich wendet sich das Ministerium direkt an die Regierungen und hält sie in un­ mittelbarer Abhängigkeit. So wirken die Mängel der Zentralinstanz auf die ganze innere Verwaltung ein. Ebensowenig wie in dieser „papierenen Regierung" eine lebendige, eigenartige, originell wirkende, selbstbewußte, zur Verantwortung bereite und überzeugungstreue Persönlichkeit angemessenen Spielraum findet, ist auch das moderne Wirtschaftsleben im stände, dem Individuum sein Recht zu verschaffen. Allgemeine wirtschaftliche Zusammenhänge, un­ persönliche Kapitalmächte, Konjunkturen und Krisen führen die Herr­ schaft und bedrohen die Unabhängigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Individuen in gefährlichster Weise. Der einzelne ist nur zu oft nicht mehr Herr seiner selbst, seiner Geschicke, seines Glückes Schmied, sondern in einer Fülle von Beziehungen der Zwangsgewalt des Staates und der Tyrannei wirtschaftlicher Verhältnisse unterworfen. So können Bestrebungen, welche dem Individuum eine größere thatsächliche Freiheit zurückerstatten wollen, nur freudig begrüßt werden. Und es ist ein unglückliches Verhängnis, daß diese Richtungen einen Namen tragen, der durch die Schandthaten des Terrorismus besudelt 26*

404

Der Anarchismus.

worden ist. ES dürfte vielleicht geraten fein, unter Anarchismus allein die Propaganda der That und die pandestruktiven Tendenzen zu ver­ stehen, für den friedlichen, individualistischen Anarchismus aber das Wort Föderalismus zu reserviren. Schon vor nahezu 2000 Zähren ist durch Christus, wie neuer­ dings wieder von Tolstoi und seinen Anhängern so nachdrücklich betont wird, die Anarchie eigentlich als höchstes Ideal aufgestellt worden: ein Zustand, in dem jede irdische Zwangsgewalt fehlen kann, weil alle aus freiem Wollen das Sittengesetz erfüllen, weil sie Gott über alles und den Nächsten wie sich selbst lieben; weil niemand etwas thut, was den Mitmenschen kränken könnte; ein Zustand, in dem es nur der Aufklärung über das allen Förderliche bedarf, nicht mehr der Befehle. Wir sind trotzdem heute von einer solchen Gemeinschaft, die sich allein auf die freie Sittlichkeit ihrer Glieder gründet, gewiß noch un­ endlich weit entfernt. Aber wir werden uns diesem Ideale, und zu einem Zdeale macht es unser religiöses und sittliches Empfinden, dieser, um es biblisch auszudrücken, Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden, ganz gewiß nicht nähern, wenn wir aufhören sollten, es uns als Ideal lebendig zu erhalten. Diese Gefahr droht heute in der That. Das wird niemand leugnen, mögen auch Zweifel bestehen, ob wir in dieser Hinsicht mehr von rechts, oder von links bedrängt werden. Um so notwendiger ist es, daß Strömungen auftreten, die den Individualis­ mus, das verblassende Ideal einer frei das Rechte wollenden und thuenden Gemeinschaft, mit neuer Lebenskraft erfüllen. Der friedliche Anarchismus ist eine solche Strömung. Es laufen mithin in dem Anarchismus Lehren nebeneinander, von denen die einen die abscheulichsten sittlichen Verirrungen, die anderen die höchsten Ziele ethischer Kultur bedeuten.

Anmerkungen. 1. Aus der Litteratur über den Anarchismus verdienen besondere Hervor­ hebung: Adler, G., Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Art. Anarchismus und Supplementband I. Anarchismus; Bernatzik, Der Anarchismus, Schmollers I. f. G. V. XIX. S. 1—21; Waltershausen Sartorius, v., Der moderne Sozialismus in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Berlin 1890, S. 161 bis 323; G., H., (Greulich, H.), Die Theorie der Anarchie. Jahrbuch für Sozialwiffenschaft und Sozialpolitik. Von Dr. Richter, L, I. 1. Zürich 1879, S. 1 bis 54; John Henry Mackay, Die Anarchisten. Zürich 1891; Plechanow, G., Anar­ chismus und Sozialismus. Berlin 1894. (Darstellung vom marxistischen Stand­ punkte aus); Bernstein, E., Die soziale Doktrin des Anarchismus. N. Z. X.

Anmerkungen.

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Bd. 2, S. 589, 618, 657, 772, 813; Zenker, E. V., Der Anarchismus. Geschichte und Kritik der anarchistischen Theorie. Jena 1895. 2. Adler, S. L S. 48. 3. Zenker, a. a. O. S. 111. 4. a. a. O. S. 113. 5. a. a. O. S. 114. 6. Plechanow, S. 51. 7. Odilon-Barrot, Die Zentralisation. Deutsch von Franz. Berlin 1862; Deschanel, La dSCentralisation. Paris 1895. 8. Protokoll des Kongresses der Deutschen Sozialdemokratie, abgehalten auf Schloß Wyden. Zürich 1880. S. 14-44. 9. Verhandlungen des Parteitages der Deutschen Sozialdemokratie in St. Gallen. Zürich 1888. S. 39—45. 10. Vgl. über diese Machenschaften, insbesondere die von Singer und Bebel in der Reichstagsdebatte über die Verlängerung des Sozialistengesetzes im Januar 1888 gemachten Enthüllungen nach schweizerischen Aktenstücken. Danach wurde der Drucker der Most'schen Freiheit, W. Bührer in Schaffhausen, für seine Leistungen regelmäßig von Schröder bezahlt, der im Dienste der Berliner Polizei stand. 11. Politisches Jahrbuch der Schweizer Eidgenoffenschaft von Hilty, C., IV. Sem 1889, S. 481. 12. Adler, Art. Anarchismus. S. 261. 13. Z. B. Bruno Wille, der Verfaffer der Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel. Berlin 1894. 14. Zenker. S. 155. 15. Vgl. insbesondere Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. 3. Aust. Leipzig 1894, derselbe. Zur Genealogie der Moral. 2. Aust. Leipzig 1892, ferner: Stein, L, Fr. Nietzsche's Weltanschauung und ihre Gefahren. Berlin 1893. 16. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. 4. Aust. Leipzig 1895, S. 69—72. 17. Aus der Proudhon-Litteratur verdienen hervorgehoben zu werden: Diehl, Karl, P. I. Proudhon. Seine Lehre und sein Leben. 3 Abteilungm. Jena 1888, 1890, 1896; Mülberger, A., Studien über Proudhon. Stuttgart 1891. 18. Die Souveränität des Individuums ist in Deutschland vornehmlich durch Max Stirners Werk „Der Einzige und sein Eigentum", Leipzig 1845, vertreten worden. Stirners Anhänger Faucher wurde später der Führer der extremsten Frei­ handelspartei. 19. Proudhon, Du principe fedäratif. Paris 1863, bes. S. 63—116. 20. Die beste Darstellung dieser Idee hat Proudhon in der für Napoleon IIL bestimmten Denkschrift über die „Gesellschaft der immerwährenden Ausstellung" ge­ liefert. (Deutsche Übersetzung bei Mülberger, a. a. O. S. 75—131.) 21. Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, deutsch von Oelckers, Leipzig 1867; von Eötvös, Joseph, Baron, Der Einfluß der Ideen des 19. Jahr­ hunderts auf Staat und Gesellschaft, 2 Bde., 1854; Laboulaye, Ed., L’etat et 868 limites, Paris 1863. 22. Vgl. besonders Stammler, R., Wirtschaft und Recht. Leipzig 1896. S. 524-572. 23. Siehe v. Massow, Reform oder Revolution, Berlin 1894. S. 236 f. Auch Windthorst erklärte einmal (Reichstagsrede vom 20. Mai 1871): „In Preußen spricht man seit Jahren immer von Selbstverwaltung und die besteht schließlich darin, daß die Geheimen Räte in der Wilhelmstraße alles machen."

Achtzehntes Kapitel.

Kommunale Sozialpolitik?) Seitdem die Arbeiterfrage aufgeworfen worden ist, gelten freie Organisationen der unmittelbar Beteiligten sowie Staat und Kirche als berufene Träger der sozialen Reformen. Über Art und Maß der Auf­ gaben, die dem einen oder anderen dieser Faktoren vorzugsweise zufallen sollten, mochten die Ansichten auseinandergehen. Aber jeder, der über­ haupt eine Arbeiterfrage anerkannte, gab zu, daß ohne die Mitwirkung der genannten Mächte eine befriedigende Lösung kaum zu erwarten sei. Der sozialpolitische Beruf der Gemeinde dagegen ist eigentlich erst vor kurzem entdeckt worden. Und nichts kann besser beweisen, wie sehr unser ganzes politische und soziale Denken noch immer vom Staate gewissermaßen hypnotisirt wird, wie sehr man bis in die neuesten Zeiten herein geneigt gewesen ist, die Gemeinde nur als Staatsanftalt zu betrachten. Es ist ja klar: je mehr man die Gemeinde mit dem Staate identifizirt, desto weniger kann der Gedanke einer besonderen kommunalen Sozialpolitik emporkeimen. Belgien, Frankreich und England haben uns erst lehren müssen, uns wieder auf den sozialpolitischen Beruf der Gemeinde zu besinnen. Die geringe Beachtung, die ihm gerade in Deutschland bis vor kurzem zugewendet worden ist, hängt zum Teil gewiß mit der Thatsache zu­ sammen, daß hier die Anhänger des autoritären oder monarchischen So­ zialismus in ganz besonders großer Zahl anzutreffen sind. Nun fehlt aber den kommunalen Körpern die starke monarchische, und, wie man meint, von den Parteien unabhängige Gewalt.

Es geht ja doch nicht an, etwa

den Oberbürgermeistern und Stadträten, die von den Stadtverordneten gewählt und besoldet werden, in der Gemeinde jene mystisch erhabene Stellung zuzuschreiben, welche im Staate das Königtum von Gottes Gnaden besitzt.

Würde man überhaupt eine kommunale Sozialpolitik

gefordert haben, so wäre schließlich auch eine volkstümliche Umgestaltung der Gemeindeverfassung zu befürworten gewesen.

Vor diesem Schritte

schreckten aber die politisch meist konservativen Staatssozialisten zurück.

Stellungnahme der deutschen Sozialdemokratie zur kommunalen Sozialpolitik. 407

Auch die deutsche Sozialdemokratie hat sich herzlich wenig um die Gemeinde gekümmert. Sie begnügte sich damit, in ihrem Programm die sozial bedeutungsvollen Aufgaben der Gemeinde, wie Schul- und Armenwesen, einfach dem Staate zu überweisen. Die kommunale Thätigkeit schien ihr die Gefahr einer Versumpfung und Verwässerung der großen Prinzipien einzuschließen, eine Konzession an die von Marx so bitter verspotteten Ideale des „Kleinbürgers" Proudhon zu bedeuten, öfters hatte man die Beobachtung gemacht, daß sozialdemokratische Stadtväter auf ganz opportunistische, possibilistische, sozialreformerische Abwege geraten waren. Das neueste Erfurter Programm spricht zwar von der Selbst­ bestimmung und Selbstverwaltung des Volkes auch in der Gemeinde. Aber noch kein Parteitag hat sich mit einer Erörterung darüber befaßt, welche Stellung die Sozialdemokratie in den kommunalen Fragen ein­ nehmen soll. Die sozialdemokratische Litteratur hat ebenfalls all' diese Probleme vernachlässigt. Erst seitdem die englische und französische Arbeiterbewegung in den Gemeinden Erfolge erzielt hat, ist ein Wandel eingetreten, und zwar nicht nur auf dem weniger prinzipienfesten rechten Flügel der Partei, sondern sogar bei dem obersten Hüter der heiligen Flamme der reinen Lehre selbst. Karl Kautsky schreibt: „Der so­ genannte Munizipalsozialismus ist in manchen Ländern, so Frankreich und England, von der größten Bedeutung geworden. Es ist einleuchtend, daß unter sonst gleichen Umständen, namentlich gleichem Wahlrechte, das Proletariat in den Kommunalvertretungen der industriellen Zentren eher zu einer ausschlaggebenden Macht werden kann, als in den Reichs­ vertretungen; denn in jenen Zentren bildet die industrielle Arbeiter­ bevölkerung die große Majorität, im Lande die Minorität; in den Zndustriegemeinden herrscht reges geistiges Leben, auf dem flachen Lande geistige Rückständigteit und Trägheit. Und wo die Arbeiter in Massen zusammenwohnen und arbeiten, sind sie von einer ganz anderen Unab­ hängigkeit, als wo sie zerstreut leben und leicht überwacht werden können... Die Gemeinden können die geistige und physische Hebung des Proletariates sehr beeinflussen durch hygienische Maßregeln (namentlich Wohnungs­ und Nahrungsmittelhygiene) und durch die Gestaltung des Elementarschulwesens. Sie können aber auch die Arbeitsbedingungen beeinflussen, bis zu einem gewissen Grade durch behördliche Vorschriften, mehr noch aber dadurch, daß sie selbst Unternehmer finb."2) Endlich haben sogar diejenigen deutschen Anhänger sozialer Reformen, welche von den doktrinären Vorurteilen der Staatssozialisten und Sozialdemokraten frei waren, lange Zeit Bedenken getragen, besondere

408

Kommunale Sozialpolitik.

Hoffnungen auf die sozialpolitische Thätigkeit der Gemeinden zu setzen. Und es ist ja richtig: noch immer besitzen die Angehörigen der oberen Besitzgruppen, vor allem die Hauseigentümer, in den Gemeindever­ tretungen eine erdrückende Majorität. Trotzdem macht keine politische Partei, mit Ausnahme der äußersten Linken, ernstlich Miene, auch den minder besitzenden Klaffen hier zu einer angemeflenen Vertretung zu verhelfen?) So besteht im deutschen Reiche ein merkwürdiger Zustand. Ze allgemeiner und schwieriger die politischen Fragen sind, je mehr sie sich der vollen Einsicht der großen Masten der Bevölkerung entziehen, desto liberaler, weitherziger ist das geltende Wahlrecht. Im Reiche gilt allgemeine, gleiche, geheime und direkte Stimmabgabe, in den meisten Gliedstaaten ein indirektes, in Preußen und Sachsen überdies noch durch das Dreiklassensystem eingeschränktes Wahlrecht. Und selbst dort, wo, wie in Baden, das Landtagswahlrecht einen etwas liberaleren Charakter hat als in Preußen und Sachsen, gilt doch wenigstens für die Gemeinde ein Dreiklaffensystem. Dabei ist die Gemeindeautonomie, wenn überhaupt vorhanden, ungemein beschränkt. Auf Schritt und Tritt wird die kommunale Thätigkeit von der staatlichen Bureaukratie überwacht und bevormundet. Wo in den Gemeinden enge gesellschaftliche Kreise ausschließlich maß­ gebend sind, wird man übrigens nicht einmal sagen können, daß diese staatliche Fesselung der Gemeinde unter allen Umständen sozialpolitisch ungünstig wirke. Die Jnteressenpolitik der Hauseigentümer und großen Steuerzahler würde mancherorts sicher noch ganz andere Blüthen ge­ trieben haben, wenn die staatliche Überwachung des Gemeindelebens nicht vorhanden wäre. Wenn nun ungeachtet all' dieser durchaus nicht günstigen Vor­ bedingungen schließlich doch auch die deutsche Gemeinde auf sozial­ politischem Gebiete eine Thätigkeit entfaltet hat, die keineswegs unter­ schätzt werden darf, so kann man in dieser Erscheinung nur ein glän­ zendes Zeugnis für die sozialpolitische Befähigung erblicken, welche der Gemeinde an sich zukommt. In der That, die Natur der Dinge selbst drängt die Gemeinde zur sozialpolitischen Thätigkeit, sie mag wollen oder nicht. Die soziale Not tritt den Gemeinden viel unvermittelter gegenüber als den Behörden des Staates. Wenn die Arbeitslosigkeit Hunderte und Tausende der gräßlichsten Not, selbst dem Verhungern entgegentreibt, wenn eine Arbeitsstreitigkeit Gewerbe, Handel und Verkehr einer ganzen Stadt lahm legt, wenn 30—40 Proz. der Neugeborenen vor zurückgelegtem ersten Lebensjahre dem frühen Grabe verfallen, wenn die Kinder des Proletariates bleich.

Besondere Befähigung der Gemeinde für die Lösung sozialpolitischer Aufgaben. 409

abgehärmt, mit Lumpen bekleidet, von Überarbeitung und Hunger ent­ kräftet zur Schule schleichen und stumpf dem Unterrichte nicht folgen können, wenn tödtliche Epidemien als unerbittliche Würgengel aus den tiefsten Abgründen menschlichen Elendes, aus den übervölkerten Be­ hausungen und Stadtteilen, drohend emporsteigen und auch vor den Vierteln der Reichen nicht Halt machen, wenn in den kommunalen Leihhäusern selbst der notwendigste Hausrat versetzt wird und nicht mehr eingelöst werden kann; dann vermag keine Gemeindeverwaltung, sollte sie auch aus dem „elendesten aller Wahlsysteme" hervorgegangen sein, gleich­ mütig, mit verschränkten Armen und bureaukratischer Gelassenheit zu­ zuschauen. Und so sehr auch durch die ungeheure Ausdehnung, welche neuerdings viele Stadtgemeinden gewonnen haben, die persönlichen Be­ ziehungen unter den Gemeindebürgern selbst abgeschwächt und gelockert sein mögen, so sehr der Bruchteil derjenigen gewachsen ist, die nicht in der Wohnungsgemeinde geboren worden sind, und die zu öfterem Wechsel des Wohnsitzes gezwungen werden, noch immer besitzt der Ge­ meinsinn für Gemeindezwecke eine viel urwüchsigere Lebenskraft als derjenige zu Gunstm des Staates. Wie häufig werden Gemeinden und kommunale Stiftungen in Testamenten bedacht, wie selten der Staat! Sehr richtig erklärt Roscher: „Bei gewöhnlichen Menschen kann der Patriotismus nur dann wahr sein, wenn er von dem kleineren Kreise ausgeht, der sie zunächst umgibt, für desien Mitglieder sie sich persönlich interessiren/") Denselben Gedanken bekräftigt K. Jentsch, wenn er sagt: „Einwirkungen auf ein ungeheueres Ganze, die ihrer Geringfügigkeit wegen nicht wahrgenommen werden, machen den Einwirkenden keine Freude und können schon aus diesem Grunde nicht segensreich genannt werden, weil sich ihr Erfolg weder berechnen noch nachweisen läßt. Daher denn eine segensreiche Thätigkeit für das gemeine Wohl dem Bürger eines großen Staates fast nur innerhalb jener kleinen Kreise möglich ist, die ein jeder zu überschauen vermag: in der politischen und kirchlichen Gemeinde, im Kreise, in der Korporation"?) Und endlich: geistlose bureaukratische Schablone, mangelnde Rück­ sichtnahme auf besondere thatsächliche Verhältniffe, politischer Mißbrauch, ungesunde Anhäufung weittragender Machtbefugnisse bei einer Zentral­ gewalt, Bevormundungssucht und Vernichtung individuellen Thaten­ dranges, all' diese gefährlichen Klippen, an denen die sozialpolitische Thätigkeit des Staates so leicht scheitert, sind in dem kommunalen Wirkungskreise entweder gar nicht vorhanden, oder doch viel leichter zu überwinden. Es versteht sich einfach von selbst, daß die Gemeinde ihre soziale Thätigkeit den lokalen Bedürfnissen anpassen wird. Ihre

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Kommunale Sozialpolitik.

Organe sind ja aus ihr selbst hervorgegangen oder mit ihr doch meist für längere Zeit verknüpft. Der Einfluß der Stadtverordneten, die aus den Bürgerkreisen hervorgehen, und die ehrenamtliche Bethätigung des bürgerlichen Elementes innerhalb des Stadtrates bringen die städtischen Exekutivorgane in eine weit innigere Fühlung mit den Regierten, als die staatlichen Behörden zu spielen im Stande sind. Frägt man, welche Wege sich für die sozialpolitische Thätigkeit der Gemeinden im Einzelnen eröffnen, so sei zunächst an die Thatsache erinnert, daß die Gemeinden und namentlich die größeren Stadtgemeinden selbst unmittelbar viele Arbeiter beschäftigen und stets größere öffent­ liche Arbeiten an Unternehmer zu vergeben haben?) Die Betriebe der kommunalen Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke, der Abfuhrunter­ nehmungen und Kanalisation, der Hoch- und Tiesbauämter, der Pferde­ bahnen, Schlachthäuser, Straßenreinigung und -Besprengung, die Er­ haltung der öffentlichen Anlagen, der Feuerlöschdienst, das Gesundheits- und Schulwesen, der Finanzdienst, zuweilen die Bewirtschaftung großer Gemeindewälder, all' das erfordert die Anstellung einer be­ trächtlichen Anzahl von Dienern und Lohnarbeitern. So beschäftigt z. B. die Stadt Dresden') ungefähr 2000 Arbeiter. Rechnet man hinzu noch die städtischen Angestellten so ergibt sich als Gesamtzahl derjenigen Personen, deren Einkommen aus der Stadtkaffe fließt, die stattliche Summe von 4100. Zhre Besoldung und Entlohnung macht etwa ein Drittel des gesamten städtischen Aufwandes aus. Zweifellos üben die Grundsätze, welche die Gemeinde in ihrer Lohnund Besoldungspolitik, in den Fragen der Arbeitszeit und in der Art der Behandlung der Arbeiter zur Geltung bringt, auch auf die Ge­ staltung des Arbeitsverhältniffes in den Privatbetrieben einen gewissen Einfluß aus. Zn Deutschland haben bis jetzt freilich erst recht wenige Gemeinden die Verpflichtung, als Muster-Arbeitgeber aufzutreten, praktisch an­ erkannt. Wie wenig Entgegenkommen wurde beispielsweise in der Frage der Sonntagsruhe der städtischen Gasarbeiter an den Tag gelegt! Dagegen ist in den englischen, französischen, holländischen und belgischen Städten schon mancher schöne Fortschritt erzielt worden. Immer häufiger legen englische Stadtverwaltungen die von den Gewerkvereinen anerkannten Lohnsätze für die Entlohnung der städtischen Arbeit zu Grunde. Wird die Ausführung der Arbeiten nicht in eigener Regie vorgenommen, sondern an Unternehmer vergeben, so wird trotzdem

Die Gemeinde

als

Arbeitgeber.

