Dichtung und Sprache des jungen Gryphius: Die Überwindung der lateinischen Tradition und die Entwicklung zum deutschen Stil [Reprint 2012 ed.] 9783110817683, 9783110003413


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German Pages 146 [164] Year 1966

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Table of contents :
Vorbemerkung
I. Teil: Die Bedeutung der sprachlichen Tradition für die Entwicklung des deutschen Stils zu Beginn des 17. Jahrhunderts
Kapitel I: Definitionen und Forschungsüberblick
Kapitel II: Gryphius’ Stellung zum lateinischen Sprachgebrauch seiner Zeit
II. Teil: Gryphius’ eigene lateinische Dichtung
Kapitel I: Herodis furiae et Rachelis lachrymae (1634)
Kapitel II: Dei vindicis impetus et Herodis interitus (1635)
Kapitel III: Olivetum (1648)
Kapitel IV: Epigrammatum liber I (1643), Parnassus renovatus und kleinere lateinische Gelegenheitsgedichte
III. Teil: Gryphius’ Übersetzungen aus dem Lateinischen
Kapitel I: Nicolaus Causinus: Felicitas
Kapitel II: Altlateinische Hymnen
Kapitel III: Die neulateinischen Dichter. Übersetzungen aus Bidermann, Bauhusius, Sarbiewsky
Kapitel IV: Die Enthusiasmen Jacob Baldes: Sylv. lib. VII, 8 bzw. 7, Lyric, lib. II, XXXIX
IV. Teil: Gryphius’ Neudichtungen in deutscher Sprache, veranlaßt durch die Balde-Übersetzungen: Die Kirchhofs-Gedancken (1657)
V. Teil: Die sprachliche Entwicklung in Gryphius’ Jugenddichtungen
Anhang I: Spezialliteratur
Anhang II: Lateinische und deutsche Textvorlagen
Anhang III: Neuere Spezialliteratur (bibliographisch) seit 1936
Anhang IV: Ergänzungen zum Darstellungsteil auf Grund neuerer Forschungen seit 1936
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Dichtung und Sprache des jungen Gryphius: Die Überwindung der lateinischen Tradition und die Entwicklung zum deutschen Stil [Reprint 2012 ed.]
 9783110817683, 9783110003413

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Dichtung und Sprache des jungen Gryphius Die Überwindung der lateinischen Tradition und die Entwicklung zum deutschen Stil

von

Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert

Zweite, stark erweiterte Auflage

Walter de Gruyter & Co · Berlin vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & Comp.

Aus den Abhandlungen dei Preußischen Akademie der Wissenschaften Jahrgang 1936, Phil-Hist. Klasse. Nr. 7

© Archiv-Nr. 457566/1 Copyright 1966 by Walter de Gruyter te Co., Tarmala G. J . Göschen'sche Vcrbgahandlung — J . Gutteatag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trttbner — Veit te Comp. Alle Rechte des Nachdrucke, der photomechanischcn Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Druck: Rotaprint-Druck Werner Hildebrand, Berlin

Inhalt. I.Teil:

Vorbemerkung. Die B e d e u t u n g der s p r a c h l i c h e n T r a d i t i o n f ü r die E n t w i c k l u n g des d e u t s c h e n S t i l s zu B e g i n n des 17. J a h r hunderts. Kapitel I : Kapitel 1 1 :

Definitionen und Forschungsüberblick. Gryphius' Stellung zum lateinischen Sprachgebrauch seiner Zeit.

II. T e i l :

G r y p h i u s ' eigene lateinische Dichtung. Kapitel I : Herodis furiae et Racheiis lachrymae (1634). Kapitel I I : Dei vindicis impetus et Herodis interitus (1635). Kapitel I I I : Olivetum (1648). Kapitel I V : Epigrammatum liber I (1643), Parnassus renovatus und kleinere lateinische Gelegenheitsgedichte.

III. T e i l :

G r y p h i u s ' Ü b e r s e t z u n g e n aus d e m L a t e i n i s c h e n . Kapitel I : Nicolaus Causinus: Felicitas. Kapitel I I : Altlateinische Hymnen. Kapitel I I I : Die neulateinischen Dichter. Übersetzungen aus Bidermann, Bauhusius, Sarbiewsky. Kapitel I V : Die Enthusiasmen Jacob Baldes: Sylv. l i b . V I I , 8 bzw. 7, L y r i c , lib. I I , X X X I X .

IV. T e i l :

G r y p h i u s ' N e u d i c h t u n g e n in d e u t s c h e r S p r a c h e , v e r a n laßt d u r c h die B a l d e - Ü b e r s e t z u n g e n : Die K i r c h h o f s G e d a n c k e n (1657). D i e s p r a c h l i c h e E n t w i c k l u n g in G r y p h i u s ' J u g e n d d i c h tungen.

V. T e i l : Anhang Anhang Anhang Anhang

I: II: III: IV:

Spezialliteratur. Lateinische und deutsche Textvorlagen. Neuere Spezialliteratu;· (bibliographisch) seit 1936. Ergänzungen zum Darstellungsteil auf Grund neuerer Forschungen seit 1936.

Wentzlaff-Eggebert

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Vorbemerkung zur ersten Auflage In dieser Untersuchung von Gryphius' Entwicklung zum deutschen Dichtungsstil ist ein Teilgebiet deutscher Sprachgeschichte unter zwei Gesichtspunkten bearbeitet worden: Erstens sollte der sprachliche Vorgang der endgültigen Loslösung der deutschen Dichtersprache von den traditionellen Formen lateinischer Gelehrtenpoesie an einem besonders geeigneten Beispiel dargestellt werden. Zweitens sollte die wenig bekannte lateinische Jugenddichtung des Andreas Gryphius charakterisiert und ihre Verbundenheit mit seiner späten deutschsprachigen Dichtung gezeigt werden. Beide Aufgaben berühren ein wichtiges Gebiet der Gryphiusforschung: sein Verhältnis zur deutschen Sprache. Wenn im Titel auf diese umfassende Formulierung verzichtet wurde, so sprechen mehrere Gründe dafür. Vor allem fehlen die hauptsächlichsten wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine so wenig begrenzte Themastellung. Bisher ist ein Gesamtüberblick über Gryphius' Sprachentwicklung noch nicht möglich, da mehrere seiner frühen Dichtungen noch1 nicht aufgefunden sind. Außerdem fehlt eine gültige Monographie des Dichters, in der die Fragen der Chronologie seiner gesamten lateinischen und deutschen Dichtung so weit beantwortet wären, daß das Bild seiner Sprachentwicklung in Übereinstimmung mit dem Lebensgang aufgezeichnet werden könnte. So beschränkt sich diese Darstellung von Gryphius' Entwicklung zum deutschen Stil im wesentlichen auf die obengenannten beiden Ziele, wobei als Grundlinie der Untersuchung die Erforschung eines bestimmten genetischen Vorgangs innerhalb der sprachlichen Entwicklung des Dichters beibehalten ist. Im Verlauf der dazu notwendigen Interpretationen ergab sich von selbst ein Überblick über die frühe lateinische Dichtung des jungen Gryphius, für die eine eigene Untersuchung wenig lohnend gewesen wäre. So gering vom künstlerischen Gesichtspunkt aus diese lateinische Jugenddichtung zu bewerten sein mag, für die Gesamtwürdigung der dichterischen Leistung des Andreas Gryphius ist sie aus Gründen der Entwicklungschronologie seiner Sprache und als notwendiger Unterbau für die Beurteilung des Hauptwerkes unentbehrlich; denn gerade die Zweisprachigkeit in den poetischen Versuchen der Frühzeit gewährt dem Betrachter einen guten Einblick in die Entwicklung vom lateinischen zum deutschen Dichtungsstil. Außerdem sehen wir in diesen Jugendpoesien die ersten Ansätze einer Frömmigkeit, aus denen sich das Wesen des Dichters formt, der später Selbstgefühltes zu sagen weiß und der damit die Bahnen gesellschaftlicher Unterhaltungskunst verläßt. Je klarer die Befreiung vom lateinischen Vorbild und je entschiedener die Trennung von den konventionellen Formen zeitgenössischer Gesellschaftsdichtung bei einem Dichter dieses Jahrhunderts zu erkennen ist, desto deutlicher offenbart sich sein persönlicher schöpferischer Anteil an der Neugestaltung des deutschen dichterischen Stils.

Vorbemerkung

zur ersten

Auflage

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In diesem Rahmen ist hier die Jugenddichtung des Andreas Gryphius in ihrer Bedeutung fur die Entwicklung der deutschen Dichtersprache gesehen worden. Mancherlei Hilfe wurde mir bei diesen Forschungen zuteil: Der Preußischen Akademie der Wissenschaften fühle ich mich für die Drucklegung besonders verpflichtet. Hr. Professor Dr. Julius Petersen unterzog die Arbeit einer genauen Durchsicht und befürwortete ihre Aufnahme in die Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Hr. Dr. Adolf Beck unterstützte mich bei einer letzten Korrektur des Manuskripts. Allen Genannten, besonders auch meiner Frau, die mir unermüdlich bei Manuskript- und Korrekturarbeiten half, sei an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt.

Vorwort zur zweiten Auflage Zwischen der Entstehung der lange vergriffenen ersten und der hier vorgelegten, stark erweiterten, zweiten Auflage dieser Abhandlung liegen nahezu 30 Jahre. Ich sehe mich auch jetzt noch nicht in der Lage, eine umfassende Darstellung von A. Gryphius' Verhältnis zur deutschen Sprache zu geben, selbst wenn inzwischen durch die hier besprochenen Veröffentlichungen von M. Szyrocki und H. Conrady günstigere Voraussetzungen dafür geschaffen sind. Die Grenzgebiete zu solcher Fragestellung sind noch nicht genügend erschlossen. Flemings, Opitz' und Christian Gryphius' lateinische Poesien müßten erst genauer analysiert werden. Diese Neuauflage ist so angelegt, daß meine früheren Ergebnisse durch einen Bericht über die neuere Forschung ergänzt werden. Ich habe diesen in mehreren Anhangskapiteln angefügt und die Bibliographie auf den heutigen Stand der Forschung gebracht. In dem Darstellungsteil der Abhandlung sind gegenüber der ersten Auflage nur die Formulierungen verändert, in denen zu sehr der »genetische« Vorgang der sprachlichen Entwicklung betont wurde. Das Nebeneinander von lateinischer und deutscher Dichtung bei A. Gryphius wird dadurch stärker akzentuiert. Die Frage nach der Befreiung von der lateinischen Tradition steht gleichberechtigt neben der nach der Entwicklung zum deutschen Dichtungsstil. Leider konnte ich in den Zitaten nicht den von Szyrocki und Powell kritisch edierten Text der jetzt bei Max Niemeyer erscheinenden Gryphius-Ausgabe benutzen, da ein photomechanischer Abdruck der Abhandlung vorgesehen war. Der deutschen Forschungsgemeinschaft bin ich besonders dankbar, daß ich diese zweite Auflage während einer Gastprofessur in den U S A zum Druck vorbereiten konnte. Auch den Bibliotheken in Berkeley und San Francisco möchte ich für stete Hilfsbereitschaft an dieser Stelle aufrichtig danken.

Dichtung und Sprache des jungen Gryphius

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ι. Teil.

Die Bedeutung der sprachlichen Tradition für die Entwicklung des deutschen Stils zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Kapitel I. Definitionen und Forschungsüberblick. Zwischen Reformations- und Aufklärungszeitalter spielt sich der Kampf um die Befreiung von ausländischer Sprachbevormundung und lateinischer Tradition in Deutschland ab. In diesem Ringen um die Ausprägung einer deutschen Nationalsprache soll die eine Phase der Entwicklung, die Benutzung der ausländischen Sprachvorbilder und Opitz' Verdienste um die Gleichberechtigung der deutschen Dichtersprache, hier unberücksichtigt bleiben. Es hat sich aus den Übersetzungsübungen dieses Zeitalters ergeben, daß die Einflüsse, die von den lebendigen Sprachen der Nachbarländer Deutschlands ausgingen, sich nicht hemmend, sondern eher fördernd auf das Streben nach einer nationalen Dichtersprache auswirkten. Allzulange ist das Problem der Entstehung unserer Dichtersprache in diesem Jahrhundert einseitig unter diesem Gesichtspunkt betrachtet worden. In den folgenden Kapiteln soll daher das Schwergewicht auf dem Begriff der l a t e i n i s c h e n T r a d i t i o n hegen, mit allem, was sich in der Entwicklung einer Nationalsprache an stilistischen Bindungen durch das Vorhandensein derartiger überlieferter fester Formen ergibt. Diese Formen einer toten Sprache behindern im 17. Jahrhundert besonders stark die Ausbildung der deutschen Dichtersprache. Nicht nur einzelne Formeln, sondern die Gesamtstruktur des lateinischen Dichterstils wird in den neuen Formen dichterischer Gestaltung immer wieder spürbar. So wird unter der Formel »lateinische Tradition« in dieser Arbeit all das verstanden, was im Anfang des 17. Jahrhunderts an lateinischem Sprachgut bekannt war und was entweder als Bildungsgut auf Schulen und Hochschulen weitergegeben oder dichterisch als Vorbild (Stoff und Form) verwertet wurde. Zu betonen ist dabei, daß unter dem »Stil« dieser lateinischen Tradition nicht nur dichterische Ausdrucksmöglichkeiten im formalen Sinn begriffen sind, sondern die Gesamtheit von Inhalt und Form der dichterischen Äußerungen überhaupt. Im Vordergrund der Betrachtung bleibt also das sprachliche Gesetz, das der Dichtung zugrunde hegt. Es handelt sich außerdem nicht nur um neulateinisches Dichtungsgut; einbegriffen sind klassische Vorbilder (Vergil, Ovid, Horaz) und geistliche Literatur (Vulgata, Hymnen). Inhaltlich und formal wird in diesem Untersuchungszusammenhang also ein Neben- und Nacheinander von geistigem Gut aus Antike, Renaissance und Reformation (in lateinischer Sprache) unter der Formel »lateinische Tradition« verstanden. [Vgl. dazu Conrady S. 222 ] Für die Frage nach Gryphius' Anteil an dieser.lateinischen Tradition ist aus der Fülle des humanistischen Wissensstoffes damaliger Zeit nur das ausgewählt, was für seine deutsche Dichtung später Bedeutung gewann. Die Darstellung verfolgt nicht die einzelnen Motive, Bilder oder gar einzelne Themen der Lyrik. Sie kann sich daher nicht auf Übernahme, Umwandlung oder Zerstörung von Formen be-

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schränken. Es werden ganze Dichtungen aus der Jugendzeit analysiert, die bisher literaturvissenschaftlich nahezu unbearbeitet, teils sogar textlich völlig unbekannt geblieben sind. Dabei werden manche Gebiete berührt, die zum ersten Male in Gryphius' Dichtung eingeordnet werden müssen, so daß die eigentliche Formenanalyse abschnittweise der Interpretation einzelner Dichtungen weichen muß. Im wesentlichen handelt es sich dabei um die Dichtung des j u n g e n Gryphius, selbst wenn die späterliegenden »Kirchhofs-Gedancken« mit einbezogen werden, bis zu denen sich diese sprachliche Entwicklung ausdehnt. Chronologisch kann demnach Gryphius' Mühe um die Überwindung der lateinischen Tradition nicht zu streng auf die Jugendzeit beschränkt werden. Zu diesen Fragen wurde in der literaturwissenschaftlichen Forschung noch nicht eingehend Stellung genommen. Das Problem der Entwicklung der deutschen Dichtersprache des 17. Jahrhunderts aus ausländischen oder antiken Vorbildern blieb als Ganzes unerörtert. Zwar sind in Deutschland während der letzten zehn Jahre mehrere Versuche nach dieser Richtung gemacht worden. Alle gehen aber in der Materialforschung völlig verschiedene Wege. Es ist hier nicht der Platz für einen ausfuhrlichen Literaturbericht, zumal all diese Arbeiten den Mitforschern auf diesem Gebiet hinreichend bekannt und in zahlreichen Rezensionen ausführlich beurteilt sind1. Am nächsten steht in der Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung die Arbeit von Hans Pyritz 2 , der den lateinischen Vorstufen von Paul Flemings deutscher Liebeslyrik nachgeht. Vielleicht wäre in dieser Untersuchung das Thema der lateinischen Tradition in weiterem Umfange zur Sprache gekommen, wenn die Fragestellung nicht so stark auf die Liebeslyrik beschränkt gewesen wäre. So geht Pyritz zwar erstmalig dem »Petrarcismus« nach3, läßt aber das Problem der lateinischen Tradition im oben definierten Sinn beiseite. Gerade bei Fleming hätten sich dafür in der geistlichen Dichtung gute Ausblicke ergeben. Das Übersetzungsproblem verfolgen außer Pyritz auch Alewyns und Trunz' Barockforschungen4, die sich aber auf die Umformung antik-griechischer und ausländischer Vorbilder beschränken. Für diese Übersetzungsinterpretationen bot sich in ihrer speziellen Fragestellung nicht das geeignete stoffliche Material, um die Frage nach der lateinischen Tradition bei einzelnen Dichtern des 17. Jahrhunderts genauer zu erörtern. Unmittelbar mit der hier gestellten Aufgabe berühren sich zwei materialreiche Arbeiten aus den letzten Jahren, auf die hier kurz eingegangen werden muß: 1

Vergleiche für weitere Literaturangaben die Anhänge I und I I I . i.

- »Paul Flemings Suavia«, Münchener Museuni f. Phil. d. Mittelalters u. d. Renaissance Bd. V,1 H. 3, S. 251—321 und »Der Liebeslyriker Paul Fleming in seinen Übersetzungen« Zs. f. Dt. Philol., Bd. 56, H. 4, S. 410—436. Außerdem »Paul Flemings deutsche Liebeslyrik«, Leipzig 1932. Palaestra Bd. 180. 3 Vgl. die Rez. in der D L Z . Jhg. 33, Sp. 924fr. 4 R. Alewyn, Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie, Heidelberg 1926. E. Trunz: Die deutsche Übersetzung des Hugenottenpsalters, Euphorion 29, S. 578ff., vgl. auch den Anhang.

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das Buch von A. Joseph, Sprachformen der deutschen Barocklyrik (Rottach a. Tegernsee 1930), und das von G. Fricke, Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius (Berlin 1933). Joseph greift am Beispiel der Horazübersetzungen die Frage nach der Bedeutung der lateinischen Sprache und ihrer Formeln für die Übersetzungssprache im 17. Jahrhundert auf. Aus Einzelvergleichen der verschiedenen Fassungen untereinander werden klar formulierte Ergebnisse gewonnen: Für die Übersetzer blieb das Ziel ihrer Arbeit die Gewinnung eines »Motivenschatzes« und eines »rhetorischen Formulars« (S. 13). So wurde der Ertrag einer Übersetzung nur für die »Dichtkunst«, nicht für die »Reimkunst« wertvoll. Die lateinische Dichtung einschließlich der Neulateiner, die von Joseph als Fortsetzer der Römer in der Dichtung angesehen werden (S. 10/11), war demnach »ein Stapelplatz erhabener Mythologie, rarer Antiquitäten, bewährter Weisheit , Fundgrube jeder poetischen Gattung, der gedanklichen Disposition rhetorischer Figuren, dichterischer Mittel aller Art« (S. 12). So bestätigen sich in dieser Untersuchung die bisher als allgemein bekannt angesehenen Anschauungen von der Bedeutung der Übersetzungen aus dem Lateinischen. »Die Absicht auf Deutlichkeit führt, wie überall im 17. Jahrhundert, zur Breite, zur Vervielfältigung, Wiederholung, Umschreibung, nicht zur Präzision« (S. 20). Die Besonderheiten im deutschen Stil dieser Zeit werden an Einzelbeispielen in den Horazübersetzungen nachgewiesen, darunter die Schwellung (S. 36 ff.), die Sprachbewegung (S. 77ff.), die Metapher (S. I34ff.), die Antithetik (S. 138ff.), der Superlativismus (S. 141 ff.). So nachdrücklich hier an einzelnen Stilerscheinungen der deutschen Sprache der Zusammenhang mit der lateinischen Vorform verglichen wird, so oft auch die Unmöglichkeit einer Nachahmung der lateinischen brevitas nachgewiesen wird, so erhalten wir doch nur Einzelergebnisse, die bei verschiedenen Übersetzern zu erkennen sind. Für die allgemeine Entwicklung des deutschen Stils aus der lateinischen Tradition ist heute Conradys Arbeit maßgebend. [Vgl. Anhang III u. IV.] Das Buch von G. Fricke über die Bildlichkeit bei Gryphius nimmt eine Sonderstellung ein. Dem Material nach ist es ausschließlich auf den bei Palm abgedruckten Texten aufgebaut und verwertet das Bildmaterial zu Untersuchungen über Formprobleme des 17. Jahrhunderts. Ich darf auf ein näheres Eingehen an dieser Stelle verzichten und auf meine ausführliche Besprechung in der DLZ. Jhg. 33, Sp. i65off. verweisen. Frickes Methode geht darauf hinaus, daß zwar das Bildmaterial nahezu vollständig untersucht, daß aber der Blick bei der Bildanalyse nicht rückwärts auf die Wurzelschichten der Bilder gewendet wird. Und so ist eine gerade bei Gryphius wichtige, der deutschen Dichtung vorgelagerte Schicht nicht mitberücksichtigt worden. In diesem Fall zum Vorteil der eigentlichen Aufgabe, die sich Fricke gestellt hat; denn so ist von ihm der Vorgang der Bildverwertung nach strukturellen Gesichtspunkten am Beispiel verdeutlicht und das eigentliche Stilphänomen, »die Art und Verwendung der Bildlichkeit« bei Gryphius klar gekennzeichnet worden. Hätte Fricke die V o r s t u f e n , die lateinische Jugenddichtung, mit einbeziehen wollen, dann wäre das Material so weitläufig und so schwer zu ordnen gewesen, und es hätten sich so starke Abhängigkeiten vom lateinischen Vorbild gezeigt, daß

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der Vorgang der Strukturveränderung im bildlichen Ausdruck (Versachlichung des Gefühls) nicht mehr deutlich genug erkennbar geblieben wäre. [Fortsetzung des Forschungsüberblicks im Anhang III ] Auch für die vorliegende Arbeit ist eine Methode, die dem raschen Kombinieren von sprachlichen Zusammenhängen zwischen lateinischer Vorlage und deutscher Übersetzung nicht stattgibt, die Voraussetzung. Durch Analyse des Wortmaterials und durch Einzelinterpretationen der in bestimmten zeitlichen Abständen vorhegenden eigenen lateinischen Dichtungen bzw. deutschen Übersetzungen aus dem Lateinischen (durch Andreas Gryphius) muß der Fortgang der sprachlichen Wandlung vom lateinischen zum deutschen Stil nachgewiesen werden. Dafür bleibt Gryphius' Jugenddichtung die stoffliche Grundlage. Daß hier ein besonders günstiges Beispiel für eine Stiluntersuchung vorliegt, geht aus den einzelnen Materialschichten hervor, die größtenteils zum erstenmal stil- lind dichtungsgeschichtlich betrachtet werden. Gryphius beginnt mit eigenen lateinischen Dichtungen, den beiden Herodesepen, die durch das Olivetum und ein bisher noch nicht aufgefundenes Golgathaepos fortgesetzt werden. Diese ersten Versuche erstrecken sich annähernd bis zum Jahre 1640, also bis zu seinem 24. Lebensjahr. Dazwischen liegen seine Ü b e r s e t zungen aus der frühchristlichen geistlichen Dichtimg (lateinische Hymnen) und aus dem Kreis der Neulateiner, wie Causinus, Bidermann, Bauhuis, Sarbiewsky und Balde. Gleichzeitig beginnen die ersten Übungen in deutscher Sprache, die in den Lissaer Sonetten neben den Übersetzungen anzusetzen sind. Es sind Umstilisierungen von Bibeltexten, Kirchenliedern und geistlichen Paraphrasen aus dem Jahrhundert der Reformation. Die endgültige Wendung zum deutschen Stil liegt in den Jahren, in denen die »Kirchhofs-Gedancken« entstehen, in denen Gryphius seine Balde-Übersetzungen in einer selbständigen deutsch-sprachigen Odenform neu dichtet. Mit dem Beginn der dramatischen Dichtung 1645/46 ist diese in mehreren Schichten sich vollziehende Entwicklung vom lateinischen zum deutschen Stil abgeschlossen. [Vgl. dazu Anhang IV.] Bei der langsam fortschreitenden Befreiung vom lateinischen Vorbild überwiegt in der Darstellung dieser sprachlichen Entwicklung die Interpretation der lateinischen Texte; allerdings wird gleichzeitig (mit einem Blick auf die Einzeldichtung im Rahmen von Gryphius' gesamtem poetischen Werk) der gedankliche Gehalt und die dem jungen Dichter eigentümliche Formgebimg im Lateinischen dargestellt, um dadurch den Zusammenhang der Jugenddichtung mit den Schöpfungen der Reifezeit herauszuheben. Bei dieser Untersuchung von Inhalt und Form der lateinischen Dichtung ist die Darstellung auf Zitate und Beispiele angewiesen. Solche Textproben sind notwendig, da die Dichtungen entweder nach Photokopien benutzt sind oder schwer zugänglichen Einzelexemplaren entstammen. Ebenso ist es mit den Übersetzungsvorlagen, die auch nur noch vereinzelt in den Bibliotheken Deutschlands vorhanden sind. Das häufige Zitieren verlangt mancherlei Rückblicke und verschleppt dadurch allzuleicht die rasche Bewegung der Schilderung. Nicht alles Material

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war mir zugänglich, manches so unvollständig, daß es für die stark ineinandergreifende Beweisführung nicht mehr verwendbar war. Einzelne neue Forschungsaufgaben, die auf das Problem der Entwicklung der deutschen Dichtersprache hinausliefen, taten sich auf. Als wichtigste eine Untersuchung über Opitz' deutschen Stil unter besonderer Berücksichtigung seiner lateinischen Dichtung. [Vgl. Anhang IV.] Die Vorarbeiten, die V. M a n h e i m e r vor 30 Jahren geleistet hat (Die Lyrik des Andreas Gryphius, Berlin 1904), habe ich stets berücksichtigt. In seiner Darstellung fehlen die zwei Abschnitte über »Gryphius und die lateinische Dichtung« und über »Gryphius als Übersetzer« (vgl. Manheimer S. VI). Ich habe mich in dieser Untersuchung bemüht, zu diesen beiden Themen alles nachzutragen, soweit die lateinischen Texte noch auffindbar sind. Auch auf die Arbeit von E. G n e r i c h sei dankbar verwiesen (Andreas Gryphius und seine Herodes-Epen, Leipzig 1906). In Gnerichs Untersuchung findet sich außer den heute noch sehr wertvollen stoffgeschichtlichen und chronologischen Forschungen zu den Herodes-Bearbeitungen vor Gryphius ein Abdruck der beiden Herodes-Epen, der aber durch die modernisierte Zeichensetzung für Stilvergleiche wenig geeignet ist. (Vgl. auch S. 13 dieser Arbeit). In dem Nachtragsband zu Hermann Palms Gryphius-Ausgabe, den ich für die Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart zu liefern, beauftragt war, sind Gryphius' sämtliche lateinische Jugenddichtungen und lateinische Übersetzungsvorlagen neu gedruckt worden. [Zur neuen Gryphius-Ausgabe vgl. Anhang III ] Kapitel Π. Gryphius' Stellung zum lateinischen Sprachgebrauch seiner Zeit. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts steht Gryphius einer lateinischen Sprachform gegenüber, die mit der goldenen Latinität nicht mehr gleichzusetzen ist. Schon im 16. Jahrhundert entsteht aus den Kämpfen um die sprachliche Führung in Deutschland eine »Mischform« des Lateinischen. Paul H a n k a m e r hat diesen Vorgang an den Dichtern des 16. Jahrhunderts unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Sprache dargestellt. Wir haben in seiner Untersuchimg (Die Sprache, ihr Begriff und ihre Deutung im 16. und 17. Jahrhundert, Bonn 1927) die ersten A n sätze zur Festlegung der einzelnen Sprachprobleme dieser Zeit 1 . Wenn ich für einen Überblick über den Sprachstand des Lateinischen bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts einige von Hankamers Zusammenfassungen benutze, um die Umformung der römischen Sprache unter der Einwirkung von Humanismus und Reformation zu kennzeichnen, so möchte ich dadurch hauptsächlich Klarheit in der Ausdrucksweise herbeizuführen suchen. Gryphius hat sich in seinen eigenen lateinischen Dichtungen und später in seinen Übersetzungen immer mit antiken, renaissancehaften und humanistischen Sprachvorbildern auseinandergesetzt, so daß die Grundlinien dieser sprachlichen Prozesse vorgezeichnet und die termini technici klargestellt sein müssen. 1 Vgl. die Rezension in der D L Z . Jg. 28, Sp. 269fr. — Vgl. jetzt besonders zu M . Szyrockis verdienstlichen Veröffentlichungen die Anhänge I I I und IV.

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Um die Wende des 15. und im 16. Jahrhundert wirkt sich in Deutschland die Wiederbelebung der Antike im Sprachlichen so aus, »daß man die mittelalterliche Weltsprache — das Latein — nicht mehr als ein lebendig Entwicklungsfähiges fühlte, sondern den antiken Sprachgebrauch als gültige Vollendung wieder erreichen wollte.« (Hankamer S. 5.) Solche Reform der lateinischen Sprache, die durch mancherlei unrichtige, nicht antike Gebilde zerstört scheint, vollzieht sich derartig, daß man »zu einer klassischen als zur ersten und einzig wahren Gestalt zu gelangen« sucht. »Eine verwirklichte Sprachgestalt — das Latein der klassischen Literatur — wird allein als richtig und echt gewähnt und gegen das entformende, wandelnde Leben und Weiterleben der Folge protestierend hingestellt.« (Hankamer S. 6). Weil später diese klassisch normierte Sprache in Deutschland nicht mehr genügte, trat das Deutsche im 16. Jahrhundert seinen eigenen Weg zum Sieg an. Hankamer begründet diese Umkehr mit Recht durch die Gewalt des »Sprachgefühls«. »Die Vertiefung des Sprachgefühls (als Voraussetzung jeder Vertiefung des Begriffs und der Deutung) konnte nur erfolgen im Gebrauch des Deutschen. Zunächst, weil die Einheit von Sprache und Geist ungleich inniger ist, als der Humanismus zu fassen vermochte und letzte Tiefe des Sprachlebens sich voll nur in der Muttersprache eröffnet. Des weiteren, weil die unmittelbare Art des Sprechens deutlich werden mußte . . « (Hankamer S. 14/15.) [Vgl. dazu Conrady passim.] Diesen Satz könnte man der Schilderung von Gryphius' Entwicklung vom lateinischen zum deutschen Stil voranstellen. Wiederholung an Stelle von Neuprägung ist nicht über Jahrhunderte in der Sprache eines Volkes möglich, das Bekenntnisse und Kulturerkenntnisse weiterzugeben hat. Die Reformation bringt die Wendung zur sprachlichen Neuschöpfung. Sieht man Luthers Bedeutung für die Sprachformung des Deutschen unter dem Gesichtspunkt, daß er selbst aus dem klösterlichen Humanismus, dem konservativsten Zentrum der lateinischen Sprache kommt, so erscheint seine deutsche Schriftsprache als noch gewaltigere Leistung. Man fragt sich aber auch immer wieder, wie es nach Luthers Prägung der deutschen Sprache dahin kommen konnte, daß ein Jahrhundert später die meisten Dichter Deutschlands noch einmal eine Eniwicklung von der lateinischen zur deutschen Sprache durchmachen mußten. War Luthers Sieg nicht entscheidend gewesen ? Diese Frage beantwortet sich auch hier durch die soziologischen Voraussetzungen jener Epoche, in der ja neben Luther eine gleichwertige Bildungsschicht (Melanchthon und die deutschen Humanistenkreise) die lateinische Sprache beibehielt. Die verschiedenartigen Z i e l e , die erstrebt wurden, brachten jeweils die Entscheidung in der Frage, ob man die deutsche oder die lateinische Sprache wählen sollte. Meist gab die bessere Wirkung auf die Publikumskreise, für die Wort oder Schrift bestimmt waren, den Ausschlag. Luthers Kampf war angesetzt gegen die Sprache des Humanismus, der Gottes Wort dem deutschen Volk in einer ihm unbekannten Sprache vortrug, der Gottes Wort also verbarg, da dieses deutsche Volk die Sprache des Humanismus nicht verstand. Wohl verstanden sie die Gelehrten. Diese Gelehrten waren gegen Ende des 16. und im Anfang des 17. Jahrhunderts die Dichter in der h o h e n Kunst.

Dichtung und Sprache des jutigen Gryphius

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Ihre Dichtung wurde von allen Gelehrten der Welt verstanden, wenn sie lateinisch war. Sie wendete sich an Humanistenkreise und wurde dort gelesen und gewertet. Allmählich aber richtete man sich nicht mehr ausschließlich nach diesem Kurs der Welt- oder der Gelehrtensprache. Die Nationalsprachen kamen zur Geltung und beherrschten die Dichtung. In Deutschland erfolgte diese Reaktion erst später, dokumentierte sich dann aber auch in dem ausgesprochenen Willen zu einer Nationalsprache. Opitz war der Führer dieser Bewegung. Doch wurde dieser Kampf mit den früheren sprachlichen Formen nicht mehr so schwer wie der, den noch Hutten als D i c h t e r des Humanismus und Luther als K ü n d e r des Gotteswortes gekämpft haben. In Opitz' Lebensjahren geht es um die Ausdrucksformen und poetischen Feinheiten der Dichtersprache, wobei die Nachahmung der a u s l ä n d i s c h e n , weniger der l a t e i n i s c h e n Vorbilder eine Rolle spielt. So ist auch in der Forschung immer der Akzent auf die Abhängigkeit von den Formen der ausländischen Dichtung gesetzt worden, besonders der italienischen (Guarini), französischen (Plejade), spanischen (Mystik), holländischen' (Pietismus). Weniger wurde darauf geachtet, daß innerhalb der deutschen Grenzen das Latein als jahrhundertelange Tradition bis in die Zeit nach Luther hinüberreichte und so das Werden der Sprache beeinflußte. Hermann G u m b e l hat in seiner »Sonderrenaissance in deutscher Prosa« (Frankfurt 1930) für die deutsche Prosa den grammatischen und syntaktischen Zusammenhang mit der lateinischen Sprache herausgeschält (S.23ff.). Die ganz auf die P r o s a abgezielte Untersuchung bringt notwendigerweise für die anderen literarischen Gattungen wenig Ergebnisse; trotzdem ist sie für den Überblick über die bisher auf dem Gebiet der lateinisch-deutschen Stilvergleichung geleistete Arbeit methodisch von allgemeiner Wichtigkeit, wenn auch nicht mehr in dem gleichen Maße wie bei Gumbel Formulierungen wie lateinisch = klassisch lateinisch als Richtschnur der vergleichenden Stilkunde für das ausgehende 16. Jahrhundert Geltung haben können (S. 27). Bereits um 1600 müssen wir mit einer anderen ausgebildeten Sprachschicht rechnen: mit dem N e u l a t e i n . Wir kennen zwar lange schon die neulateinische Dichtung aus zahlreichen großen Arbeiten, die ihre Geschichte darstellen, aber bisher wurden diese Arbeiten mit dem Blick auf das Weiterleben der Antike in diesen neulateinischen Dichtungen geschrieben, und selten wurde die neulateinische Dichtung als Vorstufe der deutschen Dichtersprache gesehen. [Diese Lücke füllen jetzt Conradys Forschungen aus.] Unter diesem Gesichtswinkel erhält aber die lateinische Dichtung der deutschen Barockzeit ihre eigene Bedeutung und entsprechende literarhistorische Bewertung. Das Problem der Sprache muß dabei im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Von Gryphius' deutscher Sprache sagt Hankamer mit Recht: »Als Sprache der Sehnsucht von Hirn und Herz quoll sie um so glühender, maßloser über die Lippe« (S. 114). 1 Für den Einfluß Vondels vgl. die für die Gryphiusforschung wichtige Arbeit von H e i n z H a e r t e n , Vondel und der deutsche Barock, Nijmegen 1934, bes. S. 93fr. — Neuere Literatur dazu Anhang III.

