Dichterische Prosa um 1900 [Reprint 2017 ed.] 9783111333809, 9783484190122


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German Pages 176 Year 1970

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
Arno Holz / Johannes Schlaf: Ein Tod [1889]
Gerhart Hauptmann: Der Apostel [1890]
Max Dauthendey: Blütenleben. - Die Welle [1893]
Stefan George: Sonntage auf meinem Land [1893/1894/1903]
Paul Scheerbart: Phantastische Geschichten (en miniature): Geistertanz. - Nacht und Purpur. - Die alten Priester und die Knaben. - Menschenblut [1894]
Peter Altenberg: Quartett-Soiree [1896]
Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte [1899]
Arthur Schnitzler: Die griechische Tänzerin [1902]
Thomas Mann: Gladius Dei [1902]
Frank Wedekind: Die Schutzimpfung [1903]
Hermann Hesse: Hans Arnstein [1904]
Heinrich Mann: Die Branzilla [1907]
Robert Walser: »Guten Tag, Riesin!« [1907]
Franz Kafka: Gespräch mit dem Beter [1909]
Rainer Maria Rilke: Geschichte des verlorenen Sohnes [1910]
Alfred Döblin: Die Tänzerin und der Leib [1910]
Georg Trakl: Verwandlung des Bösen [1913 / 14]
Georg Heym: Die Sektion [1913 ]
Quellennachweis
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Dichterische Prosa um 1900 [Reprint 2017 ed.]
 9783111333809, 9783484190122

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DEUTSCHE TEXTE 14

D I C H T E R I S C H E PROSA UM 1900

HERAUSGEGEBEN VON WOLFDIETRICH

RASCH

MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 1970

In den Deutschen Texten werden poetische, kritische und theoretische Texte aus dem gesamten Bereich der deutschen Literatur bis zur Gegenwart sowie dazugehörige Materialien und Dokumente veröffentlicht. Die Wahl der Themen, die Zusammenstellung der Texte und die Anlage der Bände entsprechen der Zielsetzung der Reihe: die Deutschen Texte sind für den Unterricht in Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft an den Universitäten und den höheren Schulen bestimmt.

Redaktion der Reihe: Lothar Rotsch

ISBN 3 484 19012 4 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1970 Alle R e d u e vorbehalten. Printed in Germany Herstellung: Bücherdruck Helms K G Tübingen Einband von H e i n r . Koch Tübingen

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

VI

Arno H o l z / Johannes Schlaf: Ein Tod [1889] .

.

.

.

Gerhart Hauptmann: Der Apostel [1890]

1 16

Max Dauthendey: Blütenleben. - Die Welle [1893]

.

31

Stefan George: Sonntage auf meinem Land [1893/1894/1903]

33

Paul Scheerbart: Phantastische Geschichten (en miniature): Geistertanz. - N a c h t und Purpur. - D i e alten Priester und die Knaben. - Menschenblut [ 1 8 9 4 ]

36

Peter Altenberg: Quartett-Soiree [1896]

40

Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte [1899]

.

.

43

Arthur Schnitzler: Die griechische Tänzerin [1902]

.

.

54

Thomas Mann: Gladius Dei [1902] Frank Wedekind: Die Schutzimpfung [1903]

66 . . . .

83

Hermann Hesse: Hans Arnstein [1904]

88

Heinrich Mann: Die Branzilla [1907] Robert Walser: »Guten Tag, Riesin!« [1907]

104 . . . .

138

Franz K a f k a : Gespräch mit dem Beter [1909] . . . .

140

Rainer Maria Rilke: Geschichte des verlorenen Sohnes [1910]

147

Alfred Döblin: Die Tänzerin und der Leib [ 1 9 1 0 ] . Georg Trakl: Verwandlung des Bösen [ 1 9 1 3 / 1 4 ] .

. .

.

153 157

Georg Heym: Die Sektion [ 1 9 1 3 ]

159

Quellennachweis

162

VORWORT

Die Literatur um 1900 rückt seit etwa einem Jahrzehnt in zunehmendem Maße in den Mittelpunkt des literaturwissenschaftlichen Interesses, und sie wird gleichzeitig ein bevorzugter Gegenstand des akademischen Unterrichts. Das mag mit der im öffentlichen Bewußtsein wahrnehmbaren modischen Vorliebe für die Belle Epoque, mit der Aufwertung des »Jugendstils« zusammenhängen. Aber es hat auch seine eigene Motivation. Nach dem zweiten Weltkrieg ist die Literatur der Jahrhundertwende im wesentlichen Vergangenheit geworden, sie wird nicht mehr als zeitgenössisch erfahren, wie in gewissem Maße noch in den dreißiger Jahren, sondern sie gehört bereits weitgehend zur literaturgeschichtlichen Überlieferung. Wenn man das feststellt, muß man jedoch sogleich eine Einschränkung machen. Die Dichtung um 1900 kann zwar nicht mehr als zeitgenössisch im engeren Sinne gelten, ist aber für unser Bewußtsein doch nicht so weit in die geschichtliche Vergangenheit zurückgesunken wie etwa die Dichtung der Goethezeit oder die des 19. Jahrhunderts. Vielmehr lesen wir Thomas Mann oder Heinrich Mann, Hofmannsthal, Wedekind oder Rilke in dem Bewußtsein, daß das Autoren unseres Jahrhunderts sind, daß ihre Werke den Beginn der modernen Literatur bedeuten. Die Bezeichnung »moderne Literatur« meint nicht immer das jeweils Aktuelle, sondern sie hat sich eingebürgert für die Literatur seit etwa 1890. Wenn diese Anfänge der modernen Literatur historisch geworden sind, so hat es die geschichtliche Betrachtung eben doch mit der ersten Phase der m o d e r n e n Dichtung zu tun, die vielfältiger und intensiver in der Gegenwart weiterwirkt als frühere literarische Epochen. Auch wird das Gesamtbild der literarischen Überlieferung durch die Einbeziehung der Literatur um 1900 verändert, vielleicht stärker verändert als zum Beispiel durch die Einbeziehung der Dichtung, die etwa zwischen 1840 und 1880 entstanden ist, in die literarische Tradition, die für viele Betrachter zunächst mit VI

dem Ausklang der klassisch-romantischen Phase, mit Goethes Tod eigentlich beendet schien. So ist die Literatur der letzten Jahrhundertwende von besonderem Reiz und spezifischem Interesse für die gegenwärtige Literaturwissenschaft. Es ist deshalb wichtig, charakteristische Texte aus der Zeit um 1900, d.h. aus den Jahren etwa zwischen 1890 und 1910, bereitzustellen, die den literaturwissenschaftlichen Interpretationen in Seminaren und Proseminaren zugrunde gelegt werden können. Denn die Texte aus dieser Zeit sind oft schwer erreichbar und zum Teil nur in großen Gesamtausgaben zugänglich. Überlegt man die Möglichkeit einer repräsentativen Auswahl, so scheinen sich die Prosadichtungen begrenzten Umfangs als besonders geeignet anzubieten: Stücke erzählender Prosa im engeren Sinne und Beispiele des poeme en prose, einer Gattung von Prosadichtungen, die nicht durch eine Fabel entscheidend strukturiert sind. Sie wurden insbesondere seit Baudelaire in der französischen Literatur ausgeformt und haben, von J . Huysmans in dem Roman »A rebours« auch dichtungstheoretisch fixiert, auf die deutsche Literatur hinüber gewirkt, auf so verschiedene Autoren wie etwa Peter Altenberg und Stefan George. Nimmt man diese Prosatexte mit den Erzählungen zusammen, so zeigt sich, daß so gut wie alle bedeutenden Autoren der Zeit um 1900 in dieser »dichterischen Prosa« ihr Wort gesagt haben, auch diejenigen, die man vorwiegend als Lyriker oder Dramatiker kennt. So sind in der vorliegenden Auswahl nicht nur die eigentlichen Erzähler wie Thomas Mann oder, als Traditionalist, Hermann Hesse oder der frühe K a f k a vertreten, sondern mit gleichem Recht auch Lyriker wie Stefan George oder Rilke, Dramatiker wie Gerhart Hauptmann oder Frank Wedekind. Rilkes »Malte Laurids Brigge« hat den gleichen künstlerischen Rang wie seine Gedichte, und Stefan Georges Prosastücke behaupten sich neben seiner Lyrik als äquivalente Formungen. Das gleiche gilt von der Prosa Georg Trakls. Wenn der junge Gerhart Hauptmann mit seinen frühen Dramen sich durchsetzte und Ruhm erlangte, so sind die etwa gleichzeitig entstandenen Erzählungen »Bahnwärter Thiel« oder »Der Apostel« nicht minder bedeutsam und repräsentativ, ein DraVII

matiker wie Wedekind hat überaus charakteristische, eigenwillig geprägte Erzählungen geschrieben, und Hofmannsthals Erzählprosa ist von gleichem künstlerischen Wert wie seine Gedichte und Dramen. Es läßt sich nicht entscheiden, ob Arthur Schnitzler als Dramatiker oder als Romancier und Novellist bedeutender ist: die eine Gattung ist ihm so gemäß wie die andere. Die in diesem Band vereinigten Beispiele von Prosadichtung machen zunächst sichtbar, wie die Novellentradition des 19. Jahrhunderts sich weiterbildet, was um 1900 aus der kurzen Erzählprosa wird. Aber zugleich spiegeln sie den Stilwandel der gesamten Literatur um 1900, und ihre Zusammenstellung ergibt einen Querschnitt durch die Dichtung der Jahrhundertwende. Die Auswahl ist geleitet von der Absicht, charakteristische und repräsentative Stücke der einzelnen Autoren zu bieten, wobei weniger das Interesse des Lesers maßgeblich war als die Ergiebigkeit und Griffigkeit des Textes für die wissenschaftliche Interpretation. Selbstverständlich w a r es nicht möglich, von allen Autoren der Zeit Beispiele aufzunehmen. In manchen Fällen fiel dem Herausgeber der Verzicht schwer, etwa bei Richard BeerHofmann, Ernst Hardt, Eduard von Keyserling, Ludwig Thoma. Von Ricarda Huch gibt es aus ihrer Frühzeit keine Erzählungen von geringem Umfang, so daß sie den anderen Beispielen entsprächen; das gleiche gilt von Friedrich Huch. Der f ü r die »Deutschen Texte« vorgesehene Umfang eines Bandes sollte nicht überschritten werden. Die Texte werden jeweils vollständig, unverkürzt gegeben, und es sind nur selbständige Stücke aufgenommen worden, mit zwei Ausnahmen, die gerechtfertigt schienen. Rilkes Parabel vom verlorenen Sohn bildet den Schluß des großen Prosawerkes »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, ist aber doch etwas abgerückt von diesen Aufzeichnungen und bildet - so eng der innere Zusammenhang mit dem Ganzen ist - eine in sich geschlossene, relativ selbständige Erzählung, die besser als jeder andere Prosatext den Erzähler Rilke repräsentiert. Auch Franz K a f k a s »Gespräch mit dem Beter« gehört VIII

in einen größeren Zusammenhang. Aber dieser Zusammenhang ist innerhalb der fragmentarischen, als Reihung einzelner Stücke aus dem Nachlaß publizierten »Beschreibung eines Kampfes« nicht so fest, daß eine Herauslösung des sehr charakteristischen Stückes schlechthin unerlaubt scheint. Die Erzählung wurde mit Zustimmung K a f k a s , zusammen mit anderen Teilen des fragmentarischen Entwurfs, 1909 in der Zeitschrift »Hyperion« publiziert, also bereits hier aus dem Gesamtmanuskript herausgelöst. Deutlicher noch als der Rilke des »Malte« und T r a k l führt K a f k a über die Grenze der Dichtung der Jahrhundertwende hinaus. Die chronologische Aufreihung mag auch die Entwicklung der Prosadichtung von Arno H o l z ' experimentierender Versachlichung bis zu Trakls und K a f k a s Verwandlung der Wirklichkeit durch Imagination andeuten. Ungeachtet solcher Entwicklung und der markanten individuellen Verschiedenheiten der Verfasser, die jedem Stück der Auswahl ein ganz eigenes Gepräge geben, ist doch ihre Verwandtschaft in vielen thematischen und strukturellen Gemeinsamkeiten erkennbar, und die innere Einheitlichkeit der Epoche um 1900 wird bei der Interpretation der zusammengestellten Beispiele wahrnehmbar 1 . Der Text der abgedruckten Prosadichtungen folgt den kritischen oder wissenschaftlich bearbeiteten Editionen, falls solche vorliegen, oder den letzten Gesamtausgaben. Wo sie fehlen, wird der Erstdruck zugrunde gelegt. Im bibliographischen Anhang sind die als Vorlage benützten Ausgaben verzeichnet, überdies die Erstdrucke angegeben. Die Zusammenstellung dieses Bandes wäre nicht möglich gewesen ohne die verständnisvolle H i l f e der Verleger, die mit großzügigem Entgegenkommen die Werke ihrer Autoren zum Abdruck in dieser Sammlung zur Verfügung stellten. Mein aufrichtiger D a n k gilt Herrn Professor Hellmut Draws-Tychsen sowie den Leitern der Verlagshäuser Ciaassen (Hamburg),

1

Z u r Frage der Einheitlichkeit v g l . : Wolfdietrich Rasch, Aspekte der deutschen Literatur um 1900. In: Z u r deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Stuttgart 1 9 6 7 , S. 1 ff.

IX

S. Fischer (Frankfurt), Insel (Frankfurt), Helmut Kossodo (Genf/Hamburg), Helmut Küpper (Düsseldorf), Langen-Müller (München), Luchterhand (Neuwied), Otto Müller (Salzburg), Propyläen (Berlin), Suhrkamp (Frankfurt), Walter (Ölten und Freiburg i. Br.). Herrn Dr. Gunter Reiß in Münster danke ich für seine wertvolle Hilfe bei der Zusammenstellung der Texte, der Anfertigung des bibliographischen Anhangs und der Korrektur. Z. Zt. Sao Paulo, September 1969

X

Wolfdietrich Rasch

ARNO HOLZ / JOHANNES

SCHLAF

Ein Tod Endlich, nachdem jetzt der alte Svendsen unten seine eintönige Patrouille eingestellt hatte, konnte sich auch Olaf nicht mehr länger aufrecht erhalten. Die lange Nachtwache, der scharfe Carboldunst, der das ganze, enge, schwüle Zimmer füllte, das feine Ticken der Taschenuhr drüben vom Sophatische her, das leise, unermüdliche Brühen und Blaffen, mit dem sich das ö l in der kleinen, tiefheruntergeschraubten Lampe verzehrte, sein eigenes Blut, das ihm in den Ohren summte und zwischendurch wie fernes, dünnes Glockengeläute klang: das alles betäubte ihn! Er hatte sich jetzt in den alten, grossen, kattunenen Lehnstuhl dicht neben dem Bett noch tiefer zurücksinken lassen. Die glitzernde Flüssigkeit in dem halbvollen Glase neben ihm, die er vergeblich zu fixiren suchte, war jetzt in einen orangefarbnen Lichtklex verschwommen, der allmählich ins Bläuliche überging. Schliesslich war's nur noch ein braunrother Funke, der übrig blieb, zuletzt war auch der verloschen. Alles schien jetzt schwarz! Das Glas, das Bett, die Lampe, das ganze Zimmer... Sein Kinn war ihm auf die Brust gefallen, er war eingeschlafen. . . . Gottseidank! Er war wieder wach geworden. Es musste eine Maus gewesen sein! Sein Schatten, der jetzt lang und wunderlich geknickt drüben über die weisse, niedrige Thür weg, das kleine, blaue Stück Tapete drüber und die alte, verräucherte Zimmerdecke hinfiel, brachte ihn wieder zu sich. Er sah nach der Uhr. Drei! Der Kranke lag noch immer da wie todt. i

Er hatte sich jetzt über ihn gebeugt. Das trübe, grellrothe Lampenlicht zeichnete die Augenhöhle neben der spitz vorspringenden Nase wie ein tiefes, scharf umrändertes Loch in den Schädel. »Armer Kerl!« Das grosse, feuchte Handtuch über seiner Stirn war jetzt wieder behutsam zurechtgerückt, er war jetzt abermals in seinen Lehnstuhl zurückgefallen. »Armer Kerl!« Und nun wieder nur das leise, unermüdliche Brühen der Lampe, das Ticken der Uhr und Jens, der sich jetzt auf dem alten, wackligen Sopha drüben im Schlaf auf die andere Seite gedreht h a t t e . . . Olaf seufzte. Der schmutzige, gelbe Lichtfleck oben an der alten, rissigen Decke zitterte und zitterte, die Uhr tickte, das Blut summte, er war abermals eingeschlafen. »O . . . Oolafü« Unten, irgendwo auf dem todtenstillen Hofe hatten eben ohrenzerreissend ein paar Katzen aufgekreischt; jetzt war auch Jens in die Höhe gefahren. »Um Gotteswillen! Was ...« »Halt's M a u l ! . . . Diese verfluchten Biester!« Er war jetzt wieder total munter. Jens gähnte. » H a . . . h a c h ! I c h . . . ich glaub', ich - hab 'n bisschen geschlafen!« Er hatte den Kneifer, der ihm auf das Sopha gerutscht war, aufgeknippst und drückte ihn jetzt wieder auf seine Stumpfnase. »Hm!« »Geht's besser?« »Nein! Er schläft immer noch!« »Hm!« Eine Weile war Alles wieder still. Sogar die Katzen draussen hatten sich auf einen Augenblick beruhigt. Jetzt sah auch Jens nach seiner Uhr. Sie war stehn geblieben. 2

»Drei! Nicht wahr?« » J a ! Erst!!« »Schön! . . . Ist noch Bier da?« » J a ! Ich glaube.« Jens ging nachsehn. Seine dicken Filzsocken machten seine Schritte unhörbar. Vor dem Bette blieb er einen Augenblick stehn. »Du! Vielleicht wird's doch besser!« Olaf zuckte nur die Achseln. Eins . . z w e i . . . d r e i . . . fünf Stück noch. »Dir auch eine?« »Nein! Danke!« »Aah! das thut wohl! - Ü b r i g e n s . . . scheusslicher Muff hier!« » J a ! Zum Zerschneiden!« »Schauderhaft! Schauderhaft!« Er hatte sich jetzt, beide Hände in den Hosentaschen, dicht vor das Fenster gestellt. »Dieses verdammte Viehzeug!« Olaf, der schon eine ganze Zeit auf dem kleinen, rothgebeizten Bücherregal über der Kommode gekramt hatte, sah auf. » J a ! Weiss Gott! Schon die ganze Nacht!« Jens sah jetzt auf den Hof hinaus. Er hatte die Gardinen bei Seite genommen. Drüben auf die dunkle Wand des Hinterhauses hatten die beiden Fenster ihre zwei trüben Lichtvierecke gelegt, oben auf einem Schornstein zeichneten sich die schwarzen Schattenrisse zweier Katzen deutlich gegen den blauen Nachthimmel ab. Zwei, drei Sternchen flinkerten müde über den mit einem leisen, grauen Lichte überzogenen Dächern. »Tegner? H m ! N a ! Ist ja schliesslich egal!« Plötzlich hatten sich Beide wieder unruhig umgedreht. Ein scharfes Knacken war deutlich durch das todtenstille Zimmer gegangen. »Nein! . . . Nein! . . . Es war wieder nur der dämliche Schrank!« »Ich dachte schon . . . hm! Wenn's nur nicht wiederkommt!« Jens hatte unwillkürlich tief aufgeathmet. 3

Seiner ganzen Länge nach hatte er sich jetzt wieder über das Sopha geworfen. Olaf hatte sich den Tegner dicht unter die kleine, altmodische Lampe gerückt, um deren Glocke ein grosser, gelber Zeitungsbogen gesteckt war, dessen Zipfel bis auf den Tisch herunterreichte. Die Blätter knitterten unter seinen Händen. Den Ellbogen aufgestützt las er jetzt halblaut vor sich hin. »Wie schön die Sonne lacht! Wie freundlich Von Zweig zu Zweigen . . . « Wieder knitterten die Blätter. Die Furche zwischen seinen dichten, buschigen Augenbrauen hatte sich noch tiefer gegraben. Jens, der jetzt auf dem Bauch liegend über das Seitenkissen des Sophas weg zwischen den Arabesken der Gardinen hindurch den kleinen, grünen Stern drüben über dem Schornstein beobachtete, langweilte sich scheusslich. »Willst Du nicht lieber 'n bisschen schlafen?« »Nein!« »Aber K i n d ! . . . Warum nicht? Ich löse Dich ab!« »Lass n u r ! . . . Kann nicht schlafen!« »Ä! Eigentlich! Ich auch nicht mehr!« Ein langes Schweigen war eingetreten. Stumpf und müde starrten die Beiden vor sich hin. »Du!« »Ja?« »Nichts!« »Was denn?« »Still! Hörst Du nichts?!« Unten im Flur krackelte jetzt etwas an der Hausthür herum. »Aha!« Schläfrig blinzelte jetzt Jens wieder nach seinem Stern hinüber. »Hm!« Olaf blätterte wieder weiter. Unten hatte es unterdessen das Schlüsselloch gefunden und drehte nun mühsam auf. Es torkelte herein. »Du! Hör mal den!« »Na? Ei, du Donnerwetter!« 4

Schwer kam es jetzt die Treppe in die Höhe gestapft. Am Geländer hielt es sich. Manchmal polterte es wieder ein paar Stufen zurück. Es schnaufte und prustete. Eine tiefe, heisere Bassstimme brummte. Jetzt, endlich kam es schwerfällig über den Flur. Ein dicker Körper war dumpf gegen eine Thür geschlagen. Ein abgebrochener Fluch, dann half es sich wieder weiter. »Heiliger Bimbam!« Jens lachte leise. Jetzt hatte es sich sogar gegen die Wand gestemmt und schurrte sich daran entlang. Ein paar Kalkstücken waren abgebröckelt und prasselten unten auf die Dielen. »Was?! Famose Kröte!« »Still mal!!« Es k a m . . . j a ! . . . es kam s o g a r . . . auf die Thür zu? J e t z t . . . Schwer war es dagegen gekracht! Der dumpfe Schlag war durch das ganze Zimmer gegangen. »Herrgott! Was ist denn das für ein Knote?!!« Olaf war steil in die Höhe gefahren. Auch Jens war die Sache etwas bunt geworden . . . Sie standen jetzt Beide mitten im Zimmer, die Augen aufmerksam auf die Thür gerichtet. Es tastete nach der Klinke. »Das h e i s s t . . . « Schnell, auf den Zehen, war jetzt Olaf auf die Thür zugegangen. Aber in demselben Augenblicke war sie auch bereits aufgeprallt, und ein unförmiger, schwarzer Klumpen über die Schwelle weg prustend ins Zimmer gekugelt. Der kühle Luftzug hatte die kleine Lampe neben dem Bett hoch aufflackern lassen. Jens war sofort zugesprungen. Mit Olaf's Hülfe gelang es ihm endlich, den Betrunkenen aufzurichten. In dem matten Schein der Lampe jetzt ein blaurothes, gedunsenes Gesicht, das mit seinen kleinen, verschwommenen Augen blöde im Zimmer umherglotzte. Unter dem eingedrückten Hut vor dünne, flachsblonde Haare in die rothe, fette, schweisstriefende Stirn. 5

»Mein Herr! Bitte!« Ein Schlucken und Schnieben war die einzige Antwort. »Sie sind fehlgegangen!« » W a . . . h b f . . . w a . . . waas? H b f ! . . . « »Sie sind fehlgegangen!« »Ah! . . . En . . . en . . . hbf! . . . schul . . . jen . . . i . . . hbf! . . . ich...« »Bitte!« »Hb! H b f ! . . . « Hinterrücks war jetzt der Dicke mit seiner Verbeugung auf den Flur zurückgetaumelt. Olaf drückte die Thür fest an und drehte den Schlüssel u m . . . »Nette Wirthschaft hier!« Endlich hatten sie sich wieder beruhigt. Olaf blätterte wieder zerstreut in seinem Tegner herum, Jens hatte sich auf das Sopha zurückgeworfen und blinzelte wieder schläfrig vor sich hin durch die Gardine. Am Kopfende des Bettes, in irgend einem Winkel, summte verschlafen ein durch das Licht aufgestörter Brummer. Die Taschenuhr tickte, vom Schrank her ein paar Holzwürmchen. Jetzt, oben in der dritten Etage, klappte endlich auch die Thür zu. Durch die dünne Decke durch hörte man deutlich, wie es plump auf ein Bett f i e l . . . Das matte, fahle Licht oben auf den Dächern war jetzt ein wenig heller geworden . . . Olaf schüttelte sich. Ihn fröstelte. Den Lampendocht schraubte er etwas höher. Das scharfe, todtblasse Gesicht des Kranken, in dessen feuchte Stirn unter dem Handtuch vor wirr die schwarzen, nassen Haare quollen, zeichnete sich jetzt noch schärfer. »Ach Gott, ja!« Müde hatte Olaf den Kopf auf seine beiden Arme gelegt, die er gegen die Tischkante gestützt hatte. Plötzlich waren sie beide erschrocken zusammengefahren! Das Bett hatte diesmal ganz deutlich geknarrt. 6

Ein unruhiges Rauschen. Ein Stöhnen. Bleischwer hatte es auf das bauschige Deckbett geklappt. Athemlos starrten die Beiden hin . . . » A h ! . . . aaahü . . . « Schnell hatte sich jetzt Olaf über den Kranken gebeugt. »Jens! Jens!« »Hier!« Der Kranke war jetzt noch unruhiger geworden. Sein Kopf drehte sich nach allen Seiten. Seine tiefliegenden, dunklen Augen waren weit aufgerissen. Seine Nägel kratzten scharf über den Bettbezug. Seine blassen, bläulichen Lippen bewegten sich. »Du! Komm her!« »Ja!« Aber wieder lag er jetzt regungslos. Nur seine langen, abgemagerten Hände, die unruhig an dem Deckbett zupften. Ein paar Secunden lang war alles s t i l l . . . Jetzt, kaum hörbar: »Wasser...« »Schnell! Schnell!« »Da!« Olaf hatte sich mit dem Glase wieder über das Bett gebeugt. Vorsichtig, leise schob er dem Kranken seinen langen, sehnigen Arm unter den Kopf. Behutsam rückte er ihn ein wenig in die Höhe und drückte ihm das Glas an den M u n d . . . Gierig hatte der Kranke getrunken! Seine irren Blicke waren jetzt starr auf den schmutziggelben, bebenden Kreis oben über den weiss gestrichenen, niedrigen Querbalken der Decke gerichtet . . . Das leise, zitternde Klappen des leeren Glases, das Jens auf den Tisch zurückstellte und die Taschenuhr drüben. » H . . . h . . . Los! Los denn doch!!« »Du! Du!« »Ja!« »Auf die Mensur! Fertig! L o s ! ! ! . . . A h ! . . . Hier! Hier! In die Seite! . . . Ah! Aaah! . . . Es schmerzt! Es schmerzt, Olaf! O l a f ! . . . H u ! Das Blut! Das B l u t ! . . . Das ganze G r a s . . . aaah! . . . Das ganze - G r a s . . . Das ganze G r a s . . . « Jens schüttelte sich. Es überlief ihn. 7

Olaf hatte sich jetzt noch tiefer über das Bett gebückt. »Martin! Martin! Alter Junge!« Seine Stimme zitterte etwas. »Jens! ' N frisches Tuch!« . . . »Hier!« » A h . . . das Gras i s t . . . feucht!... k ü h l . . . so k ü h l . . . Wir müssen fort, O l a f . . . Die Droschke... u n t e n . . . Ruhig, Kind! Ruhig! Der Kerl soll dran glauben!! - Wart mal! Wart mal! Der Briefträger? Flinsberg, alter Junge! Keinen Schilling mehr, auf W o r t ! . . . Geld! Geld! Mutterchen hat doch geschickt... Mutterchen!... Aber es wird ihr schwer, O l a f ! . . . Sie sagen's nur n i c h t . . . sagen's nur nicht! Hier, Herr D o c t o r ! . . . Bitte!... Wunderschön! . . . das Getreide . . . Die Vögel . . . Ach, Herr D o c t o r ! . . . Lasst d o c h ! . . . ihr braucht mich doch nicht zu halten . . . ich kann ja allein... nicht d o c h ! . . . Lasst doch!!« Er wand sich. Olaf hatte jetzt beide Arme um ihn geschlungen. »Nein! Nicht doch! Lass doch, J e n s ! . . . M a c h keinen Unsinn! Gieb meine Mappe her! . . . Ich muss in's Colleg! . . . Sauf's! Sauf's!... Rest w e g ! . . . Donnerwetter! So 'ne wüste Zecherei! . . . Aber . . . aber . . . nicht, nicht doch! . . . Lass doch - l o s ! ! . . . Ach - lass doch nur! Lass! . . . Silentium! Wir wollen eins singen!« Mit seinen abgemagerten Armen schlug er jetzt wild in der Luft herum. Seine langen, schmalen Hände schlenkerten in den dürren Gelenken. Olaf stöhnte. »Wir singen eins!... Das erste Lied!... Seite... Nein doch! . . . Lass! . . . Lass!! . . . Lass doch - loosü!« »Jens!... F a s s . . . mit - zu!« »Los! Los!! - Loosü!.. .Lasst mich doch! Lasst mich doch!! . . . Aah! Aaahhü« »Fest! - Fest!!... Er - will - raus!!!« Ein Brett, das sich unten aus der alten Bettlade gelöst hatte, war jetzt auf die Dielen gekracht. Sie wurden hin und hergeschleudert . . . Endlich hatten sie Martin in das zerwühlte Bett wieder niedergezwängt. Er lag jetzt erschöpft da. Er schwatzte nur noch halblaut vor sich hin. Das runtergezerrte Deckbett hatte 8

Jens wieder sorgsam über ihm zurechtgerückt. Beide athmeten schwer... Draussen in der Nachbarschaft krähte jetzt ein Hahn. »Ah! Es schmerzt! Es schmerzt ja so!! Aahü A a a a h ! ! ! . . . Olaf! Olaf!!« » J a ? Mein J u n g e ? . . . Ich bin's ja! Und J e n s ! . . . Wird dir besser?« Er hatte sich wieder zu ihm niedergebeugt. Seine Brust keuchte noch. Er konnte kaum sprechen. » J a ! - J a . . . Die Sonne scheint so wunderschön... Draussen . . . Heut Abend bei Bergenhuus... am S t r a n d . . . Nicht wahr, Nora? . . . Ach, schon Morgen . . . Bios ein Frosch! . . . Nicht d o c h . . . b l o s ein F r o s c h . . . Hier! H i e r ! . . . Das Gras ist so schön . . . O, nicht wahr? Wir werden uns nie vergessen? . . . Nie . . . nie . . . O, nicht wahr? . . . Noch ein Kuss? . . . Hm? . . . Gute Nacht . . . Der Mond . . . so schön . . . dort . . . über der S e e . . . so r o t h . . . so g r o s s . . . so groooss...« Er lag jetzt da, mit halbgeschlossenen Augen. Er lächelte. »Er wird ruhig!« »Ja...« Olaf hatte sich jetzt wieder aufgerichtet. Einen Augenblick hatte er seinen Arm gerieben. Jens wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »So k ü h l . . . so schön . . . so . . . « Olaf hatte Martin wieder das feuchte Handtuch fest gerückt. Jens war zur Lampe getreten. » V i e r . . . vier e r s t . . . h ! . . . « Er stand jetzt wieder am Fenster. »Wenn's doch erst Tag w a r ' ! ! « Der fahle Lichtschein draussen auf den Dächern war jetzt heller geworden. Das erste Morgendämmern legte ein mattgoldiges Gelb auf die moosigen, schwarzrothen Dachziegel und auf den viereckigen Schornstein drüben. Der enge Hof unten lag in einem silbergrauen Dämmerlicht. Langsam schlich sich der anbrechende Morgen an der Fensternische entlang in das dumpfige Zimmer. Das Glanzleder des Sophas hatte leise zu schimmern angefangen, der unruhige Lichtfleck oben an der 9

Decke wurde immer blasser. Der Docht der Lampe, von welcher Olaf den Zeitungsbogen genommen hatte, war nur noch ein röthlich kohlender, stinkender Ring. Draussen krähte wieder der Hahn. Ein leiser Windstoss strich am Fenster vorbei. In der Nachbarschaft kräuselte sich aus einem Schornstein ein feiner, weisser Rauch in das mattblaue, eckige Stück Himmel über den Hinterhäusern. »Wann können sie denn da sein?« »In zwei Stunden, denk' ich!« Jens hatte sich wieder umgedreht. »Du! Komm! — Schnell!« »Nein! N e i n ! . . . D i e Bummelei hat keinen Zweck! Wir wollen jetzt arbeiten! Arbeiten!!« »Du!« »Herrgott! Herrgott!« Leise schwatzte er jetzt wieder vor sich hin. Plötzlich hatte er sich blitzschnell, mit einem jähen Ruck, steil aufgerichtet. »Jens! . . . Schnell! . . . Schnell! . . . Nie-der! Nie-der! Der Ver-band!« »Wir wollen eins singen!!... Wir wollen eins singen!!« Martin s a n g . . . Seine Stimme gellte heiser durch das Zimmer. »Fest! Halt - fest!!« »Ftttü Das war ein incommentmässiger Hieb!...Bitte den Herrn Unparteiischen zu constatiren... hü . . . hü H i e r h e r . . . Aaaahhü...« Martin war sich mit beiden Händen nach seinem Leibe gefahren. »Fass fest zu! Um - Gotteswillen! . . . Er - reisst sich . . . den - Verband los!!« Martin raste. » H a l t . . . w a s . . . Du - kannst!« Jens war mit dem Kopf gegen den Bettpfosten geflogen. »Die verfluchte K u g e l ! . . . E s wird mir d u n k e l . . . s o dunkel . . . Jens . . . ich . . . sterbe! . . . Ich - sterbe ja!! . . . Ida! Mutterchen!... Sie waren so stolz auf m i c h . . . A h ! Herr Doctor? . . . Gratulire, mein lieber J u n g e ! . . . Gratulire!... Aber, i c h . . . 10

ich -will ja! . . . Nein, Nora! nur ein Frosch, Kind! . . . Sieh doch! . . . das Meer . . . es wird . . . ganz schwarz . . . schwarz . . . Mutterchen! . . . Mutterchen . . . Es wird ja alles noch gut . . . g u t . . . Ah! Aaahü . . . Gute Nacht h! — h! — Gute Nacht, H e r r . . . H . . . Herr - D o c t o r . . . « »Lass 'n bischen los! - Er wird ruhig!« Jens richtete sich auf. Sein Athem ging schwer, mühsam. Er besah sein Handgelenk. Es war blau. Ein paar blutige Streifen zogen sich drüber hin. »Lösch... d i e . . . Lampe aus! Sie kohlt!« Erschöpft war Olaf wieder in seinen Lehnstuhl zurück gesunken. Im Zimmer wurde es jetzt hell. Die Messingthüren an dem weissen Kachelofen neben der Thür funkelten leise. Draussen fingen die Spatzen an zu zwitschern. Vom Hafen her tutete es. Unten hatte die Hofthür geklappt. Jemand schlurfte über den Hof. Ein Eimer wurde an die Pumpe gehakt. Jetzt quietschte der Pumpenschwengel. Stossweise rauschte das Wasser in den Eimer. Langsam kam es über den Hof zurück. Die Thür wurde wieder zugeklappt. Sie sahen zu dem hellen Fenster hin. Unwillkürlich hatten sie beide tief aufgeathmet. »Du! Olaf! Sieh mal!« Olaf antwortete nicht. Er hatte nur den Kopf ein wenig zum Bett hingedreht. »Er liegt wie tot!« »Ich glaube . . . Hm!« Er sah nach der Uhr. »Wir müssen 'n neu'n Verband anlegen! Gieb doch mal den Eisbeutel!« Jens reichte ihm den frischen Eisbeutel vom Tisch herüber. Behutsam legten sie Martin den neuen Verband an. Olaf brummelte etwas Unverständliches in seinen langen, strohgelben Schnauzbart. »Ich glaube, die Wunde ist - nicht sorgfältig genug gereinigt! Es sind sicher noch Stofffäserchen von der Hose dringeblieben!... Sieh mal!« 11

Sie hatten sich Beide auf die Schusswunde niedergebückt, die Martin seitwärts im Unterleibe hatte. »Du! Sieh doch n u r ! . . . Er verändert sich ordentlich!« »Hm!« »Er liegt so still!« » J a ! Wir müssen den Arzt holen lassen!« »Ich will klingeln?« »Ja!« Hastig war Jens zur Thür gegangen. Grell tönte die Klingel unten durch das noch stille H a u s . . . Der erste Sonnenstrahl blitzte jetzt goldig über die Dächer weg in das Zimmer. Er legte einen hellen Schein auf die dunkelblaue Tapete über dem Bett und zeichnete die Fensterkreuze schief gegen die Wand. Die Bücherrücken auf dem Regal funkelten, die Gläser und Flaschen auf dem Tisch fingen an zu flinkem. Die Arabesken des blanken Bronzerahmens um die kleine Photographie auf dem Tisch mitten zwischen dem weissen, auseinandergezerrten Verbandzeug und dem Geschirre glitzerten. Auf den Dächern draussen lärmten wie toll die Spatzen. Unten auf dem Hofe unterhielten sich ganz laut ein paar Frauen. »Donnerwetter! Ist das eine wüste Wirthschaft hier!« Jens, der zum Sopha ging, war über ein paar Stiefeln gestolpert, die mitten im Zimmer auf dem verschobenen, staubigen Teppich lagen. »Mir ist ganz öd' im Schädel!« Schwer hatte er sich wieder auf das knackende Sopha sinken lassen. Olaf hatte nicht geantwortet. Jens reckte sich. »Übrigens . . . Es war eine schneidige Mensur!« » J a ! Sehr correct!« » J a ! Sehr ehrenhaft! — Für Beide!« »Eversen ist ins Ausland, nicht wahr?« »Wahrscheinlich!« Jens betrachtete nachdenklich die beiden blitzenden Pistolenläufe über dem Sopha. »Wenn sie nun kommen?« »Hm!« 12

»Ä!« Jens gähnte nervös. »Wo bleibt denn dieser alte - Ohrwurm?!« »Wann können sie denn hier sein?« Olaf hatte sich vom Bett in die Höhe gerichtet. »Ich denke, nach sechs?« »Hm!« . . . » N a , endlich!« Jens war aufgesprungen. Hastig schloss er die Thür auf. »Guten Morgen, meine Herren!« »Guten Morgen, Frau Brömme!« Die kleine, dürre Frau Brömme stand mit ihrem vorgestreckten, ängstlichen, verrunzelten Gesicht in der Thür. Ihre kleinen, grauen Augen hatte sie halb fragend, halb verstimmt gleich auf das Bett gerichtet. Mit ihren dürren Fingern zupfte sie an ihrem Schürzenband. »Wie steht es, Herr Doctor?« »Schlecht! Wollen Sie schleunigst zum Arzt schicken!« Olaf hatte nicht vom Bette aufgesehn. »Ach, du lieber G o t t ! . . . Es wird d o c h . . . « » U n d . . . bringen Sie, bitte, etwas frisches Wasser!« » J a ! Sofort! Sofort! O, du lieber Gott! Du lieber Gott!« Die letzten Worte waren schon draussen vom Flur gekommen. Im Zimmer nebenan wurde es jetzt lebendig. Ein Fenster wurde geöffnet. Jemand stimmte eine Geige. »Der Philologe! Er steht jeden Morgen um Sechs auf und spielt! Könnten wir nicht das Fenster ein bischen aufmachen? Es ist zum Umkommen!« » J a ! Etwas!« Jens öffnete. Tief aufathmend sog er die frische Morgenluft ein. Weich und klagend klangen die Töne der Geige, auf der der Philologe jetzt nebenan eine alte Volksballade spielte, auf den sonnigen Hof hinaus in das Zwitschern der Spatzen und das Gurren und Flügelklatschen der Tauben. Von fern, durch 13

die klare Morgenluft, deutlich die hellen, zitternden Schläge einer Thurmuhr. Sie lauschten Beide. Ihre bleichen, überwachten Gesichter waren tiefernst... Vor der Thür hatte es jetzt geklirrt. Jens öffnete. Frau Brömme kam mit dem Wassereimer und Kaffee. Vorsichtig trippelte sie auf den Tisch zu. Sie Hess kein Auge vom Bett. » H i e r . . . hier, Herr Doctor! Etwas Kaffee, meine Herren! Du lieber Gott, ja!« Olaf tauchte ein Handtuch in den Eimer und rang es aus. Es plätscherte. Frau Brömme nickte. Jens schlürfte von dem Kaffee. »Wie der arme, junge Mann aussieht! Du mein Gott! Ach wissen Sie, es ist eine rechte Sünde, das Duelliren!« »Eh! Der Arzt kommt doch bald?« »Sofort! Sofort, Herr Doctor! Ach Gott! So ein junger Mann, an den seine Mutter alles gewendet hat! Entschuldigen Sie! Aber sagen Sie selbst, meine Herren! Und schliesslich, um eine Kleinigkeit, um nichts, wenn man so nimmt! Das ist doch wahr, meine Herren!« Olaf und Jens hatten eine sehr reservirte Miene angenommen. »Ach ja! Man kann was erleben, wenn man zwanzig Jahre an Studenten vermiethet hat!« Olaf war müde in seinen Stuhl zurückgesunken. »Ach, Sie müssen auch schön müde sein, Herr D o c t o r ! . . . Ja, ein richtiges Buch könnte man schreiben! Glauben Sie? Nebenan wohnte mal ein Herr Eriksen, der kriegte ganz und gar das Delirium! Hier! In meinem Hause! O Gott, wenn ich noch...« »Hm! . . . Wollen Sie - gleich noch etwas Eis heraufbringen!« »Eis! Eis! Jawohl, jawohl, Herr Doctor! Sofort! O, du lieber Gott!« Sie trippelte hinaus. »Alte Hexe!« Olaf hatte das zwischen den Zähnen vorgezischelt. Jens schüttelte sich. Es fröstelte ihn. 14