411

die Bewilligung der Gewerkvereinslöhne zur Bedingung gemacht. Am weitesten hat stch in dieser Beziehung der Pariser Gemeinderat vor­ gewagt. Allerdings konnte bei den sehr beschränkten Befugnissen dieser Körperschaft ein Teil der beabsichtigten Maßregeln vom Seine-Präfekten, von der Regierung, von Kammer und Senat durchkreuzt werden?) Allein auch abgesehen von solchen äußerlichen Hindernissen, die Ge­ meinde wird doch nicht im Stande sein, durch ihre Lohnpolitik un­ mittelbar eine aufsteigende Entwicklung der Löhne herbeizuführen. Zu diesem Zwecke ist das Arbeitsfeld, das sie bietet, im Vergleiche mit dem der Privatindustrie zu sehr begrenzt. Zufolge stark überdurchschnitt­ licher Entlohnung durch die Gemeinde würde auch ein weit größeres Arbeitsangebot erfolgen, als sie befriedigen kann. Bei der dann not­ wendigen Auswahl aus der Fülle der Anträge brauchten keineswegs immer die Fleißigsten und Tüchtigsten vorgezogen zu werden. Es könnte sich auch eine Protektions- und Günstlingswirtschaft einschleichen und auf Kosten der Steuerzahler, die aber zuin größten Teile der Arbeiter­ klasse angehören, eine bevorrechtete Arbeitergruppe entstehen. Diese Möglichkeit ist indeß nur der theoretischen Vollständigkeit wegen anzudeuten. Für die Gegenwart ist die Gefahr überall weit größer, daß die Gemeinden auch als Arbeitgeber viel eher zu wenig, als zu viel thun könnten. Sofern die Ortspolizei in der Hand der Gemeinden liegt, sind sie in Deutschland nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, bei der Durchführung der Arbeiterschutzgesetzgebung mitzuwirken. Eine durchaus zuverlässige Überwachung der Fabriken und Werkstätten kann in der That nur dann erzielt werden, wenn sie außer von den herum­ reisenden Inspektoren auch noch von an Ort und Stelle befindlichen Organen ständig ausgeübt wird. Die bisher erzielten Erfahrungen sprechen aber nicht dafür, diesen Dienst in die Hände der Gemeinden zu legen. Namentlich darf von kleineren Gemeinden in dieser Beziehung nichts erwartet werden. Es kann leicht der Fall eintreten, daß der Bürgermeister selbst Fabrikant oder abhängiger Fabrikarbeiter ist. Die Berichte der staatlichen Aufsichtsbeamten führen denn auch Zahr für Zahr Klage darüber, daß die Ortspolizeibehörden, soweit sie kommunalen Ursprunges sind, ihren Pflichten äußerst lässig nachkommen. Nur hie und da macht der Magistrat einer größeren Stadt eine erfreuliche Aus­ nahme. Auf die Erörterung der Aufgaben, welche den Gemeinden in Deutschland durch die reichsgesetzliche Arbeiterversicherung zugewiesen worden sind, darf hier um so eher verzichtet werden, als der Gegenstand

412

Kommunale Sozialpolitik.

schon in anderem Zusammenhange berührt, und den Gemeinden auch nur ein äußerst geringer Spielraum für freie Bethätigung in dieser Hinsicht offen gelaffen worden ist. Dagegen ist die Errichtung der Gewerbegerichte den Gemeinden thatsächlich frei gestellt. Die Landeszentralbehörde kann schließlich auch eine Gemeinde gegen ihren Willen zu der Einführung zwingen, aber in der Praxis wird von dieser Möglichkeit kaum Gebrauch gemacht. So hängt denn die Thätigkeit' der Gewerbegerichte, die bei der deutschen Arbeiterklaffe rasch beliebt geworden sind, in erster Linie von der Haltung der Gemeinde ab. Erfreulicherweise haben wenigstens die meisten der größeren deutschen Stadtgemeinden Gewerbegerichte eingeführt. Zm Jahre 1893 wurden bei 39 Gewerbegerichten, über deren Thätigkeit nähere Angaben vorliegen,') 39551 Sachen anhängig gemacht. Darf schon an sich das Vorhandensein einer Instanz, vor welcher Arbeitgeber und Arbeiter in kleineren Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältniffe rasch und wohlfeil Recht erhalten können, gar nicht unterschätzt werden, so haben die Gewerbegerichte in mittelbarer Weise noch zu sehr bemerkenswerten Folgen geführt. Da als Vor­ sitzender des Gerichtes häufig ein höherer rechtsverständiger städtischer Beamter fungirt, so ergibt sich schon der Vorteil, daß einem Mitgliede des Stadtrates durch die amtliche Thätigkeit ein tieferer Einblick in die Arbeitsverhältnisse erschlossen wird. Dadurch soll manche Wandelung in der sozialpolitischen Ideenwelt dieser Persönlichkeiten erzielt worden sein. Sodann ist mancherorts in Anlehnung an das Gewerbegericht ein städtisches Arbeitsamt ins Leben getreten. Natürlich hat zur Errichtung solcher Ämter das Gewerbegericht nicht allein den Anstoß gegeben. Da die Armenpflege den Gemeinden obliegt, so können sie sich der Fürsorge für Arbeitslose nicht wohl entziehen. In den wirtschaftlich gedrückten Zeiten zu ansang der 90er Jahre hatte die Arbeitslosigkeit vielerorts eine so beträchtliche Ausdehnung gewonnen, daß Notstands­ arbeiten in Angriff genommen wurden.'') Bei den Bestrebungen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, kam den Städten ohne weiteres auch der unbefriedigende Zustand des Arbeits­ nachweises zu deutlichem Bewußtsein. Die Mängel der Arbeitsvermittelung") bestehen zum Teil in einer großen Zersplitterung des ganzen Geschäftes, zum Teile aber darin, daß die Arbeitsuchenden von privaten Stellenvermittelungsbureaus durch zu hohe Gebühren und andere Machenschaften nicht selten geradezu aus­ gebeutet werden. In die Aufgabe der Arbeitsvermittlung teilen sich

Kommunale Arbeitsbörsen in Frankreich.

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mit den privaten Bureaus Jnseratenblätter, gemeinnützige Stiftungen und Vereine, Innungen und Gewerkschaften. Je geringer die Zentrali­ sation, desto undurchsichtiger ist der ganze Stand des Arbeitsmarktes, desto größer werden aber auch die Kosten, die von beiden Teilen aufzuwenden sind. Viele Arbeiter und Arbeitgeber werden dann veranlaßt, bei einer ganzen Reihe verschiedener Vermittlungsstellen ihre Gesuche und An­ gebote anzubringen. Das verursacht außerdem noch Verluste an Zeit, und schließlich kommt noch immer nicht der rechte Mann an den rechten Platz. Es war ein unabweisbares Bedürfnis, hier ordnend, klärend und reformirend einzuschreiten. Vor allem ist es die Stadt Paris gewesen, die mit der Errichtung einer Arbeitsbörse (bourse du travail) voranging.'^) Schon seit Jahrzehnten hatten sich in Frankreich Männer wie G. von Molinari und der Seinepräfekt Ducoux um Einrichtungen be­ müht, die geeignet wären, einen gewissen Ausgleich zwischen Arbeits­ angebot und -nachfrage an den verschiedenen Plätzen des Landes zu bewirken. Es war indeß nicht gelungen, etwas zu Stande zu bringen. Erst als die 1882 berufene Administrativkommission zur Behandlung von Arbeiterfragen unter dem Vorsitze des ehemaligen Seinepräfekten Floquet tagte, wurden die Arbeiten soweit gefördert, daß Mesureur 1886 dem Pariser Gemeinderate den Vorschlag unterbreiten konnte, eine Zentralarbeitsbörse mit Zweiganstalten an verschiedenen Punkten von Gemeindewegen zu errichten. Im Februar 1887 fand in der That die Eröffnung einer Arbeitsbörse statt. Über die Erwartungen, welche an dieses Unternehmen geknüpft wurden, unterrichtet der Bericht Me­ sureur' s, in dem es heißt: „Auf dem Gebiete der Vertragsfreiheit verbleibend, haben Sie das Recht, wo nicht die Pflicht, den Arbeitern die Mittel zum Kampfe mit gleichen und legalen Waffen mit dem Kapital zu liefern; ohne die Arbeitsbörse wird die Existenz der Syndikate immer eine prekäre sein, indem die Lasten, welche sie auferlegen, von ihnen die größte Zahl der Arbeiter fern halten. Es ist somit nötig, daß sie Lokalitäten und Bureaux besitzen, wohin jeder gehen kann ohne Furcht vor Opfern an Zeit und Geld über seine Mittel; die freie ständige Verfügung über Versammlungssäle wird den Arbeitern erlauben, mit mehr Reife und Genauigkeit die vielfachen Fragen zu besprechen, welche ihr Gewerbe interessiren und auf die Löhne von Einfluß sind; sie werden, um sie zu führen und aufzuklären, alle Mittel zur Information und zum Ver­ kehre haben, die durch die Statistik gelieferten Daten, eine volkswirt­ schaftliche, gewerbliche und kaufmännische Bibliothek, die Bewegung der

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Kommunal« Sozialpolitik.

Produktion für jeden Industriezweig nicht allein in Frankreich, sondern in der ganzen Welt... Die Arbeiter, heute auf den rohen Ausdruck ihrer Leiden beschränkt, denen gegenüber die öffentlichen Gewalten ohn­ mächtig bleiben, werden alle Leiden des großen Problems, welches sie umschließt, in Angriff nehmen, die Bedingungen für ihre Arbeit ihren Arbeitgebern auferlegen und den Gesetzgebern angeben können, welche gesetzlichen Feffeln verschwinden, welche Schutzgesetze erlassen werden sollen." Es kommt also darauf an, die Arbeiterbewewegung und besonders die Gewerkvereine dadurch zu unterstützen, daß ihnen die Gemeinde Bureaux und Versammlungssäle für ihre Zwecke zur Verfügung stellt. Er ist somit kein kommunaler Arbeitsnachweis in dem Sinne, wie et jetzt in vielen deutschen Städten besteht. Der Arbeitsnachweis soll durchaus in den Händen der Gewerkvereine verbleiben. Da sie in der Wahrnehniung dieser Aufgabe aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden, ist ihnen die Verpflichtung auferlegt, auch Nichtmitglieder zu berück­ sichtigen. Eine ausreichende Garantie für die Erfüllung dieser Vor­ schrift ist aber natürlich schwer zu beschaffen. Die Vereinigung rein wirtschaftlicher Bestrebungen mit solchen politischer Natur ist der Pariser Arbeitsbörse bald verhängnißvoll geworden. All' die zahlreichen Parteiungen, unter denen die Pariser Arbeiterschaft leidet, haben sich sofort auf die Verwaltung der Arbeits­ börse übertragen. Ihre Organe stellten sich überdies der Regierung feindselig entgegen. Versuche, die Unternehmer in der Freiheit der Wahl zu beschränken und ihnen die Stellenbewerber in der Reihenfolge ihrer Einzeichnungen aufzunötigen, Zurücksetzungen von Arbeitern an­ derer Parteirichtungen als jener der eben am Ruder befindlichen Majorität und Ähnliches mußten die Sympathien für die Entwicklung der ganzen Einrichtung stark beeinträchtigen. Man ließ endlich an der Börse auch Gewerkvereine, die den gesetzlichen Bedingungen nicht ent­ sprachen, teilnehmen. Diese Umstände und die Unterstützung, welche die Arbeitsbörse den Unruhen im Quartier tatin gewährt hatte, bewogen die Regierung am 5. Zuli 1893, die Schließung zu verfügen. Durch Dekret vom 7. Dezember 1895 ist die Arbeitsbörse wieder eröffnet worden. Man hat nun Sorge dafür getragen, daß SeinePräfektur und Gemeinderat einen unmittelbaren Einfluß auf Verwaltung und Leitung der Arbeitsbörse nehmen können. Den Gewerkvereinen ist nur innerhalb ihrer Abteilungen in der Börse volle Bewegungs­ freiheit gestattet. Dort können sie ihren Nachrichtendienst beliebig organisiren. Auf die Leitung der Börse nehmen die Gewerkvereine nur

Kommunaler Arbeitsnachweis in Deutschland.

415

durch einen beratenden Ausschuß Einfluß, dessen Mitglieder sie bestimmen. Er besteht aus 10 Arbeitervertretern, aus 6 Gemeinderäten und je 2 Ver­ tretern der Seine-Präfektur und des staatlichen Arbeitsamtes.") Die Institute, welche nach dem Vorbilde der Pariser Anstalt in anderen Städten Frankreichs gegründet worden sind, haben, zum Teil aus verwandten Gründen, ebenfalls eine besonders ersprießliche Thätig­ keit noch nicht zu entfalten vermocht. Bei dem konservativen Zuge, der in den meisten deutschen Stadt­ verwaltungen herrscht, ist es von munale Anstalten

vornherein ausgeschlossen, daß kom­

zur Organisation des Arbeitsnachweises

zu einem

Tummelplatz für parteipolitische Bestrebungen der Arbeiterklasse aus­ arten könnten.

Leider ist man hier aber in der entgegengesetzten Richtung

zuweilen zu weit gegangen.

Den Gewerkvereinen ist gar kein Einfluß

auf die Einrichtungen eingeräumt worden, und so hat sich denn ein scharfer Gegensatz zwischen gewerkschaftlichem und städtischem Arbeits­ nachweise mancherorts herausgebildet.

Und es ist ja richtig, den Fach­

vereinen kann es nicht frommen, wenn ein so wichtiger Zweig ihrer Thätig­ keit, wie die Arbeitsvermittlung, in die Hände der Gemeinde gelangt, also einer Körperschaft, in der, wie die Dinge heute noch meist liegen, das Arbeit­ geberinteresse stark überwiegt. Da aber die Entwicklung der Gewerk­ vereine in Deutschland noch sehr schwach ist, da ihre Arbeitsvermittlung von Seiten der Arbeitgeber in der Regel völlig gemieden wurde, so scheint es doch immer noch besser zu sein, daß eine Organisation des Arbeitsnachweises durch die Gemeinde erfolgt als gar keine.

Eine nicht

unwesentliche Milderung können die Bedenken, welche vom Arbeiter­ standpunkte gegen diese Einrichtungen erhoben werden müssen, dadurch erfahren, daß die Verwaltung des Arbeitsnachweises durch die Beisitzer des Gewerbegerichtes bestimmt wird. Dieser Vorgang, der zuerst von dem früheren Vorsitzenden des Stuttgarter Gewerbegerichtes, E. Lauten­ schlager, empfohlen worden ist, bietet die Möglichkeit dar, auch in den­ jenigen Gemeinden, in denen die Arbeiter noch keine angemessene Ver­ tretung erlangt haben, wenigstens zur Verwaltung des Arbeitsnachweises auch Vertrauensmänner der Arbeiter mit heran zu ziehen.

Trotzdem

ist auch unter dieser günstigeren Voraussetzung die Stellung der kom­ munalen Anstalten bei Arbeitsstreitigkeiten recht schwierig.") Manche Statuten bestimmen, daß der Arbeitsnachweis für die in Arbeitsstreitig­ keiten begriffenen Parteien zu ruhen habe. mit Stillschweigen.

Andere übergehen die Frage

Zm ersteren Vorgehen erblickt man eine Begünsti­

gung der Arbeiter, im letzteren eine solche der Arbeitgeber. Aus Berliner Arbeiterkreisen ist der beachtenswerte Vorschlag gemacht worden, daß

416

Kommunale Sozialpolitik.

nur für denjenigen Teil der Arbeitsnachweis aufgehoben sei, welcher sich der einigungsamtlichen oder schiedsrichterlichen Thätigkeit des Gewerbe­ gerichtes nicht unterworfen habe. Der Gedanke würde Unterstützung verdienen, wenn die Art der Zusammensetzung die Gewerbegerichte unter allen Umständen zur Vornahme eines Einigungsverfahrens geeignet erscheinen ließe. Diese Voraussetzung trifft indes in der Regel nur dort zu, wo in dem Gewerbegerichte beruflich gegliederte Kammern (in Berlin z. B. Kammer I. Schneiderei und Näherei, II. Textil- und Putzindustrie, III. Baugewerbe, IV. Holz- und Schnitzstoffe, V. Metall­ verarbeitung, VI. NahrungS- und Genußmittelgewerbe, Beherbergung und Erquickung, VII. Handel und Verkehr, VIII. Allgemein) gebildet worden sind. Sonst wird das Gewerbegericht nur dort mit Erfolg als Einigungsamt auftreten können, wo es sich um ungelernte Arbeiter handelt und die Einsicht in das Wesen der Arbeitsstreitigkeit von be­ rufstechnischen Kenntnissen unabhängig ist15) Wie lebhaft das Bedürfnis nach einer Organisation des Arbeits­ nachweises empfunden wird, geht aus den Mitteilungen über die Thätig­ keit der getroffenen Einrichtungen überzeugend hervor. Zur befferen Ver­ anschaulichung sei in der Folge die Übersicht mitgeteilt, welche das Arbeits­ amt der Stadt München über seine Thätigkeit int ersten Zahre seines Bestehens (November 1895 bis Oktober 1896) kürzlich ausgegeben hat. kSiehe Sette 418—420.)

Zm Anschlüsse an die kommunale Organisation des Arbeitsnach­ weises ist auch der Gedanke entstanden, den Gemeinden die Ver­ sicherung gegen Arbeitslosigkeit aufzuerlegen. Dieser Vorschlag ist aber bereits an anderer Stelle in ablehnendem Sinne erörtert worden und kann deshalb hier übergangen werden. Eher möchten wir die Zustände des Herbergswesens, die oft nicht weniger unbefriedigend1') sind als diejenigen der Arbeitsvermittlung, der Aufmerksamkeit der Gemeinden empfehlen. Auch an die Errichtung kommunaler Volksbureaux wäre zu denken. Namentlich in Deutschland ist durch den etwas verschnörkelten und verwickelten Aufbau der Ar­ beiterversicherungsgesetzgebung ein Rechtszustand geschaffen worden, in dem sich der einfache Arbeiter nicht leicht selbständig zurechtfinden kann. Es darf daher nur freudig begrüßt werden, wenn man von Gemeinde­ wegen Bureaux einrichtet, in denen ein Arbeiter über feine Rechte und Pflichten unentgeltlich oder gegen geringes Entgelt unparteiische Auskunft erhalten kann. Zwei kleineren Städten, wie Ruhla und Hamm i. W., kommt das Verdienst zu, den Anfang mit dieser Ein­ richtung gemacht zu haben.

Fürsorge für die öffentliche Gesundheitspflege.

417

Die Maßnahmen, die bisher den Gegenstand der Erörterung bildeten, beziehen sich insgesamt unmittelbar auf das ArbeitSverhältniS. Nun entfalten die Gemeinden aber noch eine sehr ausgebreitete Thätig­ keit, welche sich zum Teil auf die Gesamtheit, zum Teil auf die minder besitzenden Volkskreise überhaupt erstreckt, und die mittelbar jedenfalls einen garnicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Gestaltung der sozialen Verhältniffe ausübt. So vor allem die Fürsorge für die öffentliche Gesundheitspflege. Wie viel hier zu thun bleibt, läßt schon die Thatsache ahnen, daß der Streit, ob die Städte ihre Bevölkerungen verzehren, noch keineswegs ganz verstummt ist. Die Fürsorge für die gesundheitlichen Verhältniffe der Stadtbe­ völkerungen wird umso wichtiger, je größer der Bruchteil der Nation geworden ist, den sie bilden. Zn England wohnen bereits mehr als zwei Drittel der gesamten Bevölkerung in der Stadt. • Die deutschen Zustände erläutert die nachstehende Tabelle: 1871

1875

1880

1885

1890

Mill.

Will.

Mill.

Mill.

Mill.

16,6 39,9

18,7 41,4

20,4 43,7

23,2 47,0

26,0 61,0

26,5 58,6

26,2 56,3

26,1 53,0

Städtische Bevölkerung (Ge­ meinden mit mehr als 2000 Einw.) 14,7 Zn Proz. der Gesammtbevölkerung 36,1 Ländliche Bevölkerung (Ge­ meinden mitweniger als 2000Einw.) 26,3 Zn Proz. der Gesammtbevölkerung 63,9

Das durchschnittliche jährliche Zuwachsprozent ist umso größer gewesen, je mehr eine Stadtgemeinde sich dem Charakter der Großstadt näherte; es betrug innerhalb der Periode 1867—1885: Zn den großen Städten (über 100 000 Einw.) ... „ „ mittleren „ (20 000—100 000 Einw.) . . „ „ kleineren „ (5 000—20 000 Einw.). . . „ „ Landstädten (2000—5 000 Einw.)....................1,0 „ „ Landgemeinden (bis unter 2 000 Einw.) ...

2,6 2,4 1,8 0,2

Die Ansicht, daß die Stadtbevölkerungen einen hippokratischen Zug trügen, daß sie einem früher oder später, aber unerbittlich eintretenden Untergange geweiht, daß sie geradezu als die Gräber des Menschen­ geschlechtes anzusehen seien, ist neuerdings namentlich von Georg Hansen in seinem Buche über die drei Bevölkerungsstufen'°) mit großem Nach­ druck vertreten worden. Obwohl seine Behauptungen auf ein durchaus unzulängliches Beobachtungsmaterial gegründet sind, haben sie nicht Herkner, Die Arbeiterfrage. 2. Auf!.

27

Kommunale Sozialpolitik.

418

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gefallenen minderwertigen Hinterkorn,

wie sich

Georg Hansen bezeichnend ausgedrückt hat."") „Wenn wir uns vorstellen, daß dereinst unser gelichteter Bauern­ stand nicht

mehr in der Lage sein

werde, die gesunden Kräfte zur

Ausfüllung der höheren Stände zu erzeugen, so entrollt sich ein trauriges Bild. Denn dies heißt nichts anderes, als daß die Führer und Leiter der Menschheit nur noch aus der Klaffe der Fabrikarbeiter und des Pro­ letariats,

also

aus dem minderwertigen, durch das Sieb

Hinterkorn, hervorgehen müssen.

Die Ideale,

gefallenen

welche die Menschheit

bis jetzt hochgehalten hat, verschwinden mit den Bauern von der Erde

460

Darwinismus und Sozialpolitik.

und andere Ideale von geringerem Werte treten an ihre Stelle . . . . alle Charaktereigenschaften, welche zu einer uneigennützigen und un­ bestechlichen Hingabe an die allgemeinen Zntereffen befähigen, sind unwiederbringlich dahin. Es gilt nur noch der rohe Nutzen, und der Rücksichtsloseste, nicht der Beste, ist Meister."43) Auch die Frage des Wahlrechtes wird von Ammon nach anthro­ pologischem Maßstabe entschieden: „Allgemeines direktes Wahlrecht heißt im Lichte der Anthropologie nichts anderes, als daß die rundköpfige Mehrheit unter sozialdemokratischer oder klerikaler Führung die lang­ köpfige als eigentliche Trägerin der Geisteskultur fungirende Minderheit meistern solle."43) Diese Proben dürsten genügen, um die Größe der Verirrungen erkennen zu lassen. Es wird vielleicht in manchen Kreisen Verwunderung erregen, daß der sozialanthropologischen Prädestinationslehre O. Ammon's hier eine so eingehende Berücksichtigung zu Teil geworden ist. Man möge indes bedenken, daß die „Natürliche Auslese beim Menschen" von einer Reihe wifienschaftlicher Zeitschriften ersten Ranges (Archiv für Anthropologie, Naturwiffenschaftliche Wochenschrift, Wiener klinische Wochenschrift, Anatomischer Anzeiger, Militärärztliche Zeitschrift, Ausland, Deutsche Revue, Allgemeine Wiener medizinische Zeitung, Tweemaandelijksch Tijdschrift ^Amsterdam), L’Anthropologie (Paris), Rivista critica mensile di opere di filosofia scientifica (Mailand) Archivio per l’Antropologia e VEtnologia, The Quarterly Journal of Economics (Boston) u. a. m.) anerkennend, zum Teil enthusiastisch aufgenommen worden ist; daß die „Gesellschaftsordnung" innerhalb kurzer Zeit zwei Auflagen erlebt hat und die „Bedeutung des Bauernstandes" von einem angesehenen Nationalökonomen eines Preises für würdig erkannt rourbe.44) Dazu kommt Ammon der Umstand zu statten, daß er in seinen Arbeiten zwei Wissensgebiete zu vereinigen strebt, die selten von einer und derselben Persönlichkeit angebaut werden. So halten ihn die Vertreter der Naturwissenschaften leicht für einen hervorragenden Sozialpolitiker und Statistiker, die Statistiker und Sozialpolitiker leicht für einen bedeutenden Anthropologen. Und was kann heute den oberen Klassen im allgemeinen will­ kommener sein als Schriften, die ihnen „naturwissenschaftlich" beweisen, daß der industrielle Arbeiterstand, der ihnen so unbequem wird, von Natur aus zum Murren, Krakehlen und Drohen prädestinirt ist, daß er das „minderwertige, durch das Sieb gefallene Hinterkorn" darstellt, daß man endlich aufhören müsse, ihn weiter zu verhätscheln, und daß

Einfluß der Klassenbildung auf den Kampf ums Dasein.