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F. W. WentzJaff-Eggebert:

Gryphius ist einer der Zauberer des Wortes, der den göttlichen Geist in der Sprache sucht, um Ewiges zu sagen. Treffend wendet Hankamer auf ihn das Bild an, daß Gryphius aus dieser Sehnsucht heraus »Zentnerworte auf Zentnerworte häuft, wie um das Unendliche so zu erreichen« (S. 112). Worin aber seine Handhabung der deutschen Sprache ihren Ursprung hat, zeigt sich nur in der lateinischen Vorform und in dem langsamen Prozeß der Überwindung ihrer Tradition. [Zur neueren Forschung vgl. die Anhänge III und IV.] II. Teil.

Gryphius' eigene lateinische Dichtung. Kapitel I. Herodis furiae et Racheiis lachrymae (1634). Man darf bei der lateinischen Jugenddichtung des Andreas Gryphius nicht nur von der Vorstellung ausgehen, als handle es sich hier allein um Schulexerzitien. Gryphius war nicht von Lehrern seines Gymnasiums in Fraustadt angehalten, lateinische Epen zu schreiben. Daß er gut Latein konnte, berichten ausfuhrlich die lateinischen Lebenschroniken. Der äußere Anlaß für die Entstehung der Epen beruhte aber nicht allein in der üblichen Verbeugung vor Lehrern und Mäzenen. Die dichtungsgeschichdichen und weltanschaulichen Untergründe der Herodes-Epen zeigen sich erst dann, wenn die anderen lateinischen Dichtungen und Übersetzungen in den Kreis der Betrachtung mit einbezogen werden. Dann erst schließt sich eine zusammenhängende Themenkette. Gryphius' zweites lateinisches Jugendwerk war das Olivetum. Auch diese Dichtung von Christi Leidensstunden auf dem ölberg bedeutet mehr als ein reines exercitium linguae latinae. Daß in diesen ersten Versuchen viel von vorher bereits gebrauchten Gedanken, Bildern und Formeln der Aldateiner verwendet wird, daß sich diese Vorbilder nachweisen lassen, ist nicht so wichtig für den Gesamtzusammenhang, in dem diese Dichtungen stehen. Um Gryphius' Jugendwerk historisch richtig zu sehen, muß immer der Abstand von seinem klassischen Vorbild eingehalten werden, sonst ergibt sich allzuleicht eine Interpretation des Vorbildes, nicht aber der Gryphius-Dichtung. Dieser Gefahr ist Gnerich bei der Untersuchimg (a. a. O.) über Gryphius' Herodes-Epen nicht entgangen. In seiner jetzt beinahe dreißig Jahre zurückliegenden sehr exakten, philologischen Arbeit wird beinahe Zeile für Zeile nachgewiesen, woher der »Schüler« Gryphius seine Phrasen bezog. Auf der vorzüglichen Belesenheit Gnerichs in den klassischen lateinischen und griechischen Autoren beruht der Erfolg der Untersuchimg. Es bleibt aber nichts an Ergebnissen für Gryphius' Dichtung. Höchstens der Eindruck, daß er im Verhältnis zu seinen Vorbildern nur schlecht lateinisch dichtete; außerdem ist Gnerich mit dem Textabdruck recht willkürlich verfahren. Der Blick des Lesers wird durch die zahllosen Verweise auf die Vorbilder von Gryphius' Gedicht abgelenkt, und ihm wird der Eindruck vermittelt, daß hier das klassische Vorbild durch Beispiele, die den höchsten Grad sprachlicher Vollendung erreicht haben, den Versuch eines Nachschaffenden nahezu erdrückt, obwohl dieser andere Ziele mit seiner Dichtung verfolgt. Außerdem ist die Inter-

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punktion des Originals beinah getilgt und nach den Gesetzen des klassischen Lateins normalisiert. Dadurch verliert aber eine Dichtung des 17. Jahrhunderts formstilistisch den eigenen Charakter. Die Interjektionen, Fragen und Ausrufe treten auf diese Weise nicht hervor. Man muß sie aus dem grammatischen Aufbau herauslesen. Besondere Stileigentümlichkeiten wie Substantiv- und Adjektivhäufungen, Asyndeta und Anaphern sind dadurch kaum erkennbar. Andererseits hat sich Gnerich durch den Nachweis der literarischen Quellen für die Herodes-Epen größte Verdienste erworben. Über alle Einzelfragen, die die Entstehungsgeschichte der Epen, die Möglichkeiten der Beeinflussung durch andere neulateinische Herodes-Dichtungen der Zeit betreffen, gibt er genaue Auskunft. Wir verdanken ihm eine Aufzählung der schlesischen Herodes-Dramen, die als Schülerarbeiten schwer auffindbar sind. (Vgl. auch die Vorarbeiten von J a h n im Jahresbericht des Stadtgymnasiums in Halle, Jhg. 15. 1883.) Eine grundsätzlich andere Orientierung ist für diese Forschungen vorzunehmen. So wenig diese Epen allein Schuldichtungen sind, so wenig sind sie Neudichtungen nach aldateinischem Vorbild mit überzeitlichem Inhalt. Nicht allein das Problem des mehr oder minder häutig übernommenen Wort- und Bildmaterials aus Ovid, Virgil, Horaz oder den nachchristlichen Lateinern steht im Mittelpunkt der Forschung. Die Epen sind besonders mit den Humanisten- und Jesuitendichtungen um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert zu vergleichen, ja darüber hinaus mit den frühen Versuchen des gleichen Autors in deutscher Sprache. Im folgenden werden Schilderungen von einzelnen Situationen aus dem Stoffkreis der Herodes-Dichtungen von Bidermann, Barlaeus und anderen herangezogen werden, aber niemals mit dem Ziel, das im Sinngehalt ähnlichere Wort zu finden. Die Vergleiche werden nur durchgeführt, um Gryphius' eigenen Stil und seine eigene Einfuhlungskraft in dies Thema an den poetischen Versuchen Gleichaltriger zu messen. Gryphius' »Herodis Furiae et Racheiis lachrymae, Carmine Heroico, Cantatae, Ploratae « gibt schon als Titel für das erste der zwei Herodes-Epen wenigstens in Grundzügen den Inhalt an. Es liegt aber in dieser Formulierung nicht nur eine thematische Inhaltsangabe, sondern — gleichsam symbolisch für die Gesamtform der dichterischen Erzählung — eine deutliche Antithetik: Herodis furiae steht gegen Racheiis lachrymae. An der biblischen Erzählung gemessen, deutet dieser Titel außerdem an, daß in ihm nicht das ganze Geschehen um Herodes' Person verstanden ist; ein zweiter Vorgang wird angekündigt, der von Gryphius den Titel erhielt: »Dei Vindicis Impetus et Herodis Interims. Heroo Carmine celebratus.« Dem irdischen Geschehen, dem Kindermord und der Klage der Mütter im ersten Teil wird im zweiten Teil Gottes strafende Vergeltung und der qualvolle Tod des Herodes gegenübergestellt. Nicht eine Episode aus dem Herodesstoff ist zum Thema genommen, denn es bleibt nicht bei der Beschreibung von Herodes' Plan und Gesinnung gegen den neugeborenen Christus oder bei der Beschreibung des Kindertodes, sondern Spieler und Gegenspieler sind deutlich konfrontiert. Christus und Antichristus, Himmel und Hölle stehen gegeneinander. Viel weitere

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Bereiche als sonst sind in die Darstellung des Herodesstoffes mit einbezogen. Daraus wird der Plan der Dichtung deutlich. Es handelt sich — wie erwähnt — nicht allein um eine sprachliche Übung. Dazu hätte er eins dieser obengenannten Themen wählen können. Ihm liegt daran zu zeigen, wie Gottes Strafe über den Frevler kommt, der sich vermißt, zum Richter über Menschen zu werden. G o t t e s Ruhm will der Dichter verkünden und will offenbaren, wie seine Hand schirmend und richtend über menschliches Tun gebreitet ist. Es liegt etwas von der jugendlichen Begeisterung eines frommen Eiferers in der Wahl dieses Themas. Die Kräfte für die vollendete Gestaltung eines geistlichen Gedichtes sind allerdings noch zu unentwickelt. Die Beschreibung einer biblischen oder historischen Wirklichkeit nimmt noch zu viel Raum ein. Wenn aber dem Herodes-Epos als nächstes Jugendwerk das Olivetum folgt, so festigt sich mir bei der Eigenart und dichterischen Reife dieser Dichtung der Gedanke immer stärker, daß über die gewöhnlichen Schul- und Gelegenheitspoesien hinaus darin aus echter Frömmigkeit und poetischem Ehrgeiz ein religiöses Gedicht größeren Ausmaßes geschaffen werden sollte. Mitten in dem für Schlesien besonders leidvollen Kriege entstehen diese drei Jugendepen: Herodes I und I I und das Olivetum. Wieweit in ihnen bereits eine bestimmte konfessionelle Tendenz zu erkennen ist, ist eine Frage, die erst am Schluß der Arbeit beantwortet werden kann. Für die Interpretation selbst, für die Betrachtung des Stils und der Bildersprache des jungen Gryphius ist es nicht unwichtig, ob hier ein heißes Herz den Schilderungen Leben gibt oder ob nur der Lernende am Werk ist. Trotz der lateinischen Form scheint die Dichtung ein Teil seines Selbst. In der Sprache, im Rhythmus, im Bildgebrauch und Vergleich offenbart sich eine Leistung, die nicht nur Erkenntnisse über die seelische Spannweite des Dichters ermöglicht, sondern auch die Versuche der Gleichaltrigen kennzeichnet. Vielleicht spricht hier noch nicht der Dichter, eher ein phantasiebegabter junger Erzähler mit einem ungewöhnlichen Einfühlungsvermögen in biblische Stoffe, in dem sich aber schon der Sinn für die dramatische Steigerung bemerkbar macht. Die biblische Handlung wird zwar ihrer Realität beraubt, bleibt dafür aber im Irrealen voll höchster Spannung, denn immer stehen Gottes Reich und das Höllenreich gegeneinander. Heidentum und Christentum werden zum Hintergrund für Spieler und Gegenspieler. Der junge Gryphius wählt den Hexameter als Versmaß, der ihm von Homer, Vergil und Ovid geläufig ist, und der für den lateinischen Stil des 17. Jahrhunderts das epische Maß darstellte. Trotzdem wirkt der Eingang der Dichtung, der an das Wunder von Christi Geburt, an das Weihnachtsfest erinnert, völlig unlateinisch. Der Ton von Luthers Weihnachtsliedern ist deutlich vernehmbar, worauf bereits Gnerich (S. 152) hinweist. Nach einer Apostrophe an das Christkind in der Krippe kommt es gleich zu der üblichen Anrufung der Muse — hier ins Christliche gewendet zu einer Anrufung des heiligen Geistes (Z. 2 9 — 3 0 ) M a n sieht schon nach den 1 Zitiert wird das Herodes-Epos nach dem Abdruck von Gnerich. Wegen der photomechanischen Herstellung dieses Teiles der zweiten Auflage habe ich auf Textkorrekturen nach meiner eigenen Edition verzichtet. Lediglich Interpunktionen wurden gebessert.

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ersten Zeilen deutlich, wie das christliche Moment in der Darstellung überwiegt. Gryphius liegt es nicht so sehr an dem Herodes-Stoff als an dem Gedicht auf die frühen Verfolgungen Christi, die er seinen Mitmenschen vor Augen fuhren möchte, um ihnen — in Parallele zum Zeitgeschehen — zu zeigen, daß selbst Christus die schwersten Leiden durch den Menschenhaß ertragen mußte. Darauf spielen die ersten Zeilen des Widmungsgedichtes an: »Dum belli passim toto furit orbe tumultus. Et versa in ciñeres Patria moesta jacet, D u m varias coeli spargunt de culmine poenas Numina, dum cunctos vasta ruina premit: Haec mea squallenti frontem redimita cupresso Tristia de pueris carmina Musa dédit.« (Ζ. ι — 6 . )

Nach der Einleitung setzt dann sofort die Handlung im Epos ein. Man kann beinahe von einer dramatischen Szene sprechen, wenn man den Aufbau der Höllenversammlung betrachtet. Der »Regnator Averni« hat alle Höllenbewohner zusammenkommen lassen, da er sein Reich durch Christi Geburt bedroht glaubt. Man erlebt die Entstehung der ganzen Szene. Das unheimliche Nahen der unzählbaren Schatten versteht Gryphius durch besondere Verben, die sich in einer Zeile häufen, gut zu veranschaulichen: »Mox veniunt adsuntque, ruunt, glomerantur in unum Innumerae pestes Èrebi naribusque favillas, Flammam oculis efflant, éructant faucibus ignes.« (Z. 44—46.)

Schon in diesen wenigen lateinischen Versen deutet sich der gehäufte Verbgebrauch an, der später für die deutsche Barocksprache typisch wird. Die Szene entwickelt sich nach einem später häufig wiederholten Prinzip. Vor jeder längeren Rede wird die Person des Sprechers genau beschrieben, in direkter Rede seine Ansprache wiedergegeben, die möglichst viele Steigerungen enthält. Daran schließt sich eine ausfuhrliche Schilderung der Wirkung, die die Rede auf die Zuhörer macht. Durch dieses Schema, das an Homer erinnert, versucht Gryphius, die Spannung und das Miterleben seiner Leser wachzuhalten. Trotz der Unoriginalität unterscheiden sich diese epischen Formen doch von den meisten Darstellungen des Herodes-Stoffes aus der gleichen Zeit. Lucifer selbst nimmt in dieser Versammlung das Wort. Ehe der Dichter dessen Rede wiedergibt, beschreibt er ihn ausfuhrlich. Inmitten der unterirdischen Geister sitzend, gebietet er Ruhe über das unruhige Hin und Her, unwillig wirft er die Schlangenhaare zurück und schüttelt den Dreizack; feurige Blitze zucken an seinem Bart hinab, das ganze Haupt scheint in Feuer gehüllt: »Lucifer in medio donee consedit et omnem Lustravit coetum fervens umbrasque tacere Jussit et horrentes in tergum reppulit angues Perque humeros errare dedit dextraque tridentem Extulit iratus, flagrantibus hispida rivis Barba madet, totoque fluunt incendia vultu, ..« (Z. 50—55.)

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Unter tiefem Seufzen bringt er seine Warnungen über den neugeborenen König vor: »Tum corde sub imo inclusum rabida patefecit voce dolorem: Nulla salus superest miseris, sic saevit in orcum Conditor altitonans! multos dominata per annos Regia nostra ruit, jacet en prostrata potestas.« (Z. 58—60.)

Seine Rede ist eine Klage um die verlorene Macht: die Zeit sei da, daß sich den Menschen die Himmelspforten öffnen werden, während die Höllenbewohner fliehen müssen. Er selbst, Lucifer, werde vom Sohne Gottes besiegt, in Fesseln geschlagen, zum Gespött der Himmlischen werden. Und da entringt sich ihm der Schrei um den Machtverlust : »Heu nimium miseros, quos coelo Conditor arc(e)t. Et Natus terris Orcoque! En nascitur aetas Aurea, iam redeunt pietas, concordia, virtus, Cum virtute fides! nostra de plebe triumphum Ecce c a n u n t . . . . « (Ζ. 77—81.)

Mit der raschen Aufzählung der nahenden Feinde, die jetzt die Macht haben werden, wie Pietas, Concordia, Virtus, Fides, Justitia, die laut über die Hölle und ihre Bewohner triumphieren, erreicht er den Höhepunkt seiner Klage: ». . .resonant jam climata mundi Coelicolum plausu; sic, sic nos numina torquent.« (Z. 82—83.)

Daran schließt sich die Schilderung von der Wirkung dieser Rede auf die Zuhörer. Alle Höllenbewohner, die in einzelnen Gruppen aufgezählt und beschrieben werden, geraten mehr und mehr in Angst. Für diese Angststimmung findet Gryphius eine Fülle von passenden Verben: Exclamant, trépidât (turba), dant gemitum, pavent, sunt murmura. An dies »murmura« knüpft er den Vergleich von dem fernen Rauschen der Meeresbrandung und dem grollenden Donner des abziehenden Gewitters (Z. 89 bis 91). So wirkt sich die Nachricht von Christi Geburt in der Hölle aus. Aber Gryphius setzt jetzt andere Figuren ein. Der Darstellung von der Angst und Bestürzung folgt die der Wut- und Kriegsstimmung wider den neugeborenen Christus, symbolisiert in der Gestalt des Taphurgus. Es wiederholt sich der Typus der Reden, wie er oben kurz charakterisiert wurde. Nur steht die Stimmung des ganzea Abschnitts in stärkstem Kontrast zur Rede Lucifers. Wieder folgt die Schilderung des Sprechers, aber hier in grausigeren Attributen (Z. 92 bis 96). Wieder löst sie eine Rede ab, wenn auch in völlig anderem Stil. In ununterbrochener Folge reihen sich jetzt zwölf Fragesätze, teils in sich unterbrochen, aneinander: »Siccine tarn vanis turbari Tartara monstris? Siccine diriguit vigor omnis? sumite vires! Quae nova corrupit nostros formido furores? Quo rabies innata périt? quis territat O r c u m ? . . . . « (Ζ. 97—ιοο.)

Noch über zehn Zeilen hinaus folgen so die Fragesätze aufeinander, auch über den Höhepunkt der Rede hinaus, der in dem Teil anzusetzen ist, in dem Taphurgus

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den neugeborenen Christus, den vorher Lucifer als Sieger über die Hölle und über sich selbst angekündigt hatte, verächtlich macht: »Quis territat Orcum? An miser ille puer? . . . « (Ζ. iooff.). Etwa dieser arme hilflose Knabe, der in der schlimmsten Not aller Habe und Mittel entbehrt? Abgeschlossen wird diese Redeszene durch das Nahen eines Boten, der im üblichen Stil, in dem man deutlich Vergils Formen heraushört, eine Schilderung von den Vorgängen auf der Erde gibt. Die Nachrichten von dort bekräftigen Lucifers Befürchtungen: »Ven it summa dies . . . . Tartarei proceres ! fiiimus ! fuit Orcus et ingens Gloria nostra ! ruit nunc alto a culmine avernus!« (Z. 122 bis 124). Die folgenden Reden Lucifers und Beelzebubs sind dem allgemeinen Redestil angepaßt. Auch hier wird das Schema von der Nachwirkung der Rede und die Beschreibung der Sprechenden aufrechterhalten. Vgl. Beelzebubs Schilderung (Z. 155 bis 158). Lucifer hetzt nochmals zum Kampf, und Beelzebub schlägt vor, sich der Person des Herodes als Werkzeug der Hölle gegen Christus zu bedienen. Auf indirektem Wege wird so die Hauptperson in die Handlung eingeführt, und zwar mit der Begründung, man solle den Himmlischen nicht offenen Kampf ansagen, sondern den Herodes vorschicken, der ja alle Teufel und selbst Beelzebub, seinen Lehrer, noch an teuflischer Gesinnung übertreffe. Schon vor dem Auftreten des Herodes gibt Gryphius in der Rede Beelzebubs eine Schilderung von dessen Charakter: »Est mihi prodigium cunctis immanius hydris, Tygride mobilius rabida, violentius igne, Aerius Harpyjis, rapidis incertius undis, Herodes...« (Z. 162—165).

In einer Reihe von Vergleichen und in der Voraussage von zukünftigen Untaten des Herodes wird die Charakteristik fortgesetzt. Ist dies auch noch die unentwickelte Form der Charakterschilderung einer Hauptperson, so bedeutet sie doch schon gegenüber den sonst üblichen Selbstbeschreibungen durch die Hauptperson selbst (Hans Sachs-Stil) einen erheblichen Fortschritt. Gryphius baut diese Technik später noch mehr aus. Vorerst ist die Art der Schilderung noch ohne besonders kunstvolle Mittel durchgeführt, wirkt aber in der direkten Rede und in dem vorher gut gezeichneten Rahmen der Höllenversammlung sehr lebendig. Sie endet mit der Ankündigung des Themas für das ganze Epos: »Hunc ego, nam nostrae res est accommoda turbae, In furias et in arma dabo (ne quaerite formam) Praecipitem. Hic pueri per costas exiget ensem.« (Z. 1 8 1 — 1 8 3 . )

Damit ist die große Eingangsszene geschlossen. Selbst aus den wenigen Textproben für den Aufbau dieser ersten Szene wird schon deutlich, daß hier mit wenigen Mitteln die Form des Epos durch dramatische Steigerungsmomente aufgelockert ist. Überblickt man Anordnung und Inhalt der Reden, die Botenschilderung, die zweimalige Umstimmung von Angst in Wut, und denkt man an die Art der Einführung Wentzlaff-Iiggobcrt

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der Hauptperson, des Herodes, so stellt sich damit das Schema einer gebräuchlichen Exposition im Drama dar. Diese mehr dem Dramatischen zuneigende Art der Schilderung erhält sich im ganzen ersten Teil des Herodes-Epos. Die nächste Szene spielt in der Oberwelt. Die Weisen aus dem Morgenlande nähern sich Jerusalem und betreten den Palast des Herodes. Darauf setzt eine ausführliche Schilderung des Palastes ein, der mit seinen üppigen, mit Gold und Elfenbein gezierten Säulen einer homerischen Götterwohnung ähnelt. Herodes tritt auf, nimmt auf goldenem Thron Platz und stellt die klassischen stereotypen Begrüßungsfragen, bei denen wieder stilistisch die vielen kurzen Sätze und Frageformen auffallen (Z. 220). Es folgen dann eingehende Schildeningen der Weisen und ihrer astrologischen Bemühungen, alles im Sprachstil des 17. Jahrhunderts, mit der ganzen Vorliebe der Zeit für Edelsteine, Sterne und Himmelserscheinungen. Auch Herodes' eigene Magier verkünden das gleiche Geschehen, den Anbruch des goldenen Zeitalters. In diesen allgemeinen Szenen fallen keine besonderen Stilmittel auf, weder bei der nun folgenden Schilderung der Unruhe unter den Bürgern von Jerusalem, die durch falsche Gesichte von den Höllengeistern erschreckt werden, noch bei den eigentlichen Herodesszenen. Dieser kann keine Ruhe und keinen Schlaf finden, da Beelzebub selbst in seine Seele gefahren ist: »Fervida corda ferit spargitque per ossa furorem.« (Z. 430.)

Erst hier setzt eine für Gryphius typische Schilderung ein. In kurzen Sätzen und wiederholten rhetorischen Fragen wird Herodes' Angst und Unentschlossenheit wiedergegeben. Bei seinen Betrachtungen über das eigene Los, die rhetorische Formen nach Homers und Vergils Vorbild aufweisen, fallen nur die Frageketten auf, die sich über zwanzig Zeilen hinziehen. Später finden sich solche Frageketten in Gryphius' deutschen Dichtungen als besondere Stileigentümlichkeiten wieder. Hier in der lateinischen Dichtung zeugen sie von dem Reichtum der Phantasie, durch den Gryphius seine Vorbilder übertrifft (Z. 438—456). Einen klaren Abschluß erhalten diese Frageketten durch bewußt geformte Sätze, die dann schlagwortartig wie Szenenschlüsse im Drama wirken. So heißt es von allen Überlegungen des Herodes: »Sic ait, ast humiles despexit Conditor iras.« (Ζ. 456.)

Nun schaltet sich ohne Übergang eine völlig neue Schilderungsform ein, die im Gesamtstil der Darstellung von den Höllen- und Herodesszenen grundverschieden ist. Hier wird zu den später folgenden Greuelszenen des Kindermordes, die dem Dichtungsstil des jungen Gryphius besonders entsprechen und die auch im Jesuitendrama bereits ausfuhrlich vorgebildet sind, der Ausgleich in einer lyrischen, phantasieerfullten Anbetungsszene geschaffen. Die plötzliche Verlegung des Schauplatzes im Epos wirkt wie ein Szenenwechsel im Schauspiel. Ausgedehnte Schilderungen der Landschaft gehen voran. In der Anbetungsszene gelten die vorbereitenden Zeilen der Leuchtkraft des Sternes, der

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sein Licht über den Berg mit der Höhle (spelunca) breitet, die vom Widerschein des goldenen Glanzes erfüllt ist. Mit diesem himmlischen Licht ist die ganze Ärmlichkeit der Grotte geschwunden. Goldbeschwert treten die Weisen ein und sind von der Überfülle des Lichtes geblendet (Z. 475—480). In den gewähltesten Worten der biblischen Sprache schildert Gryphius liebevoll Mutter und Kind. Über beide ist ein besonderer himmlischer Lichtschimmer gebreitet. Um Marias Scheitel wandern goldglänzende Sterne, und ihre Füße scheinen auf dem Lichtkreis des Mondes zu ruhen, während sie dem heiligen Kinde Nahrung spendet: »Ecce autem in medio residet sanctissima Virgo Solis inardescens radiis, stellaeque videntur Errantes capiti circum aurea tempora pasci, Sub pedibusque piis lumen diffondere Phoebe. Virginis in gremio cernunt (pro jubila!) nudum Infantem, radiis illustrem ac luce coruscum, Ubera siccantem Mariae; . . . (Z. 481—487).

Kaum durch Wechselreden zwischen Joseph und den Weisen unterbrochen, wird die Schilderung der »Anbetung« fortgesetzt. In immer wieder abgewandelten Attributen und Namen preisen die Weisen Maria: . . . »Regina poli, te, o sancta Tonantis Sponsa, D E I genetrix, Virgo castissima, Mater Inviolata D E U M et enixa puerpera Regem, Qui coeli ter: . "¡que gerit per sécula sceptrum.« (Ζ. 508—5ΐι.)

Dann wenden sie sich an den göttlichen Knaben. Zu ihm beten sie als zu »Jesum, sanctum de Numine Numen, quod DEUS aeterna produxit origine, Verbum salvificum verumque hominem...« (Z. 512fr.). Hier ist auf die Anwendung von biblischen Formeln in der lateinischen Version zu achten (vgl. auch Gnerich, S. 165). Dann gleitet die Schilderung wieder in die Wirklichkeit zurück. Pracht und Glanz der Geschenke und des Gefolges werden im Stil Marinos eingehend beschrieben, immer wieder unterbrochen von Versen der Anbetung und Verehrung der heiligen Familie. Vergleiche spielen in die attributreichen Schilderungen hinein. Alles ist auf Zartheit und matte Farben abgestimmt. Marias Augen und Antlitz werden im Widerschein des himmlischen Sternenlichtes zum Bilde der göttlichen Lima, die sternenumkränzt am Himmelsbogen dahinfahrt (Z.525—534). Schließlich redet Maria zu den Weisen von den Rätseln der heiligen Nacht und der Geburt. Währenddessen erfüllt sich das letzte Wunder: »Sol ruit interea et montes umbrantur opaci, Cum niveis volucer motis exercitus alis, Caelestes subito juvenes toto aethere visi, Nubibus impositi, liquidas cantare per auras; Atque ubi ter stabulum ternis toto agmine versi Lustravere choris, ter lustravere choréis, Concentu petiere polum; jam plausibus aether Dissultat, totoque sonant jam jubila campo.« (Ζ. 539—546.)

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Es liegt in der Darstellung von dem Erscheinen der Engel über der heiligen Familie nicht nur der Ausdruck der Verzauberung, die durch das Wunder der heiligen Nacht in dem Dichter hervorgerufen ist, sondern es prägt sich darin schon der Wille zur Stilisierung und das Vermögen aus, sich in biblische Schilderungen einzufühlen. Die Art, wie Gryphius die himmlische Vision in wenigen Zeilen veranschaulicht, wie er, einem frommen Bildner ähnlich, den ganzen Hintergrund auszufüllen weiß mit den auf Wolken ruhenden oder hinüber und herüber wallenden Chören der Engel, das alles deutet auf seine dichterische Gestaltungskraft der späten Jahre. Diese auf Çoldgrund gemalte Anbetung gibt den übrigen Szenen erst eigenen Wert und Bedeutung. Die folgenden Partien bringen keine wesentlich neuen Stilmittel in der Schilderung. Es wird erzählt, daß die Weisen auf den Rat einer himmlischen Stimme hin nicht zu Herodes' Palast, sondern in ihr Land zurückkehren. Diese Nachricht bringt nun den äußeren Anstoß zum Kindermord. Herodes wird geschildert als ein Löwe, dem das Lamm aus den Pranken gerissen ist und der jetzt blindwütig an der ganzen Herde seine Rache kühlt. Er schleudert sein Diadem zur Erde und ruft nach seinen Waffen ; vor Wut versagt ihm die Stimme. Inzwischen hetzt Beelzebub seine Geister auf die Soldaten, um ihnen Blutdurst und Kampfeslust einzuflößen. Dies sind Abschnitte im epischen gleichmäßigen Stil, der am klassischen Erzählerton geschult ist. Eine später für Gryphius typische Stilform enthält die große Rede des Herodes, in der er seine Soldaten zum Kampf aufruft. Die kurzen rhetorischen Fragesätze und Ausrufe über seine augenblickliche Lage verdichten sich gegen Schluß und damit gegen den Höhepunkt hin so stark, daß man schließlich nur noch eine Reihe von unverbundenen Imperativen vorfindet, die so gehäuft sind, daß sie die Maße des Hexameters sprengen: » . . . V o s ite manipli, Tollite tela citi, rapite enses, spargite flammas! Claudite iter, capite, irruite et restinguite pestem!« ( Z . 6 2 7 — 6 2 9 . )

Überprüft man an diesem Beispiel die Frage nach der Abhängigkeit vom klassischen Vorbild, so kann man wohl eine Zeile dieser Imperativreihe bei Vergil, Äneis IV, 593, nachweisen... »ite, // ferte citi flammas, date tela, inpellite remos!« Darüber hinaus führt aber die Steigerung bei Vergil nicht. Bei Gryphius dagegen machen gerade die darauf folgenden Imperative die besondere Stilform aus. Es werden sich später immer wieder Feststellungen über den Einfluß des klassischen Lateins machen lassen, besonders in der Jugenddichtung. Aber auch dort zeigt sich immer mehr, wie ein anderes Sprachgesetz das Wortvorbild sprengt. Vor der Mordschilderung enthält nur noch die Szene von der heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten stilistische Besonderheiten. Dort ist die Darstellung Jacob Bidermanns heranzuziehen, der in seiner »Herodias« die gleiche Situation beschreibt. Dadurch läßt sich Technik und Stil der Erzählung bei zwei Gleichaltrigen an demselben Stoff vergleichen, wobei man noch die Übersetzung von Heerman benutzen

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kann. Die äußere Umgebung für diese Szene ist bei beiden die gleiche. Es handelt sich um die bekannte Traumszene in einer Höhle, in der ein Engel dem heiligen Paar zur Flucht rät. (Bidermann, Herodiados Liber I, S. 14—15.) »Huîc aetate graui, vix prima papauera somnus Sparserat, offusâ placidae caligine noctis: Cùm species, humeros oculosque1 decora, iacenti Adsti(tit), et gemitu prior eluctante, Quietus Ergo iaces? blandaque senex, ait, vteris umbrâ. Omnia tuta ratus, Iosippe? nec ista moraris Quas Puero clades, quas Matti bella minentur? Adspice, quae coëant gentes! ad fuñera quanti Armentur cumulanda greges! Cras agmine toto Ad peritura ruet iuratus moenia praedo; Iamque ruit, mora nulla datur: fuge, et utere nocte, Tuque Puerque tuus : . . . Ipse subibo comes Simul haec, simul omnia circùm Intremuêre metu « In der Übersetzung von Heerman, die für den deutschen Stil dieser Z e i t im Vergleich zu Gryphius' späterem deutschen Stil besonders aufschlußreich ist, lautet die Stelle folgendermaßen (einige Zeilen sind ausgelassen): » Es hatte kaum den Alten Bey eingeschlichner Still' und Finsternüess der Nacht Der Schlaff den ersten Mahn an seine Stime bracht / So hat zum Lager sich gestellet ein Gesichte / Dem Leib und Antlitz nach geziert mit hellem Lichte / Und da der Seuffzer Ach es aussgelassen vor / Gesagt : So liegstu hier und schlaeifst auff beydes Ohr I Geneist / O greisser Mann / den angenehmen Schatten / Und meinest / daß dir sey von aller Furcht gerahten. Wie ? schlägstu in den Wind / was man dem Kinde dreut / Und wie der Mutter man den letzten Krieg anbeut! Schau / was vor Völcker sich in einer Rotten gleichen / Was vor ein Heer sich rüst zu häuffen Leich' auff Leichen. So bald der Tag anbricht / bricht mit der gantzen Macht Der Wittrich auf die Stadt / da alle Stärck' und Pracht Der Mauren fallen sol; Es dient hier kein verweilen / Das Heer reist fliegend fort; So fleuch / fleuch fort mit eilen / Gebrauche dich der Nacht / du und dein Kind zugleich / Ich wil dir an der Seit' auch gehen fort für fort. So bald Es diss, so bald hat alles sich vor zagen Erschüttert umb und umb « (Heerman, Abschnitt 7.) In den Tatsachen decken sich lateinischer T e x t und Übersetzung mit dem, was bei Gryphius in größerer Ausführlichkeit geschildert wird. Gryphius ordnet aber den gesamten Stoff völlig anders. D e r Unterschied wird besonders deutlich bei der D a r stellung der Auswirkung dieser Gesichte auf Maria und Joseph. A u c h Wortwahl und 1 Die Abkürzungen sind in diesen Textproben ausgeschrieben; sonst wurde die Orthographie beibehalten.