»Unheimlich!« Nebenan klang noch immer die Ballade durch die dünne Holzwand. Im Zimmer fingen die Fliegen an zu summen . . . »Du!« »Was denn?!« »Er liegt so auffallend still?« » J a ! . . . U n d . . . Herrgott! Sieh mal!! Seine Nase ist - so spitz? U n d . . . die - Augen...« Olaf hatte sich schnell über Martin gebückt. Um seinen Mund lag jetzt ein krampfiges Lächeln. Die Arme lagen lang über das zerwühlte Bett hin. Das scharfe, spitzige Gesicht, auf welches jetzt schräg die Sonne fiel, war wachsbleich. »Man . . . man spürt - den Puls gar nicht - mehr . . . « »Was??« » A c h . . . E r . . . er ist ja - todt??!« »W...??« »Todt!!« »Todt?? . . . Du meinst... todt???« Die Worte blieben Jens in der Kehle stecken. Er zitterte. »Todt?« Es war, als ob er an dem Worte kaute. »Es . . . es . . . ich w i l l . . . die Wirthin ...« »Lassü« Olaf hatte sich tief über die Leiche gebeugt. Er drückte ihr die Augen zu . . . Eine Minute war vergangen. Sie hatten nicht gewagt sich anzusehn. Draussen kamen jetzt leichte Schritte die Treppe herauf. Die Wirthin sprach mit Jemand. Sie sahen sich an. »Es kommt wer!« » A c h . . . wahrscheinlich - der Arzt!« Jens zupfte an dem untersten Knopf seines Jaquetts herum. Sein Athem keuchte leise. Unverwandt sahen sie zur Thür hin. Jetzt... »H . . . herein ...« ij

»Bitte, meine Damen! O, du lieber G o t t ! . . . Bitte!« Scheu waren sie jetzt vom Bett zurückgetreten. Sie wagten kaum aufzusehn. In der offenen Thür stand eine schmächtige, ältliche Dame in einem einfachen, schwarzen Tunikakleidchen. Noch halb auf dem Flur draussen ein frisches, hübsches Gesichtchen, das ängstlich suchend, schüchtern über ihre Schulter sah. Leise, mit einem halben Lächeln, war sie jetzt in das dumpfe, unfreundliche Zimmer getreten. Ihre leise zitternde Hand, durch deren lila Zwirnhandschuh ein schmaler Goldreif glitzerte, hatte sie halb wie fragend erhoben... Jetzt hatte sie sich über die Leiche gebeugt... Draussen zwitscherten die Spatzen, die Tauben gurrten in der blendenden Morgensonne. Vom Fenster bis zum Bett zog sich ein lichter Balken wimmelnder Sonnenstäubchen. Nebenan noch immer die weichen Töne der Geige

»Mama!!!«

GERHART

HAUPTMANN

Der Apostel Spät am Abend war er in Zürich angelangt. Eine Dachkammer in der »Taube«, ein wenig Brot und klares Wasser, bevor er sich niederlegte: das genügte ihm. Er schlief unruhig, wenige Stunden. Schon kurz nach vier erhob er sich. Der Kopf schmerzte ihn. Er schob es auf die lange Eisenbahnfahrt vom gestrigen Tage. Um so etwas auszuhalten, mußte man Nerven wie Seile haben. Er haßte diese Bahnen mit ihrem ewigen Gerüttel, Gestampf und Gepolter, mit ihren jagenden Bildern; — er haßte sie und mit ihnen die meisten anderen der sogenannten Errungenschaften dieser sogenannten Kultur. Durch den Gotthard allein . . . es war wirklich eine Tortur, durch den Gotthard zu fahren: dazusitzen, beim Scheine 16

eines zuckenden Lämpchens, mit dem Bewußtsein, diese ungeheure Steinmasse über sich zu haben. Dazu dieses markdurchschütternde Konzert von Geräuschen im Ohr. Es war eine Tortur, es war zum Verrückt werden! In einen Zustand war er hineingeraten, in eine Angst, kaum zu glauben. Wenn das nahe Rauschen so zurücksank und dann wieder daherkam, daherfuhr wie die ganze Hölle und so tosend wurde, daß es alles in einem förmlich zerschlug . . . Nie und nimmer würde er nochmals durch den Gotthard fahren! Man hatte nur einen Kopf. Wenn der einmal aufgestört war - der Bienenschwarm dadrinnen - , da mochte der Teufel wieder Ruhe schaffen: alles brach durch seine Grenzen, verlor die natürlichen Dimensionen, dehnte sich hoch auf und hatte einen eigenen Willen. Die Nacht hatte es ihn noch geplagt, nun sollte es damit ein Ende haben. Der kalte, klare Morgen mußte das Seinige tun. Übrigens würde er von hier ab nach Deutschland hinein zu Fuß reisen. Er wusch sich und zog die Kleider über. Als er die Sandalen unterband, tauchte ihm flüchtig auf, wie er zu dem Kostüm, das er trug und das ihn von allen übrigen Menschen unterschied, gekommen war: die Gestalt Meister Dieffenbachs ging vorüber. - Dann war es ein Sprung in frühe Jahre: Er sah sich selbst in der sogenannten Normaltracht zur Schule gehen - der Glatzkopf des Vaters blickte hinter dem Ladentische der Apotheke hervor, die Tracht des Sohnes milde bespöttelnd. Die Mutter hatte doch immer gesagt, er sei kein Hypochonder. Der Glatzkopf und das junge Frauengesicht schoben sich nebeneinander. Welch ein ungeheurer Unterschied! Daß er das früher nie bemerkt hatte. Die Sandalen saßen fest. Er legte den Strick, der die weiße Frieskutte zusammenhielt, um die Hüften und eine Schnur rund um den Kopf. Auf dem Hausflur der Herberge war ein alter Spiegel angebracht. Einen Augenblick im Vorübergehen hielt er inne, um sich zu mustern. Wirklich! - er sah aus wie ein Apostel. Das heilige Blond der langen Haare, der starke, rote, keilförmige Bart, das kühne, feste und doch so unendlich milde Gesicht, die weiße Mönchskutte, die seine schöne, straffe 17

Gestalt, seinen elastischen, soldatisch geschulten Körper zu voller Geltung brachte. Mit Wohlgefallen spiegelte er sich. Warum sollte er es auch nicht? Warum sollte er sich selbst nicht bewundern, da er doch nicht aufhörte, die Natur zu bestaunen in allem, was sie hervorbrachte? Er lief ja durch die Welt von Wunder zu Wunder, und Dinge, von anderen nicht beachtet, erzeugten in ihm religiöse Schauer. Übrigens nahm sie sich gut aus - die Neuerung dieses Morgens: man konnte ja denken, diese Schnur um den Kopf habe den Zweck, das Haar zusammenzuhalten. Daß sie einem Heiligenschein ähnelte, hatte nichts auf sich. Heilige gab es nicht mehr, oder besser: der Heiligenschein kam jedem Naturerzeugnis, auch dem kleinsten Blümchen oder Käferchen zu, und dessen Auge war ein profanes Auge, der nicht über allem solche Heiligenscheine schweben sah. Auf der Straße war noch niemand. Einsamer Sonnenschein lag darauf. Hie und da der lange, ein wenig schräge Schatten eines Hauses. Er bog in ein Seitengäßchen, das bergan stieg, und klomm bald zwischen Wiesen und Obstgärten hin aufwärts. Bisweilen ein hochgiebliges, altvaterisches Häuschen, ein enges, mit Blumen vollgepfropftes Hausgärtchen, dann wieder eine Wiese oder ein Weinberg. Der Ruch des weißen Jasmins, des blauen Flieders und des dunkelbrennenden Goldlacks erfüllte stellenweise die reine und starke Luft, daß er sie wohlig in sich sog, wie einen gewürzten Wein. Er fühlte sich freier nach jedem Schritt. Wie wenn ein Dorn aus seinem Herzen sich löste, war ihm zu Sinn, als es ihm das Auge so still und unwiderstehlich nach außen zog. Das Dunkel in ihm ward aufgesogen von all dem Licht. Die Köpfchen des gelben Löwenzahns, gleich unzähligen kleinen Sonnen in das sprießende Grün des Wegrandes gelegt, blendeten ihn fast. Durch den schweren Blütenregen der Obstbäume schössen die Sonnenstrahlen schräg in den wiesigen Grund, ihn mit goldigen Tupfen überdeckend. So honigsüß dufteten die Birken. Und so viel Leben, Behaglichkeit und Fleiß sprach aus dem verlorenen Sumsen früher Bienen. 18

Sorgfältig vermied er im Aufsteigen, irgend etwas zu beschädigen oder gar zu vernichten, was Leben hatte. Das kleinste Käferchen wurde umgangen, die zudringliche Wespe vorsichtig verscheucht. Er liebte die Mücken und Fliegen brüderlich, und zu töten - auch nur den allergewöhnlichsten Kohlweißling - schien ihm das schwerste aller Verbrechen. Blumen, halbwelk, von Kinderhänden ausgerauft, hob er vom Wege auf, um sie irgendwo ins Wasser zu werfen. Er selbst pflückte niemals Veilchen oder Rosen, um sich damit zu schmücken. Er verabscheute Sträuße und Kränze; er wollte alles an seinem Ort. Ihm war wohl und zufrieden. N u r daß er sich selbst nicht sehen konnte, bedauerte er. Er selbst mit seinem edlen Gange, einsam in der Frühe auf die Berge steigend: das hätte ein Motiv abgegeben für einen großen Maler; und das Bild stand vor seiner Phantasie. D a n n sah er sich um, ob nicht doch vielleicht irgendeine menschliche Seele bereits wach sei und ihn sehen könne. Niemand war zu erblicken. Übrigens fing das merkwürdige Schwatzen - im Ohr oder gar im Kopf drinnen, er wußte nicht wo - wieder an. Seit einigen Wochen plagte es ihn. Sicherlich waren es Blutstockungen. Man mußte laufen, sich anstrengen, das Blut in schnelleren Umlauf versetzen. U n d er beschleunigte seine Schritte. Allmählich war er so über die Dächer der Häuser hinausgekommen. Er stand ruhend still und hatte alle Pracht unter sich. Eine Erschütterung überkam ihn. Ein Gefühl tiefer Zerknirschung brannte in ihm angesichts dieser wundervollen Tiefe. - Lange ließ er das verzückte Auge umherschwelgen: über alles hin, zu der Spitze des jenseitigen Berges, dessen schründige Hänge zartes, wolliges Grün umzog; - hinunter, wo die veilchenfarbne Fläche des Sees den Talgrund ausfüllte, wo die weichen, grasigen Uferhügel daraus hervorstiegen, grüne Polster, überschüttet, soweit die Sehkraft reichte, mit Blüten und wieder Blüten. Dazwischen Häuschen, Villen und Dörfer, deren Fenster elektrisch aufblitzten, deren rote Dächer und Türme leuchteten. N u r im Süden, fern, verband ein grauer, silberiger D u f t See 19

und Himmel und verdeckte die Landschaft; aber über ihm, fein und weiß leuchtend, auf das blasse Blau der Luft gelegt, schemenhaft tauchten sie auf - einem ungeheuren Silberschatz vergleichbar - in langer sich verlierender Reihe: die Spitzen der Schneeberge. Dort haftete sein Blick - starr - lange. Als es ihn losließ, blieb nichts Festes mehr in ihm. Alles weich, aufgelöst. Tränen und Schluchzen. Er ging weiter. Von oben her, wo die Buchen anfingen, traf das Geschrei des Kuckucks sein Ohr: jene zwei Noten, die sich wiederholen, aussetzen, um dann wieder und wieder zu beginnen. Er ging weiter, nunmehr für sich und grüblerisch. Mysteriöse Rührungen waren ihm angesichts der Natur nichts Ungewöhnliches; so stark und jäh wie diesmal indes hatten sie ihn noch niemals befallen. — Es war eben sein Naturgefühl, das stärker und tiefer wurde. Nichts war begreiflicher, und es tat nicht not, sich darüber hypochondrische Gedanken zu machen. Übrigens fing es an, sich in ihm zu verdichten, zu gestalten, zu erbauen. Kaum daß Minuten vergingen, und alles in ihm war gebunden und fest. Er stand still, wieder schauend. Nun war es die Stadt unten, die ihn anzog und abstieß. Wie ein grauer, widerlicher Schorf erschien sie ihm, wie ein Grind, der weiterfressen würde, in dies Paradies hineingeimpft: Steinhaufen an Steinhaufen, spärliches Grün dazwischen. Er begriff, daß der Mensch das allergefährlichste Ungeziefer sei. Jawohl, das stand außer Zweifel: Städte waren nicht besser als Beulen, Auswüchse der Kultur. Ihr Anblick verursachte ihm Ekel und Weh. Zwischen den Buchen angelangt, ließ er sich nieder. Lang ausgestreckt, den Kopf dicht an der Erde, Humus- und Grasgeruch einziehend, die transparenten grünen Halme dicht vor den Augen, lag er da. Ein Behagen erfüllte ihn so, eine schwellende Liebe, eine taumelnde Glückseligkeit. Wie Silbersäulen die Buchenstämme. Der wogende und rauschende, sonnengolddurchschlagene grüne Baldachin darüber, der Gesang, die Freude, der eifrige und lachende Jubel der Vögel. Er schloß die Augen, er gab sich ganz hin. Dabei stieg ihm der Traum der Nacht auf: eine fremde 20

Stimmung zuerst, ein Herzklopfen, eine Gehobenheit, die eine Vorstellung mitbrachte, über deren Ursprung er grübeln mußte. Endlich kam die Erinnerung - : Zwischen Tag und Abend. Eine endlose, staubige italienische Landstraße, noch erhitzt, flimmernde Wärme ausströmend. Landleute kommen vom Felde, braun, bunt, zerlumpt. Männer, Weiber und Kinder mit schwarzen, stechenden und glaubenskranken Augen. Ärmliche H ü t t e n schräg drüben. Über sie her einfältiges, katholisches Aveglocken-Gebimmel. Er selbst bestaubt, müde, hungernd, dürstend. Er schreitet langsam, die Leute knien am Wegrand, sie falten die H ä n d e , sie beten ihn an. Ihm ist weich, ihm ist groß. Er lag, und hing an dem Bilde. Fieber, Wollust, göttliche Hoheitsschauer wühlten in ihm. Er erhob sich Gott gleich. N u n war er bestürzt, als er die Augen auftat. Wie eine Säule aus Wasser brach es zusammen und verrann. Sich selbst fragend und zur Rede stellend, drang er ins Waldinnere. Er machte sich Vorwürfe über sein verzücktes Träumen; es kam wider seinen Willen und Entschluß. Die Wucht seiner Gefühle machte ihm bange, dennoch aber: es konnte sein, daß seine nagende Angst ohne Grund war. Übrigens wuchs die Angst, obgleich es ihm jetzt gerade ganz klar wurde, daß sie grundlos war. Sie hatten ihn wirklich verehrt, die Italiener, deren Dörfer er zu Fuß durchzogen hatte. Sie waren gekommen, um ihre Kinder von ihm segnen zu lassen. Warum sollte er nicht segnen, wenn andere Priester segnen durften? Er hatte etwas er hatte mehr mitzuteilen als sie. Es gab ein Wort, ein einziges, wundervolles Wortjuwel: Friede! Darin lag es, was er brachte, darin lag alles verschlossen - alles - alles. Blutgeruch lag über der Welt. Das fließende Blut war das Zeichen des Kampfes. Diesen Kampf hörte er toben, unaufhörlich, im Wachen und Schlafen. Es waren Brüder und Brüder, Schwestern und Schwestern, die sich erschlugen. Er liebte sie alle, er sah ihr Wüten und rang die H ä n d e in Schmerz und Verzweiflung. Mit der Stimme des Donners reden zu können, wünschte er glühend. Angesichts der tosenden Schlacht, auf einem Felsblock, allen sichtbar, stehend, mußte man rufen und winken. 21

Zu warnen vor dem Bruder- und Schwestermord, hinzuweisen auf den Weg zum Frieden war eine Forderung des Gewissens. Er kannte diesen Weg. Man betrat ihn durch ein Tor mit der Aufschrift: Natur. Mut und Eifer hatten die Angst seiner Seele allmählich wieder verdrängt. Er ging, nicht wissend wohin, predigend im Geiste und bei sich selbst zu allem Volke redend: Ihr seid Fresser und Weinsäufer. Auf euren Tafeln prangen kannibalisch Tierkadaver. Laßt ab vom Schlemmen! Laßt ab vom ruchlosen Morde der Kreaturen! Früchte des Feldes seien eure Nahrung! Eure seidnen Betten, eure Polster, eure kostbaren Möbel und Kleider, tragt alles zusammen, werft die Fackeln hinein, daß die Flamme himmelan schlage und es verzehre! Habt ihr das getan, dann kommt - kommt alle, die ihr mühselig und beladen seid, und folgt mir nach! In ein Land will ich euch führen, wo Tiger und Büffel nebeneinander weiden, wo die Schlangen ohne Gift und die Bienen ohne Stachel sind. Dort wird der H a ß in euch sterben und die ewige Liebe lebendig werden. Ihm schwoll das Herz. Wie ein reißender Strom stürzte der Schwall strafender, tröstender und ermahnender Worte. Sein ganzer Körper bebte in Leidenschaft. Mit hinreißender Stärke überkam ihn der Drang, seine ganze Liebe und Sehnsucht auszuströmen. Als müsse er den Bäumen und Vögeln predigen, war ihm zumut. Die Kraft seiner Rede mußte unwiderstehlich sein. Er hätte das Eichhorn, welches in Bogensprüngen zwischen den Stämmen hinhuschte, mit einem einzigen Worte bannen und zu sich rufen können. Er wußte es, wußte es sicher, wie man weiß, daß der Stein fällt. Eine Allmacht war in ihm: die Allmacht der Wahrheit. Plötzlich hörte der Wald auf. Fast erschreckt, geblendet, wie jemand, der aus einem tiefen Schacht aufsteigt, sah er die Welt. Aber es hörte nicht auf, in ihm zu wirken. Mit eins kam Richtung in seine Schritte. Er stieg niederwärts, den abschüssigen Weg laufend und springend. Wie ein Soldat, der stürmt, das Ziel im Auge, kam er sich nun vor. Einmal im Laufen, war es schwer, sich aufzuhalten. Die schnelle, heftige Bewegung aber weckte etwas: eine Lust, eine Art Begeisterung, eine Tollheit. 22

Das Bewußtsein kam, und mit Grausen sah er sich selbst in großen Sätzen bergab eilen. Etwas in ihm wollte hastig hemmen, Einhalt tun, aber schon war es ein Meer, das die Dämme durchbrochen hatte. Ein lähmender Schreck blieb geduckt im Grunde seiner Seele und ein entsetztes, namenloses Staunen dazu. Sein Körper indes, wie etwas Fremdes, tobte entfesselt. Er schlug mit den Händen, knirschte mit den Zähnen und stampfte den Boden. Er lachte - lachte lauter und lauter, ohne daß es abriß. Als er zu sich kam, zitterte er. Fast gelähmt vor Entsetzen, hielt er den Stamm einer jungen Linde umklammert. Nur mit Vorsicht und stets in Angst vor der Wiederkehr des Unbekannten, Fürchterlichen ging er dann weiter. Aber er wurde doch wieder frei und sicher, so daß er am Ende über seine Angst lächeln konnte. Nun, unter dem festen Gleichmaß seiner Schritte, angesichts der ersten Häuser, kam die Erinnerung seiner Soldatenzeit. Wie oft, das Herz mit dem tauben Hochgefühl befriedigter Eitelkeit zum Bersten gefüllt, hatte er als Leutnant, an der Seite der Truppe, unter klingendem Spiele Einzug gehalten. Er dachte es kaum, und schon hatte in seinem Kopfe die markige, feurige Marschmusik eingesetzt, durch die er so oft fanatisiert worden war. Sie klang in seinem Ohr und bewirkte, daß er die Füße in Takt setzte und Kopf und Brust ungewöhnlich stolz trug. Sie legte das sieghafte Lächeln um seine Lippen und den lebendigen Glanz in seine Augen. So marschierend, lauschte er zugleich in sich hinein, verwundert, daß er so jeden Ton, jeden Akkord, jedes Instrument scharf unterschied, bis auf das Nachschüttern des Zusammenschlags von Pauke und Becken. Er wußte nicht, sollte ihn die Stärke seiner Vorstellungskraft beunruhigen oder erfreuen. Ohne Zweifel war es eine Fähigkeit. Er hatte die Fähigkeit zur Musik. Er würde sicher große Kompositionen geschaffen haben. Wie viele Fähigkeiten mochten überhaupt in ihm erstickt worden sein! Übrigens war das gleichgültig. Alle Kunst war Unsinn, Gift. Es gab andere, wichtigere Dinge für ihn zu tun. Ein Mädchen in blauem Kattun, mit einem rosa Brusttuch, 23

eine Kanne aus Blech in der Hand, welches augenscheinlich Milch austrug, kam ihm entgegen. Er hatte sie mit dem Blick gestreift und bemerkt, wie sie erstaunt über seinen Anblick stillstand und groß auf ihn blickte. Sie grüßte dann kleinlaut mit ehrfürchtiger Betonung, und er ging gemessen und ernst dankend an ihr vorüber. Sofort war alles in ihm verstummt. Weit hinaus wuchs er im Augenblick über seine bisherigen kleinen Vorstellungen. Wenn er noch etwas wie Musik in seinem Ohre trug, so war es jedenfalls keine irdische Melodie. Mit einer Empfindung schritt er, wie wenn er trockenen Fußes über Wasser ginge. So hehr und groß kam er sich vor, daß er sich selbst zur Demut ermahnte. Und wie er das tat, mußte er sich an Christi Einzug in Jerusalem erinnern und schließlich der Worte: »Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig.« Noch eine Zeitlang fühlte er den Blick des Mädchens sich nachfolgen. Aus irgendwelchem Grunde hielt er im Gehen möglichst genau die Mitte des Fahrdamms inne, auch als er eine Biegung machte in eine breite, weiße, sich abwärts senkende Straße hinein. Dabei, wie unter einem Zwange stehend, mußte er immer und immer wiederholen: Dein König kommt zu dir. Kinderstimmen sangen diese Worte. Sie lagen ihm noch ungeformt zwischen Gaumen und Zunge. Aus dem unartikulierten Geräusch seines Atems konnte er sie heraushören. Dazwischen Hosianna, rauschende Palmenwedel, Jauchzen, bleiche, verzückte Gesichter. Dann wieder jähe Stille — Einsamkeit. Er sah auf, voll Verwunderung. Wie leere Kulissen alles. Häuser aus Stein rechts und links, stumm, nüchtern, schläfrig. Nachdenklich prüfte er. Allmählich, da es feststand, begann sein Inneres, sich daran zu ordnen. So wurde er klein, einfach und fing an nüchtern zu schauen. Hier und da war ein Fenster geöffnet. Der Kopf eines Hausmädchens wurde sichtbar, man klopfte einen Betteppich aus. Ein Student, schwarzhaarig, mit wulstigen Lippen, augenscheinlich ein Russe, drehte auf dem Fensterbrett seine Frühstückszigarette. Und schon wurde es lebendiger auf der Straße. Die Augen auf den Boden geheftet, unterließ er es 24

doch nicht, verstohlen zu beobachten. O f t sah er mitten hinein in ein breites, freches Lachen. O f t bemerkte er, wie Staunen den Spott bannte. Aber hinter seinem Rücken befreite sich dann der Spott, und dreiste Reden, spitz und beißend, flogen ihm nach. Mit jedem Schritt unter so viel Stichen und Schlägen wurde ihm alltäglicher zu Sinn. Ein Krampf saß ihm in der Kehle. Der alte bittere, hoffnungslose Gram trat hervor. Wie eine Mauer, dick, unübersteiglich, richtete sie sich auf vor ihm, die grausame Blindheit der Menschen. Nun schien es ihm auf einmal, als ob alles Leugnen unnütz sei. Er war doch wohl nur eine eitle, kleine, flache Natur. Ihm geschah doch wohl recht, wenn man ihn verhöhnte und verspottete. So empfand er minutenlang die Pein und Scham eines entlarvten Hochstaplers und den Wunsch, von aller Welt fortzulaufen, sich zu verkriechen, zu verstecken oder auf irgendeine Weise seinem Leben überhaupt ein Ende zu machen. Wäre er jetzt allein gewesen, würde er den Strick um seinen Kopf, der wie ein Heiligenschein aussah, heruntergerissen und verbrannt haben. Wie unter einer Narrenkrone aus Papier, halb vernichtet vor Scham, ging er darunter. In enge, labyrinthische Gäßchen ohne Sonne hatte er eingelenkt. Ein kleines Fensterchen voller Backware zog ihn an. Er öffnete die Glastür und trat in den Laden. Der Bäcker sah ihn an - die Bäckersfrau - er wählte ein kleines Brot, sagte nichts und ging. Vor der Tür hatte sich eine Schar Neugieriger angesammelt: eine alte Frau, Kinder, ein Schlächtergesell, die Mulde mit roten Fleischstücken auf der Schulter. Er überflog ihre Gesichter, es war nichts Freches darin, und ging mitten durch sie hin seines Weges. Mit welchem Ausdruck sie ihn alle angeblickt hatten! Erst die Bäckersleute. Als ob er des kleinen Brotes nicht zum Essen bedürfe, sondern vielmehr, um damit ein Wunder zu tun. Und weshalb warteten die Leute auf ihn vor den Türen? Es mußte doch einen Grund haben. Und nun gar das Getrappel und Geflüster hinter ihm drein. Weshalb lief man ihm nach? Weshalb verfolgte man ihn? 25

Er horchte gespannt und wurde bald inne, daß er ein Gefolge von Kindern hinter sich hatte. Durch Kreuz- und Quergehen über kleine Plätze mit alten Brunnen darauf, absichtlich umkehrend und die Richtung wechselnd, vergewisserte er sich, daß der kleine Trupp nicht von ihm abließ. Warum verfolgten sie ihn und ließen sich nicht genügen an seinem Anblick? Erwarteten sie mehr von ihm? Hofften sie in der Tat, von ihm etwas Neues, Außergewöhnliches, Wundervolles zu sehen? Es kam ihm vor, als spräche aus der eintönigen Hast der Geräusche ihrer Füße ein starker Glaube, ja mehr als dies: eine Gewißheit. Und plötzlich ging es ihm hell auf, weshalb Propheten, wahrhaftige Menschen voll Größe und Reinheit, so oft am Schluß zu gemeinen Betrügern werden. Er empfand auf einmal eine brennende Sucht, einen unwiderstehlichen Trieb, etwas Wundervolles zu verrichten, und die größte Schmach würde ihm klein erschienen sein im Vergleiche zu dem Eingeständnis seiner Unkraft. Bis an den Limmatquai war er inzwischen gelangt, und noch immer folgten ihm die Kleinen. Einige trabten, die größeren machten unmäßig lange Schritte, um ihm nachzukommen. In abgebrochenen Worten, mit dem feierlichen Flüsterton der Kirche vorgebracht, bestand ihre Unterhaltung. Es war ihm bisher nicht gelungen, etwas von dem, was sie sprachen, zu verstehen. Plötzlich aber - er hatte es ganz deutlich gehört - wurden die Worte »Herr Jesus« ausgesprochen. Die Wirkung eines Zaubers lag in diesen Worten. Er fühlte sich aufgehoben durch sie, gestärkt, wiederhergestellt. Jesus war verhöhnt worden: man hatte ihn geschlagen, angespien und ans Kreuz genagelt. In Verachtung und Spott bestand der Lohn aller Propheten. Sein eigenes bißchen Leiden kam nicht in Betracht. Kleine, feige Nadelstiche hatte man ihm versetzt. Ein Zärtling, der daran zugrunde ging! Zum Kampf war man da. Wunden bewiesen den Krieger. Spott und Hohn der Menge . . . wo gab es höhere Ehrenzeichen?! Die Brust damit geschmückt, durfte man stolz und frei blicken. Und überdies: aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir dein Lob zugerichtet. Vor einer Frau, die Orangen feilbot, blieb er stehen. So26

gleich hielten auch die Kleinen im Laufen inne, und ein H a u f e Neugieriger staute sich auf dem Bürgersteig. Er hätte seine Früchte gern ohne alles Reden gekauft. Mit einer Spannung warteten die Leute auf sein erstes Wort, die ihn befangen und scheu machte. Ein sicheres Gefühl sagte ihm, daß er eine Illusion zu schonen hatte, daß es von der Art, wie er sprach, abhing, ob seine Hörer ihm weiter folgten oder enttäuscht davonschlichen. Aber es war nicht zu vermeiden, die H ö k e r f r a u fragte und schwatzte zuviel, und so mußte er endlich reden. Er war beruhigt und zufrieden, sobald er seine eigene Stimme vernahm; etwas Singendes und Getragenes lag darin, eine feierliche und gleichsam melancholische Würde, die, wie er überzeugt war, Eindruck machen mußte. Er hatte sich kaum je so reden hören, und indem er sprach, wurde ihm das Reden selbst zum Genuß, wie dem Sänger der Gesang. Auf der Brücke, unter die hinein der blaugrüne See seine Wellen schlug, hielt er abermals an. Über das Geländer gebeugt, nahm er aufs neue Licht, Farbe und Frische des Morgens in sich auf. Der ungestüme, stärkende Wind, der den See herauffuhr, wehte ihm den Bart über die Schulter und umspülte ihm Stirn und Brust wie ein kaltes Bad. U n d nun, aus der mutigen Aufwallung seines Innern, stieg es auf als ein fester Entschluß. Die Zeit war gekommen. Etwas mußte geschehen. In ihm war eine K r a f t , die Menschheit aufzurütteln. Jawohl! und sie mochten lachen, spotten und ihn verhöhnen, er würde sie dennoch erlösen, alle, alle! N u n fing er an, tief und verschlossen zu grübeln. D a ß es geschehen würde, stand nun fest; wie es geschehen würde, mußte erwogen werden. Man feierte heute Pfingsten, und das war gut. U m Pfingsten hatten die Jünger Jesu mit feurigen Zungen geredet. Die Feierstimmung bedeutete Empfänglichkeit. Einem erschlossenen Acker gleichen die Seelen der Menschen an Feiertagen. Tiefer und tiefer ging er in sich hinein, bis er in Räume eindrang, weit, hoch, unendlich. Und so ganz versunken war er mit allen Sinnen in diese zweite Welt, daß er wie ein Schlafender nur willenlos sich fortbewegte. Von allem, was ihn umgab, drang nichts mehr in sein Bewußtsein außer dem Getrappel der Kinderfüßchen hinter ihm. 27

Gleichmäßig eine Zeitlang, schwoll es allmählich an, wie wenn den wenigen, die ihm folgten, andere sich angeschlossen hätten. Und stärker und stärker immer, als ob aus einzelnen Hunderte, aus Hunderten Tausende geworden wären. G a n z plötzlich wurde er aufmerksam, und nun war es, als ob hinter ihm drein Heeresmassen sich wälzten. In seinen Füßen bis in die Knöchel hinauf spürte er ein Erzittern des Erdreiches. Er vernahm hinter sich starkes Atmen, heißes, hastiges Geflüster. Er vernahm Frohlocken, kurz abgerissen, halb unterdrückt, das sich weit zurück fortpflanzte und erst in tiefen Fernen echohaft erstarb. Was das bedeutete, wußte er wohl. D a ß es so überraschend schnell kam, hatte er nicht erwartet. Durch seine Glieder brannte der Stolz eines Feldherrn, und das Bewußtsein einer unerhörten Verantwortung lastete nicht schwerer auf ihm als der Strick auf seinem Kopfe. Er war ja der, der er war. Er wußte ja den Weg, den er sie führen mußte. Er spürte ja aus dem Lachen und Drängen seiner Seele, daß es ihm nahe war, jenes Endglück der Welt, wonach die blinden Menschen mit blutenden Augen und Händen so viele Jahrtausende vergebens gesucht hatten. So schritt er voran - er - er - also doch er! und in die Stapfen seiner Füße stürzten die Völker wie Meereswogen. Zu ihm blickten sie auf, die Milliarden. Der letzte Spötter war längst verstummt. Der letzte Verächter war eine Mythe geworden. So schritt er voran, dem Gebirge entgegen. Dort oben war die Grenze, dahinter lag das Land, wo das Glück im Arme des Friedens ewig ruhte. Und schon jetzt durchdrang ihn das Glück mit einer Wucht und Gewalt, die ihm bewies, daß man athletische Muskeln nötig hatte, um es zu ertragen. Er hatte sie, er hatte athletische Muskeln. Sein Leben, sein Dasein war jetzt nur ein wollüstiges, spielendes K r a f t entfalten. Eine Lust kam ihn an, mit Felsen und Bäumen Fangball zu spielen. Aber hinter ihm rauschten die seidenen Banner, drängte und dröhnte unaufhaltsam die ungeheure Wallfahrt der Menschen. Man rief, man lockte, man winkte; schwarze, blaue, rote 28

Schleier flatterten; blonde offene Frauenhaare; graue und weiße Köpfe nickten; Fleisch bloßer, nerviger Arme leuchtete auf; begeisterte Augen, zum Himmel blickend oder flammend auf ihn gerichtet, voll reinen Glaubens: auf ihn, der voranschritt. Und nun sprach er es aus, ganz leise, kaum hörbar, das heilige Kleinodwort: - Weltfriede! Aber es lebte und flog zurück von einem zum andern. Es war ein Gemurmel der Ergriffenheit und Feierlichkeit. Von ferne her kam der Wind und brachte weiche Akkorde beginnender Choräle. Gedämpfte Posaunenklänge, Menschenstimmen, welche zaghaft und rein sangen; bis etwas brach, wie das Eis eines Stromes, und ein Gesang emporschwoll wie von tausend brausenden Orgeln. Ein Gesang, der ganz Seele und Sturm war und eine alte Melodie hatte, die er kannte: Nun danket alle Gott. Er kam zu sich. Sein Herz hämmerte. Er war nahe am Weinen. Vor seinen Augen schwammen weiße Punkte durcheinander. Seine Glieder waren wie zerschlagen. Er setzte sich auf eine Bank nieder, die am See stand, und fing an das Brot zu essen, das er sich gekauft hatte. Dann schälte er die Orange und drückte die kalte Schale an seine Stirn. Mit Andacht, wie der Christ die Hostie, genoß er die Frucht. Noch war er damit nicht zu Ende, als er müde zurücksank. Ein wenig Schlaf würde ihm willkommen gewesen sein. Ja, wenn das so leicht wäre: ausruhen. Wie soll man ruhen, wenn es im Kopfe drinnen endlos wühlt und gärt? Wenn das Herz herauswill — wenn es einen zieht ins Unbestimmte wenn man eine Mission hat, die verlangt, daß man sich ihr unterziehe - wenn die Menschen draußen warten und sich die Köpfe zerbrechen? Wie soll man ruhen und schlafen, wo es not tut zu handeln? Es war ein peinigender Zustand, wie er so dalag. Fragen und Fragen und nie eine Antwort. Graue, quälende Leere, mitunter schmerzende Stockungen. An einen Ziehbrunnen mußte er denken. Man steht, zieht mit aller Kraft am Seil, aber das Rad, worüber es geht, dreht sich nicht mehr. Man läßt nicht nach mit Zerren und Stemmen. Der Eimer soll herauf. Man dürstet zum Verschmachten. Das Rad gibt nicht nach. Weder vor- noch rückwärts schiebt sich das Seil. - Eine 29

Plage war das, eine Qual - beinahe ein physisches Leiden. Als er Schritte vernahm, freute er sich der Ablenkung. Ja, du lieber Gott! Was war das überhaupt für ein Gedanke gewesen, jetzt schlafen zu wollen! Er stand auf, verwundert, daß er sich in seiner Kammer befand, und öffnete die Tür nach dem Flur. Seine Mutter, wie er wußte, stand auf dem Gange, und er mußte sie hereinlassen. Sie kam, sah ihn an mit strahlender Bewunderung, ihre Lippen zitterten, und sie faltete in Ehrfurcht ihre Hände. Er legte ihr die Hände aufs Haupt und sprach: Stehe auf! - und - die Kranke erhob sich und konnte gehen. Und wie sie sich aufrichtete, erkannte er, daß es nicht seine Mutter war, sondern er, der Dulder von Nazareth. Nicht nur geheilt hatte er ihn; er hatte ihn lebendig gemacht. Noch wehten die Grabtücher um Jesu Leib. Er kam auf ihn zu und schritt in ihn hinein. Und eine unbeschreibliche Musik tönte, als er so in ihn hineinging. Den ganzen geheimnisvollen Vorgang, als die Gestalt Jesu in der seinigen sich auflöste, empfand er genau. Er sah nun die Jünger, die den Meister suchten. Aus ihnen trat Petrus auf ihn zu und sagte: Rabbi! Ich bin es, gab er zur Antwort. Und Petrus kam näher, ganz nahe, berührte seinen Augapfel und begann ihn zu drehen: der Jünger drehte den Erdball. Die Stunde war da, sich dem Volke zu zeigen. Auf den Balkon des Saales, den er bewohnte, trat er hinaus. Unten wogte die Menge, und in das Brausen und Wogen sang eine einzige dünne Kinderstimme: Christ ist erstanden. Sie hatte kaum begonnen, als das Eisen des Balkons nachgab. Er erschrak heftig, wachte auf, rieb sich die Augen und wurde inne, daß er auf der Bank eingeschlafen war. — Gegen Mittag mochte es sein. Er wollte wieder hinauf in den Buchenwald, um seine Zeit abzuwarten. Die Sonne sollte ihn weihen, dort oben. Noch immer kühle und reine Luft, wie er den Berg hinanstieg. Hymnen der Vögel. Der Himmel wie eine blaßblaue, leere Kristallschale. Alles so makellos. Alles so neu. Auch er selbst war neu. Er betrachtete seine Hand, es war die Hand eines Gottes; und wie frei und rein war sein Geist! Und diese Ungebundenheit der Glieder, diese völlige innere Sicherheit und Skrupellosigkeit. Grübeln und Denken lag ihm 3°

nun weltfern. Er lächelte voll Mitleid, wenn er an die Philosophen dieser Welt zurückdachte. Daß sie mit ihrem Grübeln etwas ergründen wollten, war so rührend, wie wenn etwa ein Kind sich abmüht, mit seinen zwei bloßen Ärmchen in die Luft zu fliegen. Nein, nein - dazu gehörten Flügel, breite Riesenschwingen eines Adlers - Kraft eines Gottes! Er trug etwas wie einen ungeheuren Diamanten in seinem Kopfe, dessen Licht alle schwarzen Tiefen und Abgründe hell machte: da war kein Dunkel mehr in seinem Bereich . . . Das große Wissen war angebrochen. Die Glocken der Kirchen begannen zu läuten. Ein Gewühl und Gebrause von Tönen erfüllte das Tal. Mit einer erznen Zunge schien die Luft zu sprechen. Er beugte sich vor und lauschte, als es zu ihm heraufkam. Er senkte das Haupt nicht, er kniete nicht nieder. Er horchte lächelnd wie auf eines alten Freundes Stimme, und doch war es Gottvater, der mit seinem Sohne redete.

MAX

DAUTHENDEY Blütenleben

Lauer Schatten. Ein blühender Birnbaum auf altem müden Gemäuer. Bronzefarbenes Moos quillt über die Kanten und Risse. Ringsum Gras, junggrün und durchsichtig. Es neigt sich leise und schmiegsam. Harte blaßgelbe Winterhalme zittern dazwischen, farblos und schwach, wie vergrämte greise Haare. Aschgraues und purpurbraunes Laub, mit feinem Metallschimmer, wie tiefes, gedunkeltes Silber deckt den Grund. Hie und da ein weißes Blütenblatt mit blaßrosiger Lippe. Leicht, zart, aber müde. Das Geäst biegt sich dicht und tief zur Erde. 3i

Sacht zerrinnt Blüte um Blüte und gleitet weiß, zögernd nieder. Die Zweige senken sich tief, bis zu den einsam gefallenen Blüten. Das Alter hat den Stamm zerschürft. In der gefurchten Rinde ziehen die Ameisen eine Straße hoch hinauf zur Krone. Emsig und flink rennt es aneinander vorüber. Und dann oben die Bienen. Sie saugen schwerfällig und lüstern von den süßen Lippen und klammern trunken an den weichen Blütenrändern. Ein üppiges Summen ist in der Laubkrone, ein einförmig gärender Ton. Die Blüten zittern leise, und die jungen Blattspitzen zittern. Der alte Baum wiegt sich und seufzt. Duft löst sich, schwebt hinaus in den blauen Sonnenschein, warmsüß und scharf herb. Die Welle Pfauengrüne Gluten in der Luft. Über dem Meere Heliotropdüfte. Kochender Atem stockt. Die Wasser stauen sich. In der brünstigen zyanenblauen Dämmerung eine Frau, mit feuchtem Leib aufgestiegen, ein zauderndes Neigen und Schwingen in ihrem Körper, es wogt noch flüssig jedes Glied. Unter ihr die Wasser glattmilchig, mit Lachen weinrot wie große, offene Wunden. Ein Pfauenhimmel und Leuchtrauch von Smaragd und Lapislázuli und ein Funkenkitzeln und fliehende Irisschiller um diesen Leib. Fern am Himmel, im Wasser, rast ein Licht, weiß, elektrisch, und blauweißer Schaum berstet am Ufer. Im hochgesträubten Schaum kauert eine andere, blau und rotgolden der Wasserqualm, über ihren Rücken rieselt grünblauer Muschelglimmer. Und die Wasser wie silberrandige flachrunde Flossen schieben sich ans Ufer. Überall dieser Heliotropdunst und Weinrauch. In allem das sich windende Weib, das zum Lande sehnt, 32

das die roten Lachen halten, und aus der Meerestiefe eine herrische Goldglut. Sie ringt sich höher. Sie biegt den Leib vor. Sie reckt das Kinn. Nur mit den Zehen noch über den roten geöffneten Lachen, sie wankt, tastet - das Ufer! zum Ufer - o, das Ufer! Sie liegen an ihr und flüstern und hauchen und seufzen, all diese goldrot, goldblauen Farben ihres Leibes. Ein schluchzender Jubel in ihrem Auge und ein vibrierendes scheublaues Sehnen. Aber die roten Lachen halten sie, und der mondgoldene Schein aus der Tiefe hält sie. Der Goldschein greift an ihren Hüften hoch, greift um die Brüste, um die Schenkel und um den Arm bis zur warmen Armhöhle. Es zieht sie zurück. Sie wehrt, sie steift sich. Der Goldschein faßt höher. Ihr Haarstrom bis zur Hüfte, rot und grün in Perlen, die Goldlichter ritzen das H a a r hinauf und an die Wangenknochen und an die Linien des Kinns. Nur, - o - zum Ufer, Erde! Das Sehnen spitzt sich, ein metallscharfes Leuchten drängt aus den Poren. Grüne Phosphorblässe auf Stirn, Wangen, um den Leib. Flehende zitternde Farben recken sich höher. Aber der Goldschein der Tiefe bezwingt sie alle. Die stumme qualvolle rote Lache zu ihren Füßen öffnet sich und saugt sie zurück. - Nur einen sehnenden Augenblick lebte die Welle.