461

die oberen Klassen ihre höhere Stellung im großen und ganzen ihrer höheren geistigen Begabung und Tugend verdanken? Die schweren Irrtümer, in die Leute von einseitiger naturwiffenschaftlicher, oder gar zoologischer Bildung leicht verfallen, wenn sie sich mit sozialen Problemen befassen, beruhen namentlich darauf, daß sie die Tragweite, welche der sozialen Klasse zukommt, gründlich unter­ schätzen. Biologische und zoologische Studien sind ja in der That wenig geeignet, über diese Verhältniffe zu unterrichten. Diese Dar­ winisten gehen dann von der naiven Vorstellung aus, als ob der Kampf um's Dasein unter den Menschen sich zumeist unmittelbar zwischen allen Individuen als solchen abspielte. Thatsächlich kann von einem richtigen Wettbewerbe nur unter den Angehörigen derselben Klaffe, derselben Berufsgruppe und sozialen Schichte die Rede sein. Die Berufsbildung, die soziale Schichtung und Klaffenbildung sind aber Erzeugniffe historischer Ereigniffe und EntwicklungenSie können nicht durch naturwiffenschaftliche, sondern nur durch sozialgeschichtliche Bildung begriffen werden. Im Westen und Süden des deutschen Reiches, in der Schweiz, in Frankreich, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gibt es eine zahlreiche Klaffe kleiner und mittlerer ländlicher Grundeigentümer. Im deutschen Nordosten, in den Sudetenländern, in Großbritannien und Italien steht ein Stand von Großgrund- ja Latifundienbesitzern einem ländlichen Proletariate gegenüber. Das sind Zustände, die nicht durch anthropologische Kategorien und „natürliche Auslese" begriffen werden können. Da kann nur die soziale Agrargeschichte befriedigende Auf­ schlüffe geben. Sie erzählt uns, wie es kam. Sie zeigt uns z. B., daß bei der preußischen Bauernbefreiung eine ganze Schichte kleinerer Bauern von der Negulirung und Ablösung ausgeschlossen, daß aus ihr ganz bewußt eine besitzlose, ländliche Arbeiterklaffe gebildet wurde. Sie vermittelt uns die Kenntnis der Ereigniffe, die nach der Schlacht am weißen Berge zur Bildung des böhmischen Latifundienbesitzes führten, oder welche dem irischen oder schottischen Volke das Eigentum an seinem Grund und Boden entzogen. Und wie innerhalb der ländlichen Verhältniffe, so ist die Klaffen­ bildung der gewerblichen Bevölkerung wieder zum größten Teile nicht durch natürliche, sondern historische Thatsachen, durch Veränderungen der Handelsstraßen, der Verkehrsmittel und der Technik bedingt. Wenn heute der Handwerkerstand zurückgeht, während die industrielle Arbeiter­ klasse an Bedeutung gewinnt, so hängt diese Erscheinung vor allem mit den Umwälzungen der Produktionstechnik zusammen, die in vielen Ge-

462

Darwinismus und Sozialpolitik.

werben nur den sabrikinäßigen Großbetrieb konkurrenzfähig auftreten lasten. Unter anderen technologischen Voraussetzungen würden viele von denjenigen, die heute als Industriearbeiter ihr Brot verdienen unb sozialdemokratischen Bestrebungen huldigen, als selbständige Hand­ werksmeister den „staatscrhaltenden" Parteien zujubeln, ob nun ihr Schädelindex 81,2 oder 80,9 sein mag. Die Klassenangehörigkeit zieht ganz bestimmte Schranken, über welche hinaus das einzelne Individuum, mag seine Begabung sein wie sie will, im allgemeinen nicht emporsteigan kann. Der Sohn des besitzlosen Fabrik- oder Landarbeiters wird, von Ausnahmefällen, welche die Regel bestätigen, kein Fabrikherr oder Rittergutsbesitzer, Offizier, Universitätsprofeffor oder Ministerialrat. Er wird, selbst bei vorzüglicher Begabung, höchstens die untersten Stufen der nächsten sozialen Schichten erreichen. Er kann vielleicht durch gute militärische Dienste eine Zivilversorgung erhalten und in den subalternen Beamtenstand aufsteigen. Er kann es zu einer Aufseher- oder Werkmeisterstelle bringen und auf diesem Wege die soziale Stellung der unteren Schichten der Mittelklasse erreichen. Erst seine Kinder, deren sozialer Ausgangspunkt um einige Staffeln höher liegt, glückt es vielleicht, noch weiter vorwärts zu kommen. Freilich werden auch für sie Berufe kaum in Frage kommen, welche erst spät zu einem eigenen Einkomnien führen. Zn denjenigen deutschen Staaten, welche ihre jungen Beamten sofort, wenn auch nur mäßig, besolden, werden z. B. die Aussichten vorteilhafter sein, als etwa in Preußen, wo Re­ ferendar und Asseffor jahrelang ohne Besoldung, d. h. also aus dem Einkommen oder Vermögen ihrer Familie leben müssen. Nun ist weiter zu bedenken, daß die Klastenlage unter der Herr­ schaft allgemeiner wirtschaftlicher Konjunkturen steht. So sind heute z. B. die Konkurrenzbedingungen für die größeren Landwirte des deutschen Ostens nicht besonders günstig. Ein tüchtiger und in­ telligenter Rittergutsbesitzer kann sich deshalb möglicherweise genötigt sehen, sein Gut in Rentengüter zu zerschlagen, während mäßiger begabte Bauern sich noch ganz gut zu behaupten im stände sind. Nur innerhalb der gleichen sozialen Klasse, der gleichen Verufsund Gesellschaftsgruppe, innerhalb des Kreises, der in der That allen seinen Angehörigen die gleiche soziale Gelegenheit bietet, wird sich eine Art natürlicher Auslese vollziehen, wird das Aufsteigen zu bevorzugter Stellung häufig eine Folge persönlicher Begabung sein. Immerhin bleibt auch hier zu berücksichtigen, daß die Zahl der bevorzugten Stellungen in dieser Gruppe nicht notwendig mit der Zahl ihrer höheren Begabungen übereinzustimmen braucht. Das alles hängt von

Wirklicher Wettbewerb setzt gleiche soziale Gelegenheit voraus.

Entwicklungen ab, Einfluß hat.

463

auf welche der einzelne Mensch keinen oder geringen

Zn einzelnen Industriezweigen nimmt vielleicht die Zahl

der Betriebe stark ab, während ihr Umfang wächst. eine Abnahme der bevorzugten Unternehmerstellungen.

Das bedeutet also Oder durch das

rasche Aufblühen einer Stadt, durch zollpolitische Veränderungen können sich für einzelne Gewerbe sehr vorteilhafte Konjunkturen ergeben. Möglichkeit zur Begründung trächtlich erweitert.

Die

bevorzugter Stellungen wird dadurch be­

Mindere Begabungen rücken zu günstigen Stellen

vor, während anderwärts Begabtere sich mit geringeren Positionen be­ gnügen müssen. Man wird aber noch aus einem anderen Grunde Bedenken tragen, den Einzelnen, selbst innerhalb seiner Klaffe, lediglich nach dem äußeren Erfolge zu beurteilen.

Man kann ja nur sagen, daß er sich den ge­

gebenen Bedingungen am

besten angepaßt hat.

Die Anpassungsfähig­

keit kann sittlich indifferent, selbst unsittlich sein. Zn der Textilindustrie kamen z. B. einige Männer deshalb ganz besonders empor, weil sie inbezug auf die Verwendung besaßen, als

minderwertiger Kunstwolle geringere Skrupel

ihre Konkurrenten.

Ebensowenig wird man in der künst­

lerischen, militärischen, politischen und gelehrten Laufbahn die größte Anpaffungsfähigkeit unter allen Umständen als rühmenswerten Vorzug hinstellen wollen.

Der „Streber"

müßte ja sonst den idealen Typus

der Menschheit bilden. Nicht um Beseitigung des freien Wettbewerbes handelt es sich bei sozialen Reformen, wie die Naturforscher oft

irrigerweise annehmen.

Der Wettbewerb soll bestehen bleiben, aber die äußeren Bedingungen und Formen, in denen er heute erfolgt, sind so umzugestalten, daß sich mehr und mehr allen die gleiche soziale Gelegenheit eröffnet,") und daß im allgemeinen diejenigen als Sieger im Kampfe hervorgehen, in denen die nach unseren sittlichen Vorstellungen wertvollsten Eigenschaften am vollkommensten verkörpert sind. Der Wettbewerb wird dadurch eher verschärft als gemildert werden. Die Klaffenbildung wirkt heute oft als Feffel des Wettbewerbes.

Es

gibt soziale Schichten, denen ungleich mehr bevorzugte Positionen offen stehen als der Zahl ihrer höheren Begabungen entspricht?') Die Ta­ lente dieser

Kreise werden eine ganz andere Thätigkeit zu entfalten

haben, sobald sie auch mit den ähnlichen Begabungen anderer Schichten in wirklichen Wettbewerb treten müssen, nicht mehr „unter sich" bleiben und auf dem Lotterbette großer Vermögen, sowie politischer und sozialer Vorrechte ausruhen können. Und selbstverständlich wird sich auch in den unteren Schichten der Begabte weit mehr bemühen, wenn er weiß.

464

Darwinismus und Sozialpolitik.

daß seinem Emporkornmen keine starren äußeren Schranken, keine unbe­ lehrbaren, hochmütigen Vorurteile entgegenstehen. Deshalb sind auch nicht die Epochen geburtsaristokratischer Abge­ schlossenheit, verknöcherter Standesbildung, herrschenden Klassen- und Rassendünkels durch große Fortschritte und große Männer ausgezeichnet, sondern diejenigen, in denen herzhaft an den Fesseln der überlieferten Klassenbildung, an den Hindernissen der gleichen sozialen Gelegenheit ge­ rüttelt worden ist. Wie viele Franzosen, die nach der großen Re­ volution als Soldaten, Beamte, Künstler, Gelehrte und Geschäftsmänner ersten Ranges glänzten, würde sich ohne diese gewaltige Zerstörung des engherzigen Privilegienwesens kaum zu lokaler Größe enwickelt haben!48)

Anmerkungen. 1. Vgl. im allgemeinen zu diesem Probleme: Knapp, G. F., Darwin und die Sozialwissenschaften. I. f. N. St. 18 Bd.; Neurath, W., Volkswirtschaftliche und sozialphilosophische Essays. Wien 1880. S. 51 f.; Schäffle, Gesammelte Aufsätze, I. Bd. Tübingen 1885. S. 1—37; Ritchie, David G., Darwinism and Politics. London 1891; Lange, Fr. A., Die Arbeiterfrage. 4. Aufl. Winterthur 1879. S. 1 — 82; Ferri, E., Sozialismus und moderne Wissenschaft. Leipzig 1895. S. 1-85. 2. Life and Leiters. III. S. 178. 3. . Wallace, Alfred Russell, Land nationalisation, its necessity and its aims. London 1882. 4. Amtl. Bericht d. 50. Vers. d. Naturf. u. Ärzte zu München. 1877. S. 68. 5. Abstammung des Menschen, 21. Kapitel. 6. Die Zukunft (M. Harden). 6. Bd. Nr. 40 (7. Juli 1894). Menschliche Auslese. S. 10. 7. a. a. O. S. 16,17. 8. Tille, A., Von Darwin bis Nietzsche. Leipzig 1895. 9. Plo etz, Dr. A., Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Berlin 1895. S. 150 f. 10. Kidd, Benjamin, Soziale Evolution. Aus dem Englischen übersetzt von E. Pfleiderer. Mit einem Vorworte von Prof. Dr. A. Weismann (Frei­ burg i. B.) Jena 1895. S. 213, 214. 11. a. a. O. S. 300. 12. Engels, Fr., Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wiffenschaft. 2. Aufl. Zürich 1886. S. 82-84. 13. So konnte einem Zoologen H. E. Ziegler das Mißgeschick widerfahren, August Bebel als den wichtigsten Repräsentanten der sozialdemokratischen Theorie anzusehen und ein Buch zu verfassen mit dem sonderbaren Titel: Die Naturwissen­ schaft und die sozialdemokratische Theorie, ihr Verhältnis dargelegt auf Grund der Werke von Darwin und Bebel. (Stuttgart 1894.) So wird also Bebel im Reiche des theoretischen Kommunismus eine Stellung eingeräumt, wie sie Darmn

Anmerkungen.

465

in dem der Naturwissenschaften besitzt. Man kann ja von einem Zoologen nicht ver­ langen, daß er Marx und Engels studirt hat, daß er über die Ansichten, welche innerhalb der Sozialdemokratie über Bebel's Buch herrschen, unterrichtet ist, aber er sollte dann doch darauf verzichten, über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur sozialdemokratischen Theorie zu schreiben. Neuerdings hat selbst die wissenschaftliche Revue der Sozialdemokratie, die „Neue Zeit" XV. 1. S. 293 eine überaus scharfe Kritik des Bebel'schen Buches gebracht. 14. Rosenfeld, S., Sozialismus und Naturwissenschaft. Deutsche Worte (E. Pernerstorffer). Wien 1896. S. 290, 291. 15. Der Darwinismus gegen die Sozialdemokratie. 1891. — Die natürliche Auslese beim Menschen. 1893. — Die Bedeutung des Bauernstandes. 1894. — Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen. 1895. 16. Natürl. Auslese. S. 176 f. 17. Lexis, Art. Anthropologie und Anthropometrie. S. 333; vgl. auch Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers. III. Bd. Tübingen 1881. S. 66 und Kidd, a. a. O. S. 242f. 18. Ranke, Z., Der Mensch. 2. Bd. Leipzig 1887. S. 223, 224. 19. a. a. O. S. 72 f. 20. a. a. O. S. 82. 21. a. ö. O. 22. Hansen, G., Die drei Bevölkerungsstufen. München 1889. 23. st. ö. O. S. 187, 188. 24. Über die zeitlich sehr bedeutenden quantitativen Schwankungen der Ein­ wanderung nach den Städten und die Verhältnisse der städtischen Bevölkerung über­ haupt siehe besonders Bücher, K., Die Entstehung der Volkswirtschaft. Tübingen 1893. S. 251 f.; ferner Wirminghaus, Stadt und Land unter dem Einflüsse der Binnenwanderungen. I. f. N. St. LXIV. S. 1 f.; Hasse, E., Verzehren die großen Städte ihre Bevölkerungen? S. P. V. Nr. 109. 25. st. st. O. S. 196. 26. a. st. O. S. 200. 27. Ammon, Rundschau, Unterhaltungsbeilage zur Deutschen Zeitung, Berlin 1896. Nr. 196. S. 812, 1. Spalte, 4. Absatz. 28. Natürl. Auslese. S. 253. 29. a. a. O. S. 229. 30. Um von der Konsequenz und Klarheit, die in dem Ammon'schen Gedankensysteme herrschen, eine Vorstellung zu geben, sei es gestattet, eine später folgende Ausführung über die Eigenschaften der Mischlinge anzuführen. Da wird von einem Unterliegen der Mischlinge im gewerblichen Wettkampfe der Städte gesprochen und dieses auf folgende Hauptursachen zurückgeführt: 1) Die von zwei verschiedenen Raffen herrührenden, in den Mischlingen vereinigten seelischen Anlagen Harmoniken nicht immer miteinander und ergänzen sich nicht in der Weise gegenseitig, wie dies bei reinen, an bestimmte Lebensbedingungen angepaßten Rassenmenschen der Fall ist. 2) Die Vereinigung einander widersprechender seelischer Anlagen hat häufig die Folge, daß diese sich gegenseitig aufheben und dadurch „vorher unterdrückte, minder­ wertige atavistische Anlagen (Rückschläge) hervortreten lassen". Zustimmend werden dann noch folgende Ausführungen von de Lapouge, auf den Ammon schwört, an­ geführt: „Hin- und hergezerrt von entgegengesetzten Anlagen, bald als Arier, bald als Rundköpfe denkend, je nach dem Spiele des Zufalles einem Wechsel des Charakters, des Willens und des Verderbens unterworfen, also von verwickelten Kräften abhängig, deren Untersuchung erst noch vorzunehmen ist, dies ist das Bild, Herkner, Die Arbeiterfrage. L. Aufl.

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466

Darwinismus und Sozialpolitik.

welches uns die Psychologie der Mischlinge auf dem Lande und in den Städten darbietet. Der Zwiespalt zwischen der oft bedeutenden Höhe des Fassungsvermögens und dem Mangel an Einheitlichkeit des Charakters, die Zerrissenheit der Gefühle und die Unfähigkeit des Willens erklären sich einzig und allein durch das Gesetz des Nichtzusammenhanges. Man kann unmöglich die Einheit voraussetzen bei einem Denk- und Willensorgan, dessen Zellen einen verschiedenen Ursprung haben und ver­ schiedenen Vererbungen unterliegen. Der Gehalt der Zellen kann der gleiche sein in Bezug auf die Einsicht oder wenigstens in Bezug auf das Fassungsvermögen, aber er weicht der Natur und nicht blos der Menge nach ab in Bezug auf Energie, Willen, erbliche Zdeen. Kraft der Theorie der dynamischen Vererbung, welche ich aufgestellt habe, begreift man, daß die ungewöhnlichsten Kombinationen sich bilden können und dies bis zur wirklichen Verrücktheit. Es ist leicht einzusehen, daß auch die Trägheit häufig dem Widerstreite der Kräfte entspringen kann, und daß schwache allgemeine Ursachen den Willen wie einen mächtigen Strom entfesseln können. Eine der unmittelbarsten Wirkungen der seelischen Uneinigkeit, welche der Kreuzung entspringt, ist die vollständige oder teilweise Aufhebung der Anhänglichkeit an die eigene Familie, die eigene Rasse, das eigene Volk. Diese Aufhebung unter­ drückt bei den Mischlingen das Bewußtsein der thatsächlichen Bande, welche sie mit ihren Vorfahren und mit ihren Nachkommen vereinigen. Es bleibt nur eine un­ bestimmte Menschenliebe übrig neben einer sehr ausgesprochenen und unerbittlichen Eigenliebe. Die Verwandtschaft, welche für den Biologen eine so feste Wesenheit ist, wird für den Geist der Mischlinge ein bloßes Scheinwesen; und in der That kann in seiner eigenen Familie die Unähnlichkeit einen äußersten Grad erreichen. Er kann nicht eine Rasse lieben: er müßte zwei, drei, zehn lieben und verteidigen. Alle Kräfte heben sich gegenseitig auf und es bleibt nur eine einzige übrig: die „Selbstsucht". (Ammon. Natürliche Auslese. S. 247, 248.) Und nun bedenke man, daß dieser höchst bedauernswerten Gruppe der Mischlinge bei uns weitaus die Mehrheit angehört! 31. Ammon, Die Geschichte einer Idee, Rundschau, Unterhaltungsbeilage der Deutschen Zeitung. Berlin. Nr. 190, 1896. 32. Die starke Einwanderung aus diesen Gebieten geht ebenso wie die verhältnißmäßig schwache aus den Alpenprovinzen auf Unterschiede der Agrarverfassung zurück. Vgl. Hainisch, M., Die Zukunft der Deutschösterreicher. Wien. 1892. S. 68—114 und Wittelshöfer, O., Politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte in der österreichischen Nationalitätenfrage. Preußische Jahrbücher. 76. Bd. S. 470, f. 33. Vgl. Ranke, I., a. a. O. S. 264 f. 34. Ammon a. a. O. Nr. 196. 35. a. a. O. 36. Rosenfeld a. a. O. S. 310. Ploetz a. a. O. S. 176. 37. a. a. O. S. 83. 38. a. a. O. S. 132, 133. 39. Ammon, Die Bedeutung des Bauernstandes. Berlin. 1894. S. 5, 6. 40. a. a. O. S. 7. 41. a. a. O. S. 31. 42. a. a. O. S. 34. 43. Natürl. Auslese. S. 220. 44. Eine durchaus zutreffende Beurteilung der Ammon'schen Arbeiten habe ich nur gefunden in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane von Ebbinghaus und König. VI. Bd Hamburg und Leipzig 1894. S. 235—245. Besprechung von Prof. Tönnies; ferner Neue Zeit. XIII. 1. Bd. S. 615—627 von Dr. A. Blaschko; Deutsche Worte (E. Pernerstorfer). XV. ©.287—299; Die Anthropologie als Sklave der Sozialpolitik von May, M.; ebenda XVI.

Anmerkungen.

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S. 290—333, Sozialismus und Naturwissenschaft von Rosenfeld; Die Zeit ie niedrigen Löhne bedingten Unterkonsumtion der arbeitenden Klassen einen verhängnisvollen Einfluß aus die Entwicklung des wirtschaftlichen Fort­ schritts einräumte, war er sich, im Gegensatze zu Rodbertus, aber auch der großen sozialen Bedeutung der Koalitionen vollkommen bewußt. Fr. Albert Lange nneber, der feinsinnige Philosoph, behandelte in einer in­ haltlich wie formell gleich vornehmen und ausgezeichneten Weise die Arbeiterfrage als allgemeines Kulturproblem und suchte in praktischer Hinsicht einen Ausgleich zwischen dem freihändlerisch-individualistischen Grundsätze der Selbsthilfe und dem sozialistischen der Staatshilfe Herbeizuführen. Die späteren Auflagen von Lange's Arbeiterfrage find 4urch das Studium von Marx und Brentano noch wesentlich vertieft worden. Das Zahr 1867 brachte das große Werk von Karl Marx:,2) Das Kapital. Der Inhalt dieser gewaltigen Gedankenleistung ist an anderer Stelle bereits so eingehend erörtert worden, daß hier nur auf die nachhaltige Wirkung hinzuweisen ist, die es in der deutschen Ge­ lehrtenwelt erzielte. Seit seinem Erscheinen ist kaum ein Jahr ver­ flossen, das nicht entweder eine neue Auflage, einen Kommentar, eine Kritik oder „Widerlegung" gebracht hätte. Eine ausgezeichnete Popularisirung und Erweiterung des Marx'schen Systemes hat Fr. Engels in seinem „Anti-Dühring" (Herrn E. Dühring'S Umwälzung der Wissenschaft, 2. Auflage, Zürich 1686) geliefert. Als der bedeutendste Antipode von Marx darf Brentano angesehen werden. Auch er gründete seine Lehren auf die Entwicklung der eng­ lischen Verhältnisse, die ja in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zweifellos am weitesten vorgeschritten sind. Brentano gibt zu, daß die Analyse, der Marx die Arbeiterzustände unterworfen hat, richtig ist, solange die Arbeiter der Organisation entbehren und vereinzelt ihre Ware Arbeit anbieten. Ganz anders aber, wenn sie in nationalen Berufsverbänden organisirt sind. Dann braucht der Arbeiter nicht mehr bedingungslos seine Arbeit anzubieten, er hat vielmehr die Möglichkeit, entsprechend den Marktverhältnissen, auf den Lohn ein­ zuwirken und seine Lebensweise zu erhöhen. In England hat diese Entwicklung seit den fünfziger Zähren sich wirklich vollzogen und weit mehr zur Hebung der Arbeiterklasse beigetragen als die von Marx einseitig in den Vordergrund gestellte Fabrikgesetzgebung. Mit der aufsteigenden Klassenbewegung der Arbeiter aber spitzen sich die Gegen-

L Brentano, A. Schäffle.