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Gruppierung der himmlischen Stimmen sind bei ihm wirkungsvoller. Die gehobenere Sprache überwiegt, die, von den Vergleichen abgesehen, mehr den biblischen Ton trifft. >>Sed Virgo, genetrix summi castissima Regis, Insomnis vigilat: non blandam lumina noctem Accipiunt, pavidos subitus tremor occupât artus, Sanguis abit, mentemque calor corpusque relinquit. Circum se tristes morientum audire querelas Visa sibi, armorum strepitus clangorque tubarum Excruciant animum. tetrae ludibria noctis, Fulgentes gladios, horrentes vimine fasces, Spinas ac fustes, stillantes sanguine clavos Atque crucem celsam per nigras conspicit umbras: Omina dira mali, praenuntia signa furoris.« ( Z . 6 8 2 — 6 9 2 . )

Gryphius schaltet auch dichterischer und eigenwilliger mit dem Vorbild aus den Evangelien. Maria ist für ihn der Mittelpunkt der ganzen Traumszene. Sie liegt in unruhigem Halbschlaf. Ihr Blut unterbricht seinen Kreislauf, ihr träumt von Sterbenden, von Waffenlärm und drohender Kriegsgefahr. Sie sieht gekreuzte Schwerter und erblickt am Himmel die Symbole für Christi Leiden, Ruten und Dornen, Spieße und Ketten und das riesige Kreuz von Golgatha. Aber auch Joseph gibt ausfuhrlich in direkter Rede den Rat wieder, den ihm ein Himmelsbote brachte: » . . . summa D E I virgo, fuge, surge ! propinquat Herodis glomerata manus, quae perdere natum Expetit, en Genius coelo demissus abire Praecipit insomnis mihi dicens: Surgito, Matrem C u m puero tecum r a p e . . . « ( Ζ . 696—700.)

An kleinen Zügen der Darstellung bemerkt man dabei immer wieder die dichterische Ausgestaltung des bekannten Stoffes. Bis in Einzelheiten schildert Gryphius, wie sorgsam Joseph das Feuer entfacht, wie er Maria weckt und wie er in wörtlicher Wiederholung der Engelsbotschaft das Traumgesicht erzählt. Wieder verraten die vielen Imperative etwas von der inneren Erregung (Fuge, surge, surgito, rape, pete.. ). Ebenso eindringlich ist die Schilderung von der Wirkung der Mordprophezeiung. Lähmender Schreck legt sich über beide (Z. 705—708), besonders Maria überkommt die Furcht (Z. 709—711). Nochmals ertönt dann die Stimme des Engels und mahnt zur Flucht. Eiligst erfolgt der Aufbruch. Zum Führer in der dunklen Nacht bestimmt der himmlische Vater einen Engel, der dem Wege voranfliegt und ihn erhellt. Überblickt man diese Szene in ihrer Gesamtheit, so hinterläßt sie den Eindruck, daß Gryphius im Vergleich zum Latein Bidermanns und zum Deutsch seines Übersetzers in seiner Schilderung nicht mehr lateinischen, sondern deutschen Sprachgesetzen folgt. Besonders an den Bidermann-Texten gemessen, die in wortarmer und phantasieloser Sprache dahingehen, prägt sich wiederum Gryphius' Neigung zum dramatischen Aufbau in einer noch nicht fünfzig Zeilen langen, in sich geschlossenen Szene aus. Der lateinische Stil gewinnt bei Gryphius neues Leben. Durch direkte Rede, durch Ausrufe, Imperative und lyrische Vergleiche wird der Rhythmus der Erzählung gesteigert. Den stereotypen lateinischen Verben wie horruit, stringunt

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frigora pectus, comprimit dolor, die sonst allein den Schreck auszudrücken haben, nimmt er ihre Abgebrauchtheit durch Einschaltung von Vergleichen, die bei Bidermann und seinem Übersetzer fehlen. Besonders glücklich drückt das Bild des Windstoßes, der durch schmale Halme fährt, Marias Herzensangst um ihr Kind aus. Auch sonst verwendet Gryphius besonders ausdrucksstarke Verben (vgl. die oben aufgezählten Imperative) und Attribute, die bei der Schilderung des Engels Farbigkeit, Helligkeit und Klarheit verbreiten sollen. Besonders deutlich wird an dieser Stelle auch die Verwendung der lateinischen Sprache nach unklassischen, geradezu deutschen Gesetzen. Gryphius braucht Verbformen, die den unstilisierten alltäglichen Sprachgebrauch verraten, ζ. Β. Z. 718: »Iam iam, nulla mora est, malefidum linquimus antrum«. Ähnliche Beispiele werden sich in den folgenden Abschnitten noch häufiger nachweisen lassen, in denen die Erlebnisse der Jugendjahre die Neigung zum Grausigen und Furchterregenden noch mehr steigern. Die Ermordung der Kinder in Bethlehem, das Jammern der Mütter sowie Raheis Klage sind auch die Themen der damaligen Zeitdichtung. Das Märtyrermotiv gewinnt in diesen Dichtungen immer mehr Raum und verändert damit auch die Ausdrucksformen, deren Kraßheiten nach und nach zu allgemeinen Kennzeichen der Dichtung dieses Jahrhunderts werden. Den Kindermord erzählt Gryphius anders als Bidermann, der diese Geschehnisse in einer Rahmenerzählung wiedergibt. Bei den vielen Vorbildern für diesen Stoff ist kurz auf die Möglichkeiten einer Beeinflussung einzugehen. Bei Bidermann und bei Marino ist es schwer, von einer direkten Beeinflussung zu sprechen. Nach den Vorarbeiten von Gnerich (a. a. 0 . S. 136 und 140) ist nicht anzunehmen, daß Marino direkt auf Gryphius gewirkt hat, da Gryphius in so jungen Jahren noch nicht genügend italienisch konnte. Eher wäre ein indirekter Einfluß über Bidermann möglich, der sich eng an Marino anschloß, wie Gnerich S. I36ff. nachweist. Bisher ist mir dieser Nachweis nicht gelungen. In diesem Zusammenhang wird Bidermanns Dichtung mehr wegen der Vergleichsmöglichkeit zweier aus dem gleichen Jahrzehnt stammender lateinischer Epen herangezogen als aus Interesse am mehr oder minder stark benutzten Vorbild. Wie vorher Himmel- und Höllenschilderung kontrastiert wurden, so steht auch in diesem Abschnitt die Schilderung des Kindermordes in bewußtem Gegensatz zu der Szene von der Flucht nach Ägypten. Wie bei allen Warnungen wird auch hier die Bevölkerimg wieder von furchtbaren Traumgesichten erschreckt. Schatten der Toten, unheimliche Geräusche und das unablässige Rufen des Kauzes sind bei Bidermann die Anzeichen für das Blutbad (Bidermann Kap. 6). Ähnlich bei Gryphius, aber mit einem ganz neuen und von ihm sehr geschickt eingefügten Bild des Todes. Als Knochenmann mäht er die Leiber der Menschen: » . . . sunt qui planctibus urbem Insonuisse ferunt per caeca silentia noctis. E n quoque cui vigili visa est percurrere vicos Ossea forma viri, quae visu et falce cruenta Corpora stravisset terrae...« (Z. 7 3 5 — 7 3 9 . )

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Anders als Bidermann nutzt Gryphius auch beim Eindringen der Feinde das Täuschungsmoment aus, daß nämlich die Bürger Bethlehems die Mordscharen des Herodes freudig begrüßen (weil vorher Friede geschlossen war), während bei Bidermann zu den Waffen gerufen und Widerstand versucht wird. Bei Gryphius dient dieses Täuschungsmoment bewußt zur schärferen Kontrastierung, zum krassen Gegensatz von Freude und Schmerz. Sehr ähnliche, dem Bidermann-Text beinahe angeglichene Partien finden sich gelegentlich auch, so die Ausrufe, ein Herz von Stein gehöre dazu und tausend Zungen, um dies Elend zu beschreiben (vgl. Gryphius Z. 784—789, Bidermann S. 21 oben). Trotz einzelner naher Berührungen im Text erscheint doch Gryphius in der Benutzung des möglichen Vorbildes so kritisch und so vorsichtig, daß er die auffallenden Schwächen Bidermanns zu vermeiden weiß. Ungeschicklichkeiten geht er aus dem Wege, so ζ. B. der zusammenhanglosen Einfügung des Vergleichs von dem rasenden Morden mit dem Einbrechen eines Unwetters, der bei Bidermann wie eine für sich stehende Naturbeschreibung wirkt (vgl. Bidermann S. 22). Gryphius bereitet diesen Vergleich dadurch vor, daß das Sonnensystem durch das grausame Schicksal Bethlehems verwirrt wird, daß die Sonne sich verbirgt, um nicht über dem Kindermord aufgehen zu müssen. Trotz dieser Himmelswarnungen hört das Wüten gegen die Unschuldigen nicht auf. Jetzt erst setzt der Vergleich ein: »Haud secus ac rapidus montano vertice torrens Saxa rotat sternitque nemus pontesque revellit, Vertit agros, perdit sata laeta boumque labores. Iam clypei resonant, jam ferri stridet acumen, Pinguiaque exuperant noctem funalia. M a t r u m Quis vultus? populique sonant quae murmura furtim?« ( Ζ . 8 5 7 — 8 6 2 . )

Soweit entspricht die Darstellung Bidermann. In der Folge aber kehrt sich Gryphius von jedem Vorbild ab und wendet sich den Müttern und ihrem Schicksal zu. Er steigert sich bis zu einer Anklage gegen Gott, in der es heißt: »Cur tua dextra vacat? cur jam non flammeus imber Spargitur, et caelo cur pix non depluit atra?« ( Ζ . 865/66.)

In Parallele zu den Prüfungen des dreißigjährigen Krieges erscheinen solche Klagen gegen Gott: Warum läßt der Allmächtige dies grausame Schicksal zu? Warum schickt er nicht einen Feuerregen, der die Schuldigen zudeckt? Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, mit welcher Einfühlungsgabe in das leidvolle Geschehen Gryphius sich von der bloßen Schilderung des Grausigen — das bei ihm zwar in reichstem Maße Bestandteil seiner Jugenddichtung ist — fortwendet und für den Leser einen möglichst starken Ausgleich in mehr lyrischen Partien schafft, die eingeschoben werden. Bidermanns Darstellung bleibt völlig an das Mordgeschehen gebunden. Davon zeugen die vielen Einzelbeispiele mit genauer Namensnennung der vom Schwert getroffenen Kinder und Familien. Die verschiedensten Todesarten werden mit einer für uns unerträglichen Genauigkeit ausgemalt. Gegen-

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über diesem gleichmäßigen Ablauf bei Bidermann spürt man bei Gryphius schon das tragische Pathos, das stilistisch in Anruftingen Gottes und in der Klage Raheis durchbricht, in Szenen also, die mit der Blutschilderung nur in losem Zusammenhang stehen. Auch dichterisch sind einzelne Szenen einprägsam, ζ. B. die, in denen das Abrücken der Soldaten geschildert wird. Hornsignale gellen in der Nacht nach dem Morde durch die toten Straßen der Stadt, aus denen die blutige Horde zusammenströmt. Der Marschtritt dröhnt in den dämmernden Morgen hinein, während die Mordschar mit den Köpfen der Kinder auf den Spießen Herodes' Palast zueilt (Z. 878—888). Für die stilistischen Steigerungsmöglichkeiten, die sich später bei Gryphius in Fragen und Ausrufen, in Wortwiederholungen und kurzen Sätzen immer mehr ausprägen, ließen sich wieder genug Beispiele anführen (vgl. Z. 905 ff.). In der Schilderung des Leichenfeldes und der Ermordimg der Kinder, die sich über Seiten hinzieht, überwiegt nur der Zeitstil, der bei solchen Schreckensszenen besonders kraß zum Ausdruck kommt. Nach den dichterischen Gewohnheiten jenes Jahrhunderts nach der Reformation steht auch am Schluß eine Zusammenfassimg, ein Epilog auf das Hauptthema. Gryphius wiederholt dafür das oft variierte Motiv der Rahel-Klage. Von überallher erschallen wehmütige Lieder, die ganze Natur, Berge, Flüsse, Wälder stimmen ein. Raheis Geist wird beschworen, der jetzt gleichsam dem Himmel das Unrecht, das an den Müttern geschehen, klagt. Als Mutter aller Mütter stimmt Rahel den Threnos an. In dieser Rahel-Klage liegt ein in sich geschlossener Dichtungsabschnitt vor, der von Gryphius mit besonderer Sorgfalt bearbeitet zu sein scheint. Gryphius' »Racheiis lachrymae« ist unabhängig von Caspar Barlaeus' Rahel-Klage 1 , die aus dem gleichen Zeitabschnitt stammt. Das Gedicht des Barlaeus zeigt trotz mancher gleicher Motive im Elegienstil eine andere Struktur. Die Schilderung des Mordens wird bei ihm ohne die persönliche Rahel-Klage, ohne die Steigerung durch Ausrufe und Häufungen gegeben. Auffällig bleibt bei einem Vergleich der Unterschied in der Gesamtstruktur. Dem Lyriker Barlaeus merkt man den stilisierenden Schilderer an, dem der Klang des klassischen Vorbildes noch im Ohr ist, während Gryphius aus seinem jugendlichen Pathos heraus unbekümmert die ersten eigenen Versuche im elegischen Ton unternimmt. Die Vorbereitung zur eigentlichen Klage bildet bei Gryphius eine Schilderung der Landschaft. In einem mit Buchsbaum und Zypressen dicht bewachsenen Hain tönt der Schrei des Uhus. In diesem Hain glänzt hell Raheis Grabmal, die hier als Mutter aller Mütter bezeichnet wird. (Nach klassischem Vorbild wird ihr Lebensschicksal kurz erzählt.) Der Stein erzittert, und der Gruft entsteigt die zum Leben erwachte Rahel, wie einst zu assyrischer Zeit die Tränen der Mütter sie beschworen haben. Wie bei der Anbetung der Maria breitet sich auch um sie himmlisches Licht. Langsam löst sie das Gewand und entsteigt dem Grabe in strahlender Schönheit. ' Casparis Barlaei Antverpiani Poematum Pars II, Amstelodami, M D C X L V I , Elegiarum Liber I, XVI.

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Auch diese Schönheitsschilderung klingt an Marinos Stil an, ohne daß an eine direkte Beeinflussung zu denken ist. Wieder erscheinen die »Rosenwangen«, die »entblößten Schultern«, die »schneeige Brust« als Schönheitsattribute. Im Gegensatz dazu steht die Schilderung von Raheis innerer Verwandlung, als sie den Zug der weinenden Mütter, die ihr Grab langsam umkreisen, erblickt. Anfangs bringt sie der Anblick der Mütter zum Verstummen, dann bricht aber ungehemmt die Klage hervor (Z. 979—989). Und nun beginnt die Beweinung der Toten in kurz aufeinanderfolgenden Interjektionen und unverbundenen rhetorischen Fragen. Der Kummer und das Mitleid mit den Müttern reißt jeden dichterischen Aufbau ein. Ungegliedert stehen die sieben Anfangszeilen den dann folgenden Abschnitten gegenüber (Z. 989 bis 995): »Heu mihi! quas caedas! quam diro vulnere cerno Prostratos terrae pueros! quis tanta peregit Fuñera? quis dedit hanc stragem? quot corpora luce Undique cassa jacent! agnosco cadavera: num quid Hi pueri, Regis saevi quos messuit ensis, Dum nova sceptra timet pariterquc pericula regno? Sic cerno, proh sánete D E U S ! quae tanta cupido !«

Dagegen sind rein äußerüch die folgenden Partien bis zum Schluß sehr genau aufgebaut. Man kann sie in neun Strophen einteilen, die in sich nicht die gleiche Zeilenzahl, aber einen im Schema gleichlautenden Strophenanfang haben. Die Anfangszeile jeder Strophe wird nur durch Veränderung des Substantivs für »Tränen« umgewandelt, sonst wiederholt sich neunmal das Zeilenschema: »Spargite, . . . . , mea lumina, spargite rivos«. So wirkt die Klage als Ganzes in sich geschlossen. Als besondere Stilmittel werden Interjektionen, Fragepartikel, Substantivhäufungen und Imperative in vielen Variationen bevorzugt. Besonders stark im Ausdruck ist wohl der Anfangsabschnitt und der Mittelteil. Hier finden sich für die späteren Ausdrucksmittel im deutschen Stil alle Vorstufen ausgebildet, soweit sie in eine Elegie passen. Dafür einige Beispiele: Ausrufe und Interjektionen (Z. 1030—1035) : »O . . flores ! O lilia . . ! O violae, . . ! Ah . . . ! O flores . . . ! O pueri rosei ! . . . « Rhetorische Fragen (Ζ. 997—ιοοι): » . . . Quo vehes . . . quot tela . . . quot enses . . . queis curis . . . cuique timori . . . quot spinis . . . « Substantivhäufungen (Z. 1046—1047): »(jacet ecce parentum) spes dulcis, lux, vita, salus..« Imperative (Z. 1065—1067) : »Fle, geme, fle, . . . da flebile carmen ! (Floruimus, spes nostra fuit, fuit alta Jacobi Gloria), piange . . . , geme . . . «. Auch der Aufbau des Ganzen ist auf Höhepunkte angelegt. Auf die Klage über den Fluch der Leidenschaft, der Herrschgier, auf die Verfluchung des Herodes (scelerate latro) (Ζ. 1004—ioo8) folgt die Anrufung der Mütter: »O matrum defienda cohors!« (Ζ. i o n ) , die über einige Hinweise auf die erlittenen Martern und

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Schrecken sich zum Höhepunkt, zur Klage um die Kinder, steigert (Z. 1029—1044). Der schmerzliche Wehruf klingt aus in den Gedanken, daß all diese hingemordeten Kinder nicht mehr die Verkündigung der Worte und Wunder Gottes durch Christus erleben können. In einem letzten Aufruf zur Klage endet diese Szene. Rahel entschwindet den Blicken. »Sic fatur multum lachrymans, ac maesta per agros Per juga, per valles et, qua sors duxit euntem, Dcflevit tenerae crudelia fuñera gentis.« (Z. 1 0 6 9 — 1 0 7 1 . )

Kapitel II. Herodes II. Dei vindicis impetus et Herodis interitus (1635). Der religiösen Einstellung des jungen Gryphius hätte es nicht entsprochen, wenn sein lateinisches Herodes-Epos mit der Mordschilderung in Bethlehem und mit Raheis Klage zu Ende gegangen wäre. So setzt er sein Thema im Jahre 1635 in einem zweiten Teile fort, in dem die Rache Gottes an Herodes geschildert wird. Diese Dichtung läßt deutlich erkennen, daß zwischen dem ersten und zweiten Teil trotz des geringen zeitlichen Abstandes eine dichterische Entwicklung sich vollzogen hat, die in dem G e s a m t a u f b a u des zweiten Teiles sichtbar wird. Es bildet sich bei Gryphius immer klarer der Wille zur dramatischen Zuspitzung in dem Geschehen seines epischen Stoffes aus, so daß die Struktur jeder Szene ihre eigene Bedeutung hat. Einzelne Szenen sind so in sich geschlossen und selbständig gesehen, daß sie auch hier im Verlauf der Darstellung im ganzen geschildert werden müssen, damit die beabsichtigte Wirkung ihrer antithetischen Anordnung deutlich wird. Ganz allgemein fällt die enge Anlehnung des zweiten Teiles an den ersten auf. So wiederholen sich Widmungen mit kurzen, für die Gryphius-Biographie wichtigen Hinweisen auf den Zustand der damaligen Kriegszeit. Wieder folgt diesen Widmungen nach kurzen Anfangszeilen die Anrufung des heiligen Geistes um Beistand für die Dichtung (vgl. I, Z. 29—32). Im ganzen gesehen ist der Stil des zweiten Teiles pathetischer und besonders auffällig christlichen Vorstellungen angepaßt. Das wird nicht nur in den textlichen Hinweisen auf das biblische Vorbild deutlich, sondern auch in der Schilderung der Himmelsszenen und in den Entscheidungen Gottes selbst. Gottes Reich steht mehr im Vordergrund als die Hölle. So beginnt der zweite Teil des Herodes mit einer ins Einzelne gehenden Ausmalung dieses Gottesreiches, die von Gryphius wohl absichtlich in Parallele gesetzt ist zu der großen Höllenversammlung im ersten Teil, in der der Beschluß bekanntgegeben wurde, sich des Herodes als Werkzeug gegen Gott zu bedienen. Im szenischen Aufbau ist die gleiche Technik beibehalten wie in der Höllenversammlung. Es entsprechen sich ι . die Beratung der Höllenbewohner (I, 33—57) und die der Himmlischen (II, 5 3 - 9 3 ) , 2. Lucifers Rede (I, 58—83) und Gottes Rede (II, 94—128), 3. Taphurgus' Entgegnung ( 1 , 9 2 — 1 1 3 ) und Raheis Entgegnung (II, 129—148),

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1·'. W. W cinzia t í - E g g e b e r t :

4. Lucifers Entschluß zum Kampf gegen Christus (1,140—154) und Gottes Entschluß zur Rache an Herodes (II, 149—166). Bei dieser auffälligen Parallelität ergibt sich die wichtige Feststellung, daß jetzt im Herodes II die a u s f ü h r l i c h e Schilderung von der Wirkung der Reden auf die Zuhörer fortgelassen wird. Gryphius verzichtet auf eine Partie, die ihm im Herodes I Anlaß zu den verschiedensten Vergleichen und Bildern bot. Er empfand vielleicht dies die Darstellung verschleppende Element des klassisch epischen Stiles als unlebendig und störend und ließ es deshalb fort. Die Schilderung des himmlischen Reiches ist phantasievoll und in ehrfürchtiger Scheu durchgeführt; Gryphius gestaltet seine erste »Vision« in der Dichtung. Die Bewegung überwiegt darin. Vor den Augen des Dichters tut sich der Himmel auf (Dum loquor . . . . video). Der Wunderbau seines Gewölbes wird sichtbar. Engel und Seelen der Verstorbenen kommen zusammen, die Versammlung der Himmlischen beginnt. Umgeben von musizierenden Engeln senkt sich auf undurchsichtiger Wolke Gottes Majestät herab. Die Wolke teilt sich und das Bild des Herrn wird ganz sichtbar. Hier setzt nun eine besonders eingehende und hochgestimmte Schilderung Gottes und seiner himmlischen Umgebung ein (Z. 67—98). Wie in der Anbetungsszene des ersten Teiles ist das ganze Bild in helles Licht getaucht. In der Prunkschilderung von Gottes Thron klingt wieder der Stil Marinos an. Gryphius nimmt hier eine Stelle aus Ezechiel zum Vorbild, die er selbst zitiert; aber nach der Art des 17. Jahrhunderts ist der Thron mit Gold, Silber und Edelsteinen ausgeschmückt (vgl. Ezechiel, Kap. I, V. 26 und Gryphius, Z. 72—78). Auch das helle Leuchten um die Schläfen Gottes ist bereits bei Ezechiel angedeutet und von Gryphius übernommen: Ez. I, 27 »Et vidi quasi speciem electri, velut aspectum ignis, intrinsecus ejus per circuitum; a lumbis ejus et desuper, et a lumbis ejus usque deorsum, vidi quasi speciem ignis splendentis in circuitu;«

Gryphius erweitert auch hier sein Vorbild: »Tempora siderea radiant redimita corona, Et flammae absiliunt longe hinc atque inde coruscae, Lumina Phoebeae superant pia lampadis ignes, Sub pedibusque sacris apparent iridis arcus. Sceptra tenet radiisque procul vibrantibus ardet Immensum, placido firmans tarnen omnia vultu. Coelicolum ut tandem gemmata sedilia caetus Excepere, manu tranquilla silentia mandat.« (Ζ. 8ι—88.)

Im bekannten Redestil des Herodes folgt jetzt die Ansprache Gottes an die Himmlischen. Herodes' Tod ist beschlossen, doch soll er langsam sterben. »Tod« und »Wut« sollen sich als erste in sein Haus begeben. Auffallend in dieser Szene ist die kurze Rede Raheis, in der sie Gott zur schnellen Strafe veranlassen will. Wieder finden sich, wie in Raheis Klage, die Imperativhäufungen, die hier den leidenschaftlichen Ton besonders unterstreichen sollen: »Ah propera cape tela manu, cape fulmina dextra! Percute, caede, feri tumidum!« (Ζ. 1 3 5 — 1 3 6 . )

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des jungen

Gryphius

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Im stilistischen Gegensatz dazu ist Gottes Antwort ruhig und hoheitsvoll. Die Szene endet mit einer ganz kurzen Schilderung der Wirkung dieser Rede. Die Engel drängen sich verängstigt zusammen, dann setzt sofort die Handlung wieder ein. Der Gottesbote spannt seine glänzenden Flügel und eilt in das Reich des Todes, um diesem den Befehl des Allmächtigen zu überbringen. Wie das Vorspiel in der Hölle im ersten Teil des Herodes-Epos wirkt auch diese Szene im Himmel als E x p o s i t i o n , die ein Drama einleiten könnte. Grypliius verläßt jedoch die epische Basis seiner Dichtung nicht mehr so wie im ersten Teil des Herodes. Im zweiten Teil gilt seine Aufmerksamkeit und seine leicht bewegliche Phantasie größeren Schilderungen, die bereits aus einer Art seelischer Gleichgestimmtheit heraus bis in Einzelheiten ausgemalt werden. Für die spätere Gryphius-Dichtung in deutscher Sprache liegen in diesen Partien nicht nur inhaltliche, sondern vor allem stilistische V o r s t u f e n . Die Phantasie des jungen Gryphius bleibt von nun ab im Herodes II im Banne der großen apokalyptischen Bilder, wie Tod und Schlaf, Hunger und Krankheit, Wut und Rache. Auch für den Herodes II werden Überblicke über einzelne größere Szenen notwendig. Man erkennt nämlich in diesen Schilderungen ein inneres Gesetz der Ausdruckssteigerung, das keine Analyse einzelner Stilphänomene zuläßt, da hier noch nicht geprägte Formen, sondern erst Ansätze zu später voll entwickelten Dichtungsmitteln sichtbar werden. Auch die Suche nach dem klassischen Vorbild ist hier unnötig. Selbst wenn sich in einzelnen gedächtnismäßigen Anklängen an lateinische Formeln Spuren der altlateinischen Vorbilder finden lassen, so schwindet der Eindruck einer gewissen Unselbständigkeit im Ausdruck vor der Großartigkeit der phantasievollen Schau. Mit der Schilderung des T o t e n r e i c h e s verrät Gryphius bereits in so jungen Jahren etwas von seiner dichterischen Eigenart. Seine Visionen von der Stätte der Dunkelheit und des ewigen Schweigens sind von seltsamer Größe und Originalität. Vielleicht ist hier der Abschnitt in der Herodes-Dichtung, der für das 17. Jahrhundert in der Darstellung von Tod, Schlaf, Hunger und anderen Qualen der Menschen am charakteristischsten wirkt. Der Engel, der dem Tode den Befehl zu Herodes' Vernichtung bringen soll, wird zum Führer des Lesers. Aus der umfassendsten Schilderung beim Flug des Gottesboten durch den Weltraum wird der Bück vom größten zum kleinsten Ausschnitt bis zum Einzelbild verringert. Schon im ersten Teil der Schilderung, beim Wolkenflug, deutet sich die Nähe des Totenreiches durch die Veränderung der Wolkenschichten an. Dunkle Wolkenballen durcheilen die Atmosphäre; Dampf und Nebel steigen aus der Erde empor und verdunkeln die Flugbahn. Allmählich taucht die Totenburg auf: »Campique ingentes ossibus albent« (Z. 189) (vgl. den Themasatz von Baldes Enthusiasmen und den »Kirchhofs-Gedancken«). Jetzt senkt sich der Engel nieder und nimmt seinen Weg zum Reiche des Todes. Alle Kunst wird auf die möglichst eindrucksvolle Ausmalung der Vegetation des Totenreiches verwendet. Besonders wird die unheimliche Stille hervorgehoben. Durch eine solche Charakteristik

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wäre aber auch nur die sonst übliche Darstellungsweise der Totenburg erreicht. Von ganz anderer Kraft: und Eigenart zeigen sich Gryphius' Schilderungen einzelner großer Schauplätze und Wohnungen innerhalb der Gewölbe. Beim Näherkommen überschaut der Engel in den Hallen die am Fußboden zertretenen und ineinandergeschobenen Insignien von früherer irdischer Macht und Größe: •Conculcata jacent passim diademata, mitrae, Scuta virum, galeae, confracta hastilia, sicae, Sceptra dueum, gladii, spurcata insignia coeno. Hie calami chartaeque leves lacerataque libri Pagina, testudo, cytharae, cava tympana, buxus, Cymbla, tubae, litui, disruptaque buccina, « (Ζ. 224—229.)

Diese asyndetische Aufzählung erstreckt sich in der gleichen Art noch über weitere sechs Zeilen. Alle Stände sind in den Machtsymbolen, die hier unter den Füßen des Todes und seines Gefolges zertreten sind, wiederzuerkennen. Der Vanitasgedanke bricht auch in dieser frühen Dichtung bereits durch. An dieser Stelle liegt die Substantivhäufung, die so auffällig deutlich wird, hauptsächlich begründet in der Vielfalt der Gegenstände, die zu bezeichnen sind. Man muß aber auch darin die Ansätze zum späteren Stil in den Übersetzungen und eigenen Dichtungen in deutscher Sprache sehen. Gryphius folgt damit den Neulateinern, nicht dem altlateinischen Vorbild. Schon in seinen frühen Übersetzungen, ζ. B. in seiner Felizitasübersetzung des Causinus zeigt sich diese Entwicklungslinie ganz deutlich. Auch vom Dichterischen her gesehen vermittelt die un verbundene Reihe von Substantiven in der Wirkung einen tiefen Eindruck von der unerbittlichen Gewalt und gleichmachenden Kraft des Todes. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch die Schilderung der weiter hinten liegenden inneren Gewölbe, in denen sich das Gefolge des Totenherrschers und dieser selbst vor dem Licht verbergen. Im ersten Räume lagern auf Ruhebetten längs der Wände die Begleiter des Todes (comités) : •>Quos torvi cingunt comités, tremor, horror, et angor Et sitis et pallor, singultus, syncopa, tussis.« (Z. 238—239.)

In der Mitte des Raumes auf einem prächtigen Lager aus Elfenbein ruht der consanguineus mortis, der Schlaf, den die Träume umschweben. Es halten Wache der Krieg = bellum, die Angst = metus, die Seuche = lues, der Hunger = fames. Jeder dieser Begleiter des Todes ist für sich charakterisiert. Nur um ein Beispiel für die Schilderungsart des jungen Gryphius zu geben, folge hier die Beschreibung des Hungers: »Pone sedet malesuada fames, mera mortis imago, Orbe latent oculi, flavi rubigine dentes, Laxa cutis, foeda illuvies, atque arida lumbis Ossa sub incurvis extant, scelettoque rigenti Protuberant costae, dentemque in dente fatigat Et rabie flagrante f u r i t . . . « (Z. 250—255.)

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Im gleichen Stil geht die Schilderung noch über weitere zehn Verse, in denen es ungefähr heißt: »In wütender Gier kaut er (der Hunger) unermüdlich mit leerem Munde und sucht nach Grabesspeise. Mit unbarmherzigem Stachel treibt er die Verdammten an, eklen Fraß wilder Tiere zu verzehren, Dorngestrüpp und Holz zu nagen und pestdrohende Kräuter von unbekannten Wurzeln zu reißen. Sogar seinen Körper samt den Eingeweiden zerbeißt er und speist so seinen Leib mit dem eigenen Leibe. Noch beim Verzehren giert er nach neuer Zehrung, um alles zu vertilgen, was Wälder, Erde, Meer und Luft bieten« (Gnerich S. 190). Es ist schwer, durch eine Inhaltsangabe auch nur in Umrissen die Bilder, die doch an den lateinischen Ductus der Sprache gebunden bleiben, wiederzugeben. An diesen Wächtern des Allerheiligsten der Totenburg vorüber dringt der geflügelte Gottesbote weiter vor bis in den dunkelsten, entlegensten höhlenartigen Raum — und erstarrt bei dem Anblick des Todes: »Intrat et obstupuit conspecto limine mortis, Quae super ossa cubat nigrum resupina per antrum, Corpora discerpens fluido stillantia tabo, Nec visu facilis nec dictu affabilis ulli. Crine caret, surgunt subrecti fronte colubri Stridulaque effundunt vibratis sibila linguis, Vipereumque manat calvo de vertice virus, Et vacui nitidis non fulgent orbibus orbes; Rostrum ingens, passim liquere sedilia dentes, Auris abest, geminumque patet pro nare foramen, Et nodosi artus, cervix nodosa, lacertos Nulla ligat juncture humeris, sine corpore corpus, Non compacta suis sunt ossa arentia nervis, Pectora contextis squallent redimita cerastis, Ventris ei pro ventre locus, vastissima crura.« (Z. 267—281.)

Unter den vielen Beschreibungen des Todes im 17. Jahrhundert nimmt diese lateinische des jungen Gryphius in der phantasiereichen Grausigkeit einen besonderen Platz ein. Es bleibt keineswegs bei der Schilderung des »ruhenden« Todes'. Das Unheimliche, Lähmende in der Wirkung dieser Darstellung beruht darauf, daß der Tod vergeblich versucht, im Widerschein des lichtumflossenen Gottesboten sich aufzurichten. Durch die Bewegung des schrecklichen Gespenstes wird der Eindruck des Grausigen ins Übermaß gesteigert. Nach mehreren vergeblichen Versuchen reißt sich das kraftlose Skelett so weit hoch, daß es aufgestützt gerade die Botschaft Gottes vernehmen kann. Mit dem Befehl des Allmächtigen überkommt ihn scheinbar ein riesiges Kraftgefühl; er reißt mit gewaltiger Hand den ewig bluttropfenden Mordspeer und Pfeil und Bogen an sich. Vorbote wird ihm »furor«, der wie Hunger und Tod von Gryphius besonders beschrieben wird. Kein anderer versteht es wie er, das 1 Die von Gnerich bei Vergil, I I I , 62off. nachgewiesenen Parallelen sind der Schilderung der Cyclopen entnommen, nicht der des Todes. Die Ähnlichkeit beschränkt sich dort wie überall auf einzelne Attribute und auf einen sprichwortartig gebrauchten Vers. Vgl. Herodes II, 270.