STEFAN

GEORGE

Sonntage auf meinem Land I Wir weichen von der heerstrasse ab und schlagen den feldweg ein . . es ist so einer der lezten septembertage dem man dankt wenn er ohne regen schied. Wir gehen dicht am mühlenbach bis zur stelle wo er vom fluss sein wasser empfängt. Dort war ehmals ein wehr errichtet das jezt in 33

trümmern liegt. Ich bücke mich über einen Strauch mit blauen sternförmigen blüten während eine gestalt ganz in schwarz mir in der ferne winkt. Wir schreiten durch ein dorf dessen kalkbestrichene wände wie gräber schweigen. Zum ufer hinunter die schräge gasse die reinlich und ganz verlassen ist. Ein nachen bringt uns über den wenig breiten fluss und wir sehen uns in weiten wiesen. Bei der hochflut sollen sie ganz unter wasser stehen wie tief gehöhlte gräben andeuten. Wir sammeln karminrote blumen die man dortzuland federrosen nennt. Wir münden wieder in einen breiten weg der wagenfurchen zeigt und zu einem flecken führt. Zur linken zieht eine lange pappelreihe hin und ich bemerke dass die päppeln die ernsten unter den bäumen seien . . meine begleiterin sieht mich lächelnd an. Dann begegnen wir kindern die sich an den misstönen ihrer spielwerke freuen und deutlicher werden die ausgerenkten lieder der leierkasten . . im flecken muss ein fest sein. II Weiter und weiter ganz allein auf der breiten lehmigen heerstrasse • mühsam über steine und furchen hinaus in eine unheimliche nacht deren graue dünste von oben lasten und von allen Seiten umschliessen mit feuchtem bedrückendem wehen. Kein wesen keine stimme kein licht. Kaum die gerippe der bäume drüben am graben sind erkennbar • und immer dieselbe bleifarbene schranke als ziel und immer in nämlicher ferne. Am graben drüben huschen zwei gestalten: das eine scheint ein hund zu sein das andre ein kind mit einem zinnkrug. In den gängen des toten gartens viele rege hände: die zu üppigen Schlinggewächse werden weggeräumt • für die welken erfrorenen blumen neue gesezt und man bringt frischen kies und kränze von künstlichen immortellen. Jene von uns die noch nicht lange gegangen sind werden am reichsten bedacht. Der bleiche schein der lezten oktoberstunden auf dem roten und gelblichen sandstein den marmorgestalten und dem denkmal das mich immer so sehr berührte: jener grosse schwarze anker - das Wahrzeichen zweifelhafter hoffnung. 34

Auf den hügeln begann der schnee zu schmelzen. Der fluss und der verregnete stille weg verschwimmen in einer einzigen goldenen und silbernen fläche und werden jählings wieder braune und graue Wirklichkeit je nach dem stände der sonne vor oder hinter dem gewölk - o f t ein mehrmaliger Wechsel in wenigen augenblicken. Die seele lässt dieses flackern und flammen der sonntäglichen leiden über sich ergehen mit einem merklichen wolgefühl. III Vier sonntägliche strassen gibt es auf meinem land: die strasse von den blassen erinnerungen die strasse von der wiederaufgenommenen tat die strasse von den unabwendbaren Verzweiflungen und die strasse vom möglichen glück. IV Das altertümliche dorf wo unsere vorfahren lebten und der reihe nach an der eppichbewachsenen mauer des kirchhofes begraben sind. Auf den wacken-gepflasterten gassen grüssen mich einige leute die ich niemals vorher gesehen hatte und auf dem kirchweg begegnet mir eine greisin die mich mit urväterlicher freude erkennt und befragt. Dunkel tauchen mir wieder auf: das rundbogige hölzerne tor die geschnizten köpfe am treppenaufgang und die unmodischen möbel die anheimeln wie die verjährte ehrliche gastlichkeit der inwohner. Ich hätte mich auch gern nach dem alten ohm erkundigt: ich wusste aber wahrlich nicht ob er nicht schon gestorben war. Es sollte mir gezeigt werden ein familien-erbstück das schon seit jähren dastand: die gipsbüste eines schönen stillen klugen kindes das f r ü h sterben musste . . es wurde mir gezeigt in dem frostigen langen fünffenstrigen saal mit den altfränkischen Vergoldungen dem weissen gedielten estrich dem verbrauchten plüsch und den bis zur Unkenntlichkeit nachgedunkelten Ölgemälden. Alle läden wurden geöffnet damit man es gut betrachten könne. Auf einem alten kaunitz in einem glasgehäuse stand es mit der hohen etwas gewölbten stirn - viel älter aussehend da es nach der totenmaske gebildet war - das hinter35

köpfchen stark hervortretend und um den mund schon den ansatz zur falte die man später die schmerzensfalte nennt. Die zusammenstimmende ruhe von wiesen wasser und blauer ferne wird nur manchmal unterbrochen durch das wehen einer flagge oder durch einen feiertagsklang der umliegenden weiler. In langen Zwischenräumen schreien truthähne auf dem meierhof. Kinder stehen mitten im flachen fluss und fischen • andere baden zwischen dem weidicht und weiter oben schwankt ein leeres boot an der fähre. Wäre es möglich in dieser friedfertigen gediegenen landschaft seine seele wiederzufinden?

PAUL

SCHEERBART

Phantastische Geschichten (en miniature) I. Geistertanz Bewegungsstudie Von Norden kommen sie - durch die Luft. Schrill pfeift der Wind. Die dünnen Gewänder flattern. Übers Meer kommen sie - am Strande schweben sie hinab. Am Strande wird getanzt. Sie rennen durch den Sand wie die Tollen - die Dünen hinauf und hinunter. Die Muscheln zerbrechen unter ihren Füßen. Wild springen sie hoch in die Luft, klatschen in die Hände, schleudern die dünnen Gewänder rechts und links, als wärens Peitschen Dann umarmen sie sich - dann drücken sie sich, als wollten sie sich zerpressen sie lassen sich danach wieder los und drehen sich um sich selbst blitzschnell wie Kreisel - die Gewänder flattern. Dann bilden sie einen Kreis. Zwei Dutzend Geister sinds. Sie stehen ganz still im Kreise. 36

Langsam reichen sie sich die Hände, drücken sie ganz fest ineinander und lassen dann ihren Körper zurückfallen. Sie kreischen dabei auf und werfen den Kopf ins Genick. Wie ein Trichter sieht der Geisterkreis aus. Jetzt braust der Wind - die Wogen donnern - das Meer schäumt über die Ufer — die Wogen bespritzen den Geisterring . . . . Der springt empor und tanzt nun - die Beine fliegen, die Haare fliegen in die Wellen springen die Geister hinein. Wie ein Wirbelwind dreht sich - pfeifend - der Ring der Geister. Das Wasser sprüht nach allen Seiten. Die Geister tanzen - tanzen - und wie ein Wirbelwind steigen sie empor in die L u f t . . Und pfeilschnell drehen sich die Geister wieder nach Norden - hoch überm Meere schweben sie. Die Winde brausen - die Gewänder flattern. II. Nacht und Purpur Allegorie

Der glänzende Purpur kam zur Nacht. Er liebte die schwarze Nacht. Doch diese sagte: »Laß mich in Ruh!« Der Purpur schüttelte darob sein schönes Haupt und glaubte, die Nacht sei toll geworden. Er, der Purpur, konnte nicht begreifen, wies die schwarze Nacht fertig bringen konnte, den glänzenden Purpur zu verschmähen. Zwei Fledermäuse hatten diesem wunderlichen Liebesspiele kichernd zugeschaut. Jetzt flogen sie auf und sangen spöttisch: »Purpur, laß uns in Ruh! Wir sind ja garnicht wie Du! Deine Liebe kann uns nichts nützen.«

Der Purpur ging sehr ärgerlich von dannen. Und bald hörte der Purpur überall - spöttisch - höhnisch - lustig: »Pupur, laß uns in Ruh! Wir sind ja garnicht wie Du!«

Ach - und viele Verse, die so ähnlich klangen. 37

III. Die alten Priester und die Knaben Eine

Tempelphantasie

Im Lande der Heibranen w a r d es wieder einmal Nacht. Der Wind raschelte heftiger in den Lorbeerbäumen - und es begann die Finsternis immer schwärzer und schwärzer zu werden. » H u r a s ä l a ! H u r a s ä l a ! « riefen klagend die alten greisen Priester in die dunklen Wälder hinein. Der große Tempel des Semäfi leuchtete hell weiß auf, denn er w a r ganz aus weißem Marmor gebaut. Wieder riefen die Priester: » H u r a s ä l a ! H u r a s ä l a ! Efako!« Dann w a r d s still ringsum. Der große Tempel des Semäfi lag ruhig weiß leuchtend da - zwischen den Lorbeerbäumen - wie ein großer schlafender weißer Elephant. Da plötzlich - da hinten - da drüben - Flammen - viele Flammen - Fackeln - und ein Knistern - ein langer Zug kommt heran - mit vielen Fackeln — zum Tempel des Semäfi. Knaben sinds, die die Fackeln tragen. Semäfi aber ist der Gott der Torheit. Im ernsten Lande der Heibranen betet man den Gott der Torheit als Erlöser an. Doch Semäfis Priester haben so viele Torheiten begangen, haben so viel gelacht in ihrem Amt, daß sie das Lachen und das Torsein allmählich verlernten. Das hörten nun viele Jünglinge im Lande der Heibranen, und diese Jünglinge - Knaben zumeist - veranstalteten deswegen eine drollige Fackelprozession — und diese »Knabenprozession« näherte sich jetzt dem Tempel der Torheit, dessen Priester wehklagten, daß sie so ernst geworden waren. Die Knaben wollten die alten Priester erlösen - erlösen von ihrem schwerfälligen Ernst, der die Alten ungeschickt machte, ihr Amt im Tempel der Torheit ordentlich zu verwalten. U n d die alten Priester glaubten auch fest daran, daß ihnen die Knaben die Erlösung bringen würden . . . . die Knaben, die jetzt Fratzen schneidend immer näher kommen - mit flackernden Fackeln. 38

Nun - nun - wie die Alten glaubten, so geschahs. Die Knaben waren bei Saitenspiel und Becherklang so töricht, lasen dabei so schrecklich wunderliche Geschichten vor, daß die Alten endlich einmal wieder lachen konnten. Und da dankten die Alten den törichten K n a b e n - u n d die Alten sowohl wie die J u n g e n - A l l e fühlten sich sehr gestärkt - die Torheit hatte sie so recht gründlich erfrischt Die Fackeln flackerten. Der Wein floß in Strömen und die Gesichter glänzten. Also wirkte vor vielen Jahren im Lande der ernsten Heibranen eine »Knabenprozession«. Im Lande der Heibranen wären die alten Priester aus ihrem Amt verjagt worden, wenn die törichten Knaben nicht als Retter und Erlöser erschienen wären. Damals wards im Lande der Heibranen wieder einmal Morgen. Uberall wirds so schnell nicht wieder Morgen.

IV. Menschenblut Sociale

Fabel

Ein ziemlich jugendlicher Floh saß einmal in seinem Lehnstuhl und las in der Chronik des alten Großvaters. D a sprang die Mutter des jungen Mannes durchs Fenster ins Zimmer hinein. Der Mutter Leib war ganz voll Menschenblut. »Junge, höre mal! Wie viel Menschenblut hast Du heute schon getrunken?« Also rief die Mutter. Der im Lehnstuhl sitzende Sohn klappte die Chronik des Großvaters ärgerlich zu, erhob sich, starrte die Mama kalt lächelnd an und meinte kurz: »Was geht Dich das Menschenblut an, das ich trinken will oder getrunken habe — was geht Dich das an?« »Na ja, Du bist immer der feine Herr - wo wirst Du Dich quälen - Deine alte Mutter hat sichs den ganzen Tag über 39

sauer werden lassen Glaubst Du, es ist ein Spaß, immerfort bei den Menschen zu sein?« »Nein - nein - deswegen saß ich auch hier und las,« rief lachend der junge Floh - - - - - - - doch ihn dürstete, und er ließ sich von seiner Mutter den Weg zum nächsten Menschenbeine zeigen »Schläft der Mensch auch?« fragte der junge Mann. »Jawohl, er schläft,« versetzte grimmig die vom Menschenblut ganz aufgequollene Mutter. »Ohne Blut gehts doch nicht ab,« sagten Beide, wie sie weit voneinander waren. »Ohne Blut gehts doch nicht ab«

PETER

ALTENBERG

Quartett-Soiree Der Saal ist viereckig, schneeweiss, überhaupt wie eine riesige Pappendeckelschachtel. Die durchscheinenden Kugeln aus dickem welligem Glase machen aus dem Bogenlicht im Inneren goldgrüne und weissgrüne Flecken, die wie glänzendes Wasser schimmern oder ö l , wie Milch im Mondschein. Rechts neben Ihm sass sein goldblondes Schwesterchen, in Sammt maron püree und einer Blouse aus gleichfarbiger Seide. Sie hatte zu Hause gebadet, sich getummelt, häusliche Unannehmlichkeiten gehabt, suchte nun Etwas, das entlastete, entfernte, blickte in die riesige Pappendeckelschachtel mit den goldgrünen glänzenden Flecken . »Man bleibt also der, der man ist, überall — ? ! « , fühlte sie. Die Instrumente sagten: »husch aus dem Bade —!« »Marie, bitte, oh Marie.« »Aber Fräulein, machen die Brause zu . Wie schön Fräulein sind .« »Wo ist mein Seidentuch?! Bitte um Geld für die Garderobe - —.« »So geh' schon .« »Giebt es einen Frühling ?! Was ist eigentlich Musik — ?!« Links neben Ihm sassen zwei Schwestern, junge Frauen, 40

Bekannte. Die Eine hatte eine Pongis-Blouse mit Rubinschmuck und schwarze Augen, Augen wie Mitternacht. Diese Augen sagten: »Ich will brennen! Macht ein Feuer an! Ich will brennen !« Die Andere dachte: »Das Leben hat schöne Einzelheiten wie das Quartett. Aber was ist es?! Man zählt und zählt . Anita ist müde, Zählen macht müde, nicht?! Und wenn ich Zehntausend habe?! Dann lege ich es in ein goldenes Kästchen und werfe das Schlüsselchen in's Meer .« Die Violinen sangen. Sie träumte: »Helgoland oh meine Sommertage in's Meer — . « Das Fräulein in maron püree dachte: »Die vier Herren da oben sind schwarz und zusammengeduckt, sie müssen sehr unbequem sitzen und die Fräcke verdrücken sich. Es ist Kammermusik, der edelste Kunstgenuss, ja wirklich. Die Oper hat mehr Farben — . « »Die Oper hat mehr Farben «, dachte sie jetzt endgiltig und ihre gebadete Haut begann zu dunsten in der Concert-Luft. »Habe ich das eau de Cologne zugestöpselt, habe ich das frische Nachthemd hergerichtet, habe ich Reis herausgegeben ?!«, dachte sie. Die Dame sagte zu dem Herren: »Sie müssen Helgoland sehen — . Ich habe den Tanz getanzt mit den Matrosen — . « Es hiess: » J a w o l , ob du es glaubst oder nicht, so Eine bin ich — manchesmal.« »Pst «, sagte man. Süsse Töne füllten die weisse Pappendeckelschachtel wie mit Bonbons. D a stieg das Cello in ihr Herz . »Was siehst du mich an, Herr?! Höre lieber zu .« Pause. »Helgoland ich tanzte mit Matrosen!« »Zartes feines Geschöpf «, denkt der Herr, »haben sie dich nicht zerdrückt?!« »Woher bin ich - - ? ! « , fühlt sie plötzlich, »wohin gehe ich?! Ich wohne Ebendorferstrasse 1 7 , I. Stock, Thür 5. Im 4i

Vorzimmer ist ein rother Teppich und Spiegelglas. Wie ein kleiner Kerker ist es — . Helgoland, ich tanzte mit Matrosen !« Das Fräulein in maron pür£e denkt: »Ich habe Niemand .« Andante. »Wie Schatten «, sagt die junge Frau. »Du bist affektirt «, denkt das Fräulein; »wie Schatten ?!« Die junge Frau wird roth, weil man es gehört hat. Sie senkt den Kopf, horcht auf die »huschenden Schatten« . Die Violinen machten »ti-ti-tiiiii «, worauf das Cello noch ein bischen das alte Thema in Erinnerung brachte, aber nur so, husch . Wie Schatten . Alle sagten »bravo«. Wie wenn man sagt: »bravo, ein Kind ist gestorben.« Eigentlich hätte man schluchzen hören sollen. Die junge Frau zieht an ihrem Opernguckersäckchen aus Seide, zu, auf, zu, auf, zu . Das Fräulein denkt: »War es fad oder blos traurig?!« In der ersten Reihe sitzt Frau P. Sie bekommt Alles im Leben aus erster Hand. Sogar die Jacke ist Modellstück, hellgrüne Seide mit opalisirenden Glasperlen. Sie denkt: »Wie angenehm ist das Leben und so einfach und wie schön diese Herren spielen! Wird Herr Max zum Souper mitkommen?!« Die ganze erste Reihe hält sich für König Ludwig, dem man extra vorspielt. Wirklich, die Töne fahren sonst in der Pappendeckelschachtel herum wie feine Schmetterlinge, zerstossen sich an den goldgrünen Flecken der Lampen . Aber in der ersten Reihe schweben sie über den Cercle-Sitzen wie über Blumen. Der Musikkritiker sitzt ganz rückwärts. Er hat das Ohr mit seinen Labyrinthen. Ein Ariadnefaden führt zum WeltGeist! Alle sagen: »bravo .« Er fühlt: »ein Kind ist gestorben .« »Sie müssen Helgoland sehen «, sagt die junge Frau zu dem Herren, »das wünsche ich Ihnen — . « 42

»Sie sind wie eine Meermuschel«, sagt er, »in der das Meer noch singt, wenn längst .« Da begann ein neues Musikstück. Das Ciavier sagte: »wenn längst, wenn längst - - « und tanzte einen Matrosentanz. Das Cello griff in's Herz hinein, eigentlich drückte es das Herz zusammen und liess es wieder los. Da wurde es weit oder es schien so . »Es ist ein Meerbad - - « , fühlt die Dame, »kurz wie Helgoland und wie der Sommer und wie eine Heerde gelber Schaafe, die durch ein sonniges Dorf getrieben wird und wie der Duft von Kartoffelfeldern am Abend, wie HühnerBouillon, wenn man krank war, wie >bittersüss< und wie >da bist du endlich< .« Das Fräulein träumte: »Habe ich Jemand — ?!« Der Herr blickt die Helgoländerin an: »bitte, nummerire diesen Blick nicht — . « »Nein «, antwortet sie sanft mit ihren Augen, »ich lege ein eigenes Conto an .« »Und wirf das Schlüsselchen nicht in's Meer — !« »Und werfe das Schlüsselchen nicht ins Meer — . « Ciavier, Violino primo, Violino secondo, Cello, Viola, sangen: »Wirf es in's Meer, in's Meer, in's Meer .« Aber es war nur das Ciavierquintett von G., zweiter Satz, Andante. Das Fräulein in maron püree dachte: »Diese Stelle klingt wirklich wie >Ich habe Niemand, Niemand, Niemand< !«

HUGO VON

HOFMANNSTHAL

Reitergeschichte Den 22. Juli 1848, vor 6 Uhr morgens, verließ ein Streifkommando, die zweite Eskadron von Wallmodenkürassieren, Rittmeister Baron Rofrano mit einhundertsieben Reitern, das Kasino San Alessandro und ritt gegen Mailand. Uber der freien, glänzenden Landschaft lag eine unbeschreibliche Stille; 43

von den Gipfeln der fernen Berge stiegen Morgenwolken wie stille Rauchwolken gegen den leuchtenden Himmel; der Mais stand regungslos, und zwischen Baumgruppen, die aussahen wie gewaschen, glänzten Landhäuser und Kirchen her. Kaum hatte das Streifkommando die äußerste Vorpostenlinie der eigenen Armee etwa um eine Meile hinter sich gelassen, als zwischen den Maisfeldern Waffen aufblitzten und die Avantgarde feindliche Fußtruppen meldete. Die Schwadron formierte sich neben der Landstraße zur Attacke, wurde von eigentümlich lauten, fast miauenden Kugeln überschwirrt, attackierte querfeldein und trieb einen Trupp ungleichmäßig bewaffneter Menschen wie die Wachteln vor sich her. Es waren Leute der Legion Manaras, mit sonderbaren Kopfbedeckungen. Die Gefangenen wurden einem Korporal und acht Gemeinen übergeben und nach rückwärts geschickt. Vor einer schönen Villa, deren Zufahrt uralte Zypressen flankierten, meldete die Avantgarde verdächtige Gestalten. Der Wachtmeister Anton Lerch saß ab, nahm zwölf mit Karabinern bewaffnete Leute, umstellte die Fenster und nahm achtzehn Studenten der Pisaner Legion gefangen, wohlerzogene und hübsche junge Leute mit weißen Händen und halblangem Haar. Eine halbe Stunde später hob die Schwadron einen Mann auf, der in der Tracht eines Bergamasken vorüberging und durch sein allzu harmloses und unscheinbares Auftreten verdächtig wurde. Der Mann trug im Rockfutter eingenäht die wichtigsten Detailpläne, die Errichtung von Freikorps in den Giudikarien und deren Kooperation mit der piemontesischen Armee betreffend. Gegen 10 Uhr vormittags fiel dem Streifkommando eine Herde Vieh in die Hände. Unmittelbar nachher stellte sich ihm ein starker feindlicher Trupp entgegen und beschoß die Avantgarde von einer Friedhofsmauer aus. Der Tete-Zug des Leutnants Grafen Trautsohn übersprang die niedrige Mauer und hieb zwischen den Gräbern auf die ganz verwirrten Feindlichen ein, von denen ein großer Teil in die Kirche und von dort durch die Sakristeitür in ein dichtes Gehölz sich rettete. Die siebenundzwanzig neuen Gefangenen meldeten sich als neapolitanische Freischaren unter päpstlichen Offizieren. Die Schwadron hatte einen Toten. Einer das Gehölz umreitenden Rotte, bestehend aus dem Ge44

freiten Wotrubek und den Dragonern Holl und Haindl, fiel eine mit zwei Ackergäulen bespannte leichte Haubitze in die Hände, indem sie auf die Bedeckung einhieben und die Gäule am Kopfzeug packten und umwendeten. Der Gefreite Wotrubek wurde als leicht verwundet mit der Meldung der bestandenen Gefechte und anderer Glücksfälle ins Hauptquartier zurückgeschickt, die Gefangenen gleichfalls nach rückwärts transportiert, die Haubitze aber von der nach abgegebener Eskorte noch achtundsiebzig Reiter zählenden Eskadron mitgenommen. Nachdem laut übereinstimmender Aussagen der verschiedenen Gefangenen die Stadt Mailand von den feindlichen sowohl regulären als irregulären Truppen vollständig verlassen, auch von allem Geschütz und Kriegsvorrat entblößt war, konnte der Rittmeister sich selbst und der Schwadron nicht versagen, in diese große und schöne, wehrlos daliegende Stadt einzureiten. Unter dem Geläute der Mittagsglocken, der Generalmarsch von den vier Trompeten hinaufgeschmettert in den stählern funkelnden Himmel, an tausend Fenstern hinklirrend und zurückgeblitzt auf achtundsiebzig Kürasse, achtundsiebzig aufgestemmte nackte Klingen; Straße rechts, Straße links wie ein aufgewühlter Ameishaufen sich füllend mit staunenden Gesichtern; fluchende und erbleichende Gestalten hinter Haustoren verschwindend, verschlafene Fenster aufgerissen von den entblößten Armen schöner Unbekannter; vorbei an Santa Babila, an San Fedele, an San Carlo, am weltberühmten marmornen Dom, an San Satiro, San Giorgio, San Lorenzo, San Eustorgio; deren uralte Erztore alle sich auftuend und unter Kerzenschein und Weihrauchqualm silberne Heilige und brokatgekleidete strahlenäugige Frauen hervorwinkend; aus tausend Dachkammern, dunklen Torbogen, niedrigen Butiken Schüsse zu gewärtigen, und immer wieder nur halbwüchsige Mädchen und Buben, die weißen Zähne und dunklen Haare zeigend; vom trabenden Pferde herab funkelnden Auges auf alles dies hervorblickend aus einer Larve von blutgesprengtem Staub; zur Porta Venezia hinein, zur Porta Ticinese wieder hinaus: so ritt die schöne Schwadron durch Mailand. Nicht weit vom letztgenannten Stadttor, wo sich ein mit 45

hübschen Platanen bewachsenes Glacis erstreckte, glaubte der Wachtmeister Anton Lerch am ebenerdigen Fenster eines neugebauten hellgelben Hauses ein ihm bekanntes -weibliches Gesicht zu sehen. Neugierde bewog ihn, sich im Sattel umzuwenden, und da er gleichzeitig aus einigen steifen Tritten seines Pferdes vermutete, es hätte in eines der vorderen Eisen einen Straßenstein eingetreten, er auch an der Queue der Eskadron ritt und ohne Störung aus dem Gliede konnte, so bewog ihn alles dies zusammen, abzusitzen, und zwar nachdem er gerade das Vorderteil seines Pferdes in den Flur des betreffenden Hauses gelenkt hatte. Kaum hatte er hier den zweiten weißgestiefelten Vorderfuß seines Braunen in die Höhe gehoben, um den Huf zu prüfen, als wirklich eine aus dem Innern des Hauses ganz vorne in den Flur mündende Zimmertür aufging und in einem etwas zerstörten Morgenanzug eine üppige, beinahe noch junge Frau sichtbar wurde, hinter ihr aber ein helles Zimmer mit Gartenfenstern, worauf ein paar Töpfchen Basilika und rote Pelargonien, ferner mit einem Mahagonischrank und einer mythologischen Gruppe aus Biskuit dem Wachtmeister sich zeigte, während seinem scharfen Blick noch gleichzeitig in einem Pfeilerspiegel die Gegenwand des Zimmers sich verriet, ausgefüllt von einem großen weißen Bette und einer Tapetentür, durch welche sich ein beleibter, vollständig rasierter älterer Mann im Augenblicke zurückzog. Indem aber dem Wachtmeister der Name der Frau einfiel und gleichzeitig eine Menge anderes: daß es die Witwe oder geschiedene Frau eines kroatischen Rechnungsunteroffiziers war, daß er mit ihr vor neun oder zehn Jahren in Wien in Gesellschaft eines anderen, ihres damaligen eigentlichen Liebhabers, einige Abende und halbe Nächte verbracht hatte, suchte er nun mit den Augen unter ihrer jetzigen Fülle die damalige üppig-magere Gestalt wieder hervorzuziehen. Die Dastehende aber lächelte ihn in einer halb geschmeichelten slawischen Weise an, die ihm das Blut in den starken Hals und unter die Augen trieb, während eine gewisse gezierte Manier, mit der sie ihn anredete, sowie auch der Morgenanzug und die Zimmereinrichtung ihn einschüchterten. Im Augenblick aber, während er mit etwas schwerfälligem Blick 46

einer großen Fliege nachsah, die über den Haarkamm der Frau lief, und äußerlich auf nichts achtete, als wie er seine Hand, diese Fliege zu scheuchen, sogleich auf den weißen, warm und kühlen Nacken legen würde, erfüllte ihn das Bewußtsein der heute bestandenen Gefechte und anderer Glücksfälle von oben bis unten, so daß er ihren Kopf mit schwerer Hand nach vorwärts drückte und dazu sagte: »Vuic« - diesen ihren Namen hatte er gewiß seit zehn Jahren nicht wieder in den Mund genommen und ihren Taufnamen vollständig vergessen - , »in acht Tagen rücken wir ein, und dann wird das da mein Quartier«, auf die halboffene Zimmertür deutend. Unter dem hörte er im Hause mehrfach Türen zuschlagen, fühlte sich von seinem Pferde, zuerst durch stummes Zerren am Zaum, dann, indem es laut den anderen nachwieherte, fortgedrängt, saß auf und trabte der Schwadron nach, ohne von der Vuic eine andere Antwort als ein verlegenes Lachen mit in den Nacken gezogenem Kopf mitzunehmen. Das ausgesprochene Wort aber machte seine Gewalt geltend. Seitwärts der Rottenkolonne, einen nicht mehr frischen Schritt reitend, unter der schweren metallischen Glut des Himmels, den Blick in der mitwandernden Staubwolke verfangen, lebte sich der Wachtmeister immer mehr in das Zimmer mit den Mahagonimöbeln und den Basilikumtöpfen hinein und zugleich in eine Zivilatmosphäre, durch welche doch das Kriegsmäßige durchschimmerte, eine Atmosphäre von Behaglichkeit und angenehmer Gewalttätigkeit ohne Dienstverhältnis, eine Existenz in Hausschuhen, den Korb des Säbels durch die linke Tasche des Schlafrockes durchgesteckt. Der rasierte, beleibte Mann, der durch die Tapetentür verschwunden war, ein Mittelding zwischen Geistlichem und pensioniertem Kammerdiener, spielte darin eine bedeutende Rolle, fast mehr noch als das schöne breite Bett und die feine weiße Haut der Vuic. Der Rasierte nahm bald die Stelle eines vertraulich behandelten, etwas unterwürfigen Freundes ein, der Hoftratsch erzählte, Tabak und Kapaunen brachte, bald wurde er an die Wand gedrückt, mußte Schweiggelder zahlen, stand mit allen möglichen Umtrieben in Verbindung, war piemontesischer Vertrauter, päpstlicher Koch, Kuppler, Besitzer verdächtiger Häuser mit dunklen Gartensälen für politische Zusammen47

künfte, und wuchs zu einer schwammigen Riesengestalt, der man an zwanzig Stellen Spundlöcher in den Leib schlagen und statt Blut Gold abzapfen konnte. Dem Streifkommando begegnete in den Nachmittagsstunden nichts Neues, und die Träumereien des Wachtmeisters erfuhren keine Hemmungen. Aber in ihm war ein Durst nach unerwartetem Erwerb, nach Gratifikationen, nach plötzlich in die Tasche fallenden Dukaten rege geworden. Denn der Gedanke an das bevorstehende erste Eintreten in das Zimmer mit den Mahagonimöbeln war der Splitter im Fleisch, um den herum alles von Wünschen und Begierden schwärte. Als nun gegen Abend das Streifkommando mit gefütterten und halbwegs ausgerasteten Pferden in einem Bogen gegen Lodi und die Addabrücke vorzudringen suchte, wo denn doch Fühlung mit dem Feind sehr zu gewärtigen war, schien dem Wachtmeister ein von der Landstraße abliegendes Dorf, mit halbverfallenem Glockenturm in einer dunkelnden Mulde gelagert, auf verlockende Weise verdächtig, so daß er, die Gemeinen Holl und Scarmolin zu sich winkend, mit diesen beiden vom Marsche der Eskadron seitlich abbog und in dem Dorfe geradezu einen feindlichen General mit geringer Bedeckung zu überraschen und anzugreifen oder anderswie ein ganz außerordentliches Prämium zu verdienen hoffte, so aufgeregt war seine Einbildung. Vor dem elenden, scheinbar verödeten Nest angelangt, befahl er dem Scarmolin links, dem Holl rechts die Häuser außen zu umreiten, während er selbst, Pistole in der Faust, die Straße durchzugaloppieren sich anschickte, bald aber, harte Steinplatten unter sich fühlend, auf welchen noch dazu irgendein glitschriges Fett ausgegossen war, sein Pferd in Schritt parieren mußte. Das Dorf blieb totenstill; kein Kind, kein Vogel, kein Lufthauch. Rechts und links standen schmutzige kleine Häuser, von deren Wänden der Mörtel abgefallen war; auf den nackten Ziegeln war hie und da etwas Häßliches mit Kohle gezeichnet; zwischen bloßgelegten Türpfosten ins Innere schauend, sah der Wachtmeister hie und da eine faule, halbnackte Gestalt auf einer Bettstatt lungern oder schleppend, wie mit ausgerenkten Hüften, durchs Zimmer gehen. Sein Pferd ging schwer und schob die Hinterbeine mühsam unter, wie wenn sie von Blei wären. Indem er sich umwendete 48

und bückte, um nach dem rückwärtigen Eisen zu sehen, schlürften Schritte aus einem Hause, und da er sich aufrichtete, ging dicht vor seinem Pferde eine Frauensperson, deren Gesicht er nicht sehen konnte. Sie war nur halb angekleidet; ihr schmutziger, abgerissener Rock von geblümter Seide schleppte im Rinnsal, ihre nackten Füße staken in schmutzigen Pantoffeln; sie ging so dicht vor dem Pferde, daß der Hauch aus den Nüstern den fettig glänzenden Lockenbund bewegte, der ihr unter einem alten Strohhute in den entblößten Nacken hing, und doch ging sie nicht schneller und wich dem Reiter nicht aus. Unter einer Türschwelle zur Linken rollten zwei ineinander verbissene blutende Ratten in die Mitte der Straße, von denen die unterliegende so jämmerlich aufschrie, d a ß das Pferd des Wachtmeisters sich verhielt und mit schiefem Kopf und hörbarem Atem gegen den Boden stierte. Ein Schenkeldruck brachte es wieder vorwärts, und nun war die Frau in einem Hausflur verschwunden, ohne daß der Wachtmeister hatte ihr Gesicht sehen können. Aus dem nächsten Hause lief eilfertig mit gehobenem Kopfe ein H u n d heraus, ließ einen Knochen in der Mitte der Straße fallen und versuchte ihn in einer Fuge des Pflasters zu verscharren. Es war eine weiße unreine H ü n d i n mit hängenden Zitzen; mit teuflischer Hingabe scharrte sie, packte dann den Knochen mit den Zähnen und trug ihn ein Stück weiter. Indessen sie wieder zu scharren anfing, waren schon drei H u n d e bei ihr: zwei waren sehr jung, mit weichen Knochen und schlaffer H a u t ; ohne zu bellen und ohne beißen zu können, zogen sie einander mit stumpfen Zähnen an den Lefzen. Der H u n d , der zugleich mit ihnen gekommen war, war ein lichtgelbes Windspiel von so aufgeschwollenem Leib, daß es nur ganz langsam auf den vier dünnen Beinen sich weitertragen konnte. An dem dicken wie eine Trommel gespannten Leib erschien der Kopf viel zu klein; in den kleinen ruhelosen Augen war ein entsetzlicher Ausdruck von Schmerz und Beklemmung. Sogleich sprangen noch zwei H u n d e hinzu: ein magerer, weißer, von äußerst gieriger Häßlichkeit, dem schwarze Rinnen von den entzündeten Augen herunterliefen, und ein schlechter Dachshund auf hohen Beinen. Dieser hob seinen Kopf gegen den Wachtmeister und schaute ihn an. Er mußte sehr alt sein. Seine Augen

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waren unendlich müde und traurig. Die Hündin aber lief in blöder Hast vor dem Reiter hin und her; die beiden jungen schnappten lautlos mit ihrem weichen Maul nach den Fesseln des Pferdes, und das Windspiel schleppte seinen entsetzlichen Leib hart vor den Hufen. Der Braun konnte keinen Schritt mehr tun. Als aber der Wachtfrieister seine Pistole auf eines der Tiere abdrücken wollte und die Pistole versagte, gab er dem Pferde beide Sporen und dröhnte über das Steinpflaster hin. Nach wenigen Sätzen aber mußte er das Pferd scharf parieren. Denn hier sperrte eine Kuh den Weg, die ein Bursche mit gespanntem Strick zur Schlachtbank zerrte. Die Kuh aber, von dem Dunst des Blutes und der an den Türpfosten genagelten frischen Haut eines schwarzen Kalbes zurückschaudernd, stemmte sich auf ihren Füßen, sog mit geblähten Nüstern den rötlichen Sonnendunst des Abends in sich und riß sich, bevor der Bursche sie mit Prügel und Strick hinüberbekam, mit kläglichen Augen noch ein Maulvoll von dem Heu ab, das der Wachtmeister vorne am Sattel befestigt hatte. Er hatte nun das letzte Haus des Dorfes hinter sich und konnte, zwischen zwei niedrigen, abgebröckelten Mauern reitend, jenseits einer alten einbogigen Steinbrücke über einen anscheinend trockenen Graben den weiteren Verlauf des Weges absehen, fühlte aber in der Gangart seines Pferdes eine so unbeschreibliche Schwere, ein solches Nichtvorwärtskommen, daß sich an seinem Blick jeder Fußbreit der Mauern rechts und links, ja jeder von den dort sitzenden Tausendfüßen und Asseln mühselig vorbeischob, und ihm war, als hätte er eine unmeßbare Zeit mit dem Durchreiten des widerwärtigen Dorfes verbracht. Wie nun zugleich aus der Brust seines Pferdes ein schwerer röhrender Atem hervordrang, er dies ihm völlig ungewohnte Geräusch aber nicht sogleich richtig erkannte und die Ursache davon zuerst über und neben sich und schließlich in der Entfernung suchte, bemerkte er jenseits der Steinbrücke und beiläufig in gleicher Entfernung von dieser als wie er sich selbst befand, einen Reiter des eigenen Regiments auf sich zukommen, und zwar einen Wachtmeister, und zwar auf einem Braunen mit weißgestiefelten Vorderbeinen. Da er nun wohl wußte, daß sich in der ganzen Schwadron kein solches Pferd befand, ausgenommen dasjenige, auf welchem er selbst in diesem



Augenblicke saß, er das Gesicht des anderen Reiters aber immer noch nicht erkennen konnte, so trieb er ungeduldig sein Pferd sogar mit den Sporen zu einem sehr lebhaften Trab an, worauf auch der andere sein Tempo ganz im gleichen Maße verbesserte, so daß nun nur mehr ein Steinwurf sie trennte, und nun, indem die beiden Pferde, jedes von seiner Seite her, im gleichen Augenblick, jedes mit dem gleichen weißgestiefelten Vorfuß die Brücke betraten, der Wachtmeister, mit stierem Blick in der Erscheinung sich selber erkennend, wie sinnlos sein Pferd zurückriß und die rechte Hand mit ausgespreizten Fingern gegen das Wesen vorstreckte, worauf die Gestalt, gleichfalls parierend und die Rechte erhebend, plötzlich nicht da war, die Gemeinen Holl und Scarmolin mit unbefangenen Gesichtern von rechts und links aus dem trockenen Graben auftauchten und gleichzeitig über die Hutweide her, stark und aus gar nicht großer Entfernung, die Trompeten der Eskadron »Attacke« bliesen. Im stärksten Galopp eine Erdwelle hinansetzend, sah der Wachtmeister die Schwadron schon im Galopp auf ein Gehölz zu, aus welchem feindliche Reiter mit Piken eilfertig debouchierten; sah, indem er, die vier losen Zügel in der Linken versammelnd, den Handriemen um die Rechte schlang, den vierten Zug sich von der Schwadron ablösen und langsamer werden, war nun schon auf dröhnendem Boden, nun in starkem Staubgeruch, nun mitten im Feinde, hieb auf einen blauen Arm ein, der eine Pike führte, sah dicht neben sich das Gesicht des Rittmeisters mit weit aufgerissenen Augen und grimmig entblößten Zähnen, war dann plötzlich unter lauter feindlichen Gesichtern und fremden Farben eingekeilt, tauchte unter in lauter geschwungenen Klingen, stieß den nächsten in den Hals und vom Pferd herab, sah neben sich den Gemeinen Scarmolin mit lachendem Gesicht einem die Finger der Zügelhand ab- und tief in den Hals des Pferdes hineinhauen, fühlte die Mêlée sich lockern und war auf einmal allein, am Rand eines kleinen Baches, hinter einem feindlichen Offizier auf einem Eisenschimmel. Der Offizier wollte über den Bach; der Eisenschimmel versagte. Der Offizier riß ihn herum, wendete dem Wachtmeister ein junges, sehr bleiches Gesicht und die Mündung einer Pistole zu, als ihm ein Säbel in den Mund fuhr, in dessen kleiner Spitze die Wucht 5i

eines galoppierenden Pferdes zusammengedrängt war. Der Wachtmeister riß den Säbel zurück und erhaschte an der gleichen Stelle, wo die Finger des Herunterstürzenden ihn losgelassen hatten, den Stangenzügel des Eisenschimmels, der leicht und zierlich wie ein Reh die Füße über seinen sterbenden Herrn hinhob. Als der Wachtmeister mit dem schönen Beutepferd zurückritt, warf die in schwerem Dunst untergehende Sonne eine ungeheure Röte über die Hutweide. Auch an solchen Stellen, wo gar keine Hufspuren waren, schienen ganze Lachen von Blut zu stehen. Ein roter Widerschein lag auf den weißen Uniformen und den lachenden Gesichtern, die Kürasse und Schabracken funkelten und glühten, und am stärksten drei kleine Feigenbäume, an deren weichen Blättern die Reiter lachend die Blutrinnen ihrer Säbel abgewischt hatten. Seitwärts der rotgefleckten Bäume hielt der Rittmeister und neben ihm der Eskadronstrompeter, der die wie in roten Saft getauchte Trompete an den Mund hob und Appell blies. Der Wachtmeister ritt von Zug zu Zug und sah, daß die Schwadron nicht einen Mann verloren und dafür neun Handpferde gewonnen hatte. Er ritt zum Rittmeister und meldete, immer den Eisenschimmel neben sich, der mit gehobenem Kopf tänzelte und Luft einzog, wie ein junges, schönes und eitles Pferd, das es war. Der Rittmeister hörte die Meldung nur zerstreut an. Er winkte den Leutnant Grafen Trautsohn zu sich, der dann sogleich absaß und mit sechs gleichfalls abgesessenen Kürassieren hinter der Front der Eskadron die erbeutete leichte Haubitze ausspannte, das Geschütz von den sechs Mannschaften zur Seite schleppen und in ein von dem Bach gebildetes kleines Sumpfwasser versenken ließ, hierauf wieder aufsaß und, nachdem er die nunmehr überflüssigen beiden Zuggäule mit der flachen Klinge fortgejagt hatte, stillschweigend seinen Platz vor dem ersten Zug wieder einnahm. Während dieser Zeit verhielt sich die in zwei Gliedern formierte Eskadron nicht eigentlich unruhig, es herrschte aber doch eine nicht ganz gewöhnliche Stimmung, durch die Erregung von vier an einem Tage glücklich bestandenen Gefechten erklärlich, die sich im leichten Ausbrechen halb unterdrückten Lachens sowie in halblauten untereinander gewechselten Zurufen äußerte. 52

Auch standen die Pferde nicht ruhig, besonders diejenigen, zwischen denen fremde erbeutete Pferde eingeschoben waren. N a c h solchen Glücksfällen schien allen der Aufstellungsraum zu enge, und solche Reiter und Sieger verlangten sich innerlich, nun im offenen Schwärm auf einen neuen Gegner loszugehen, einzuhauen und neue Beutepferde zu packen. In diesem Augenblicke ritt der Rittmeister Baron R o f r a n o dicht an die Front seiner Eskadron, und indem er von den etwas schläfrigen blauen Augen die großen Lider hob, kommandierte er vernehmlich, aber ohne seine Stimme zu erheben: »Handpferde auslassen!« Die Schwadron stand totenstill. N u r der Eisenschimmel neben dem Wachtmeister streckte den Hals und berührte mit seinen Nüstern fast die Stirne des Pferdes, auf welchem der Rittmeister saß. Der Rittmeister versorgte seinen Säbel, zog eine seiner Pistolen aus dem H a l f t e r , und indem er mit dem Rücken der Zügelhand ein wenig Staub von dem blinkenden Lauf wegwischte, wiederholte er mit etwas lauterer Stimme sein Kommando und zählte gleich nachher »eins« und »zwei«. Nachdem er das »zwei« gezählt hatte, heftete er seinen verschleierten Blick auf den Wachtmeister, der regungslos vor ihm im Sattel saß und ihm starr ins Gesicht sah. Während Anton Lerchs starr aushaltender Blick, in dem nur dann und wann etwas Gedrücktes, Hündisches aufflackerte und wieder verschwand, eine gewisse Art devoten, aus vieljährigem Dienstverhältnisse hervorgegangenen Zutrauens ausdrücken mochte, war sein Bewußtsein von der ungeheuren Gespanntheit dieses Augenblicks fast gar nicht erfüllt, sondern von vielfältigen Bildern einer fremdartigen Behaglichkeit ganz überschwemmt, und aus einer ihm selbst völlig unbekannten Tiefe seines Innern stieg ein bestialischer Zorn gegen den Menschen da vor ihm auf, der ihm das Pferd wegnehmen wollte, ein so entsetzlicher Zorn über das Gesicht, die Stimme, die H a l t u n g und das ganze Dasein dieses Menschen, wie er nur durch jahrelanges enges Zusammenleben auf geheimnisvolle Weise entstehen kann. O b aber in dem Rittmeister etwas Ähnliches vorging, oder ob sich ihm in diesem Augenblicke stummer Insubordination die ganze lautlos um sich greifende Gefährlichkeit kritischer Situationen zusammenzudrängen schien, bleibt im Zweifel: Er hob mit einer

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nachlässigen, beinahe gezierten Bewegung den Arm, und indem er, die Oberlippe verächtlich hinaufziehend, »drei« zählte, krachte auch schon der Schuß, und der Wachtmeister taumelte, in die Stirn getroffen, mit dem Oberleib auf den Hals seines Pferdes, dann zwischen dem Braun und dem Eisenschimmel zu Boden. Er hatte aber noch nicht hingeschlagen, als auch schon sämtliche Chargen und Gemeinen sich ihrer Beutepferde mit einem Zügelriß oder Fußtritt entledigt hatten und der Rittmeister, seine Pistole ruhig versorgend, die von einem blitzähnlichen Schlag noch nachzuckende Schwadron dem in undeutlicher dämmernder Entfernung anscheinend sich railiierenden Feinde aufs neue entgegenführen konnte. Der Feind nahm aber die neuerliche Attacke nicht an, und kurze Zeit nachher erreichte das Streifkommando unbehelligt die südliche Vorpostenaufstellung der eigenen Armee.