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sätze nicht in der von Marx gelehrten Weise immer weiter zu, sondern die wachsende Macht und Reife der Arbeiter bewirkt, daß sie von den Unternehmern als thatsächlich gleichberechtigte Kontrahenten beim Abschlüsse des Arbeitsvertrages anerkannt werden. An Stelle der Klaffenkämpfe, der Arbeitseinstellungen und Aussperrungen treten all­ mählich teilt geschäftliche Verhandlungen in Schiedsgerichten und Einigungsämtern. Mag die Entwicklung vorerst auch nur in wenigen Industrien diese Höhe bereits erreicht haben, so werden doch immer weitere Kreise der Arbeiterbevölkerung von ihr ergriffen. Der Selbst­ hilfe der Arbeiterverbände kommt also eine viel größere Tragweite zu, als die Fortschrittler im Sinne von Schulze-Delitzsch, als Marx, oder gar Lassalle angenommen haben. Die liberale Wirtschaftsordnung, weit entfernt, ihrem Untergange zuzueilen, beginnt sich im Gegenteile mit der Herstellung der faktischen Freiheit des Arbeitsvertrages erst recht zu entfalten. Brentano hat diese Anschauungen zunächst in den „Arbeitergilden her Gegenwart" (2 Bände, Leipzig 1871 und 72), sodann im „Arbeits­ verhältnis gemäß dem heutigen Recht" (Leipzig 1877), in der „Gewerb­ lichen Arbeiterfrage" (Mchönberg's Handbuch der polit. -Ökonomie, erste Auflage, Tübingen 1882) und in dem im Aufträge des Vereins für Sozialpolitik herausgegebenen Bande „Über Arbeitseinstellungen und Fortbildung des Arbeitsvertrages" (Leipzig 1890) niedergelegt. Ein Schüler Brentano's, von Schulze-Gaevernitz, hat in seinem Werke „Zum sozialen Frieden" (2 Bände, Leipzig 1890) gezeigt, wie die Entwicklung der englischen Arbeiterverhältniffe auch in den letzten zwei Jahrzehnten die von Brentano vertretenen Lehren bestätigt. Gleichzeitig mit Brentano hat A. E. F. Schäffle, wenn auch in .ganz anderer Weise, zum Marxismus Stellung genommen. Seinen Arbeiten, „Kapitalismus und Sozialismus" (Tübingen 1870) und .„Quintessenz des Sozialismus" (Gotha 1875) kommt das Verdienst zu, weiteren Kreisen eine richtigere Vorstellung vom Wesender Marxistischen Theorien verschafft zu haben. Sodann hat sich Schäffle bemüht, die von sozialistischer und darwinistisch-biologischer Seite gegebenen An­ regungen in umfassender Weise für die Ausbildung der theoretischen und praktischen Volkswirtschaftslehre zu verwerten („Bau und Leben des sozialen Körpers". 4 Bände. Tübingen 1875—1878). Zn der „Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie" (Tübingen 1885) und der „Be­ kämpfung der Sozialdemokratie ohne Ausnahmegesetz" (Tübingen 1890), entwirft Schäffle ein umfaffendes, wiffenschaftlich begründetes Programm sozialer Reformen. Mit Rücksicht auf die großen sozialen Aufgaben

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Die soziale Bewegung in Deutschland.

die Schäffle betn Staate und öffentlichen Körperschaften zuweist, kann seine Richtung als eine staatssozialistische im Gegensatze zu der -mehr liberalen Brentano's bezeichnet werden. Er zeigt hierin die größte Verwandtschaft mit Adolf Wagner, von deffen staatssozialistischen An­ schauungen die „Grundlegung der politischen Ökonomie" (2 Teile, 3. A. Leipzig und Heidelberg 1892—1894) sowie die finanzwissenschaftlichen Arbeiten Zeugnis ablegen. Ganz auf sozialistischem Boden steht K. Rodbertus-Zagetzow,,:J) deffen Erstlingsschrift bereits im Eingänge erwähnt wurde. Kann er auch nicht Marx an die Seite gestellt werden, so ist er doch ohne Zweifel ein sozialistischer Denker ersten Ranges. Als bemerkenswert muß hervorgehoben werden, daß bei ihm sozialistische Überzeugungen mit einer politisch gemäßigten Richtung friedlich Hand in Hand gehen. Zm Anschlüsse an Owen und Sismondi hat Rodbertus in einer Reihe von Schriften („Zur Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zustände" 1842; „Soziale Briefe an v. Kirchmann", 1850, 1851, neu heraus­ gegeben 1875; „Das Kapital. Vierter sozialer Brief an v. Kirchmann. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Kozak", 1884), die erst nach seinem Tode (1875) größere Beachtung gefunden haben, auf die schweren Gefahren hingewiesen, welche die ungünstige Einkommensverteilung mehr und mehr für die Entwicklung der Produktion bringen muß. Solange die Arbeiter immer nur das zu ihrer Erhaltung eben Notwendige im Lohne empfangen, nimmt bei steigender Produktivität der Arbeit ihr relativer Anteil am Nationaleinkommen ab (Gesetz der fallenden Lohnquote). So bleibt die kauffähige Nachfrage hinter der Entwick­ lung der Produktion zurück. Es entstehen die Krisen, unter denen das gesamte soziale und wirtschaftliche Leben so schwer leidet. „Die Gesell­ schaft kommt in den Fall, Gebrauchswert zu produziren, der nicht mehr Marktwert und Kaufkraft ist, während doch noch bei den meisten die Bedürfnisse danach nicht befriedigt sind.... volle Warenmagazine, darbendes Volk." — Seine praktischen Reformpläne laufen auf eine Lohnregulirung hinaus, durch welche, entsprechend der Zunahme der Produktivität, auch der Anteil der Arbeiter am Nationaleinkommen sich erhöhen soll. Das stetig wachsende Interesse der deutschen Gelehrtenwelt an der sozialen Frage hat dazu geführt, daß eingehende Untersuchungen über die thatsächliche Lage bestimmter Arbeitergruppen, da amtliche Enqueten früher entweder garnicht oder nur in höchst ungenügender Weise erfolgten, von privater Seite stattgefunden haben. Es hat sich eine sogenannte „diskriptive" Richtung in der deutschen Nationalökonomie

Der Verein für Sozialpolitik.

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herausgebildet, als deren Vorläufer in Deutschland bereits Fr. Engels genannt worden ist. So haben Alphons Thun die Arbeiterverhältnisse am Niederrhcin, BrLf und Singer die des nördlichen Böhmens, SchnapperArndt und Sax hausindustrielle Zustände, Schönlank die der Fürther Spiegelfabrikation, der badische Fabrikinspektor Wörishoffer die Lage der Arbeiter in der badischen Zigarrenindustrie und in Mannheim geschildert. Während die bisher genannten Schriftsteller vorzugsweise nur der industriellen Arbeiterfrage ihr Augenmerk zugewendet haben, ist durch M. Weber und G. Fr. Knapp, der die Bauernbefreiung und den Ursprung der Landarbeiter in den altpreußischen Gebieten (Leipzig 1887) aktenmäßig dargestellt hat, neuerdings auch für die Behandlung der Landarbeiterfrage eine überaus wertvolle Grundlage geschaffen worden, umsomehr, als begabte Schüler Knapp's die entsprechenden Vorgänge in andern deutschen Gebieten bearbeitet haben. Wenn von dem Anteile der deutschen Wissenschaft an der Förderung des sozialen Problems die Rede ist, darf einer Vereinigung, die ihre Entstehung in erster Linie den akademischen Vertretern der National­ ökonomie') in Deutschland verdankt, nicht vergessen werden. Es ist der Verein für Sozialpolitik.") Im Jahre 1872 gegründet, besitzt er weder den Charakter einer Partei, noch einer Jnteressenten-Versammlung. Er besteht aus Gelehrten, Beamten, Industriellen und Landwirten verschiedener Richtungen. Gemeinsam ist nur das Bestreben, sich gegenseitig und andere durch die Debatten und die vom Verein veranlaßten Arbeiten über die wichtigsten sozialpolitischen Zeitfragen zu belehren und aufzuklären. Es handelt sich also um einen wissenschaft­ lichen Verein, der allerdings auch einen Einfluß auf die öffentliche Meinung ausüben will. Er will, nach den Worten seines gegenwärtigen Vorsitzenden Schmoller, „wie der Chor der anttken Tragödie die leiden­ schaftlichen Handlungen der Bühne begleitet, ruhig und leidenschaftslos zur Seite stehend, für das Wahre und Gute, für das Billige und Ge­ rechte eintreten und versuchen diesen höchsten Mächten des Menschen­ lebens ein größeres Gewicht zu verschaffen." Die stattliche Reihe sozial­ politischer Arbeiten, die auf Veranlassung des Vereins enstanden sind, hat in der That auf die Entwicklung der Reichsgesetzgebung einen nicht unerheblichen Einfluß ausgeübt. Ungeachtet ihrer ruhigen, maßvollen und durchaus wissenschaft­ lichen Haltung haben die Gründer und Leiter des Vereins mancherlei Angriffen und Verdächtigungen von rechts und links zur Zielscheibe *) Brentano, Held, Hildebrand, Knapp, Mithoff, Roscher, Schmoller. Herkner, Die Arbeiterfrage. 2. Aufl.

33

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Die soziale Bewegung in Deutschland.

dienen müssen. Von manchesterlicher Seite wurden sie als Katheder­ sozialisten verspottet, von sozialistischer Seite als Streber bekämpft. Jedenfalls kamen gewisse Angriffe den Vorurteilen der gebildeten und besitzenden Kreise so sehr entgegen, daß sie nicht ohne Erwiderung gelassen werden durften. Gustav Schmoller war es, der in seinem offenen Sendschreiben an Herrn Professor Dr. H. von Treitschke „Über einige Grundfragen des Rechtes und der Volkswirtschaft" (Jena 1875) eine glänzende Verteidigung lieferte. Unter den bürgerlichen Parteien'^) Deutschlands ist es die konser­ vative,^) die den Ruhm für sich in Anspruch nimmt, am frühesten ein volles Verständnis für die soziale Frage besessen und dementsprechend ein sozialpolitisches Programm entworfen zu haben. Bekanntlich besitzt diese Partei ihre hauptsächlichste Stütze in dem politisch überaus ein­ flußreichen, adeligen Großgrundbesitze der altpreußischen Provinzen. Früher neben dem Königtume der allein maßgebende Faktor des preußischen Staatslebens, sah sich diese Interessengruppe durch das Stuftommen des kapitalbesitzenden Bürgertums und die konstitutionelle Bewegung gezwungen, einen Teil ihrer ausschließlichen Herrschaft ab­ zutreten. Bei diesem Gegensatze zum Liberalismus war es natürlich, daß sie seine schwachen Seilen aufzuspüren eifrig bemüht war. Scharfsichtigen Männern wie Otto von Bismarck und Hermann Wagener, dem Begründer der Kreuzzeitung, blieben sie in der That auch nicht lange verborgen. Höhnend führte man den liberalen Fabrikanten die üblen Zustände ihrer Arbeiter vor, und auch die wirtschaftliche über­ zeugungstreue der Gegner wurde durch den Hinweis in eine bedenkliche Beleuchtung gerückt, daß diese Feinde der Staatsintervention so eifrig auf Schutzzölle und staatliche Subventionen für Eisenbahnen und ähnliche Gründungen bedacht waren. Läßt sich also nicht bestreiten, daß einzelne Persönlichkeiten der konservativen Partei die gewerblichen Arbeiterverhältniffe geschickt gegen das liberale Bürgertum auszuspielen wußten, so bietet doch das Pro­ gramm der Konservativen im allgemeinen keinerlei Beweise dafür, daß ihnen ein besonderes sozialpolitisches Verständnis eigentümlich gewesen wäre. Das von H. Wagener 1855 entworfene Programm forderte inbezug auf das gewerbliche und soziale Leben außer der Beseitigung der Gewerbefreiheit und einer unklaren Wiederbelebung zünftiger Ein­ richtungen namentlich Maßnahmen gegen leichtsinnige Eheschließungen. Wagener selbst sah ja wohl tiefer, aber es gelang ihm nicht, das Gros der Parteigenossen auf die Höhe seines Urteils zu erheben. Gesteht er doch selbst zu: „Die große Masse der Konservativen hatte für der-

Die konservative Partei.

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«rtige (sozialpölitischr) Fragen noch absolut kein Verständnis, stand vielmehr — wie dies der Präsident von Gerlach sehr drastisch aus­ drückte — „mit der.Front nach dem Mist und mit dem Rücken nach dem Staat", und war schon völlig damit zufrieden, daß man wieder sein Glas Wein trinken und seine Partie L’hombre spielen konnte". Und später, als die sozialdemokratische Bewegung bereits in vollem Gange sich befand, klagte Wagener: „Leider ist es eine üble- Gewohn­ heit der konservativen Partei, diese Sozialdemokraten und ihren Anhang zu unterschätzen, vbschon das Gros derselben auch nicht entfernt die volkswirtschaftliche Bildung besitzt, deren sich selbst die untergeordneten .Führer der Sozialdemokraten erfreuen." Es darf auch nicht übersehen werden, daß die Konservativen in der Zeit, in der sie in der preußischen Kammer ausschlaggebend waren, nicht das mindeste zu Gunsten der ge­ werblichen Arbeiter unternommen haben. Trotzdem das allgemeine Wahl­ recht für den norddeutschen Bund von Bismarck im monarchisch-konserva­ tiven Interesse eingeführt wurde, so ist dieser Schritt „die für die damaligen Konservativen am schwersten verständliche politische Hand­ lung des ihnen ursprünglich so nahe stehenden Herrn von Bismarck gewesen." Im übrigen hat das allgemeine Wahlrecht die sozialpolitische Haltung der Konservativen günstig beeinflußt. Bei der Beratung der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund forderte von Brauchitsch mit dem Sozialdemokraten von Schweitzer wirksamen Arbeiterschutz. Auch in der Folge sind die Konservativen stets für den Arbeiterschutz mnd die Arbeiterversicherungsgesetzgebung in der Industrie eingetreten. Dagegen haben sie inbezug auf die Koalitionsfreiheit selbst nur der gewerblichen Arbeiter eine große Zurückhaltung bewahrt und dieses Recht den Landarbeitern bis auf die Gegenwart vorenthalten. Mit ungleich größerer Begeisterung als für Arbeiterschutz und ähnliche Maßnahmen sind sie aber für alle Versuche eingetreten, die auf eine reaktionäre Umgestaltung der Gewerbeordnung und die Erhöhung der Bodenrente abzielten. Mit Recht schreibt R. Meyer, der gleich Wagener die Konservativen für eine Sozialpolitik höheren Stiles begeistern wollte: „Die Herren können sich die Idee nicht klar machen, daß sich seit 1848 eine gewaltige soziale Revolution in Deutschland vollzogen hat. Aus dem Ackerbaustaat hat sich der Industriestaat entwickelt, das sagt alles. Diesen Übergang merken jene Herren nicht. Sie stecken mit allen ihren Gedanken und Ideen eben so tief im Ackerbauund Zunftstaat, wie ihre Gefühle sehr erklärlicherweise demselben ge­ hören."

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Die soziale Bewegung in Deutschland.

Entschiedener und erfolgreicher als die deutsche, hat die feudal­ katholische Partei in Österreich für die Ausbildung der Fabrikgesetz­ gebung gewirkt. Alles in allem muß der konservativen Partei aber zugestanden werden, daß sie stch nicht des Widerspruches der Liberalen schuldig, gemacht hat, nämlich den politischen Fortschritt ohne den sozialen zu. wollen. Sie mag vielmehr von dem einen ebensowenig wissen wie von. dem anderen. Angestchts der matten und lauen Haltung, welche die konservative Partei in der Frage der sozialen Reform einnahm, schritt der Hof­ prediger Stöcker im Jahre 1877 zur Gründung einer besonderen christlich-sozialen Arbeiterpartei.") Ihr Programm entsprach ungefähr den Ideen, zu deren Förderung Männer wie Wichern, Wagener, Huber, von Brauchitsch, R. Meyer u. a. m. die Konservativen schon früher hatten bestimmen wollen. Es lautete: Allgemeine Grundsätze. — I. Die christlich-soziale Arbeiterpartei steht auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland. — II. Sie verwirft die Sozialdemokratie als unprak­ tisch, unchristlich tmb unpatriotisch. — III. Sie erstrebt eine friedliche Organisation der Arbeiter, um, in Gemeinschaft mit anderen Faktoren des Staatslebens, die notwendigen praktischen Reformen anzubahnen. — IV. Sie verfolgt das Ziel der Verringerung der Kluft zwischen Reich und Arm und die Herbeiführung einer größeren ökonomischen Sicherheit. Einzelne Forderungen. — I. An die Staatshilfe. — A. Arbeiter­ organisationen. — 1. Herbeiführung obligatorischer, sachlich geschiedener, aber durch das gesamte Reich hindurchgehender Fachgenossenschaften; mit ihnen zusammenhängend Regelung des Lehrlingswesens. — 2. Ein­ setzung obligatorischer Schiedsgerichte. — 3. Errichtung von obliga­ torischen Witwen- und Waisen- sowie Invaliden- und AltersversorgungsRentenkassen. — 4. Autorisation der Fachgenossenschaften zur Vertre­ tung der Interessen und Rechte der Arbeiter ihren Arbeitgebern gegen­ über. — 5. Verpflichtung der Fachgenossenschaften zur Haftung für die von den Arbeitern etwa zu übernehmenden kontraktlichen Verbind­ lichkeiten. — 6. Staatliche Kontrole des fachgenossenschaftlichen Haftungs­ wesens. — B. Arbeiterschutz. — 1. Verbot der Sonntagsarbeit. Ab­ schaffung der Arbeit von Kindern und verheirateteten Frauen in Fabriken. — 2. Normalarbeitstag, modifizirt nach Fachgenossenschaften. 3. Energische Anstrebung der Znternationalität dieser Arbeiterschutzgesetze;, bis zur Erreichung dieses Zieles ausreichender Schutz der nationalen.

Das christlich-soziale Programm.

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Arbeit. — 4. Schutz der Arbeiterbevölkerung gegen gesundheitswidrige Zustände in den Arbeitslokalen und Wohnungen. — 5. Wiederher­ stellung der Wuchergesetze. — C. Staatsbetrieb. — 1. Arbeiterfreund­ licher Betrieb des vorhandenen Staats- und Kommunaleigentums und Ausdehnung desselben, soweit es ökonomisch ratsam und technisch zu­ lässig ist. — v. Besteuerung. — 1. Progressive Einkommensteuer als ausgleichendes Gegengewicht gegen bestehende oder zu schaffende indirekte Besteuerung. — 2. Progressive Erbschaftssteuer bei größerem Vermögen und entfernteren Verwandtschaftsgraden. — 3. Börsensteuer. — 4. Hohe Luxussteuern. II. An die Geistlichkeit. — Die liebevolle und thätige Teilnahme an allen Bestrebungen, welche auf eine Erhöhung des leiblichen und geistigen Wohles, sowie auf die sittlich-religiöse Hebung des gesamten Volkes gerichtet sind. III. An die besitzenden Klaffen. — Ein bereitwilliges Entgegen­ kommen gegen die berechtigten Forderungen der Nichtbesitzenden, speziell durch die Gesetzgebung, durch thunlichste Erhöhung der Löhne und Abkürzung der Arbeitszeit. IV. Von der Selbsthilfe. — A. Freudige Unterstützung der fach­ genossenschaftlichen Organisation als eines Ersatzes deffen, was in den Zünften gut und brauchbar war. — B. Hochhaltung der persönlichen und Berufsehre, Verbannung aller Roheit aus den Vergnügungen und Pflege des Familienlebens in christlichem Geiste." Noch entschiedener, als das vorgeführte Programm, betonte die Richtung des Pastors Todt, der unter dem Einfluffe von Rodbertus und Adolf Wagner stand, den staatssozialistischen Gedanken. Es gelang übrigens nicht, eine christlich-soziale Arbeiterpartei von Belang zu gründen. Den Arbeitern mochte das Programm politisch und kirchlich zu konservativ, den Besitzenden sozial und wirtschaftlich zu radikal erscheinen. Stöcker selbst ging mehr und mehr in der anti­ semitischen Propaganda auf. War somit der Partei an sich keine für das politische Leben bedeutungsvolle Stärke beschieden, so haben doch die von ihr vertretenen Gedanken in den höchsten Kreisen Anklang gefunden, wie die kaiserliche Botschaft von 1881 bewies. Zn praktischer Hinsicht war der evangelisch-sozialen Bethätigung die Ausbreitung von Herbergen, Arbeiterkolonien und Verpflegungs­ stationen zu danken. Diese Einrichtungen schließen sich mehr an die „Innere Mission" an. Wichern und von Bodelschwingh dürfen wohl als diejenigen Persönlichkeiten angesehen werden, die um diese Zweige sozialer Hilfsthätigkeit sich die größten Verdienste erworben haben.

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Die soziale Bewegung in Deutschland-

Frühzeitig nahm auch die katholische oder Zdntrumsparteizur sozialen Frage Stellung. Von den Ansichten des katholischen Philo­ sophen Baader ist schon srüher gesprochen worden. Die ganze von vornherein kritische Stellung der katholischen Kirche zur wirtschaftlichen Entwicklung bringt es mit sich, wie Uhlhorn treffenir ausführt, „daß sie ein offeneres Auge hat für die mit derselben verbundenen Schäden, sie tiefer mitfühlt und empfindet, während man auf protestantischer Seite, eben weil man die wirtschaftliche Entwicklung an sich als einen Fortschritt und insofern als etwas gutes würdigt, leicht geneigt ist, diese Schäden, wenn auch nicht ganz zu übersehen, doch leichter zu­ nehmen". Im übrigen bekennt sich der größte Teil des industriell! so hoch entwickelten rheinisch-westfälischen Gebietes zum Katholizismus. Nachdem der Freiherr von Ketteler schon 1848 auf die Bedeutung der sozialen Probleme hingewiesen, stimmte er als Bischof von Mainz in seiner Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum" (1864) im­ wesentlichen der Kritik bei, die Lassalle an den sozialen Zuständen geübt hatte. Dagegen wollte er von der weitgehenden Inanspruchnahme des Staates nichts wissen. Die Produktivassoziationen, die auch er empfahl, sollten nicht mit Hilfe des öffentlichen Kredits, sondern im Wege dev freien Selbsthilfe des Arbeiterstandes geschaffen werden. Allerdings wäre es ein eminent christliches Werk, solche Körperschaften mit Kapital! zu unterstützen. Weiter als Ketteler ging der Mainzer Domkapitular Moufong. Als er 1871 für den Reichstag kandidirte, trat er nicht nur für freie Arbeiterassoziationen, sondern auch für gesetzlichen Arbeiter­ schutz, für Fabrikinspektion und ein gesetzliches Lohnminimum ein. Einvom Kaplan Kronenberg nach Aachen im Zahre 1873 einberufener katholischer Arbeiterkongreß verlangte einen zehnstündigen Maximal­ arbeitstag und paritätische Gewerbegerichte. Immerhin währte es bis zum Zahre 1877, ehe das Zentrum,, dessen hervorragendster Führer, Windthorst, wirtschaftlich durchaus aufliberalem Boden stand, den Entschluß faßte, offiziell auf ein bestimmtessozialpolitisches Programm sich zu verpflichten. Am 23. März wurde es von dem Grafen Galen von der Tribüne des Reichstages herab­ verkündigt: Wirksamer Schutz des religiös-sittlichen Lebens, insbesondere Sonntagsruhe, Schutz und Hebung des Handwerkerstandes durch ©in= schränkung der Gewerbefreiheit, Regelung des Verhältnisses der Lehr-linge und Gesellen zu den Meistern, Förderung der korporativen Ver­ bände, erweiterter Schutz der Fabrikarbeiter, Normativbestimmungen' über Fabrikordnungen, Verbot der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter unter 14 Jahren und Beschränkung der Frauenarbeit in den Fabriken-

Die Zentrumspartei.