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Kommen des Todes den Menschen in einer gesteigerten Lebensgier anzuzeigen. Er weckt auf der Höhe des Lebensgenusses die Verzweiflung und steigert diese mit Angstträumen und Todesgesichten. Unzählbar viele Gestalten und Formen kann er annehmen. Als sein Gefolge umwirbein ihn in kreisender Bewegung die furchtbaren Peiniger der Menschen: dolor, gemitus, clamor, crux, terror et arma, poena. Typisch sind für ihre Charakteristik die von Gryphius gewählten Verben: observant, noscunt, cingunt, facilesque sequuntur. Mit diesen Begleitern geht der Tod den ihm bekannten Weg nach Jerusalem. In dieser Geschlossenheit übertrifft die Schilderung des Totenreiches an bildlicher Kraft alle späteren Darstellungen. Man empfindet, daß Gryphius schon in so jungen Jahren diese Visionen des Todes erlebt hat und daher imstande war, sie dichterisch zu gestalten. Nach diesen vorbereitenden Szenen, in denen Herodes' Tod als unabwendbar und als langsames Sterben unter schweren Schmerzen angekündigt wird, schiebt der Dichter eine kurze Schilderung von der Heiligen Familie auf ihrer Irrfahrt durch Ägypten ein (Z. 314—334). In diesem Zwischenstück wie in der langatmigen Historie von der babylonischen Gefangenschaft, in der einzelne Wunder die Mittelpunkte bilden, kommt es nicht zu stilistisch wichtigen Partien. Gryphius stellt nur seine historischen Kenntnisse etwas selbstgefällig zur Schau, und gerade nach der Schilderung des Totenreiches fällt hier der wohlgepflegte, aber phantasielose Erzählerstil auf. Herodes' Tod und Krankheit bilden den Inhalt des Schlußteiles vom Herodes II. Noch einmal erwacht die dichterische Phantasie bei einem Thema, das auch wieder aus den Zeitverhältnissen des Dreißigjährigen Krieges verstanden werden muß. Dieser Schlußteil wird mit besonderer Sorgfalt im Wechsel von Reden und Erscheinungen Verstorbener (Mariamne) und dem Ertönen himmlischer Stimmen aufgebaut. Alle schlafen, nur Herodes liegt ruhelos auf seinem Lager. In dem aus den Volksspielen, die den Herodesstoff zum Thema haben, bekannten Angsttraum erreicht Gryphius eine besondere Steigerung durch Mariamnes Anklage gegen Herodes. Typisch ist dabei wieder die Schilderung ihrer früheren Schönheit, die an die Rahelbeschreibung und an Marias Verherrlichung in der Anbetungsszene erinnert (Z. 6 1 5 f r ; vgl. Herodes I, Z. 974ff.). Auch hier arbeitet Gryphius mit Kontrasten. Jetzt in dem Angsttraum erscheint Mariamne so entstellt, daß ihr Anblick unerträglich wird (Z. 623 ff.). Sie ist dazu auserwählt, Herodes den Untergang zu verkünden. Ihre Rede ist sehr ausfuhrlich und bewußt auf Steigerung hin angelegt. Erst werden alle Mordtaten des Herodes aufgezählt, dann folgt ein Abschnitt mit rhetorischen Fragen, an den sich die Verheißung des Todes anschließt. Ein besonderer Höhepunkt gelingt Gryphius am Schluß der Rede dadurch, daß die Abberufung des Herodes aus dem Diesseits in stufenweiser Steigerung angekündigt wird, die mit dem Näherkommen der Mariamne zu dem Lager des Schlafenden in Parallele steht, so daß mit dem letzten Wort auch sie selbst da zu sein scheint. »Ich komme«- (venio), heißt es, und mit diesem Wort legt sich die Erscheinung wie

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ein Schatten über das Lager des Herodes, die Mordwunde in ihrer Brust öffnet sich, und in einem Blutstrom wird der Schlafende scheinbar ertränkt. Aber Herodes verlacht die Gesichte der Nacht und den Angsttraum. Die Zeichen des Himmels mehren sich. Posaunenklänge werden hörbar, Stimmen schwirren durch die Luft, das Licht verfinstert sich, als Herodes zum Gericht Gottes gerufen wird: »Surge, veni! quid, saeve, preces, quid inania tentas Pharmaca? sat sceleri licuit! T u a crimina paenas Expectant, celsi cuperent te perdere montes, T e q u e haurire solum, stygiis at debita flammis . . . Rex saeve, veni! . . . « (Ζ. 674—68ι.)

In der Randglosse heißt es von Gryphius' eigener Hand: »Herodes vocatur ad D E I tribunal«. Es ist die gleiche Art der Abberufung, wie sie aus dem Jedermann-Spiel bekannt ist und wie sie später in den Balde-Übersetzungen von Gryphius hervorgehoben wird. Jetzt verlassen auch Herodes die Kräfte. sammen.

Um Gnade flehend sinkt er zu-

In dieser Szene ist besonders durch die oben schon oft erwähnten Stilmittel eine Stimmung geschaffen, in der zum erstenmal bei Gryphius — wie später in den Dramen — nicht nur Stimmen von Geistern hörbar werden, sondern diese selbst auftreten. Bevor die Krankheitsschilderung einsetzt, wird noch in einer Höllenversammlung ein kurzer Überblick über die Gesamtsituation gegeben. Lucifer weist darauf hin, daß Herodes, das beste Werkzeug der Hölle, noch am Leben sei und vor seinem Tode noch manche Mordtat geschehen lassen solle (Tötung des eigenen Sohnes und der 300 vornehmen Juden). Nochmals soll Furor zu ihm gesandt werden und den Halbtoten zu den letzten Bluttaten aufstacheln. Nun springt die Schilderung wieder zurück zu dem pestkranken Herodes. In dem letzten Abschnitt seiner Dichtung offenbart der junge Gryphius noch einmal die Eigenart seines epischen Stiles. In ununterbrochener Folge reihen sich über hunderte von Versen die entsetzlichsten Krankheitsbilder aneinander. Die für den heutigen Leser unerträgliche Realistik der Beschreibung, wie sie aus den »Kirchhofs-Gedancken« und der Übersetzung des zweiten Balde-Enthusiasmus bekannt ist, erscheint hier in lateinischer Sprache (Z. 79off). Lateinisch dem heutigen Leser erträglicher als deutsch. In allen Phasen des Todeskampfes wird das Bild des Herodes beschworen. Gryphius schildert ihn als Verzweifelten, der den Tartarus anruft und ihn auf sein Kommen vorbereitet (Z. 868 bis 870), als Bittenden, der um die Erlösung durch den T o d fleht (Z. 973 ff.), als Rasenden, der den Tod des eigenen Sohnes und der 300 Juden befiehlt (Z. 1052 fr.), damit bei seinem Tode das Volk trauere und nicht frohlocke. Gryphius zeigt ihn als maßlosen Frevler, der sinnlos prahlend sein Reich über das Gottes stellt und sich selbst nochWent ziaff-Hyge b e n

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mais der Hölle ankündigt (Ζ. 1124 bis 1125), endlich als Gestraften, der von Gottes Hand in das Dunkel des Todes hinabgestoßen wird: »Vade f e r o x ! i, perge immitia T a r t a r a letho Polluere et cunetas Èrebi consumere paenas! V a d e f e r o x ! rapit ira D E I , stat iudicis urna, Q u a reges punire datur, stant hórrida D i t i s T o r m i n a , stat stygius lictor flammaeque perennes.« ( Ζ . 1 1 2 7 — 1 1 3 2 . )

Abschließend erzählt Gryphius kurz die Rückkehr der Heiligen Familie nach Jerusalem. Joseph erfährt von einem himmlischen Boten vom Tode des Herodes. Er sieht noch einen gewaltigen Feuerstrahl zur Erde niederfahren, den Höllenschlund sich öffnen und Herodes hinabsinken (Z. 1156 ff.). In einer anmutigen Naturschilderung, die sich auch bei Bidermann findet (Herodiados III, c. 30), zu Ehren und zum Empfang Christi in Jerusalem klingt das Epos aus. Doch diese letzten lieblichen Naturbilder vermögen nicht den grausigen Eindruck des Ganzen aufzuheben. Gryphius' Phantasie hatte sich bei den Krankheitsschilderungen allzusehr ins Maßlose verloren. Er hatte die dunkle Seite des Herodesschicksals zu genau nach den geschichtlichen Quellen studiert 1 und konnte sich schließlich aus dem phantasievollen Wahn, in den ihn sein Gefühl hineinriß, nicht mehr befreien. Bis in die Dichtung der späten Jahre erhalten sich Züge von diesem grausigen Pathos. In seinen »Kirchhofs-Gedancken« begegnen wir ähnlichen Schilderungen, in denen die lateinischen Formeln aus dieser frühen Epoche seiner lateinischen Epik verwertet zu sein scheinen. Doch diese wichtige Frage: »Originalität und lateinische Tradition« läßt sich erst nach dem Überblick über die sprachliche Gesamtentwicklung während der Jugendjahre beantworten.

Kapitel ΙΠ. Olivetum (1648). Es gibt aus späteren Jahren Äußerungen von Gryphius über sein Olivetum, in denen er selbst den Unterschied dieser Dichtung von anderen andeutet: »Denn weil ich hier nichts als die andacht gesuchet, habe ich mich bekanter melodien und der gemeinsten weise zu reden gebrauchen wollen. Wem poetische erfindungen oder färben in dergleichen heiligen wercke belieben den weise ich zu meinem Oliveto, Golgatha und trauer-spielen, ja auch in vorhergehenden oden zu der verlassenen Zion, oder den hinweggefuhreten kindern« (Lyrische Gedichte, hg. v. H. Palm, Lit. Verein Stuttgart, Bd. 171, S. 286). In diesen wenigen Zeilen liegt bereits eine Charakteristik des Stiles des Olivetums. Das lateinische Hexametergedicht ist spätestens im Jahre 1643 entstanden, bestimmt in Gryphius'Leidener 1 Vgl. zu Gryphius' eigenen Quellenangaben neben dem Text die genauen Studien von Gnerich, die gleichzeitig den Einfluß des Kirchenväter-Lateins nachweisen (S. 214ff., besonders S. 2i6ff.). — [Vgl. jetzt dazu : Conrady passim.]

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Zeit, und so haftet dem Olivetum noch die Absichtlichkeit der Kunstdichtung, deutlicher gesagt der Gelehrtendichtung, an 1 . Im Olivetum setzt bei Gryphius die Verwertung der bei der Herodes-Dichtung erprobten Stilmittel ein. Eine Fülle von Szenen daraus erkennt man in diesem lateinischen Epos von Christi Leiden auf dem ölberg wieder, obwohl sie geschickt in die Evangelienschilderung verflochten sind. Es wandelt sich dadurch der Charakter dieses Gedichtes von einer rein biblischen Erzählung in eine geistliche Dichtung im Stil des 17. Jahrhunderts, in der die Gestalten und Personen der Heiligen Schrift mit den Attributen aus der weltlichen Liebespoesie und aus den Phantasien über Höllen- und Himmelsbewohner bedacht sind. Immer noch tauchen Motive und Formeln der antiken Epik in der Leidensgeschichte auf. Vieles davon habe ich im Herodes I und II im Zusammenhang mit Gryphius' Stil in der Darstellung bereits erwähnt, so daß jetzt die Beziehungen zwischen den Herodes-Epen und dem Olivetum im Vordergrund der stilistischen Analyse stehen können. Es ist bezeichnend, wie Gryphius im Olivetum die Schilderungen von Personen, die in seinem Herodes bereits auftraten, jetzt geradezu formelhaft auf Personifikationen überträgt. So trägt die »Rache« jetzt die Schönheitsmerkmale der Rahel (Her. I, 974ff.) 2 : irons speciosa, membra nivea, umeri nudati, pectora eburnea u. ä., wobei die Adjektive beliebig vertauscht sind (Oliv. I, 85 ff.). Auffällig ist nur, daß die Rache, die nach der Tradition keinerlei Schönheitsattribute zu haben braucht, hier damit beliehen wird, obwohl sie im übrigen als Kriegerin geschildert wird: » . . . .frons erranti speciosa coruscat Fulgure, sidereusque oculis micat acribus i g n i s . . . Ancipitem críspante manu gladiumque faceisque ; Funereas, . . . « (Oliv. S. 3 Mitte) 3 .

Sie trägt also hier die Symbole des himmlischen, aber auch des höllischen Reiches: » sed amoenum vepribus ambit Spina decus, lentaeque minaci cuspide sentes.« (S. 4 Mitte.)

Die den einzelnen Bildern zugrunde liegende Stimmung und die Ausmalung der Szenen sind im Herodes und im Olivetum nahezu gleich. Das Olivetum bringt meist ein verkürztes Resumé aus dem Herodes. So hatte Gryphius in ausfuhrlicher Natur- und Gegenstandsbeschreibimg in nahezu 50 Zeilen im Herodes I den Thron Gottes geschildert. Im Olivetum ist die Darstellung begrenzter, wenn auch die gleichen Merkmale auftauchen: die Fülle des Lichtes, gegen die der Schein von Sonne und Mond verblaßt, die Schar der Engel, die seines Winkes harren und 1 Genauere Angaben über die Entstehungszeit des Olivetums habe ich noch auf Grund weiterer Materialstudien in der Einleitung zu dem Neudruck von Gryphius' Jugenddichtungen in der Bibl. d. Lit. Vereins machen können. Vgl. ebd. S. X X X I ff.

' Einige Schönheitsattribute sind auch aus der Mariamneschilderung Her. II, 617fr. genommen. s Zitiert wird nach Photokopien des Berliner Druckes v. 1648. Abkürzungen des Textes wurden ausgeschrieben. 3*

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seinen Ruhm im Chor verkünden, der Thron, der in seiner gold- und edelsteinschweren Pracht dem Herrn zum Sitze dient (Oliv. S. 4, Mitte). Nur ein Unterschied fällt auf: in Gottes nächster Umgebung befinden sich jetzt alle christlichen Tugenden: »Conspicuum gyro Regem propiore coronant, Nec non laetitia, & candor pietasque necisque Hostis Amor, Verumque & vitae aequaeua potestas Perpetuae; castique tenax vis ardua floris, Iustitia amplexu pacem, Pax inclita risum Occupât, & tríplices coêunt in faedera dextrae.« (S. 4/5.)

Immer deutlicher tritt hervor, wie jetzt gegenüber dem Überwiegen der antiken Vorstellungen im Herodes mehr und mehr das Schwergewicht auf der christlichen Lehre ruht. Auch für die Art der Darstellung, wie der »Verrat« sich des Judas bemächtigt, sind die Vorbilder im Herodes bereits nachweisbar. Ich erinnere nur an die Schilderung des Sterbens im Herodes II. Dort naht sich dem todkranken König die rabies und veranlaßt die letzten Untaten, das Sterben der 300 Juden und den Tod des Antipater. Ähnlich im Olivetum. In ausführlichen Schilderungen beschreibt Gryphius, wie der Verrat in Gestalt des Machaon, eines früheren Jüngers Jesu, sich Judas nähert, um ihn zum Verrat an Jesu anzustacheln. Die gleiche Technik der Rede wie im Herodes begegnet uns hier. Die hastige, abgerissene Fragenhäufung, bei der wieder die Fülle der Substantive auffällt, dann ein Zwischenteil, der die notwendigen Tatsachen bringt, und schließlich die Aufforderung zur Tat in einer Folge von Imperativen. (Oliv. S. 14.) Recht geschickt flicht Gryphius auf diese Weise die höllischen Mächte in seine Schilderung vom Leiden Christi auf dem Ölberg ein. So formt sich der bekannte Stoff um und gewinnt an Anschaulichkeit; Himmel und Hölle werden zum sichtbaren Schauplatz, auf dem sich Geister und Menschen in irdischen Handlungen, in Recht und Unrecht, in Gewalt und Demütigung, in Macht und Schwäche zeigen. Allmählich bildet sich bei Gryphius eine gewisse Erzählungstechnik für religiöse Stoffe aus. In diesem Rahmen wird Schuld und Unrecht und menschliche Verfehlung gleichmäßig auf die höllischen Scharen mitverteilt. Die Vorstellung von der Hölle ist noch mit dem Glauben an das Reich Gottes im menschlichen Bewußtsein vorhanden. So handelt Judas unter dem Einfluß höllischer Kräfte, des Verrates. Doch ehe die geschichtliche Handlung im Sinne der Bibel weiter abläuft, schiebt Gryphius seine eigene Meinung von Judas' Tat ein: »Heu scelus! heu crudele nefas! heu turpe cruenti Flagitium! immani diuendit ad atra Tyranno Supplicia! . . . A h miser! ah male! sane videt, videt ille latebras Pectoris, occultumque nefas; . . . . « (Oliv. S. 15.)

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Judas' Tat wird aber auch in das Gegenlicht von Christi Handlungsweise, der Fußwaschung der Jünger und anderer Liebestaten gebracht. In der Erzählung fugt Gryphius außerdem häufig die Person Christi dann ein, wenn der Leser aus Jesu Mund erfahren soll, wie der Herr selbst alle Gedanken und Handlungen der Menschen, also auch des Judas, kennt und sieht: »Ergo ubi iam sceleri non ullum obstare pudorcm Christus, et immotum ferri in fera crimina Judam Aspicit; . . . « (Oliv. S. 16.)

Ja, Christus greift handelnd ein. Nachdem er den Jüngern Mitteilung von seinem Verrat, seinen Leiden und seinem baldigen Tode gemacht hat, heißt es: » hosti Indulget trepido effugium, volat ille; .. .« (Oliv. S. 16.)

Obwohl Christus demnach Mitwisser von Judas' Verrat ist, läßt er ihn entkommen, wie es auch der Überlieferung im Neuen Testament entspricht. Gryphius fuhrt aber dem Leser nicht nur die Gedanken, sondern auch die Entschlüsse Christi wie die eines irdischen Menschen vor. So gehen in der Dichtung mehrere Handlungen nebeneinander her. Daran schließt sich die dramatische Schilderung von Judas' Vorbereitungen zum Verrat. Man sieht ihn durch die dunkle Nacht eilen. Er dringt in Kaiphas' Haus ein und redet, von Wut und Rachegelüsten entstellt, diesem zu, noch in dieser Nacht Christus gefangenzunehmen. Die direkte Rede überwiegt: » . . . aut medias inter paterasque thorosque Aut soliti nemoris celsa sub rupe repertum Oppressumque dabo.« (Oliv. S. 17, Mitte.)

Auffällig ist die Form dabo, die gleichzeitig den Willen und die Zusicherung für Christi Gefangennahme enthält: Ausliefern werde (oder will) ich ihn dir. Es folgen dann die üblichen Imperative, in denen die letzten Vorbereitungen für Christi Festnahme bekanntgegeben werden. Die Häscher sollen sofort gesammelt werden. Man erlebt noch das Zusammenströmen der Soldaten, und in ungeordnetem Zuge bewegt sich die Masse der Kriegsknechte, Hohenpriester und Schriftgelehrten unter Judas' Führung zum Ölberg. Damit endet der erste Gesang. Im Anfang des nächsten findet sich wieder eine Schilderung der Hölle. Zwar folgt der Leser nicht den Spuren eines göttlichen Boten bis in die einzelnen Räume des Tartarus wie im Herodes II, sondern hier im Olivetum versammeln sich die Geister der Hölle und hören die Botschaft von Gottes »Gesetz« (lex) des Inhalts, daß auch Christus noch vor seinem Tode in Versuchung gebracht und gepeinigt werden soll von den Dienern der Hölle, wenn er auch ohne alle Schuld sei. Dann erst könne der T o d Christi Erlösungswerk krönen. Mit dieser göttlichen Botschaft erlebt der Leser ein seltsames Geschehen im Reich der Schatten. In der Technik des Totentanzes schildert Gryphius die Fürsten der Unterwelt nacheinander und ganz ausfuhrlich. Die Szene ähnelt im ganzen der des Herodes II, in der der Bote Gottes seine Befehle an den Tod auszurichten hat.

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War dort die Schilderung mehr auf das Gesamtbild, die Umgebung, überhaupt auf Unbewegtheit eingestellt, so scheinen hier im Olivetum die dunklen Geister in dauernder Bewegung zu sein. In großen Scharen ziehen sie vorüber. Niemand weiß, woher sie kommen und wohin sie gehen. Nur kurze Zeit sind sie dem Betrachter sichtbar; währenddessen werden sie aber in ihrer Furchtbarkeit genau charakterisiert. Sie eilen scheinbar herbei, um dem Ruf ihres Herrschers zu folgen und ihre versucherische Kraft an Christus zu erproben. Es ist nicht möglich, die Fülle der Beschreibungen in diesem Zusammenhang auch nur in Grundzügen wiederzugeben. Es soll nur ein Einblick gegeben werden in die Phantasie- und Vorstellungsbegabimg des jungen Gryphius. Einzelne Bilder sind aus dem Herodes wohlbekannt. Trotzdem entsteht hier eine Gesamtwirkung, die dem Publikumsgeschmack und dem dichterischen Gesetz damaliger Zeit entspricht. Wie in einem Totentanz ziehen die Diener der Hölle vorüber. Als erste erscheint die Strafe; ein blutiges Gewand hüllt sie ein, ihre Gestalt ist von Feuer und Blitz umzuckt und Schlangen und Nattern winden sich in ihrem Haar (S. 20 oben). In ihrem Gefolge befinden sich die Erinnyen, einzelne Marterwerkzeuge tragend, die zur Strafe für die Menschen den Träumenden als Albdruck drohen oder wirkliche Anwendung finden. Darunter sind einige Leidenssymbole, die auf Christi Passion hindeuten sollen, Ketten, Geißeln, Stangen und blutgetränkte Dornen und das Kreuz (Oliv. S. 20, Mitte), Symbole, die als Warnungszeichen (im Herodes I in der Szene auf der Flucht) der Maria im Traum erscheinen. Sehr ausführlich wird wieder der Tod geschildert und auch eine kurze Genealogie von ihm gegeben. Von der Schuld geboren, blieb er bis zum Apfelbiß Evas ungesehen. Vom Haß wurde er aufgezogen. Seitdem treibt er seinen Todeswagen durch die Welt. Dann zeichnet Gryphius bis ins einzelne ein neues Bild des Todes. Mit klammernder Geste sieht man ihn die Arme aus demHöllenschlunde emporrecken : »Par monstro facies: vacuos oculis extor(t)ibus orbes Exesae fugere genae, fractusque lacunis Nasus hiat, nec iniqua putres sedilia dentes Nec mentum cutis ulla ligat, patet auribus orbum Tempus, & exertis ceruis crepat ossea nodis, Ossea compages humeris, seps ossea lambit Terga, nigrae vacuo stabulantur pectore cenchres, Costarumque legunt arcus, releguntque, teguntque Multifido dorsi caudarum verbere s e r r a m . . . . β (Oliv. S . 20/21.)

In einzelnen äußeren körperlichen Merkmalen gleicht das Todesbild dem im Herodes II (Z. 271 ff.). Dichterisch erweitert wird es aber im Olivetum durch die Hinzufugung neuer Züge über seine verderbenbringende Wirkung. Blumen und Saaten vergehen in seinem Feueratem: »Qua tulit ora, cadunt rediuiui florea veris Dona, cadunt virides diris afflatibus herbae, Marcet ager, squallent segetes, afflicta recumbunt Culmina, dispereunt messes, & vieta rubenti Prata situ, moriturque ambustis frondibus arbo(r)...« (S. 2 1 . )

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Im Gefolge des Todes befindet sich auch der Hunger, in der gleichen Auffassung wie im Herodes II, 251 ff. (Oliv. S. 21). U m T o d und Hunger drängen sich die Helfer bei jeder menschlichen Folter: Durst, Seuche, Sorgen, List, Verschwendung, Wollust, Begierde, Krieg, Zwietracht, Tränen, Trauer, Schrecken und Furcht. Jede dieser Mächte ist mit kurzen Worten in ihrer Eigenart gekennzeichnet. Aber mit diesem Geisterzuge ist das Aufgebot der Hölle wider Christus nicht erschöpft. Es gibt noch wildere, mideidlosere Gesellen unter den Streitern Lucifers. Sie leben unsichtbar in der Luft oder tief unter dem Höllenboden. Lucifer ist ihr Führer, und so gilt ihm eine besondere, gegenüber dem Herodes I, Z. 50 bis 57 neuartige Beschreibung. Hervorgehoben wird darin seine frühere Herkunft aus den Reihen der Engel (Oliv. S. 23, oben). Gleichzeitig mit Lucifer dringt aus den unteren Höhlen des Erebus die Pest empor. Selbst Lucifer wünscht nicht ihre Begleitung, was er auch zu zerstören sich vorgenommen hat. Hier setzt noch einmal eine ausfuhrliche Charakteristik von der Gewalt Lucifers ein. Gryphius zeigt sich darin stilistisch als sehr geschickt. Über 15 Zeilen geht eine einzige Periode, die die Möglichkeiten der Heimsuchungen durch Lucifers Kommen bei den Menschen aufzählt. Dabei bilden die konjunktionalen seu, et oder aut die einzigen technischen Mittel. Die Steigerung liegt im Bildgebrauch und den verschiedenen Beispielen der Zerstörung wie Aschen- und Steinregen, Schwefelfall und Blutwellen und andere Naturkatastrophen (Oliv. S. 23). Dem Gefolge Lucifers gesellt sich auch die Verzweiflung zu (desperado), eine Macht, die sonst von Gryphius nicht angeführt wird. Sie spaltet sich mit eigenem Biß die Zunge und schreckt nicht ν jr gottschänderischer Verleumdung zurück. Sie wird mühsam gestützt von rabies, ambitio, molities, fastus und anderen. In sausendem Wolkenfluge strebt diese Schar zur heiligen Stadt mit dem einen Auftrag, Christus zu schrecken und von seinem Opfertod abzubringen. Noch einmal wird hier von Gryphius die gesamte Hölle aufgeboten, um gegen den Gottessohn, gegen den himmlischen Christus, zu kämpfen. Überblickt man diese Exposition zu dem nun folgenden Geschehen auf dem Ölberg selbst, so prägt sich wieder Gryphius' Wille zur dramatischen Zuspitzung besonders deutlich aus, der überall in seiner Jugenddichtung dahin zielt, das Ringen des Guten mit dem Bösen, des himmlischen mit dem höllischen Reiche zu zeigen. Hier wird der Hölle eine Machtstellung zuerkannt, von der aus sie gegen die Pläne des höchsten Gottes zu streiten hat. Daß Christus in diesem Kampfe beinah erliegt, ist für dieses Jahrhundert nicht auffällig. Es ist dies nicht so sehr die mittelalterliche Erlebnissphäre des Jenseitigen, sondern die viel gegenständlichere Luthers, die den christlichen Glauben zur Grundlage hat. Luther erschien das »Unrecht«, die »Sünde« und das »Böse« immer personifiziert, und er bekämpfte sie als Feinde seines religiösen Ich täglich und stündlich. Dazu passen auch die Einflüsse der Tradition. Durch die Dichtung Homers und Vergils wird diese Art der Beschreibung von Kämpfen zwischen Kräften des Himmels und der Hölle vorgebildet. Beide Dichter spielen in der Jugendausbildung in den Lateinschulen des 17. Jahrhunderts eine

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wichtige Rolle. Bei Gryphius ist die Tradition wohl übernommen, aber auch bereits verlassen. Die Position des Dichters hat sich verschoben. Der rein heidnische (homerische) Standpunkt, von dem das Handeln der Götter und Menschen gesehen wurde, ist verändert und zum größten Teil aufgegeben worden. Der Grund, auf dem der junge Gryphius steht, ist mit Sicherheit der christliche Glaube im lutherischen Sinn. Man darf den Kampf mit der lateinischen Tradition für ihn nicht als eine reine Bemühung um sprachliche Formgebung ansehen. Allmählich verschiebt sich mehr und mehr die Tendenz zu einer völligen Ablösung vom lateinischen Vorbild. Dies zeigt sich besonders in der Gethsemaneszene. Bei dem Herannahen der höllischen Mächte weilt Christus bereits auf dem ölberg; er fühlt die schwerste Versuchung kommen und fordert seine Jünger auf, mit ihm zu beten : »votis o nunc incumbite« (Oliv. S. 24, Mitte). Aber er fühlt, wie ihn lähmende Schwäche unwiderstehlich überfällt: »Concutit ossa metus, tristisque per intima régnât Corda dolor. Mors atra graues fera tela, sagittas Exerit, inque animam hanc toto ruit impete turbo Angorum, . . . « CS. 24, Mitte.)

Um so mehr sucht Christus neue Kraft im Gebet: »Nunc animis opus est, viligique precantum Robore.. .« (S. 25.)

Es folgt nun die Schilderung, die sich am engsten an die Bibel anschließt. Der Engel des Herrn in Gestalt der göttlichen Liebe (divus amor) naht sich dem zu Boden gesunkenen Christus und reicht ihm auf Gottes Geheiß eine Schale, die in einem heiligen Trank die Sünden der Menschheit (meriti funesta novissima mundi, S. 27) enthält. Der himmlische Vater gebietet ihm, diese Schale zu leeren. Hier ist der Höhepunkt des inneren Kampfes in Gethsemane. Sehr stark wird jetzt das Menschliche an dem schwach gewordenen Christus in den Vordergrund gestellt. Aber auch dieser Seelenkampf und damit das innere Ringen Christi mit der menschlichen Furcht vor dem Tode wird von Gryphius immer in dem größeren Gesichtskreis beobachtet, daß die höllischen Geister in dieser Stunde des Gebets die eine große Möglichkeit wittern, das Erlösungswerk an den Menschen zu verhindern. Die Anteilnahme des jungen Gryphius wächst in diesen Szenen, in denen die höllischen Scharen um Christi Entschluß zur Selbstopferung ringen, ganz besonders. Der Darstellung des letzten Ansturmes der höllischen Versucher wird von ihm eine besonders ausfuhrliche Szene gewidmet. Lucifer selbst versucht den Entschluß zum Gehorsam gegen den himmlischen Vater in Christus dadurch wankend zu machen, daß er ihn zu täuschen sucht, die Liebe Gottes sei erheuchelt und Jesu Gebet nicht mehr erhört. Aber weder ihm noch der »genetrix dirarum« oder der »poena«, die dem Heiland die schrecklichsten Marter- und Todeszeichen erscheinen läßt (S. 30, unten), ist Erfolg gegönnt. Wohl

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sinkt Christus nochmals in sich zusammen. Gleich ist auch der Tod da, der ihn umklammert und seiner Beute sicher zu sein glaubt: »Pallenteis mors saeua genas, tempusque manusquc Occupât, & gelido constringit pectora nexu, . . . « (S. 31, Mitte.)

Schon tritt Christi Blutschweiß hervor. (Seine Tropfen verwandeln die Blüten der weißen Veilchen in blaue.) Da sendet Gott einen hell strahlenden Himmelsboten, der Christus wieder aufrichtet und ihm neue Kraft gibt: »Ille D E U M geminis amplectitur obuius ulnis Collapsumque leuat, refugasque è pectore vires Restaurane, lachrymas oculis, membrisque cruorcm Abstergit, firmatque ánimos...« (S. 32, unten.)

Dann spricht er zu ihm die Heilsworte: ».. Ruentes Agglomeret styx fusa manus! confundat acerbas Poena neces! tonet Ira! truci mors atra sagitta Ingruat! instaurent aciem fera Tartara! Vinces.« (S. 33, Mitte.)

Christus wird siegen! Er bleibt der Erlöser der Menschen. Die Liebe des himmlischen Vaters währet ewig, und sein Sohn ist es, der zur Rechten des Vaters sitzen und über die Hölle herrschen wird (S. 34, Mitte). In diesem letzten Abschnitt bricht sich mehr und mehr der deutsche Stil des geistlichen Liedes Bahn. Die »rosenroten Wunden«, die »Küsse des himmlischen Vaters«, der »Thron von funkelndem Diamant« tauchen in lateinischer Sprache auf. Gegen Schluß des Gesanges spürt man deutlich genug den vorwärtsdrängenden Rhythmus, der seine Steigerungen in Imperativen, Konjunktiven und Wiederholungen hat: »Nec litat iste dolor; iam nil Pater alme recuso. Me, me, adsum, me flagra, rubi, ferrumque crucesque, Dilacerent, gelidoque mihi si corde superstes Haerebit post fata cruor; confossa dehiscant Pectora, supremoque undent mea fuñera tabo.« (S. 35.)