ARTHUR

SCHNITZLER

Die griechische Tänzerin Die Leute mögen sagen, was sie wollen, ich glaube nicht daran, daß Frau Mathilde Samodeski an Herzschlag gestorben ist. Ich weiß es besser. Ich gehe auch nicht in das Haus, aus dem man sie heute zur ersehnten Ruhe hinausträgt; ich habe keine Lust, den Mann zu sehen, der es ebensogut weiß als ich, warum sie gestorben ist; ihm die Hand zu drücken und zu schweigen. Einen anderen Weg schlag' ich ein; er ist allerdings etwas weit, aber der Herbsttag ist schön und still, und es tut mir wohl, allein zu sein. Bald werde ich hinter dem Gartengitter stehen, hinter dem ich im vergangenen Frühjahr Mathilde zum letztenmal gesehen habe. Die Fensterladen der Villa werden alle geschlossen sein, auf dem Kiesweg werden rötliche Blätter liegen, und an irgendeiner Stelle werde ich wohl den wei54

ßen Marmor durch die Bäume schimmern sehen, aus dem die griechische Tänzerin gemeißelt ist. An jenen Abend muß ich heute viel denken. Es kommt mir fast wie eine Fügung vor, daß ich mich damals noch im letzten Augenblick entschlossen hatte, die Einladung von Wartenheimers anzunehmen, da ich doch im Laufe der Jahre die Freude an allem geselligen Treiben so ganz verloren habe. Vielleicht war der laue Wind schuld, der abends von den Hügeln in die Stadt geweht kam und mich aufs Land hinauslockte. Überdies sollte es ja ein Gartenfest sein, mit dem die Wartenheimers ihre Villa einweihen wollten, und man brauchte keinerlei besonderen Zwang zu fürchten. Sonderbar ist es auch, daß ich im Hinausfahren kaum an die Möglichkeit dachte, Frau Mathilde draußen zu begegnen. Und dabei war mir doch bekannt, daß Herr Wartenheimer die griechische Tänzerin von Samodeski für seine Villa gekauft hatte; — und daß Frau von Wartenheimer in den Bildhauer verliebt war, wie alle übrigen Frauen, das wüßt' ich nicht minder. Aber selbst davon abgesehen hätte ich wohl an Mathilde denken können, denn zur Zeit, da sie noch Mädchen war, hatte ich manche schöne Stunde mit ihr verbracht. Insbesondere gab es einen Sommer am Genfersee vor sieben Jahren, gerade ein Jahr vor ihrer Verlobung, den ich nicht so leicht vergessen werde. Es scheint sogar, daß ich mir damals trotz meiner grauen Haare mancherlei eingebildet hatte, denn als sie im Jahre darauf Samodeskis Gattin wurde, empfand ich einige Enttäuschung und war vollkommen überzeugt — oder hoffte sogar daß sie mit ihm nicht glücklich werden könnte. Erst auf dem Fest, das Gregor Samodeski kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise in seinem Atelier in der Gußhausgasse gab, wo alle Geladenen lächerlicherweise in japanischen oder chinesischen Kostümen erscheinen mußten, habe ich Mathilde wiedergesehen. Ganz unbefangen begrüßte sie mich; ihr ganzes Wesen machte den Eindruck der Ruhe und Heiterkeit. Aber später, während sie im Gespräch mit anderen war, traf mich manchmal ein seltsamer Blick aus ihren Augen, und nach einiger Bemühung habe ich deutlich verstanden, was er zu bedeuten hatte. Er sagte: >Lieber Freund, Sie glauben, daß er mich um des Geldes willen geheiratet hat; Sie glauben, daß er mich 55

nicht liebt; Sie glauben, daß ich nicht glücklich bin - aber Sie irren sich . . . Sie irren sich ganz bestimmt. Sehen Sie doch, wie gut gelaunt ich bin, wie meine Augen leuchten.< Ich bin ihr auch später noch einige Male begegnet, aber immer nur ganz flüchtig. Einmal auf einer Reise kreuzten sich unsere Züge; ich speiste mit ihr und ihrem Gatten in einem Bahnhofsrestaurant, und er erzählte allerhand Witze, die mich nicht sonderlich amüsierten. Auch im Theater sprach ich sie einmal, sie war mit ihrer Mutter dort, die eigentlich noch immer schöner ist als sie . . . der Teufel weiß, wo Herr Samodeski damals gewesen ist. Und im letzten Winter hab' ich sie im Prater gesehen; an einem klaren, kalten Tage. Sie ging mit ihrem kleinen Mäderl unter den kahlen Kastanien über den Schnee. Der Wagen fuhr langsam nach. Ich befand mich auf der anderen Seite der Fahrbahn und ging nicht einmal hinüber. Wahrscheinlich war ich innerlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt; auch interessierte mich Mathilde schließlich nicht mehr besonders. So würde ich mir heute vielleicht gar keine weiteren Gedanken über sie und über ihren plötzlichen Tod machen, wenn nicht jenes letzte Wiedersehen bei Wartenheimers stattgefunden hätte. Dieses Abends erinnere ich mich heute mit einer merkwürdigen, geradezu peinlichen Deutlichkeit, etwa so wie manchen Tags am Genfersee. Es war schon ziemlich dämmerig, als ich hinauskam. Die Gäste gingen in den Alleen spazieren, ich begrüßte den Hausherrn und einige Bekannte. Irgendwoher tönte die Musik einer kleinen Salonkapelle, die in einem Boskett versteckt war. Bald kam ich zu dem kleinen Teich, der im Halbkreis von hohen Bäumen umgeben ist; in der Mitte auf einem dunklen Postament, so daß sie über dem Wasser zu schweben schien, leuchtete die griechische Tänzerin; durch elektrische Flammen vom Hause her war sie übrigens etwas theatralisch beleuchtet. Ich erinnere mich des Aufsehens, das sie im Jahre vorher in der Sezession erregt hatte; ich muß gestehen, auch auf mich machte sie einigen Eindruck, obwohl mir Samodeski ausnehmend zuwider ist, und trotzdem ich die sonderbare Empfindung habe, daß eigentlich nicht er es ist, der die schönen Sachen macht, die ihm zuweilen gelingen, sondern irgend etwas anderes in ihm, irgend etwas Unbegreifliches, Glühendes, Dämonisches meinet56

halben, das ganz bestimmt erlöschen wird, wenn er einmal aufhören wird, jung und geliebt zu sein. Ich glaube, es gibt mancherlei Künstler dieser Art, und dieser Umstand erfüllt mich seit jeher mit einer gewissen Genugtuung. In der N ä h e des Teiches begegnete ich Mathilden. Sie schritt am Arm eines jungen Mannes, der aussah wie ein Korpsstudent und sich mir als Verwandter des Hauses vorstellte. Wir spazierten zu dritt sehr vergnügt plaudernd im Garten hin und her, in dem jetzt überall Lichter aufgeflackert waren. Die Frau des Hauses mit Samodeski kam uns entgegen. Wir blieben alle eine Weile stehen, und zu meiner eigenen Verwunderung sagte ich dem Bildhauer einige höchst anerkennende Worte über die griechische Tänzerin. Ich war eigentlich ganz unschuldig daran; offenbar lag in der Luft eine friedliche, heitere Stimmung, wie das an solchen Frühlingsabenden manchmal vorkommt: Leute, die einander sonst gleichgültig sind, begrüßen sich herzlich, andere, die schon eine gewisse Sympathie verbindet, fühlen sich zu allerlei Herzensergießungen angeregt. Als ich beispielsweise eine Weile später auf einer Bank saß und eine Zigarette rauchte, gesellte sich ein H e r r zu mir, den ich nur oberflächlich kannte und der plötzlich die Leute zu preisen begann, die von ihrem Reichtum einen so vornehmen Gebrauch machen wie unser Gastgeber. Ich war vollkommen seiner Meinung, obwohl ich H e r r n von Wartenheimer sonst f ü r einen ganz einfältigen Snob halte. D a n n teilte ich wieder dem H e r r n ganz ohne Grund meine Ansichten über moderne Skulptur mit, von der ich nicht sonderlich viel verstehe, Ansichten, die f ü r ihn sonst gewiß ohne jedes Interesse gewesen wären; aber unter dem Einflüsse dieses verführerischen Frühlingsabends stimmte er mir begeistert zu. Später traf ich die Nichten des Hausherrn, die das Fest äußerst romantisch fanden, hauptsächlich, weil die Lichter zwischen den Blättern hervorglänzten und Musik in der Ferne ertönte. Dabei standen wir gerade neben der Kapelle: aber trotzdem f a n d ich die Bemerkung nicht unsinnig. So sehr stand auch ich unter dem Banne der allgemeinen Stimmung. Das Abendessen wurde an kleinen Tischen eingenommen, die, soweit es der Platz erlaubte, auf der großen Terrasse, zum anderen Teil im anstoßenden Salon aufgestellt waren. Die drei 57

großen Glastüren standen weit offen. Ich saß an einem Tisch im Freien mit einer der Nichten; an meiner anderen Seite hatte Mathilde Platz genommen mit dem Herrn, der aussah wie ein Korpsstudent, übrigens aber Bankbeamter und Reserveoffizier war. Gegenüber von uns, aber schon im Saal, saß Samodeski zwischen der Frau des Hauses und irgendeiner anderen schönen Dame, die ich nicht kannte. Er warf seiner Gattin eine scherzhaft verwegene Kußhand zu; sie nickte ihm zu und lächelte. Ohne weitere Absicht beobachtete ich ihn ziemlich genau. Er war wirklich schön mit seinen stahlblauen Augen und dem langen schwarzen Spitzbarte, den er manchmal mit zwei Fingern der linken Hand am Kinn zurechtstrich. Ich glaube aber auch, daß ich nie in meinem Leben einen Mann so sehr von Worten, Blicken, Gebärden gewissermaßen umglüht gesehen habe als ihn an diesem Abend. Anfangs schien es, als ließe er sich das eben nur gefallen. Aber bald sah ich an seiner Art, den Frauen leise zuzuflüstern, an seinen unerträglichen Siegerblicken und besonders an der erregten Munterkeit seiner Nachbarinnen, daß die scheinbar harmlose Unterhaltung von irgendeinem geheimen Feuer genährt wurde. Natürlich mußte Mathilde das alles geradeso gut bemerken, als ich; aber sie plauderte anscheinend unbewegt bald mit ihrem Nachbarn, bald mit mir. Allmählich wandte sie sich zu mir allein, erkundigte sich nach verschiedenen äußeren Umständen meines Lebens und ließ sich von meiner vorjährigen Reise nach Athen berichten. Dann sprach sie von ihrer Kleinen, die merkwürdigerweise schon heute Lieder von Schumann nach dem Gehör singen konnte, von ihren Eltern, die sich nun auch auf ihre alten Tage ein Häuschen in Hietzing gekauft, von alten Kirchenstoffen, die sie selbst im vorigen Jahr in Salzburg angeschafft hatte, und von hundert anderen Dingen. Aber unter der Oberfläche dieses Gespräches ging etwas ganz anderes zwischen uns vor; ein stummer erbitterter Kampf: sie versuchte mich durch ihre Ruhe von der Ungetrübtheit ihres Glückes zu überzeugen - und ich wehrte mich dagegen, ihr zu glauben. Ich mußte wieder an jenen japanisch-chinesischen Abend in Samodeskis Atelier denken, wo sie sich in gleicher Weise bemüht hatte. Diesmal fühlte sie wohl, daß sie gegen meine Bedenken wenig ausrichtete und daß sie irgend etwas

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ganz Besonderes ausdenken mußte, um sie zu zerstreuen. Und so kam sie auf den Einfall, mich selbst auf das zutunliche und verliebte Benehmen der zwei schönen Frauen ihrem Gatten gegenüber aufmerksam zu machen und begann von seinem Glück bei Frauen zu sprechen, als wenn sie sich auch daran geradeso wie an seiner Schönheit und an seinem Genie ohne jede Unruhe und jedes Mißtrauen als gute Kameradin freuen dürfte. Aber je mehr sie sich bemühte, vergnügt und ruhig zu scheinen, um so tiefere Schatten flogen über ihre Stirne hin. Als sie einmal das Glas erhob, um Samodeski zuzutrinken, zitterte ihre Hand. Das wollte sie verbergen, unterdrücken; dadurch verfiel aber nicht nur ihre Hand, sondern der Arm, ihre ganze Gestalt für einige Sekunden in eine solche Starrheit, daß mir beinahe bange wurde. Sie faßte sich wieder, sah mich rasch von der Seite an, merkte offenbar, daß sie daran war, ihr Spiel endgültig zu verlieren, und sagte plötzlich, wie mit einem letzten verzweifelten Versuch: »Ich wette, Sie halten mich für eifersüchtig.« Und ehe ich Zeit hatte, etwas zu erwidern, setzte sie rasch hinzu: »Oh, das glauben viele. Im Anfang hat es Gregor selbst geglaubt.« Sie sprach absichtlich ganz laut, man hätte drüben jedes Wort hören können. »Nun ja,« sagte sie mit einem Blick hinüber, »wenn man einen solchen Mann hat: schön und berühmt . . . und selber den Ruf, nicht sonderlich hübsch zu sein . . . Oh, Sie brauchen mir nichts zu erwidern . . . ich weiß ja, daß ich seit meinem Mäderl ein bißchen hübscher geworden bin.« Sie hatte möglicherweise recht, aber für ihren Gemahl - davon war ich völlig überzeugt - hatte der Adel ihrer Züge nie sonderlich viel bedeutet, und was ihre Gestalt anlangt, so hatte sie mit der mädchenhaften Schlankheit für ihn wahrscheinlich ihren einzigen Reiz verloren. Doch ich stimmte ihr natürlich mit übertriebenen Worten bei; sie schien erfreut und fuhr mit wachsendem Mute fort: »Aber ich habe nicht das geringste Talent zur Eifersucht. Das habe ich selbst nicht gleich gewußt; ich bin erst allmählich daraufgekommen, und zwar hauptsächlich vor ein paar Jahren in Paris . . . Sie wissen ja, daß wir dort waren?« Ich erinnerte mich. »Gregor hat dort die Büsten der Fürstin La Hire und des 59

Ministers Chocquet gemacht und mancherlei anderes. Wir haben dort so angenehm gelebt wie junge Leute . . . das heißt, jung sind wir ja noch beide . . . ich meine, wie ein Liebespaar, wenn wir auch gelegentlich in die große Welt gingen . . . Wir waren ein paarmal beim österreichischen Botschafter, die La Hires haben wir besucht und andere. Im ganzen aber machten wir uns nicht viel aus dem eleganten Leben. Wir wohnten sogar draußen auf Montmartre, in einem ziemlich schäbigen Haus, wo übrigens Gregor auch sein Atelier hatte. Ich versichere Sie, unter den jungen Künstlern, mit denen wir dort verkehrten, hatten manche keine Ahnung, daß wir verheiratet waren. Ich bin überall mit ihm herumgestiefelt. O f t bin ich in der Nacht mit ihm im Cafe Athenes gesessen, mit Leandre, Carabin und vielen anderen. Auch allerlei Frauen waren zuweilen in unserer Gesellschaft, mit denen ich wahrscheinlich in Wien nicht verkehren möchte . . . obzwar schließlich « Sie warf einen hastigen Blick hinüber auf Frau Wartenheimer und fuhr rasch wieder fort: »Und manche war sehr hübsch. Ein paarmal war auch die letzte Geliebte von Henri Chabran dort, die seit seinem Tode immer ganz in Schwarz ging und jede Woche einen anderen Liebhaber hatte, die aber in dieser Zeit auch alle Trauer tragen mußten, das verlangte sie . . . Sonderbare Leute lernt man kennen. Sie können sich denken, daß die Frauen meinem Manne dort nicht weniger nachgelaufen sind als anderswo; es war zum Lachen. Aber da ich doch immer mit ihm war - oder meistens, so wagten sie sich nicht recht an ihn heran, um so weniger, als ich für seine Geliebte galt . . . Ja, wenn sie gewußt hätten, daß ich nur seine Frau war - ! Und da bin ich einmal auf einen sonderbaren Einfall gekommen, den Sie mir gewiß nie zugetraut hätten - und aufrichtig gestanden, ich wundere mich heute selbst über meinen Mut.« Sie sah vor sich hin und sprach leiser als früher: »Es ist übrigens auch möglich, daß es schon mit etwas im Zusammenhang stand - nun, Sie können sich's ja denken. Seit ein paar Wochen wußte ich, daß ich ein Kind zu erwarten hatte. Das machte mich unerhört glücklich. Im Anfang war ich nicht nur heiterer, sondern merkwürdigerweise auch viel beweglicher als jemals früher . . . Also denken Sie, eines schönen Abends habe ich mir Männerkleider angezogen und bin so mit Gregor auf 60

Abenteuer aus. Natürlich hab' ich ihm vor allem das Versprechen abgenommen, daß er sich keinerlei Zwang antun dürfte . . . nun ja, sonst hätte die ganze Geschichte keinen Sinn gehabt. Ich habe übrigens famos ausgesehen - Sie hätten mich nicht e r k a n n t . . . niemand hätte mich erkannt. Ein Freund von Gregor, ein gewisser Leonce Albert, ein junger Maler, ein buckliger Mensch, holte uns an diesem Abend ab. Es war wunderschön . . . Mai . . . ganz warm . . . und ich war frech, davon machen Sie sich keinen Begriff. Denken Sie sich, ich hab' meinen Überzieher - einen sehr eleganten gelben Überzieher einfach abgelegt und ihn auf dem Arm getragen . . . so wie das eben Herren zu tun pflegen . . Es war allerdings schon ziemlich dunkel . . . In einem kleinen Restaurant auf dem äußeren Boulevard haben wir diniert, dann sind wir in die Roulotte gegangen, wo damals Legay sang und Montoya . . . >Tu t'en iras les pieds devant< ... Sie haben es ja neulich hier gehört im Wiedener Theater - nicht wahr?« Jetzt warf Mathilde einen raschen Blick zu ihrem Mann hinüber, der nicht darauf achtete. Es war, als wenn sie nun auf längere Zeit von ihm Abschied nähme. Und nun erzählte sie drauflos, immer heftiger, stürzte sozusagen vorwärts. »In der Roulotte,« sagte sie, »war eine sehr elegante Dame, die ganz nahe vor uns saß; die kokettierte mit Gregor, aber in einer Weise . . . nun, ich versichere Sie, man kann sich nichts Unanständigeres vorstellen. Ich werde nie begreifen, daß ihr Gatte sie nicht auf der Stelle erwürgt hat. Ich hätte es getan. Ich glaube, es war eine Herzogin . . . Nun, Sie müssen nicht lachen, es war gewiß eine Dame der großen Welt, trotz ihres Benehmens . . . das kann man schon beurteilen . . . Und ich wollte eigentlich, daß Gregor auf die Sache einginge . . . natürlich! - ich hätte gern gesehen, wie man so etwas anfängt . . . ich wünschte, daß er ihr einen Brief zusteckte - oder sonst was täte - was er eben in solchen Fällen getan haben wird, bevor ich seine Frau wurde . . . Ja, das wollte ich, trotzdem es nicht ohne Gefahr für ihn gewesen wäre. Offenbar steckt in uns Frauen so eine grausame Neugier . . . Aber Gregor hatte, Gott sei Dank, keine Lust. Wir gingen sogar recht bald fort, wieder hinaus in die schöne Mainacht, Leonce blieb immer mit uns. Der hat sich übrigens an diesem Abend in mich verliebt und wurde gegen seine Ge61

wohnheit geradezu galant. Es war sonst ein sehr verschüchterter Mensch - wegen seines Aussehens . . . Ich sagte ihm noch: >Man muß wohl einen gelben Überzieher haben, damit Sie einem den Hof machen.< Wir sind so vergnügt weiterspaziert wie drei Studenten. Und jetzt kam das Interessante: wir gingen nämlich ins Moulin Rouge. Das gehörte zum Programm. Es war auch notwendig, daß endlich irgend etwas geschah. Bisher hatten wir ja noch gar nichts erlebt . . . nur mich - denken Sie: mich selbst - hatte ein Frauenzimmer auf der Straße angeredet. Aber das war ja nicht die Absicht gewesen . . . Um ein Uhr waren wir im Moulin Rouge. Wie es da zugeht, wissen Sie ja wahrscheinlich; eigentlich hatte ich mir's ärger vorgestellt . . . Es passierte auch anfangs dort nicht das Geringste, und es sah ganz danach aus, als sollte der ganze Scherz zu nichts führen. Ich war ein bißchen ärgerlich. >Du bist ein Kind,< sagte Gregor. >Wie denkst du dir das eigentlich? Wir kommen, und sie fallen uns zu Füßen -?< Er sagte »uns« aus Höflichkeit für Léonce; es war keine Rede davon, daß man Léonce zu Füßen fallen konnte. Aber wie wir nun schon alle ernstlich daran dachten, nach Hause zu gehen, nahm die Sache eine Wendung. Mir fiel nämlich eine Person auf . . . mir, wirklich mir . . . die schon ein paarmal ganz zufällig an uns vorübergegangen war . . . Sie war ganz ernst und sah ziemlich anders aus als die meisten anwesenden Damen. Sie war gar nicht auffallend gekleidet - in Weiß, vollkommen in Weiß . . . Ich hatte bemerkt, wie sie zwei oder drei Herren, die sie ansprachen, überhaupt gar keine Antwort gab, einfach weiterging, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sie schaute nur dem Tanze zu, sehr ruhig, interessiert, sachlich möchte ich sagen Léonce fragte - ich hatte ihn darum gebeten - ein paar Bekannte, ob ihnen das hübsche Wesen schon irgendwo begegnet wäre, und einer erinnerte sich, daß er sie im vorigen Winter auf einem der Donnerstagsbälle im Quartier Latin gesehen hatte. Léonce sprach sie dann in einiger Entfernung von uns an, und ihm gab sie Antwort. Dann kam er mit ihr näher, wir setzten uns alle an einen kleinen Tisch und tranken Champagner. Gregor kümmerte sich gar nicht um sie — als wenn sie überhaupt nicht dagewesen wäre . . . Er plauderte mit mir, immer nur mit mir . . . Das schien sie nun besonders zu 62

reizen. Sie wurde immer heiterer, gesprächiger, ungenierter, und wie das so kommt, allmählich hatte sie ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Was so ein armes Ding alles erleben kann oder erleben muß, möglicherweise! Man liest ja so oft davon, aber wenn man es einmal als etwas ganz Wirkliches hört, von einer, die daneben sitzt, da ist es doch ganz sonderbar. Ich erinnere mich noch an mancherlei. Wie sie fünfzehn Jahre alt war, hat sie irgendeiner verführt und sitzen lassen. Dann war sie Modell. Auch Statistin an einem kleinen Theater ist sie gewesen. - Was sie uns vom Direktor für Dinge erzählte! . . . Ich wäre auf und davon gelaufen, wenn ich nicht vom Champagner schon ein wenig angeheitert gewesen wäre . . . Dann hatte sie sich in einen Studenten der Medizin verliebt, der in der Anatomie arbeitete, den holte sie manchmal aus der Leichenkammer ab . . . oder blieb vielmehr mit ihm dort . . . nein, es ist nicht möglich, zu wiederholen, was sie uns erzählt hat! - Der Mediziner verließ sie natürlich auch. Und das wollte sie nicht überleben - gerade das! Und sie brachte sich um, das heißt, sie versuchte es. Sie machte sich selbst darüber lustig . . . in Ausdrücken! Ich höre noch ihre Stimme . . . es klang gar nicht so gemein, als es war. Und sie lüftete ihr Kleid ein wenig und zeigte über der linken Brust eine kleine rötliche Narbe. Und wie wir alle diese kleine Narbe ganz ernsthaft betrachten, sagte sie - nein, schreit sie plötzlich meinen Mann an: >Küssen!< Ich sagte Ihnen schon, Gregor kümmerte sich gar nicht um sie. Auch während sie ihre Geschichten erzählte, hörte er kaum zu, sah in den Saal hinein, rauchte Zigaretten, und jetzt, wie sie ihn so anrief, lächelte er kaum. Ich hab' ihn aber gestoßen, gezwickt, ich war ja wirklich etwas beduselt . . . jedenfalls war es die sonderbarste Stimmung meines Lebens. Und ob er nun wollte oder nicht, er mußte die Narbe . . . das heißt, er mußte so tun, als berührte er die Stelle mit den Lippen. Ja, und dann wurde es immer lustiger und toller. Nie hab' ich so viel gelacht wie an diesem Abend - und gar nicht gewußt, warum. Und nie hätte ich es für möglich gehalten, daß sich ein weibliches Wesen - und noch dazu solch eines - im Verlauf einer Stunde so wahnsinnig in einen Mann verlieben könnte, wie dieses Geschöpf in Gregor. Sie hieß Madeleine.« 63

Ich weiß nicht, ob Frau Mathilde den Namen absichtlich lauter aussprach - jedenfalls schien es mir, als hörte ihn ihr Gatte, denn er sah zu uns herüber; seine Frau sah er sonderbarerweise nicht an, aber unsere Blicke begegneten sich und blieben eine ganze Weile ineinander ruhen, nicht eben mit besonderer Sympathie. Dann plötzlich lächelte er seiner Gattin zu, sie nickte zurück, er sprach mit seinen Nachbarinnen weiter, und sie wandte sich wieder zu mir. »Ich kann mich natürlich nicht mehr an alles erinnern, was Madeleine später gesprochen hat,« sagte sie, »es war ja alles so wirr. Aber ich will aufrichtig sein: es gab eine Sekunde, in der ich ein bißchen verstimmt wurde. Das war, als Madeleine die Hand meines Mannes nahm und küßte. Aber gleich war es wieder vorbei. Denn, sehen Sie, in diesem Augenblick mußte ich an unser Kind denken. Und da hab' ich gefühlt, wie unauflöslich ich und Gregor miteinander verbunden waren, und wie alles andere nichts sein konnte, als Schatten, Nichtigkeiten oder Komödie, wie heute Abend. Und da war alles wieder gut. Wir sind dann noch alle bis zum Morgengrauen auf dem Boulevard in einem Kaffeehause gesessen. Da hörte ich, wie Madeleine meinen Gatten bat, er solle sie nach Hause begleiten. Er lachte sie aus. Und dann, um den Spaß zu einem guten und in gewissem Sinne vorteilhaften Ende zu führen Sie wissen ja, was die Künstler alle für Egoisten sind . . . insofern es sich nämlich um ihre Kunst handelt . . . - kurz, er sagte ihr, daß er Bildhauer sei, und forderte sie auf, nächstens zu ihm zu kommen, er wollte sie modellieren. Sie antwortete: >Wenn du ein Bildhauer bist, lasse ich mich hängen! Aber ich komm' doch.Odeon< aber wird, wie man vernimmt, an mehreren Flügeln ernstlich studiert. Junge Leute, die das Nothung-Motiv pfeifen und abends die Hintergründe des modernen Schauspielhauses füllen, wandern, literarische Zeitschriften in den Seitentaschen ihrer Jacketts, in der Universität und der Staatsbibliothek aus und ein. Vor 66

der Akademie der bildenden Künste, die ihre weißen Arme zwischen der Türkenstraße und dem Siegestor ausbreitet, hält eine Hofkarosse. Und auf der Höhe der Rampe stehen, sitzen und lagern in farbigen Gruppen die Modelle, pittoreske Greise, Kinder und Frauen in der Tracht der Albaner Berge. Lässigkeit und hastloses Schlendern in all den langen Straßenzügen des Nordens . . . Man ist von Erwerbsgier nicht gerade gehetzt und verzehrt dortselbst, sondern lebt angenehmen Zwecken. Junge Künstler, runde Hütchen auf den Hinterköpfen, mit lockeren Krawatten und ohne Stock, unbesorgte Gesellen, die ihren Mietzins mit Farbenskizzen bezahlen, gehen spazieren, um diesen hellblauen Vormittag auf ihre Stimmung wirken zu lassen, und sehen den kleinen Mädchen nach, diesem hübschen, untersetzten Typus mit den brünetten Haarbandeaus, den etwas zu großen Füßen und den unbedenklichen Sitten . . . Jedes fünfte Haus läßt Atelierfensterscheiben in der Sonne blinken. Manchmal tritt ein Kunstbau aus der Reihe der bürgerlichen hervor, das Werk eines phantasievollen jungen Architekten, breit und flachbogig, mit bizarrer Ornamentik, voll Witz und Stil. Und plötzlich ist irgendwo die Tür an einer allzu langweiligen Fassade von einer kecken Improvisation umrahmt, von fließenden Linien und sonnigen Farben, Bacchanten, Nixen, rosigen Nacktheiten . . . Es ist stets aufs neue ergötzlich, vor den Auslagen der Kunstschreinereien und der Basare für moderne Luxusartikel zu verweilen. Wieviel phantasievoller Komfort, wieviel linearer Humor in der Gestalt aller Dinge! Überall sind die kleinen Skulptur-, Rahmen- und Antiquitätenhandlungen verstreut, aus deren Schaufenstern dir die Büsten der florentinischen Quattrocento-Frauen voll einer edlen Pikanterie entgegenschauen. Und der Besitzer des kleinsten und billigsten dieser Läden spricht dir von Donatello und Mino da Fiesole, als habe er das Vervielfältigungsrecht von ihnen persönlich empfangen . . . Aber dort oben am Odeonsplatz, angesichts der gewaltigen Loggia, vor der sich die geräumige Mosaikfläche ausbreitet, und schräg gegenüber dem Palast des Regenten drängen sich die Leute um die breiten Fenster und Schaukästen des großen Kunstmagazins, des weitläufigen Schönheitsgeschäftes von 67

M. Blüthenzweig. Welche freudige Pracht der Auslage! Reproduktionen von Meisterwerken aus allen Galerien der Erde, eingefaßt in kostbare, raffiniert getönte und ornamentierte Rahmen in einem Geschmack von preziöser Einfachheit; Abbildungen moderner Gemälde, sinnenfroher Phantasien, in denen die Antike auf eine humorvolle und realistische Weise wiedergeboren zu sein scheint; die Plastik der Renaissance in vollendeten Abgüssen; nackte Bronzeleiber und zerbrechliche Ziergläser; irdene Vasen von steilem Stil, die aus Bädern von Metalldämpfen in einem schillernden Farbenmantel hervorgegangen sind; Prachtbände, Triumphe der neuen Ausstattungskunst, Werke modischer Lyriker, gehüllt in einen dekorativen und vornehmen Prunk; dazwischen die Porträts von Künstlern, Musikern, Philosophen, Schauspielern, Dichtern, der Volksneugier nach Persönlichem ausgehängt . . . In dem ersten Fenster, der anstoßenden Buchhandlung zunächst, steht auf einer Staffelei ein großes Bild, vor dem die Menge sich staut: eine wertvolle, in rotbraunem Tone ausgeführte Photographie in breitem, altgoldenem Rahmen, ein aufsehenerregendes Stück, eine Nachbildung des Clous der großen internationalen Ausstellung des Jahres, zu deren Besuch an den Litfaßsäulen, zwischen Konzertprospekten und künstlerisch ausgestatteten Empfehlungen von Toilettenmitteln, archaisierende und wirksame Plakate einladen. Blick um dich, sieh in die Fenster der Buchläden! Deinen Augen begegnen Titel wie >Die Wohnungskunst seit der RenaissanceDie Erziehung des FarbensinnesDie Renaissance im modernen Kunstgewerbe^ >Das Buch als Kunstwerk^ >Die dekorative KunstDer Hunger nach KunstMandragola< zum besten.« »Oh, bravo. Davon kann man sich Spaß versprechen. Ich 72

hatte vor, ins Kiinstlervarieté zu gehen, aber es ist wahrscheinlich, daß ich den wackeren Nicolò schließlich vorziehe. Auf Wiedersehen . . . « Sie trennten sich, traten zurück und gingen nach rechts und links auseinander. Neue Leute rückten an ihre Stelle und betrachteten das erfolgreiche Bild. Aber Hieronymus stand unbeweglich an seinem Platze; er stand mit vorgestrecktem Kopfe, und man sah, wie seine Hände, mit denen er auf der Brust seinen Mantel von innen zusammenhielt, sich krampfhaft ballten. Seine Brauen waren nicht mehr mit jenem kühl und ein wenig gehässig erstaunten Ausdruck emporgezogen, sie hatten sich gesenkt und verfinstert, seine Wangen, von der schwarzen Kapuze halb bedeckt, schienen tiefer ausgehöhlt als vordem, und seine dicken Lippen waren ganz bleich. Langsam neigte sein Kopf sich tiefer und tiefer, so daß er schließlich seine Augen ganz von unten herauf starr auf das Kunstwerk gerichtet hielt. Die Flügel seiner großen Nase bebten. In dieser Haltung verblieb er wohl eine Viertelstunde. Die Leute um ihn her lösten sich ab, er aber wich nicht vom Platze. Endlich drehte er sich langsam, langsam auf den Fußballen herum und ging fort. III Aber das Bild der Madonna ging mit ihm. Immerdar, mochte er nun in seinem engen und harten Kämmerlein weilen oder in den kühlen Kirchen knien, stand es vor seiner empörten Seele, mit schwülen, umränderten Augen, mit rätselhaft lächelnden Lippen, entblößt und schön. Und kein Gebet vermochte es zu verscheuchen. In der dritten Nacht aber geschah es, daß ein Befehl und Ruf aus der Höhe an Hieronymus erging, einzuschreiten und seine Stimme zu erheben gegen leichtherzige Ruchlosigkeit und frechen Schönheitsdünkel. Vergebens wendete er, Mosen gleich, seine blöde Zunge vor; Gottes Wille blieb unerschütterlich und verlangte laut von seiner Zaghaftigkeit diesen Opfergang unter die lachenden Feinde. Da machte er sich auf am Vormittage und ging, weil Gott es wollte, den Weg zur Kunsthandlung, zum großen Schön73

heitsgeschäft von M. Blüthenzweig. Er trug die Kapuze über dem Kopf und hielt seinen Mantel von innen mit beiden Händen zusammen, indes er wandelte. IV Es war schwül geworden; der Himmel war fahl, und ein Gewitter drohte. Wiederum belagerte viel Volks die Fenster der Kunsthandlung, besonders aber dasjenige, in dem das Madonnenbild sich befand. Hieronymus warf nur einen kurzen Blick dorthin; dann drückte er die Klinke der mit Plakaten und Kunstzeitschriften verhangenen Glastür. »Gott will es!« sagte er und trat in den Laden. Ein junges Mädchen, das irgendwo an einem Pult in einem großen Buche geschrieben hatte, ein hübsches, brünettes Wesen mit Haarbandeaus und zu großen Füßen, trat auf ihn zu und fragte freundlich, was ihm zu Diensten stehe. »Ich danke Ihnen«, sagte Hieronymus leise und blickte ihr, Querfalten in seiner kantigen Stirn, ernst in die Augen. »Nicht Sie will ich sprechen, sondern den Inhaber des Geschäftes, Herrn Blüthenzweig.« Ein wenig zögernd zog sie sich von ihm zurück und nahm ihre Beschäftigung wieder auf. Er stand inmitten des Ladens. Alles, was draußen in einzelnen Beispielen zur Schau gestellt war, es war hier drinnen zwanzigfach zu Häuf getürmt und üppig ausgebreitet: eine Fülle von Farbe, Linie und Form, von Stil, Witz, Wohlgeschmack und Schönheit. Hieronymus blickte langsam nach beiden Seiten, und dann zog er die Falten seines schwarzen Mantels fester um sich zusammen. Es waren mehrere Leute im Laden anwesend. An einem der breiten Tische, die sich quer durch den Raum zogen, saß ein Herr in gelbem Anzug und mit schwarzem Ziegenbart und betrachtete eine Mappe mit französischen Zeichnungen, über die er manchmal ein meckerndes Lachen vernehmen ließ. Ein junger Mensch mit einem Aspekt von Schlechtbezahltheit und Pflanzenkost bediente ihn, indem er neue Mappen zur Ansicht herbeischleppte. Dem meckernden Herrn schräg gegenüber prüfte eine vornehme alte Dame moderne Kunststickereien, große Fabelblumen in blassen Tönen, die auf langen, steifen 74