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Einführung paritätischer Schiedsgerichte, Revision der Freizügigkeit und der Haftpflicht. Diesem Programme entsprechend hat das Zentrum einen bei der Größe der Partei überaus einflußreichen Anteil an dem Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung genommen. Während es sich in den Fragen des Arbeiterschutzes durch die Abgeordneten Hitze und Lieber entschieden für staatliches Eingreifen einsetzte, kehrte es bei den Beratungen über die Versicherungsgesetze mehr den wirtschaftlich-liberalen Stand­ punkt hervor und verhütete durch Bekämpfung der Neichszuschüsse den von seiten der Reichsregierung ursprünglich geplanten, stark staats­ sozialistischen Charakter dieser Maßnahmen. Zm allgemeinen ist die Stimmung der deutschen Katholiken seit dem Aufhören des Kultur­ kampfes dem Eingreifen des Staates geneigter geworden. Zn kleingewerblichen Arbeiterkreisen hat bereits seit 1846 „Vater Kolping" durch Gründung zahlreicher Gesellenvereine gewirkt. Zhr Zweck besteht in der Fortbildung und Unterhaltung der Mitglieder, in der Anregung und Pflege eines kräftigen religiösen und bürgerlichen Sinnes und Lebens, um dadurch einen ehrenwerten Meisterstand heran­ zubilden. Mit Gewerkvereinen haben sie, wie ersichtlich, nicht das mindeste gemein. Eher können sie mit den Arbeiterbildungsvereinen der liberalen Parteien verglichen werden. Kolping hatte das ganze Elend des Gesellenstandes am eigenen Leibe erfahren. Erst mit 27 Zähren kam er aufs Gymnasium, um acht Zahre später die Priesterweihe zu empfangen. Zm übrigen ist den Überlieferungen der Kirche getreu der Förderung der freiwilligen Kranken- und Armenpflege durch Gründung von Spitälern, Asylen, Vincentiusvereinen u. s. w. ein immer größeres und hingebenderes Zntereffe gewidmet worden. Der Art und Weise, wie die liberalen Parteien") sich mit der sozialen Frage abzufinden suchten, ist bereits bei der Besprechung der Laffalle'schen Bewegung und in dem Abschnitte über die Entwicklung der Sozialdemokratie mehrfach gedacht worden. Wenn die liberalen Parteien sich in den 60er Zähren überhaupt der Arbeiter annahmen, so waren die Grundsätze des Manchestertums, Bildungsvereine, Spar­ und Konsumgenoffenschaften, das einzige, was sie ihnen vorzuschlagen wußten. Erst 1868 unternahmen zwei Mitglieder der Fortschrittspartei, Max Hirsch und Franz Duncker, die Gründung der deutschen Gewerk­ vereine. Selbst vor dem allgemeinen Wahlrecht und voller Koalitions­ freiheit schreckte man ängstlich zurück. Rur widerwillig verstand man sich bei der Beratung über die Gewerbeordnung von 1869 dazu, den

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Die soziale Bewegung in Deutschland.

in der preußischen Gesetzgebung enthaltenen spärlichen Schutz für Kinder und jugendliche Arbeiter in Fabriken auf das Reich zu übernehmen. Weitergehende Anträge der Konservativen und Sozialdemokraten, namentlich die obligatorische Einführung der Fabrikinspektion, wurden mit überwältigender Mehrheit verworfen. Die Argumente, mit denen z. B. der nationalliberale Abgeordnete Karl Braun-Wiesbaden gegen die Fabrikaufsicht zu Felde zog, sind für die damals maßgebende liberale Strömung zu bezeichnend, als daß sie hier ganz unterdrückt werden dürften: „Man wolle nur wieder eine neue Sorte Büreaukratie schaffen; die Ausführung der Gesetze sei Sache des Einzelstaates, nicht des Bundes. Wenn man durch so allgewaltige Inspektoren den Betrieb der Industrie stören lasse, so leide der Unternehmer Schaden; wenn das der Staat wolle, müsse er auch das geschäftliche Risiko tragen. Das könne der Staat aber nicht, das sei der Weg zum Staatsbankerott. Er habe auch in seinem Leben oft mehr als 15 Stunden arbeiten müssen und sei nicht daran zu Grunde gegangen; man habe schon genug Gendarmen und Polizeidiener; die Sicherung des Hausrechts gegen politische Eingriffe müsse im 19. Jahrhundert doch zu-, nicht abnehmen. Niemand sei, wenn ein derartiges Fabrikinspektorat geschaffen werde, nachts zwischen 2—3 Uhr in seinem Bette sicher: der Eindringende brauche blos zu erklären, er habe geglaubt, es sei hier ein industrielles Unternehmen. Wenn gar der Fabrikinspektor über die gewöhnlichen Verwaltungsbehörden zu wachen habe, ob sie ihre Schuldigkeit thun, so werde eine spanische Hermandad, eine Art Vehmgericht daraus. Die geforderten Berichte der Inspektoren habe der Bundeskanzler doch nicht Zeit zu lesen! Es wären 500 Fabrikinspektoren, jeder mit einem Ge­ halte von 6000 Thalern nötig; das sei unerschwinglich. Er finde in dem Antrage nichts als eine Wiederauflebung der büreaukratisch-polizeilichen Weltanschauung. Die Arbeiter hätten Verstand genug, ihre Rechte selbst zu wahren; sie wollten diese angebliche Wohlthat nicht; die Freiheit genüge ihnen. Und zuletzt würde der Fabrikinspektor den Arbeitern auch nichts nützen; denn er würde die Interessen derer, die ihn bezahlen, vertreten und nicht die Arbeiter." Auch Schulze-Delitzsch und M. Hirsch sprachen dagegen. Die Koalitionsfreiheit wurde zugestanden, aber die zumeist aus den Reaktionszeiten stammende partikulare Vereinsgesetz­ gebung durch ein freisinniges Reichsgesetz nicht beseitigt. Den Arbeitern wurde also die Möglichkeit zu Arbeitseinstellungen gewährt, nicht aber zur Ausbildung gut organisirter Gewerkvereine. Und doch ist ohne diese eine erfolgreiche Durchführung der Ausstände kaum möglich, und, was noch wichtiger, auch die Einrichtungen zur friedlichen Schlichtung

Die süddeutsche Volkspartei.

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von Arbeitsstreitigkeiten sind ohne eine solche fachliche Organisation der Arbeiter und Unternehmer nicht zu erzielen. Wie sehr selbst hervor­ ragende liberale Parteimänner die Bedeutung der Arbeiterfrage und der Organisationsbestrebungen der Arbeiterklasse verkannten, ließ die gegen Brentano gerichtete Schrift Ludwig Bamberger's „Die Arbeiter­ frage unter dem Gesichtspunkte des Vereinsrechts" (Stuttgart 1873) deutlich erkennen. Die von der Reichsregierung in Angriff genommene Arbeiter­ versicherung fand erst int Jahre 1884 durch das sogenannte Heidelberger Programm die Billigung der nationalliberalen Partei. Die DeutschFreisinnigen haben dagegen noch länger an den Grundsätzen des Manchestertums festgehalten. Vom sozialpolitischen Standpunkte verdient die Opposition der deutsch-freisinnigen Gruppe gegen die übermäßige Anspannung des Verbrauchssteuersystems im Reichshaushalte anerkennend hervorgehoben zu werden. Einen entschieden sozial-reformatorischen Standpunkt hat unter den liberalen Parteien Deutschlands nur die süddeutsche Volkspartei stets eingenommen. Obwohl diese Richtung in der „Frankfurter Zeitung" über ein vortrefflich redigirtes und weitverbreitetes Organ verfügt, vermochte sie im Hinblick auf die geringe Zahl ihrer Reichstagsmandate einen maßgebenden politischen Einfluß leider nicht zu äußern. Nachdem der Entwicklung der sozialen Gesetzgebung bereits früher gedacht worden ist, gilt es nunmehr der Bewegung jüngste Phase zu schildern, nämlich die Zeit von der Aufhebung des Sozialisten­ gesetzes an.20) *

* *

Zunächst führte das Sozialistengesetz zu einer vollständigen Zer­ störung der ganzen Parteiorganisation. Die periodische und nicht­ periodische Literatur der Partei, 42 politische und 14 gewerkschaftliche Blätter, alle Agitationsbroschüren, eine ungeheure Zahl von Vereinen wurden verboten. Im ganzen sind während des Ausnahmezustandes 155 periodische und 1200 nichtperiodische Druckschriften von der Polizei unterdrückt worden. Auf Grund des kleinen Belagerungszustandes, wie er über Berlin, Hamburg, Leipzig, Frankfurt a. M., Stettin u.s.w. verhängt worden war, erfolgten etwa 900 Ausweisungen, während 1500 Personen ebenfalls infolge des Ausnahmegesetzes ins Gefängnis wanderten. Unter diesen Umständen durfte es als ein großer Erfolg der Partei angesehen werden, daß sie bei den Wahlen von 1881 noch

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Die soziale Bewegung in Deutschland.

immer 312000 Stimmen errang. Konnten doch in einem großen Teile der Wahlkreise unter dem herrschenden Drucke keine Wahlflug­ blätter, ja nicht einmal Stimmzettel ausgegeben werden, da die Partesselbst über eigene Druckereien nicht verfügte, gegnerische aber keinerlei Aufträge annahmen. Die Parteitage fanden unter großen Schwierig­ keiten im Auslande statt (1880 Wyden (Schweiz), 1883 Kopenhagen, 1887 St. Gallen). Daß all' die scharfen Gewaltmaßregeln nicht imstande waren, das, worauf es doch angekommen wäre, nämlich die sozialdemokratische Ge­ sinnung zu vernichten, bewiesen die sich unausgesetzt steigernden Wahlerfolge der Partei deutlich genug. Schon im Zahre 1884 wurde der höchste Stand, welchen die für sozialdemokratische Kandidaten abgegebenem Stimmen noch vor dem Sozialistengesetze erreicht hatten, erheblich über­ schritten; und die Wahlen von 1887 ergaben sogar 763 000 Stimmen für die Partei. Trotzdem machte 1889 die Reichsregierung den Ver­ such, das Sozialistengesetz aus einem zeitlich begrenzten Ausnahmegesetz in ein dauerndes Gesetz zu verwandeln. Zn den Kommissionsberatungen wurde auf Veranlassung nationalliberaler und freikonservativer Ab­ geordneter die Ausweisungsbefugnis gestrichen. Da die Regierung, erklärte, das Gesetz mit dieser Veränderung nicht annehmen jit können, stimmten in der Schlußabstimmung auch die Konservativen dagegen. Dadurch kam die Vorlage zum Falle. Die Wahlen von 1890 bedeuteten für die Regierung und die mit ihr verbündeten sogenannten Kartellparteien (Konservative, Frei­ konservative und Nationalliberale) eine unverkennbare Niederlage. Die Konservativen verloren 7, die Freikonservativen 21 und die National­ liberalen 57 Mandate. Die sozialdemokratischen Kandidaten dagegen, ernteten 1427 300 Stimmen. Diesen Ereignissen gegenüber machte die Reichsregieruna, nachdem Fürst Bismarck aus dem Amte geschieden war, keinen weiteren Versuch, die Verlängerung des ablaufenden Sozialistengesetzes oder bie. Genehmigung eines Gesetzes mit verwandten Tendenzen durchzusetzen. Es gelangten mit dem 1. Oktober 1890wieder die Normen des gemeinen Rechts für die sozialdemokratische Partei zur Geltung. Von dem, was in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes zerstört worden war, hatte man von Seiten der Sozialdemokratie in der zweiten Hälft« der 80 er Zahre allerdings manches wieder aufgebaut. Namentlichseitdem Kaiser Friedrich III. Herrfurth mit der Leitung des preußischen Ministeriums des Innern an Stelle v. Puttkamer's betraut hatte, war für die rein gewerkschaftlichen Bestrebungen der Arbeiter eine größere-

Das Erfurter Programm.

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Bewegungsfreiheit zugestanden worden. Schon vor Ablauf des So­ zialistengesetzes befaß die Partei 60 politische Blätter (darunter 19 täglich erscheinende) mit 254 000 und 41 Gewerkschaftsblätter mit 201 000 Abonnenten. Unter dem Sozialistengesetze konnte von einer eigentlichen Partei­ organisation natürlich nicht die Rede sein. Man behalf sich mit einem System von Vertrauensmännern. Die Leitung ging von der Reichstagsfraktion aus. Letztere arbeitete nun für den ersten Parteitag nach Ablauf des Ausnahmegesetzes, der in Halle zusammentrat, einen Ent­ wurf zur Neuorganisation der Partei aus. Er räumte, wie es im Hinblicke auf seinen Ursprung nicht verwunderlich erscheinen konnte, der Fraktion auch in Zukunft die maßgebende Stellung ein. Über diesen Punkt, aber auch über die vorgesehene Kontrole der Parteipreffe durch den Vorstand und die zentralisirenden Tendenzen der Vorlage über­ haupt brachen im Schoße der Partei Zwistigkeiten aus. An der Spitze der Opposition stand der Führer der Münchener Parteigenossen v. Voümar und eine Reihe von Berlinern, die später als die „Zungen" bezeichnet wurden. Der Parteitag in Halle ließ dann in der That die am meisten angefeindeten Bestimmungen des Organisationsentwurfes fallen. Die Partei bedurfte außerdem eines neuen Programms. Das alte Gothaer Vereinigungsprogramm von 1875, das noch viele dem Lassalle'schen Zdeenkreise entsprechende Wendungen enthielt, hatte sich, wie Liebknecht in längerer Rede in Halle auseinandersetzte, überlebt. Es war die Zeit gekommen, um den in der Partei vollständig zur Herrschaft gelangten Marxismus auch im Programme ausschließlich zur Geltung zu bringen. Nach eingehenden Erörterungen in Presse und Versammlungen wurde der Entwurf, welchen der Redakteur des wissen­ schaftlichen Organs der Partei, der „Neuen Seit", K. Kautzky, auf­ gestellt hatte, von dem Parteitage in Erfurt angenommen. (Der Wort­ laut des Programms ist in den Anmerkungen enthalten.) Ohne der Formulirung des Parteiprogramms auf das praktische Verhalten und die thatsächliche Entwicklung jede Einwirkung absprechen zu wollen, muß doch betont werden, daß der lebendigen Taktik der Führer eine ungleich höhere Bedeutung zukommt als akademisch ge­ haltenen Prinzipienerklärungen. Dafür legt schon der Umstand einen vollgiltigen Beweis ab, daß die äußerst unvollkommene Fassung des Gothaer Programms der Partei nicht den mindesten Abbruch gethan hatte. Es haben sich die ernstesten Meinungsverschiedenheiten, die inner-

halb der Partei zum Austrage gelangten, auch nicht auf das Programm, sondern auf die Taktik bezogen. Der hergebrachten, hauptsächlich wohl von Bebel, Liebknecht, Singer und Auer bestimmten Taktik wurde von links und rechts wider­ sprochen. Die Freunde einer schärferen Tonart knüpften an die zurück­ haltende Erklärung an, welche die Fraktion int April 1890 inbetreff der Maifeier abgegeben hatte. Diese Angriffe, in denen rein persönliche Angelegenheiten eine große Rolle spielten, spitzten sich allmählich zu einer Verurteilung der ganzen parlamentarischen Thätigkeit der Fraktion zu. Es wurden ihr Mangel an revolutionärer Energie, kleinbürger­ licher Possibilismus, Personenkultus, Korruption, Verrat an der Sache des Proletariats und diktatorische Gelüste vorgeworfen. Die Heerrufer in diesem Streite gegen die Fraktion waren die Berliner Werner, Wild­ berger, Baginsky und Wille; aber auch in Magdeburg und in Dresden hatten die Redakteure der in diesen Städten erscheinenden Parteiblätter eine oppositionelle Haltung eingenommen. Zn Erfurt kam es neuerdings zu erbitterten Auseinandersetzungen. Ein Teil der Opposition wurde durch Beschluß des Parteitages aus der Partei gewiesen, ein anderer schied freiwillig aus. Die „Zungen" gründeten am 28. Oktober 1891 in Berlin eine neue Partei, den Verein unabhängiger Sozialisten, mit dem „Sozialist" als Parteiorgan. Diese Richtung „verlangt nicht mehr und nicht weniger als eine völlige Regeneration der deutschen Sozialdemokratie, ihre Neu- und Umbildung zu einer rein proletarischen Arbeiterpartei, die Ausscheidung aller opportunistischen, possibilistischen Elemente, die Emanzipation des Prole­ tariats von dem die Partei beherrschenden Kleinbürgertum!" Die sozialdemokratischen Abgeordneten sollen durch eine That aussprechen, was ist, d. h. „daß sie durch eine That sagen: Wir erreichen im Parlamente für unsere Wähler nichts, die herrschenden Klassen wollen das Los der Armen und Elenden nicht verbessern, das kann nur durch eine völlige Beseitigung der bestehenden Machtverhältnisse, der heutigen Gesellschaftsordnung geschehen. Und die That, die diese revolutionäre Wahrheit mit Donnerstimme dem ganzen Lande, der ganzen Welt ver­ künden würde, wäre: Niederlegung der sozialdemokratischen Mandate. Diese That würde zünden, die ganze Welt in Bewegung und Erregung versetzen. Eine revolutionäre Begeisterung würde das ganze Prole­ tariat ergreifen, und die herrschenden Klassen samt der Regierung würden ins Wanken geraten." Die Sozialdemokratie müsse aussprechen, daß das deutsche Proletariat nicht auf dem Wege der abgewirtschafteten, bankerotten, parlamentarischen Mitarbeit an sein Ziel komme, sondern

Vollmar's Eldorado-Rede.

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daß es auf ungesetzlichem Wege sich selbst seine Freiheit und sein Brot holen müsse. Ein Teil der „Unabhängigen" ist letzthin ins anarchistische Lager abgeschwenkt. Von ungleich größerer Tragweite als das Gebühren der „Zungen" war das Auftreten Georg von Vollmar's. Zn einer von wahrhaft staatsmännischem Geiste erfüllten Programmrede (gehalten im „Eldorado" zu München am 1. Zuni 1891) „Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie" stellte er sich klar und offen auf den Standpunkt einer durchaus gesetzlichen, friedlichen, resormatorischen Partei. Wohl habe die Negierung den Kampf gegen die Sozialdemokratie noch nicht aufgegeben. Aber es fei nicht mehr der barbarische Ver­ nichtungskrieg, sondern man habe die Partei als kriegführende Macht anerkannt und führe einen geregelten Streit mit ihr, in welchem sie durch ihre Tüchtigkeit „wesentliche Erfolge" zu erringen vermöchte. Es sei angesichts der gemachten Versprechungen (der kaiserlichen Februar­ erläffe) eine ehrliche Probe zu machen, ob thatsächlich der Wille zu gewissen Verbefferungen vorhanden. Der kritisirende Geist verfalle leicht in den Fehler der grundsätzlichen Verneinung, des leichtbereiten Absprechens über alle Dinge und meine, daß alles, was bestehe, schon darum schlecht und zu bekämpfen sei, weil es bestehe. Dieser Zustand, sei ein imvermeidlicher Durchgangspunkt, eine Kinderkrankheit, die bei einer kleinen, beginnenden Bewegung wenig bedeute. Eine große Partei aber, auf welche von jeder Seite das Licht falle, müsse alles ver­ meiden, was ihr vor der öffentlichen Meinung, welche sie gewinnen solle, mit Recht schaden könne. So werde der Dreibund in einem Teile der Parteipreffe abfällig besprochen, wohl hauptsächlich in der Annahme, daß alles von der Regierung kommende notwendig schlecht und zu bekämpfen sein müsse. Man müsse indes für den Dreibund eintreten, weil seine Tendenz unzweifelhaft auf Erhaltung des Friedens gerichtet sei. Die Partei sei international; dessenungeachtet gebe es für sie auch nationale Aufgaben und Pflichten. Die Verneinung der Nation sei ebenso sehr zu vermeiden wie die nationale Überhebung. Wenn die Partei auch in Frankreich sozialistische Freunde besitze, die das chau­ vinistische Treiben verurteilten, so dürfe doch nicht übersehen werden, daß diese mutigen Männer als „Prussiens" und Landesverräter be­ schimpft würden und des ausschlaggebenden Einflusses auf die öffentliche Meinung entbehrten. Die maßgebenden Kreise jenes Landes lägen in verblendetem Chauvinismus vor der despotischesten Macht des Weltteiles schweif-

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Die soziale Bewegung in Deutschland.

wedelnd auf dem Bauche und trügen dadurch viel Schuld an den un­ aufhörlichen Rüstungen. Sobald Deutschland von außen her angegriffen würde, würde es nur noch eine Partei geben, und die Sozialdemokraten würden nicht am letzten ihre Pflicht thun. Zn dem Maße, in welchem die Partei einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten gewinne, habe sie — unter voller Aufrechterhaltung ihrer grundsätzlichen Bestrebungen — ihre Kraft auf die jeweils nächsten und dringendsten Dinge zu konzenlriren und zeitweise positive Aktions­ programme aufzustellen. Als die nächsten und mit allem Nachdrucke anzustrebenden Forde­ rungen seien anzusehen: 1. die Weiterführung des Arbeiterschutzes; 2. die Erringung eines wirklichen Vereinigungsrechtes; 3. auf dem Ge­ biete des Lohnkampfes sei jede staatliche Einmengung zu Gunsten des -einen Teiles auszuschließen; 4. eine Gesetzgebung über die industriellen Kartelle; 5. die Beseitigung der Lebensmittelzölle. Es sei der Einfluß der Agrarier zurückzudrängen und der Regierung begreiflich zu machen, daß nicht der Vortell der bevorrechteten Klaffen und Kreise, sondern das Wohl der Allgemeinheit das wahre Staatsintereffe sei: „Es wird Hehr viel vom Vorgehen der Sozialdemokratie, von ihrer Kraft und Entschiedenheit, wie von ihrer geschickten folgerichtigen Benutzung der thatsächlichen Verhältnisse abhängen, daß dieser Gedanke in erster Reihe in der Arbeiterwelt, aber auch darüber hinaus bei den Einsichtigen «n allen Schichten immer mehr Wurzeln faßt und sich Geltung ver­ schafft. Ze friedlicher, geordneter, organischer diese Entwicklung vor sich geht, desto bester für uns und das Gemeinwesen!" Auf die oppositionelle Linke in Berlin wirkte diese Rede, wie einer ihrer begabtesten Vertreter, Hans Müller, berichtet, „wie die Posaune des jüngsten Gerichtes." Der „Vorwärts" und der Partei­ vorstand, die anfangs der Vollmar'schen Rede keine Beachtung zollen wollten, waren schwächlich genug, sich durch das Treiben der „Zungen" einschüchtern und zu einer Verurteilung Vollmar's bestimmen zu lassen. Vollmar entgegnetc in einer zweiten Eldorado-Rede (6. Juli 1891) und einer Artikelserie „Vom Optimismus" (Münchener Post. Nr. 173, 174, 175. 1891). Mit feiner Zronie zeigte er, wer mit Recht den Vorwurf des Optimismus verdiene, er oder Bebel, welch' letzterer eben wieder einmal die sozialistische Gesellschaft für die nächsten Zeiten in Aussicht gestellt habe.

Der Erfurter Parteitag mußte sich mit der Angelegenheit besassen. Bebel trat gegen Vollmar auf und erklärte, dessen Standpunkt führe zur Versumpfung und mache aus der Partei eine Opportunitätspartei

Vollmar's Staatssozialismus.