In diesem Zusammenhang wird besonders deutlich, wie sehr das Ausdrucksvermögen des jungen Gryphius nicht nur durch die lateinische Sprache überhaupt, sondern auch durch die religiöse Bedeutung des Stoffes und damit die Bibelsprache bestimmt ist. So erscheint im Olivetum die Ausdrucksstärke, die eigene dichterische Kraft weit mehr durch die Sprache behindert als in den Herodes-Epen. Dort bot der Inhalt ganz andere Ausdrucksmöglichkeiten. Die Spannung zwischen Heilig und Unheilig engte Sprache und Phantasie nicht so stark ein wie im Olivetum. Hier sind es vorwiegend die Szenen, in denen die höllischen Geister als Feinde Christi auftreten, in denen der Phantasie und dem Wort des Dichters Freiheit gewährt wird. Die Geschichte des Leidens Christi auf dem ölberg verträgt keine besondere Ausschmückung. So wirken auch die Vergleiche, die Bilder von dem Verfärben der Blumen durch Christi Blut, die attributreichen Ausmalungen von

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himmlischen Boten und Erscheinungen nicht besonders stark. Einzig scheint die schlichte Ergebung in den Willen des Vaters, wie sie die Bibel gibt, gewaltig aufgeschwellt zum heroischen Bild des Märtyrers, der in der Opfervorstellung schwelgt (Me, me, adsum . . . )· Der allen Menschen heilige Wortlaut der Leidensgeschichte erlaubt dem jungen Dichter nicht die eigenwillige Formung des Wortes. Hier grenzen unentwickeltes dichterisches Vermögen und pietätvolle Beschränkung nahe aneinander. Auch der dritte Gesang steht in engster Verbindung mit den Schilderungen vom Leiden Jesu im Neuen Testament. Wie schon oft, wird der Traum jetzt das stilistische Hilfsmittel für Gryphius. Im Schatten eines ölbaumes schläft Johannes im Garten von Gethsemane und hat dabei eine Vision von der Gefangennahme Christi. Eingeflochten sind wieder in diesen Traum symbolhafte Zeichen für die bevorstehende Passion. Petrus träumt von dem Ende des Verräters Judas, den trotz seiner Bitten kein gnädiger Tod erlösen will, und der schließlich, da seine Seele nicht anders von der körperlichen Hülle befreit wird, zerbirst. An solchen Stellen bricht wie immer Gryphius' Vorliebe für grausige Schilderungen durch (Oliv. S. 36, unten). Mit wenigen Unterbrechungen setzt sich die Traumschilderung im gleichmäßigen epischen Tone fort. Einzelne Bilder aus der Leidensgeschichte heben sich stärker durch ihre Darstellung heraus, ζ. B. die Geißelung Christi und Christus als Kreuzträger. Sehr geschickt löst Gryphius die Schwierigkeit des Wechsels von Traum und Wirklichkeit. Johannes sieht als letztes Bild den ans Kreuz geschlagenen Heiland; er sucht zu ihm zu gelangen; Christus blickt zu ihm herab, um ihn zu trösten. In diesem Augenblick tritt der wirkliche Christus zu den Jüngern, um sie zu wecken: »Nec minus excelsà moriturus, ab arbore Christus Despicere, & flentem alloquio recturus amicum Creditur; attonitum cum (¡am non somnia) J E S U S Excitât & paucis; Vigilate, nouissimus urget Terror & hostiles circumstant omnia turmae.« (Oliv. S. 38.)

Judas führt die bewaffneten Scharen heran. Von den Erinnyen zur Tat getrieben, gibt er den Häschern seine Befehle. An dieser Stelle unterbricht Gryphius noch einmal die Handlung. Die höllischen Geister fallen über die Scharen des Judas her und reizen diese zu sinnloser Wut 1 . Furor bringt sie zur Raserei. Wie beim Kampf der Giganten mit den Göttern fällt ihm diese Rolle zu: ....subitoque truces styx tota cateruas Corripuit; furor idem ánimos, furor excitât ignés, Nec se iam capit ipse, fremunt, ardentque nefandum Partiri facinus, cuneos obscaena profundi Inde acies, atque inde, hominum mentita figuras Ambit, & arcanas jacit in praecordia pestes;« (Oliv. S. 40.) 1 Vgl. dazu die Parallelen im Herodes I , Z. 592—595 und Z . 630—632. Die römischen Soldaten werden durch die Höllengeister zum Kindermord gereizt.

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Das Gleichnis vom Gigantenkampf, das später in verkürzter Form immer wieder in Gryphius' Lyrik auftaucht, dann aber meist auf die Weltuntergangsschilderung angewandt, fehlt nicht 1 : »Haud secus aethereo quam cum flagrante tumultu, In superum co(i)ere Ducem, tumidique proteruâ Seditione, citas rapuere per astra cohortes, . . . Producit turmas r a b i e s . . . . Qua celeres torsere gradus, stellata fragore Machina contremuit, libratique ardua mundi Nutarunt haud ferre manus dignata rebelles;« (Oliv. S. 40.)

Dieser wilden Menge tritt Christus entgegen. Um seine Schläfen strahlt himmlischer Glanz. Als Gott und Richter wirkt er in seinen Worten und seiner Haltung, so daß die ganze Schar der Soldaten, Hohenpriester und Schriftgelehrten wie gelähmt zu Boden sinkt. Nachdem Judas' verräterische Umarmung ihn den Kriegern als den gesuchten Christus bestätigt hat, läßt er sich fesseln. Soweit folgt die Darstellung der biblischen Erzählung, dann aber beginnt eine ausführliche Rede Christi, die dichterisch besonders ausgeführt ist. Teils enthält sie eine furchtbare Anklage gegen Judas, teils eine Rechtfertigung des eigenen Erdenwandels. Stilistisch überwiegen in der Rede Fragen und Interjektionen. Anknüpfend an das Bibelwort Matth. 26, 50 amice, ad quid venisti ? beginnt Christus zu Judas gewendet mit einer Reihe kurzer Fragesätze: » . . . Quis amice vcnis ? Tun' basia fraudi, Praestruis? exitio, pacem? queis perdimur, eheu! Blanditijs? & quo coeunt tot in arma phalanges? O scelerum vesane l a b o r ? . . . « (Oliv. S. 42.)

Danach steigert sich der erregte Ton der Rede bis zu längeren Sätzen allgemeinen Inhaltes. Im Hauptteil wendet Hohenpriester und Schriftgelehrten und zwar im Anschluß Jetzt überstürzen sich die Interjektionen, die Anreden, bei pronomen an den Anfang jeder Periode gezogen wird:

einem Mittelteil mit sich Christus an die an Lucas 22, 52/53. denen das Personal-

»Vos ego. Vos Solymae ciues. Deuotaque sacris Agmina, vos quotquot Patrias indagine leges Discitis assidua... « (Oliv. S . 42, unten.)

Der Schluß bringt dann noch allgemeine, zusammenfassende Gedanken, in denen Christi und der Hohenpriester Handeln gegenübergestellt werden (S. 43). In diesen Formen der Rede spiegelt sich der Empfindungsgrad und der Affektzustand des Dichters wieder, wenn auch verdeckt durch die klassisch lateinischen Formeln. Den gleichen traditionsgebundenen epischen Charakter tragen auch die nächsten Szenen, in denen nur Malchus' Verwundung und Petrus' Verleugnung bis ins einzelne ausgemalt werden (S. 43 und S. 45/46), während Christi Abschied von den 1 Vgl. im Olivetum auch S. 41 und S. 47 die Weltuntergangsschilderung, dazu auch die Balde-Übersetzungen.

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Jüngern nur kurz erwähnt wird. Besonders wirkungsvoll ist eigentlich nur die Beschreibung des Zuges, in dem Christus als Gefangener nach Jerusalem geführt und vom Volk mißhandelt wird (S. 44/45). Ein stilistisch völlig anders gearteter Abschnitt setzt mit der Kreuzigungsschilderung ein. Gryphius wendet hier die Rahmenerzählung als Stilmittel an, ohne darin Einzelheiten der Kreuzigung auszumalen und ohne eine besonders dichterische Stimmung zu gestalten. Vielleicht blieben die Einzelheiten fort, weil er ein besonderes Epos mit dem Thema »Golgatha« plante oder bereits angefangen hatte, von dem uns bisher nur der Titel bekannt geworden ist. Den Übergang zu dieser indirekten Art der Erzählung schafft eine Naturbeschreibung, die hier wie überall besonders wichtige Momente der Handlung einleitet. Ausführlich beschreibt Gryphius, wie die Sternbilder in der Nacht vor Christi Kreuzigung ihren Glanz verlieren. Auch tags breitet sich Dämmerung über das heilige Land, Sturm fegt darüber hin, und der Kidron braust wildschäumend in seinen Ufern. Die Nymphen fliehen zu der Höhle des Flußgottes, der in allen Zeichen der Trauer ihnen das unheilvolle Geschehen auf Golgatha schildert. Seine Darstellung beruht auf der Prophezeiung, die einstmals David auf der Flucht vor Absalom dem Flußgott selbst gab. Während sich also auf Golgatha die Kreuzigung Christi vollzieht, schildert der Gott Kidron diese nach der ihm im Gedächtnis gebliebenen Beschreibung Davids. Am Anfang steht die Prophezeiung von dem drohenden Untergang Jerusalems, der als Strafe für Christi Marter und Tod angesehen wird: »Iamque instat voluenda dies, qu(a) merget in atras Disjectam Ranimas Solymen; . . . .« (Oliv. S . 4 8 , oben).

An einigen Stellen glücken dem Dichter eindrucksvolle Steigerungen, die rhythmisch und syntaktisch die Gesetze der lateinischen Sprache nahezu sprengen und an die enthusiastischen Partien in den deutschen Übersetzungen und Oden erinnern. Hervorzuheben ist die Form der Weissagung, daß Gottes Sohn zu den Völkern herabsteigen und zum Erlöser der Menschheit werden werde. Der Prophet fühlt sich fortgerissen und schaut die Zukunft von Jahrhunderten: » . . . Quo te prccor alma Tonantis Progenies? quo cogit a m o r ? quis me impetus aevi Abripit in Seriem? Trepidoque ignota recludit Sécula? T e n video Sanguis m e u s ? ite revulsis Arboribus umbrate vias, date lilia gentes. Nexilibus date serta rosis! Hosanna! Deorum lile D E U S , D E U S ille venit. D E U S ipse volentem Destinât auxilio miseris.« ( S . 49/50.) 1

Aber das Volk Jerusalems wird geblendet sein. Sie werden die Gottheit nicht erkennen, und so wird sich die Leidensgeschichte erfüllen. Dann wird der Kidron am 1 A n dieser Stelle ist im T e x t auf die falsche Seitenzählung zu achten. Dort werden die Seiten 48/49 zweimal mit der Ziffer 48 bezeichnet. Das »Olivetum« hat demnach nicht 5 1 , sondern 5 2 Druckseiten.

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allermeisten trauern und wird seinem Schmerz und seiner Empörung über das Unrecht an dem Gottessohn Ausdruck verleihen. Blutige Wellen führend soll er über die Ufer treten, soll die Urne zerschmettern, soll die Kränze aus 'dem Haar reißen und die Klage anstimmen, denn er wird das Leiden des Herrn erblicken. Den Höhepunkt bildet dann die Beschreibung von Christi Haupt und Körper im Augenblick des Sterbens. Als nahe Vision erscheint dem Propheten das »caput cruentatum«: ». . . . quis me ille per astra Turbo rapit? quae sese anirnis, quam tristis imago Ingerii? Ecce crúor faciem, crúor ora genasque, Membra crúor, merus ecce crúor premit ínclita quondam Lumina & innumero de vulnere corpus inundat Vulneribus patulum crúor, ut cita lympha perenni Fonte cadit « (Oliv. S. 5 1 , oben.)

Sieht man von den üblichen Frageformen ab, so überwiegen die Substantiva in dem mehr und mehr hymnenähnlichen Stil. Als Themawort wird »cruor« zum Leitmotiv für diese Klage um Christi Leiden. Die Häufung des gleichen Hauptwortes ist hier besonders geschickt angewandt; sie wirkt nicht als Reihe, sondern als Sinnhervorhebung, und zwar durch die Betonung dieses Wortes, das als erstes Substantiv jeden Nebensatz einleitet. Auch als Satzzusammenfassung tritt es dann wieder an das Ende einer längeren Periode. Es ist hier schon im Lateinischen die später im Deutschen häufig wiederkehrende Form des Satzzusammenschlusses durch Wiederaufnahme des gleichen Substantivs nachweisbar, wie sie im Altlatein bereits ausgeprägt war. In den Übersetzungskapiteln wird darauf noch zurückzugreifen sein. [Vgl. dazu die Nachweise bei Conrady passim.] Ein kurzer Hinweis auf das Sterben, die Grablegung und die Auferstehung Christi beendet das Olivetum. AufFälligerweise sind diese Abschnitte von Gryphius nicht besonders ausgeführt; wahrscheinlich waren auch sie als Hauptbilder dem lateinischen Golgatha-Epos vorbehalten. Die letzte Steigerung in dem Prophetenbericht bildet das Eingehen Christi in das Himmelreich: »Sitzend zur rechten Hand Gottes, zu richten die Lebendigen und die Toten«: »Jubila io! io! jubila io! fremuere tubarum Augusto clangore poli, fremuere remota Littora, fulguribus coelum rutilare serenis Conspicio, dum regna Deus suprema capessit Dexterior Patri aequaeuo pedibusque subactos Calcat & attonitos flammas displodit in hostes.« (S. 5 1 , unten.)

In dieser Apotheose muß man den abschließenden Höhepunkt sehen, wenn die Rede des Propheten auch noch beinahe weitere 40 Zeilen einnimmt. Sie enthält die Beschwörung der »Rache«, die den Untergang Jerusalems unter den schrecklichsten Strafen herbeiführen soll. Nie mehr soll das Volk bei Gott Hilfe finden. Der Untergang ist den Mördern Christi bestimmt. Mit dieser Verfluchung endet die Rede des Kidron. Die Nymphen durcheilen klagend Wiesen und Felder des Tales. Der Gesamtüberblick über diese umfangreiche geistliche Dichtung des jungen Gryphius in lateinischer Sprache rechtfertigt das, was er von seinem Olivetum

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selbst sagte: es überwiegt hier die poetische Erfindung. Zwar nicht mehr so einseitig wie im Herodes, aber doch spürbar an den Stellen, an denen er Grausamkeit oder Herrlichkeit der Passion gestaltet. Jede Möglichkeit dafür benutzt er. Geht man vom größeren zum kleineren Merkmal, so wird schon die Einrahmung der Ölbergszene durch den Kampf zwischen der Hölle und dem Himmel ein Beispiel dafür. Menschliche Verfehlungen, wie der Verrat des Judas und der Entschluß zur Gefangennahme Christi, werden mehr und mehr als Ergebnis eines Kampfes zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gott und Lucifer, zwischen Christus und den Höllenscharen hingestellt. Der Gewissenskampf Christi auf dem ölberg stellt demnach für Gryphius die Entscheidungsstunde dar, ob sich Gottes Wille, der sich in der »sündigen Menschheit Erlösung« offenbaren soll, gegenüber dem Willen der Hölle, nach dem der Menschheit Untergang in den Strafen des Inferno feststeht, zum Siege gelangt. Daher also das ganze Aufgebot aller Höllenmächte, die nun Christi Entschluß durch Ahnungen und Drohungen von den Qualen, Martern, Beschimpfungen und Todesschmerzen wankend machen wollen, sich dem Willen des himmlischen Vaters zu beugen. Gryphius geht noch von einem von unserem heutigen religiösen Erlebnis der Passion verschiedenen Standpunkt aus, dessen Fundament noch in der Erlebniswelt des jungen Luther steht, der seine Entschlüsse dauernd von dem »Versucher« bedroht sieht. Gryphius überträgt in seiner religiösen Empfindungswelt ähnliche Vorstellungen auf Christus, sieht den Gottessohn ganz als Menschen und schildert so die Stunde in Gethsemane als die menschlichste und vielleicht schwächste im Leben des Herrn. Der Sieg bleibt Christus und Gott und damit dem Himmel. Der Hölle bleibt wieder nur die Heimsuchung des einzelnen Verräters, während das Menschengeschlecht erlöst ist. Erst in solchem größeren Rahmen gesehen gewinnt das Olivetum für die Stilfrage den passenden Hintergrund. Jetzt ordnen sich die »poetischen Erfindungen« leichter in das Ganze ein. Dazu gehören die Schilderungen vom Himmelreich und der Unterwelt, die Personifikationen von himmlischen Kräften z. B. in der Gestalt des Engels, der gesandt wird, um Christus in höchster Not zu stärken; es gehören gleichfalls alle höllischen Mächte dazu, wie Strafe, Tod, Hunger, Pest und andere; schließlich auch im formalen Sinne die Monolog- und Dialogszenen der beteiligten Personen aus Christi Leidensgeschichte. In diesem Rahmen müssen auch die zahlreichen Vergleiche und Bilder gesehen werden, die sich nicht immer zwanglos, sondern absichtlich der ganzen Dichtung einordnen. Die Andacht des Dichters, besonders des jugendlichen, verlangt damals mehr als nur ein Ergriffensein, um eine religiöse Haltung zum Ausdruck zu bringen; hinzutreten muß die »dichterische Erfindimg«. Man sieht darum diese lateinischen Jugenddichtungen nur dann historisch richtig, wenn man ihre Entstehung und besonders ihre stilistische Formimg unter der Kontrolle des Bewußtseins sieht, wenn man also die lateinische Sprachform gleichfalls als Teil der poetischen Erfindung anerkennt und wertet, wie es jetzt von Conrady konsequent durchgeführt ist.

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Kapitel IV. Epigrammatum liber I (1643), Parnassus renovatus und kleinere lateinische Gelegenheitsgedichte. Außer den drei großen lateinischen Hexameterepen werden die lateinischen Poesien des jungen Gryphius zwar zahlenmäßig noch durch einige Nebenarbeiten vermehrt, aber nicht dichterisch bereichert. Diese lateinischen Gelegenheitsdichtungen sollen auch nur so weit unter dem Gesichtspunkt mit einbezogen werden, als sich in ihnen Zusammenhänge oder Ähnlichkeiten mit den Hexameterepen finden1. Schon an Umfang überragen der »Parnassus renovatus«, eine Lobeshymne auf Schönborn und das »Epigrammatum über I« die verschiedenen kleinen heute noch erhaltenen Verse, wie sie Gryphius ζ. B. in den »Acclamationes votivae« als Proben seiner lateinischen Gelegenheitsdichtung gibt. Im »Parnassus renovatus« und in den lateinischen Epigrammen zeigt sich allzu deutlich, wie stark die lateinische Tradition noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf die Zurückdämmung der dichterischen Phantasie einzuwirken vermochte, wenn nicht der einzelne Dichter aus unaufhaltsamem religiösem Impuls einen anderen Inhalt und eine andere Form zu schaffen vermochte. Im »Parnassus renovatus« haben wir ein Beispiel für die phantasietötende Macht des üblichen, einem Gönner zugedachten lateinischen Lobgedichtes. Manheimer, der den Text in der Danziger Stadtbibliothek entdeckte, hat schon in einer kurzen Inhaltsangabe die gedankliche Hohlheit und phantasielose Schilderung ausreichend hervorgehoben: »Eine in der Erfindung unbedeutende Göttergeschichte, die voller Reminiszenzen an Vergilische Wendungen steckt und in einen panegyrischen Schwanz dick aufgetragener Lobhudeleien Schönborns ausläuft « (Lyrik a . a . O . S.226ff.). Für unsere Fragestellung ist dieser Hymnus auf Schönborn aus einem besonderen Grunde wichtig. Ich hatte in den Epen auf das Aufbauschema einzelner Szenen bei den Versammlungen der himmlischen und höllischen Geister hingewiesen. Dabei konnte ich die reiche Ausmalung von Einzelheiten und die phantasievolle Charakteristik einzelner Gestalten hervorheben, weil der junge Gryphius aus einer persönlichen religiösen Beteiligung heraus das klassisch-lateinische Vorbild völlig umformte und sich beinahe von der Tradition freimachte. U m so deutlicher tritt die rein thematische Ausnutzung verschiedener aus dem Herodesepos bekannter Szenen im »Parnassus renovatus« zutage. Außer Proömium und Musenanrufung erleben wir die gleichen inhaltlichen Vorgänge. Wie die Rache im Olivetum zu Gott, so geht hier die Fama zu Phoebus und beklagt sich über die Unfähigkeit der Dichter. Phoebus beruft die übliche Götterversammlung. Es folgt die bekannte Schilderung der einzelnen Götter. Es gibt auch Feinde der Dichtkunst, zu denen Mars und die Furien von Gryphius gerechnet werden. Doch auch die Dichter werden selbst schuldig gesprochen. Es entspinnen sich längere Dispute über die Frage, ob Liebesgedichte berechtigt seien oder nicht. 1 Erst in der Textausgabe habe ich eine möglichst vollständige Liste dieser lateinischen Gelegenheitsdichtungen geben können, die noch von M . Szyrocki um ein Stück ergänzt werden konnte. Vgl. dessen Arbeit »Der junge Gryphius« S. 135 fr. und Anhang IV.

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Pallas Athene schlichtet den Streit. Es gibt nur eine Rettung und einen Retter, die vernachlässigte Dichtkunst in Deutschland wieder aufzurichten. Schönborns Name wird genannt. Natürlich ist er der Dichter, der den Parnaß bewohnen soll. In einem Freudentaumel der Götter ob dieser Lösung und einem Ausblick auf das von Schönborn heraufzuführende goldene Zeitalter der Dichtkunst ender der dick aufgetragene Lobpreis. Demnach erweist sich ohne weiteren Kommentar nach dieser stichwortartigen Inhaltsangabe der 420 Hexameter wohl der Gelegenheitscharakter dieses »Parnassus« zur Genüge. Nur ein Beispiel soll außer den Proben, die Manheimer S. 227/28 a. a. O. gibt, für die stilistische Formung einer aus dem Herodes und dem später liegenden Olivetum bekannten Szene hier stehen. Es handelt sich um den Augenblick, in dem die niederen Götter ihren Platz in der Götterversammlung einnehmen, nachdem Minerva, Diana, Venus und Cupido bereits eingehend mit den üblichen Attributen geschildert sind. Gerade das Erscheinen der vielen Geister, besonders der der Hölle, hatte Gryphius im Herodes stilistisch geschickt durch besondere Wortwahl und Ausschmückung der Szene zum Ausdruck gebracht. Dort teilte sich im Verbgebrauch etwas von der Unheimlichkeit der Unterweltsstimmung mit. Hier bleibt es bei der kärgsten Aufzählung des nach der Tradition notwendigen Beiwerks : »Inde aliae veniunt N y m p h a e , Dryadesque seqvuto Nerei d u m Phorcique; choro laetoque tumultu Commistae glomerantur Oreades, omnia fervent Concursu, . . . .«

Ähnlich ist es mit der anschließenden Schilderung des Phoebus: » donee medium sese intulit ipse Castalidum et Charitum P H O E B U S stipante coronâ, Magnifica insignis lauru, manibusque sonantem Fert Cytharam, gradiensque Deas supereminet omnes, H u e illue volvens faciem, veniamque sedendi Porrecta jubet esse manu, paruere jubenti.« (Seite 4 des »Parnassus«.)

Unerträglich werden am Schluß die allzu zahlreichen Prädikate für Schönborns charakterliche und dichterische Gaben. Es wird an diesen Stellen nur deutlich, welche Gefahr für die junge deutsche Kunstdichtung in den traditionsgebundenen lateinischen Formen lag. Dies ist nicht mehr der Ton der neulateinischen Laudes des 16. Jahrhunderts. Hätte diese Art lateinischer Traditionspoesie, wie man sie bei Gryphius' Gelegenheitsgedichten findet, das Übergewicht erhalten oder wäre diese lateinische Form ohne Änderung der dichterischen Haltung ins Deutsche übernommen worden, so hätte sich statt der Epoche derNeuschöpfung sprachlicher Formen eine Zeit der völligen sprachlichen Unselbständigkeit in die Geschichte der deutschen Dichtersprache eingeschaltet. Denn das Beispiel des jungen Gryphius ist nur symptomatisch fur eine Generation. Das gleiche Bild ergibt sich für die lateinischen Epigramme, die zwar erst im Jahre 1643 erschienen (vgl. Manheimer, Lyrik a. a. O. S. 241), aber wohl eine

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Sammlung von frühesten Versuchen in lateinischer Sprache darstellen. Mit den d e u t s c h e n Epigrammen, auch mit den in Berlin vorhandenen des ersten Buches (Einzeldruck), sind sie nicht identisch. Auch hier kann ich mich dem Urteil Manheimers anschließen, der diese Gelegenheitsarbeit kurz abtut (S. 241). Trotz ihrer künstlerischen Wertlosigkeit haben sie eine besondere dichtungsgeschichtliche Bedeutung für Gryphius' Sprach- pnd Stilentwicklung. Denn wie im »Parnassus renovatus« bieten sich uns in diesen Proben lateinischer Gelegenheitsdichtung die Beweise für die Macht der lateinischen Sprache in dem Jahrhundert, das dem größten Zeitalter deutscher Sprachschöpfung der Neuzeit folgt. Abgesehen vom lateinischen Drama der Jesuiten, das in seiner Wirkung und in seinem Bestand über das 17. Jahrhundert hinausreicht, hat die lateinische Tradition nicht nur im Epos, sondern auch in anderen Formen traditioneller lateinischer Lyrik ihre Stützpunkte. An Gryphius' späteren Dichtungen gemessen ist es kaum vorstellbar, daß seiner frühen Entwicklung noch so primitive sprachliche Formen anhaften. Viele lateinische Epigramme sind die Versuche eines jugendlichen Talentes, das jede F o r m meistern möchte. Nur einzelne gehen im künstlerischen Wert darüber hinaus. Die Hauptmasse bilden spöttische Scherze über Mitmenschen und Nachbarn mit satirischem Einschlag. Weder inhaltlich noch formal erreicht Gryphius auch nur an einer Stelle die Vollendung in den Distichen eines Czepko, Angelus Silesius oder gar Logau. Im Zusammenhang mit den lateinischen Epen stehen nur einige religiöse Vierzeiler, die gleich im Anfang der Sammlung zu finden sind. Einige stammen aus den Jahren um 1637/38 und beziehen sich auf Schönborns Tod. Weder bei den einen noch bei den anderen nähert sich Gryphius in der dichterischen Form seinen Epen oder einzelnen seiner Gelegenheitsgedichte, ζ. B. im »Brunnendiskurs« auf Schönborn. Im ersten Stück handelt es sich um ein recht mühsam gebasteltes Anagramm auf Jesus: Jesus per Anagram. VIS E S . »Maxima Vis J e s u ! quando me maxime Vises Quem stygii terrent agmina foeda Ducis? Vis mea rumpe moras Viresque nigrantis averni Comprime. Vim trépidât, mors Satanasque Tuam. (Epigrammatum liber I, I.Exempl. Göttingen, u. Β.)

Das zweite Epigramm hält sich durch blasse formalistische Antithesen, die zwar ein Thema aus dem Olivetum benutzen, aber auch nicht einen Hauch von religiöser Beteiligung vermitteln: Christi in Horto Sudor sanguineus. »Dum calet ira Patris; calet hoc mihi pectus amore. Tostaque sudato membra cruore madent. Quem crúor hic lachrimas, quem non calor urget ad ignés Iam pati tur stygii frigora lenta rogi.« (Epigrammatum liber I, II ebd.) WentzlalT-Eggebert

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Stilistisch repräsentieren diese und ähnliche Versuche (ζ. B. die Epigramme 4 und 5 : Tumulus Adami. Eritis sicut Dii und Tumulus Hevae Matris. viventium) die Qualität einer Schulaufgabe. Unter den Gelegenheitsepigrammen interessieren uns zwei auf seinen Geburtstag (S. 6), die sich ähnlich auch in seinen deutschen Epigrammen finden (Epigramme I. Buch 1643 Nr. 41, Exemplar d. Staatsbibl. Berlin); ebenso die Epigramme auf Schönborn, von denen eins die Widmungszeilen des »Parnassus renovatus« enthält , ein Zeichen dafür, daß einige dieser Epigramme schon in den Jahren um 1636 entstanden sind'.In diesem Jahr erschien der »Parnassus renovatus« (vgl. Manheimer, Lyrik S. 226). Unter diesen zu Ehren Schönborns in der Form eines »tumulus« gedrechselten Distichen (S. 9 und 10) zeigen einzelne Verse den typischen Häufungsstil neben den bekannten Bildern vom Lebensschiff: Lateris sinistri. Cursum consummavi. 2. Tim. IV v. 7. Munde, dolor, lachrymae, spes, sors, crux, cura V A L E T E ! Carnis, ad hunc portum, fracta carina jacet.«

In der Folge setzt sich die Reihe der Laudes, der Hochzeitsepigramme und der Satiren auf Zeitgenossen fort. B i o g r a p h i s c h , nicht stilistisch entdeckt man mancherlei Bemerkenswertes (Epigramme auf Eugenie, auf Lehrer und Freunde). Im ganzen bleibt das entschuldigende Schlußepigramm ein schwer anzuerkennendes Gesamturteil über dies lateinische Epigrammbuch: Ad LECTOREM. »EXiguae quas nostra tibi dat Musa pagellae; SI bona nulla tenent; nec mala multa tenent.«

Wie der »Parnassus renovatus« und die kleinen lateinischen Gelegenheitsgedichte, die hier nicht mehr behandelt werden sollen, hat eine solche Epigrammsammlung für die Kenntnis von Gryphius' sprachlicher Entwicklung nur die Bedeutung, daß sie Gefahren zeigt, die der Dichter durch seine künsderische Veranlagung überwand. In welchem Maße er diesen Gefahren der Tradition durch bewußte Wort- und Stilübungen zu begegnen suchte, zeigt das nächste Kapitel, in dem die Übersetzungen aus der neulateinischen Dichtung zu analysieren sind, ohne daß dabei an zwei aufeinander folgende Schaffensperioden zu denken wäre. 1

Ad Nobiliss. Ampliss. S C H Ö N B Ö R N I U M . Cum illi Parnassum Renovation inscriberet. »SUscipe, sed facilis, tenui fulgentia cultu Carmina, vix oculis, dona beanda, Tuis. Si tarnen ista tuis paulum modo merseris undis ; Pulchrius è pulchro fonte levabis opus.« (S.7.)

N u r die Zeichensetzung ist im T e x t des Dedikationsexemplares verändert. Vgl. dazu jetzt die Ergänzungen zu diesem Abschnitt im Anhang IV.

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III. Teil.

Gryphius' Ubersetzungen aus dem Lateinischen. Kapitel I. Nicolaus Causinus: Felicitas. Für die Betrachtung von Gryphius' Übersetzungen aus dem Lateinischen muß immer wieder die Frage nach den Gründen für die Wahl des Vorbildes gestellt werden, denn die Wahl des Gegenstandes der »Wortübung« kennzeichnet meist auch den Stand des sprachlichen Ausdrucksvermögens. Je früher die Übersetzung liegt, desto deutlicher ist der Wille zur formalen Schulung in der deutschen Sprache erkennbar. Opitz* Tendenz, die deutsche Sprache der zeitgenössischen ausländischen als gleichwertig gegenüberzustellen, ist für den jungen Gryphius nicht bestimmend. Er bewegt sich in den Jahren um 1634 noch ganz im lateinischen Sprachkreis. Die Tradition des Späthumanismus behindert ihn zu stark. Die verschiedenen Grade seiner Traditionsgebundenheit habe ich in seinen epischen Versuchen in lateinischer Sprache, am »Herodes I und II« und am »Olivetum« nachzuzeichnen versucht. Dort zeigte sich bereits neben den lyrischen Partien eine deutliche Neigung zur dramatisch aufgebauten Szene. Auf dieser Linie liegen auch die frühen Übersetzungen aus dem Drama der Neulateiner. Die Jesuitendichtung ist es, die ihn so früh in ihren Bann zieht. Wenn sich Gryphius trotz seiner Jugend in eine dieser lateinischen Märtyrer- und Duldertragödien einzufühlen vermag, so liegt das zum Teil in dem Schicksal seiner freudlosen Jugendjahre begründet, von deren Stimmung auch diesen lateinischen Dramen etwas anhaftet. Schmerzschilderungen und gleichmäßig dunkle Bilderreihen fugen sich aneinander. Stoisches Selbstbewußtsein vereinigt sich mit einer starken Gläubigkeit. Der Durchbruch zum deutschen Dichtungsstil ist noch nicht endgültig erfolgt Der junge Gryphius empfindet deutlich genug die Begrenzung, die für ihn in der lateinischen Ausdrucksweise liegt, und versucht jetzt nach dem Beispiel der Gleichaltrigen durch die poetische Übung in der Muttersprache die Fähigkeiten zur deutschen Dichtung zu erwerben. Auf diesem Wege zur sprachlichen Freiheit liegen seine Übersetzungen aus dem Neulateinischen. Er folgt dabei dem Trieb zum inhaltlich bekannten Vorbild, wenn er auch noch nicht aus einer so seelisch adäquaten inneren Haltung heraus schafft wie in den späteren Balde-Übersetzungen. Ihn lockt es, die eigenartig unreale und doch höchst realistisch in dichterische Bilder gefaßte Welt des Jesuitendramas in seiner Muttersprache nachzubilden. Zur eigenen deutschsprachigen Dichtung dieser Stoffe fühlt er sich noch nicht sicher genug. Erst nach einer langen sprachlichen Entwicklung überwindet er schließlich die lateinische Tradition. Zu den Vorstufen dieser Entwicklung zum deutschen Stil können wir seine Übersetzimg der Tragödie »Felicitas«1 des Nicolaus Causinus rechnen. 1 Zitiert wird nach dem Exemplar der Staatsbibliothek Berlin, Nicolaus Causinus: Tragoediae sacrae, Paris 1620, S. 153fr.