Stielen senkrecht nebeneinander standen. Auch um sie bemühte sich ein Angestellter des Geschäfts. An einem zweiten Tische saß, die Reisemütze auf dem K o p f e und die Holzpfeife im Munde, nachlässig ein Engländer. Durabel gekleidet, glatt rasiert, kalt und unbestimmten Alters, wählte er unter Bronzen, die Herr Blüthenzweig ihm persönlich herzutrug. Die ziere Gestalt eines nackten kleinen Mädchens, welche, unreif und zart gegliedert, ihre Händchen in koketter Keuschheit auf der Brust kreuzte, hielt er am Kopfe erfaßt und musterte sie eingehend, indem er sie langsam um sich selbst drehte. Herr Blüthenzweig, ein Mann mit kurzem braunen Vollbart und blanken Augen von ebenderselben Farbe, bewegte sich händereibend um ihn herum, indem er das kleine Mädchen mit allen Vokabeln pries, deren er habhaft werden konnte. »Hundertfünfzig Mark, Sir«, sagte er auf englisch; »Münchener Kunst, Sir. Sehr lieblich in der Tat. Voller Reiz, wissen Sie. Es ist die Grazie selbst, Sir. Wirklich äußerst hübsch, niedlich und bewunderungswürdig.« Hierauf fiel ihm noch etwas ein und er sagte: »Höchst anziehend und verlockend.« Dann fing er wieder von vorne an. Seine Nase lag ein wenig platt auf der Oberlippe, so daß er beständig mit einem leicht fauchenden Geräusch in seinen Schnurrbart schnüffelte. Manchmal näherte er sich dabei dem Käufer in gebückter Haltung, als beröche er ihn. Als Hieronymus eintrat, untersuchte Herr Blüthenzweig ihn flüchtig in eben dieser Weise, widmete sich aber alsbald wieder dem Engländer. Die vornehme Dame hatte ihre Wahl getroffen und verließ den Laden. Ein neuer Herr trat ein. Herr Blüthenzweig beroch ihn kurz, als wollte er so den Grad seiner Kauffähigkeit erkunden, und überließ es der jungen Buchhalterin, ihn zu bedienen. Der Herr erstand nur eine Fayencebüste Piero's, Sohn des prächtigen Medici, und entfernte sich wieder. Auch der Engländer begann nun aufzubrechen. Er hatte sich das kleine Mädchen zu eigen gemacht und ging unter den Verbeugungen Herrn Blüthenzweigs. Dann wandte sich der Kunsthändler zu Hieronymus und stellte sich vor ihn hin. »Sie wünschen . . . « , fragte er ohne viel Demut. Hieronymus hielt seinen Mantel von innen mit beiden Hän75

den zusammen und blickte Herrn Blüthenzweig fast ohne mit den Wimpern zu zucken ins Gesicht. Er trennte langsam seine dicken Lippen und sagte: »Ich komme zu Ihnen wegen des Bildes in jenem Fenster dort, der großen Photographie, der Madonna.« - Seine Stimme war belegt und modulationslos. »Jawohl, ganz recht«, sagte Herr Blüthenzweig lebhaft und begann, sich die Hände zu reiben: »Siebenzig Mark im Rahmen, mein Herr. Es ist unveränderlich . . . eine erstklassige Reproduktion. Höchst anziehend und reizvoll.« Hieronymus schwieg. Er neigte seinen Kopf in der Kapuze und sank ein wenig in sich zusammen, während der Kunsthändler sprach; dann richtete er sich wieder auf und sagte: »Ich bemerke Ihnen im voraus, daß ich nicht in der Lage, noch überhaupt willens bin, irgend etwas zu kaufen. Es tut mir leid, Ihre Erwartungen enttäuschen zu müssen. Ich habe Mitleid mit Ihnen, wenn Ihnen das Schmerz bereitet. Aber erstens bin ich arm, und zweitens liebe ich die Dinge nicht, die Sie feilhalten. Nein, kaufen kann ich nichts.« »Nicht . . . also nicht«, sagte Herr Blüthenzweig und schnüffelte stark. »Nun, darf ich fragen . . . « »Wie ich Sie zu kennen glaube«, fuhr Hieronymus fort, »so verachten Sie mich darum, daß ich nicht imstande bin, Ihnen etwas abzukaufen . . . « »Hm ...«, sagte Herr Blüthenzweig. »Nicht doch! Nur . . . « »Dennoch bitte ich Sie, mir Gehör zu schenken und meinen Worten Gewicht beizulegen.« »Gewicht beizulegen. Hm. Darf ich fragen . . . « »Sie dürfen fragen«, sagte Hieronymus, »und ich werde Ihnen antworten. Ich bin gekommen, Sie zu bitten, daß Sie jenes Bild, die große Photographie, die Madonna, sogleich aus Ihrem Fenster entfernen und sie niemals wieder zur Schau stellen.« Herr Blüthenzweig blickte eine Weile stumm in Hieronymus' Gesicht, mit einem Ausdruck, als forderte er ihn auf, über seine abenteuerlichen Worte in Verlegenheit zu geraten. Da dies aber keineswegs geschah, so schnüffelte er heftig und brachte hervor: »Wollen Sie die Güte haben, mir mitzuteilen, ob Sie hier in 76

irgendeiner amtlichen Eigenschaft stehen, die Sie befugt, mir Vorschriften zu machen, oder was Sie eigentlich herführt . . . « »O nein«, antwortete Hieronymus; »ich habe weder Amt noch Würde von Staates wegen. Die Macht ist nicht auf meiner Seite, Herr. Was mich herführt, ist allein mein Gewissen.« H e r r Blüthenzweig bewegte nach Worten suchend den Kopf hin und her, blies heftig mit der Nase in seinen Schnurrbart und rang mit der Sprache. Endlich sagte er: »Ihr Gewissen . . . N u n , so wollen Sie gefälligst . . . Notiz davon nehmen . . . daß Ihr Gewissen für uns eine . . . eine gänzlich belanglose Einrichtung ist!« Damit drehte er sich um, ging schnell zu seinem Pult im Hintergrunde des Ladens und begann zu schreiben. Die beiden Ladendiener lachten von Herzen. Auch das hübsche Fräulein kicherte über ihrem Kontobuche. Was den gelben H e r r n mit dem schwarzen Ziegenbart betraf, so zeigte es sich, daß er ein Fremder war, denn er verstand augenscheinlich nichts von dem Gespräch, sondern f u h r fort, sich mit den französischen Zeichnungen zu beschäftigen, wobei er von Zeit zu Zeit sein mekkerndes Lachen vernehmen ließ. — »Wollen Sie den H e r r n abfertigen«, sagte H e r r Blüthenzweig über die Schulter hinweg zu seinem Gehilfen. Dann schrieb er weiter. Der junge Mensch mit dem Aspekt von Schlechtbezahltheit und Pflanzenkost trat auf Hieronymus zu, indem er sich des Lachens zu enthalten trachtete, und auch der andere Verkäufer näherte sich. »Können wir Ihnen sonst irgendwie dienlich sein?« fragte der Schlechtbezahlte sanft. Hieronymus hielt unverwandt seinen leidenden, stumpfen und dennoch durchdringenden Blick auf ihn gerichtet. »Nein«, sagte er, »sonst können Sie es nicht. Ich bitte Sie, das Madonnenbild unverzüglich aus dem Fenster zu entfernen, und zwar f ü r immer.« »Oh . . . Warum?« »Es ist die heilige Mutter Gottes . . . « , sagte Hieronymus gedämpft. »Allerdings . . . Sie hören ja aber, daß H e r r Blüthenzweig nicht geneigt ist, Ihren Wunsch zu erfüllen.« 77

»Man muß bedenken, daß es die heilige Mutter Gottes ist«, sagte Hieronymus, und sein Kopf zitterte. »Das ist richtig. - Und weiter? Darf man keine Madonnen ausstellen? Darf man keine malen?« »Nicht so! Nicht so!« sagte Hieronymus beinahe flüsternd, indem er sich hoch emporrichtete und mehrmals heftig den Kopf schüttelte. Seine kantige Stirn unter der Kapuze war ganz von langen und tiefen Querfalten durchfurcht. »Sie wissen sehr wohl, daß es das Laster selbst ist, das ein Mensch dort gemalt hat . . . die entblößte Wollust! Von zwei schlichten und unbewußten Leuten, die dieses Madonnenbild betrachteten, habe ich mit meinen Ohren gehört, daß es sie an dem Dogma der unbefleckten Empfängnis irremache . . . « »Oh, erlauben Sie, nicht darum handelt es sich«, sagte der junge Verkäufer überlegen lächelnd. Er schrieb in seinen Mußestunden eine Broschüre über die moderne Kunstbewegung und war sehr wohl imstande, ein gebildetes Gespräch zu führen. »Das Bild ist ein Kunstwerk«, fuhr er fort, »und man muß den Maßstab daranlegen, der ihm gebührt. Es hat allerseits den größten Beifall gehabt. Der Staat hat es angekauft . . . « »Ich weiß, daß der Staat es angekauft hat«, sagte Hieronymus. »Ich weiß auch, daß der Maler zweimal beim Regenten gespeist hat. Das Volk spricht davon, und Gott weiß, wie es sich die Tatsache deutet, daß jemand für ein solches Werk zum hochgeehrten Manne wird. Wovon legt diese Tatsache Zeugnis ab? Von der Blindheit der Welt, einer Blindheit, die unfaßlich ist, wenn sie nicht auf schamloser Heuchelei beruht. Dieses Gebilde ist aus Sinnenlust entstanden und wird in Sinnenlust genossen . . . ist dies wahr oder nicht? Antworten Sie! Antworten auch Sie, Herr Blüthenzweig!« Eine Pause trat ein. Hieronymus schien allen Ernstes eine Antwort zu verlangen und blickte mit seinen leidenden und durchdringenden braunen Augen abwechselnd auf die beiden Verkäufer, die ihn neugierig und verdutzt anstarrten, und auf Herrn Blüthenzweigs runden Rücken. Es herrschte Stille. Nur der gelbe Herr mit dem schwarzen Ziegenbart ließ, über die französischen Zeichnungen gebeugt, sein meckerndes Lachen vernehmen. 78

»Es ist wahr!« f u h r Hieronymus fort, und in seiner belegten Stimme bebte eine tiefe Entrüstung . . . »Sie wagen nicht, es zu leugnen! Wie aber ist es dann möglich, den Verfertiger dieses Gebildes im Ernste zu feiern, als habe er der Menschheit ideale Güter um eines vermehrt? Wie ist es dann möglich, davor zu stehen, sich unbedenklich dem schnöden Genüsse hinzugeben, den es verursacht, und sein Gewissen mit dem Worte Schönheit zum Schweigen zu bringen, ja, sich ernstlich einzureden, man überlasse sich dabei einem edlen, erlesenen und höchst menschenwürdigen Zustande? Ist dies ruchlose Unwissenheit oder verworfene Heuchelei? Mein Verstand steht still an dieser Stelle . . . er steht still vor der absurden Tatsache, daß ein Mensch durch die dumme und zuversichtliche Entfaltung seiner tierischen Triebe auf Erden zu höchstem Ruhme gelangen kann! - Schönheit . . . Was ist Schönheit? Wodurch wird die Schönheit zutage getrieben und worauf wirkt sie? Es ist unmöglich, dies nicht zu wissen, H e r r Blüthenzweig! Wie aber ist es denkbar, eine Sache so sehr zu durchschauen und nicht angesichts ihrer von Ekel und Gram erfüllt zu werden? Es ist verbrecherisch, die Unwissenheit der schamlosen Kinder und kecken Unbedenklichen durch die Erhöhung und frevle Anbetung der Schönheit zu bestätigen, zu bekräftigen und ihr zur Macht zu verhelfen, denn sie sind weit vom Leiden und weiter noch von der Erlösung! . . . Du blickst schwarz, antworten Sie mir, du, Unbekannter. Das Wissen, sage ich Ihnen, ist die tiefste Qual der Welt; aber es ist das Fegefeuer, ohne dessen läuternde Pein keines Menschen Seele zum Heile gelangt. Nicht kecker Kindersinn und ruchlose Unbefangenheit frommt, H e r r Blüthenzweig, sondern jene Erkenntnis, in der die Leidenschaften unseres eklen Fleisches hinsterben und verlöschen.« Stillschweigen. Der gelbe H e r r mit dem schwarzen Ziegenbart meckerte kurz. »Sie müssen nun wohl gehen«, sagte der Schlechtbezahlte sanft. Aber Hieronymus machte keineswegs Anstalten, zu gehen. H o c h aufgerichtet in seinem Kapuzenmantel, mit brennenden Augen stand er inmitten des Kunstladens, und seine dicken Lippen formten mit hartem und gleichsam rostigem Klange unaufhaltsam verdammende Worte . . . 79

»Kunst! rufen sie, Genuß! Schönheit! Hüllt die Welt in Schönheit ein und verleiht jedem Dinge den Adel des Stiles! . . . Geht mir, Verruchte! Denkt man, mit prunkenden Farben das Elend der Welt zu übertünchen? Glaubt man, mit dem Festlärm des üppigen Wohlgeschmacks das Ächzen der gequälten Erde übertönen zu können? Ihr irrt, Schamlose! Gott läßt sich nicht spotten, und ein Greuel ist in seinen Augen euer frecher Götzendienst der gleißenden Oberfläche! . . . Du schmähst die Kunst, antworten Sie mir, du, Unbekannter. Sie lügen, sage ich Ihnen, ich schmähe nicht die Kunst! Die Kunst ist kein gewissenloser Trug, der lockend zur Bekräftigung und Bestätigung des Lebens im Fleische reizt! Die Kunst ist die heilige Fackel, die barmherzig hineinleuchte in alle fürchterlichen Tiefen, in alle schäm- und gramvollen Abgründe des Daseins; die Kunst ist das göttliche Feuer, das an die Welt gelegt werde, damit sie aufflamme und zergehe samt all ihrer Schande und Marter in erlösendem Mitleid! . . . Nehmen Sie, Herr Blüthenzweig, nehmen Sie das Werk des berühmten Malers dort aus Ihrem Fenster, . . . ja, Sie täten gut, es mit einem heißen Feuer zu verbrennen und seine Asche in alle Winde zu streuen, in alle vier Winde! . . . « Seine unschöne Stimme brach ab. Er hatte einen heftigen Schritt rückwärts getan, hatte einen Arm der Umhüllung des schwarzen Mantels entrissen, hatte ihn mit leidenschaftlicher Bewegung weit hinausgereckt und wies mit einer seltsam verzerrten, krampfhaft auf und nieder bebenden Hand auf die Auslage, das Schaufenster, dorthin, wo das aufsehenerregende Madonnenbild seinen Platz hatte. In dieser herrischen Haltung verharrte er. Seine große, gehöckerte Nase schien mit einem befehlshaberischen Ausdruck hervorzuspringen, seine dunklen, an der Nasenwurzel stark sich verdickenden Brauen waren so hoch emporgezogen, daß die kantige, von der Kapuze beschattete Stirn ganz in breiten Querfalten lag, und über seinen Wangenhöhlen hatte sich eine hektische Hitze entzündet. Hier aber wandte Herr Blüthenzweig sich um. Sei es, daß die Zumutung, diese Siebenzig-Mark-Reproduktion zu verbrennen, ihn so aufrichtig entrüstete, oder daß überhaupt Hieronymus' Reden seine Geduld am Ende erschöpft hatten; jedenfalls bot er ein Bild gerechten und starken Zornes. Er 80

wies mit dem Federhalter auf die Ladentür, blies mehrere Male kurz und erregt mit der Nase in den Schnurrbart, rang mit der Sprache und brachte dann mit höchstem Nachdruck hervor: »Wenn Sie Patron nun nicht augenblicklich von der Bildfläche verschwinden, so lasse ich Ihnen durch den Packer den Abgang erleichtern, verstehen Sie mich?!« »Oh, Sie schüchtern mich nicht ein, Sie verjagen mich nicht, Sie bringen meine Stimme nicht zum Schweigen!« rief Hieronymus, indem er oberhalb der Brust seine Kapuze mit der Faust zusammenraffte und furchtlos den Kopf schüttelte. »Ich weiß, daß ich einsam und machtlos bin, und dennoch verstumme ich nicht, bis Sie mich hören, H e r r Blüthenzweig! Nehmen Sie das Bild aus Ihrem Fenster und verbrennen Sie es noch heute! Ach, verbrennen Sie nicht dies allein! Verbrennen Sie auch diese Statuetten und Büsten, deren Anblick in Sünde stürzt, verbrennen Sie diese Vasen und Zierate, diese schamlosen Wiedergeburten des Heidentums, diese üppig ausgestatteten Liebesverse! Verbrennen Sie alles, was Ihr Laden birgt, H e r r Blüthenzweig, denn es ist ein U n r a t in Gottes Augen! Verbrennen, verbrennen, verbrennen Sie es!« rief er außer sich, indem er eine wilde, weite Bewegung rings in die Runde vollführte . . . »Die Ernte ist reif f ü r den Schnitter . . . Die Frechheit dieser Zeit durchbricht alle Dämme . . . Ich aber sage Ihnen . . . « »Krauthuber!« ließ H e r r Blüthenzweig, einer Tür im H i n tergrund zugewandt, mit Anstrengung seine Stimme vernehmen. »Kommen Sie sofort herein!« Das, was infolge dieses Befehls auf dem Schauplatze erschien, war ein massiges und übergewaltiges Etwas, eine ungeheuerliche und strotzende menschliche Erscheinung von schreckeneinflößender Fülle, deren schwellende, quellende, gepolsterte Gliedmaßen überall formlos ineinander übergingen, . . . eine unmäßige, langsam über den Boden wuchtende und schwer pustende Riesengestalt, genährt mit Malz, ein Sohn des Volkes von fürchterlicher Rüstigkeit! Ein fransenartiger Seehundsschnauzbart war droben in seinem Angesicht bemerkbar, ein gewaltiges, mit Kleister besudeltes Schurzfell bedeckte seinen Leib, und die gelben Ärmel seines Hemdes waren von seinen sagenhaften Armen zurückgerollt. 81

»Wollen Sie diesem Herrn die Türe öffnen, Krauthuber«, sagte Herr Blüthenzweig, »und, sollte er sie dennoch nicht finden, ihm auf die Straße hinausverhelfen.« »Ha?« sagte der Mann, indem er mit seinen kleinen Elefantenaugen abwechselnd Hieronymus und seinen erzürnten Brotherrn betrachtete . . . Es war ein dumpfer Laut von mühsam zurückgedämmter Kraft. Dann ging er, mit seinen Tritten alles um sich her erschütternd, zur Tür und öffnete sie. Hieronymus war sehr bleich geworden. »Verbrennen Sie ...«, wollte er sagen, aber schon fühlte er sich von einer furchtbaren Ubermacht umgewandt, von einer Körperwucht, gegen die kein Widerstand denkbar war, langsam und unaufhaltsam der Tür entgegengedrängt. »Ich bin schwach ...«, brachte er hervor. »Mein Fleisch erträgt nicht die Gewalt . . . es hält nicht stand, nein . . . Was beweist das? Verbrennen Sie . . . « Er verstummte. Er befand sich außerhalb des Kunstladens. Herrn Blüthenzweigs riesiger Knecht hatte ihn schließlich mit einem kleinen Stoß und Schwung fahren lassen, so daß er, auf eine Hand gestützt, seitwärts auf die steinerne Stufe niedergesunken war. Und hinter ihm schloß sich klirrend die Glastür. Er richtete sich empor. Er stand aufrecht und hielt schwer atmend mit der einen Faust seine Kapuze oberhalb der Brust zusammengerafft, indes er die andere unter dem Mantel hinabhängen ließ. In seinen Wangenhöhlen lagerte eine graue Blässe; die Flügel seiner großen, gehöckerten Nase blähten und schlössen sich zuckend; seine häßlichen Lippen waren zu dem Ausdruck eines verzweifelten Hasses verzerrt, und seine Augen, von Glut umzogen, schweiften irr und ekstatisch über den schönen Platz. Er sah nicht die neugierig und lachend auf ihn gerichteten Blicke. Er sah auf der Mosaikfläche vor der großen Loggia die Eitelkeiten der Welt, die Maskenkostüme der Künstlerfeste, die Zierate, Vasen, Schmuckstücke und Stilgegenstände, die nackten Statuen und Frauenbüsten, die malerischen Wiedergeburten des Heidentums, die Porträts der berühmten Schönheiten von Meisterhand, die üppig ausgestatteten Liebesverse und Propagandaschriften der Kunst pyramidenartig aufge82

türmt und unter dem Jubelschrei des durch seine furchtbaren Worte geknechteten Volkes in prasselnde Flammen aufgehen. . . . Er sah gegen die gelbliche Wolkenwand, die von der Theatinerstraße heraufgezogen war und in der es leise donnerte, ein breites Feuerschwert stehen, das sich im Schwefellicht über die frohe Stadt hinreckte . . . »Gladius Dei super terram . . . « , flüsterten seine dicken Lippen, und in seinem Kapuzenmantel sich höher emporrichtend, mit einem versteckten und krampfigen Schütteln seiner hinabhängenden Faust, murmelte er bebend: »Cito et velociter!«

FRANK

WEDEKIND

Die Schutzimpfung Wenn ich euch, ihr lieben Freunde, diese Geschichte erzähle, so tue ich es keinesfalls, um euch ein neues Beispiel von der Durchtriebenheit des Weibes oder von der Dummheit der Männer zu geben; ich erzähle sie euch vielmehr, weil sie gewisse psychologische Kuriositäten enthält, die euch und jedermann interessieren werden und aus denen der Mensch, wenn er sich ihrer bewußt ist, großen Vorteil im Leben zu ziehen vermag. Vor allem aber möchte ich von vornherein den Vorwurf zurückweisen, als wollte ich mich meiner Übeltaten aus vergangenen Zeiten rühmen, jenes Leichtsinnes, den ich heute aus tiefster Seele bereue und zu dessen Betätigung mir jetzt, da meine H a a r e grau und meine Knie schlottrig geworden, weder Lust noch Fähigkeit mehr geblieben sind. »Du hast nichts zu befürchten, mein lieber, süßer Junge«, sagte Fanny eines schönen Abends zu mir, als ihr Mann eben nach Hause gekommen war, »denn die Ehemänner sind im großen ganzen nur so lange eifersüchtig, als sie keinen Grund dazu haben. Von dem Augenblicke an, wo ihnen wirklich Grund zur Eifersucht gegeben ist, sind sie wie mit unheilbarer Blindheit geschlagen.« »Ich traue dem Ausdruck seines Gesichtes nicht«, entgeg83

nete ich kleinlaut. »Mir scheint, er muß schon etwas gemerkt haben.« »Diesen Ausdruck mißverstehst du, mein lieber Junge«, sagte sie. »Sein Gesichtsausdruck ist nur das Ergebnis jenes von mir erfundenen Mittels, das ich bei ihm anwandte, um ihn ein für allemal gegen jede Eifersucht zu feien und ihn für immer davor zu bewahren, daß er je von einem ihn beunruhigenden Verdacht gegen dich befallen wird.« »Welcher Art ist dieses Mittel?« fragte ich erstaunt. »Es ist eine Art von Schutzimpfung. — An demselben Tage, als ich mich entschloß, dich zu meinem Geliebten zu nehmen, sagte ich ihm auch schon ganz offen ins Gesicht, daß ich dich liebe. Seitdem wiederhole ich es ihm täglich beim Aufstehen und beim Schlafengehen. Du hast allen Grund, sage ich, eifersüchtig auf den lieben Jungen zu sein; ich habe ihn wirklich von Herzen gern, und weder dein noch mein Verdienst ist es, wenn ich mich nicht gegen meine Pflichten versündige, sondern es liegt nur an ihm selber, daß ich dir so unerschütterlich treu bleibe.« In diesem Augenblick wurde mir klar, warum mich ihr Mann bei all seiner Liebenswürdigkeit manchmal, wenn er sich von mir nicht beobachtet glaubte, mit einem so eigentümlich mitleidig verächtlichen Lächeln ansah. »Und glaubst du wirklich, daß dieses Mittel seine Wirksamkeit auf die Dauer behält?« fragte ich befangen. »Es ist unfehlbar«, entgegnete sie mit der Zuversichtlichkeit eines Astronomen. Trotzdem setzte ich noch großen Zweifel in die Unverbrüchlichkeit ihrer psychologischen Berechnungen, bis mich eines Tages folgendes Ergebnis in staunenerregender Weise eines Besseren belehrte. Ich bewohnte damals inmitten der Stadt in einer engen Gasse ein kleines möbliertes Zimmer im vierten Stock eines hohen Miethauses und hatte die Gewohnheit, bis in den hellen T a g hinein z u schlafen. - A n einem sonnigen Morgen um neun Uhr etwa geht die Türe auf, und sie tritt ein. Was nun folgt, würde ich niemals erzählen, böte es nicht den Beweis für eine der überraschendsten und trotzdem begreiflichsten Verblendungen, die im Geistesleben des Menschen möglich 84

sind. - Sie entledigt sich auch der letzten Hülle und gesellt sich zu mir. Weiter habt ihr, liebe Freunde, nichts Verfängliches, Anzügliches von meiner Erzählung zu gewärtigen. Ich muß immer wieder betonen, daß es mir nicht darum zu tun ist, euch mit Unschicklichkeiten zu unterhalten. - Kaum hat die Decke die Reize ihres Körpers verhüllt, als Schritte vor der Türe laut werden; es klopft und ich habe eben noch Zeit, durch rasches Emporziehen der Decke ihren Kopf zu verbergen, als ihr Mann eintritt, schweißtriefend und pustend infolge der Anstrengung, mit der er die hundertundzwanzig Stufen zu mir heraufgestiegen war, aber mit glückstrahlendem, freudig erregtem Gesicht. »Ich wollte dich fragen, ob du mit Röbel, Schletter und mir einen Ausflug machst. Wir fahren per Bahn nach Ebenhausen und von dort mit dem Rad nach Ammerland. Eigentlich wollte ich heute zu Hause arbeiten; nun ist meine Frau aber schon früh zu Brüchmanns gegangen, um zu sehen, was deren Jüngstes macht, und da fand ich bei dem herrlichen Wetter keine rechte Sammlung mehr zu Hause. Im Cafe Luitpold traf ich Röbel und Schletter, und da haben wir die Partie verabredet. Um zehn Uhr siebenundfünfzig fährt unser Zug.« Derweil hatte ich etwas Zeit gehabt, mich zu sammeln. »Du siehst«, sagte ich lächelnd, »daß ich nicht allein bin.« »Ja, das merke ich«, entgegnete er mit dem nämlichen verständnisinnigen Lächeln. Dabei begannen seine Augen zu funkeln, und die Kinnlade wackelte auf und ab. Zögernd trat er einen Schritt vorwärts und stand nun dicht vor dem Stuhl, auf den ich meine Kleider zu legen pflegte. Zuoberst auf diesem Sessel lag ein feines batistenes Spitzenhemd ohne Ärmel mit rotgesticktem Namenszug und darüber zwei lange schwarzseidene, durchbrochene Strümpfe mit goldgelben Zwickeln. Da nichts anderes von einem weiblichen Wesen sichtbar war, hefteten sich seine Blicke mit unverkennbarer Lüsternheit auf diese Garderobestücke. Dieser Augenblick war entscheidend. Nur ein Moment noch, und er mußte sich erinnern, diese Kleidungsstücke irgendwo in diesem Leben schon einmal gesehen zu haben. Kostete, was es kosten wollte, ich mußte seine Aufmerksamkeit von dem verhängnisvollen Anblick ablenken und derart ban85

nen, daß sie mir nicht mehr entglitt. Das war aber nur durch etwas Nochniedagewesenes zu erreichen. Dieser Gedankengang, der sich blitzartig in meinem Hirne vollzog, veranlaßte mich dazu, eine Roheit von solcher Ungeheuerlichkeit zu begehen, daß ich sie mir heute nach zwanzig Jahren, wiewohl sie damals die Situation rettete, noch nicht verziehen habe. »Ich bin nicht allein«, sagte ich. »Wenn du aber eine Ahnung von der Herrlichkeit dieses Geschöpfes hättest, würdest du mich beneiden.« Dabei preßte sich mein Arm, der-die Decke über ihren Kopf gelegt hatte, krampfhaft auf jene Stelle, wo ich den Mund vermutete, um auf die Gefahr hin, ihr den Atem zu nehmen, jede Lebensäußerung ihrerseits zu verhindern. Gierig glitten seine Blicke an den von der Decke gebildeten Wellenlinien auf und nieder. Und nun kommt das Ungeheuerliche, das Nochniedagewesene. Ich ergriff die Decke an ihrem untersten Ende und schlug sie bis an den Hals empor, so daß nur ihr Kopf noch verhüllt war. - »Hast du je in deinem Leben eine solche Pracht gesehen?« fragte ich ihn. Seine Augen standen weit aufgerissen, aber er geriet in sichtliche Verlegenheit. »Ja, ja - das muß man sagen - du hast einen guten Geschmack — nun, ich - werde jetzt gehen - verzeih mir bitte, daß - daß ich dich gestört habe.« - Dabei zog er sich zur Türe zurück, und ich ließ den Schleier, ohne mich zu beeilen, wieder sinken. Darauf sprang ich rasch auf die Füße und stellte mich neben der Türe so vor ihn hin, daß er die Strümpfe, die auf dem Sessel lagen, unmöglich mehr sehen konnte. »Ich komme jedenfalls mit dem Mittagszug nach Ebenhausen«, sagte ich, während er die Klinke schon in der Hand hielt. »Vielleicht erwartet ihr mich dort im Gasthof zur Post. Dann fahren wir zusammen nach Ammerland. Das wird eine prächtige Tour. Ich danke dir bestens für deine Einladung.« E r machte noch einige wohlgemeinte, jovial-scherzhafte Bemerkungen und verließ darauf das Zimmer. Ich blieb wie angewurzelt stehen, bis ich seine Schritte unten im Hausgang verhallen hörte. 86

Ich will es mir ersparen, den entsetzlichen Zustand von Wut und Verzweiflung zu schildern, in dem sich die bedauernswürdige Frau nach dieser Szene befand. Sie war seelisch wie aus den Fugen gegangen und gab mir Beweise von H a ß und Verachtung, wie ich sie nie in meinem Leben empfangen habe. Während sie sich hastig ankleidete, bedrohte sie mich damit, mir ins Gesicht zu spucken. Ich verzichtete natürlich auf jeden Versuch, mich zu verteidigen. »Wohin denkst du denn jetzt zu gehen?« »Ich weiß nicht ins Wasser nach Hause oder auch zu Brüchmanns - um zu sehen, wie es deren Jüngstes geht. - Ich weiß es nicht.« Am Mittag gegen zwei Uhr saßen wir zusammen unter den schattigen Kastanienbäumen neben dem Gasthof zur Post in Ebenhausen, Röbel, Schletter, mein Freund und ich, und erlabten uns an gebratenen Hühnern und hellschimmerndem saftigen Kopfsalat. Mein Freund, dessen Seelenzustand ich argwöhnisch beobachtete, beruhigte mich durch die ganz außergewöhnlich fröhliche Laune, in der er sich befand. Er warf mir scherzhaft treffende Blicke zu und rieb sich siegreich schmunzelnd die Hände, ohne indessen zu verraten, was sein Inneres so f r o h bewegte. Die Tour verlief ohne weitere Störung, und gegen zehn Uhr abends waren wir wieder in der Stadt. Am Bahnhof angekommen, verabredeten wir uns in ein Bierlokal. »Erlaubt mir nur«, sagte mein Freund, »daß ich eben nach Hause gehe und meine Frau hole. Sie hat den ganzen schönen Tag bei dem kranken Kinde gesessen und würde es uns übelnehmen, wenn wir sie nun den Abend zu Hause allein verbringen lassen.« Bald darauf kam er mit ihr in den verabredeten Garten. Das Gespräch drehte sich natürlich um die überstandene Tour, deren Ereignislosigkeit von allen Teilnehmern nach K r ä f t e n zu erzählungswürdigen Abenteuern aufgebauscht wurde. Die junge Frau war etwas wortkarg, etwas betreten und würdigte mich keines Blickes. Er hingegen trug noch mehr als während des Nachmittags in seinem jovialen Gesicht jenes f ü r mich so rätselhafte Siegesbewußtsein zur Schau. Seine überlegenen, triumphierenden Blicke galten jetzt aber mehr seiner verson87

nen dasitzenden Gattin als mir. Es war nicht anders, als hätte er irgendeine innere, ihn tief beseligende Genugtuung erfahren. Erst einen Monat später, als ich mit der jungen Frau zum erstenmal wieder allein war, klärte sich mir dieses Rätsel auf. Nachdem ich noch einmal die heftigsten Vorwürfe über mich hatte ergehen lassen müssen, war eine oberflächliche Versöhnung erfolgt, nach deren mühevollem Zustandekommen sie mir anvertraute, wie ihr Mann, als sie am Abend jenes Tages zu Hause mit ihm allein war, ihr mit verschränkten Armen folgenden Vortrag gehalten hatte: »Deinen lieben, süßen Jungen, mein Kind, den habe ich jetzt aber gründlich kennen gelernt. Jeden Tag gestehst du mir, daß du ihn liebst, und ahnst dabei gar nicht, wie der sich über dich lustig macht. Heute morgen traf ich ihn in seiner Wohnung an; natürlich war er nicht allein. Freilich ist mir jetzt auch völlig klar geworden, warum er sich nichts aus dir macht und deine Empfindungen verächtlich zurückweist. Denn seine Geliebte ist ein Weib von so berückender, so überwältigender Körperschönheit, daß du mit deinen wenigen verblühten Reizen allerdings nicht mit ihr wetteifern kannst.« Das, meine lieben Freunde, war die Wirkung der Schutzimpfung. Ich habe sie euch nur geschildert, damit ihr euch vor diesem Zaubermittel bewahren könnt.

HERMANN

HESSE

Hans Arnstein Schon gut, junge Leute, quälet mich nicht. Ich will euch also etwas aus meinen Studentenjahren erzählen, das von der schönen Salome und meinem lieben Hans Arnstein. Nur müsset ihr stillhalten und dürfet nicht glauben, es handle sich um so eine Studentenliebelei. Zu lachen ist nichts dabei. Und gebt mir noch ein Glas Wein her! Nein, vom Weißen. Fenster zumachen? Nein, Verehrtester, laß es nur donnern, es paßt mir 88

in die Geschichte. Wetterleuchten, Donner und schwüle Nacht, das ist die Stimmung. Ihr modernen Herren sollet sehen, daß wir seinerzeit auch unser Stück erlebt haben, dick und dünn, wie es kam, und nicht zu wenig. H a b t ihr auch zu trinken? Ich bin schon f r ü h ohne Eltern gewesen und habe fast alle meine Ferien beim Onkel Otto droben verbummelt, in seinem steinigen Schwarzwaldnest, zwischen Obstessen, Räubergeschichten und Forellenangeln, denn in alledem teilte ich als dankbarer N e f f e meines Onkels Geschmack vollkommen. Ich kam im Sommer, im Herbst und an Weihnachten, mit schmalem Ranzen und leerem Sack, f r a ß mich da droben feist und rot, verliebte mich jedesmal ein wenig in die teure Cousine und vergaß es auf Schulen wieder, denn es saß nicht so tief. Ich rauchte mit dem Onkel um die Wette seine giftigen Italiener, ging mit ihm angeln, las ihm aus seiner höchst kriminellen Bibliothek vor und begleitete ihn womöglich abends zum Bier. Das alles war nicht schlecht und kam mir löblich und männlich vor, wenn auch die blonde Cousine zuweilen bittende oder vorwurfsvolle Augen machte; sie war eben eine sanfte N a t u r und hatte keinen Sinn fürs Martialische. In den letzten Sommerferien vor der Studentenzeit war ich wieder beim Onkel, großmäulig, hoffärtig und ins K r a u t geschossen, wie Abiturienten sein müssen. Da kam eines Tages ein neuer Oberförster aufgezogen. Es war ein guter, stiller Mensch, »unjung und nicht mehr ganz gesund«, der da seinen Altersposten gefunden hatte. Man sah im Augenblick, er würde wenig von sich reden machen. Er brachte einen schönen Hausrat mit, denn er war reich, ferner wundervolle Hunde, ein langschwänziges, zartes Pferdchen samt einem zierlichen Gefährt, beide f ü r die Gegend viel zu leicht, schönes Schießgewehr und eine neumodische englische Angelausrüstung, alles sehr nett und sauber und wohlhabend. Das alles wäre ja auch schön und erfreulich gewesen. Aber was außerdem noch mitkam, war eine Adoptivtochter namens Salome, die freilich alles andere in Schatten stellte. Weiß Gott, wie das wilde Kind gerade zu dem ernsten, ruhigen Mann gekommen ist! Sie war eine ganz exotische Pflanze, von einem entfernten Vetter irgendwo aus 89

Brasilien oder Feuerland her, schön und sonderbar anzusehen und von absonderlichen Manieren. Ihr wollt natürlich wissen, wie sie aussah. Das ist nicht so einfach - sie sah eben vor allem auffallend und exotisch aus. Ziemlich groß, nahe an zwanzig, tadellos gewachsen, so daß vom Nacken bis auf die Füße alles gesund und erfreulich erschien, namentlich Hals, Schultern, Arme und Hände waren kräftig, gedrungen und dabei beweglich und nobel. Das Haar üppig, dick, lang, von einem dunklen Blond, um die Stirn herum ein wenig lockig, hinten in ein großes Bündel geknüpft und mit einem Pfeil durchstochen. Vom Gesicht will ich nicht zu viel sagen, es war vielleicht zu voll und der Mund vielleicht ein wenig groß, aber man blieb immer an den Augen hängen. Sie waren übergroß und goldbraun und standen ein wenig vor. Wenn sie, wie gewöhnlich, vor sich hinstarrte und lächelte und die Augen groß machte, war es wie ein Bild. Aber wenn sie einen ansah, war man verwirrt. Sie schaute so unbekümmert drauf los, bald musternd, bald gleichgültig, ohne irgendeine Spur von Genieren oder Mädchenhaftigkeit. Nicht gerade frech, vielmehr wie ein schönes Tier, unverstellt und ohne alle Geheimnisse. Und so führte sie sich auch auf. Was ihr gefiel oder nicht gefiel, verhehlte sie nicht; wenn ein Gespräch ihr langweilig war, schwieg sie hartnäckig still und blickte beiseite oder sah einen so ennuyiert an, daß man sich schämte. Die Folgen sind klar. Die Frauenzimmer fanden sie unmöglich, die Männer waren für sie entflammt. Daß ich mich eiligst in sie verliebte, versteht sich eo ipso. Es verliebten sich in sie aber auch die Forstgehilfen, der Apotheker, die jüngeren Schullehrer, der Vizeamtmann, die Söhne der reichen Holzhändler, des Fabrikanten und des Doktors. Da die schöne Salome sich mit aller Freiheit bewegte, allein spazieren ging, eine Menge Besuche machte und in ihrem zierlichen Wägelein rings im Lande herumkutschierte, war die Annäherung nicht schwer, und sie sammelte in kurzer Zeit eine schöne Zahl von Liebesgeständnissen ein. Einmal kam sie zu uns, Onkel und Cousine waren nicht da, und sie setzte sich zu mir auf die Gartenbank. Die Dirlitzen 9o

waren schon rot, das Beerenzeug reif, und Salome griff behaglich hinter sich in die Stachelbeeren. Nebenher nahm sie am Gespräche teil, und wir waren bald so weit, daß ich mit feuerrotem Gesicht ihr erklärte, ich sei rasend in sie verliebt. Oh, das ist nett, war die Antwort. Sie gefallen mir ganz gut. Kennen Sie den älteren Griebel? Den Karl? O ja, gut. Das ist auch ein reizender junger Mann, er hat so schöne Augen. Er ist auch in mich verliebt. H a t er es Ihnen selber gesagt? Gewiß, vorgestern. Es war drollig. Sie lachte laut und legte dabei den Kopf zurück, so daß ich auf ihrem weißen, runden Hals die Adern sich bewegen sah. Ich hätte nun gern ihre Hand genommen, wagte es aber nicht, sondern streckte ihr nur die meine fragend entgegen. Da legte sie mir ein paar Stachelbeeren in die offene Hand, sagte Adieu und ging davon. Ich sah nun allmählich, wie sie mit allen den Anbetern ihr Spiel hatte und sich über uns amüsierte, und ertrug von da an meine Verliebtheit wie ein Fieber oder eine Seekrankheit, die ich mit vielen andern teilte und von der ich hoffte, sie würde einmal aufhören und mir nicht das Leben kosten. Immerhin hatte ich böse Nächte und Tage . . . Ist noch Wein da? Danke. - Also so standen die Sachen, und zwar nicht nur in jenem Sommer, sondern mehr als ein Jahr lang. Hier und da fiel etwa einer der Liebhaber verdrossen ab und suchte andere Gehege auf, hier und da kam ein neuer dazu, aber Salome blieb unverändert, bald fidel, bald still, bald höhnisch, und schien sich dabei herzlich wohl und belustigt zu fühlen. Und ich gewöhnte mich daran, jedesmal in den Ferien einen Rückfall in die heftigste Verliebtheit wie ein der Gegend eigentümliches Fieber zu bekommen und aushalten zu müssen. Ein Leidensgenosse teilte mir im Vertrauen mit, wir seien Esel gewesen, ihr Erklärungen zu machen, da sie unverhohlen des öftern den Wunsch geäußert habe, alle Männer in sich verliebt zu wissen, und darum den wenigen Standhaften mit äußerstem Entgegenkommen um den Bart gehe.