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im allerschlimmsten Sinne. Er verschmähte es selbst nicht, in Er­ mangelung besserer Gründe, die Überzeugungen Vollmar's lediglich als Ausfluß seiner „satten" Position hinzustellen. Vollmar unterstelle der hungrigen Waffe die eignen Gefühle und denke: „es pressirt, es eilt nicht mit der Umgestaltung, seien wir vorsichtig und sorgen wir, daß wir wenigstens allmählich, peu ä peu, zum Ziele kommen." Es zeigte sich aber, daß die Zahl der Parteigenoffen, die mehr oder weniger zu Vollmar neigten, viel zu bedeutend war, als daß man mit ihm in der Weise hätte umspringen können, welche den „Zungen" gegenüber zur Anwendung gebracht wurde. Eine Kompromiß - Resolution, daß „fest und entschieden im Sinne des Parteiprogramms gewirkt werden solle, ohne auf Konzessionen seitens der herrschenden Klaffen zu ver­ zichten", wurde angenommen. Mit Argusaugen bewachten die Zensoren der Partei fürderhin jede Regung, die als Fortschritt der Vollmar'schen Strömung gedeutet werden konnte. Und richtig, es währte nicht lange, so ließ sich Vollmar neuerdings auf verbotenen Wegen ertappen. Zn der Pariser „Revue bleue“ hatte er einen Aufsatz veröffentlicht und darin erklärt, er sei der Meinung, daß die Sozialdemokratie keinen Grund habe, den Gedanken des Staatssozialismus an sich mit besonderem Eifer zu bekämpfen. „Werden doch im Gegenteil eine Reihe von Maßregeln zur stufenweise fortschreitenden Anbahnung einer besseren Gesellschaftsorganisation von uns angestrebt und schließlich mit beschloffen werden, die man als staats­ sozialistische Zeichnen kann." Aber wieder wurde man nicht mit Vollmar fertig. Es stellte sich heraus, daß er das, was ihm in den Mund gelegt worden war, gar nicht gesagt hatte. Der Berliner Partei­ tag nahm einfach eine auch von Vollmar unterzeichnete Resolution an, welche die Unterschiede zwischen Staatssozialismus und Sozialdemokratie kennzeichnete. Vollmar ließ es sich aber nicht nehmen, die illoyale Art zu schildern, deren sich die Staatsanwälte der Partei gegen ihn schuldig gemacht hatten. Indessen, kein Parteitag ohne Anklage. Zn Köln waren es die Leiter der Gewerkschaftsbewegung, gegen die Bebel die Wachsamkeit der Konsuln aufrief und denen er mit dem Gericht der Parteigenossen drohte. Hamburger, Frankfurter und Stuttgarter Gewerkschaftsmänner hatten sich ertaubt, mit Angehörigen der bürgerlichen Parteien einen Kongreß zur Diskussion über die Fragen der Arbeitslosigkeit und der Organisation des Arbeitsnachweises einzuberufen. Trotzdem die bürger­ lichen Mitglieder des Organisation-Komitees einer sozialpolitisch sehr fortschrittlichen Richtung huldigten und die Gewerkschaftsbewegung doch

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Die soziale Bewegung in Deutschland.

als unpolitisch angesehen werden will — wenigstens wird es von der Sozialdemokratie stark gerügt, wenn Polizeibehörden Gewerkschaften als politische Verbindungen bezeichnen —, erklärte Bebel: „Der Kanossa­ gang eines Teils der Gewerkschaftsführer nach Frankfurt muß im Gegenteil notwendig dazu beitragen, auch noch die politische Bewegung zu Grunde zu richten. Wenn man es für ein Bedürfnis hält, mit Herren aus den Reihen unserer wütendsten politischen Gegner sich dort ein paar Tage lang in voller Freundschaft über gleichgiltige Dinge zu unterhalten, so ist das sozialdemokratische Wadelstrümpfelei." Es ist übrigens bemerkenswert, daß Bebel ungeachtet seiner tiefen Entrüstung über diesen „Kanossagang" es doch nicht wagte, einen direkten Tadel des Parteitages gegen die Frevler zu beantragen. Indessen, der Geist der „Reformsimpelei", der „Verflachung", des „allerschlimmsten Opportunismus", der „Kleinbürgerei", und wie die geschmackvollen Bezeichnungen alle lauten mögen, dieser böse Geist war trotz aller Wachsamkeit nicht auszurotten. Die sozialdemokratische Fraktion des bayerischen Landtages hatte im Jahre 1894 sogar das Budget bewilligt. Sie hatte übrigens noch ein Vergehen begangen, über das aus mir unbekannten Gründen auf dem Frankfurter Partei­ tage allerdings nicht gesprochen worden ist: Vollmar und sein Fähnlein waren nebst den übrigen Landboten einer Einladung des Ministers ins Hofbräuhaus gefolgt. Ehe die Bayern zum hochnotpeinlichen Halsgericht nach Frankfurt zogen, waren sie so klug, mit ihren Parteigenossen im Lande Fühlung zu nehmen. Auf dem Parteitage der bayerischen Sozialdemokratie in München setzte Vollmar in vortrefflicher Weise die Gründe auseinander, aus denen man für das Budget gestimmt hatte. Zn ihm spielten die Kulturaufgaben aller Art eine große Rolle: Schulen, Wissenschaft, Kunst, Verkehr, Eisenbahnen, Post, Bauten, Straßen, Kanäle, Staats­ betriebe aller Art, Landwirtschaft, Forstwesen, Gewerbeinspektion u. s.w., — kurz lauter Dinge, mit deren jetziger Organisation die Sozialdemokratie wenig einverstanden sei, die aber in ihrem Kerne doch für die Gesell­ schaft als förderlich und notwendig angesehen werden müßten. „Wir haben schließlich von den 328 Millionen des Budgets höchstens 15 Millionen verwerfen können, das übrige aber bewilligen müssen. Da hätte es offenbar kein Mensch begreifen können, wenn wir schließlich alles dies einzeln Bewilligte wieder verworfen hätten. . . . Wir wollen das Gemeinwesen nicht verfallen lassen, sondern es unseren Grundsätzen gemäß organisch umgestalten und fortentwickeln; wir wollen das Gemein-

Vollmar's Agrarprogramm.

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wesen nicht zerstören, sondern es uns und dem Volke erobern.- Der Münchener Parteitag gab dieser Haltung seine volle Zustimmung. Zn Frankfurt stellte Bebel den Antrag, die Vertreter der Partei in den Landtagen hätten in der Gesamtabstimmung gegen das Budget ihre Stimmen abzugeben. Natürlich erklärten sich die Bayern gegen diesen sie direkt angreifenden Antrag. Vollmar führte ihre Sache in der überzeugenden, eindrucksvollen, geschickten und taktvollen Art, die man an ihm gewohnt ist. Der Gegenantrag, die Gesamtabstimmung lediglich als Zweckmäßigkeitsfrage anzusehen, erlangte 93 Stimmen, also ungefähr die Billigung von drei Achteln der Versammlung. Dieses Ergebnis war für Bebel, wie er später erklärte, „von niederschmetterndem Eindrucke". Aber auch der Antrag Bebel blieb in der Minorität. Somit hat der Parteitag über die angeregte Frage keine positive Ent­ scheidung gefällt. Es bleibt der status quo erhalten, jede Landtags­ fraktion kann thun, was sie will. Zn praktischer Hinsicht hatten also die Bayern und die mit ihnen übereinstimmenden Genoffen gesiegt. Nicht genug daran: in der Debatte über die Agitation unter der ländlichen Bevölkerung entwickelte Vollmar Ansichten, welche die Hohen­ priester des dogmatischen Sozialismus allerdings aus der Fassung bringen mußten. „Was die Art der Agitation anlangt, so muß der Städter, der aufs Land gehen will, zunächst all' seine alten Agitations­ Hefte verbrennen und vor allem lernen, sich in die ländlichen Produktionsverhältniffe, in das ganze bäuerliche Denken und Fühlen hinein­ zudenken. Der städtische Arbeiter betritt eine neue Welt, die er nicht geringschätzen, sondern verstehen soll; sonst ist jedes Wort zu den Bauern so wertlos, wie wenn ein Bauer eine Vorlesung über Industrie hielte. Er lege den städtischen Hochmut ab, daß der Bauer dumm sei, während er nur ungeschult ist. Gewiß sollen wir den Bauern aufklären; aber auch wir können von ihm vieles lernen. Alle hergebrachte Schablone und bloße Analogie, das mechanische Übertragen der industriellen That­ sachen auf die Landwirtschaft, ist unzulässig. Nur ein liebevolles Ein­ gehen gibt die notwendige Einsicht in die landwirtschaftliche Betriebs­ und Lebensweise." Solche Zumutungen einer Partei zu machen, deren Führer sich doch schon längst im Besitze von der Weisheit letztem Schluffe wähnten! Aber es kam noch schlimmer. „Dennoch erweist sich der Großbetrieb in der heutigen Landwirtschaft — wo nicht Ausnahmeverhältniffe vorhanden sind — im Wettbewerb keineswegs als so überlegen, und das trotz aller ihm so reichlich zugeschanzten Vorteile auf Kosten der Allgemeinheit........... Und wie es eine zweifellose That­ sache ist, daß Klein- und Mittelbetrieb, das selbständige Bauerntum, in Her kn er, Die Arbeiterfrage. 2. Aufl.

Vollmar darf sich aber nicht nur rühmen, einen Bebel und Lieb­ knecht für seinen Standpunkt gewonnen zu haben, er hat überhaupt einen guten Teil der geistig hervorragendsten Persönlichkeiten, namentlich unter den jüngeren Mitgliedern der Partei, in seinem Gefolge. Da begegnen wir einmal Herrn Dr. Bruno Schoenlank, dem glänzenden und geist­ reichen Stilisten, der überdies sehr ernste nationalökonomische Studien getrieben hat. Für seine Stellung ist folgende in Breslau gethane Äußerung charakteristisch: „Es geht eine Revision der Vorstellungsweise in der Parier vor; wir haben aufgehört, die Partei allein des Industrieproletariats zu sein. Die Sozialdemokratie ist die Partei aller proletarischen Unterdrückten, der Notleidenden aller Schichten, unddie Politik, die die Gegner des Entwurfs treiben wollen, ist reine Zndustriearbeiterpolitik (Gelächter). Das Gelächter ist keine Wider­ legung; Thatsachen beweisen. Die Revision unserer Vorstellungen geht unaufhaltsam weiter und der verbiffene Fanatismus der Parteidogmatiker in der Partei fängt bereits an zu bröckeln. Das Klaffenbewußtsein erwacht schon in breiten Schichten des Landproletariats und große Gruppen sind noch kraft ihrer Lage zu gewinnen. Sie werden noch einsehen, daß wir jetzt mit der Agrarfrage auf das ernsthafteste zu rechnen haben werden, mit neuen Begriffen, mit neuen Zielen. Das Agrarwesen läßt sichnicht nach der alten Schablone behandeln, die bisher so oft an die Stelle der Forschung und der Erkenntnis getreten ist. Der Dogmenfanatismus ist viel schlimmer als der Eigentumsfanatismus der Parzellenbauern. Außerdem ist der Parteidogmatismus durch­ aus nicht die Konsequenz der materialistischen Geschichtsauffaffung.. Marx und Engels würden sich schön dafür bedanken, daß man. ihre Anschauung so, wie es geschieht, als Schablone behandelt. Engels hat erst in einem kürzlich veröffentlichten Briefe davon, gesprochen, daß gerade die Marxisten Marx oft falsch verstanden und die Methode der materialistischen Geschichtsauffassung falsch­ angewendet hätten. Wir müssen nach den veränderten Verhält­ nissen auch unsere Taktik ändern. Jener Teil der Partei, der von Neuerungen nichts wissen will, ist konservativ, der andere Teil ist. revolutionär." (Sehr wahr! Gelächter.)

Die Protestanten der Sozialdemokratie.

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Sodann Dr. E. David aus Heffen, ebenfalls ein tüchtiger junger Gelehrter, der mit Vollmar sich in das Verdienst teilt, am frühesten die Bedeutung der Agrarfrage erkannt und hierin eine von der Ortho­ doxie abweichende Stellung eingenommen zu haben. Er sagte: „Die Frage: ist der Großbetrieb dem Kleinbetrieb überlegen? ist eine theoretische und ich halte, trotz der freundlichen Anmerkung des Genossen Kautzky, den Parteitag nicht für den Ort, sie zu erörtern. Sie zu entscheiden, ist nicht Sache einer politischen Partei, sondern der landwirtschaftlichen Fachleute und vor allem der praktischen Landwirte selbst. Hier heißt es auch: Probiren geht über Studiren. Die Frage ist übrigens eine unter den Fach­ leuten durchaus unentschiedene Streitfrage. Ein „fester Boden der Wissenschaft" existirt nicht; es gibt nicht zwei Professoren, die in einer Frage das gleiche denken. Die Wissenschaft hat den Mut, sich beständig zu mausern... Durch die praktische, an die Gegenwart anknüpfende Thätigkeit haben wir die Massen gewonnen. Mit dem Revolutioniren der Köpfe können wir einige Studenten gewinnen. Mit Zukunftshoffnungen, mit Ideen, die keineswegs leicht zu begreifen sind, gewinnen wir die Massen nicht. Die Revolutionirung der Massen geht nicht vom Kopfe, sondern vom Magen aus. Mit der Revolutionirung der Köpfe wären wir eine kleine Sekte wissenschaftlicher Sozialisten geblieben, hätten aber keine Massenbewegung. Das ist nicht meine Ansicht, die Ansicht eines jungen Mannes, allein. Die erfahrensten, ältesten Genossen stimmen mit mir überein." Endlich Dr. Max Ouarck, früher sozialpolitischer Redakteur der Frankfurter Zeitung und eifriger Förderer der kaufmännischen Gehilfen­ bewegung, wohl einer der genauesten Kenner der deutschen Arbeiterschutz- und Fabrikinspektionsverhältniffe. Er war Sekretär und Referent der Agrarkommission und hat bereit Entwurf vortrefflich verteidigt. Auch Eduard Bernstein, der Londoner Berichterstatter der „Reuen Zeit", läßt von Jahr zu Zahr eine von vorgefaßten Parteimeinungen immer freiere Auffassung der Dinge erkennen. Wenn trotzdem die Gegner des Agrarprogramms, welche K. Kautzky führte, die Majorität errangen, so lag das zum nicht geringen Teile in der Lage der Stadt des Parteitags begründet. Es waren eben die östlichen Gebiete, in denen die Richtung Vollmar nur wenig Anhänger besitzt, naturgemäß besonders stark vertreten. Ob auf einem Parteitage dieser oder jener Gedanke bei der Abstimmung die Mehrheit

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Die soziale Bewegung in Deutschland.

erjielt, hat überhaupt weit weniger zu sagen als der Umstand, von welcher» Persönlichkeiten und mit welchen Gründen eine Zdee verteidigt wird. Was den Parteitag betrifft, so erklärt das Organisationsstatud (beschloffen in Halle 1890) in § 9: Der Parteitag bildet die oberste Vertretung der Partei. Zur Teilnahme an demselben sind berechtigt: 1. die Delegirten der Partei aus einzelnen Wahlkreisen, mit der Einschränkung, daß in der Regel kein Wahlkreis durch mehr als drei Personen vertreterr sein darf. Insofern nicht unter den gewählten Vertretern desWahlkreises Frauen sich befinden, können weibliche Vertreter iit besonderen Frauenversammlungen gewählt werden; 2. die Mit­ glieder der Reichstagsfraktion; 3. die Mitglieder der Parteileitung. Rach der Geschäftsordnung erfolgt die Abstimmung einfach nach> den Köpfen der Teilnehmer. Über die Art und Weise, in der die Delegirten gewählt werden sollen, hat das Statut keine Bestimmung getroffen. Die Übung ging, im allgemeinen dahin, die Delegirten, ähnlich wie die Vertrauensmänner, in öffentlichen Versammlungen zu wählen. Dagegen sind in Heffen undWürttemberg die Delegirten in geschlossenen Versammlungen der sozial­ demokratischen Vereinigungen gewählt worden. Erst der diesjährige Parteitag hat beschlossen, daß die Delegirten in Zukunft überall in öffentlichen Versammlungen zu wählen seien. Zeder Reichstagswahlkreis darf also drei Delegirte entsenden, gleichgiltig, wie groß die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen ist, die in ihm abgegeben worden sind. Daraus geht schon hervor, daß die Zusammensetzung der Parteitage auch nicht im mindesten den thatsächlichen Strömungen zu entsprechen braucht. Zn Breslau waren z. B. Delegirte aus den Kreisen AdelnauSchildberg-Ostrowo-Kempen in Posen, aus Beuthen in O.-S.-Tarnowitz^ Gostyn-Rawitsch und Kattowitz-Zabrze anwesend. Über die Zahl der sozialdemokratischen Reichstagswähler in diesen Kreisen giebt folgende Zusammenstellung Aufschluß: 1890.

1893.

Adelnau-Schildberg-Ostrowo-Kempen in Posen . . 126 — 49 Beuthen i. O.-S.-Tarnomitz........................................ 52 — 258 Gostyn-Rawitsch ............................................................... 401 — 501 Kattowitz-Zabrze.....................................................................— — 664 Die Stimmen dieser Delegirten besaßen nun dasselbe Gewicht wie die Stimme des Delegirten Hermann Rietz (Berlin), der drei Wahlkreise zugleich vertrat (Berlin 6, Westprignitz, Ruppin-Templin) mit zusammen 56 462 sozialdemokratischen Stimmen (1893); oder des Delegirten Georg

Die Beschickung des Parteitages.

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Johannes, des Vertreters von Sachsens zwölftem und dreizehntem Wahlkreis mit 45 133 sozialdemokratischen Stimmen; oder von H. Martikke, der zwei Wahlkreise (den dritten Hamburgischen und den fünften schleswig-holsteinischen) mit zusammen 40 725 repräsentirte. Andererseits hatte wieder der Wahlkreis Posen, trotzdem er 1893 nur 1102 Stimmen für die Partei ergab, sogar zwei Delegirte entsendet, während Kreise mit viel größerer Stimmenzahl gar nicht vertreten waren. Natürlich hat unter diesen Umständen die Lage der Stadt, in welcher der Parteitag abgehalten wird, auf seine Zusammensetzung großen Einfluß. Die östliche Lage Breslaus brachte es mit sich, daß eben auch viele östliche Kreise, in denen die Partei nur einen gering­ fügigen Anhang besitzt, Delegirte entsendet hatten. Dagegen waren Bayern, Württemberg, Baden und Elsaß-Lothringen überaus schwach vertreten. Im Jahre 1894 hatte die südwestdeutsche Lage Frankfurts a. M. die entgegengesetzte Erscheinung bewirkt. Es pflegt deshalb mit Recht von vielen Teilnehmern großer Werth auf eine möglichst zentrale Lage des Parteitagsortes gelegt zu werden. Für das Jahr 1896 war Gotha gerade aus diesem Grunde in Aussicht genommen worden. Im übrigen bietet die Wahl der Delegirten in öffentlichen Ver­ sammlungen keine Gewähr dafür, daß diejenige Persönlichkeit ent­ sendet wird, die der Gesinnung der Mehrzahl der Wähler entsprechen würde. Die betreffende Versammlung findet meist in dem Brennpunkte der sozialdemokratischen Bewegung eines Kreises statt und wird in der Regel nur von den an dem Versammlungsorte Wohnenden Genoffen besucht. Daß viele Genoffen aus größerer Entfernung herbeieilen werden, um bei der Wahl des Delegirten mitzuwirken, dürfte selten genug vor­ kommen. Ferner können in diesen Versammlungen die vielen Leute, die zwar sozialdemokratisch wählen, aber aus guten Gründen sich nicht öffentlich zur Partei bekennen mögen, nicht erscheinen Es kommen in ihnen eigentlich nur die sogenannten zielbewußten, fortgeschritteneren Ge­ noffen zum Worte. So manche Delegirtenwahl scheint auch eine rigorose Prüfung nicht zu vertragen. „Wenn wir so rigoros vorgehen," er­ klärte der Delegirte Müller-Darmstadt, „so müssen viele Mandate für ungiltig erklärt werden. (Na! na!)" Mit diesen Bemerkungen sind aber die verschiedenen Zufälle, die für das Zustandekommen der Parteitagsbeschlüffe eine nicht zu unterschätzende Tragweite besitzen, noch keineswegs abgeschloffen. So fehlten auf dem Kölner Parteitage, wie 1895 in Breslau, die hervorragendsten bayerischen Führer, weil sie durch die bereits im Gange befindlichen Landtagsver­ handlungen an München gefesselt waren. Ferner hielten die Wahlen

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Die soziale Bewegung in Deutschland.

in die badische Ständeversammlung Herrn Dreesbach und manchen an­ deren badischen Genossen vom Besuche des Breslauer Parteitages ab. Es ist nicht unintereffant, daß gerade in Breslau der Versuch, unternommen wurde, einen Teil der eben ersichtlich gemachten Mängel in der Beschickung und Abstimmung des Parteitages abzustellen. Der vielgenannte Privatdozent der Physik an der Berliner Universität, Dr. L. Arons, war es, der Folgendes als Antrag der Parteigenoffen des ersten Berliner Wahlkreises einbrachte: „Auf Antrag von mindestens 20 Mitgliedern des Parteitages muß die Abstimmung nach Wahlkreisen stattftnden. Hierbei geben die vertretenen Wahlkreise eine Stimme ab, wenn die sozial­ demokratische Stimmenzahl bei der letzten Hauptwahl zum Reichstag unter 4 000 betrug, zwei Stimmen, wenn die sozialdeinokratische Stimmenzahl bei der letzten Hauptwahl zum Reichstag 4000 bis 10 000 betrug, drei Stimmen, wenn die sozialdemokratische Stim­ menzahl bei der letzten Hauptwahl zum Reichstag 10 000 bis 20 000 betrug, u. s. f. für je 10 000 weitere Stimmen bei der Reichstagswahl eine Stimme mehr. Die Stimmabgabe erfolgt durch den stimmführenden Delegirten, über dessen Person sich im Falle der Vertretung eines Kreises durch mehrere Delegirte diese zu einigen haben. Ist bei einer geraden Zahl von Delegirten eine Einigung bis zum Aufruf des Kreises nicht erfolgt, so wird Stimmenthaltung des betreffenden Kreises angenommen. Kein Delegirter darf für mehr als einen Wahlkreis stimmen." Der Antrag blieb ein „Berliner" Antrag, d. h. er fiel glänzend durch. Richt nur, daß sich sofort ein bayrischer und ein Hamburger Delegirter gegen diesen Vorstoß der Berliner kehrte, auch ein Berliner selbst, der Rechtsanwalt Stadlhagen, sprach dagegen. „Der Antrag müsse aus Gründen der Gerechtigkeit abgelehnt werden. Zeder Delegirte habe die Zntereffen der Gesamtpartei, nicht die eines bestimmten Wahlkreises zu vertreten. (Beifall.) Hinter jedem der Delegirten stehe die Gesamtpartei. Auf dem Parteitag darf nicht ausschlaggebend sein, von wie Vielen der Einzelne gewählt ist, sondern welche Gründe er vorzubringen habe." *

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Unter den vorhandenen Parteien behauptet keine mit größerer Entschiedenheit, der Sache des arbeitenden Volkes ausschließlich zu dienen, als die Sozialdemokratie. Ohne Zweifel sind die bereits erfolgten sozialen Reformen mit als ein Verdienst der Sozialdemokratie anzusehen.

Beurteilung der sozialdemokratischen Wahlerfolge.