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Inhaltlich handelt es sich um eine der vielen Märtyrertragödien der neulateinischen Dramenliteratur, die nach dem mitleidlosen Dogma jesuitischer Beichtväter die Prüfungen einer gläubigen Frau darstellen sollen. Causinus, Berater und Beichtvater Ludwigs XIII. (vgl. H. Palm, Trauerspiele, S. 64off.), läßt in seinen vier Heiligentragödien die Leidensbereitschaft katholischer Gläubiger, hier der heiligen Felicitas, zum Beispiel werden für die Gläubigen und läßt die Märtyrerin unter entsetzlichen Körper- und Seelenqualen das katholische Dogma Roms verkünden. Der nähere Inhalt ist unwichtig für unsere Zwecke. Hier folgt Gryphius noch unbewußt dem katholischen Vorbild, während er in späten Jahren als strenggläubiger Protestant erbittert für die Erhaltung der evangelischen Lehre in Schlesien kämpfte. Einzig und allein für Gryphius' Entwicklung zur deutschen Sprache wird diese Übersetzung wichtig. Sie zeigt die geringen Möglichkeiten seines deutschen Ausdrucksvermögens bei Übersetzungen. Palm läßt für die Entstehungszeit dieser Übersetzung einen weiten Spielraum. »Wir werden nicht irren, wenn wir sie vor die fruchtbare periode der jähre nach 1646 vorverlegen« (S. 642). Wenn man daran denkt, daß bis zum Jahre 1646 Gryphius' Entwicklung zum deutschen Stil fast völlig, abgeschlossen ist, so ist mit Palms zeitlicher Begrenzung keine brauchbare Bestimmung gewonnen. Näher kommt man einer zeitlichen Festlegung schon, wenn man, abgesehen von der Stilbetrachtung, an der Tatsache festhält, daß das Exemplar, das Gryphius für die Übersetzung benutzte, bereits 1634 in seinem Besitz war. Im Exemplar der Stadtbibliothek Breslau findet sich nach Palm die handschriftliche Einzeichnung: Andreae Gryphii musis sacer a. 1634. Veröffentlicht wird zwar die Übersetzung von Gryphius erst in der Ausgabe von 1657. Trotzdem wird man ohne große Gefahr auf Grund der Stilbetrachtung die Entstehungszeit in die Jahre 1634 bis 1637 verlegen können. Es entspricht der sprachlichen Entwicklung, wenn diese Übersetzung zwischen den lateinischen Epen und den Sonnund Feyertags Sonetten liegt. Vielleicht ist sie überhaupt die erste Übersetzung nach einer lateinischen Vorlage. Wie eng die Sprache an den lateinischen Stil und ganz allgemein an die Sprache des lateinischen Dramas der Jesuiten gebunden ist, läßt sich nur durch einige Proben aus der Übersetzung im Vergleich mit dem Original erweisen. Diese Proben haben aber auch gleichzeitig als Grundlagen und Vergleichsmöglichkeiten für die Übersetzungsinterpretationen aus den späteren Jahren Bedeutimg, da sie schon Charakteristisches für Gryphius' späten deutschen Stil erkennen lassen. Hauptsächlich habe ich darauf im Wortvergleich zwischen Original und Übersetzung Wert gelegt. So erfolgt auch die Auswahl der Beispiele nach den stilistischen Merkmalen, die sich für Gryphius' lateinische Jugenddichtungen als charakteristisch feststellen ließen. Das Trauerspiel von der »beständigen Mutter« Felicitas hätte wohl Anlaß genug zu inhaltlichen Erweiterungen gegenüber dem Vorbild gegeben, aber die Unsicherheit auf dem Boden der Übersetzung ist noch zu groß, um längere Zusätze und Aufschwellungen in deutscher Sprache zu wagen. Der Zwang für den Übersetzer, die lateinische »brevitas« im Deutschen beizubehalten, wird für Gryphius nicht spürbar,

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da er der deutschen Ausdrucksweise noch zu wenig mächtig ist und nur in einer Wort-fur-Wort-Übersetzung sein Ziel erreichen kann. So weiß er auch nicht in allen Punkten Opitz' Weisung, daß die Muttersprache »prächtig und zierlich« klingen solle, zu erfüllen. Er nimmt also keine Umformung des lateinischen Stiles in seiner Übersetzung vor. Die Stärke und Bewegung des Ausdrucks versucht er durch die Wahl des einzelnen Wortes zu steigern, um damit wenigstens in seinem Stil »prächtig«, wenn auch nicht »zierlich« zu scheinen. Hinzu kommt seine persönliche Eigenart, die sich schon in der Herodes-Dichtung verraten hatte, möglichst Grausiges und Qualvolles zu schildern. Gibt ihm schon der lateinische Text des Causinus reichlich Gelegenheit dafür, so steigert er diese Züge seiner Übersetzung durch sinnkräftigere und wirkungsstärkere Worte. Bei diesem Jugendwerk ist es wohl noch nicht so, daß »die Absicht auf Deutlichkeit, wie überall im 17. Jahrhundert, zur Breite, zur Vervielfältigung, Wiederholung, Umschreibung, nicht zur Präzision« führt (vgl. Joseph, a. a. O. S. 20). Diese Feststellung, die Joseph nach Studien über die damaligen Horazübersetzungen macht, hat nicht so allgemeine Gültigkeit, wie er sie beansprucht. Erst in späteren Jahren der dichterischen Entwicklung trifft sie auch für Gryphius zu. Trotzdem entfernen sich Vorbild und Übersetzung in anderer Weise voneinander. Es zeigen sich besondere Einflüsse, die in dem lateinischen Stil des Causinus ihre Wurzeln haben, der seinerseits seine Abhängigkeit von der altlateinischen »Barockdichtung«, Seneca und Lucan, nirgends verbergen kann 1 . Bei der Achtung vor dem Original und bei dem Willen, möglichst kein Wort des Causinus unübersetzt zu lassen, überträgt sich dieser dem Latein anhaftende sprachliche Charakter auch auf Gryphius' Übersetzung. Als Beispiele dafür, wie weit der spätere, sogenannte deutsche »Barockstil« im Latein des Causinus bereits vorgebildet ist und welchen Einfluß er auf Gryphius' Sprache gehabt hat, sind einige aus Vorlage und Übersetzung besonders auffällige Stilmerkmale zum Vergleich ausgewählt: 1. Substantiv- und Verbalhäufung, 2. Rhetorische Fragen und Superlativgebrauch, 3. Bilder und Vergleiche, 4. Wortverstärkung, 5. Szenische Einschübe und einzelne Stilphänomene. Substantivhäufung. Der erste Eindruck nach der Lektüre der Felicitas ist der einer Originaldichtung von Gryphius, nicht der einer Übersetzung. In der gleichen erregten, mit Fragen und Ausrufen übersättigten Ausdrucksweise sprechen hier die Könige, Priester und Märtyrer wie in seinen späteren deutschen Dramen. Überall ist der Wille zur größeren sprachlichen Bewegtheit spürbar, um die Eindringlichkeit des Dialoges zu steigern. Schon der Eingang des Dramas bringt Ausrufe und mehrere in rhetorische Frageform gekleidete Imperativsätze. Es reihen sich beinahe über drei Zeilen hin 1 A n dieser Stelle vermißt man besonders stark Forschungen über den Einfluß der altlateinischen Klassik auf die Bildung der deutschen Dichtcrsprache des Späthumanismus und des beginnenden 17. Jahrhunderts. Erst jetzt sind H. Gumbels Studien zu dieser Frage von Conrady weitergeführt worden. Vgl. dazu Anhang IV.

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die unverbundenen Substantiva aneinander, die in solcher Häufung Not und Qualen der christlichen Gemeinde veranschaulichen sollen: »Nerui, flagella, taureae, sartagines, Cippi, columbar, culei, flammae, cruces, Catasta, eculeus, ungulae, pontus, ferae Sunt leuia, ni jam parturit segetem nouam Tartarea diris pestibus foelix plaga.« (Caus. S. 164, oben.)

» . . . . Diss, was man täglich siehet: Band, geissei, kessel, stock, sack, ruthen, bley und schwerdt, Creutz, feuer, pfähl und rad, der spiess, ein glüend pferd, Strang, wilde thier und see sind als für nichts zu schätzen, Indem die angst uns eilt, mit neuer pein zu hetzen.« (Fei. I, 13—16.)

Gleitet jetzt der Blick zum Original, so zeigt sich dort wortgetreu das Vorbild: Die Fragesätze sind — wenn auch in längeren Perioden — dem Sinne nach genau vorgebildet. Die Substantivhäufung ist beinahe vokabelmäßig getreu übernommen, 14 Worte des Causinus entsprechen 17 bei Gryphius. Ähnlich ist es an anderen Stellen, wenn sich dort auch nicht Häufungen finden, die auf mehrere Zeilen ausgedehnt sind (vgl. Causinus' S. 180 unten mit Gryphius' Fei. II, 118—121 und II, 125—128). Hier hält sich der Dichter noch genauer an die Vorlage. Allerdings ist bei ihm die Wortstärke bereits gesteigert. In anderem Zusammenhang werde ich noch darauf zurückkommen. Verbalhäufung. Ähnlich arbeitet Gryphius mit Häufungen von Verben. Auch hier hält er sich an Causinus, und man findet in seiner Übersetzung bereits die Aufreihungen von Imperativen und Ausrufen, die später für seinen deutschen Stil so charakteristisch werden. Seine Übersetzung ist stellenweise so genau, daß man die lateinischen und deutschen Worte miteinander auswechseln könnte. So findet sich auch keinerlei Schwellung oder Verstärkung in der einzelnen Wortwiedergabe: »Verte & reuerte carnifex, tunde, ebibe Nostrum cruorem, totus in piagas feror. O Christe ! O Christe ! O Christe !« (Caus. S. 224, Mitte.)

»Schmeiss ! wende ! streich' und stoss ! vergiest die handvoll blut! Ich trage diese pein mit nicht gekräncktem muth. O Christe! O Christel O Christe!« (Fei. V, 97—99·)

Deutlicher wird die enge Zusammengeschlossenheit von lateinischer Vorlage und deutscher Übersetzung bei einer anderen Reihe von Verbalhäufungen, in der Gryphius allerdings sich von seinem Vorbild in kleinen Zügen frei macht und seinerseits die Reihe der Verba erweitert: » flammas iube Costis aheni subiiei, ferrum exere, Adure, torre, scinde, lania, diuide, Seruire nequeo turpiter, possum mori.« (Caus. S. 235 unten.)

»So bringe flamm und schwerdt ! Heiss bein von beinen scheiden! K o m m ! brenne! seng' und streich! brich! schlage! stich und schmeiss! Würg ! haue ! töd' und zeuch ! wirff! schleifte ! stoss und reiss! Ich hass ein schändlich dienst und lieb ein ehrlich sterben.« (Fei. V, 441—444.)

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Rhetorische Fragen. Die gleiche Wirkung, wie sie durch die asyndetische Substantiv- und Verbalhäufung für den Ausdruck der Affektstimmung erreicht wird, erzielt Gryphius durch die rhetorische Frage. Sie findet für das 17. Jahrhundert in den vielen Selbstbetrachtungen im Drama meist dann Anwendung, wenn Unsicherheit und Unentschlossenheit oder staunende Verwunderung spürbar werden sollen. Imperative und rhetorische Fragen bringen Bewegung in das starre Wortgefüge. Auch diese Ausdrucksmittel findet Gryphius bei Causinus reichlich vor und übernimmt sie in seine Übersetzung. Schon in der ersten Szene des Dramas habe ich darauf hingewiesen, wie eine ausgedehnte asyndetische Substantivhäufiing durch eine lange Fragenreihe vorbereitet war. Meist in besonders entscheidenden Augenblicken für die sprechende Person werden die Argumente für einen Entschluß oder auch die Ankündigung von Vorbereitungen für eine wichtige Handlung in die Form der rhetorischen Frage gekleidet. Durch Interjektionen wird dann in die Fragenreihe meist ein retardierendes Moment eingeschaltet. So zum Beispiel überlegt Apollo, ein heidnischer Liebhaber, in einem Monolog seine Gründe für einen endgültigen Entschluß, ob Felicitas und ihre sieben Kinder gemartert werden und sterben sollen. Er überprüft sich selbst, ob seine Geliebte Erinna oder die heilige Felicitas, die seine Liebe abwies, seine Ehre beleidigten. Bis zur Unverständlichkeit geht hier der Monolog in unbeantworteten Fragen, wer von diesen beiden sterben soll: » Quo te rapis? Quid ilia meruit? facinus alienum fuit. Erinna viuat & victrix mei. Ut illa viuat scilicet? casta, integra, Et spolia nostri appensa riuali thoro Ostentet?« (Caus. S. 168, oben.)

» . . . .Weh nur! was geb ich für? Erinn', ist ohne schuld. Ihr kan man nichts zuschreiben. Felicitas, die ists. Mein hertz soll lebend bleiben. Wie? lebend? ja! Wer? sie? sie? lebend oline mich? Wie? Soll den raub von dir, der, den sie liebt, vor dich Auf ihrem bett anschaun ? . . . . «

(Fei 1,130—135.)

Man kann in diesen Fällen entsprechend zu den Reihenbildungen von Substantiven und Verben auch von Reihenbildungen rhetorischer Fragesätze sprechen. Später sind häufiger noch ähnliche asyndetische Satzreihen zu erkennen. Bei Gryphius macht sich immer deutlicher die Absicht bemerkbar, die im lateinischen Text nur angedeuteten Reihenbildungen noch zu vermehren. So wandelt er die im Original vorhandenen Ausrufe gerne in rhetorische Fragen um, damit die Aufmerksamkeit bis zum Höhepunkt einer solchen Monologszene wachgehalten wird, hier an dieser Stelle bis zu der Aufforderung an Felicitas, doch die Schönheit zu nutzen, mit der Gott sie so reichlich beschenkt habe: »O foeminarum sydus, ô Felicitas Explebis omen nominis; tantum tibi Dent quae mereris coelites plena manu,

» . . . Schönste blum der frauen, die zufinden! Der erden höchste zier! glückselig solst du seyn! Der großen götter gunst, die kehre bey dir ein

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Quid non nieretur mentis excelsae decus, Ex expolitae frontis assurgcns honos, Rosisque mixta labra, & hyblaeis fauis? Cur te cruentis consicit stimulis dolor? Marcere pateris purpurae extinctam facem, Exosa thalamum, & iura consortis thori, Expers honoris, nominis, vitae, tui, Fruere deorum muñere, fruere dum potes, Vitaeque honores carpe, quos offert Deus.« (Caus. S. 176.)

Mit dem, was du verdient! Was werden diese sinnen, Der schönen äugen glantz doch nicht verdienen können? Die rosen-rothe lipp und honig-süsser mund ? Was macht dein zartes hertz mit soviel stacheln wund? Wie mag der wangen lust, der purpur so erbleichen ? Wie, dass dir nicht geliebt ein bräut'gam deines gleichen? Wie, dass dein leben so ohn' eh' und lust hinfährt ? Gebrauche doch, was gott so reichlich dir beschert, Gebrauche, weil du kanst, der schönen glieder ehre.« (Fei. II, 4—15.)

Bilder und Vergleiche. Zu den stilistischen Merkmalen, die in der frühen Übersetzung der Felicitas schon als vorentwickelt und aus der Jesuitendichtung herrührend zu erkennen sind, gehören auch die Bilder und Vergleiche. Schon in der Herodes-Dichtung II fand sich einmal das Sturmgleichnis neben verschiedenen Bildern vom Unwetter, dort abhängig vom homerischen und vergilischen Muster und von Gryphius im Zeitstil ausgemalt. An dieser Stelle begegnen wir dem Sturmvergleich (vielleicht zum ersten Male bei Gryphius) in deutscher Sprache. Auch hier hält er am Original fest. Der Vergleich ist noch nicht aufgeschwellt oder erweitert, höchstens umgestellt. Wieder beweist sich Gryphius' Fähigkeit der dem Vorbild adäquaten Wortwahl, bei der er das Farbige und bildlich Eindrückliche bevorzugt. Für die spätere Stilentwicklung werden diese frühen Beispiele der dem lateinischen Stil entsprechenden Wortwahl für Vergleiche, Bilder und Motive allegorischen Inhalts besonders wichtig. Dafür zwei Beispiele. Es sind zwei Doppelgleichnisse. Das erste schildert den Tag, an dem die geängsteten und verfolgten Christen aus der Unruhe der irdischen Zeit in die himmlische Ruhe aufgenommen werden: »Sic post feroces Africi ingentis minas, Post nigra coeli praelia, & nimbos graues, Diffusa longis brachia extendit plagis, Pictos honores illigans Iris polo. Sic quando missus fervet ex venis cruor, Bullitque toto largius riuo fluens, Si forte Jaspin sedula admonuit manus, Repentè sistit sanguis, & sidit dolor.« (Caus. S. 165, Mitte.)

» . . . gleich als nach stürm und stoltzer winde blasen, Nach schwartzer wolcken nacht und schwerer wetter rasen Und dicker regen-fall der bogen sich erstreckt Und grün und purpur-rot die grauen wolcken deckt. Wie wenn das schnelle blut aus vollen ädern dringet Und schäumend durch die lufft aus offnen röhren springet. Wenn einer dieses quäll mit einem Jaspis streicht, Denn stillt sich blut und schmertz . . .« (Fei. I, 47—54·)

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Das zweite Beispiel folgt nicht so sklavisch Wort für Wort dem lateinischen Vorbild. Zwar werden die charakteristischen Vokabeln des Causinus verwertet (niger, ater, saevit, mulcere, acris ferae), aber die Anordnung ist (teils aus Reimzwang) nicht mehr so genau dem Original angeglichen: »Cum sacuit ater fluctus, & nigra Aeoli Rupere claustra, colla lactantes N o t i : Mallem sonorae Traciis fidibus lyrae Mulcere sensus acris indociles ferae, Quam Christianos.« (Gaus. S. 192.)

»Eh'r stillt ich weit und see, wenn nun der stürm entbrannt, W e n n schon der wogen macht die fiacken überdeckte, Wenn schon der scharffe nord die schwartze fluth erschreckte, Eh'r könt ich (wie ich schau) ein freches wildes thier, Das rasend u m sich beisst mit wütender begier, Erweichen als diss volck.« (Fei. III, 2—7.)

Bei allem Streben nach Anpassung an das Vorbild zeigen sich in den oben angeführten Beispielen bereits die ersten Ansätze zu selbständigem Bildgebrauch. Nicht immer läßt sich die Schwierigkeit der Wiedergabe des lateinischen Kurzstils durch geschickte Sinnwiedergabe überwinden. Der Wille zum dichterischen Ausdruck zwingt Gryphius zu Abweichungen vom Vorbild, die dann bereits den Cha rakter der »Schwellung« tragen. Zwar fehlt noch die inhaltliche, gedankliche Aufschwellung. Keine der von Joseph als dafür typisch nachgewiesenen Sprachformen in der Übersetzung des 17. Jahrhunderts kommt hier zum Durchbruch. Im einzelnen sind Abwandlungen festzustellen, die sich auf Bildgebrauch, Wortzusammenstellungen, Superlativbildungen, Einzelbilder und szenische Hinweise beziehen. Wort ver Stärkung. In dem zuletzt angeführten Beispiel hatte ich bereits im Zusammenhang des Bildvergleiches auf Gryphius' Vorliebe für kräftigere und auffälligere Worte in der Wiedergabe des Originals hingewiesen. Meist ist das Bild, das allgemein als Stimmungshintergrund benutzt wird, bereits im Original angedeutet. Das im lateinischen Vorbild durch seine Anschaulichkeit eindrucksvollste Wort veranlaßt den Dichter zu besonders sinnkräftigem Ausdruck. Die einfache Aufforderung, das neue Unglück, das über die Christen hereinbrechen soll, zu verkünden: »Effare tandem, quod nouum fulmen tonat?« (Caus. S. 165) übersetzt er: »Ich bitt', entdecke doch der herben donner macht!« (Fei. I, 61). Gryphius betont also die bildliche Wendung der Vorlage, die in »fulmen tonat« liegt, und verstärkt sie in der Wiedergabe durch die Zusammenstellung mit dem Adjektivum »herb« für »nouum«. In einem anderen Beispiel bereiten die Worte, die zu einem bestimmten Büdbereich gehören, die Wortverstärkung im Deutschen vor. So fuhren die Worte: »coeü columnas numine immisso quatit« (Caus. S. 178) ein sehr bekanntes Bild aus Gryphius' deutscher Dichtung herauf : »(Doch gott noch mehr als dich,) durch dessen blitz und macht Das hellbesternte schloss des grossen himmels kracht.« (Fei. II, 5 7 - 5 8 · )

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(Vgl. dazu Caus. S. 165 und Gryphius, Fei. I, 59—60; in beiden Beispielen ist noch der Reimzwang zu beachten.) Ein anderes Mittel der Steigerung hat Gryphius durch die Einfügung von Häufungen in eine an sich schon an Bildern reiche Periode: «Non si tyrannus misceat terram inferís, Et quidquid atrox, pestilens, tetrum, efferum, In corpus armet, sede divulsam sua Hanc dissipabit, quam Deus mentem dedit.« (Caus. S. 180, unten.)

»Es werffe der tyrann gleich erd und himmel ein ! E r rüste, was kan arg, schwer, grimm- und schrecklich seyn, Auf diss mein schwaches fleisch! E r mag den leib zuschmeissen; Doch Jesum wird er mir nicht aus der seele reissen.« (Fei. I I , 125—128.)

Auch hier begegnet wieder ein Bild, das in Gryphius' späterer deutscher Lyrik immer wieder Anwendung findet. Gelegentlich erreicht er auch eine stärkere Wirkung durch zahlenmäßige Vermehrung der unverbundenen Substantive: »Per tela & enses, per rogos, perque ungulas Mortem subibo . . .« (Caus. S. 180, unten.)

». . . ich wil durch streich und schand, Durch marter,schwerdt und ach,durch flamm und hacken r e n n e n . . . « ( F e i . I I , 119—120.)

Mit zunehmender sprachlicher Gewandtheit steigert sich die Tonstärke und Bildkraft vom 3. bis 5. Akt der Tragödie. In diesen Abschnitten begegnet man überall den vielen Bildern und Vergleichen, die aus Gryphius' späterer Sonettdichtung bekannt sind. Zu typischen stilistischen Merkmalen werden jetzt bereits Begriffszusammensetzungen aus Substantiven und Adjektiven, die sich auch bei Causinus schon vorgebildet finden, z. B. »pretiosa retia, auratae cruces« (Caus. S. 184) = »ein theures netz, (ein träum), ein überzuckert schmertzen« (Fei. II, 215). In diesen Stilmitteln sind schon die Grundelemente für Gryphius' späteren deutschen Stil in einem solchen Maße vorhanden, daß man nicht mehr den Eindruck einer Übersetzung, sondern den einer eigenen deutschen Dichtung hat. Am nächsten berühren sich die Grenzen zwischen Übersetzung und eigener Dichtung in der Wiedergabe der »Reyen«: »Heu fero nondum satiata ludo, Semper & casti sitiens cruoris, In meum soeuit caput impiatae Bellua Lernae. Et meum temnit decus & minaci Semper insultat petulans flagello: Exul in terris agor, & beatas Postulo sedes.« (Caus. S. 188.)

»Der grimme schlund des viel geköpfften drachen, Der unser blut mit nimmer vollem rächen Starck in sich säufft, erhitzt, auff mich zu wütten, Wil gifft ausschütten. E r speyt mich an, verlacht mein ehr' und schwinget Band, geissei, creutz und flamm; er dringt und springet. Ich bin verjagt und wünsch in jenes leben Mich zu erheben.« (Fei. I I , 309—316.)

Auch in der Metrik unterbricht Gryphius den gleichmäßigen Rhythmus des Alexandriners und folgt dem lateinischen Metrum, obwohl er die Reime beibehält.

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Wenn auch nur um einen Takt verkürzt, heben sich so diese chorischen Partien aus dem Dialog heraus. Die »Reyen« erhalten den auffallig lyrischen Zug, der dann durch alle Mittel damaliger Wortkunst noch gesteigert wird. Szenische Einschiibe und einzelne

Stilphänomene.

Zu den oben an verschiedenen Beispielen nachgewiesenen Stilmitteln treten überall die aus der lateinischen Dichtimg bekannten Reihenbildungen von Imperativen, auf die ich im Zusammenhang mit der Verbalhäufung bereits hingewiesen hatte. In der Übersetzung arten diese Imperativreihen leicht in Übersteigerungen aus und werden dann formlos und für den heutigen Geschmack unerträglich: » Cito Nudate corpus liberum, virgas date, Laniate plagis, fodite, caedite, vellite, Carnisque frustra & virulentum sanguinem Porrigite matri, si cupit; nam ista dape Explere statui, quae dapes spernit Jouis.« (Caus. S . 199, oben.)

» Bald fasst die kinder an! Entblösst sie und schlagt z u ! Streicht, was man streichen kann! Zutrennt den gantzen leib, und was man glieder heisset, U n d wenn die haut zuspringt und sehn' und ader reisset, So werfft das rohe fleisch der mutter ins gesicht ! D i e speisen sind für die, die Jupiters gericht, D i e die geweythe tracht (g(e)opffert fleisch) verlachten.« (Fei. I I I , 2 0 1 — 2 0 7 . ) '

Aber nicht nur in der grausigen Schmerzensschilderung offenbart sich der spätere Gryphius. Wie mitten in der Wiedergabe des bethlehemitischen Kindermordes und in der erregten Schilderung vom leidvollsten Schmerzenstag der Mütter die in der Stimmung gegensätzliche Beschreibung von der Anbetung Marias und von Raheis früherer Schönheit steht, so unterbricht Causinus die Märtyrerszenen durch die ausführliche Schilderung, wie der Kaiser Marc Aurel die Felicitas von der himmlischen zur irdischen Liebe herabzuziehen sucht. Auch an diesen eingeschobenen l y r i s c h e n Stellen bereitet das Original die deutsche Fassung gut vor, wenn auch hier sich wieder die ersten Ansätze zu übergenauen Ausmalungen finden. Bei einem für die rhetorischen Fragen schon zitierten Beispiel (Gryphius, Fei. II, 4—15) lassen sich die in der späteren Lyrik geradezu stereotypen Formeln nachweisen, die der Metrik des Alexandriners entsprechend rhythmisch dreitaktig aus zwei verbundenen Adjektiven mit einem Substantivum oder aus zwei Substantiven in Genitiwerbindung mit einem Adjektiv komponiert sind, z. B. . . . schönste blum der frauen, . . . der erden höchste zier, . . . der großen götter gunst, . . . der schönen äugen glantz, . . . die rosen-rothe lipp und honig-süßer mund, . . . der schönen glieder ehre. Nach dieser kleinen Auswahl einzelner Stilelemente aus der Übersetzung der Felicitas erscheint Gryphius in diesem frühen deutschsprachigen Versuch nach beiden Seiten sowohl der lateinischen Tradition wie dem deutschen Stil unfrei und gebunden. In den Formen untersteht er im wesentlichen noch dem Gesetz der ge'

V g l . auch Causinus S . 198, oben, und Gryphius, Fei. I I I ,

166—169.

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lehrten lateinischen Poesie. Andererseits folgt er weniger dem Ruf als dem Beispiel Opitz'. Hier bewahrt er die brevitas durch wortgetreue Wiedergabe, dort beachtet er möglichst genau die Gesetze der Wortkunst. Nach dem damaligen Sprachstand in Deutschland dient er aber als Übersetzer, nicht zum Schaden der deutschen Poesie, zwei Herren. Die lateinische Sprache ist zu diesem Zeitpunkt noch über die deutsche gestellt. Davon abgesehen liegt hier eine formale Übung als Nebenziel vor. Wie die allgemeinen Übersetzungsbestrebungen beweisen, hatte auch der junge Schlesier sein deutsches Sprachgefühl noch nicht so erprobt, um im deutschen Dichtungsstil selbständige Wege wählen zu können. So wird ihm die getreue Nachahmung der Vorlage zur Voraussetzung für diese deutschsprachige Übung. Dazu gehört dann auch die getreue Wiederholung der Bilder und der syntaktischen Fügungen, und daraus erklärt sich die Nachahmung ohne wesentliche Ausweitungen des Originals. Die Felicitas-Übersetzung steht also noch auf der Seite der eigenen lateinischen Dichtungen, also ganz nahe bei den Herodes-Epen und dem Olivetum. Dabei ist zu betonen, daß sich Gryphius in den Herodes-Epen und im Olivetum als Dichter und phantasievoller Schilderer zeigt. Die lateinische Sprache, der er sich für die ersten eigenen Dichtungen bedient, gab ihm dafür mehr Möglichkeiten als die Muttersprache bei seinen ersten deutschen Übersetzungsversuchen. Wenn diese für die Entwicklung zum deutschen Stil nur allererste Ansätze bringt, so zeigt sie doch klar genug einige frühe Vorstufen seiner späteren Dichtungssprache: In der Hcrodes-Dichtung spürte man schon deutlich den Dichter mit seinem eigenen, zur dramatischen Form hindrängenden Ausdruckswillen. Im Olivetum verriet sich dichterisch das lyrische Talent in der bildmäßigen Ausgestaltung des religiösen Inhalts. In der Felicitas vereinigen sich dramatisches und lyrisches Formtalent. Daß sich Gryphius' deutscher Dichtungsstil erst am lateinischen Vorbild entfaltet, zeugt von seinem unentwickelten Ausdrucksvermögen in deutscher Sprache. Und so gelangt er auch nur an wenigen Stellen seiner Felicitas-Übersetzung zu Höhepunkten, an denen wir auf den späteren großen Lyriker und Dramatiker schließen können.

Kapitel II. Altlateinischc Hymnen. Den Übersetzungen aus dem neulateinischen Drama schließen sich bei Gryphius Übertragungsversuche an, die die lyrischen Dichtungsgattungen berühren. Fraglich ist es nur, ob man diese Versuche, altlatcinische Hymnen ins Deutsche umzusetzen, noch als Übersetzungen im strengen Sinne ansehen darf. Die feineren Unterschiede zwischen einer Übersetzung und einer Nachdichtung können erst in der Einzelanalyse deutlicher hervortreten. Dazu ist die Gesamtübersicht über das ganze lyrische Gedicht mit seinen sprachlichen Stilerscheinungen notwendig. Die Übertragungen altlateinischer Hymnen stammen ihrer sprachlichen Form nach sicherlich noch aus der Leidener Zeit. Ihre genauere Datierung ist aüßerordent-

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lieh schwierig, da die Hymnenübersetzungen erst in die Ausgabe des Sohnes von 1698 aufgenommen sind unter dem Titel: »Andreae Gryphii übersetzte kirchengesänge aus den uhralten lateinischen hymnis nebenst absonderlichen büchern nie zuvor ausgegebener oden und sonette. Breslau. Johann Lischke.« Wahrscheinlich handelt es sich um Übersetzungsübungen aus der Frühzeit, die nach Gryphius' eigenem Urteil nicht wertvoll genug waren, um in das Gesamtwçrk aufgenommen zu werden. Ihrem Inhalt nach entstammen sie einer Zeit, in der die Achtung vor dem Vorbild noch die Ausweitung der Gedankengänge verbot; demnach gehören sie in die Nähe der Felicitas-Übersetzung. (Umstellungen und Aufteilungen von einzelnen Strophen sind wahrscheinlich auf spätere Umarbeitungen zurückzuführen.) Ihrer Form nach sind diese Übersetzungen sehr stark dem Stil des protestantischen Kirchenliedes angepaßt, ohne diese Liedform durch eigene stilistische Einfälle zu verändern. Man hat den Eindruck, daß Gryphius darin die deutsche Sprache auf ihre Verwendungsfähigkeit bei Übersetzungen von vorwiegend reimenden lateinischen Gedichten erproben will. Formal löst er die Aufgabe überraschend gut, dichterisch erreicht er aber nicht immer die Wiedergabe der religiösen Feierlichkeit des Originals, so daß der Eindruck von der sprachlichen Leistung im einzelnen recht verschieden ist. Als Beispiel für die vollkommene Einfühlung in die Dichtung der frühchristlichen Gläubigen verdient die Übersetzung der Hymne »Septuagesimae, in secundis vesperis« (Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. I, 1864, S. 149,239) ganz besondere Beachtung. Hier zeigt sich an der Wiedergabe einzelner lateinischer Stilund Spracheigentümlichkeiten Gryphius' besondere Gabe der Nachgestaltung im Deutschen. Ich will dabei die Möglichkeit der Überarbeitung dieser Hymne in späteren Jahren nicht ausschalten. Bei einer genauen Sinnwiedergabe innerhalb der gleichen Strophenzahl gelingen Gryphius Bilder und sprachliche Ornamente im Deutschen, die die sehr komprimierte lateinische Sprache dichterisch genau wiedergeben. Alle Strophen sind gleichmäßig im kirchlichen Liedstil gehalten, ohne daß auch nur eine von ihnen durch ungeschickte Formulierung an Wirkung einbüßte. Der Eingang ist gleichmäßig ruhig und erfüllt von lyrischer Stimmung: »Dies absoluti praetereunt, dies observabiles redeunt, Tempus adest sobrium, quaeramus puro corde dominum.«

»Der ungebundenen tage göldner schein Vergeht, die zeit der busse stellt sich ein. Seyd nüchtern, wacht und meidet die gefahr ! Ein reines hertz nehm'ietzt des herren war!« (Gryphius, Lyr. Gedichte, ed. Palm, S. 461, VIII.)

Auftretende Häufungen fügen sich gut in den Gesamtstil ein; z. B. bei der Wendung »tempus adest sobrium«, die wiedergegeben wird durch die einfache Reihe: »Seyd nüchtern, wacht und meidet die gefahr!«, oder in der zweiten Strophe: »non negat hic veniam« = »er schlägt nicht ab Verzeihung, licht und geist«. Die Eigenwilligkeit der Aneinanderfügung von Substantiven geht nicht über die Grenzen des Liedhaften hinaus, so daß der Gesamtton der Hymne erhalten bleibt. Auch jede Eintönigkeit ist vermieden. Die lateinischen Konjunktive, die die Aufforderung zur Flucht aus

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der Sünde ausdrücken sollen, werden nicht wie in früheren Fällen übermäßig im Deutschen gesteigert. Dem fugiamus und habitemus der vierten Strophe entspricht die für Gryphius später typisch gewordene Formel: »Flieht aus dem elend, flieht doch flieht darvon! sucht feste wohnung... « Der Ausgang der Hymne ist so gemäßigt, daß er der Form des Gebets- und Lobliedes damaliger Zeit gleichkommt, so daß dadurch die Einheitlichkeit der stimmungsechten Wiedergabe voll gewahrt bleibt: »Gloria sit patri et filio, sancto simul honor paraclito, Sicut erat pariter in principio et nunc et semper.«

Dem grossen vater sey preiss, rühm und ehr ! Des sohnes lob wachs'immer mehr und mehr ! Dem tröster singe, was hier singen kan, Und wenn nach zeit die ewigkeit bricht an !« (Str. 6.)