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Unterdessen war ich in Tübingen in die Burschenschaft eingetreten und brachte mit Trinken, Schlagen und Bummeln zwei muntere Semester hin. In dieser Zeit war Hans Arnstein mein Intimus geworden. Wir waren gleich alt, beide begeisterte Burschenschafter und weniger begeisterte Medizinstudenten, wir trieben beide viel Musik und wurden einander allmählich unentbehrlich trotz mancher Reibereien. Schon an Weihnachten war Hans mit mir des Onkels Gast gewesen, denn auch er hatte längst keine Eltern mehr. Sehr wider mein Erwarten blieb er aber nicht an der schönen Salome, sondern an meiner blonden Cousine hängen. Auch hatte er schon das Zeug, sich angenehm zu machen. Er war ein feiner und hübscher Mensch, machte gute Musik und war nicht aufs Maul gefallen. So sah ich mit Wohlbehagen zu, wie er sich um das Bäschen bemühte, und wie sie gern nachgab und sich anschickte, den drolligen Kampf mit ihrer bisherigen Sprödigkeit mehr und mehr zum Scheingefecht werden zu lassen. Ich selber lief nach wie vor auf allen Wegen, wo mir etwa die Salome begegnen konnte. An Ostern kamen wir wieder, und während ich den Onkel beim Angeln festhielt, machte mein Freund rasche Fortschritte bei der Cousine. Diesmal war Salome ziemlich häufig bei uns, versuchte mit Erfolg, mich toll zu machen, und sah dem Spiel zwischen Hans und Berta aufmerksam und mit scheinbarem Wohlwollen zu. Wir machten Waldspaziergänge, fischten, suchten Anemonen, und während die Salome mir den Kopf vollends verdrehte, ließ sie die andern beiden nicht aus den Augen, musterte sie überlegen und spöttisch und gab mir unehrerbietige Bemerkungen über Liebe und Brautglück zum besten. Einmal erwischte ich ihre Hand und küßte sie eilig, da spielte sie die Empörte und wollte Revanche haben. Ich werde Sie dafür in den Finger beißen. Geben Sie her! Ich streckte ihr einen Finger hin und spürte ihre großen, gleichmäßigen Zähne im Fleisch. Soll ich noch fester beißen? Ich nickte, da floß auch schon Blut in meine Hand, und sie ließ mich mit Gelächter los. Es tat scheußlich weh, und man sah es noch lange. Als wir wieder in Tübingen saßen, teilte Hans mir mit, er 92

sei mit Berta einig und hoffe, sich im Sommer zu verloben. Ich besorgte in diesem Semester ein paar Briefe hin und her, und im August saßen wir beide wieder an des Onkels Tisch. Mit dem Onkel hatte H a n s noch nicht gesprochen, doch schien dieser die Sache schon gerochen zu haben, und es war nicht zu fürchten, daß er Schwierigkeiten machen würde. Da kam eines Tages die Salome wieder zu uns, ließ ihre scharfen Blicke herumgehen und kam auf den verdammten Einfall, der sanften Berta einen Possen zu spielen. Wie sie dem harmlosen Arnstein flattierte, ihn in ihre N ä h e nötigte und mit Gewalt verliebt zu machen suchte, war einfach nimmer schön. Er ging gutmütig darauf ein und es wäre ein Wunder gewesen, wenn ihm diese Blicke und dies Anschmiegen und Sichergeben nicht heiß gemacht hätten. Doch blieb er fest und hatte schon den Sonntag bestimmt, an dem er den Onkel überrumpeln und Verlobung feiern wollte. Das blonde Kusinchen strahlte schon so bräutlich und verschämt wie möglich. Wir Freunde schliefen in zwei benachbarten Stübchen im Erdgeschoß mit einem niederen Fenster, durch das man morgens mit einem kleinen Sprung in den Garten kommen konnte. Eines Nachmittags war die schöne Salome wieder stundenlang da; Berta hatte im Haus zu tun, so nahm jene meinen Freund ganz in Anspruch und brachte mich durch die kühne und doch feine Art, wie sie sich ihm hinwarf, fast zum Platzen, so daß ich schließlich ausriß und sie dummerweise mit ihm allein ließ. Als ich am Abend wiederkam, war sie fort, aber mein armer Freund hatte Falten auf der Stirn, machte schlimme Augen und sprach von Kopfweh, als er sah, daß sein verstörtes Wesen auffiel. Ja, Kopfweh, dachte ich und schleppte ihn beiseite. Was ist mit dir? fragte ich ernstlich, ich will's wissen. Nichts, es kommt von der Hitze, kniff er aus. Aber ich verbat mir das Anlügen und fragte direkt, ob ihm die Oberförsterstochter den Kopf verdreht habe. Unsinn, laß mich! sagte er, machte sich von mir los und sah scheußlich elend aus. Ich kannte das ja ungefähr auch, aber er tat mir erbärmlich leid; sein Gesicht war verzogen und zerrissen und der ganze Mensch sah jammervoll verhetzt 93

und leidend aus. Ich mußte ihn in Ruhe lassen. Auch mir war über dem Kokettieren wund und weh um Salome geworden, und ich hätte mir die leidige Verliebtheit gern mit blutenden Wurzeln aus der Seele gerissen. Meine Achtung für Salome war längst dahin, jede Magd kam mir ehrbarer vor als sie, aber da half nichts, sie hatte mich bei den Haaren; sie war zu schön und zu aufreizend, da war kein Loskommen möglich. Ja, nun donnert's draußen wieder. Es war damals ein ähnlicher Abend, heiß und gewitterig, und wir beide saßen allein in der Laube beisammen, redeten fast nichts und tranken Kaiserstühler. Namentlich ich war durstig und mißmutig und trank von dem kühlen Weißen Glas für Glas. Hans war elend und starrte traurig und bekümmert in den Wein, das vertrocknende Laub der Büsche roch stark und wurde von einem warmen, bösartigen Wind jeweils geschüttelt. Es wurde neun Uhr und zehn Uhr, kein Gespräch kam auf, wir hockten da und machten alte, sorgenvolle Gesichter, sahen den Wein im großen Glaskrug abnehmen und den Garten dunkel werden, dann gingen wir still auseinander, er zur Haustür, ich durchs Fenster in meine Stube. Dort war es heiß, ich setzte mich im Hemd auf einen Stuhl, steckte eine Pfeife an und sah aufgeregt und melancholisch in die Finsternis hinein. Es hätte Mondschein geben sollen, aber der Himmel stand voll von Wolken, und in der Ferne hörte man zwei Gewitter miteinander zanken. Es ging so eine schwüle Luft - aber was hilft das schöne Schildern, ich muß nun doch darauf kommen, auf die verdammte Geschichte. Die Pfeife war mir ausgegangen, und ich hatte mich ganz schlaff aufs Bett gelegt, den Schädel voll von dummen Gedanken. Da gibt's ein Geräusch am Fenster. Eine Gestalt steht da und schaut vorsichtig ins Zimmer hinein. Ich weiß selber nicht, warum ich still liegen blieb und keinen Ton von mir gab. Die Gestalt verschwindet und geht drei Schritte weiter, an Hansens Stubenfenster. Sie bewegte den Fensterflügel, klirrte ein wenig damit. Dann wieder Stille. 94

Da rief es leise: Hans Arnstein!, und mir lief es bis in die Haare hinauf, als ich die Stimme der Salome erkannte. Ich konnte kein Glied mehr rühren und lauschte scharf und wild wie ein Jäger hinüber. Herrgott, Herrgott, was sollte das werden! Und jetzt wieder die Stimme: Hans Arnstein! Leise, scharf und eindringlich. Mir lief der Schweiß den Hals hinunter. In der Stube meines Freundes gab es ein wenig Geräusch. Er stand auf, kleidete sich flüchtig an und ging zum Fenster. Es wurde geflüstert, heftig und heiß, aber unheimlich leise. Herrgott! Herrgott! Mir tat alles weh, ich wollte aufstehen oder schreien, aber ich blieb ruhig liegen und war selber darüber verwundert. Der Durst und der herbe Nachgeschmack vom Wein brachten mich beinahe um. Und es gab wieder ein kleines Geräusch, und gleich darauf stand Hans Arnstein neben dem Mädchen im Garten. Zuerst jedes für sich, dann traten sie zusammen und drückten sich still und schrecklich aneinander, als würden sie mit einem Strick geschnürt. Und so aneinandergepreßt, daß sie kaum die Füße bewegen konnten, gingen sie langsam durch den Garten, an der Laube und am Brunnen vorbei und durch die Pforte gegen den Wald. Ich sah sie, mit angestrengten Augen, und zweimal kam das Wetterleuchten mir zu Hilfe . . . - Seid Ihr nicht durstig? So trinket doch! — Ja, das ist nun erzählt. Aber weiter! Sie hatte ihn sich geholt, bei Nacht aus dem Bett, und ich wußte, daß er nun nimmermehr von ihr loskäme, da sie ihn da draußen im Wald hatte und mit süßen Worten und kecken Liebkosungen gefangennahm. Ich wußte aber auch, daß Hans bei aller Munterkeit ein Pflichtenmensch war, viel strenger als ich, und daß er da draußen keinen Kuß empfing und gab, ohne daß das Wissen um die betrogene Berta ihm die Seele zerriß. Und zugleich mußte ich daran denken, daß es meine schwere Pflicht war, ihn morgen ins Gebet zu nehmen. Zu dem allem kam die angenehme Vorstellung, meine Angebetete bei Nacht mit einem Mann im Walde zu wissen. Endlich raffte ich mich auf, einen Schluck Wasser zu nehmen, und legte mich dann auf den kühlen Fußboden, bis nach einer Stunde mein Freund leise und langsam zurückkam und durchs Fenster stieg. Ich hörte 95

ihn hart Atem holen und noch lange in Socken auf und ab gehen, bis ich einschlief. Schon früh erwachte ich wieder, noch vor fünf Uhr, zog mich an und ging vor Hansens Fenster. Er lag im zerwühlten Bett und schlief einen tiefen, schweren Schlaf, er hatte Schweiß auf der Stirn und sah elend aus. Ich lief ins Feld hinaus, sah still und abseits die kleine, schmucke Forstei liegen und Wiesen, Obstgärten, Acker und Wald wie sonst. Mein Kopf war wüster als je nach einer Kneiperei und eine kleine Weile kam mir im Hinschlendern das Geschehene ganz abhanden wie ein Alp, der beim Erwachen fort ist, als wäre nichts gewesen. Als ich wieder in den Garten kam, stand mein Freund an seinem Fenster im Erdgeschoß, wandte sich aber, als er mich sah, sogleich ins Zimmer zurück. Diese kleine, feige Gebärde des bösen Gewissens tat mir unsäglich weh. Doch half das Bedauern nichts. Ich stieg zu ihm hinein. Als er sich nun mir zuwandte, erschrak ich stark, denn er sah grau und zerfurcht im Gesicht aus und hielt sich so mühsam auf den Beinen wie ein überjagter Gaul. Was hast du, Hans? fragte ich. Ach nichts. Ich hab nicht geschlafen. Die Schwüle bringt einen ja um. Aber er wich meinen Augen aus und ich fühlte noch einmal denselben bösen Schmerz wie vorher, als er vor mir vom Fenster floh. Ich setzte mich aufs Gesimse und sah ihn an. Hans, sagte ich, ich weiß, wer bei dir gewesen ist. Was hat die Salome mit dir angefangen? Da sah er mich an, hilflos und schmerzlich, wie ein Wild beim Schuß. Laß gut sein, sagte er, laß nur gut sein. Es hilft ja nichts. Nein, mußte ich sagen, du bist mir Antwort schuldig. Ich will nichts von der Berta sagen und von ihres Vaters Haus, wo wir zu Gast sind. Das ist nicht die Hauptsache. Aber was soll aus uns werden, aus dir und aus mir und aus dieser Salome? Wirst du nächste Nacht wieder mit ihr da hinausgehen, Hans? Er stöhnte. Ich weiß nicht. Ich kann jetzt kein Wort sagen. Nachher, nachher. 96

D a war einstweilen nichts zu wollen. Ich ging zum Kaffee hinauf und sagte droben, H a n s schlafe noch. D a n n nahm ich eine Rute und wollte in die kühle Schlucht zum Angeln gehen. Es trieb mich aber wider Willen vor die Forstei. Dort legte ich mich am Weg in die Haselbüsche und wartete und spürte kaum, wie gottlos heiß und schwül der Morgen war. Darüber schlief ich ein wenig ein und als ich aufwachte, war's von Hufschlag und Stimmen. Die schöne Salome f u h r mit einem Forstgehilfen in ihrem kleinen Wagen zum Wald, hatte Angelzeug und Fischkorb mit und lachte wie eine Lerche in den Morgen hinein. Der junge Forstmann hielt einen Sonnenschirm über sie ausgespannt, während sie kutschierte, und lachte ein bißchen verlegen mit. Sie war hell und leicht gekleidet, mit einem riesengroßen dünnen Strohhut und sah so frisch und froh und glücklich aus wie ein Kind am ersten Ferientag. Ich dachte an meinen H a n s und an sein graues Armsündergesicht, war verwirrt und erstaunt und hätte sie viel lieber traurig gesehen. Der Wagen f u h r im muntern T r a b talabwärts und war bald verschwunden. Vielleicht wäre es nun gut gewesen, nach Hause zu gehen und nach H a n s zu schauen. Mir graute aber davor und ich ging statt dessen dem Wagen nach zur Schlucht hinunter. Ich glaubte, ich tue es aus Mitleid mit meinem Freund und aus Verlangen nach Kühle und Waldstille, aber wahrscheinlich ist es mehr das schöne, sonderbare Mädchen gewesen, das mich gezogen hat. Wirklich begegnete mir weiter unten ihr umkehrender Wagen, vom Forstgehilfen langsam kutschiert, und ich wußte nun, daß ich sie am Forellenbach finden würde. D a spürte ich, obwohl ich längst im Waldschatten war, auf einmal die große Schwüle, ich ging langsamer und begann mir den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Als ich an den Bach kam, sah ich das Mädchen noch nicht und ich machte eine Rast und steckte den Kopf ins kalte schnelle Wasser, bis ich fror. Dann ging ich behutsam über die Felsen bachabwärts. Das Wasser schäumte und lärmte und ich glitt jeden Augenblick auf den nassen Steinen aus, weil ich fortwährend spionierte, wo Salome wohl sei. D a stand sie denn auch plötzlich erschreckend nah hinter einem moosigen Block, mit aufgerafften Kleidern und b a r f u ß 97

bis an die Knie. Ich blieb stehen und verlor ganz den Atem darüber, sie so schön und frisch und allein vor mir zu sehen. Einer ihrer Füße stand im Wasser und verschwand im Schaum, der andere trat ins Moos und war weiß und schön geformt. Guten Morgen, Fräulein. Sie nickte mir zu und ich stellte mich in nächster Nähe auf, rollte die Schnur vom Stock und fing zu angeln an. Sprechen mochte ich nicht, aber auch die Fischerei war mir nicht wichtig, ich war zu müd und zu dumm im Kopf. Darum ließ ich die Angel hängen und fing keinen Schwanz, und als ich zu merken glaubte, daß Salome sich darüber amüsierte und Grimassen schnitt, legte ich die Rute weg und setzte mich ein wenig beiseite in die moosigen Felsen. Da saß ich nun faul in der Kühle und schaute ihr zu, wie sie hantierte und wartete. Es ging nicht sehr lang, da hörte auch sie auf, sich anzustrengen, sie spritzte eine Hand voll Wasser zu mir herüber und fragte: Soll ich auch kommen? Nun fing sie an ihre Strümpfe und Schuhe anzulegen, und als sie einen anhatte, fragte sie: Warum helfen Sie mir nicht? Ich halte es für unschicklich, antwortete ich. Sie fragte naiv: Warum? worauf ich keine Antwort wußte. Es war für mich eine sonderbare Stunde und keineswegs angenehm. Je schöner das Mädchen mir erschien und je vertraulicher sie nun mit mir tat, desto mehr mußte ich an meinen Freund Hans Arnstein und an die Berta denken und fühlte einen Zorn gegen Salome in mir anwachsen, die mit uns allen spielte und zu ihrem Zeitvertreib uns drei unglücklich gemacht hatte. Es schien mir jetzt Zeit, gegen mein leidiges Verliebtsein zu kämpfen und der Spielerei womöglich ein Ende zu machen. Ich fragte: Darf ich Sie nach Hause begleiten? Ich bleibe noch hier, sagte sie, Sie nicht? Nein, ich gehe. Oh, Sie wollen mich ganz allein lassen? Es wäre so hübsch, noch ein bißchen dazusitzen und zu schwatzen. Sie plaudern oft so lustig. Ich stand auf. Fräulein Salome, sagte ich, Sie sind gar zu liebenswürdig. Ich muß jetzt gehen. Sie haben ja Männer genug, mit denen Sie spielen können. 98

Sie lachte hell auf. D a n n adieu! rief sie lustig, und ich ging davon wie geschlagen. Es war nicht möglich, dem Mädchen irgendein ernstes Wort abzuzwingen. Unterwegs kam mir noch einmal der Gedanke, sie zu nehmen wie sie einmal war, umzukehren und die Stunde zu benutzen. Aber ihre Art, sich gleichsam wegzuwerfen, war so, daß ich mich schämte, darauf einzugehen. U n d wie hätte ich dann noch mit H a n s reden sollen? Als ich nach Hause kam, hatte H a n s auf mich gewartet und zog mich gleich in sein Stüblein. Was er mir sagte, war alles ziemlich klar und verständlich, verwirrte mich aber trotzdem. Er war so von Salome besessen, daß von der armen Berta kaum mehr die Rede war. Immerhin sah er ein, d a ß er nicht länger Gast im Hause sein dürfe, und kündigte auf den Nachmittag seine Abreise an. Das war deutlich und begreiflich und ich konnte nichts dagegen sagen; nur nahm ich ihm das Versprechen ab, ehrlich mit Berta zu reden, ehe er ausreiße. N u n kam aber die Hauptsache. D a H a n s vor unklaren und zweideutigen Verhältnissen seiner ganzen N a t u r nach einen Abscheu hatte, wollte er sogleich die Salome sich sichern und ihr Wort oder das ihres Pflegevaters mitnehmen, da er ohnehin sonst kaum eine Erlaubnis haben werde, unser Nest wieder aufzusuchen. Vergeblich riet ich ihm, abzuwarten. Er war heillos aufgeregt und erst später fiel mir ein, daß wahrscheinlich sein empfindliches Ehrgefühl darauf bestand, aus der f ü r ihn nicht eben ehrenvollen Verwicklung irgendwie als Sieger hervorzugehen und seine bis jetzt doch nicht schuldlose Leidenschaft durch eine entscheidende H a l t u n g vor sich selber und vor den Leuten zu rechtfertigen. Ich gab mir alle Mühe, ihn umzustimmen. Ich machte sogar die von mir selber geliebte Salome schlecht, indem ich andeutete, ihre Leidenschaft f ü r ihn sei wohl nicht echt und nur eine kleine Eitelkeit gewesen, über die sie vielleicht schon wieder lache. Es war umsonst, er hörte kaum zu. U n d dann bat er mich flehentlich, mit ihm in die Oberförsterei zu gehen. Er selber 99

war schon im Gehrock. Mir war sonderbar genug dabei zumute. Ich sollte ihm nun das Mädchen freien helfen, in die ich selber seit so und so viel Semestern, wenn schon hoffnungslos, verliebt war. Es gab keinen kleinen Kampf. Aber schließlich gab ich nach, denn Hans war von einem so ungewohnten, leidenschaftlichen Geist beseelt, als regiere ihn irgendein Dämon, dem nicht zu widerstehen war. Also zog auch ich den schwarzen Rock an und ging mit Hans Arnstein ins Haus des Oberförsters. Der Gang war für uns beide eine Qual, dabei war es höllisch heiß, es ging gegen Mittag, und ich konnte im zugeknöpften Staatsrock kaum mehr Luft bekommen. Meine Aufgabe war, vor allem den Oberförster festzuhalten und Hans eine Unterredung mit Salome zu ermöglichen. Die Magd führte uns in die schöne Besuchsstube, der Oberförster und seine Tochter kamen gleichzeitig herein, und bald ging ich mit dem Alten ins Nebenzimmer, um mir ein paar Jagdflinten zeigen zu lassen. Die beiden andern blieben allein im Besuchszimmer zurück. Der Oberförster war auf seine feine ruhige Art freundlich gegen mich, und ich besah jede Flinte so umständlich als möglich. Doch war mir gar nicht wohl dabei, denn ich hatte beständig ein Ohr auf das Nebenzimmer gespitzt, und was ich dort vernahm, war nicht geeignet, mich zu beruhigen. Die anfänglich halblaute Unterhaltung der beiden war bald zu einem Flüstern geworden, das eine gute Weile dauerte, dann wurden einzelne Ausrufe hörbar, und plötzlich, nachdem ich minutenlang in peinlicher Bangigkeit gehorcht und Komödie gespielt hatte, vernahm ich, und leider auch der Oberförster, Hans Arnsteins Stimme aufgeregt und mit einem überlauten, fast schreienden Ton. Was gibt's denn? rief der Oberförster und riß die Tür auf. Salome war aufgestanden und sagte ruhig: Herr Arnstein hat mich mit einem Antrag beehrt, Papa. Ich glaubte ihn ablehnen zu müssen — Hans war außer sich. Daß du dich nicht schämst! rief er heftig. Erst hast du mich fast mit Gewalt von der andern v/eggezogen und jetzt — ioo

Der Oberförster unterbrach ihn. Sehr kühl und ein wenig hochmütig bat er um Erklärung der Szene. D a nun H a n s nach längerem Schweigen mit mühsam gedämpfter, vor Zorn und Aufregung keuchender Stimme zu berichten anfing, sich verwirrte und ins Stocken geriet, glaubte ich eingreifen zu müssen und habe damit wahrscheinlich die ganze Sache vollends verdorben. Ich bat den Oberförster um eine kurze Unterredung und erzählte ihm alles, was ich wußte. Ich verschwieg keine von den kleinen Künsten, mit denen Salome meinen Freund an sich gezogen hatte. Ich verschwieg auch nicht, was ich in der N a c h t gesehen hatte. Der alte H e r r erwiderte keinen Ton, er hörte aufmerksam zu, schloß die Augen und machte ein leidendes Gesicht. N a c h fünf Minuten waren wir schon wieder im Besuchszimmer, wo wir Hans allein wartend fanden. Ich höre da merkwürdige Sachen, sagte der Oberförster mit künstlich fester Stimme, immerhin scheint meine Tochter Ihnen einige Avancen gemacht zu haben. N u r vergaßen Sie, d a ß Salome noch ein Kind ist. Ein Kind, sagte er, ein Kind! Ich werde das Mädchen zur Rede stellen und erwarte Sie morgen um diese Zeit zu einer weiteren Aussprache. Mit einer steifen Gebärde entließ er uns und wir schlichen still und demütig nach Hause. Plötzlich mußten wir aber eilen, denn über unserem Städtchen brach ein tolles Gewitter aus, und trotz aller Sorge im Herzen liefen wir doch wie die Windhunde, um unsere Staatsröcke zu retten. Beim Mittagessen war mein Onkel von einer gewaltsamen heiteren Laune, wir drei jungen Leute hatten aber weder zum Essen noch zum Reden viel Lust. Berta hatte einstweilen nur gefühlt, daß H a n s ihr irgendwie entfremdet sei, und blickte nun traurig und angstvoll bald mich, bald den Arnstein an, daß es einem bis in die Knochen ging. N a c h dem Essen legten wir uns mit Zigarren auf den Holzbalkon und hörten dem Donnern zu. Auf dem glühenden Erdboden verdampfte der Regen in Schwaden und füllte alle Wiesen und Gärten mit Nebel an, die Luft war voll von Wasserdunst und starkem Grasgeruch. Ich mochte nicht mit 101

Hans sprechen, ein Gefühl von Ärger und Bitterkeit befiel mich gegen ihn, und so oft ich ihn ansah, fiel der Anblick von gestern mir wieder ein, wie er und das Mädchen stumm und mit Gewalt aneinandergepreßt den Garten verließen. Ich machte mir bittere Vorwürfe darüber, daß ich das Nachtabenteuer dem Oberförster verraten hatte, und ich erfuhr, wie schwer man um ein Weib leiden kann, auch wenn man verzichtet hat und sie nicht einmal mehr haben möchte. Plötzlich ging die Balkontür auf, und es trat eine große, dunkle Gestalt herein, von Regen triefend. Erst als sie den langen Mantel auseinanderschlug, erkannte ich die schöne Salome, und ehe noch ein Wort gesprochen war, drückte ich mich an ihr vorbei durch die Tür, die sie sogleich schloß. In der Wohnstube saß Berta bei einer Handarbeit und sah bekümmert aus. Einen Augenblick überwog in mir das Mitleid mit dem verlassenen Mädchen alles andere. Berta, auf dem Balkon ist die Salome beim Hans Arnstein, sagte ich zu ihr. Da stand sie auf, legte ihre Arbeit weg und wurde weiß im Gesicht. Ich sah, wie sie zitterte, und ich dachte, sie würde nun sogleich in Tränen ausbrechen. Aber sie biß sich in die Lippen und blieb stramm. Ich muß hinübergehen, sagte sie plötzlich und ging. Ich schaute zu, wie sie sich steif aufrecht hielt, wie sie die Balkontür aufmachte und hinter sich wieder schloß. Eine Weile sah ich die Tür an und versuchte mir vorzustellen, was jetzt da draußen geschehe. Aber ich hatte nichts dabei zu tun. Ich ging in meine Stube hinunter, legte mich auf zwei Stühle, rauchte und hörte dem Regen zu. Ich versuchte mir vorzustellen, was nun droben zwischen den dreien vorgehe, und diesmal war mir's am meisten um die Berta leid. Der Regen hatte längst aufgehört, und der warme Boden war schon fast überall wieder trocken. Ich ging in die Wohnstube hinauf, wo Berta den Tisch deckte. Ist die Salome fort? fragte ich. Schon lange. Wo warst du denn? Ich habe geschlafen. Wo ist Hans? Ausgegangen. Was habt ihr miteinander gehabt? 102

Ach, laß mich! Nein, ich ließ sie nicht; sie mußte erzählen. Sie tat es leise und ruhig und sah mich aus einem blassen Gesichtchen heraus mit stiller Festigkeit an. Das sanfte Mädchen war tapferer, als ich geglaubt hatte, und vielleicht tapferer als wir beiden Männer. Als Berta den Balkon betreten hatte, war H a n s vor der hochmütig aufgerichteten Salome gekniet. Die Berta nahm sich mit Gewalt zusammen. Sie zwang den Arnstein, aufzustehen und ihr Rechenschaft zu geben. D a berichtete er ihr alles, die Salome aber stand daneben, hörte zu und lachte zuweilen. Als er zu Ende war, entstand ein Schweigen und dauerte so lange, bis die Salome ihren Mantel wieder umnahm und gehen wollte. D a sagte Berta: Du bleibst da! und zu H a n s : Sie hat dich eingefangen, jetzt muß sie dich auch haben; zwischen mir und dir ist es ja doch vorbei! Was die Salome nun antwortete, erfuhr ich nicht genau. Aber es m u ß bös gewesen sein - sie hat kein H e r z im Leib, sagte Berta — und als sie dann zur Tür ging, wurde sie von niemand mehr zurückgehalten und ging unbegleitet die Treppe hinunter. H a n s aber bat mein armes Kusinchen um Verzeihung. Er werde noch heute fortgehen, sie möge ihn vergessen, er sei ihrer nicht wert gewesen und dergleichen. U n d er war weggegangen. Als Berta mir das erzählt hatte, wollte ich irgend etwas Tröstendes antworten. Aber ehe ich ein Wort herausbrachte, hatte sie sich über den halbgedeckten Tisch geworfen und wurde von einem unheimlichen Schluchzen geschüttelt. Sie litt keine Berührung und kein Wort, ich konnte nur daneben stehen und zuwarten, bis sie wieder zu sich kam. Geh, geh doch! sagte sie endlich und ich ging. Als H a n s zum Abendessen noch nicht zurück war und auch auf die N a c h t nicht heimkam, war ich nicht sehr erstaunt. Vermutlich war er abgereist. Z w a r war sein kleiner Koffer noch da, doch würde er schon darum schreiben. Sehr nobel war diese Flucht nicht, aber durchaus nicht unbegreiflich. Schlimm war nur das, daß ich jetzt genötigt war, dem Onkel die leidigen Affären mitzuteilen. Es gab ein gewaltiges Unwetter, und ich zog mich sehr f r ü h auf meine Bude zurück. 103

Am andern Morgen weckt mich Gespräch und Geräusch vor dem Haus. Es war kaum fünf Uhr vorbei. Dann wird die Torglocke gezogen. Ich schlüpfe in die Hosen und gehe hinaus. Auf ein paar Fichtenästen liegt Hans Arnstein in seinem grauen, wollenen Ferienrock. Ein Waldschütz und drei Holzarbeiter haben ihn gebracht. Natürlich sind auch schon ein paar Zuschauer da. Weiter? Nein, mein Bester. Die Geschichte ist aus. Heutzutage sind ja Studentenselbstmorde keine Raritäten mehr, aber damals hatte man Respekt vor Leben und Tod, und man hat von meinem Hans noch lange gesprochen. Und auch ich habe der leichtsinnigen Salome bis heute nicht verziehen. Na, sie hat wohl ein gutes Teil abgebüßt. Damals nahm sie es nicht schwer, aber es kam auch für sie eine Zeit, wo sie das Leben ernst nehmen mußte. Sie hat keinen leichten Weg gehabt, sie ist auch nicht alt geworden. Es wäre noch eine Geschichte! Aber nicht für heute. Wollen wir noch eine Bouteille anbrechen?

HEINRICH

MANN

Die Branzilla I Die junge Sängerin verließ das Klavier und ging der dahinten noch lauschenden Gesellschaft entgegen. Ganz allein ging sie zwischen den Säulen, den Büsten mit pomphaft zurückgeworfenen Perückenköpfen über den weiten, spiegelnden Steinboden. Sie streckte sich sehr gerade, sah senkrecht vor sich hin; und die Arme ausgebreitet, hielt sie zwei blasse Fingerspitzen an ihrem großen, runden Rock, der sich rings um sie her am Estrich zerdrückte, wie sie vor der Prinzessin das Knie bog. Die Prinzessin bot ihr gnädig die Bonbonniere. »Welch einen Engel diese Kleine in der Kehle hat!« Die alten Frauen bewegten befriedigt die Fächer und lächelten ihren 104

alten Galans zu, die sich räusperten und von Erinnerungen anfingen. Die jungen Männer zogen die Köpfe in die hohen Kragen ihrer braunen Röcke, ließen ihre Lorgnons gesenkt und preßten bleich die Lippen aufeinander. Eins der jungen Mädchen, das begehrteste von Rom, stand plötzlich auf die gestickten Kränze ihres Saumes schaukelten über ihren kleinen Schuhen - und warf die Arme um die Branzilla. »Wie Ihr glücklich sein müßt!« flüsterte sie am Halse der Sängerin. »Alle Liebe gehört Euch. In Eurer Stimme ist alle Liebe der Welt.« Aber sie verwirrte sich unter dem harten und traurigen Blick aus den Augen der anderen. Sie trat zurück; die Branzilla stand wieder allein: ihr klares Vogelprofil gegen den H a u f e n gerichtet, den sie bewegt hatte. Hinter ihr seufzte es. Einer ihres Alters, einer in schwarzer Seide, richtete Schwärmeraugen auf sie. »Fräulein Adelaide!« »Exzellenz, Eure Dienerin.« »Ihr dient niemandem«, sagte seine bedeckte Stimme, »auch nicht der Kunst. Die Kunst dient Euch. Sie kniet vor Euch: sie, unser aller Mutter. U n d auch ich, dem die Kunst doch alles war, will nur noch vor Euch knien.« »Das ist bequem.« U n d sie ging an ihren Platz. Er folgte sanft. »Mein Haus, Adelaide, erwartet Euch. Die Fenster blicken nach Euch aus, die alten Bilder sind erwacht und sind neugierig auf Euch. Meine Diener gehören Euch und wissen es. Die ersten Lehrer Italiens stehen bereit, Euch zu vollenden. Wann kommt Ihr? Die Hecken im Garten sind höher gewachsen, um vor den Weihelosen Euer Bild zu hüten. Die Mauern umtürmen eifersüchtig Eure einzigen Töne.« Sie tat kleine harte Fächerschläge. Mit kalter Unterwürfigkeit: »Ich stehe zu Diensten, Exzellenz. Meine Tante und ich, wir nehmen Eure Einladung an.« Sie kamen; und wie die Branzilla zwischen ihren neuen Atlaswänden aus zerrissenen Schachteln ihre Kleiderfetzen nahm, war Dario Rupa es, der sie ihr vom Arm hob. 105

»Wir sind so arm, Exzellenz, daß wir unsere Wohnung nicht länger bezahlen konnten. Hätten wir Euch sonst belästigt?« »Ich werde Euch durch dies Haus führen, das Eures ist.« »Habt die Gnade, mich in das Musikzimmer zu führen . . . Habt die Gnade, mir zu erlauben, daß ich hier bleibe und studiere . . . Ihr wollt mich schon hinausweisen? Nur mir zuhören? Das wäre Eurer Exzellenz nicht würdig. Ihr müßt Besseres zu tun haben . . . Nein, ich esse nicht; Eure Exzellenz möge mich entschuldigen. Ein rohes Ei, einen Fenchel, und es ist genug. Keinen Wein. Ich bin Eure Dienerin.« »Niemand sah Euch, Adelaide, auf dem Korso, unter den Müßigen ohne Schicksal. Wäret Ihr nicht auch heute in geschlossener Karosse draußen bei den großen Ruinen? Allem Großen wißt Ihr Euch nahe; mühelos verkehrt Ihr mit der Größe und wachst an ihr. In den Denkmälern der Alten öffnet sich Euch die geisterhafte Pforte Eurer Kunst. Ihr selbst werdet groß werden.« »Ich werde nichts lernen als heulen, wenn ich mit Euch schwatze.« »Verzeiht mir! Ich gehe und lasse Euch Eurer Arbeit, die Euch so reich macht. Wie ich mich meiner ärmlichen Muße schäme!« »Auch als er Eure Exzellenz erschuf, wird Gott gewußt haben wozu.« Sie dachte: >Zu meinem Nutzen.< >... Da steht sie am Fenster, weiß umflossen. Ich habe im Dunkeln das Knie auf einen Stuhl gesetzt, recke den Hals nach ihrer Welt, atme ein wenig von ihrer Luft. Weiß sie von mir? Sie singt! Fünf Jahre schon höre ich sie singen, so nahe bei mir, und schweige. Schweige ich? Ist nicht ihr Gesang meine Seele, die endlich fliegen lernte und klingen? Ich breite die Arme aus; ich bin frei . . . Schwärmer! Sie singt: du bist stumm. N u r sie hat die geklärte, gleichmäßige Flamme: deine wälzt sich plump zum Himmel auf und fällt zurück in düsteres Schwelen. Du weißt deine Leidenschaft nicht zu ordnen; du stammelst, machst dich trunken und versagst wieder. Sieh ihre nüchterne Begeisterung, nüchtern wie die Ewigen, Himmlischen! Und vergeh! Nein: leben in ihr! Wenn es sein ioé

könnte: sie immer im Schauer des Mondes, ich immer dunkel zu ihren Füßen; und unsere Seelen fliegen auf, meine in ihrer, getragen von ihrer! Sie darf nicht fort, ich kann nicht hier unten allein zurückbleiben!... Adelaide!< »Was hat Eure Exzellenz?« »Verzeiht meinem verwirrten Sinn! Ich sah Euch mit dem Mondlicht das Fenster hinaufschweben, in den blauen Garten, schon fort, schon fort . . . « »Das Fenster ist geschlossen, Exzellenz. Auch kann ich nicht fliegen.« »Ich bin ein wenig erregt, vielleicht ein wenig in Angst, ich gestehe es, denke ich daran, daß Ihr nur noch einen Monat in diesem Hause weilen werdet.« »Allzulange habe ich die Güte Eurer Exzellenz mißbraucht. Es wird Zeit, daß ich meine Schuld abtrage, indem ich durch meine Kunst, wenn es sein kann, den Ruhm Eurer Exzellenz erhöhe.« »Adelaide! Verstehe mich! Wolle mich verstehen! Ich bin ein eifersüchtiger Narr; ich würde leiden, wenn die andern dich hörten. Ach, nicht das ist's, was hatte ich zu sagen? Ich werde ohne dich ins Elend fallen, Adelaide; ich werde sterben.« »Ich bitte Eure Exzellenz, sich zu erheben. Vergißt sie denn den großen Abstand zwischen ihr und ihrer Dienerin? Es ist unmöglich, daß Ihr noch länger Eure Arme um meine Knie preßt!« »Was tun? Welche Worte finden, die bis an dein Herz dringen? Ich liebe dich, du darfst nur mir singen! Ich will es!« »Eure Exzellenz ist hart und erschreckt mich.« »Verzeih! O verzeih! Nimm die Hände von den Augen. Ich könnte es keine Minute länger ertragen, daß du deine Augen gegen mich schützest! . . . Was hast du vor? Sprich mir mein Urteil!« »Ich werde nach einem Monat im Teatro Argentino auftreten, Eure Exzellenz hat es versprochen! und werde, wenn Gott mir hilft, Eurer Exzellenz Ehre machen. Wer weiß, vielleicht bald werde ich Eurer Exzellenz das an mich gewendete Geld zurückzahlen können und Eure nicht mehr ganz so un107

würdige Dienerin sein. Befehlt Ihr, daß ich die Arie beende?« Er wankte ins Dunkel zurück. >Nun singt sie wieder, wie Liebe selbst singt - und sie hätte kein Herz? Dies wäre nur der Schein eines Herzens, seine erdachte Nachahmung? Oder ist, was sie singt, ein Gebet an sie selbst? Die einzige, zu der sie betet? Die sie liebt? . . . Das also muß man sein, um groß zu sein? Oh, jetzt ist es an mir, meine Augen zu verhüllen .. .< II »Welch ein Lärm? Ich kann nicht mehr singen. Mir scheint es gar, man schießt im Garten . . . Auf der Straße, glaubst du, Tante Barbara? Aber was hat man vor diesem Hause zu schießen? Weiß man nicht, daß ich heute abend auftreten soll? Daß heute abend alles sich entscheidet? Wer darf da lärmen? Ich begreife nicht, daß Seine Exzellenz es duldet. Wo steckt er? Er, der immer an meinen Röcken hängt. Suche ihn!« » . . . Was kehrst du allein zurück, läufst und schreist? Und nun schießt man sogar im Hause, daß es hallt? Und Schritte, die durcheinanderrennen, und wilde Stimmen? Sage ihnen, daß ich singen will! . . . Geh doch! - daß ich singen will! . . . Aber du versteckst dich wohl? Du bist ganz weiß. Was stammelst du? Ich verstehe nicht, deine Lippen zittern zu sehr . . . Wie? Sie machen Revolution? Sie verjagen den Heiligen Vater? Aber das ist unmöglich! Sage doch, daß es nicht wahr ist! Du hast Angst, und du liebst den Klatsch, du Alte. Sie schießen: Was wird's sein? Irgendein Mord. Dieser Palast steht in einer Straße voll übel Lebender. Auch begegne ich schon seit Wochen Fremden auf den Treppen. Sie drängen sich an Seine Exzellenz und machen sich Freund mit ihm. Ich habe ihnen mißtraut . . . Gleichviel: mögen sie hier schießen; drüben beim Theater werden sie's nicht wagen. Dort werden die Soldaten des Heiligen Vaters dafür sorgen, daß ich singen kann . . . Zwar, heute früh sind mir zwei Pfeile aus den Haaren gefallen und als Kreuz am Boden gelegen . . . Und du? Du bist einer Buckligen begegnet und hast nicht ausgespien? Weil du den Mund voll von Süßem hattest? Und heute abend soll ich singen! Möge jene Bucklige dir die ganze Hölle schicken! Dir: nicht mir! Ich muß singen!« 108

» . . . Wie sie schießen, wie sie schreien auf dem Flur; vielleicht schon im ersten Vorzimmer! U n d wo ist Seine Exzellenz, die mich schützen sollte? H a t er sich versteckt, wie du, Alte? Haben sie ihn gemordet? Ist er's, der hier gemordet wird? Aber ich brauche ihn noch! Noch bin ich nicht aufgetreten. Er soll zum Heiligen Vater, ihn bitten, daß er das Theater bewachen lasse. Ich selbst will ihn begleiten, der Heilige Vater wird mich segnen, und ich werde gut singen . . . Wo also steckt Seine Exzellenz? Dieser H u n d muß hervor, ich will ihn suchen, bis in den Keller. Wie o f t hast du denn den Schlüssel umgedreht, Verdammte, die du bist? U n d schon schlagen sie gegen die Tür. Ich öffne! Ihr sollt sehen, daß ich öffne. Wo habt ihr Seine Exzellenz? Ah!« Die Branzilla schrak zurück: sie erblickte Dario Rupa in den Armen zweier Sbirren, bleich und mit geschlossenen Lidern, über die Blut rann. »Was habt ihr da um Gottes willen getan? Dieser war der unschuldigste Mensch, der nichts weiter konnte als im Winkel hocken und meinem Singen zuhören! Nie hat er daran gedacht, unsern Herrn Papst zu verjagen.« »Wir werden sehen, mein Liebchen, ob nicht du selbst ein wenig daran gedacht hast!« - und der H a u p t m a n n der Sbirren lächelte sie frech an aus seinen schmutzig gelben Falten, mit seinen schleichenden Augen, deren Klugheit einen entsetzte. »Nicht umsonst ist dies H a u s voll Waffen, voll Menschen . . . « Klirren und Kolbenstöße. Junge Leute wurden hereingetrieben. Ihre Kleider waren aufgerissen, in ihre H a a r e hatten Fäuste gegriffen, ihre feinen Gelenke schnürten Ketten. Sie sahen niemand an. Einer spie dem Polizeisoldaten, der ihn herzerrte, ins Gesicht und bekam einen Säbelstreich über seins. »Spielt nicht zu eifrig, Kinder«, sagte der H a u p t m a n n . »Bald werdet ihr vom Heiligen Vater zu Bett gebracht werden . . . U n d was Euren Liebsten angeht, meine Schöne, so denke ich mir in meiner Einfalt, daß er Euch so viel hat singen lassen, damit man die Flinten nicht klappern höre. Wie, wenn Ihr aus Begeisterung f ü r die Freiheit so laut gesungen hättet?« Die Branzilla entwand sich einem Häscher. ic9