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Das hat Einer, der es wissen konnte, unumwunden anerkannt. ES kann nicht schaden, die betreffenden Worte des Fürsten Bismarck herzusetzen: „Denn die Sozialdemokratie ist so, wie sie ist, doch immer ein erhebliches Zeichen, ein Menetekel für die besitzenden Klassen dafür, daß nicht Alles so ist, wie es sein sollte, daß die Hand zum Bessern angelegt werden kann, und insofern ist ja die Opposition, wie der Herr Vorredner sagte, ganz außerordentlich nützlich. Wenn es keine Sozialdemokratie gäbe, und wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihr fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existiren, und insofern ist die Furcht vor der Sozialdemokratie inbezug auf Denjenigen, der sonst kein Herz für seine armen Mitbürger hat, ein ganz nützliches Element." Allem An­ scheine nach ist auch heute ein solches „Menetekel" noch durchaus nicht «ntbehrlich. Die Sozialdemokratie hat genützt und nützt noch. Hat sie aber auch alles zu Gunsten des arbeitenden Volkes überhaupt Mögliche geleistet? Hätte sie bei einer andern Taktik nicht vielleicht doch weit mehr erzielen können? Man hat sich gewöhnt, die Taktik der Sozial­ demokratie zu bewundern, weil sie ihr so viele Stimmen zugeführt hat. Ich kann diese Auffassung nicht teilen. Mir erscheint es immer viel bewunderungswürdiger, wenn Parteien, die ihrer Masse nach — Aus­ nahmen zugegeben — sich so wenig ernstlich um die Lohnarbeiter kümmern, wie die Nationalliberalen, die Freikonservativen und Konservativen, bei den letzten Wahlen zusammen doch nahezu 2'/2 Millionen Stimmen erlangt haben. Die Partei hat ihre großen äußeren Erfolge meines Erachtens nicht wegen ihrer Taktik, sondern trotz ihrer Taktik erreicht. Die Ver­ tretung der Interessen des arbeitenden Volkes ist eine so unendlich gute und herrliche Sache, daß eine Partei, die sich diese Aufgabe stellt, selbst bei einer noch viel schlechteren Taktik, als sie die Sozialdemokratie be­ folgt hat, unter dem allgemeinen Stimmrechte vorwärts kommen muß. Bei den letzten Wahlen hat die Sozialdemokratie 1 786 738 Stimmen geerntet und so alle anderen Parteien überholt. Dieses Ereignis hat hier jähen Schrecken, dort enthusiastische Bewunderung und Begeisterung für das sozialdemokratische Generalkommando hervorgerufen. Wir kommen aber zu einer anderen und, wie ich meine, den Thatsachen besser entsprechenden Auffassung, wenn wir uns Folgendes vergegenwärtigen: Zm Deutschen Reiche wurden 1893 10 628 292 Wahlberechtigte gezählt. Von ihnen gehören mindestens drei Viertel, oder rund 8 Millionen, entweder der Arbeiterklasse selbst an oder stehen dieser wenigstens in ihren Einkommens- und Lebensverhältnissen überaus nahe. Es hat also die sozialdemokratische Partei noch nicht einmal den vierten Teil

586

Die soziale Bewegung in Deutschland.

der Wähler aus den niederen Einkommensklaffen auch nur zur Abgabe eines Stimmzettels für den sozialdemokratischen Kandidaten zu bewegen vermocht. Nun besteht aber zwischen dem sozialdemokratischen Wähler und dem „zielbewußten Genossen" ein gewaltiger Unterschied. Und dieser Unterschied ist gerade innerhalb der Sozialdemokratie selbst in den letzten Zeiten aufs nachdrücklichste betont worden. Bebel wünschd sich an Stelle des jetzt vorhandenen großen Haufens lieber eine kleine, aber wohldisziplinirte Partei. Hans Müller hat früher einmal un­ gefähr ein Zehntel der Wähler als wirkiche Sozialdemokraten bezeichnet.. Ein sozialdemokratischer Führer äußerte mir gegenüber in einer Stadt, die 2000 sozialdemokratische Stimmen geliefert hatte, einmal die An­ sicht, daß unter dieser Maffe kaum 30 richtige Sozialdemokraten sich befänden. Alle Übrigen seien bloße „Egoischte", die innerhalb der be­ stehenden Ordnung nach einer Besserung strebten. Und 1894, in der vielgenannten Versammlung des zweiten Berliner Wahlkreises, behauptete, wenigstens nach dem Berichte der „Frankfurter Zeitung", der Badener Schöpflin: „Wollte man in Baden die Böcke von den Schafen sondern, so würde ein Resultat zum Weinen herauskommen." Unter diesen Um­ ständen erscheinen mir die Erfolge der orthodoxen Sozialdemokratie nicht als besonders glänzende. Diese Erfolge schrumpfen noch mehr zusammen, wenn man bedenkt, wie sehr die Sozialdemokratie durch äußere Ereignisse gefördert worden ist. Die industrielle Entwicklung Deutschlands hat in den letzten Jahr­ zehnten mächtige Fortschritte erzielt. Die städtische Bevölkerung ist von 1871 bis 1890 von 36,1 auf 47,0 Proz. angeschwollen. Im Zu­ sammenhange mit diesen Erscheinungen steht die Thatsache, daß im Bergbau, Hüttenwesen, Industrie und Bauwesen die Zahl der Selbst­ ständigen erheblich abgenommen hat; 1882 zählte man in der genannten Berufsabteilung auf 100 Erwerbsthätige 34,41, 1895 nur 24,90 Selbständige. Die Zahl der Lohnarbeiter hat natürlich entsprechend­ zugenommen, nämlich von 64,04 auf 71,92 unter hundert Erwerbsthätigen. Wie haben die bürgerlichen Parteien die Jntereffen dieser neuen Gesellschaftsschichten in den letzten Jahren berücksichtigt? Unter den politisch stark ins Gewicht fallenden großen Parteien ist zweifelsohne das Zentrum noch am nachdrücklichsten für eigentliche Arbeiterintereffen aufgetreten. Und gerade das Zentrum hat auch gegenüber der Sozialdemokratie die allergeringsten Verluste erlitten. Das von der Partei 1893 aufgestellte „katholisch-soziale" Programm fordert für die Großindustrie:^)

Das katholisch-soziale Programm von 1893.

58 T

„Die Leistung von Garantien für neu ins Leben zu rufende großindustrielle Unternehmungen hinsichtlich der Fähigkeit und Unbescholten­ heit der Leitung, hinsichtlich des zur Fortführung erforderlichen Kapitals,, hinsichtlich der gesundheitlichen Verhältnisse des Ortes, sowie der berechtigten Interessen der umwohnenden Bevölkerung. Vervoll­ kommnung der Arbeiterschutzgesetze zum Zwecke einer gewerblichen Aus­ bildung, einer gerechten Entlohnung, einer gesicherten, stufenweise auf­ steigenden Stellung und einer würdigen Behandlung der Arbeiter; eine den Produktionsverhältnisien angemessene Verkürzung der Arbeitszeit^ allmälige Beseitigung der Fabrikarbeit für verheiratete Frauen; Ein­ schränkung der Fabrikarbeit für unverheiratete weibliche Personen auf die ihrem Geschlechte und Berufe entsprechenden Verrichtungen; Be­ seitigung der gewerblichen Kinderarbeit in fremdem Dienste; Regelung, und Überwachung der Hausindustrie im Dienste des Großunternehmertums; Einführung von Arbeiterausschüffen mit gesetzlich garantirten Rechten. Vereinigungssreiheit der Arbeiter zum Schutze und zur Förderung wirtschaftlicher Interessen. Förderung von genossenschaft­ lichen Organisationen, welche Arbeiter und Arbeitgeber umfaffen unb jedem seine Rechte garantiren. Festsetzung einer Grenze, über die hin­ aus die einzelnen privaten Unternehmungen der verschiedenen Industrie­ zweige die Zahl ihrer Arbeiter nicht mehren dürfen." Dazu gesellen sich an andere Stelle (Sonstige Forderungen) noch: „Möglichst voll­ ständige Sonntagsruhe, hohe Besteuerung der großen Einkommen unter gleichzeitiger Entlastung der mittleren und kleineren Einkommen. All­ mälige Abschaffung der indirekten Steuern und Zölle, soweit letztere nicht zum Schutze großer Bevölkerungsklassen gegen ausländische Kon­ kurrenz notwendig sind oder Luxusartikel betreffen. Ausbildung der staatlichen Betriebe zu Musteranstalten. Festsetzung eines den örtlichen Verhältniffen entsprechenden Minimallohnes für Arbeiten, welche auf Rechnung des Staates oder der Gemeinde ausgeführt werden. Gemeind­ liche Arbeitsnachweisbureaus. Erbauung von zweckmäßigen Wohnungen für die in ständigem Dienste des Staates oder der Gemeinde stehenden Arbeiter. Förderung gemeinnütziger Baugesellschaften für Errichtung von Arbeiterwohnungen." Mögen in diesem Programme auch manche unpraktische und kaum zu verwirklichende Gedanken stecken, so bietet es doch auf alle Fälle dasjenige dar, worauf es heute in Deutschland vor allem ankommt: Arbeiterschutz, berufliche Organisationsfreiheit und Genossenschaften. Das Zentrum hat sein Programm nicht verleugnet.

588

Die soziale Bewegung in Deutschland.

Bei der allgemeinen sozialpolitischen Fahnenflucht, welche unter den bürgerlichen Parteien gelegentlich der Bäckereiverordnung ausbrach, hat das Zentrum wacker Stand gehalten, und Adolf SBagner22) hat daher ganz Recht, wenn er vor kurzem erklärte, daß das Zentrum auf sozial­ politischem Gebiete weitaus die verdienteste und rührigste der bürger­ lichen Parteien sei. Nach der Zentrumspartei ist es die deutsche Volkspartei, welche die sozialpolitischen Forderungen entschieden vertrit. Sie geht sogar noch ■erheblich weiter als das Zentrum. Das Münchener Programm (1895) verlangt unbeschränkte Koalitionsfreiheit, gesetzliche Einführung eines Arbeitstages von höchstens zehn Stunden, in Bergwerken und gesund­ heitsgefährlichen Betrieben von acht Stunden, Vermehrung der Gewerbe­ inspektoren unter Zuziehung von Hilfskräften aus dem Kreise der Arbeiter und Arbeiterinnen, internationale Vereinbarungen zur Regelung der Arbeiterverhältniffe, Einsetzung von Einigungsämtern, unentgelt­ licher Arbeitsnachweis, Vereinfachung der Arbeiterversicherung, Ver­ sicherung gegen Arbeitslosigkeit aus kommunaler Grundlage u. a. m. Auch diese Partei hat keine Verluste aufzuweisen, sondern dringt, wenn auch langsam, so doch stetig vorwärts. Zu Beginn der 70 er Zahre verfügte sie nur über ein einziges Reichstags-Mandat, jetzt besitzt sie 11 und hat im württembergischen Landtage von 70 Sitzen 31 inne. Zurückhaltender als die deutsche Volkspartei ist die freisinnig« fortschrittliche Richtung in der Formulirung bestimmter sozialpolitischer Programmpunkte. Max Hirsch ist es, der innerhalb dieser Kreise am entschiedensten für Reformen eintritt, während der einflußreichste Führer, Eugen Richter, noch an den Grundsätzen des laisser-faire möglichst festzuhalten sucht. Aber auch von dieser Seite werden die Anerkennung der freien Berufsvereine, der Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung und des Genossenschaftswesens gefordert. Zn Bezug auf allgemeine Politik darf der deutsche Arbeiter von den genannten Parteien ein festes Einstehen gegen die Einschränkung der politischen Rechte, insbesondere des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zum Reichstage erwarten. Zm Gegensatze dazu ist die Haltung der nationalliberalen, frei­ konservativen und konservativen Parteien gegen sozialpolitische Forderungen teils unsicher, teils geradezu feindselig, und die Zahl der Kundgebungen ■gegen das bestehende Reichstagswahlrecht aus diesen Kreisen ist in bedenklicher Zunahme begriffen.

Sozialpolitisch« Stellung der nationalliberalen Partei.

58»

Der Delegirtentag der nationalliberalen gartet23) in Berlin (1896) hat auf Veranlassung des Zentralvorstandes folgende Resolution an­ genommen: „Die nationalliberale Partei tritt für eine durchgreifende Reform der Arbeiterversicherungsgesetze, namentlich im Sinne der Vereinfachung derselben, sowie für eine maßvolle, den praktischen Verhältniffen des Wirtschaftslebens und der ausländischen Konkurrenz genügend Rechnung tragende Weiterführung der sozialen Gesetzgebung, insbesondere auch aus dem Gebiete der Hausindustrie, ein. Die nationalliberale Partei strebt nach wie vor ein Reichsvereins­ gesetz aus liberaler Grundlage an. Sie ist damit einverstanden, daß zunächst durch partikulare Gesetzgebung wenigstens das Verbot beseitigt wird, welches die politischen Vereine an der Verbindung miteinander hindert. Jedem Versuche einer reaktionären Gestaltung der Vereins­ gesetzgebung, wie einer Einschränkung des Koalitionsrechtes wird sie entgegentreten." Über diesen Antrag hatte Möller-Brackwede Bericht erstattet. Eine Diskussion fand nicht statt. Da gerade in wirtschaftlich-sozialen Fragen die Haltung der nationalliberalen Partei durchaus keine einheitliche ist, darf kaum an­ genommen werden, daß auch nur die vorgeführte, äußerst vorsichtige und unbestimmte Resolution allgemein strikte Beachtung findet. Jeden­ falls treten gerade große publizistische Organe dieser Partei schon gegen Männer, die nur ganz bescheidene soziale Reformen verlangen, ebenso heftig auf wie die Blätter der freikonservativen Gruppe. Bei den geringen Sympathien, die man unter solchen Umständen von seiten der arbeitenden Klassen erwarten darf, ist man vorzugsweise auf die Mittelstände angewiesen. Die großen wirtschaftlichen Umwälzungen, die Entwicklung des Verkehrs und der großen Industrie, die wachsenden Ansprüche der Arbeiterklasse, das alles hat die Mittelstände, die ja in Deutschland vielerorts sehr stark an Zahl sind, in Bedrängnisse versetzt und zu leb­ hafter politischer Bethätigung veranlaßt. So ist eine sogenannte „Mittelstandsbewegung" in Fluß geraten. Bekämpfung der Konsum­ vereine durch besondere Umsatzsteuern, Einführung von Zwangsinnungen mit Befähigungsnachweis, Reform des Submissionswesens, Aufhebung des Wettbewerbes der Gefängnisarbeit, Verbot des Terminhandels in Getreide, Anerbenrecht, Antrag Kanitz und Bimetallismus sollen den deutschen Mittelstand sicherstellen. Am rücksichtslosesten werden diese Forderungen von den Antisemiten vertreten. Allein auch andere Parteien

590

Die soziale Bewegung in Deutschland.

sind, sofern sie unter der Arbeiterschaft wenig Anhänger zählen, genötigt, mehr

oder

weniger darauf einzugehen.

So bietet sich in Deutschland

nicht selten das sonderbare Schauspiel dar,

daß Maßnahmen,

die im

Interesse seiner wirtschaftlichen Machtstellung liegen (z. B. die Handels­ verträge, die Bekämpfung zünftlerischer Bestrebungen und agrarischer Übergriffe, die Aufrechterhaltung der Goldwährung) selbst von der Sozialdemokratie entschiedener verteidigt werden als von den Parteien, an deren Spitze die Industriellen selbst stehen. Die -gestellt.

Sozialdemokratie

ist

in diesen

Beziehungen

viel

günstiger

Sie vertritt große Massen, deren wirtschaftliche und politische

Interessen -Handel,

ziemlich

Industrie

homogen

sind.

Die Interessengegensätze

und Landwirtschaft, zwischen

-großbürgerlichen Kreisen,

zwischen Bauernstand

zwischen

kleinbürgerlichen und und Rittergutsbesitzern

sind unter ihren Parteigenossen nicht vorhanden. Eine Schwierigkeit ergibt sich für die Sozialdemokratie nur dann, wenn -fce§

sie die wissenschaftlich überwundene These von der Unhaltbarkeit

ländlichen

Anhänger

Kleinbetriebes

festhalten

sollte.

Sie

muß

dann

auf

unter dem zahlreichen Kleinbauerntume Südwestdeutschlands

natürlich

verzichten

und

bleibt eine Zndustriearbeiterpartei.

Da aber

die industrielle Arbeiterklasse ununterbrochen an Bedeutung gewinnt, so steht

sie

auch

-abgesehen

dann

etwa

noch

viel günstiger da

vom Zentrum,

das

als die andern Parteien,

sich auf das mächtige Band des

-gleichen kirchlichen Bekenntnisses berufen kann. Und

endlich:

Marx,

glänzendes

Engels

und

demokratie

ein

gezeichnete

agitatorische Kräfte stellen

Lassalle

haben

wissenschaftliches Rüstzeug sich

der

Sozial­

geschenkt.

Aus­

ihr zur Verfügung.

„Und

wenn unsere Sozialdemokratie ein Heer von hunderttausendcn repräsentirt, das mit Präzision, gehorsam den Winken der Centralleitung, seine Bewegungen -auch

das

vollzieht,

so

klassische Land

darf man nicht vergessen, daß Deutschland der Kasernen ist"

liebt der Deutsche das Doktrinäre, „die Wolken und alles, verhängt ist".

Mußte nicht

liebt,

(Georg Adler).

Zudem

nach Friedrich Nietzsche,

werdend, dämmernd, feucht und

Was aber ist unklarer, dämmernder und verhängter als

der Zukunftsstaat, Propaganda

was unklar,

er

trotz Bebel und Kautzky?

Und

welche

fruchtbare

haben erst die Märtyrer des Sozialistengesetzes ausgeübt? in

den

arbeitenden Klassen

die Überzeugung Boden ge­

winnen, daß eine Partei, deren Lebensregungen so ängstlich überwacht und

unterdrückt

bringen?

wurden,

imstande

wäre,

außerordentliches

zu

voll­

Die „prinzipielle" Seite der sozialdemokratischen Agitation.

591

Wenn trotz alledem und alledem von der Sozialdemokratie nicht mehr -erreicht worden ist, so liegt die Erklärung hierfür wohl in der That­ sache, daß die sozialdemokratischen Häupter außer der Vertretung konkreter Volksintereffen noch vieles andere, und dieses zum Teil noch eifriger, -betrieben haben. Ich habe hier die antireligiösen, antinationalen, die -antimonarchischen, die revolutionären und utopistisch-kommunistischen Bestrebungen, die sogenannte „prinzipielle" Seite der Agitation, im Auge. Noch heute sind diese Tendenzen bei der Masie der sozial­ demokratischen Wählerschaften durchaus nicht populär und haben einen großen Teil derjenigen Kreise von der Sozialdemokratie ferngehalten, 'die ihrer wirtschaftlichen Stellung nach dieser Partei hätten zufallen müssen. Durch diese verfehlte Taktik ist aber nicht nur die ganz über­ wiegende Mehrheit des arbeitenden Volkes abgestoßen, sondern auch der Widerstand gegen sozialreformatorische Maßregeln auf der Seite der Besitzenden außerordentlich verstärkt worden. Anstatt die vorhandenen Interessengegensätze zwischen den übrigen Parteien klug zu benutzen, hat man es glücklich dahin gebracht, daß sie der Sozialdemokratie, d. h. in Deutschland eben der Arbeiterpartei, gegenüber immer geschlossener auf­ treten. Man hat es ferner den Gegnern der Reform möglich gemacht, iort, wo allein materielle Interessen in Gefahr stehen, Religion, Monarchie, Vaterland und Familie als gefährdet hinzustellen. Die größten Sünden in dieser Beziehung hat wohl August Bebel aus dem Gewissen. Meinem Empfinden nach hat wenig der deutschen Arbeiter­ sache so geschadet wie sein Buch „Die Frau und der Sozialismus". Richts kann verhängnisvoller sein für jede ernste, vernünftige Arbeit ■auf sozialpolitischem Gebiete als das lächerliche Prophezeien des „großen Kladderadatsches" für die nächsten Zahre, ohne das seiner Meinung nach der „denkende Geist" nicht auszukommen vermöge. Begegneten doch sächsische Textilarbeiter der Aufforderung, sich gewerkschaftlich zu organisiren, allen Ernstes mit dem Hinweis darauf, daß man ja in ein Paar Zähren ohnehin aller Segnungen des Zukunftsstaates teilhaftig sein werde; es verlohne also nicht mehr, sich jetzt noch zu bemühen. Gewiß sind alle diese unglückseligen Tendenzen in früheren Zeiten ungleich mehr hervorgetreten als in den letzten Zähren. Und gerade seitdem die „prinzipiellen" Forderungen bei der Propaganda und der Wahlagitation gar häufig in die Rocktasche gesteckt worden sind, hat die Partei ungemein an Ausdehnung gewonnen. Nichts destoweniger ist die Partei noch weit entfernt davon, das­ jenige Verständnis für staatliche und nationale Notwendigkeiten zu be­ thätigen, ohne welches ihr Siegeslauf geeignet ist, die ernstesten Sorgen

592

Die soziale Bewegung in Deutschland.

zu begründen. Wenn für diese Haltung auch die gegnerischen Mächte sonder Zweifel mit verantwortlich gemacht werden können, so ist es doch ganz ungerechtfertigt, wenn die Sozialdemokratie, wie es noch oft ge­ schieht, die ganze Verantwortung für die Zukunft ihren Gegnern zu­ schieben will. Sie sagt noch heute wie einst Lasalle es that: Ob die Entwicklung sich allmählich, friedlich, gesetzlich vollziehen wird oder nicht, das hängt von unsern Gegnern ab. Gewähren sie nicht, was wir fordern, dann ist die revolutionäre Gewalt unvermeidlich. Das gereicht aber nicht uns zum Schaden, sondern nur den besitzenden Klaffen. Diese Wendung hätte vielleicht eine gewiffe Berechtigung in einem Staate, der den ar­ beitenden Klaffen es schlechterdings unmöglich macht, auf gesetzlichem Wege an einer Umgestaltung der sozialen und ökonomischen Zustände zu arbeiten. Zn einem Lande des allgemeinen Stimmrechts wie im Deutschen Reiche ist es aber für eine politische Partei, die diesen Namen verdienen und nicht zu einer revolutionären Sekte herabsinken will, gerade die vornehmste politische Aufgabe, nicht etwa, in Wolken thronend, Prinzipien und Ziele auszusprechen, sondern die besitzenden Klaffen auf gesetzlichem Wege zur Annahme positiver Reformen zu be­ stimmen. Sehr richtig bemerkte in dieser Beziehung v. Bollmar in seiner zweiten Eldoradorede: „Man sagt, die herrschenden Klaffen werden ja doch freiwillig niemals etwas von ihren Vorrechten ablassen. Nun, freiwillig werden sie das allerdings kaum, sondern nur genötigt. Aber es ist ein Irrtum, sich vorzustellen, daß diese Nötigung nur durch die Faust geschehen könne, daß in jeder einzelnen Frage des Staats- und Gesellschaftslebens die nackte Gewalt in Wirkung trete und entscheide. Es gibt auch noch andere. Gewalten als die Faust: die fortgesetzte, zähe Arbeit zielbewußt arbeitender Organisationen, die dadurch bewirkte Veränderung der Meinungen und vor allem die Macht der wirtschaft­ lichen Thatsachen." Mit gewiffen Vorbehalten könnte man sagen: die Besitzenden eines jeden Landes haben die Arbeiterpartei, die sie verdienen, so gut wie jede Arbeiterpartei diejenige Bourgeoisie, denjenigen Staat hat, den sie verdient. Und gerade deshalb erscheint die soziale Zukunft Deutschlands oft in recht trübem Lichte. Die mit der revolutionären Gewalt spielende Taktik eines Teiles der Sozialdemokratie macht die entgegenstehenden Mächte immer konservativer, immer lauer in allen Fragen der Reform, ja bietet ihnen sogar die Veranlaffung oder den Vorwand, um ganz friedliche Bestrebungen der Arbeiter abzuwehren. Naturgemäß trägt diese reaktionäre Haltung gerade das meiste dazu bei, die revolutionäre

Grundlinien des national-sozialen Vereins.