Nicht oft im 17. Jahrhundert finden wir so in sich geschlossene Nachdichtungen, die wirklich die Andacht und religiöse Beteiligung dieser frühchristlichen Gesänge wiedergeben. Hier ist der deutschsprachige Ausdruck schon mit einer gewissen Vollendung gehandhabt, wenn auch an einem Vorbild, das nicht die Schwierigkeiten der neulateinischen Dichtung in sich trägt. In anderen Hymnen behält Gryphius nicht mehr den Aufbau des Vorbildes in seiner Übersetzung bei. Er beginnt mit Umstellungen der Strophen, mit Auslassungen und refrainartigen Wiederholungen. Ein besonders gutes Beispiel dafür ist die Hymne eines unbekannten Verfassers aus dem 14. Jahrhundert. Sie ist viel kürzer in der Übersetzung wiedergegeben, wenn überhaupt der hier von mir als Vorbild angenommene lateinische Text wirklich Gryphius' Vorlage darstellt. Gerade von diesem Gedicht gibt es mehrere Varianten im Lateinischen. Gryphius' Refrain läßt auf die von mir benutzte Vorlage bei Wackernagel, Bd. I, 353 »in natali domini« schließen. Der Ausdruck ist in dieser Hymne besonders eigenwillig. Eigenwillig sind auch Gryphius' Auslassungen und Umstellungen. Der Refrain, der in der lateinischen Fassung nur einmal auftaucht, ist im Deutschen jeder Strophe nachgestellt. Außerdem ist die Reihenfolge der Strophen stark verändert. Außer der ersten übereinstimmenden Strophe entsprechen die lateinischen Strophen 2, 3, 4j 5> 9 den deutschen Strophen 3,4, 7, 2 und 5, 6. Man sieht aus den Auslassungen, wie stark in der lyrischen Übersetzung die Freiheit der Umformung von Gryphius ausgenutzt wird. Dadurch verliert auch der Gesamtstil der Übersetzung an Einheitlichkeit. Gryphius' eigenem Stil entsprechen am besten die Strophen, in denen der Hymnencharakter am deutlichsten zum Durchbruch kommt, z. B. die Strophen ι, 6 und 7 (Gryphius a. a. O. S. 456, IV). Ähnlich steht es mit der Übersetzung der Hymne des Bernhard von Clairvaux: »In nativitate domini, ad tertiam missam« (Wackernagel, Bd. I, 193). Gryphius teilt meist die Strophen dieser Hymne und macht zwei selbständige deutsche Strophen daraus, wobei er nicht immer das Strophenschema einhält. Z. B. greift er von der lateinischen Strophe 4 (zweiter Teil) zur lateinischen Str. 5 (erster Teil) über (bei Gryphius S. 459, Str. 7 und 8). Auffällig ist in der sonst sehr wörtlichen Übersetzung nur die

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Wiedergabe der letzten Strophe. Ihr entsprechen bei Gryphius die letzten beiden Strophen. Offensichtlich sind fur den Liedcharakter der Übersetzung die lateinischen Kürzungen zu stark gehäuft, so daß sie nicht knapp genug ins Deutsche übertragen werden können. Dadurch wird die Strophe unklar und wirkt neben dem Wohlklang des lateinischen Originals geradezu mißlungen. »Infelix propera, crede vel Vetera, cur damnaberis, gens misera : »Unselig volck! komm', eil' und glaub' Den alten, uns nicht ! bist du taub ? Komm, komm ! Messias stellt sich ein, Wilst du so frech verlohren seyn ?

Natum considera, quem docet litera, ipsum genuit puerpera.« (Wackernagel, Str. 6.) Schau auf diss kind, schau auf die schrifft, Die mit geburt und zeit eintrifft ! Schau auf die mutter, die der weit Vor so viel Zeiten dargestellt !« (S. 459, Str. 9 und io.)

Gryphius scheitert an der syntaktischen Fügung. Im Lateinischen sind die ersten 4 Zeilen dieser Strophe durch »infelix gens misera« geschlossen. Wenn er diese Geschlossenheit durch das Enjambement (Str. 9, Z. 1/2) wiedergeben zu können glaubt, so muß dieser Versuch mißlingen wegen der gehäuften Apostrophen, Fragen und Ausrufe, die logisch nur leicht verknüpft sind. Bei aller Wörtlichkeit übersetzt Gryphius eine andere Hymne des Venantius Fortunatus (Wackernagel, Bd. I, S. 60, Nr. 76) sehr schwerfällig. Zwar ist das Strophenschema genau eingehalten, aber die Formulierung ist allzu mühsam und gesucht (vgl. Str. 5 bei Gryphius a. a. O. S. 460). Auch hier gelingt ihm noch am besten die Strophe, in der sich der Rhythmus zum Hymnischen steigert : »Iam nata lux est et salus, fugata nox et vieta mors: Venite, gentes, crédité, deum Maria protulit.« (Str. 8.)

»Das licht ist dar, das heil obsiegt, Die nacht verfleucht, der tod erliegt. Kommt, völcker! glaubt und nehmet wahr, Dass uns Maria Gott gebahr.« (Str. 8.)

Von keiner besonderen Bedeutung sind die Übersetzungen der Hymnen des Theodulfus: »Gloria laus et honor« (Wackernagel, Bd. I, S. 88, Nr. 130, Gryphius a. a. O. S. 462, Nr. IX), und die des Gregorius »In coena domini« (Wackernagel, Bd. I, S. 74, Nr. 102, Gryphius a. a. O. S. 465, XI). Beide Hymnen gehören zu den wörtlichen, aber nicht dichterischen Übertragungen. In die gleiche Reihe ordnet sich noch die Hymne auf das Kreuz Christi von Venantius Fortunatus ein (Wackernagel, Bd. I, S. 62, Nr. 79 »Crux fidelis«, Gryphius a. a. O. S. 463, X). Auffallend daran ist nur eine Stelle, die an die Frage der mystischen Substanzen in Gryphius' Dichtung rührt. In der ersten Strophe lautet die Apostrophe an das Kreuz: »Süsses holz, das Christi leichen An so süssen nageln hält!« (Z. 5 und 6.)

Hier ist der Gebrauch des Adjektivums »süss« nicht Gryphius' Eigentum, sondern wörtliche Übersetzung: »Dulce lignum, dulces clavos, dulce pondus sustinens.«

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Am reinsten ist der Gebetscharakter im »Veni sánete spiritus, et emitte caelitus«. Dort folgt ein Imperativ dem andern und drängt hier den Übersetzer geradezu in die Bildung von Reihenimperativen hinein. Abgeschwächt und beinahe aufgehoben wird die Eintönigkeit durch das abwechslungsreiche Reimschema: aa b cc b. Dadurch ist der Hymnus auch im Deutschen im Rhythmus bewegt und dem Original angepaßt. Vgl. Gryphius a. a. O. S. 468, XIV. Vgl. Wackernagel, Bd. I, S. 105, Nr. 160. Die einzige in diese Reihe aufgenommene Psalmenübersetzung (Psalm C X I V ) könnte man als wörtliche Paraphrasierung, nicht als Übersetzung ansehen, denn die Themen der Strophen sind beibehalten und nur in einzelnen Wendungen etwas ins Poetische gerückt worden. (Vgl. Gryphius a. a. O. S. 473, X V I I ; in der Vulgata als Psalm C X I I I gezählt.) Man sieht in diesen kurzen Proben aus Gryphius' frühen lyrischen Übersetzungsversuchen das Schwanken zwischen Wörtlichkeit und Freiheit der Nachdichtimg. Das Wörtliche überwiegt. Nur selten gelingt vorläufig die Wiedergabe eines in sich geschlossenen Abschnitts oder einer ganzen Hymne. Die Ungeschicklichkeit in der syntaktischen Bindung der Sätze und auch die schwerfälligen Reime stören allzuoft die Gesamtstimmung. Die Wörtlichkeit ist dichterisch noch nicht überwunden. Kapitel III. Die neulateinischen Dichter. Übersetzungen aus Bidermann, Bauhuis und Sarbiewsky. Bei der Analyse der Hymnenübertragungen aus dem Altlateinischen erwiesen sich einfacher Liedstil und gehobener Hymnenstil als Stilgesetze, deren mehr oder weniger genaue Befolgung sich auf das Gesamtbild der einzelnen Hymnenübertragungen stark auswirkte. In den kleinen lyrischen Poesien der N e u l a t e i n e r ist noch weniger Platz für breite Einschübe und Ausmalungen von Schreckensbildern oder für längere Naturbeschreibungen und Vergleiche, die dem Inhalt einen anderen Charakter verleihen. Bei diesen ausgesprochen lyrischen Übersetzungen rückt die Wiedergabe der Stimmung in den Vordergrund. Um diese voll zu erreichen, kann wiederum der Übersetzer den gedanklichen Inhalt seiner Vorlage nicht immer unverändert in die Übersetzung übernehmen. So tritt oft an Stelle von Einschüben die Erfindung neuer Gedanken, wodurch dann der Gesamtstil der Übersetzung verändert wird. Sobald das Original keine stilistisch wirkungsvollen Möglichkeiten für den Übersetzer bietet, verrät die Übersetzung, wie widerstrebend Gryphius dem lateinischen Vorbild folgt. In dem Falle bleiben die erprobten Gesetze der klassischen Latinität der einzige Maßstab für die Form der Übersetzung. Da Gryphius dichterisch noch zu unentwickelt ist, um aus sich heraus sprachlich wirksame Ausdrucksmöglichkeiten zu finden, ergibt sich entweder eine übergroße Freiheit oder eine sklavische Abhängigkeit von dem Original. Die Übersetzungen von Bidermann, Bauhuis und Sarbiewsky sind zum ersten Male im Lissaer Sonettbuch 1637 gedruckt. Es handelt sich also um sehr frühe

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Übersetzungsversuche, bei deren Entstehung wir zeitlich mit der sprachlichen Entwicklungsstufe nach den eigenen lateinischen Dichtungen, genauer nach den HerodesEpen, zu rechnen haben. Wieweit die lateinischen Hymnenübertragungen vorher oder kurz nachher oder auch aus der gleichen Zeit stammen können, ist erst festzustellen, wenn man aus den Umformungen der deutschen Kirchenliederdichter, wie Johann Heermann und den Psalmenparaphrasierungen ein genaues Bild von Gryphius' deutscher Sprache gewonnen hat. Dies ist eine Untersuchung, die dringend erforderlich wäre, da sich Hann in Parallele zur lateinischen Sprachtradition die Bedeutung des Einflusses der deutschen Kirchenlieddichtung auf den deutschen Stil des 17. Jahrhunderts nachweisen ließe. In der vorliegenden Untersuchung ist die Reihenfolge der Übersetzungsversuche aus der lateinischen Lyrik so gewählt, daß die Übertragungen aus dem Neulateinischen denen der altlateinischen Hymnen folgen, da die Linie der Entwicklung zum deutschen Stil auf die Balde-Übersetzungen hinführt, die sich zeitlich an die Übertragungen aus den neulateinischen Gedichten des Bidermann, Bauhuis und Sarbiewsky anschließen. Bidermanns Gedicht, das seiner Epigrammsammlung entstammt, aber mit 15 Zeilen Umfang das Maß eines Epigramms stark überschreitet, ist ganz auf die gefühlsmäßige Wiedergabe einer Pietà-Stimmung angelegt: C H R I S T I corpus in Maternis brachiis depositum. »Eheu, flebile (f)unus! imperatos Crudeles oculi parate fletus. Defectae cubat in sinu parentis Formâ lugubre de colore pondus. Squalenti coma pectitur vepreto, Et sparsus faciem cruentat humor, Languent ora, labat supina ceruix, Et tuber laceros renudat artus: Fossi vulnera pectoris fatiscunt; Diro est dextera sauciata ferro, Ferro saucia laeva: & efferatis Stant vestigia perforata clavis Qui sicco potes haec videre vultu, Sicco cernere nil merêre vultu 1 .«

Christi Leichnam ruht in den Armen der Mutter. Der Ton einer stillen Klage in der Art eines Threnos ist angestimmt. Ein Bild des erschütterndsten Schmerzes und des rührendsten Mitleids. Das Ganze ist auf die Schlußzeilen abgestimmt: »Qui sicco potes haec videre vultu, Sicco cernere nil merêre vultu.«

Gryphius hat selbst einmal in lateinischer Sprache ein Bild von Christi Kreuzigung gegeben. Die lateinischen Zeilen im Olivetum (S. 50) erinnern stärker an Bidermanns Original als das deutsche Sonett aus dem Lissaer Sonettbuch, das Bidermanns Epigramm zum Vorbild hat. Dem Original entsprechen nur die ersten 1 Iacobi Bidermani e S. J. Epigrammatum Libri Tres. Coloniae Agrippinae M D C X X (Staatsbibliothek Berlin). S. 37, Liber I, L X V I I .

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zwei Worte und das letzte Terzett. Sonst ist der Stil nicht beibehalten. Aus der stillen Klage ist eine erregte, durch Fragenreihen unruhige, ja empörte Auflehnung geworden : Über des H E R R E N JEsu todten Leichnamb. »ACh weh ! was seh Ich hier ein aussgestreckte Leichen / An der man von fuss auff nichts vnzerschlagen find / Die Seit auss der das Blütt mit vollen Strömen rinnt; Die Wangen so von Schmertz vñ Todes-Angst erbleichen / Wer hat dich so verletzt; Wer hat mit Geissel-streichen Dich also zugericht? Welch grimmes Tyger-Kind Hat Hand hier angelegt I alss deine Glieder sind Mit Nägeln gantz durchbort; wem sol ich dehn vergleichen / Der deine zarte Stirn mit Dornen so verschrenckt. Mein Seelen Bräutigam / vnd dich mit Gall getränckt ? Ach ! diss hat deine Lieb und meine Schuld verübet / Wofern mich deine Lieb nicht dich zu lieben trägt; Wofern dein Jamerbild mich nicht zu Schmertz bewegt; So bin ich werth dass Ich dort Ewig sey betrübet«1.

Bei Gryphius bricht wieder die Vorliebe für die rhetorische Ausdrucksweise durch, die besonders betont wird durch die einleitenden persönlichen Frageworte im zweiten Quartett, »wer, wer, welch, wem«, und durch die eingeschobenen Interjektionen. Er setzt den von Bidermann in das letzte Terzett verlegten Frageteil, der schon nahezu konditionalen Charakter hat, in den weit größeren Abschnitt der Beschreibung von Christi Leichnam; andererseits gibt er dies letzte Terzett ohne jegliche Frageform wieder, ja er gibt sich selbst dem Eindruck des Bildes vom toten Heiland hin: »Ach! diss hat deine Lieb vnd meine Schuld verübet/«. Durch diesen Zusatz, der nirgends im Original vorbereitet ist2, bringt Gryphius das ausgesprochen Dogmatische, den religiösen Zug in das Gedicht hinein, der vorher nicht darin lag. Bei Bidermann war dies Epigramm ein Wortkunstwerk, das bei dem frommen Jesuiten vielleicht in dem Augenblick des Sichversenkens in die Passion entstand, ohne dogmatische Zutat oder Tendenz. Bei Gryphius wird mit diesem Zusatz, der den Anklang an Paul Gerhards Lied und an das lutherische Dogma noch verstärkt, das reine Kunstwerk zum Lehrgedicht. Dieser Zwang scheint mächtiger als der der Nachahmung des Vorbildes. So wandelt sich bei ihm notwendigerweise (durch die Hinzufügung des einen Gedankens der Schuld des Menschen an Christi Tod) das letzte Terzett in ein persönliches Bekenntnis zum Gottessohn. Damit ist der Charakter des Gedichts in der Nachdichtung ein anderer geworden. Auffällig ist, daß in den von Manheimer im Apparat beigefügten Varianten in B, C, 1 Die Übersetzungen werden zitiert nach dem Neudruck des Lissaer Sonettbuches von Manheimer imAnhang seines Buches über »Die Lyrik des Andreas Gryphius«a. a. O . S. 262, I V . 2 Es lagen mir zwei Fassungen von Bidermanns Gedicht vor. Eine aus dem Jahre 1620 und eine aus dem Jahre 1692. Für Gryphius kam nur die des Jahres 1620 als Übersetzungsvorlage in Betracht. Nach ihr wurde zitiert.

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D, E, F, also vom Jahre 1643 ab, eine Annäherung an das Original deutlich wird. Dann lauten die Schlußzeilen des Sonetts: Wehn diese liebe nicht zu wiederliebe zwingt? Wehm dieses jammerbild nicht seel und geist durchdringt? Ist würdig das er dort sey für und für betrübet: Verdint/das er empfind was für und für betrübet.

Wieweit sich hieraus Folgerungen ziehen lassen für ein in späteren Jahren zunehmendes Streben nach Wörtlichkeit in der Übersetzung, läßt sich erst auf Grund weiterer Übersetzungsinterpretationen sagen. Bedeutsam ist allerdings die Feststellung der inhaltlichen Erweiterung der Vorlage durch den Gedanken der Selbstschuld an Christi Leiden und Tod. Doch darauf wie auf die lehrhafte Tendenz wird noch an anderer Stelle ausführlicher zurückzukommen sein. (Vgl. den Abschnitt über die Kirchhofs-Gedancken.) Die Übersetzung von B a u h u i s ' Gedicht über Loths Weib ist ein Beispiel für die andere Art von Gryphius' Übertragungstechnik. Hier überwiegt das Streben nach einer wörtlichen Wiedergabe; aber Gryphius verwendet auch hier wieder besondere syntaktische Mittel, um das gleichmäßige Schilderungsschema der Vorlage auszuweiten. Der Text der Ausgabe vom Jahre 1634, den Gryphius wahrscheinlich benutzt hat, entstammt nicht der Erstausgabe von Bauhuis' Epigrammen. Mir war diese bisher nicht zugänglich. Ich zitiere nach der Ausgabe: Bernardi Bauhusii e S. J. Epigrammatum Libri V. (Nunc postremum correcti et aucti.) Monachii 16341. Uxoris Loth punitio. »Obscoenam Gomorrhae hyemê, cùm flammeus imber Fumaque pix, torto turbine missa polo est. Mugieruntque aurae, strauitque tricuspidis ignis Pentapolitanas dira sagitta domos, Omnia cum promsêre armamentaria caeli Spicula, & indomi tum perdomuêre nefas. Iussus ut haec fugeret, fugit cum Lothide Lothus: Neu redeant oculis, lex datur: illa redit: Utque coronatam flammis circumspicit urbem, Heu misera! heu oculos sensit habere salem! Mox & tota salem Lothis bibit, & sapientem In statuam insipiens femina versa fuit.«

Das Original begnügt sich mit der Andeutung des Aschenregens über Sodom, mit dem Hinweis auf die Weisung, beim Verlassen der Stadt nicht zurückzublicken, und auf die Tatsache der Verwandlung von Loths Weib in eine Salzsäule. Alle drei Motive sind von Bauhuis ohne besonders künstlerische Mittel dargestellt. Für Gryphius ist Sodoms Untergang und die Schilderung der himmlischen Strafen, 1 Für Gryphius' Übersetzung von Bauhuis* Hiob-Klage habe ich das Original noch nicht auffinden können. Ich verweise auf die Notiz von Manheimer, Die Lyrik a. a. O . S. 144.

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die über diesen Flecken kommen, das Wichtigste. Den letzten Teil des Gedichtes nimmt das Wunder von der Erstarrung zur Salzsäule ein. Dazwischen liegt nur als Verbindung der eine Satz: »Must L o t h mit W e i b und K i n d von dannen sich bewegen / U n d hinter sich nicht sehn; . . . »

Diese Zweiteilung nutzt Gryphius aus. In auffälliger Bindung der beiden ersten Quartette durch die festen Eingangsformeln »eh« und »ehden«, die in diesen 8 Zeilen fünfmal am Anfang stehen und dadurch Bewegung und Steigerung in die Schilderung bringen, drängt der Gedankengang zu dem kurzen Hinweis auf die Tatsache von Loths Flucht aus Sodom hin (s. o.). In den 8 Zeilen bringt er in Substantivund Bildhäufung die Schilderung vom Untergang der Stadt: Gedencket an des L o t h s W e i b . »EH / der gerechte G O t t mit Plitz und Schweffel-Regen / M i t F e w r / Pech / Sturm / vnnd G r i m hat Sodom umbgekehrt ; E h Erd und H i m m e l kracht / vor seines Eyfers Schwerdt; E h d e ñ er Zeboim ließ in die asche lege V n d die erhitzte L u f f t erklang von Donner-schlägen ; E h E r auff A d a m a h sein Riist-Hauss aussgeleert / Ehdenn Gomorra gantz von flammen war verzehrt / M u s t L o t h mit W e i b vnd K i n d von dannen sich bewegen / V n d hinter sich nicht sehn; Alss aber sein Gemahl M i t vmbgewandtem A u g anschawt / wie vberall M i t G l u t t v n d lichter L o h die Häuser stehn gekrönet / F ü h l t sie / dass Thränen-saltz auss Ihren A u g e n rinnt / Erstarrt auch bald in Saltz / eh sie sich recht vorsint / So wird mit weiser Straff Ihr Thorheit aussgesöhnet.« (Manheimer, L y r i k , a . a . O .

S.263, V.)

Im Original entsprechen diesen deutschen Vokabelreihen im Anfang für die Wiedergabe des feurigen Unwetters die bei den Neulateinern festen Formeln: »Flammeus imber, fuma pix, tricuspidis ignis, armamentaria spicula« und andere. Im allgemeinen folgt Gryphius ganz genau dem Vorbild, z. B. in der Wiedergabe von »utque coronatam flammis circumspicit urbem = anschawt / wie vberall Mit Glutt und lichter Loh die Häuser stehn gekrönet.« Auch im Schlußterzett übersetzt Gryphius Wort für Wort bis auf die letzte Zeile, in die er wieder den lehrhaften Ton hineinbringt, der im Original durch ein Wortspiel (sapientem . . . insipiens) vermieden war. Auch in diesem Gedicht beweisen die Varianten wieder die in der Interpretation besonders erwähnten Eigenheiten in der Auffassung des Originals. Von der Ausgabe Β an (nach 1643) setzt Gryphius viermal an Stelle von »eh« oder »ehden« im Zeilenanfang »eh als«, um durch einen genauen Wortparallelismus in der Aufzählung

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die furchtbare Wirkung des Unwetters durch die Zusammengehörigkeit der ersten 8 Zeilen, die ich besonders hervorgehoben hatte, zu erhöhen. Überhaupt glättet Gryphius sehr stark; man merkt deutlich in den späteren Fassungen die zunehmende Geschicklichkeit im Wortgebrauch und in der syntaktischen Bindung, die sich parallel zu einer stets wortgetreuen Übersetzung entwickelt^ die aber nicht mehr in sprachlicher Unsicherheit begründet ist. Man vergleiche kurz (in den Varianten) in den beiden letzten Zeilen des Gedichts das Bemühen, sich dem Original anzugleichen und das Wortspiel wiederzugeben, das aber auch in der letzten Fassung nicht glücklich zum Ausdruck kommt. Besonders auffällig ist die Geschicklichkeit, mit der Gryphius in diesen Übersetzungen das Sonett behandelt. Die Distichen des Neulateiners, die inhaltlich schon sehr starke Zusammenfassungen enthalten, werden im Gedankengang genau wiedergegeben, eine Konsequenz des Übersetzers, die sich sonst stets nach der formalen Seite ungünstig auszuwirken pflegt. Meist werden um der Erhaltung der Sonettform willen im Deutschen die Gedankengänge des Originals merklich gekürzt oder aber die einzelnen Zeilen der Übersetzung bis zur Unverständlichkeit apostrophiert oder gar durch Hinzufügungen überfüllt. Gryphius überwindet diese Schwierigkeiten auffällig gut. Auch seine Reimtechnik entwickelt sich mehr und mehr. Unreine Reime sind im allgemeinen im 17. Jahrhundert nichts Seltenes. Gryphius achtet bereits auf Vokalquantität und bei Konsonanten auf Positionslängen im Reimschema. (Vgl. dazu die Varianten V. 9 und 10. Gryphius ändert dort den Reim gemahl — vberall in gemahl — strahl.) Auch an der Länge der Gedichte gemessen übertrifft das Sonett das Original nur um zwei Zeilen. Diese Nachdichtungen der Neulateiner, die im sprachlichen Charakter immer noch Übersetzungen bleiben, erinnern bereits stark an den Gedichttypus von Gryphius' späterer deutscher Dichtung. Dort wird die Kraft und die Bewegtheit im sprachlichen Ausdruck noch auffälliger. Die Oden verdrängen das Sonett, da der Dichter in ihnen mehr Raum gewinnt für die Wirkung von Bild, Farbe, Ton und Rhythmus der deutschen Sprache. [Vgl. dazu Anhang IV.] In der Entwicklung zu erhöhter Eindringlichkeit und sprachlicher Wirkungsmöglichkeit nimmt Gryphius' Übersetzung von S a r b i e w s k y s Kreuzigungsgedicht einen besonderen Platz ein. Ich denke bei dieser Feststellung nicht nur an die Mittel der Rhetorik, sondern in erster Linie an den Rhythmus der Übersetzung. Von ihm ist in diesem Falle auszugehen. Das Original fließt in dem für Sarbiewsky üblichen, zurückhaltenden Tempo dahin, das das klassische Maß an Bewegung trotz einiger für Sarbiewsky bezeichnender Konjunktivhäufungen nicht übersteigt. Im Original ruft die Gedankenfolge nicht den Eindruck der untrennbaren Verbundenheit des Dichters mit dem gekreuzigten Christus hervor. Es wirkt nicht mehr glaubhaft, wenn die Ode schon im Titel eine Beteuerung der innigsten Bereitschaft zur Nachfolge Christi enthält. Die ganze Ode verspricht mehr an Ausdruck gläubiger Hingabe, als sie inhaltlich hält. Einer echten, geradezu fana-

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tischen jesusliebe wird die lateinische Ausdrucksform nicht gerecht, da das alternierende M e t r u m z u wenig innere B e w e g i m g a u f k o m m e n läßt: Ad pedes C H R I S T I in cruce morientis Auetor provolutus. »Hinc ut recedam, non trucie ferri minae, Non nudus ensium timor, Unquam revellent a tua JESU cruce Hoc multa fleturum caput. Me teque tellus inter & caelum ruât, Versique tempestas maris, Mixtusque flammis nimbus, & ter igneis Caducus aer imbribus: Jacebo fixum pondus, & certum mori, Suique non usquam ferens; Tuosque clavos & tuas amantibus Ligabo plantas brachiis. At tu sereno, nam potes, vultu tuum Tuere, JESU, supplicem: Et hoc, Patri quem reddis, haud evanido Me stringe paullum spiritu1.« A n diesen formalen Voraussetzungen, die in dem lateinischen V o r b i l d gegeben sind, m u ß man die Leistung des jungen G r y p h i u s messen. Bestimmend ist auch hier die W a h l der Sonettform : An den am Creutz auffgehenckten Heyland. »Hier wil Ich gantz nicht weg : Lass alle Schwerter klingen / Setz Spiss und Sebel an / brauch aller Waffen macht / Brauch Fewr / und was die Welt für vnerträglich acht / Mich soll von Christi Creutz kein Todt noch Teuffei dringen. Ob mich gleich Ach und Noth I Angst / Weh / und Leid umbringen / Ob Erd vnnd Meer gleich reist / ob schon des Donners Macht Mit dunckelrothem Plitz auff meinem Haupte kracht/ Vnd sambt dem Himmel fällt; doch wil Ich frölich singen Für dir mein trawtes Hertz; diss meiner Armen Band Sol von deim Creutz und Leib nie werden abgewand / Hier wil Ich / wenn Ich sol den matten Geist auffgeben / Du aber der du hoch am Holtz stehst auffgericht / HErr JEsu / neig herab dein bluttig Angesicht : Vnd heiss durch deinen Todt im Todt mich Ewig leben.« (Manheimer, Lyrik a. a. O. S. 261, III.) G e g e n ü b e r d e m lateinischen T e x t bringt gleich i m A n f a n g die T r e n n u n g von Nebensatz u n d Hauptsatz u n d die U m w a n d l u n g beider in zwei selbständige A u s sagesätze den festen Willen, bei Christus auszuharren, viel wirkungsvoller z u m A u s druck. D i e selbständigen, schon an die folgende Periode geknüpften Imperativsätze, die i m häufigen Verbgebrauch eine besondere Entschlossenheit, ja, trotzige E r regung widerspiegeln, unterstreichen das T h e m a : »Hier w i l Ich gantz nicht w e g . . . « Zitiert wird nach der Ausgabe: Mathiae Casimiri Sarbievii S. J. Lyricorum Libri IV Antuerpiae M D C X X X I V . Bis auf Druckfehler ist der Text in späteren Ausgaben der gleiche. 1

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In dem zweiten Quartett verstärkt sich diese Stimmung durch die Aufzählung aller Qualen, die schon in den letzten Zeilen des vorhergehenden Quartetts beginnt. Im wesentlichen nehmen die darin geschilderten Arten der Prüfung des bei Christus verharrenden Gläubigen bis zum letzten Terzett den ganzen Raum ein. Im zweiten Quartett und dem anschließenden ersten Terzett schlingen sich die Vorstellungen wie Glieder einer Kette zu einer geschlossenen Antithese. Es stehen sich gegenüber die durch die Partikel »ob« verbundenen Bilder der Marter: »Ob mich gleich Ach vnd Noth / Angst I Weh / vnd Leid umbringen / Ob Erd unnd Meer gleich reist / ob . . . « , und das klare, unerwartete Bekenntnis : »doch wil Ich frölich singen Für dir mein trawtes H e r t z . . . «. Nach diesem Teil des antithetischen Spiels nehmen die letzten Zeilen des ersten Terzetts die Beteuerungen, bei Christus auszuharren, wieder auf und enden im Schlußterzett in einer echten glaubensstarken Todesbereitschaft (Z. I i bis 14). Gerade in der Ruhe und Sicherheit dieser drei Schlußzeilen liegt ein besonderer Kontrast zu den aufgeregten, stark apostrophierten und mit Imperativen überhäuften Eingangsstrophen, so daß das Sonett als Ganzes im Aufbau und Stil von stärkster Wirkung ist. In der glücklichen Übereinstimmung von Inhalt und Form liegt auch hier wieder der Schlüssel für das Gelingen einer vollendeten Übersetzimg, die in dieser Vollkommenheit schon den Charakter der Nachdichtung trägt. Ein Blick auf die Varianten zeigt wieder, daß auch dies Sonett in den späteren Fassungen besonders ausgefeilt ist. Die einzelnen Takte sind von Überfullungen befreit, statt »ob« ist »wenn« als konditionale Konjunktion gesetzt; die Satzbindung ist noch enger hergestellt (vgl. Z. 8). Schließlich ist auch die Zusatzzeile in Vers II weggelassen mit der in ihr ausgesprochenen Todesbereitschaft und statt dessen die Linie strenger eingehalten, die die Untrennbarkeit des Dichters von Christus zum Ausdruck bringt und die eng an die vorigen Zeilen anknüpft. Jetzt geht von Z. 4 bis zum Schlußterzett eine Steigerung durch das ganze Gedicht. Nur das letzte Terzett ist völlig unverbessert geblieben. Ein Beweis dafür, wie stark schon Gryphius' Empfinden für Unmittelbarkeit und Geschlossenheit des sprachlichen Ausdrucks entwickelt war. [Vgl. dazu Anhang IV.j Man kann an diesen Übersetzungsversuchen — den ersten rein lyrischen Charakters — sehen, daß sich bei Gryphius bereits deutlich der innere Zug zur Selbständigkeit der Form gegenüber dem Original ausprägt, wodurch zwar die Form des Originals leicht verwischt, aber die Übersetzung in der Wirkungsintensität gesteigert wird. Für die ernste Bemühung um einen verfeinerten deutschen Ausdrucksstil sprechen die in jeder neuen Auflage vermehrten Textvarianten der Lissaer Sonette. Kapitel IV. Die Enthusiasmen Jacob Baldes. Gryphius' Übersetzungen von einzelnen Stücken aus Bidermann, Bauhuis und Sarbiewsky nehmen nur einen kleinen Raum innerhalb seiner Übersetzungsversuche aus dem Neulateinischen ein. Es sind eigentlich nur Vorstufen zu seinen BaldeÜbertragungen, die fur eine Darstellung seiner deutschen Stilbildung richtung-

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weisend werden. Ich kann im Rahmen dieser Arbeit nicht die Beziehungen zwischen Balde und Gryphius so eingehend betrachten, wie es der wichtigen Aufgabe gemäß wäre. Ich hoffe, an anderer Stelle dies Thema ausführlicher zu behandeln. Einige Ausblicke allerdings auf spätere Balde-Übersetzer bleiben notwendig, um die Eigenart von Gryphius' Übersetzung zu kennzeichnen. Bei einem Dichter wie Gryphius beeinflussen besondere Motive zeitgeschichdicher Art die Wahl seiner Übersetzungsvorlagen. In dem so übersetzungsfreudigen 17. Jahrhundert liegt hier einer der wenigen Fälle vor, daß ein deutscher Dichter einen gleichaltrigen, lateinisch Dichtenden übersetzt1. Man kann in diesem Fall von dem Muster einer zeitgenössischen Übersetzung sprechen, die nur aus der Gleichartigkeit seelischer Empfindungen des gleichen Zeitraumes zu erklären ist. Hier kommen inhaltliche und formale Ähnlichkeiten in der gesamten Dichtungsart zusammen und charakterisieren so den Dichtungsstil des Jahrhunderts. Bei der Auswahl der zwei »Enthusiasmen auf dem Friedhof« ist die weltanschauliche G l e i c h g e s t i m m t h e i t der Hauptgrund für die Übersetzung dieser beiden Stücke aus dem umfangreichen Werk Jacob Baldes. Gerade von diesen Übertragungen aus ergeben sich literarhistorisch wichtige Erkenntnisse für die Entstehung und den Stil von Gryphius' »Kirchhofs-Gedancken«. Der kurze Überblick, den Manheimer (Lyrik a. a. O. S. 145 ff.) über das Verhältnis zwischen Gryphius und Balde gibt, beruht auf einem kurzen Vergleich von Baldes Enthusiasmen mit Gryphius' Kirchhofs-Gedancken. Das Übersetzungsproblem als solches bleibt gänzlich unberührt. Manheimer verweist nur in größerem Zusammenhang auf die Anregungen, die Gryphius von Baldes Lyrik erhalten hat. Übereinstimmend mit Manheimer ist festzustellen, daß Gryphius die beiden Enthusiasmen schon in der Leidener Zeit kennt2. Die Übersetzungen müssen vor 1656 entstanden sein, denn aus diesem Jahre stammt das Vorwort zu den »KirchhofsGedancken«. Genaues läßt sich leider nicht für die Chronologie der Übersetzungen ausmachen, immerhin gibt die Wahrscheinlichkeit der Entstehung der Übersetzungen vor den Kirchhofs-Gedancken der gesamten Übersetzungsanalyse eine besondere Blickrichtung. Im folgenden Kapitel, das über die Kirchhofs-Gedancken handelt, glaube ich den Abhängigkeitsnachweis führen zu können, nach dem aus der stilistischen Entwicklung bzw. der inhaltlichen Abhängigkeit von Baldes Gedichten die Priorität der Übersetzungen hervorgeht. Dem Zuge zur neulateinischen Dichtung folgend mußte Gryphius als Gelehrter und als Dichter einmal diesem »weitberühmtesten« Jacob Balde begegnen und sich mit dessen Weltgefühl auseinandersetzen. Allerdings bot das Gesamtwerk Baldes dem jungen Gryphius in den Jahren zwischen 1640 bis 1650 mehr als eine Möglichkeit zur Wahl eines Übersetzungsvorwurfs. Daß er den »Enthusiasmus« wählt, 1 Über die Übersetzungen von Baldes und Sarbiewskys Dichtungen vgl. den Hinweis bei J . D. Fuß, Poemata latina Leodii 1837, S . X L I I I I . - Vgl. die Parallelen, die Manheimer S . 145, Anm. 4, bringt.