»Ihr lügt! Wißt Ihr denn nicht? Heute abend trete ich im Argentino auf. Eure Sachen verstehe ich nicht. Ein paar von jenen da sah ich wohl auf den Treppen schleichen, ich leugne es nicht. Aber mir ist fremd, wozu sie kamen. Exzellenz, erwacht doch! Sagt ihm, daß ich nichts weiß!« Der Ohnmächtige öffnete die Augen und suchte. »Ihre Stimme war's . . . Wie! Ihr schämt euch nicht, Schurken, an ihr euch zu vergreifen, an ihr? Erst jetzt seid ihr Schurken!« »Eure Exzellenz«, sagte der Hauptmann, »vergißt, daß Ihr Euch schonen müßt. Ihr verschwendetet Eure Kraft und zöget Euch nutzlose Wunden zu, da Ihr Euch der Gewalt der Regierung widersetztet. Ich heiße nicht Rupa und komme von Natur Eurer Exzellenz nicht gleich. Dennoch bin ich nun durch Gottes Fügung und die Macht unseres Herrn Eurer Exzellenz so sehr überlegen, daß ich sie, als einen bei bewaffnetem Aufruhr Ergriffenen, an jeder Straßenecke, die mir beliebt, erschießen lassen kann.« Der Hauptmann machte zu seinem schamlosen Lächeln eine demütige Handbewegung. »Aber Eure Exzellenz wird uns gewiß nicht gleich zum Schlimmsten nötigen, sie wird sich in Güte von uns verhören lassen, gleichwie ihre schöne Freundin. Wie manches Interessante mögen wir durch Euer Wohlwollen erfahren und durch die Gefälligkeit des Fräuleins! Kommt, ich bitte Euch, verweilen wir nicht länger!« Die Sbirren packten zu. Die Branzilla arbeitete sich ab in ihren Armen. Aus den Gefangenen sprach eine zornige, klare Stimme: »Wir haben sein Haus gebraucht, ohne daß er es wußte. Er glaubte, wir kämen, die Branzilla singen zu hören. Er war blind und taub vor Liebe, wie der Auerhahn. Er ist unschuldig.« »Ich bin unschuldig!« rief die Branzilla. »Könnt Ihr nicht mehr reden, Exzellenz? Immer wäret Ihr zu schönen Worten bereit. Ihr habt mir versprochen, daß ich singen soll; keine Stunde ist's bis dahin; und da laßt Ihr Euch und mich in die Hände dieser Schweine fallen! Ihr laßt zu, daß ich nicht singen soll! Ihr seid feige! Habt Ihr keine Diener mehr, diese 110

davonzujagen? Was wollen sie? Sagt ihnen doch, daß ihr Papst und ihre Freiheit mich nicht schiert und daß ich singen muß!« Die Polizisten lachten; ihr Hauptmann feixte verächtlich. Dario Rupa sah ihn an. Die Hand am Hals, in letzter Not und hastend: »Ich biete Euch alles, was ich besitze, laßt Ihr sie los. Nehmt mich, tötet mich, ich bitte Euch, und laßt sie frei!« »Was haltet Ihr mich auf! Alles wartet auf mich. Die Zeit ist erfüllt. Alles wartet: Gott selbst wartet!« Sie bekreuzte sich. Die Sbirren lachten roher. Sie begriff nicht und starrte wirr in die unheilvollen Gesichter. Der Geruch machte ihr bange: dieser Geruch von Pulver und schweißigem Leder, der ihr der jäh eingedrungene Geruch des Unglücks schien. Sie haßte diese Menschen, die Lachenden und die Wutbleichen, die Gefesselten wie ihre Häscher: alle. Und jenes machtlose, blutende Gesicht, das sich ihr darbrachte, erbitterte sie wild. >Geh zum Teufel !< sagte sie ihm mit den Augen. >Du bist mir zu nichts mehr nutz!< Sie fuhr auf. »Aber hört, ihr alle! Ich werde euch zeigen, wer ich bin. Ihr werdet es bereuen, euch an mir vergriffen zu haben. Es gibt Mächtige, die mich heute abend zu hören wünschen. Seine Exzellenz hat einem Herrn Kämmerer von mir gesprochen, und Seine Heiligkeit weiß von mir. Der Kardinal Aldobrandini will ins Theater kommen. Hütet euch, einer Eminenz ihr Vergnügen wegzunehmen. Es könnte euch alle verderben!« Der Hauptmann winkte den Soldaten, nicht zu lachen. »Es ist wahr« - und seinem Blick hielt ihre Scham nicht stand; »Ihr könnt noch vielen Vergnügen machen. Es wäre schade um Euer zartes Fleisch, käme es auf die Folter . . . « Plötzlich befahl er, alle abzuführen. Dario Rupa, den sie stießen, wandte sich nach ihr um; sie sah auf seinen Lippen ein Lebewohl, in seinen Augen einen letzten sehnsüchtigen Zuruf: »Werde groß!« Und allein stand sie vor dem Hauptmann. »Gesteh mir ein, daß du sein Werkzeug warst, und ich laß dich singen.« »Was soll ich gestehen?« in

»Er ist dein Liebhaber, und es ist peinlich, gegen einen Liebhaber auszusagen. Bedenke aber, daß er ohnedies verloren ist. Sein Haus hat Verschwörern gedient. Du schadest ihm kaum, und uns machst du dich beliebt. Anstatt daß ihr beide das Verhör erleidet, werde ich ihn sogleich erschießen lassen. Du aber bist f r e i . . . Sprichst du?« Sie hatte es gewollt, nur war ihr der Ton versiegt; und sie haßte sich selbst, weil sie noch nicht hervorgebracht hatte, was sie frei machen sollte. Der Hauptmann sagte: »Du bist jung; auch heißt es, du seist eine Künstlerin. Wer weiß, zu welchen Triumphen du bestimmt bist. Der Amati haben sie neulich eine Pforte aus Rosen gebaut. Viele werden dich lieben. Halte dich nicht bei dem einen auf, der verloren ist. Ein Verlorener kann nicht länger dein Liebhaber sein.« Es war sehr schattig geworden im Saal. Von den verschränkten Armen des Hauptmanns fiel sein Mantel in weiten, dunkeln Flügeln. Sie hatte seine Worte im Kopf, ohne daß seine Stimme darin nachklang. Es war, als sei sie reglos, ohne Laut mit sich allein. Da warf sie sich herum. »Er ist nicht mein Liebhaber. Er wollte mich singen hören. Liebte er mich? Ich liebe ihn nicht. Was geht er mich an?« Sie sprach hinter sich, als habe sie jemand zu beschwichtigen, der dort im Dunkeln versteckt läge: vielleicht ihre Tante Barbara, vielleicht etwas anderes, Namenloses. »Er hat mich aus dem Elend gezogen, sagst du? Andere hatten mich singen gehört und mich dennoch darin gelassen? - Aber, habe ich ihn darum gebeten? Versprach ich ihm Dank? Ich soll singen; Gott gab ihm den Befehl, es mich lehren zu lassen! . . . Was sagst du? Niemand lebe so mit meiner Stimme, gehöre ihr so? . . . Aber ich fürchte mich nicht, allein zu bleiben! . . . Er will mich groß? Daß er verschwinde, werde mir Unglück bringen? . . . Es gibt kein Unglück, fühle ich, das mich nicht nährt. Für mich sind Gott und Teufel nur eins.« Sooft von hinten eine neue Frage kam, schnellte sie herum nach dem Hauptmann, und in seinen Augen, die sie mitten im Schatten deutlich erkannte, war schon die Antwort entschieden. Seine Klugheit gab ihr Grauen und Trost. »Und 112

endlich verlangt er selbst nichts Besseres. Wie könnte ich ihn glücklicher machen, als wenn ich ihn sterben heiße! . . . H e r r Hauptmann, ich will gestehen.« Sie mußte hinunterschlucken. Aber hinter ihren zugedrückten Lidern entstand das hell wogende Festhaus; auf tausend Zetteln, tausend Zungen war ihr Name; auf der Bühne warteten ihrer die Abenteuer eines ganzen Himmels; schon gingen Geigen- und Harfenklänge ihrer Stimme voraus, als der Königin; und da sie ausblieb, erhob sich irgendein Wirbeln und Tosen: nach ihr lärmte ein Volk . . . Sie riß die Augen auf. »Er war mitverschworen. Ich hörte ihn mit den andern von Mord sprechen. Sie machten Kugeln, indes ich sang . . . « Sogleich sprangen beide Türflügel auf. Der Wächter im Vorzimmer trat beiseite. Eine Fackel sprengte große Schatten durcheinander . . . Die Branzilla wagte sich hinaus; ihre H ä n d e preßten ihr Herz. Sie eilte verzweifelt; ihr schien's, ihr Fuß bleibe stecken, der H a u p t m a n n hinter ihr werde zufassen . . . Da überschritt sie die letzte Schwelle. Die Treppe war wirr von Lichtern und Menschen. Neugierige quollen herauf, zwischen die Soldaten, die Diener. Sie mußte haltmachen. Der H a u p t m a n n hinter ihr sagte: »Adelaide Branzilla, Ihr seid genötigt worden, in diesem Hause zu singen, damit man nicht merke, daß Staatsverbrechen darin geschehen. Gebt Ihr zu, im Dienste des Dario Rupa gestanden zu haben? . . . Sprecht laut!« »Ja.« Die Menge sah sich an und v/ich. Elegante Abbati verbeugten sich vor der Branzilla, sagten ihr, das Theater warte, und geleiteten sie hinab. Vor dem Tor stand, inmitten alles Volkes, ein Wagen. Wie sie den Fuß hineinhob, fuhr sie zusammen. Die Stimme des Hauptmanns hatte sich nochmals geregt. »Dario Rupa hat sich gegen das Leben und die Regierung seiner Heiligkeit verschworen? Ihr bezeugt es, Adelaide Branzilla?« Sie stand inmitten alles Volkes und zitterte. Der Zweifel lähmte sie, wenn sie sich umwende, werde der H a u p t m a n n verschwunden sein; alles werde nicht wahr und sie werde gerettet sein. Sie riß sich empor. »Ich bezeuge es.« 11 3

Sie saß im Wagen, wild ging es von dannen. Die Gasse war schwarz; entsetzt klapperte das Echo von den Mauern; die Branzilla litt Furcht und R e u e . . . Aber Lichter kamen, Wagen, Menschen: und sie richtete sich auf. »Sollte ich denn sterben seinetwegen? sterben, bevor ich gesungen habe? Nicht sein Verdienst ist's, daß ich erwählt bin: es ist Gottes Sache. Seine Wege sind die eines Fremden; er muß sie sich selbst suchen; und sind sie schlimm, kann ich's nicht ändern. Nicht für ihn habe ich mich kasteit die vielen Jahre. Denn ich lebte fern von den Freuden der Welt, hatte keinen Teil an den flüchtigen Lüsten der Menschen und arbeitete in der Zucht des Herrn für die Ewigkeit. Ich bin seine Nonne: nun will er mich in seine Gnade aufnehmen, ich soll seinen Glanz sehen. Der Himmel wartet, und ein Mensch will mich zurückhalten? Ich hasse ihn, mag er sterben! Jetzt weiß ich's, nicht der Hauptmann war der Teufel, der mich versuchte: der andere war's! Ich bin ihm entronnen, ich habe ihn besiegt; nun kommt die Seligkeit!« Sie war gekommen. Die Branzilla sang. In ihr spielte die Kraft, die dem Himmel gleichkommt. Sie erreichte ihn, schwelgte in ihm und in der Herrschaft über alle jene, die tief dort unten verstummt waren . . . Aber sie wagten zu atmen? Nicht für immer waren sie unterworfen? Sie murrten; sie riefen ihr einen Namen zu, einen schon vergessenen Namen, der nach Rache verlangte? Ein Dolch flog auf die Bühne und blieb vor ihr in der Diele stecken? Der Vorhang fiel krachend zu? . . . Sie stand, die Stirn gegen eine dunkle Kulisse, und betete. Als sie zurückkehrte, war ihre Stimme der Engel, der, vom Himmel entsandt, mit dem Ungeheuer ringt, mit den Sünden der Welt. Sie hielt es unter sich; es rauchte, spie und würgte. Es zuckte erlahmend, seine grausamen Augen sahen verschwimmend auf sie, die sich von neuem erhob und plante in Herrlichkeit. Von fern erlebte sie, wie schon Anbetung die Herzen weitete, in denen H a ß kaum erst schmolz.

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III »Du siehst recht wohl, daß ich in diesem Kleide nicht auftreten kann. Die Ärmel sind zu lang, und am Rock sitzen die Falten schief. Aber wie sollte es anders sein, da du noch gestern abend dich mit deinem Liebhaber den Leuten zeigtest! Ich sah euch vom Fenster. Ich arbeitete an meiner Rolle, indes du dich vergnügtest.« »Mein Geliebter hat mich verlassen, Signora. Vor Verzweiflung lag ich krank, die Nacht und den ganzen Tag. Die Signora möge verzeihen, wenn ich nicht aufmerksam war.« »Ich verzeihe nichts. Würden sie mir verzeihen, wenn ich schlecht sänge? Niemand würde fragen, ob ich krank war. Ich singe nur die Tullia. Die Lukrezia gehört der Amati, die so viel größer ist als ich, so viel schöner, liebenswerter, kunstreicher. Ich bescheide mich und bin ihre Dienerin. Aber auch die Dienerin will ich ganz sein. Ich übe meine Cavatine Tag und Nacht, ich küsse hundertmal den Saum meiner Herrin, die mein Geist vor sich sieht. Meinst du, ich fürchtete jene, die pfeifen möchten? Arme Unwissende! Mich ängstigt nur der göttliche Wille in mir. Darf ich denn ruhen, solange irgendein Mensch meine Rolle besser machen könnte? Sie müssen sich beugen: nicht vor mir, ich bin nichts; doch vor dem Vollkommenen. Sie widerstreben, ich weiß es wohl, dem Vollkommenen. Es ist stolz, es demütigt sie. Sie fühlen sich wohler bei den Hübschen, die es sich und ihnen leicht machen . . . Ah! Sturbanotte. Nur herein! Ihr könnt davon reden. Ihr seid ein Buckliger, und Ihr singt herrlich gut. Seid Ihr schon einmal an einem Theater zum erstenmal aufgetreten, ohne daß sie Euch ausgelacht hätten? Immer mußtet Ihr Euch zuerst vor die Rampe stellen und ihnen versichern, Ihr seiet nicht gekommen, Euch sehen, sondern Euch hören zu lassen. Nun also: das Vollkommene erscheint ihnen immer bucklig. Es stößt sie ab und muß sie überwältigen . . . Ich spreche nur zu Euch, Sturbanotte - da Ihr mir die Ehre erweist, in meine Garderobe zu kommen, die von Männern leer ist: nur zu Euch. Ihr allein versteht mich. Ihr denkt doch nicht, ich redete zu jenem albernen Mädchen, das aus unglücklicher Liebe krank wird? Sie hätte ein Kleid machen sollen. Ein vollkommen ge115

machtes Kleid würde ihr dummes kleines Dasein gerechtfertigt haben. Was tut sie? Sie ißt, trinkt, liebelt, sie zerstreut sich, bis sie ganz verschwindet. So machen es alle. Hat Euch schon einer einen Schuh oder einen Bart gefertigt um anderes, als das bißchen Geld? Habt Ihr schon einen singen gehört, dem's nicht bloß um den Beifall war? Wie wohlfeil alle sich nehmen! Wie ich alle verachte!« »Ich verstehe: auch die Amati.« »Das könnt Ihr nicht glauben. Eine so große Künstlerin! Sie ist berühmt, und wie viele lieben sie! Ich bin ihre Dienerin.« »Ihr spielt ihre Dienerin, es ist wahr. Auch genießt sie noch große Anbetung. Nicht mehr lange, sagen die Ärzte. Der arme Ritter Rosaspina! Wie er sie liebt! Aus seinem Blut würde er ihr ein Elixier pressen! Sie schwindet dahin. Ihre Stimme war gestern so schwach, daß im Theater mehrere weinten. Ein Mittel gegen das böse Feuer, das sie verzehrt! Ein Gegengift!« »Ein Gegengift? Signor Sturbanotte, Euer Grinsen ist entsetzlich. Nie sah ich so sehr, daß Ihr ein Buckliger seid, ein boshafter Buckliger. In Eurer roten Kappe, mit Eurem langen Schwert! Was für einen schrecklichen Schatten Ihr werft! Verlaßt mich! Was ängstigt Ihr mich! Kein guter Mensch wird glauben, eine so liebenswerte Künstlerin könne vergiftet werden.« »Ihr mißversteht mich, Signora. Ich sprach von einem bösen Feuer in ihr. Seht doch ihre Augen an! Ihr Blut verzehrt sich selbst. Es ist ein äußerst trauriger Anblick, wie sie daliegt und Schwäche und Angst erleidet und sich nicht begreift. Ihre Garderobe ist wie ein Sarg, worin die Liebhaber sich mit ihr verschlossen haben. Unterirdisch still ist's darin. Das Lachen derer, die zu lachen wagen, klingt ohne Widerhall und als drückten fünf Fuß Erde darauf. Das Schluchzen des Ritters Rosaspina bricht sich an den Füßen der Amati. Wollt Ihr das nicht sehen? Bliebet Ihr fern, man würde glauben, daß Ihr der Amati nicht wohlwollt . . . « »Ich komme. Kein Wort mehr! Denkt Ihr denn, ich wäre nicht längst schon bei ihr, hätte nicht die ungeschickte Schneiderin mich aufgehalten?« ii 6

»Oh, Signora! Laßt zu, daß ich Eure Füße umfasse! Ritter, Ihr müßt mir diese Minute gönnen: ich bin die Dienerin Eurer Herrin. Wie wohl Ihr ausseht, Signora! Wie es hier lustig ist! Die Herren ersticken wohl ihr Gelächter in den Taschentüchern. Ihr seid wiederhergestellt, nicht wahr, Signora? Ihr werdet es keinen Tag hinausschieben, die Lukrezia zu singen. Eure Tullia bittet Euch.« »Ihr selbst, Signora Branzilla, werdet vielleicht die Lukrezia singen. Vielleicht werde ich tot sein.« »Was habt Ihr! Mein Gott! . . . Sie antwortet nicht. Sie hat sich verfärbt und die Augen geschlossen. Welche Gesichter ringsum! Signora! Kommt zu Euch!« »Ich weiß nicht, was mir geschieht . . . Ja, Ihr sollt die Lukrezia singen. Eine Stimme verlangt, daß ich sie Euch auftrage, sie Euch hinterlasse. Ihr seid größer als ich. Wehrt nicht ab! Ich liebe Euch nicht, verzeiht! Aber Ihr seid größer; und Festeres, Stolzeres werden sie Euch errichten als eine Rosenpforte. Mich sahen sie gern. Mein Gesicht machte sie ein wenig glücklicher. Sie fühlten Wohllaut in meinen Wendungen. Wenn ich lächelte, verziehen sie mir meine Stimme, die so wenig vermochte. Ich hatte nichts gelernt, ich gestehe es Euch. Man ließ mich nie, und mein H e r z ließ mich nie. Ihr seht, daß ich noch erröte. U n d soll doch bald ganz erblassen. Ritter, näher zu mir! . . . Ihr aber, Signora Branzilla, seid eine große Künstlerin. Ihr werdet herrschen, wo ich nur Vergnügen machte. Ich lasse Euch die Lukrezia. Hier habt Ihr die Rolle! Morgen sollte ich sie ihnen singen. Singt sie ihnen morgen, damit Eure große Kunst sie rascher mich vergessen macht. Nicht den Ruhm ja liebte ich. Meinen Schatten tröstet das Gedächtnis eines einzigen. Nehmt, Ritter!« »Wollt Ihr Eure H a n d nicht auch mir verstatten? Verzeiht, daß ich sie mit Tränen befeuchte! Ihr macht mir Schmerz und Scham. Ich habe Euch zu sehr bewundert: wie darf ich leiden, daß Ihr Euch vor mir demütigt! Laßt mich Euch bedienen! Wollt Ihr trinken? Ich muß Euch zuerst ins O h r sagen: schickt von Eurem Lager den Buckligen fort! Er ist voll arger Gedanken und wird Euch Unglück bringen. Legt Eure Lippen an das Glas; das Cordiale ist hineingemischt . . . Ich durfte nicht zu Euch aufsehen, Ihr wurdet so viel geliebt. Ich selbst " 7

fand Euch liebenswert - und ich habe es so schwer, zu gefallen. Mit ein wenig Gesang? Ein wenig klingender Luft? Sagt selbst, was das bedeutet, wenn man eckige Glieder und eine ungefällige Miene hat. Nein, Signora, ich bleibe Tullia, Eure Dienerin. Laßt mich immerhin für morgen die Lukrezia erlernen: darum weiß ich doch, daß ich sie, beschämt und erleichtert, Euch, der Genesenen, zurückgeben werde. Aber was ist Euch? Kommt Euch denn schon wieder Ohnmacht an? Helft doch, ihr Herren! Wie ? Ihr Herz - ? Signora! O Himmel!« »Wir sind allein, Signora, denn die Tote zählt nicht. Für Euch zählen doch keine Toten? Den Ritter haben seine Freunde hinausgebracht. Jetzt seid Ihr Lukrezia - und was immer Ihr wollt.« »Ich will ihr Gewand ordnen. Findet Ihr sie nicht noch schöner als im Leben?« »Ich weiß nicht. Einen Buckligen kümmert das nicht.« »Sie wird doch einmal aufhören zu gefallen? Sie muß doch werden wie die andern Leichen?« »Habt Ihr Furcht, sie möchte Euch noch mit geschlossenen Augen überstrahlen?« »Ich fürchte niemand, Signor Sturbanotte. Seht, wie ich ihre Augen auf- und zuklappe! Mit diesen Wimpern wird sie keine Liebe herbeiwinken.« »So furchtlos als geschickt! Wie Ihr zu spielen versteht, noch an einem Sterbebett! Wie trefflich Ihr ein Cordiale mischt! Ihr müßt Übung darin haben.« »Was tragt Ihr da im Ärmel, Signor Sturbanotte? Ei, seht: ein rundes flaches Fläschchen mit einer wasserhellen Flüssigkeit darin! Wäre das gar das übel berufene Tofanawasser? Das müßt Ihr häufig angewendet haben, Sturbanotte. Seit Monaten hat sie's bekommen: jetzt begreife ich das seltsame Feuer, an dem sie starb und das nur Ihr erkanntet! Aber welche furchtbare Rachsucht, buckliger Sturbanotte. Weil sie Euer Liebeswerben abwies! Ihr seid ein schrecklicher Mann, ich werde allen gegen Euch zur Vorsicht raten . . . Ach nein, ich scherzte: Ihr braucht nicht zu erbleichen. Das Wasser, sag ich Euch ins Ohr, trugt nicht Ihr im Ärmel. Ich habe Euch nur zeigen wollen, daß ich noch geschickter bin, als Ihr meintet 118

und Euch warnen . . . Und nun wißt, daß ich niemand zu scheuen habe. Denn ich tat recht. Gott selbst trug es mir auf. Er ließ mich träumen und zeigte mir die Amati in der Hölle und in der Pein. Sie hatte keine Nase mehr, und die Teufel zwickten ihr die Brustwarzen ab. Aber hoch darüber, gleich unter Gottes Thron, auf Wolken stand ich selbst und sang! . . . Das ist Gerechtigkeit, Sturbanotte. Denn sie schändete die Kunst. Sie gab vor, eine Sängerin zu sein, und war eine Dirne. Mit ihrem Dirnengesicht, ihren Dirnengliedern betäubte sie das Volk, daß es nicht merkte, wie die Kunst verdarb. Die Kunst war in mir, und niemand hörte sie. Gott war verlassen, er schrie nach Rache. Ich folgte ihm und tötete sie und lernte, indes ich sie tötete, seit Monaten ihre Rolle. Wäre ich nicht Gott gefolgt, noch immer würde das Volk nur das Fleisch lieben. Jetzt hab ich es erlöst. Jetzt kann ich ganz die Flügel ausbreiten, und zwischen Himmel und Erde hindert nichts mehr meinen schönen Flug. Sie werden sehen, daß ich schöner bin als die Amati. Sie werden mich nicht lieben, weil ich süß bin, mich zerflattern lasse und Mitleid verdiene. Sie werden mich lieben, weil ich stark bin, mit Leidenschaft bei mir bin und ihnen Reue über ihre verlorenen Leben mache! . . . Was murmelt Ihr, Sturbanotte?« »Daß ich alt bin und obendrein bucklig. Sonst blieb ich keine Nacht mehr in Rom.« »Auch Ihr versteht mich nicht, Sturbanotte.« IV »Sind die Leute schon fort?« fragte die Branzilla. »Laßt uns sehen! Zieht doch den Vorhang auf, ihr Kleinen! Wenn auch nur drei Personen im Saal geblieben sind, werde ich noch etwas singen: ihr sollt staunen. Nie war ich so in Stimmung: in Paris nicht, in London nicht.« »Zu viel Ehre, Signora! Ihr habt uns sehr glücklich gemacht. Mindestens acht Tage lang werden wir alle zu essen haben.« »Kein Mensch mehr da? Nun, gleichviel, ich bin zufrieden. Es war ein guter Gedanke, daß ich die Postpferde abbestellte und in eure Schmiere zu Gast kam.« H C ,

»Ein sehr guter Gedanke!« - und die armen Komödianten umdrängten sie gebückt. Die alte Königin wischte mit ihrem Purpur den einzigen Stuhl ab. »Er war ein Baumstumpf«, sagte die Branzilla. »Das grüne Tuch dort hinten will sagen, daß wir in einem Walde sind. Warum nicht? Die Leute haben es uns geglaubt. Welch gierige Gesichter aus den zerbrochenen Bänken zu uns herauf atmeten und funkelten! Ach, ihr Geruch ist noch da: Knoblauch und Rauch, der Geruch der Armen. Lange schmeckte ich ihn nicht mehr . . . Auch ich war arm. Auch ich saß, ganz jung, auf den Bänken wackliger Vorstadttheater und starrte durch den Tabakrauch auf den Götterglanz hier oben: euren Götterglanz, liebe Freunde! Es war schön . . . Vielleicht saß auch heute abend solch ein junges Mädchen drunten? Eins, das einmal groß sein wird? Oh, sehr reizend sind, die noch alles vor sich haben. Und sehr schrecklich!« Die Branzilla sprang auf. In ihrem Samt und ihren Spitzen fuhr sie hin und her vor der elenden Schar. Plötzlich entschloß sie sich. »Euer Tenor — wie nennt ihr ihn? - ist nicht übel. Ich möchte sagen, daß er etwas taugt. Ich kann sogar zugeben, daß er große Mittel hat. Was wollt ihr noch mehr von mir? Soll ich gestehen, ich erkennte ihn an? Schließlich hat er ein wenig Übung: und wer weiß von ihm, wo gilt er? Gleichviel: ich habe ihn gehört und werde ihn nicht verleugnen. Sagt, wo steckt er? Er ist der einzige von euch, der davonläuft, wenn euch die Branzilla beehrt. Übrigens hat er auch vom Beifall vorhin zu viel für sich genommen . . . Nun, sagt ihm, daß ich ihm Glück wünsche, und lebt wohl!« Aber in den Kulissen machte sie kehrt. »Ja, was tun: Die Nacht ist noch lang. Du bist ein hübsches Kind. Erstaunlich viele Kinder habt ihr hier; aber du bist das hübscheste. Soll ich dir etwas schenken? Willst du den Ring? Es heißt, die Branzilla sei geizig. Nicht immer ist sie's. Verlier ihn nicht! Deine Mutter bekommt hundertundsechzig Taler dafür. Wer ist deine Mutter?« Mehrere grelle Frauenstimmen antworteten: »Sie liegt schon wieder im Kindbett. Diesmal hat sie es von Ulisse.« »Wer, Ulisse?« 120

»Cavazzaro, der Tenor.« »Ach du - « , und die Branzilla stieß das Kind von sich. »Gib den Ring wieder her! Deine Mutter hat es mit jenem Ulisse gehalten. Welche Schamlose!« Sie wandte sich ab, tief errötet. »Nichts begreife ich so wenig, wie solche Frauen . . . U n d er! Er ist bei ihr! Rasch, sagt mir, ob er nicht bei ihr ist. Was denn? Bei einem Liebchen in der Stadt soll er sein? Er soll viele Frauen haben, überall, und Kinder zu Haufen? Seid ihr verrückt? Er ist ein Künstler, ja, ihr sollt die Wahrheit wissen: ein großer Künstler. Wie könnte er sich also vergessen? Sich zu euch herablassen, ihr Weiber? Ihr verleumdet ihn! Ich kenne euch. Du lange Blonde, du bist eifersüchtig, du hast ihn vergebens begehrt. N i m m diesen Backenstreich! U n d geht! Geht alle zum Teufel!« In der staubigen Garderobe schrie sie ihre Kammerfrau an, stieß sie hinaus, schleuderte einen silbernen Schminknapf zu Boden und untersuchte, ernüchtert, ob er beschädigt sei. Es klopfte; sie schlich zur Tür. »Ach, Ihr! Geht nur wieder fort! Ich mag keine Taugenichtse.« »Ihr habt von mir gesprochen, Signora, Ihr wünschtet mich zu sehen.« Er nahm, um zu reden, einen Nelkenstengel aus den Zähnen und lächelte, schmeichlerisch und lässig. Die Branzilla senkte die Lider und gab die Schwelle frei. »Ihr seid ein Künstler, ich leugne es nicht. Aber glaubt mir: ein Leben wie das Eure f ü h r t kein der Größe Bestimmter. Haltet Ihr mich f ü r eine große Sängerin?« »Ihr seid die einzige. Wer Euch hört, vergißt, daß es vor Euch eine Kunst des Gesanges gab. Ich liege zu Euren Füßen, Signora.« »Laßt die Redensarten!« Aber ihrer bösen Miene entrang sich ein ungeschicktes Lächeln. Er sah sie an; er schob, und wendete sich dabei halb in den H ü f t e n , die Nelke wieder in den Mund. »Wann seid Ihr zuerst aufgetreten? Siebenundvierzig? Das ist mein J a h r ! Ihr habt mein Jahr und seid der einzige, der mir je Ihr erschreckt mich! Bringt Ihr mir Glück oder 121

Unglück? . . . Aber vergeßt nicht, daß Ihr noch nichts seid, noch gar nichts. Was schaden mir Eure Gaben, solange Ihr an armseligen Orten ein unordentliches Leben führt! Ihr habt wenig gelernt, und Ihr wagt, an Größe zu denken? Wollt Ihr meinen Rat? Geht in ein Kloster! Schließt Euch ein, acht Jahre lang, und lernt singen! Dann werden wir sehen, dann werden wir uns wieder sprechen. Vorher hofft nichts! Geht!« Er prüfte sie aus den Winkeln und drehte sich zögernd von dannen. Sie atmete stockend. Plötzlich, auffahrend: »Nein! Nein! Ich darf nicht, darf Euch nicht untergehen lassen. Ihr seid der einzige, der mir je gleichkam. Und wie geschieht es, daß ich Euch auffand: ich, die Branzilla, die nur an der Scala, an San Carlo, am Argentino singt und eines Abends sich herbeiläßt, auf Euer Gerüst zu steigen? Als man mir im Gasthaus sagte, in diesem schwarzen Loch werden Opern gesungen: wie doch kam mir die Lust, allen Glanz meiner Kunst zwischen euch zu tragen, unberechenbar gnädig, wie Gott? War's nicht vielleicht Gott, der durch mich handelte? Seine Hand nach Euch ausstreckte, Cavazzaro? Es wäre besser, er hätte mich Euch nicht kennen lassen. Da ich aber nun weiß, daß Ihr lebt, darf ich Euch nicht verleugnen. Kommt mit mir! Ich will Euch groß machen.« »Signora! Eure Hand!« »Berührt mich nicht! . . . Ach, laßt, ich will Euch trotzdem wohl. Warum nennen wir uns nicht du, wie alle Komödianten? Sage also: kannst du Strenge üben gegen dich und dich frei machen? Von allem, was nicht du selbst bist? Niemand mehr lieben? Keine Frauen; denn sie schaden dir. Hörst du: keine Frauen mehr!« »Auch du bist eine Frau.« »Euer Du ist schamlos. Vergeßt nicht, wer ich bin!« Sie warf sich zurück, sie sah ihm mit Tränen des Zornes in die Augen. Er fragte weich: »Habt Ihr nie geliebt, Signora Branzilla? Wie könntet Ihr sonst singen?« »Ich habe alle Leidenschaften, und ich mache Kunst daraus. Nichts bleibt übrig, für euch alle nichts. Wer von euch wäre das Herz der Branzilla wert? N u r Gott verdient es.« »Ich, Signorina, denke, indes ich singe, an schöne Frauen: 122

an solche, die ich hatte, und an solche, die ich haben werde. Manchmal denke ich nur an die Kneipe.« »Es ist wahr, Ihr riecht nach Wein.« Er sah sie abgestoßen. Seine Augen baten, unschuldig und schmelzend. Zwei zaghafte Schritte: und er ließ sich sanft vor ihr auf ein Knie. »Ich spreche zu Euch, Signora, wie ein K i n d : wie ein Bettelkind, das Ihr in Euren Palast aufnehmen wollt und das Euch noch von seinen Lumpen und seiner schlechten Kost erzählt. Verzeiht! Ihr wißt gleichwohl, daß ich künftig nur Euch zu Ehren singen werde. Wie wäre ich würdig, die Kunst zu üben, wenn ich, Eure Töne noch im Ohr, an andere Frauen zu denken vermöchte!« »Hört, Cavazzaro! Ich rede im Ernst. Ich werde Euch neben mich stellen, weil ich muß: weil Ihr schon neben mir steht. Ihr sollt groß werden, Ruhm und Reichtum sollen Euch zufallen.« Er setzte auch das andere Knie auf den Boden. »Ich werde mit Euch zusammen singen? Ich begehre nichts weiter, Signora. Ich liebe Euch.« Sie entriß ihm hastig, daß es zerriß, ihr Kleid. »Belügt mich nicht! Ich bin nicht liebenswert. Die Masse der Schwachen, Schicksallosen liebte mich oft. Was ging mich's an. Ich liebte nur mich. Niemand sonst, nie! . . . Haltet Ihr mich f ü r schlecht? Seht: ich fand noch nie meinesgleichen. Immer war es mein Los, zu verachten. Zuzeiten, ich gestehe es, trug ich schwer daran. Heute besinne ich mich darauf wie auf das größte Glück: als ich noch verachtete. Wollte Gott, ich könnte auch Euch verachten!« »Signora, ich liebe Euch.« »Immer nur: ich liebe Euch. Ihr wißt nichts weiter. Kein Grauen schlägt Euch entgegen aus dem Unheimlichen, das hier geschieht. Ich bin allein. Ich möchte nicht länger allein sein!« Ihre Schultern zuckten, ihr Atem schwoll an. Ihr Körper zitterte ganz, und ihre Blicke jagten umher, als ränge sie gegen hundert Fangarme, nach allen Seiten. Er sah hell und sicher darein, wie sie, böse und von Angst gebändigt, sich abarbeitete. Auf einmal breitete er, staunend ergriffen, die Arme aus. Denn ein Glanz aus Tiefen besiegte in ihrem Gesicht alle " 3

Härte, alle Qual, und verwandelte sie. Die Branzilla ward schön. Den ganzen Himmel in ihrer Stimme, sagte sie: »Ich liebe dich.« V »Du hast getrunken. Laß doch endlich das Trinken! Es ist deiner nicht würdig, und es wird dich zerstören.« »Höre auf, mich zu quälen! Ich trinke, weil es mir schmeckt.« »Weil es dir schmeckt. Und wenn es nun deiner Kunst nicht schmeckt? Wer ist wichtiger: deine Kunst oder du?« »Ich . . . Und dann, meine Kunst tut, was ich will. Ich trinke, und sie läßt mich singen. Du hast eine andere Art, um gut zu singen. Du kasteist dich, du fliehst die Menschen, du bist schlechter Laune. Jeder treibt es, wie er vermag.« »Nur eine Art gibt es, der Kunst zu dienen. Wählst du eine falsche, wird sie dich strafen. Ich werde dich noch gestraft sehen. Wehe dir!« »Du sprichst, als wünschtest du es. Du bist eifersüchtig, weil ich genieße.« »Eifersüchtig auf Genüsse, die ich verachte?« »Dir tut das Trinken nicht gut, mich aber begeistert es.« »Begeisterung aus einem Faß! Sich selbst einen Feind in den Leib gießen!« »Zum Glück fühle ich mich gesund, meine Stimme ist größer geworden, ich bin sehr beliebt.« »Auch ich; und seit kurzem sind wir es beide noch mehr als sonst. Du, der du eine Geliebte in der großen Welt hattest, bist es so sehr wie ich, die in die Loge deiner Geliebten hinaufschoß. Wie wagst du davon zu sprechen, im Augenblick, da wir von der Kunst reden?« »Verzeih - und entschuldige mich; ich gehe zu Freunden. Morgen abend bin ich Theseus - und du Ariadne. Lege dich also ins Dunkel und bete! Ich gehe zu Freunden.« »Nicht zu Freunden: zu Weibern! Ich will dir deine Schande ins Gesicht schreien. Morgen abend sollst du an Götter streifen, und heute nacht willst du bei Dirnen liegen. Du bist der Gatte der Branzilla und hast nicht Stolz genug, ihr 124

treu zu sein. Wie du mich herabgezerrt hast! In welchen Schmutz du mich gestürzt hast! Du bist verächtlich wie die andern und kein Künstler. Blind war ich, als ich mich mit dir belud!« »Ich verdanke dir viel, das ist wahr, und bin deiner wohl nicht würdig. Aber ein Künstler bin ich, und du weißt es. Vielleicht hab ich dich sogar überholt. Deine Clelia gestern war ein wenig matt. U n d doch kam ich betrunken auf die Bühne, und du hattest gefastet. Rege dich nicht auf! Es würde dich ermatten. Ich wünsche von Herzen, d a ß du morgen eine sehr gute Ariadne seist. Ich bin nicht eifersüchtig, ich nicht.« »Du bist morgen ein kraftloser Theseus. Seine K r a f t wird in Schenken und bei Weibern geblieben sein.« »Ich bin, noch wenn ich auf der Bühne stehe und singe, immer mitten im Leben: heraus aus den Brettern, in denen du dich einsargst.« »Einen Sarg nennst du die Bühne! Dies Heiligtum, worin wir uns selbst haben!« »Mir ist es zu heilig. Deine Kunst scheint mir so heilig wie der Tod. Ich singe den Leuten; mir ist, als sänge ich auf der Straße; meine Stimme sei eine unter vielen und verwehe in sonniger Luft.« »Du singst auf der Straße!« »Ich singe, wo man will. Ich darf freigebig sein: was kostet's mich! Da, in meiner Kehle, nimmt das Kapital nie ab. Heute auf dem Pincio winkte mich der Fürst Torlonia an seinen Wagen und wünschte drei Takte aus >Ihr Sterne, ihr Tränen< zu hören. Drei Takte: dann wisse er selbst weiter. Ich sang, ihm gefällig zu sein, das Ganze vor allen Spaziergängern — und hier ist der Beutel, den er mir d a f ü r gab. Willst du ein freundliches Gesicht machen? Du bekommst die Hälfte.« »Gib her! Die Dukaten werden nicht vom Torlonia sein, sondern von einer Frau. Gib immerhin her! Ich will sie aufheben, f ü r die Zeit, da du dich zugrunde gerichtet hast und ich dich erhalten muß.« Sie hatte hinter ihm die Tür verriegelt, gierig das Geld gezählt und es in die Truhe gesenkt. Sie lag im Zimmer, worin 1*5

kein Licht mehr brannte, und zog sich angestrengt ganz auf ihr Innerstes zusammen. »Morgen bin ich Ariadne, welche Wichtigkeit hat alles andere? Morgen werde ich leben. Es wäre falsch, zu sagen, daß ich gut singen werde. Ich werde einfach aus diesem Tode aufwachen in meinem eigenen Himmel. Jetzt ist Dunkel und Tod: plötzlich entbrennen alle Lichter. Ich werde leben! . . . Nun bin ich ruhig und gefeit. Nun will ich arbeiten. Ich will in meinem Geist das Gebäude von Tönen errichten; will lautlos singen .. .< Aber sie fühlte alles mißlingen und eine geheime Zerstreuung ihrer Kraft. >Es ist nichts; es ist nur der Körper. Er ist krank, er sträubt sich. Ich habe ihn noch immer besiegt. Ruhe! Ich bin eine Schülerin und habe singen zu lernen. Denn der Geist erwächst aus der Technik. < Sie stand auf und machte sich an Übungen. >Alle Kraft muß in der Lippe sein, der Hals ganz weich, wie t o t . . .< In der verstreichenden Nacht versteifte sie sich und hielt kaum noch stand. Dieser Druck um die Mitte des Rumpfes begann, der sie niederzog; diese Angst des Herzens. Sie lag, das erschlaffte Gesicht in den Händen, über dem Flügel und betete. Draußen entstand ein Poltern; etwas Weiches fiel gegen die Tür. Sie öffnete und empfing den taumelnden Körper des Trunkenen schwer gegen ihre Brust. Heftig warf sie ihn hin. Nun stand sie über ihm, atmete kurz und schüttelte die Hände. »Mich ekelt's, ihn anzufassen, und ich habe mit ihm geschlafen; und habe ein Kind von ihm! Rom weiß es. Jetzt kommt er von anderen Weibern; Rom weiß auch das. Unser beider Unehre ist der Welt geläufig, wie unser gemeinsames Vergnügen. Und ich bin die Branzilla! Wie ich ihnen fern war, einst! Wie ich bei mir selbst war, allein und rein! Das soll nie wieder kommen? Allein und rein sein! . . . Du möchtest trinken, Lieber? Da, ich mische dir etwas: es wird dich für immer zufriedenstellen. Nimm! . . . Nein! Gib her! Ich kann nicht. Gott will nicht, daß ich's tue. Ich verstehe Gott nicht.« Das Glas, das sie hinsetzte, funkelte böse im Mondlicht. Sie raffte einen Vorhang über ihr Gesicht. Grabdunkel war's und 126

still. N u r der sorglose Atem des Schläfers. >Ihm ist wohl. Ihm war wohl, als er trank, als er Frauen umarmte; ihm wird wohl sein, wenn er morgen den Theseus singt - den er nicht gelernt hat. Mich sprengt das Klopfen dieses Herzens, das der Kampf um Ariadne toll und ohnmächtig gemacht hat. Ich habe Martern gehabt, indes er Vergnügen hatte. U n d er soll mich auch noch einholen, mir vorauskommen? Ich war matt als Clelia. Ich werde eine kranke Ariadne sein. Wer anders als er macht mich krank! Lauter Unwürdiges legt er mir auf, hundert weltliche Gedanken, die mich dem Heiligen entfremden und mich verbrauchen. Meine Ermüdungen nähren ihn. Er fühlt sich schwellen, je blasser ich neben ihm werde. N a c h meinem Untergang wird er ins Unermeßliche wachsen. Das ist nicht zu ertragen! Er, den ich zu mir heraufzog! In dessen H ä n d e ich meine Einsamkeit abdankte! Dem ich meine erarbeiteten Schätze verriet! Er, mein Geschöpf! Nie w a r d einem menschlichen Wesen so Schlimmes erdacht. Nicht von dir, mein G o t t : von deinem Widersacher! Du wolltest mich groß; du befiehlst mir, zu verderben, was mich anficht!< Sie legte das Glas an den Spalt in den Lippen des Schläfers. > . . . Er ist ein Künstler. Ich töte einen Künstler. Nicht ein Geschöpf, das dem Vollkommenen feind ist, wie jene Amati; keins, das Gott aufhält: nein, den Freund des Vollkommenen, den Gott höher vielleicht weihte als mich. Ich diene, töte ich ihn, nicht mehr Gott: nur einem Götzen, nur mir. D a n n verwirft er mich, dann ist's aus mit mir, und nie mehr ersing ich mir den Himmel.< Es dämmerte; schaudernd schob sie das erblindende Glas fort. »Also nichts. Ich vermag gegen ihn nichts. Ich muß ansehen, daß er das Leben hat und die Kunst obendrein - der ich mich opfere; daß er spielt, wo ich mich zerquäle, und dennoch groß wird. Wie ich ihn hasse! Wie ich ihn zerstören, ihn in mich hineinraffen möchte, daß ich all seins zu meinem hinzu hätte! Das wäre Reichtum: mein innerer H e r d und das, was diesem die Welt gibt. N u n aber muß er vom Leben, dem ich nicht gewachsen bin, immer reicher werden, und ich muß in mir selbst verkohlen und langsam erkalten. Gott, ich beuge mich. Du, ich bitte dir ab. Ich bin nicht groß genug, dich zu I2