593

Strömung in der Arbeiterpartei zu verstärken. So sammelt sich an den entgegengesetzten Polen eine wachsende Spannung. Deshalb ist bei hervorragenden Persönlichkeiten der Gedanke ent­ standen, eine neue Partei zu bilden, welche den nationalen wie den sozialen Forderungen, die sich ja in letzter Linie gegenseitig bedingen, in gleicher Weise Rechnung tragen soll. Unter der Führung des evan­ gelischen Pfarrers Friedrich Naumann^), theilweise durch die Tagungen des evangelisch-sozialen Kongresses vorbereitet, ist im November 1896 zu Erfurt die Gründung des national-sozialen Vereins erfolgt, für deffen Thätigkeit die nachstehenden Grundlinien aufgestellt worden sind: § 1. Wir stehen auf nationalem Boden, indem wir die wirtschaft­ liche und politische Machtentfaltung der deutschen Nation nach außen für die Voraussetzung aller größeren sozialen Reformen im Innern halten, zugleich aber der Überzeugung sind, daß die äußere Macht auf die Dauer ohne Nationalsinn einer politisch interessirten Volksmasse nicht erhalten werden kann. Wir wünschen darum eine Politik der Macht nach außen und der Reform nach innen. § 2. Wir wünschen eine feste und stetige auswärtige Politik, die der Ausdehnung deutscher Wirtschaftskraft und deutschen Geistes dient. Um sie zu ermöglichen, treten wir für die ungeschmälerte Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, für eine angemessene Vermehrung der deutschen Kriegsflotte, sowie für Erhaltung und Ausbau unserer Kolonien ein. Im Interesse der vaterländischen Macht und Ehre werden wir Mißstände in unseren militärischen und kolonialen Einrichtungen stets offen bekämpfen. § 3. Wir stehen fest auf dem Boden der deutschen Reichsverfaffung und wünschen ein kräftiges Zusammenwirken der Monarchie und der Volksvertretung. Wir sind für Unantastbarkeit des allgemeinen Wahl­ rechts zum Reichstage und für Ausdehnung desselben auf Landtage und Kommunalvertretungen. Wir fordern Verwirklichung der politischen und wirtschaftlichen Vereinsfreiheit und ungeschmälerte Erhaltung der staats­ bürgerlichen Rechte aller Staatsbürger. § 4. Wir wollen eine Vergrößerung des Anteils, den die Arbeit in ihren verschiedenen Arten und Formen in Stadt und Land unter Männern und Frauen an dem Gesamtertrag der deutschen Volkswirt­ schaft hat, und erwarten dieselbe nicht von den Utopien und Dogmen eines revolutionären marxistischen Kommunismus, sondern von fortge­ setzter politischer, gewerkschaftlicher und genossenschaftlicher Arbeit auf Grund der vorhandenen Verhältnisse, deren geschichtliche Umgestaltung wir zu Gunsten der Arbeit beeinflussen wollen. Herkner, Die Arbeiterfrage. 2. Aufl.

594

Die soziale Bewegung in Deutschland.

§ 5. Wir erwarten, daß die Vertreter deutscher Bildung im Dienst des Gemeinwohls den politischen Kampf der deutschen Arbeit gegen die Übermacht vorhandener Besitzrechte unterstützen werden, wie wir anderer­ seits erwarten, daß die Vertreter der deutschen Arbeit sich zur Förderung vaterländischer Erziehung, Bildung und Kunst bereit finden werden. § 6. Wir sind für Regelung der Frauenfrage im Sinne einer größeren Sicherung der persönlichen und wirtschaftlichen Stellung der Frau und ihre Zulassung zu solchen Berufen und öffentlichen Stellungen, in denen sie die fürsorgende und erziehende Thätigkeit für ihr eigenes Geschlecht wirksam entfalten kann. § 7. Zm Mittelpunkt des geistigen und sittlichen Lebens unseres Volkes steht uns das Christentum, das nicht zur Parteisache gemacht werden darf, sich aber auch im öffentlichen Leben als Macht des Friedens und der Gemeinschaftigkeit bewähren soll. Zweifellos sind bisher nur deshalb viele Arbeiter, namentlich in evangelischen Gegenden, der Sozialdemokratie gefolgt, weil keine andere bestehende Partei ihnen die gleiche Sicherheit für eine entschiedene Ver­ tretung ihrer spezifischen Arbeiterinteressen darbot. Diesen Kreisen nun eine Partei zu eröffnen, welche in sozialer Hinsicht ebenso aufrichtig die Arbettersache vertritt, aber auch die nationalen und vaterländischen Ge­ fühle pflegt, das ist in der That eine gesunde und zeitgemäße Idee gewesen. Ob der Versuch gelingen wird, steht dahin. Der Klippen, an denen er scheitern kann, gibt es nur allzuviele. Da liegt zunächst die Gefahr vor, daß über das berechtigte Ziel der Pflege vaterländischen und nationalen Sinnes weit hinausgegangen wird. Pfarrer Naumann vertritt geradezu eine Eroberungspolitik. Deutschland soll seine Flotte möglichst vergrößern, um den Kamps gegen England zur See auf­ nehmen zu können. Dieser Kampf soll Deutschland große Kolonien in gemäßigtem Klima verschaffen. Welche Gebiete zu erobern sind, ob Kanada, Kapland oder Australien, wird noch nicht verraten. Daß in den betreffenden Gebieten die angelsächsische Kultur bereits feste Wuseln geschlagen hat, daß jene Kolonien sich der weitgehendsten Autonomie erfteuen und selbst gegen das Mutterland hohe Schutzzölle errichtet haben, scheint nicht in Rechnung gezogen zu werden. Und diesen Krieg soll Deutschland im Bunde mit Frankreich und Rußland führen. „Erst ein glücklicher gemeinsamer Seekrieg kann Frankreich und Deutschland veranlassen, sich des Gedankens europäischer Grenzstreitigkeiten zu entschlagen."

Klippen der national-sozialen Bewegung.

595

Andere Nationalsoziale scheinen an Kleinasien, wieder andere an «Eroberungen in tropischen Gebieten zu denken. Ob diese ebenso phantastischen als gefährlichen Pläne gerade auf die deutsche Arbeiterklasse eine besondere Anziehungskraft äußern werden, Läßt sich mit Fug bezweifeln. Wie in nationaler, so wird auch in sozialer Beziehung, namentlich in den Preßäußerungen und den Agitationsreden nicht selten allzuweit .gegangen. Naumann -selbst hat sich von dem marxistischen Sozialismus gefangen nehmen lassen. '6r schreibt einmal: „Ich habe öfters die Frage zu beantworten: Was sollen wir studiren, um in Ihrem Sinne arbeiten zu können? Wo diese Frage von jemand gestellt ist, der bereit ist, etliche Jahre •feines Lebens an das Studium und sein ganzes Leben an das Resultat dieses Studiums zu wagen, da gebe ich im Grunde keine andere Ant­ wort als „Marx und «Christus". Und während die Grundlinien keinen unmittelbar sozialistischen bedanken enthalten, bezeichnet sich doch das führende Organ des National-sozialen Vereines „Die Zeit" als „Organ für nationalen Sozialismus auf christlicher Grundlage". Der Glaube an den Sozialismus ruft dann notwendigerweise auch wiele Illusionen über die Leistungsfähigkeit des autoritären Staats­ sozialismus hervor, während diejenige einer freien Gesellschaft zu gering .angeschlagen wird. So kann die Überspannung des nationalen Ge­ dankens leicht die Arbeiterkreise, jene des sozialen Gedankens leicht die Besitzenden und Gebildeten der Partei entfremden. Wenn es aber der national-sozialen Bewegung auch nicht gelingen sollte, eine Partei zu entwickeln, welche unmittelbar als politischer Machtfaktor auftreten kann, so werden doch die mittelbaren Wirkungen voraussichtlich zu einem erheblichen Fortschritte in der sozialen Be­ wegung des deutschen Volkes führen. Das Vorhandensein der national - sozialen Strömung wird vor allem — das läßt sich schon heute deutlich erkennen —, den antichrist­ lichen und antinationalen Charakter der Sozialdemokratie stark in den Hintergrund drängen. Die Sozialdemokratie wird durch den national­ sozialen Wettbewerb geläutert und ihre Umwandlung zu einer Reform­ partei begünstigt. Sodann erleichtert die national-soziale Partei die Trennung der Bildung und Intelligenz von den Parteien des Besitzes. Im Rahmen des national-sozialen Vereins sinden nun viele Pastoren, Lehrer, Professoren der Mittel- und Hochschulen, Schriftsteller u. s. w., ein 38*

596

Die soziale Bewegung in Oesterreich.

angemessenes Bethätigungsfeld, die bisher, ungeachtet ihrer sozialreformatorischen Gesinnung, doch aus nationalpatriotischen Gründen, wenn auch schweren Herzens, der nationalliberalen, freikonservativen oder konservativen Partei angehörten. Entweder tragen nun diese Gruppen, um int akademisch gebildeten Mittelstände nicht an Boden zu verlieren, besser als bisher sozialreformatorischen Bestrebungen Rechnung, oder, wenn sie dies nicht thun — und das ist viel wahrscheinlicher — erscheinen sie eben klipp und klar lediglich als die Vertreterinnen konservativer Besitzesinteressen. *

*

*

Die soziale Bewegung in Österreich ist von den Ereignissen im Deutschland stets in hohem Maße beeinflußt worden. Natürlich bringen die besonderen nationalen Verhältnisse und die geringere industriellr Entwicklung manche Abweichungen hervor. Die Lassalle'sche Agitation fand in Österreich einen starken Nachhall. Es kam zu einer großem Demonstration der Wiener Arbeiter vor dem Parlamente, in derenfolge das Koalitionsrecht gewährt wurde. Auch in den 70er Zähren lief dir österreichische Arbeiterbewegung der deutschen parallel, um dann aller­ dings in weit größerer Ausdehnung als in Deutschland dem An­ archismus zu verfallen. So geriet die Arbeiterbewegung unter einen Ausnahmezustand, der kaum weniger hart war als das deutsche Sozialistengesetz. Soziale Reformen erfolgten im Laufe der 80 er Jahre auf die Initiative der katholisch-feudalen Partei hin. Die Arbeiterschutzgesetzgebung wurdenach dem Vorbilde der Schweiz, die Kranken- und Unfallversicherung nach demjenigen des Deutschen Reiches geordnet. Mit dem Eintritte Dr. Victor Adler's in die sozialdemokratischeArbeiterbewegung nahm diese einen außerordentlichen Aufschwung. Da dem österreichischen Arbeiter noch das Wahlrecht fehlte, so ist die ganze Kraft mehr und mehr auf diesen Punkt konzentrirt worden, und zwar so glücklich, daß das Ministerium Taaffe-Steinbach Oktober 1893 einen. Entwurf vorlegte, der für die Städte und Landgemeinden ein dem all­ gemeinen Wahlrecht ziemlich nahe kommendes Stimmrecht vorschlug. Diese Chance ging der österreichischen Arbeiterschaft zum Teil durchdie doktrinäre Taktik ihrer Führer, zum Teil durch die heftige Opposition der bürgerlichen Parteien verloren. Das Kabinet Taaffe fiel. Das aus Feudalen, Deutschliberalen und Polen gebildete Koalitionsministerium versuchte vergeblich eine andere Wahlreform durchzusetzen. Erst dem Kabinete des Grafen Badeni ist sie in der Weise gelungen, daß zu bett

Schwierigkeiten der österreichischen Gewerkschaftsbewegung.

597

bestehenden Wähler-Kurien noch eine neue Kurie des allgemeinen Stimm­ rechtes tritt, in welcher die Sozialdemokraten zwar in Wien und Niedervsterreich gegen die Antisemiten unterlegen sind, aber in den Industriegegenden der Kronländer beträchtliche Erfolge (13 Mandate) erzielt haben. Für österreichische Verhältnisse verdient die Thatsache besondere Berücksichtigung, daß die sozialdemokratische Fraktion des Reichsrates die erste politische Organisation bildet, in welcher deutsche, czechische und polnische Abgeordnete friedlich vereinigt sind. Die Gewerkschaftsbewegung findet auf Seiten der maßgebenden sozialdemokratischen Führer in Österreich vielleicht eine zutreffendere Beurteilung als in Deutschland. Die gesetzlichen Voraussetzungen find indes ebenso ungünstig. Sodann macht sich begreiflicherweise die Ver­ schiedenheit der Nationalität als Hindernis einer gewerkschaftlichen Organisation geltend. Und zwar kommt die nationale Verschiedenheit nicht nur insofern störend inbetracht, als der nationale Kampf in vielen Gegenden alle anderen Interessen auch bei den Arbeitern in den Hintergrund drängt, sondern selbst dort, wo unter dem Einfluffe der „internationalen" Sozialdemokratie die nationalen Gegensätze unterdrückt wurden, erschwert doch schon die Verschiedenheit der Sprache die Ver­ ständigung und ein gemeinsames Vorgehen in hohem Grade. Auch die Entwicklung der Fachpresse leidet unter diesen Verhältnissen. Zn mehreren Gewerben, z. B. in der Tischlerei, Bäckerei, Schuhmacherei u. a. m. ist die Zahl der organisirten Arbeiter beträchtlich genug, um die Herausgabe eines Fachblattes zu ermöglichen. Allein ein nur in deutscher Sprache erscheinendes Blatt vermag dem großen Teile der slavischen Arbeiter, welche in der Organisation sich befinden, nicht zu genügen. So müssen denn selbst für die Arbeiter desselben Gewerbes mehrere Fachblätter in den entsprechenden Sprachen, wenigstens deutsch und böhmisch, herausgegeben werden. Keines dieser Blätter aber ver­ mag dann einen seinen Bestand vollkommen sichernden Leserkreis zu gewinnen. Mag auch der Inhalt der Blätter derselbe sein, so ver­ ursachen Übersetzung und besonderer Satz doch große Kosten. Zn der Regel bedeutet der Unterschied inbezug auf die Rationalität auch einen Unterschied der Lebenshaltung und Bildung. Der deutsche Arbeiter fühlt sich unter Umständen bei Arbeitsbedingungen schon äußerst unglücklich, die für manchen seiner slavischen oder romanischen Kame­ raden eine ganz beträchtliche Verbesserung darstellen würden. So kommt •es nur zu häufig vor, daß Bestrebungen der int allgemeinen noch die Höchste Lebenshaltung besitzenden deutschen Arbeiter durchkreuzt werden von dem Angebote der genügsameren Arbeiter slavischen und italienischen

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Die soziale Bewegung in Oesterreich-.

Ursprunges. Dieser Wettbewerb, in welchen die Arbeiter der ver­ schiedenen Nationalitäten gedrängt werden, muß die vorhandenen na­ tionalen Antipathien naturgemäß noch steigern und ein gemeinsamesVorgehen inbezug auf den Arbeitsvertrag erschweren. Unter den wirtschaftlichen Voraussetzungen für die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter fällt die Thatsache ins Gewicht, daß die iw der Urproduktion thätige Bevölkerung in Österreich noch die großeMehrheit bildet. Soweit aber eine gewerbliche Thätigkeit sich vor­ findet, wird sie noch vielfach in der kleingewerblichen und haus­ industriellen Betriebsform ausgeübt. Der fabriksmäßige Großbetrieb erweist sich, abgesehen von den größeren Städten, der Hauptsache nach beschränkt auf Nordböhmen, Vorarlberg, Schlesien, einzelne Gebiete Mährens undNiederösterreichs. Wenn nun im Kleingewerbe auch durchaus nicht sogünstige Zustände herrschen, daß die Arbeiter aus eine besondere Ver­ tretung ihrer Klasseninteressen verzichten könnten, so verhindert doch gerade hier die häufig allerdings trügerische Hoffnung, noch einmal selbständiger Gewerbetreibender zu werden, viele Arbeiter daran, sichan der Fachvereinsbewegung zu beteiligen. Zn der Hausindustrie aber läßt das Übermaß wirtschaftlichen und moralischen Elendes, unter welchen die Meister ebenso gut wie die Hilfsarbeiter leiden, eine ziel­ bewußte und energische Organisation nicht aufkommen. Auf diesen Verhältniffen beruhen die großen Erfolge der christlich­ sozialen und antisemitischen Richtungen. Im Übrigen haben die liberalem Parteien vielleicht noch mehr als im Deutschen Reiche es verabsäumt^ Beziehungen zu den Volksmassen zu pflegen. Erst neuerdings wird eineentschiedene Sozialpolitik aus liberal-demokratischer Grundlage von einer Wiener Gruppe vertreten, zu deren Führern die Nationalökonomem Prof. v. Philippovich, Prof. Singer, M. Hainisch, O. Wittelshöfer,. der Schriftsteller Kanner, die Fabrikbesitzer E. v. Neumann und> R. Faber, der Rechtsanwalt Ofner u. a. m. gehören. Bei den Land­ tagswahlen sind ihnen in Wien bereits 3 Mandate zugefallen. Ähnliche Strömungen bestehen auch innerhalb des czechifchen Volkes (Professor Masaryk, Professor Kaizl, Dr. Kramarz). *

* *

Die soziale Bewegung in der Schweiz^) hat gleichfalls manchen Zmpulö von Deutschland aus erhalten; schon dadurch, daß viele reichSdeutsche Arbeiter in der Schweiz beschäftigt werden. Sodann war die Eidgenossenschaft während des deutschen Sozialistengesetzes das Haupt­ quartier der deutschen Sozialdemokratie. Trotzdem hat aber die sozial-

Geringe Erfolge der Sozialdemokratie in der Schweiz.

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demokratische Strömung im Sinne der reichsdeutschen nur bescheidene Erfolge zu verzeichnen. Die Schweiz zeigt aufs deutlichste, wie sehr die kommunistischen Ideen einem thatsächlich freien Volke widerstreben. Das dem deutschen nachgebildete Programm der schweizerischen Sozial­ demokratie soll nun einer Revision unterzogen werden, durch welche sich die Partei nicht mehr auf die kommunistische Doktrin von Marx und Engels verpflichtet. „Die Sozialdemokratie," schreibt einer der begabtesten schweizerischen Führer, Landrat St. Gschwind, „soll einepolitische Partei sein, und ist es auch. Als solche ist sie auf politische Aktionen beschränkt, d. h. auf Bestrebungen und Ziele, die durch die Staatsgewalt, d. h. durch die eidgenössische und kantonale Gesetzgebung und Verwaltung, verwirklicht und erreicht werden können, allenfalls noch innerhalb der Kompetenzen der Gemeinde­ autonomie liegen. Diese Bestrebungen sind ganz positiver Art, die nicht durch eine Doktrin uns aufgenöthigt werden, die sich nicht als Kon­ sequenzen einer sozialen Theorie ergeben, sondern ihren Ursprung in den klar zu Tage liegenden Interessen und Bedürfnissen der Klassen haben, die die Sozialdemokratie politisch vertreten will.... Ein doktri­ näres Programm hätte meines Erachtens nur einen Sinn und Zweck, wenn das Volk eine doktrinäre Politik triebe, auf Grund gewisser Theorien, von deren Richtigkeit es überzeugt wäre, handelte. Das ist aber bei unserem Volke durchaus nicht der Fall, es will im Gegenteile nichts von Theorien wissen und ist in seinem politischen Denken ungeheuer nüchtern, läßt sich bei Abstimmungen und Wahlen nur von seinen eigenen Erfahrungen leiten. Eine Partei, die nicht mit dieser Thatsache rechnet, kann und wird bei uns niemals einen Erfolg haben. Darum wäre es meines Erachtens nur ein Gebot der politischen Klugheit und Einsicht auf ein Programm zu verzichten, das seine positiven Forde­ rungen aus einer Lehre ableitet. Das Schweizervolk würde uns dann lange nicht mehr mit solchem Mißtrauen begegnen wie heute, und ge­ wonnen wäre doch andererseits gar nichts, wenn wir theoretischen Ballast in unser neues Programm laden. Denn, wenn wir das Volk für uns gewinnen, so geschieht es nicht wegen einer bestimmten sozialistischen Theorie, sondern trotz derselben." So nähert sich also die schweizerische Sozialdemokratie thatsächlich doch wieder der Haltung, welche lange Zeit der nationale Grütliverein bewahrt hat; d. h. sie wird die Vertreterin eines volkstümlichen Liberalismus, der von allen atomistisch-kapitalistischen Auswüchsen voll­ kommen befreit ist und in erster Linie die Interessen der Lohnarbeiter,

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Die soziale Bewegung in der Schweiz.

aber auch die der kleinen Bauern und Gewerbsleute vertritt. Es be­ stehen zwischen ihr und anderen Volksparteien keine grundsätzlichen Unterschiede. Zeder Gedanke an gewaltsamen Umsturz liegt voll­ ständig fern. „Jede Partei," führt der treffliche Dekan Kambli in St. Gallen aus, „kann bei uns mit ihren Vorschlägen, seien sie noch so sehr auf den Umsturz des Alten gerichtet, in der Presse, in Versammlungen, im Ratssaal ungescheut vor die Öffentlichkeit treten, auf dem Wege des Znitiativ-VorschlageS sogar unmittelbar ins Volk kommen; da ist das Ergreifen gewaltsamer Maßregeln von selbst ausgeschloffen. Zst die Volksmehrheit für einen Vorschlag, so wird er zum Gesetze, ohne daß es Gewalt brauchte; ist die Mehrheit dagegen, so wäre es Wahnsinn, wollte eine Minderheit dem Volke ihren Willen aufzwingen. Daraus erklärt es sich auch, warum die sozialdemokratische Partei bei uns in der Schweiz nicht rascher Boden gewinnt. Weil sie nicht verfolgt wird, entsteht im Volke nicht die Meinung, diese Richtung könnte, wenn man sie nur gewähren ließe, mit einem Schlage die soziale Frage lösen. Bei uns ist die Bahn frei, jeder Vorschlag zu positiver Änderung der sozialen Verhältnisse kann ans Volk gebracht werden; das Volk ist aber in seiner Mehrheit sehr konservativ und gar nicht zu gewagten Experinienten geneigt, immerhin aber weit zugänglicher für notwendige Neuerungen als die höheren, besitzenden Klassen." Da die Liberalen, Demokraten und Katholiken für soziale Reformen, die innerhalb der gegebenen Wirtschaftsordnung ausführbar sind, viel guten Willen bethätigen, so haben sie sich auch in der Arbeiterklasse einen zahlreichen Anhang erhalten und bis in die Gegenwart herein die Stellungen herrschender Parteien behauptet. Unter den industriell hochentwickelten Ländern Europa's besitzen also nur England und die Schweiz den Vorzug, daß die Arbeiterklasse, ihrer ganz überwiegenden Mehrheit nach, fest und treu zur überlieferten Staats- und Gesellschaftsordnung hält, daß sie zwar sehr entschieden deren Reform, aber durchaus nicht deren gewaltsamen Umsturz anstrebt. Es bedarf keiner Aufklärung darüber, daß Deutschland nicht an eine mechanische, sklavische Nachahmung englischer und schweizerischer Formen denken kann. Die Formen der politischen und sozialen Fortschritte jedes Landes müssen seiner historischen Entwicklung gerecht werden. Das Eine aber läßt sich auf Grund der vorgeführten Erfahrungen sicher behaupten, daß Deutschland die Schwelle zum sozialen Frieden nicht überschreiten wird, wenn nicht auch hier jener echt germanische, im besten Sinne des

Anmerkungen.

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Wortes individualistische Geist der Selbstverantwortlichkeit, der Selbst­ bestimmung, des Selbstvertrauens, der Freiheitsliebe, Humanität und gegenseitigen Achtung zu einer ähnlichen Entfaltung sich durchringt, wie in der Eidgenossenschaft und auf dem britischen Eilande.

Anmerkungen. 1. Man vergl. auch für die folgenden Ausführungen außer den bekannten Werken von Gervinus, Häußer, Oncken, Perthes, Pertz, Philippson, Ranke, Schlosser, Sybel und Treitschke: Bamberger, L., Die Französelei am Rhein, wie sie kam und ging. Demokratische Studien. Herausgegeben von Ludwig Walesrode. Hamburg 1861. S. 217-285; Biedermann, Deutsch­ lands geistige, sittliche und gesellige Zustände im 18. Jahrhundert, insbesondere 2. Bd. 2. Teil. Leipzig 1880. S. 1070—1225; Cavaignac, G., La formatiern