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diese bei Balde besonders geachtete Dichtungsform, liegt in der Ähnlichkeit des persönlichen Dichtungsstils begründet. Als Dichtungsform ist der Enthusiasmus von Baldes übriger Odendichtung scharf zu trennen. Balde selbst gibt an einer Stelle eine Definition: »Nomen Ode saepissime ab authore omissum est, praesertim in Sylvis; . . . . Noluit enim nomen istud ad quodvis poema extendere; quandoquidem non omnibus Enthusiasmis convenir«1. Der Grund für die Trennung dieser Dichtungsform von den Oden wird in dem Unterschied deutlich, den Balde im Ausdrucksstil des Lateinischen zwischen horazischer und pindarischer Ode macht. Daß es für Balde n i c h t gleichgültig war, ob er lateinisch im Stil des Horaz oder des Pindar dichtete, zeigen offen die von ihm besonders betitelten »Enthusiasmen«. Für Balde bedeuten sie das Ausbrechen lange zurückgedämmter Stimmungen und Gefühle. Die Hingabe an diese innere Befreiung durch die Dichtung versagt er sich sonst meistens; nur im Enthusiasmus sieht er eine ihm erlaubte dichterische Form der Selbstbefreiung 2 . Trotzdem in diesen »Enthusiasmen« die Verse in klassisch lateinischer Syntax und metrisch im alkäischen Maß geformt sind, ist doch der Gesamtstil weit entfernt von der üblichen lateinischen Odendichtung Baldes. Selbst in diesen Fesseln der lateinischen Sprache fühlt er sich in den »Enthusiasmen« als Befreiter. Diese dichterische Zwischenform bedeutet für ihn eine Art Ausgleich für die sonst so unterdrückte Gefühlswelt. Sie verhilft ihm zur Entfesselung seiner dichterischen Phantasie. Die größere Gefühlsbeteiligung, die sonst nur den Rhythmus steigert und damit dem Gesamtstil der pindarischen Odenform folgt, erreicht bei Balde höchste Intensität und droht dadurch die gewöhnliche Odenform zu durchbrechen. Deswegen trennt der Dichter diese wenigen »Ausbrüche« von der sonst so kontrollierten und gebändigten Odendichtung. Wie stark sich Gryphius die Schwellkraft dieser ungewohnten Fügung beim Lesen der lateinischen Fassung und später bei der Übersetzung mitteilte, beweisen eigentlich erst seine »Kirchhofs-Gedancken«, in denen sich auch bei ihm der Rhythmus der Ode geradezu überschlägt. Die Formgebung von Baldes Lyrik in der Übersetzung zeigt deutlich genug die Diskrepanz zwischen lateinischem Duktus der Ode und Gryphius' eigenem übersteigertem Rhythmus, wie er später noch einmal in Quirin Kuhlmanns Psalter zum Durchbruch kommt. Die innere Gesetzmäßigkeit von Baldes Odenbau stellt an den Übersetzer bestimmte Anforderungen. So sehr das Metrum und die Wortgebung an klassische Odenform erinnern, bricht doch in Dichtungen, an denen Balde sehr stark innerlich beteiligt ist, merklich der deutsche Dichtungsstil des 17. Jahrhunderts durch und gibt so dem lateinischen Gedicht eine andere Prägung. Durch das Thema, das zur Belehrung und moralischen Ermahnung geeignet ist, erfährt die Ausdrucksstärke in der Übersetzung eine weitere Steigerung. Die Themastellung ist bei beiden Oden '

Vgl. die Gesamtausgabe von Baldes Werken vom Jahre 1729, Bd. II, Schluß der Silvae. Vgl. dazu des Vfs. »Das Problem des Todes in der dtsch. Lyrik d. 1 7 . Jahrhunderts«, Palaestra Bd. 1 7 1 , S. n o f f . J

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die gleiche. Die »Enthusiasmen auf dem Friedhof« haben die gemeinsame Grundlage in der Warnung, sich nicht im Diesseitigen zu verlieren, die durch die unablässig wiederholte Predigt der vanitas vanitatum vanitas-Lehre dieses Jahrhunderts genügend bekannt ist, hier aber in zweifacher These formuliert wird: »vitae sub ipso nomine mors latet« und »omnis homo cinis atque pulvis«. Wie von der Schaubühne der Totentänze kommen diese allgemeinen Mahnungen, an das Ende zu denken. In großartiger visionärer Darstellung des Gerichts und des Auferstehungstages, der mit jeder Stunde anbrechen kann, setzt die eine Ode ein. Für dieses Thema scheint Balde die Form des »Enthusiasmus« besonders geeignet gewesen zu sein. Bei dieser Übertragung gelangt Gryphius beinahe zu einer kongenialen Übereinstimmung mit dem Original. Seine »Kirchhofs-Gedancken« gehen später von seiner Übersetzung dieser Balde-Ode aus. Hier scheint der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts, der bei Balde durch die lateinische Sprache allzusehr verdeckt ist, in der Übersetzimg befreit und zu stärkster Wirkung gebracht zu sein. Die stilistische Umformung beginnt schon in der Wiedergabe von Baldes Überschrift: »Enthusiasmus. In Coemeterio, Anno MDCXLII.« (Balde, Silvarum Liber VII, VII. Ausgabe von 1660), die Gryphius mit »Verzückung auf dem kirchhof« übersetzt (Edit. Palm, Lyr. Ged. S. 353). Die Färbung dieses Wortes »Verzückung« gibt eigentlich die Gesamtstimmung des Enthusiasmus wieder. Gleich in der ersten Strophe entrückt Gryphius die Vision Baldes aus der irdischen Umwelt. Mit den ersten zwei Worten: »Ihr Geister« dringt er unmittelbar in einen phantasieerfüllten Vorstellungskreis ein, der Baldes »manes« im Bedeutungswert weit übertrifft, besonders weil dieser Anruf der Toten bei Gryphius ohne jede Fragepartikel im Anfang des ganzen Enthusiasmus steht. Wie eine Beschwörungsformel bleiben die Worte im Vordergrund aller Gedankengänge. Das Geisterhafte der Stimmung bleibt gewahrt. Eindrucksvoll und zusammenhangsbedingt schließt sich daran die bei Gryphius dreifach formulierte rhetorische Frage, die bei Balde kaum durch das enklitische -ne angedeutet wird: »Ihr geister! ist es hin, eur mehr denn kurtzes Leben? Habt ihr der schauburg euch und gantz der weit begeben? Habt ihr von allem nichts, das ihr durch müh und list Gesammelt und erscharrt, als diese todten-kist?1«

Bei Balde erscheint gerade dieser Teil der ersten Strophe lediglich als F e s t s t e l l u n g , in der mit kalter Resignation der Erfolg des ganzen Menschenlebens in die wenigen Worte gebracht wird: » . . . fabula transiit... Ex aere conflato supellex haec Pheretri brevis arca restât.« Diese Stelle ist als Ganzes gesehen für Baldes s t o i s c h e Weltanschauung, die er auch dem Tode gegenüber bewahrt, bezeichnend. 1 Der deutsche Text wird zitiert nach der Ausgabe von Palm, Lyrische Gedichte a. a. O. S. 353ff. Der lateinische Text nach: Jacobi Balde, Opera poetica omnia. München 1729. 8. Bd. Sylvarum liber V I I , V I I I . Der Text stimmt bis auf Druckfehler mit dem der Ausgabe vom Jahre 1660 überein. Nur erscheint dort die Ode in der Zählung: Sylv. lib. V I I , V I I . In der Ausgabe von 1729 sind die Typen sicherer lesbar.

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Der völlige Verzicht auf jeglichen Lebenswert im Diesseits kommt bei Gryphius in ganz anderer Leidenschaftlichkeit zum Ausdruck. Die Wortsteigerung ist auf Eindringlichkeit angelegt und in der Festlegung einer gewissen unheimlichen Stimmung durch die Übersetzung von »manes« als »Geister« entscheidend für die G r u n d h a l t u n g der gesamten Übersetzung. Durch die offene Frageform, besonders durch die deutliche Anrede, erhält die Situation den Charakter eines Dialogs, der in der Art Dantes vom Dichter mit den Schatten der Toten gehalten wird. Gerade diese Eingangsstrophe wird für den Übersetzer insofern bedeutungsvoll, als sich in ihrer Wiedergabe die Auffassung des Originals verrät. Für Gryphius' Auffassung sind drei Formulierungen bezeichnend. Erstens die ausdrückliche Aufführung der dreifachen Fragesätze = lat. -ne. Zweitens die Übertragung von »spectata vitae fabula« mit »Schauburg«, wobei einerseits ein herabminderndes Urteil über den Sinn des Lebens zum Ausdruck kommt, andererseits Baldes Lebensauffassung als übereinstimmend mit der eigenen gekennzeichnet wird. Drittens die entscheidende Wendung: »Ihr Geister« = »manes«. Damit geht Gryphius in seiner Übersetzung stark über den Grundton des Originals bereits in der Eingangsstrophe hinaus. In gleichem Maße bemüht er sich auch bewußt um die Verdeutlichung einer scheinbar nur für den Augenblick gebannten Bewegung, die in diesen Totenscharen verborgen ist und die plötzlich losbrechen könnte. Der Fragenreihe, die die Unsicherheit der Wahrnehmung ausdrückt, steht das Bild gegenüber, das Balde nur andeutet in dem: »At nemo de tot milibus« . . . (Strophe 2 bei Balde) und das Gryphius mächtig übersteigert. Übergroß wirkt die Vorstellung: »So vielmal tausend stehn in so genauen schrancken Ohn eingriff, ohne zanck und neidische gedancken.« Noch kampfbereit scheinen diese Massen; nur durch einen unerklärlichen Bann sind sie in der Bewegung erstarrt. Gleich darauf setzt auch bei Gryphius die Schilderung des Ruhezustandes ein, in der allerdings die Antithetik der Vorstellungsbilder erhalten bleibt. Auffällig ist dabei, daß jedes Begriffspaar in sich durch ein Verbum verbunden wird, das seinerseits zum Bedeutungsgehalt dieser Gegenüberstellungen im Widerspruch steht. Hier folgt Gryphius genau dem Original. Dem »hic hostis acclinatur hosti« entspricht also: »Der vorhin trotze feind ruht an des feindes seit«, dem »hic geminos capit urna fratres« entspricht »Zwey brüder schleusst ein sarg«; wobei an das Motiv des Bruderzwistes gedacht ist. Bewußtes Stilmittel wird diese verbale Bindung erst in der nächsten Strophe bei Gryphius, die mit der vorhergehenden gedanklich und stilistisch eng verknüpft ist: »Hic Virgo scortis jungitur : & procus Juxta maritum dormit adulterae. Hic sanctus incumbit sceleto, Hîc Vitium jacetadqueVirtus.« (Str.3.)

»Hier liegt ohn unterscheid Ein lilien-keuscher leib bey faulen hurenknochen; Der buhler schiäfft bey dem, des eh' er vor gebrochen; Bey heiigen lagert sich, der keine tugend kannt Hier lieget schand und zucht, treu, trug, vernunfft und tand.« (Z. 8—12.)

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Hier wird der antithetische Stil in seiner Steigerungskraft ganz deutlich; ein Ausdrucksmittel, das man bei Balde weniger bewußt angewendet findet als bei Gryphius, wo es uns schon seit den eigenen lateinischen Dichtungen häufig genug begegnete. An diesem Beispiel sind mehrere wichtige Stilunterschiede zu beachten. Es kommt wieder auf die Verba an. Balde will die begonnene Steigerung jetzt besonders dadurch erhöhen, daß er antithetische Vorstellungspaare durch Verben aneinanderkettet, die einen sehr starken Grad der Vereinigung und Verbundenheit ausdrücken. Er verknüpft also Gegensatzpaare, wie virgo — scorta, procus — maritus, sanctus — scelestus und schließlich die ethische Formel vitium—virtus durchVerba, wie jungitur, dormit, incumbit, jacet. Hinzuweisen ist noch auf eine andere Art der Steigerang, die in der Wortwahl dieser antithetischen Substantiva liegt. Sie ist derartig erfolgt, daß die Vorstellung vom mehr oder minder schuldbehafteten Typ des Einzelmenschen wie scorta, adultera, zum Kollektivum scelestus, sanctus und von da zur ethischen Formulierung von Allgemeinbegriffen kommt: virtus, vitium. Gerade die Wiedergabe dieser Stelle kann zu Kriterien über den Übersetzer führen, aus denen sich in der Zusammenstellung charakteristische Züge fur die Auffassung des Originals ablesen lassen. Gryphius erfaßt den Zwang, der von Balde in der oben angedeuteten Ausdrucksform sich dem Leser aufdrücken soll, stark g e f ü h l s m ä ß i g , und kommt hier zum erstenmal in einen übersteigerten Schwung, der ihn über die Vorlage weit hinausträgt. Eine genaue Wiedergabe des Originals genügt ihm nicht. Ungehemmt läßt er den fur seinen eigenen Stil typischen Steigerungsmomenten freien Lauf, die sich teils durch stark kontrastierte Adjektiva, teils durch Nominalhäufung kenntlichmachen (z.B. lilienkeusch—Hurenknochen. Dazu die Häufung schand, zucht, treu, trug, vernunflt, tand). Dann folgen im engen Anschluß an das Original die antithetischen Nomina mit genauester Wiedergabe der Verba, bis in der letzten Zeile dieser Strophe (Z. 12) die Gegenüberstellung von virtus und vitium überhöht wird durch drei sich entsprechende, aber antithetisch konfrontierte Nomina, wie sie oben zitiert sind (Z. 12). An dieser Stelle ist nun darauf zu achten, daß Balde den Schwung seiner Dichtung unterbricht und jetzt nicht das Thema formuliert, das dem Enthusiasmus zugrunde liegt, sondern daß er hier nochmals eine Art retardierenden Einschub bringt, der für ihn als Dichter die innere Gehemmtheit bestätigt. Er vermag nicht seinem dichterischen Impuls die Bahn hemmungslos freizugeben, den Enthusiasmus voll ausströmen zu lassen und die grausige Totenvision zu gestalten. Diese Zurückhaltung, die gleichzeitig zum stilistischen Ornament wird, verdeckt Balde in einigen rhetorischen Fragen, die in der vierten Strophe von Gryphius mit doppelter Voranstellung des »Ich« betont werden (Z. 13). Diese bei Gryphius etwas mühsam errungene Ausdrucksform wirkt nur wenig überzeugend, erweckt aber immer noch den von Balde beabsichtigten Eindruck, daß der Dichter nur widerstrebend das Geschaute in all seiner Unheimlichkeit mitteilen kann:

Dichtung und Sprache des jungen Gryphius »Arcana dudum tristia comprimi Luctantur in me : nec penitüs sibi Audet fateri, quae volutat Mens nimio titubata fluctu.« (Str. 4.)

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»Ich fühl, ich fühl in mir ein schwer geheimnis ringen, Ich kan gedancken nicht, nicht mund und lippen zwingen. . .« (Z. 13/14.)

Noch plumper gerät ihm Baldes wichtige fünfte Strophe, für die die vorangehende eigentlich nur als Überleitung dient. Hier mißlingt ihm die stilistische Übertragung der zugespitzten lateinischen Rhetorik beinahe gänzlich. Die allzu breite Betonung der rhetorischen Frage und der einfachen Aussage stört hier sehr: »Morare V A T E S , nec stimulum D E I , Ignave, sentis? projice pectore Immane, famosumque V E R U M , Dum graderis vagus inter ossa.« (Str. 5.)

Bei diesen rhetorischen Feinheiten, die als Pausen dienen sollen und die bei Balde meisterhaft dem Gesamtstil eingefügt sind, verunglückt Gryphius völlig. Seine Übersetzung wirkt mühsam und schwerfällig: »Wie? halt ich weiter ein? greifft nicht ein göttlich regen Die faulen glieder an? ich fühle sein bewegen. Stoss, hertz! das grause wort der grossen warheit aus, Weil unter beinen ich schwerm in der todten haus.« (Z. 17—20.)

Wie befreit bricht daher bei Gryphius die Sprache in der nächsten Strophe hervor, die die Formulierung des Hauptthemas bringt: Durch die zögernde Aussage der vorhergehenden Strophe wird diese wichtige Stelle gut vorbereitet, so daß sich die Empfindung jetzt zügellos dem Wort mitteilt: »Hic Caelum & Orcus, continuis tarnen Haerent acervis. hîc Superûm choro Inferna miscetur caterva. Hic paleae latitant inanes.« (Str. 6.)

»Hier, himmel, hier ist höll, und in so nahen hauffen Vermischen sich, die pech und heißen Schwefel sauffen, Mit denen, die Gott selbst an seinem tisch ergetzt; Hier steckt die leichte spreu . . .« (Z. 21—24.)

Jetzt tritt entscheidend das Bild als dichterisches Ausdrucksmittel seines eigenen Stils in seine Rechte, wenn auch noch hart gefügt in der Wortwahl, so doch färbig und eindruckskräftig in der Zusammensetzung und Bewegung. Gryphius gelingt das Bild der auf dem Friedhof vereinigten Himmel- und Höllenbewohner besonders gut. Er macht an dieser etwas sehr dunklen Stelle sogar Zusätze, um verständlicher zu sein. So fugt er z. B. dem Satz: »Hier steckt die leichte spreu« hinzu: »und was der höchste schätzt«, nämlich »Die segens-volle frucht der körner-reichen ähren«. Gemeint ist also mit dem Vergleich, daß Gott die schätzt, deren Leben segensvolle Frucht trug. Hier macht Gryphius demnach, um die Symbolik des Bildes zu verdeutlichen, längere Zusätze, um die Wirkimg dieser Bilderstrophen zu steigern. Er verändert zwar dadurch das Original, bleibt aber seinem eigenen Stil treu. Es zeigt sich zum ersten Male wieder die Schwierigkeit, die lateinische brevitas zu verdeutschen.

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So muß er auch das Lilienbild in der nächsten Strophe erweitern, da er die Partizipien des Lateinischen nicht so knapp zu formulieren versteht (consitas, ignotas, Str. 7), »Die lilien, die sich noch den äugen nicht gewähren« (Z. 26). Am Schluß dieser Bilderreihe verzichtet er auch nicht auf die symbolische Gegenüberstellung von Schuldlosigkeit und Sünde, wie Balde sie in den obenerwähnten Vergleichen mit den Ähren und den Lilien und dem daran anschließenden Bild von den Schafen und Böcken verlangt. Gryphius unterstreicht noch die Gegensätzlichkeit durch den Zusatz : Die Böcke »längst verflucht« (lat. einfach »hoedi«). In den folgenden Partien läßt sich die Nebeneinanderstellung von Gryphius' und Baldes Text in der Übersetzungsanalyse nicht mehr zeilenweise durchführen. Jetzt setzt bei Balde ein Hauptabschnitt innerhalb des Enthusiasmus ein, der für die Schilderung der »Reinen« und der »Verworfenen« — dem Themasatz »hic coelum et orcus« entsprechend — bestimmt ist. Gerade dieser Teil entspricht in einzelnen Abschnitten Gryphius' »ICirchhofs-Gedancken«. In stärkster antithetischer Zuspitzung wird hier eine phantasiereiche Heerschau der Toten gegeben, bei der Realistik und symbolhafte Verschleierung eine Stimmung hervorrufen, wie sie selbst Dichtern des 17. Jahrhunderts nur vereinzelt gelungen ist. An dieser Stelle entsprechen sich bei Balde die Strophen kreuzweis, dienen also einer unmittelbar aneinandergeketteten Antithetik einzelner Strophen. Strophe 8 und 10 enthalten dort die Beschreibung der Himmlischen, Strophe 9 und 11 die der für die Hölle bestimmten Verstorbenen. Die darauf folgenden Bilderreihen, die weiter die Gegensätze der Gerechten und Ungerechten betonen, werden bei Gryphius in allen Einzelheiten ausgemalt und entwickeln so den Stil seiner »Kirchhofs-Gedancken« im voraus. Wir begegnen hier einer Dichtungseigenart, die für das 17. Jahrhundert charakteristisch geworden ist, und bei der es notwendig ist, festzustellen, wieweit Gryphius sie in der Übersetzung wiederzugeben vermag. Dazu ist ein Blick auf das Original erforderlich1. Von Strophe 8 an zeigt Baldes Gedicht im Ausdruck einen völlig veränderten Charakter. Aus der mehr beschreibenden Darstellung geht der Stil in eine stark bewegte Schilderung über, die im Strophenanfang durch den typischen achtfachen Ausruf im Wechsel von »oh« und »ah« gekennzeichnet wird. Das Staunen, der Schrecken, der dadurch ausgedrückt wird, gipfelt in den zwei Imperativen »florete« und »jacete« (Strophe 14 und 15). Dieser Abschnitt bildet ein wichtiges M i t t e l g l i e d des gesamten Enthusiasmus, das seine eigenen Kompositionsgesetze hat, die vom Übersetzer Berücksichtigung verlangen. Gryphius folgt in der mehr äußerlichen Nachahmung des rhetorischen Stils genau dem Original und bringt alle nur einflechtbaren Oh-Interjektionen (vgl. Z. 29ff.). Er übersteigert sogar die Stilmittel und drückt der Übersetzung den Stempel seines Dichtungsstiles auf. Wie stark dies der Fall ist, zeigt sich gleich in 1 Der Text des Originals und der Übersetzung ist am Schluß im Anhang beigefügt. Die Zählung der lateinischen Vorlage nach Strophen, der deutschen nach Zeilen, ist von mir zur schnelleren Orientierung eingeführt.

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der Anfangsstrophe des neuen Abschnittes, in der Gryphius dreimal mit »o« beginnt (Z.29/30): »O süsses heiligtum! O haus des hellen lichtes! O ernd' in Gottes scheur!« Mit solcher äußeren Nachahmung des Originals stimmt auch die innere Komposition der Übersetzung überein. Die Gegensätze im Inhalt der einzelnen Strophen untereinander erscheinen abwechselnd im schnellen Wechsel von Hell und Dunkel der Impression, Bewußt gesteigert endet das Thema in den besonders herausgehobenen Imperativen. Mit spürbarem Behagen verweilt Gryphius in jeder Strophe bei der Ausmalung der Gegensätze, die auf den Vorstellungen von der »Erlösung« der Toten zum Leben im Himmelreich oder von denen der »Verbannung« zur ewigen Höllenqual beruhen. Ganz instinktiv folgt Gryphius hier dem Original im Wechsel der Bilder von Qual und Erlösung, von Seligkeit und Verdammnis. Besonders gut gelingen ihm wieder die dunklen Bilder, selbst wenn ihre Wirkung allzu betont durch Zusätze oder Worthäufung verstärkt wird. Geradezu Wort für Wort und Begriff für Begriff tritt hier die Antithetik als Stilmittel in ihre Rechte. Man vergleiche nur kurz die weit gespannten Bilder in den Zeilen 29 und 33 mit denen in Z. 31 und 35. Es stehen sich dort kraß gegenüber: 29. o süsses hciligthum und 29. o haus des hellen lichtes! und oder:

33. o hole 33. (o hole) schwartzer nacht, 34. o nest der höll'schen raben!

31. o land, durch welches milch und mildes honig rinnt!

und 35. mord-grube! 35. mörder-thal

So geht die Schilderung im gleichen Stil über zehn Zeilen bei Gryphius, an deren Eingang er den Leser in noch realer gesehene und dargestellte Vorstellungen fuhrt : »O leichen theurer saat« heißt es hier für das einfache: »funera«. Gegenüber dem Anfang des Gedichtes, wo »manes« mit »geister« übersetzt wurde, tut sich hier vollends die grauenhafte, stark vergröberte Realistik auf. Hier verliert sich Gryphius in eigenen Phantasien und weicht stark vom Original ab. Jetzt vermißt man auch die getreue Übernahme der grammatischen Fügungen des Originals. Z. B. bei der Stelle in Strophe 12, in der Balde mit lateinischen Wortspielen arbeitet: »O »eminantis funera GRATIAE! O seminatae corpora GLORIAE!« Die Übertragung von gratiae und gloriae, die durch die jeweils aktivische und passivische Form der praedikativen Adjektiva seminantis und seminatae gekennzeichnet sind, muß deutlich zum Ausdruck kommen. Gryphius gibt hier eine an sich richtige Inhaltswiedergabe, allerdings ohne die Feinheit des Unterschiedes, die das Original verlangt. Er sagt: »O leichen theurer saat der säenden genaden! Frücht ausgesäter ehr! ..« So braucht er den Zusatz: »euch wird die grufit nicht schaden« (Z. 45/46). Auch hier wird dieser Passus nur wegen des leichteren Verständnisses eingefügt. Gryphius glaubt dadurch die Glorifizierung der Toten, hier der Gerechten,

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von Gott Erlösten besser veranschaulichen zu können. Die nächsten Zeilen mißlingen ihm nahezu, da er die kurzen lateinischen Partizipialformen genau wie vorhin nicht kurz genug wiederzugeben weiß. In den Zeilen47 und 48 (bei Balde, Strophe 12) scheitert er an »extinctura (semina)« und an »ferietis«. Typisch für seine gelegentlich recht eigenwillige Übersetzungsart wird die nächste Strophe (Z. 49 bis 52). Willkürlich betont er die Antithetik zur vorangegangenen Strophe, die den Eingang hatte: »O leichen theurer saat« durch einen entsprechenden Anfang: »Weh, weh, verfluchte saat!« Balde dagegen hatte die einfache Gegenüberstellung und die sinngemäße Anknüpfung an die Schlußzeilen der vorhergehenden Strophe beabsichtigt, also die Umkehrung des Bildes von der Sonne, die durch den Glanz der Auferstehenden überstrahlt wird (Strophe 12). Demnach leitet Balde die Strophe 13 so ein: »Ah? non secundo eredita sidere siccis A v e r n i . . . semina saltibus«,also: Ihr Saaten, die ihr unter einem Unglücksstern zu eurem Unheil den Schluchten der Hölle überantwortet seid. Daran schließt er, um den Eindruck von der Verfluchung dieses Samens zu verstärken, das dunkle Kadmus-Saatbild, das Gryphius in parataktischer Einordnung als Parallele zu seiner Eingangsformel bringt und das er an die Vorstellung der »Saat« anschließt (Z. 51/52. Balde, Strophe 14). Geradezu als Hilfsmittel zu einer leichteren Zusammenfassung des vorher in Einzelbildern allzusehr zerstreuten Inhalts dient in Strophe 14 und 15 bei Balde wieder die Antithetik. Sie wird bewußt zum Ausdruck gebracht durch die Imperative im Strophenanfang: florete, von den Gerechten gesagt, und jacete, von den Verworfenen. Auffällig ist hier das sehr starke Beiwort »flavus« zu »color«, das Gryphius entsprechend stark durch die Formel: die »weißlichgelben blicke« (Z. 53) herausbringt, eine Wendung, die in den Kirchhofs-Gedancken und später häufig auffällt·. H. Palm kommentiert hier wohl mit Recht in der Anmerkung S. 354: blick = färbe, schein; noch besser ist es wohl, mit »Schimmer« zu identifizieren. An dieser Stelle ist auf die innere Strukturgleichheit dieser zwei Strophen (14 und 15) im Original hinzuweisen, auf die in der Übersetzung Rücksicht zu nehmen wäre. Die Parallelität der einzelnen Worte und des jeweiligen Einzelbildes ist von Balde stilistisch vollendet durchgeführt. Man vergleiche einmal kurz in Strophe 1 4 , 1 und 2 das florete . . . ossa mit Strophe 1 5 , 1 und 2 jacete . . . ossa, Strophe 1 4 , 1 und 2 das flavis . . . coloribus mit 1 5 , 1 und 2 diris . . . doloribus, Strophe 14, 3 und 4 mit Strophe 15,4. Im Gesamtstil, wenn auch nicht in getreuer Parallelität, gelingt Gryphius diese Partie in der Übersetzung recht gut, wenn sie auch nur in den letzten zwei Zeilen zu der dem Original entsprechenden Bewegtheit im Ausdruck kommt. Hier allerdings übertrifft sie das Original: »Die räch' hol't grimmig aus und schmeisst von Gottes stuhl Mit gantzer armen stärck euch in den schwefel-pful. (Z. 59/60).

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Die harte Steigerung dieser letzten Zeilen wird unmittelbar mit der folgenden Strophe bei Balde beendet. Es wird eine Pause eingeschaltet, ehe der Enthusiasmus von neuem anhebt. Ein Kunstgriff, der gleichzeitig die Spannung erhöhen soll. Durch die rhetorische Feststellung: »Sed nempe tantum ludimus et jocis crispamus auras . . . « (Strophe 16), wird ein krasser Einschnitt in der Komposition fühlbar. Der Leser oder besser der Hörer soll in diese Vision des Totenfeldes mit einbezogen werden, er soll die Unabwendbarkeit des Todes spüren, soll erschüttert werden von der Gewalt und Größe des letzten Gerichts. Denn das ist jetzt das gedanklich neue Thema des Enthusiasmus, bei dem sich die Stimmung zur phantasietollen Bildund Wortübersteigerung aufschwingt, ein Thema, das dann in den »Kirchhofs-Gedancken« später zu eigenem dichterischem Ausdruck kommt. An diesen Tag des Jüngsten Gerichts zu denken, ihn sich vorzustellen, gilt nicht für unnötige Spielerei. Gerade dem Widerspruch und dem höhnischen Gelächter der Mitwelt gegenüber bricht sich im Dichter die große Warnung Bahn, der dieser letzte Teil des Enthusiasmus gehört. Bei Gryphius wird das Ritardando der Vorlage bewußt ausgenutzt. Baldes beinahe sarkastische Feststellung (durch nempe verdeutlicht in dem Sinne: »Aber — so wird man diese unsere Vision auffassen — wir spielen nur mit Gedanken, und doch wird man einst den Ernst erkennen«) übernimmt Gryphius sofort in die rhetorische F r a g e : »Wie aber? spielen wir? .. .Gliedhaftigkeit< der Komposition gebildet werden. Durch sie zieht die gedankliche Bewegung, die durch den thematischen Bereich führt, ihn an wichtigen Stellen ausformt und, dem Leser den gedanklichen Mitvollzug auch über Sprünge hinweg zumutend, weiterdrängt zu neuen Punkten, die wiederum, vielleicht überraschend und nicht sogleich sich erklärend, auf das Thema zeigen. . . . Wo der Dichter persönliches Erleben wiedergeben will, ordnet er es in diese Welt der Dichtung ein. So objektiviert er sein Persönliches, stellt es sich gegenüber, und oft genug vergegenständlicht er es in Ereignis, Geschehen, Bild, das von seiner eignen Person losgelöst und ganz in den Beziehungszusammenhang des Gedichts eingebettet ist, der von vornherein über das nur Individuelle hinauszielt« (S. 82). Wie vorweggenommene Definitionen von Stilmitteln des 17. Jahrhunderts wirken auch jene Partien über den »Ornatus« und die »descriptio« als besondere Ausdrucksfiguren. Weil der einfachen Aussage zu wenig Kraft zugemessen wird, entsteht der ornatus als bewußt gewählter »ästhetischer Schmuck der Rede« (Lausberg). Er dient der Herausarbeitung des Gedankens und muß ihm gemäß sein. Conrady bespricht als Ausdrucksmittel des ornatus vor allem die Metapher (S. 88) in ihren Spielarten des abgekürzten und ausgeführten Vergleichs, die Metonymie, die Periphrase, an deren mehr oder weniger sparsamem Gebrauch klassischer und manieristischer Ausdrucksstil unterschieden werden kann. Aus dem gleichen Grunde werden Wort- und Buchstabenspiel und Parallelismus, jedesmal mit überzeugenden Beispielen, angeführt. Schon aus dieser knappen Übersicht wird klar, daß Conrady seine Beispiele mit dem Blick auf das Weiterwirken einer lateinischen Tradition im 17. Jh. ausgewählt hat. Er verwendet fast alle StilbegrifFe, die für die Charakterisierung des deutschen Dichtungsstils im 17. Jh. gebraucht werden. Aber Conrady bleibt bei der stufenweisen Darstellung des Begriffs der lateinischen Tradition und seiner Einzelheiten. Er scheidet klar klassisch lateinische Ausdruckskunst von nachklassischer. Aus den oft gefährlich breiten Beispielinterpretationen sei hier eine Formulierung über den klassischen Stil zitiert, die stets im Auge behalten werden muß, wenn die Stileigentümlichkeiten der nachklassischen oder neulateinischen Dichtungen genannt werden. Der klassische ornatus ist selbstgesetzlich eingeschränkt und behält die dienende Funktion: »Das in kunstvoller Gliedhaftigkeit geordnete Sprechen bringt das, was ausgesagt werden soll, in angemessener Form zum Ausdruck, das heißt: Der Gegenstand der Aussage wird nicht endlos künstlich variiert, mit Schmuckformen behängt oder durch frappierend zugespitzte Formulierungen getrieben, sondern so viel wird zu seiner Ausgestaltung beigetragen, daß eine ausgewogene Einheit von Natur und Kunst gewonnen wird. Daher wächst sich auch die Anzahl der Dinge, die im Ablauf

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der Dichtung zur Kennzeichnung eines Gedankens, eines Gegenstands, einer Begebenheit genannt werden, nie zu einer übermäßigen Fülle aus. Die Bewegung des Gedichts, von der die Rede war, ist in jedem Punkte unverkennbar straff geführt. Allerdings müssen wir auch bemerken, daß die bloße Nennung des Gegenstands keineswegs als ausreichend empfunden wird« (S. 86/7). In der nachklassischen römischen Dichtung beginnt ein Stilmerkmal, das der L y rik und der epischen Dichtung im 17. Jh. seinen Stempel aufgedrückt hat, das R h e t o r i s i e r e n . Natur und Kunst beginnen sich zu fliehen. Conrady charakterisiert das Rhetorisieren so: »Artistische Möglichkeiten der Sprachgebung (gedanklicher wie formaler Art) werden eingesetzt, ohne stets von der >Sache< zwingend gefordert zu sein; sie werden um ihrer selbst willen ausgenutzt. Das hat zur Voraussetzung, daß der artistischen Formulierung als solcher Wert beigemessen wird« (S. 94). Am Beispiel von Statius' Gedicht Balneum Claudii Etrusci (Silvae I, 5) gelingt ihm die Analyse solcher neuen artistischen Stilmerkmale überzeugend : »Pointiertes Sprechen< und 'Schwelgen in Bombast und Ziererei (tumor)', gedankliche Pointe und sprachlicher Schwulst (>abruptae sententiae et suspiciosae