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verachten: ich beneide dich nur. Ich sehne mich aus meiner Heiligkeit nach deinem gemeinen Wandel, nach deiner Gutherzigkeit und Niedrigkeit, nach deinem Schmutz, nach deinem gewöhnlichen Schmutz. Ich liebe dich! Immer liebte ich dich aus Sehnsucht nach Erniedrigung, guter, warmer Erniedrigung!« Sie ließ, die Arme in die Luft gebreitet, ihr Gesicht auf seines sinken, vermischte ihre Lippen mit seinem Fleisch, und in seinen Mund, der das Gift hatte empfangen sollen, flössen ihre Tränen. »Ich liebe dich! Ich will dir dienen, ich danke ab, ich bin nicht mehr die Branzilla! Hörst du mich? Küsse mich! Ein Kuß von dir ist mehr als alle Herrschaft, alle Himmel!« Da gingen seine Lider auf; sie riß sich zurück. Sie wich, und bekreuzte sich, bis an die Wand, erwartete atemlos, daß er wieder schlafe - und brach in die Knie und schlug die Stirn gegen den Fußboden. »Nun verstehe ich dich, Herr. Du hast mich versucht und schwach gefunden. Ich war dir zu hoch gestiegen, da schicktest du mir diesen. Ich muß ihn lieben, er verdirbt mich und ist unantastbar. Dein Wille geschehe.« Aber sie schnellte auf aus dem Staube. »Gib mir ein Zeichen, daß die Prüfung nicht immer dauern soll! Daß ich des Feindes Herr werden soll! Wo nicht, laß mich sterben! Auch du, Herr - « Sie ging auf den Knien bis unter den Kruzifixus. » - auch du ersehntest das Ende deiner Marter. Und von deinen Wunden hast du keine mehr vor mir voraus. Sage, daß du ihn zu deiner Zeit schlagen wirst und verderben und mich erhöhen! Gib mir das Zeichen!« Fahler Morgen traf sie in die Augen; sie schloß sie. Ihre Stirn war kalt vom Schweiß. Ihr Mund krümmte sich zukkend nach unten. Ihre erhobenen Hände waren ineinandergekrampft und zitterten. Plötzlich ein Schrei: gellend, entsetzensvoll. »Du hast mich geküßt! Mit meiner Stirn habe ich deine Leichenlippen gefühlt!« Und sie sank zusammen und weinte. 128

VI

»Neigt Euer Ohr, Vater! Ja, ich komme spät; dahinten im dämmerigen Schiff kniet höchstens noch ein Bettler; aber wir können nicht leise genug flüstern. Wißt Ihr, von welcher Sünde Ihr mich freisprechen sollt? Von derselben, die Sankt Petrus an unserm Herrn beging. An seinem Vertreter auf Erden begehe nun ich sie; ja, ich will unsern Herrn Papst verraten! Ich will vor seinem Henker, dem König, die Ai'da singen . . . Ich dürfe es nicht, sagt Ihr? Um meiner selbst willen nicht; denn alle Ehre in Rom komme mir von Seiner Heiligkeit, die mich so oft in ihrem Vorzimmer singen läßt, die mir Gnadengeschenke und Orden gibt, ja, die mit ihrer heiligen Person mein Haus beglückt? Das ist noch nicht alles, Vater; Ihr wißt nicht alles. Ehre habe ich auch draußen, wo nicht Seine Heiligkeit befiehlt. Ich bin die Branzilla, auch draußen. Aber ich habe einen Schwur auf mir, einen Glauben, eine Pflicht. Hört mich! Dies ist eine Sache um Leben und Tod. Ihr seid nicht jünger als ich. Ihr werdet wissen, daß an dem Tage, als die Branzilla zum erstenmal vor Rom hintrat, Rom in Revolution war. Die Liberalen wollten mich hindern zu singen. Ich glaube, daß Gott die Revolution nur darum zugelassen hat, daß mein Weg dorniger, meine Ankunft glänzender und ihm gefälliger sei. Sie hatten verbreitet, daß ich im Hause des Fürsten Rupa meine Stimme erhebe, um ihre Verschwörung zu übertönen. Ich war in höchster Gefahr, in den Kerker geworfen zu werden, an eben dem Abend, da ich zuerst mich hören lassen sollte! Aber ich entging ihren Netzen und ließ sie statt meiner den Rupa fangen. Wie sie dann im Theater gewütet haben! Wie ich kämpfen mußte, sie zu erobern, ihnen ihre Kraft zu nehmen, diesen tausend Geliebten! Denn ja, ich liebte sie, wie Dalila den Simson! . . . Damals, Vater, während jenes Ringens, habe ich mich für immer der Partei des Papstes versprochen. Ihr seid wenige, und ihr liebt die Menschen nicht. Aber auch ich liebe sie nicht und will nicht ihre Gemeinschaft. Ich war euer, ich war des Papstes. Ich hatte das Glück, ihm nützen zu können. An den Höfen da und dort konnte ich einige Worte sprechen, die sein Ge129

schäft besorgten; konnte mehrere schwärmerische Seelen zu seinem Vorteil stimmen. Und jedesmal nachher sang ich besser. Immer, wenn Seine Heiligkeit oben war, fühlte auch ich mich oben. Ich zitterte, sang ich in London, um den Kirchenstaat und daß die Italiener, noch ehe mein Gastspiel zu Ende sei, in Rom einbrächen . . . Nun sind sie eingebrochen. Ihr versteht mich kaum, so widerlich gellen draußen die Hörner ihrer Bersaglieri . . . Sie sind vorbeigelaufen mit ihren Fahnen, mit dem dummen Jubel des Volkes. Was nun, Vater? Ich hatte alles auf die Sache des Papstes gesetzt, und er ist geschlagen. Ich werde also vor seinem Sieger singen. Sprecht mich frei! Ihr wollt nicht? Ihr sagt, mein Verrat sei Todsünde? Unser Herr Papst habe die Seinen nie nötiger gehabt als jetzt? Laßt! Ich weiß, wieviel ich wage und wie leicht mich dies in die Hölle führen kann. Ihr wäret nicht dabei, als ich kämpfte! Es ist furchtbar, daß diese Brut unsern Herrn überwältigen mußte. Aber ich habe - neigt Euer Ohr! - den Verdacht, daß Gott hiermit eine große Versuchung für mich plant . . . Hört, eine andere Versuchung, nicht weniger schrecklich, hat er soeben beendet. Ihr wißt, daß mein Mann, der Cavazzaro, die Stimme verloren hat. Endlich ist er bestraft dafür, daß er sich selbst und die Kunst verließ und unheilig lebte. Wildes Glück packte mich, als es offenbar ward. Aber ich bezwang es. Denn sorgsam mußte zuvor erprobt werden, ob Gott mir wirklich den Sieg bestimmte. Und ich schickte Ulisse nach Paris, daß sie ihm eine künstliche Stimme machten, wie sie's dort können. Nun ist er zurückgekehrt und krächzt. Gott hat's gewollt. Der, an den ich meine Kunst hätte abdanken wollen; der, den ich gern vergiftet hätte; der, den ich lieben mußte; nun liegt er darnieder. Ich aber singe, wie mit zwanzig Jahren. Alle Versuchungen, zu denen er mir geschickt war, sind gebrochen; ich habe sie überstanden. Jetzt muß ich singen, vor wem immer, muß singen und triumphieren. Wozu hätte ich gelebt, wenn ich jetzt nicht sänge? Soll ich's bezahlen, wie Ihr sagt, Vater; gut denn, ich bezahle. Mit dem ewigen Feuer, sagt Ihr? Es sei, mit dem ewigen Feuer. Immerhin: ich flüsterte Euch von meinem Verdacht, daß auch dies nur eine große Versuchung sei, die allergefährlichste, und daß Gott wissen wolle, ob ich so heilig sei, daß ich auch noch der 130

Hölle und all ihren Ängsten trotze, wenn es zu singen gilt. Wer weiß, vielleicht werde ich vor Gottes und unseres Herrn Papstes Feind singen und dafür maßlos erhöht werden . . . Ihr glaubt es nicht? Ich lästere, sagt Ihr? Ich sei verworfen? Ihr könnt mich nicht frei machen? So bitte ich Euch nur noch: betet für mich, denn ich werde singen. Ich werde vor dem Feinde Gottes, vor dem Schänder seiner Stadt singen und dabei wissen, daß ich auf meinen Tönen nicht mehr zum Himmel, sondern in die Hölle steige. Aber die Kunst, die Gott selbst ist, will es. Er will, daß ich die Verdammnis verdiene, und ich gehorche ihm. Ihr hört, wie mir die Zähne aufeinanderschlagen. Ich bin in kalter Hitze. Die Gedanken verwirren sich mir. Gelbe Flammen schießen vor mir auf. Die Hölle! Die Hölle! Rettet mich! Ihr rettet mich nicht? Dann muß ich in den Flammen stehn und singen!«

VII »Wer sagt, daß wir alt sind! Du, ja, du bist's! Da keine Frau dich mehr gebrauchen kann und du zum Wein kein Geld mehr hast! Ich bin noch immer die Branzilla; und sing ich nicht mehr alle Abende, so singe ich immer noch jeden Monat einmal oder doch einmal die Saison. Niemand geht es an, wie ich inzwischen lebe. Du brauchst es mir nicht zu sagen; oft verwirrt sich mein Kopf. Mag sein, daß ich die Menschen oft gequält habe: meine Tochter und auch dich; daß ich mich mit Wirtinnen herumzanke, nicht bezahlen mag, und daß es Städte gibt, in denen kein Haus mehr mich aufnimmt. Wo bleiben all diese Miseren, wenn ich singe, noch einmal singe. Ich habe vier Wochen lang im Dunkeln gelegen, habe gefastet, mich gereinigt und meine Kraft von Gott zurückerbeten. Nun aber trete ich hervor. Für eine Nacht, für drei Stunden: gleichviel, da stehe ich noch einmal im Glanz und höre das Volk zu meinen Füßen atmen. Ich singe; mein Herz hat wieder die Gewalt eines zwanzigjährigen Herzens; meine Glieder spannen sich; meine Lippen sind fest und jung. Fragt nicht, mit welchen Qualen ich meine Auferstehung bezahle. Klatscht! Schreit! Seht hier den Schatten größerer Zeiten durch eine 131

eurer Nächte streichen! Ihr fühltet nie diese Leidenschaft. Keiner von euch erfuhr, wie das Leben heilig ist. Faßt, bevor euer Scheindasein schwindet, einmal doch Bewunderung für die, der von Gott die volle Wirklichkeit ward! Ja, eine Siebzigjährige, und noch immer die Branzilla!« »Ich muß wohl gehen? Meine blinden Augen sehen dich nicht; aber deine Stimme klang sehr erregt. Du wirst nun für den Rest des Tages krank sein und nicht wollen, daß wir essen? . . . Du antwortest mir nicht. Ich gestehe dir, daß ich Hunger habe.« »So geh und mäste dich!« »Ich habe kein Geld, um zu essen.« »Ach, kein Geld. Und die zehn Soldi, die ich dir am Dienstag gab? Wir haben erst Freitag.« »Ein wenig Tabak, einen kleinen Kuchen für die Kinder, die so gut zu mir sind und mich armen Blinden über die Straße führen.« »Jaja, alle sind gut zu dir. Du bist so sympathisch: ein milder Greis mit einem bleichen, edeln Antlitz in ehrwürdiger Locken Zier, der das Augenlicht verlor. Dich bemitleiden sie und nahen dir gern, trösten und helfen gern. Mir sehen sie mißtrauisch und feindlich entgegen. Sie verstehen nicht, warum diese alte Frau so grade vorbeigeht und niemand anspricht. Mein Gesicht finden sie böse. Um mein Leiden sorgen sie sich nicht. Seine Herkunft ist freilich seltener und dunkler als die Herkunft des deinen. Du hast leicht gelebt und wirst leicht sterben.« »Auch ich habe wohl manches ertragen müssen. Meinst du, es sei eine Kleinigkeit gewesen, als ich die Stimme verlor? Vorher saß ich bei den Großen zu Tisch. Ohne dich kränken zu wollen, darf ich sagen, daß vornehme Damen mir ihre Gunst anboten. Wie schön war's, wenn ich in einem Garten stand und den Frauen sang, die um mich her auf dem Rasen saßen. Wieviel Sonne auf ihnen! Weh mir! Die Sonne ging mir unter, noch vor dem Tode. Keine Stimme, keine Augen, mir ist nichts übrig.« »Nichts. Denn du kannst dir nicht denken, wie jemand ohne Stimme, in ewigem Dunkel einen Palast aus Tönen bewohnt. So Großes ahnte dir in deinem Glänze nie; wie sollte 132

es dir als verbrauchtem Lustigmacher noch einfallen! Alle Tage w a r d bei dir ein Heiliger gefeiert. N u n ist das Deine verputzt; N a r r , der du einst vom unerschöpflichen Kapital in deiner Kehle prahltest! N u n bekommst du bei mir ein wenig geringeres Essen als ehedem von den Reichen. U n d darum wagst du es, mir von deinem Leiden zu flennen? Mir, deren ganzes Leben einsame Marter war? Ach, laß dich von den Leuten liebhaben, jetzt wie früher. Behalte jeden deiner Freunde und die Erinnerung all deiner Genüsse - aber mache mich nicht rasend dadurch, daß du vom Leiden sprichst! Dein Mund ist des Wortes nicht würdig. Er ist zu edel und wohllautend, dein Mund. Ach, ach, du! D u hattest am Ende nur Wert, weil du zu meiner Qual beitragen solltest: zu meinem Schicksal.« »Was habe ich dir getan?« »Jaja! Nichts. Du tatest nichts; du warst da. An dir erlebte ich, daß meine ganze qualvolle Größe vergeblich ward. Du hattest ja das Abbild davon. Nichts brauchtest du zu erarbeiten, nichts zu erleiden, und hattest doch noch das genaue Abbild. Kein Zweifel, du warst ein Künstler. Es war schrecklich. Zum Glück sind wir darüber hinaus. Es war so schrecklich, weil ich selbst dich habe ans Licht ziehen müssen, dich abrichten und herausstaffieren. Was hattest du je, Elender, das dir nicht von mir kam? Zeige mir ein Lorbeerblatt oder einen Dukaten, die nicht eigentlich mir gebührten!« »Ich war doch ein Künstler! D u beleidigst mich alten Mann, du machst mich krank. Ich war doch ein Künstler! Millionen sind durch diese H ä n d e geflossen. Ich möchte schwören, daß ich mehr verdient habe als du.« »Aber du ziehst mir mein Geld aus der Tasche!« »Seit drei Tagen gabst du mir zehn Soldi.« »Ich mäste dich; und anstatt zu sterben und mich von dir zu befreien, ehe mein Geld zu Ende ist, machst du mir Auftritte!« »Ich bitte dich, ich bitte dich . . . « »Ach, er weint. Tränen entquellen seinen blinden Augen. Wenn das die Leute sähen, wie sympathisch du ihnen wärest! Aber du hast wohl vergessen, daß du mich, als ich die Celimena sang im Pagliano zu Florenz, um den ganzen Erfolg betrogen hast? Nicht immer warst du so voll Güte und Sanft133

mut wie heute. Ich singe die Celimena, ich erschöpfe meine Kunst, diese faulen Bäuche zu bewegen, und auf einmal hör ich sie lachen. Ja, sie lachen, weil hinter mir du stehst und deine Fratzen machst. Sie sehen deinem stummen Spiel zu, und ich singe vergebens.« »Ich mußte spielen. Der Pandolfo, du weißt es wohl, trägt den Spiegel herbei. Er fängt den Nacken der Celimena darin auf und küßt ihn. Er hat sich mit anmutiger und etwas possierlicher Traurigkeit zu benehmen.« »Auch wenn die Branzilla singt? Du bist neidisch und tükkisch. Am Abend der Celimena hat man mich vor dir gewarnt. Ich würde dir sagen, wer, wenn ich nicht für ihn, der mir wohlwill, deine Rache fürchtete. Du selbst warst als Pandolfo durch Trunk unfähig zu singen.« »Das ist nicht wahr! Du befleckst meine Vergangenheit. Ich war ein Pandolfo, von dem der Dichter Rasi sagte, er habe das göttliche Lächeln. Hörst du, das göttliche Lächeln!« »Das göttliche Lächeln! Da hebst du die Arme und bist außer dir. Alle Milde des blinden Greises ist dahin, nun man an seine Eitelkeit rührt.« »Ich habe nichts als zehn Jahre der Erinnerungen: in siebzig Jahren weiter nichts. Ich lebte so rasch. Greifst du meine Erinnerungen an, dann bin ich verloren, dann weiß ich nicht, was geschieht!« »Ich will nicht, daß du Erinnerungen habest! Wollten doch endlich auch deines Geistes Augen erlöschen! Du warst ein Intrigant, der mir den Weg verstellte. Warst du überhaupt ein Künstler? Ich zweifle, ob ich mich nicht narren ließ.« »Du bist grauenhaft! Der Teufel erfindet nichts Schwärzeres! Wer rettet mich vor dir!« Die Branzilla sah, knochig aufgereckt, aus Geieraugen ihrem blinden Gatten nach. Er stieß an die Möbel; seine Hände schwankten klagend über seinem Kopfe; da flog die Tür auf. »Was schreit ihr schon wieder? Keiner der Tage, die ich hier bin, ist ohne Geschrei vergangen. Die Nachbarn treten auf die Treppen hinaus, so laut schreit ihr. Mama, hast du ihn wieder gequält?« Die Branzilla sagte mit flötender Stimme: 134

»Beunruhige dich nicht, Töchterchen! Wir unterhielten uns von der Celimena. Dein Vater hat an dem Abend nicht gehandelt, wie er es mir schuldete.« »Ich hatte das göttliche Lächeln, sagte der Dichter Rasi!« »Er hat mir die Rolle verdorben; ich sagte ihm nichts als die Wahrheit.« »Sie übertrifft den Teufel! D a ß du es weißt, Kind, wenn ich nicht mehr leben werde; der Teufel kommt ihr nicht gleich.« »Werdet ihr mir erklären, um was ihr euch streitet?« »Um Celimena, Töchterchen, die berühmte Oper des Maestro Tiberini.« »Ich hörte nie von ihr.« »Ich war der erste Pandolfo ganz Italiens!« »Wann war die Aufführung, von der ihr sprecht?« »Laß mich denken . . . neunundfünfzig.« »Das sind vierzig Jahre! Ihr streitet euch in eurem Alter; du bringst Papa von Sinnen; ihr schreit, daß draußen ein Auflauf entsteht: und alles um Dinge, die vor vierzig Jahren waren! Von denen keiner außer euch mehr weiß! Die Hände, die euch damals Beifall klatschten, sind bald alle vermodert; wollt ihr nun nicht Ruhe geben? Wahrhaftig: etwas Liebenswertes ist's um die Kunst!« Die Tochter nahm den Alten beim Arm. »Draußen stehen deine alten Freunde, Papa. Sie getrauen sich nicht herein, aus Furcht vor Mama. Geh mit ihnen ins Wirtshaus; da ist Geld - und bleibe nur dort, bis ich dich zurückhole. Wenn ich dich zurückhole, armer Alter, wird der Wein dich lustig gemacht haben.« »Ich fürchte, Tochter, daß kein Wein mehr mich lustig macht.« Die Tocher kehrte zurück, die H ä n d e auf den H ü f t e n . Die Branzilla erwartete sie scheu. »Schön hast du ihn zugerichtet! Hexe! Von deiner Bosheit wird man länger reden als von deiner Kunst. Jetzt duckst du dich, denn ich bin breit und rot. Den schwachen Alten aber wirst du noch zu Tode quälen. O h ! Menschlichkeit hast du nie gekannt. Was tatest du mit mir, als ich jung w a r ; wie verdarbst du elend mein Leben! Ich liebte, und ich ward ge135

liebt. Heute könnte ich glücklich sein. Ich könnte Kinder haben. Nun aber lebe ich allein, in Gasthauszimmern, unter Fremden. Das ist dein Werk. Ich sollte nicht heiraten, du wolltest mich nicht wie die anderen Mädchen. Als ein Monstrum wolltest du mich, als ein singendes Monstrum. Ich hasse die Kunst, die du mich lehrtest!« »Undankbares Töchterchen! Und sie ist die berühmteste Konzertsängerin Europas!« »Mit vierzig Jahren bin ich's endlich geworden; und ich finde nicht, daß mir mit fünftausend Francs für den Abend meine Entbehrungen bezahlt sind.« »Mein Kind, ich sterbe zufrieden, da ich dich groß hinterlasse. Mein Name wird, mit deinem verschmolzen, länger dauern.« »Das ist's nicht. Eifersüchtig warst du, das ist's.« »Ich habe große Laster«, sagte die Branzilla und senkte schief den Kopf. »Ich werde wohl auch dieses haben. Aber glaubst du, Tochter, daß ich böse bin, weil es mir gut geht? Es geht mir nicht gut; es ist mir niemals gutgegangen; und auch mir sind meine Entbehrungen nicht bezahlt worden. Ich denke jetzt manchmal des Fürsten Dario Rupa, eines jungen Mannes, der, als ich selbst ganz jung war, für mich starb. Richtiger wär's vielleicht, zu sagen, daß ich ihn tötete. Soll ich dir etwas Schreckliches gestehen? Ich wünsche mir jetzt oft, ich hätte ihn damals nicht dem Hauptmann verraten, ich wäre mit ihm in den Kerker gegangen . . . Glaubst du, daß ich ihm noch gefallen könnte? Ich habe noch meine Stimme. Nächsten Monat werde ich im Palazzo Doria die Gioconda singen. Wird nicht der Russe dort sein, der dich am Dienstag besuchte? Er gefiel mir; und er behandelte mich, als ob ich ihm gefiele. Wir wollen ausgehen, Töchterchen; ich möchte seidene Strümpfe kaufen.« Da die Tochter ihr den Rücken gewandt hatte: »Willst du nicht >Meine süße Liebe< üben, für dein Konzert? Niemand versteht es zu singen wie du.« »Gut! Gut!« rief sie dazwischen; und nach der letzten Note: »Wir mögen böse sein, darben und uns quälen, so haben wir doch die Kunst. Ich habe dafür gesorgt, daß du sie erwarbest, und ich tat wohl daran. Du wirst die letzte sein, die von 136

der Kunst des bei canto weiß. Wir dienten um sie acht Jahre lang. Die Heutigen lernen zwei - und nach anderen zwei sind sie kaputt. Du wirst, wie ich, noch mit siebzig singen . . . Gut, gut!« rief sie wieder, mit falscher Stimme. Denn sie meinte die Tochter dabei zu überraschen, daß ihr die Töne in den Hals rutschten. Die Branzilla dachte: »Sie ist nicht mehr wie früher. Auch mit ihr geht's also zu Ende. Ich aber habe noch meine Stimme, ich allein.< » . . . N i m m mich mit! Auch ich will ausgehn.« Aber die Tochter stürzte wieder herein: bleich, nach vorn geworfen, mit schlotternden Fäusten. Sie erzwang sich Atem. »Er hängt dort. Papa hängt dort. Er hat sich erhängt.« Sie schlich über die Schwelle und nebenan die W a n d entlang. Die Branzilla schloß die Tür. Sie begann im Zickzack umherzuhasten: aufgescheucht, in die Enge getrieben, mit Blicken wie nach Verfolgern . . . Plötzlich hielt sie an, hob die Schultern und zog sie, ausatmend, heftig herunter. Sie horchte; dann holte sie einen metallenen Kasten heraus und setzte sich davor... Die Tochter f u h r ins Zimmer. »Ich habe ihn abgeschnitten; er ist tot. Du hast ihn getötet! Ach, wäre das deine letzte Tat. Ich werde nicht zufrieden sein, bevor ich dich im Irrenhaus weiß. Zu allem Segen, den deine große Kunst uns allen gebracht hat, möchte sie dich nun noch ins Irrenhaus führen!« Die Branzilla zählte das Geld in dem Kasten. »Ich habe nicht genug, ihn zu begraben. Warum hat er sich erhängt? Es war ihm nur ein neues Mittel, mir zur Last zu fallen.« »Hexe! Mörderin! Ich werde dich in eine Anstalt sperren!« »Nächsten Monat singe ich im Palazzo Doria. Ich werde in keine Anstalt gehen. Ich werde nicht durch Aufregung meiner Stimme schaden. Nächsten Monat singe ich im Palazzo Doria.«

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ROBERT

WALSER

»Guten Tag, Riesin!« Es ist einem, als schüttle da eine Riesin ihre Locken und strecke ein Bein zum Bett heraus, wenn man am frühen Morgen, noch ehe die Elektrischen fahren, von irgendeiner Pflicht angetrieben, in die Weltstadt hineingeht. Kalt und weiß liegen die Straßen wie ausgestreckte Menschenarme da; man läuft, reibt sich die Hände und sieht, wie zu den Toren und Türen der Häuser Menschen heraustreten, als speie ein ungeduldiges Ungeheuer seinen warmen, flammenden Speichel aus. Augen begegnen dir, wenn du so dahergehst, Mädchenund Männeraugen, trübe und frohmütige; Beine laufen hinter und vor dir, und du selber beineist auch, was du nur kannst und schaust mit deinen eigenen Augen, mit denselben Blicken, wie alle blicken. Und die Brüste tragen alle irgendein verschlafenes Geheimnis, und in den Köpfen allen spukt irgendein wehmütiger oder anspornender Gedanke. Herrlich, herrlich! Da ist es also kalter, halb sonniger, halb trüber Morgen, viele, viele Menschen liegen noch in ihren Betten, Schwärmer, die die Nacht und den halben Morgen durchgelebt und -geabenteuert haben, Vornehme, zu deren Lebensgewohnheiten es gehört, spät aufzustehen, faule Hunde, die zwanzigmal erwachen, gähnen und wieder einschnarchen, Greise und Kranke, die sich überhaupt nicht mehr oder nur mühsam erheben können, Frauen, die geliebt haben, Künstler, die sich sagen: a was, quatsch, früh aufstehen, Kinder von reichen, schönen Eltern, fabelhaft gepflegte und behütete Wesen, die in ihren eigenen Stuben, hinter schneeweißen Fensterumhängen, das Mündchen offen, märchenhaft träumend, bis neun, zehn oder elf Uhr schlafen. Was zu solch früher Morgenstunde auf den wild ineinander verschlungenen Straßen gramselt und ameiselt, das sind, wenn nicht Dekorationsmaler, so doch vielleicht Tapezierer, Adressenschreiber, kleine, lausichte Agenten, Menschen auch, die einen frühen Eisenbahnzug nach Wien, München, Paris oder Hamburg erreichen wollen, kleine Menschen in der Regel, Mädchen von allen möglichen Erwerbszweigen, Erwerbende also. Einer, der dem Rummel zusieht, muß das not138

wendigerweise einzig finden. Er geht dann so und meint beinahe, auch rennen, atempusten und seine Arme hin und her schwenken zu müssen; das Treiben und Emsigtun ist ja so ansteckend, wie etwa ein schönes Lächeln ansteckend sein kann. Nein, nicht so. Der frühe Morgen ist noch etwas ganz anderes. Er schleudert aus Kneipen etwa noch ein paar schmierig gekleidete Nachtgestalten mit ekelhaft rotbemalten Gesichtern auf die blendend-staubig-weiße Straße hinaus, wo sie eine gute Weile, den Hakenstock an der Schulter tragend, blödsinnig stehen bleiben, um Vorübergehende anzuöden. Wie ihnen die trunkene N a c h t zu den schmutzigen Augen hinausblendet! Weiter, weiter. Bei Besoffenen hält sich das blauäugige Wunder, der frühe Morgen, nicht auf. Er hat tausend schimmernde Fäden, womit er dich weiterzieht, er schiebt dich von hinten und lockt und lächelt dich von vorne an; du siehst hinauf, wo ein weißlich verschleierter Himmel ein paar zerrissene Stücke Blau hervorläßt; hinter dich, um einem Menschen, der dich interessiert, nachzuschauen, neben dich, an ein reiches Portal, hinter dem ein fürstliches Palais verdrossen und vornehm emporragt. Statuen winken dir aus Gärten und Parkanlagen entgegen; immer gehst du und hast flüchtige Blicke f ü r alles, f ü r Bewegliches und Feststehendes, f ü r Droschken, die träge fortrumpeln, f ü r die Elektrische, die jetzt zu fahren beginnt, von der herab Menschenaugen dich ansehen, f ü r den stupiden Helm eines Schutzmannes, für einen Menschen mit zerrissenen Schuhen und Hosen, f ü r einen zweifellos ehemals Gutsituierten, der im Pelzmantel und Zylinder die Straße fegt, f ü r alles, wie du selber f ü r alles ein flüchtiges Augenmerk bist. Das ist das Wunder der Stadt, daß eines jeden H a l t u n g und Benehmen untertaucht in all diesen tausend Arten, daß das Betrachten ein flüchtiges, das Urteil ein schnelles und das Vergessen ein selbstverständliches ist. Vorüber! Was ist vorüber? Eine Fassade aus der Empirezeit? Wo? D a hinten? Ob sich da einer wohl entschließen kann, sich nochmals umzudrehen, um der alten Baukunst einen Extrablick zu schenken? J woher. Weiter, weiter! Die Brust dehnt sich, die Riesin Weltstadt hat jetzt in aller üppigen Gemächlichkeit ihr schimmernd-durchsonntes H e m d angezogen. So eine Riesin kleidet sich eben ein bißchen langsam an; dafür aber duftet und d a m p f t und pocht

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und läutet jede ihrer schönen, großen Bewegungen. Droschken mit Amerikakoffern obenauf poltern und radebrechen vorbei, du gehst jetzt im Park; die stillen Kanäle sind noch mit grauem Eis bedeckt, die Matten frieren dich an, die schlanken, dünnen, kahlen Bäume jagen dich mit ihrem zitterndfrörlichen Aussehen flugs weiter; Karren werden geschoben, zwei herrschaftliche Fuhrwerke aus der Remise irgendeines Menschen von offiziellem Gepräge, jedes zwei Kutscher und einen Lakaien tragend, jagen vorüber; immer ist etwas, und jedesmal ist das Etwas, wenn man es näher betrachten will, verschwunden. Natürlich hast du eine Unmenge Gedanken während deines einstündigen Marsches, du bist Dichter und kannst dazu ruhig deine Hände in den Taschen deines hoffentlich anständigen Überziehers behalten; du bist Maler und hast vielleicht bereits während deines Morgenspazierganges fünf Bilder fix und fertig gemacht. Du bist Aristokrat, Held, Löwenbändiger, Sozialist, Afrikaforscher, Tänzer, Turner oder Kneipenwirt gewesen, hast flüchtig geträumt, eben jetzt dem Kaiser vorgestellt worden zu sein. Er ist vom Thron herniedergestiegen und hat dich in ein halbstündiges, vertrauliches Gespräch, an welchem sich auch die Frau Kaiserin dürfte beteiligt haben, gezogen. Du bist in Gedanken Stadtbahn gefahren, hast Dernburg seinen Lorbeerkranz vom Haupte gerissen, geheiratet und dich in einer Ortschaft in der Schweiz heimisch niedergelassen, ein bühnenfähiges Drama geschaffen - lustig, lustig, weiter, he da, was? Sollte das? Ja, da ist dir dein Kollege Kitsch begegnet, und da seid ihr zusammen nach Hause gegangen und habt Schokolade getrunken.

FRANZ

KAFKA

Gespräch mit dem Beter Es gab eine Zeit, in der ich Tag um Tag in eine Kirche ging, denn ein Mädchen, in das ich mich verliebt hatte, betete dort kniend eine halbe Stunde am Abend, unterdessen ich sie in Ruhe betrachten konnte. 140

Als einmal das Mädchen nicht gekommen war und ich unwillig auf die Betenden blickte, fiel mir ein junger Mensch auf, der sich mit seiner ganzen mageren Gestalt auf den Boden geworfen hatte. Von Zeit zu Zeit packte er mit der ganzen K r a f t seines Körpers seinen Schädel und schmetterte ihn seufzend in seine Handflächen, die auf den Steinen auflagen. In der Kirche waren nur einige alte Weiber, die o f t ihr eingewickeltes Köpfchen mit seitlicher Neigung drehten, um nach dem Betenden hinzusehn. Diese Aufmerksamkeit schien ihn glücklich zu machen, denn vor jedem seiner frommen Ausbrüche ließ er seine Augen umgehn, ob die zuschauenden Leute zahlreich wären. Ich f a n d das ungebührlich und beschloß, ihn anzureden, wenn er aus der Kirche ginge, und ihn auszufragen, warum er in dieser Weise bete. Ja, ich war ärgerlich, weil mein Mädchen nicht gekommen war. Aber erst nach einer Stunde stand er auf, schlug ein sorgfältiges Kreuz und ging stoßweise zum Becken. Ich stellte mich auf dem Wege zwischen Becken und Tür auf und wußte, daß ich ihn nicht ohne Erklärung durchlassen würde. Ich verzerrte meinen Mund, wie ich es immer als Vorbereitung tue, wenn ich mit Bestimmtheit reden will. Ich trat mit dem rechten Beine vor und stützte mich darauf, während ich das linke nachlässig auf der Fußspitze hielt; auch das gibt mir Festigkeit. N u n ist es möglich, daß dieser Mensch schon auf mich schielte, als er das Weihwasser in sein Gesicht spritzte, vielleicht auch hatte er mich schon früher mit Besorgnis bemerkt, denn jetzt unerwartet rannte er zur Türe hinaus. Die Glastür schlug zu. U n d als ich gleich nachher aus der Türe trat, sah ich ihn nicht mehr, denn dort gab es einige schmale Gassen und der Verkehr war mannigfaltig. In den nächsten Tagen blieb er aus, aber mein Mädchen kam. Sie w a r in dem schwarzen Kleide, welches auf den Schultern durchsichtige Spitzen hatte - der Halbmond des H e m d randes lag unter ihnen - , von deren unterem Rande die Seide in einem wohlgeschnittenen Kragen niederging. U n d da das Mädchen kam, vergaß ich den jungen Mann, und selbst dann kümmerte ich mich nicht um ihn, als er später wieder regel141

mäßig kam und nach seiner Gewohnheit betete. Aber immer ging er mit großer Eile an mir vorüber, mit abgewendetem Gesicht. Vielleicht lag es daran, daß ich mir ihn immer nur in Bewegung denken konnte, so daß es mir, selbst wenn er stand, schien, als schleiche er. Einmal verspätete ich mich in meinem Zimmer. Trotzdem ging ich noch in die Kirche. Ich fand das Mädchen nicht mehr dort und wollte nach Hause gehn. Da lag dort wieder dieser junge Mensch. Die alte Begebenheit fiel mir jetzt ein und machte mich neugierig. Auf den Fußspitzen glitt ich zum Türgang, gab dem blinden Bettler, der dort saß, eine Münze und drückte mich neben ihn hinter den geöffneten Türflügel; dort saß ich eine Stunde lang und machte vielleicht ein listiges Gesicht. Ich fühlte mich dort wohl und beschloß, öfters herzukommen. In der zweiten Stunde fand ich es unsinnig, hier wegen des Beters zu sitzen. Und dennoch ließ ich noch eine dritte Stunde schon zornig die Spinnen über meine Kleider kriechen, während die letzten Menschen lautatmend aus dem Dunkel der Kirche traten. Da kam er auch. Er ging vorsichtig, und seine Füße betasteten zuerst leichthin den Boden, ehe sie auftraten. Ich stand auf, machte einen großen und geraden Schritt und ergriff den jungen Menschen. »Guten Abend«, sagte ich und stieß ihn, meine Hand an seinem Kragen, die Stufen hinunter auf den beleuchteten Platz. Als wir unten waren, sagte er mit einer völlig ungefestigten Stimme: »Guten Abend, lieber, lieber Herr, zürnen Sie mir nicht, Ihrem höchst ergebenen Diener.« »Ja«, sagte ich, »ich will Sie einiges fragen, mein Herr; voriges Mal entkamen Sie mir, das wird Ihnen heute kaum gelingen.« »Sie sind mitleidig, mein Herr, und Sie werden mich nach Hause gehen lassen. Ich bin bedauernswert, das ist die Wahrheit.« »Nein«, schrie ich in den Lärm der vorüberfahrenden Straßenbahn, »ich lasse Sie nicht. Gerade solche Geschichten gefallen mir. Sie sind ein Glücksfang. Ich beglückwünsche mich.« 142

D a sagte er: »Ach Gott, Sie haben ein lebhaftes Herz und einen Kopf aus einem Block. Sie nennen mich einen Glücksfang, wie glücklich müssen Sie sein! Denn mein Unglück ist ein schwankendes Unglück, ein auf einer dünnen Spitze schwankendes Unglück, und berührt man es, so fällt es auf den Frager. Gute Nacht, mein Herr.« »Gut«, sagte ich und hielt seine rechte Hand fest, »wenn Sie mir nicht antworten werden, werde ich hier auf der Gasse zu rufen anfangen. Und alle Ladenmädchen, die jetzt aus den Geschäften kommen, und alle ihre Liebhaber, die sich auf sie freuen, werden zusammenlaufen, denn sie werden glauben, ein Droschkenpferd sei gestürzt oder etwas dergleichen sei geschehen. Dann werde ich Sie den Leuten zeigen.« D a küßte er weinend abwechselnd meine beiden Hände. »Ich werde Ihnen sagen, was Sie wissen wollen, aber bitte, gehen wir lieber in die Seitengasse drüben.« Ich nickte, und wir gingen hin. Aber er begnügte sich nicht mit dem Dunkel der Gasse, in der nur weit voneinander gelbe Laternen waren, sondern er führte mich in den niedrigen Flurgang eines alten Hauses unter ein Lämpchen, das vor der Holztreppe tropfend hing. Dort nahm er wichtig sein Taschentuch und sagte, es auf eine Stufe breitend: »Setzt Euch doch, lieber Herr, da könnt Ihr besser fragen, ich bleibe stehen, da kann ich besser antworten. Q u ä l t mich aber nicht.« D a setzte ich mich und sagte, indem ich mit schmalen Augen zu ihm aufblickte: »Ihr seid ein gelungener Tollhäusler, das seid Ihr! Wie benehmt Ihr Euch doch in der Kirche! Wie ärgerlich 1 ist das und wie unangenehm den Zuschauern! Wie kann man andächtig sein, wenn man Euch anschauen muß.« Er hatte seinen Körper an die Mauer gepreßt, nur den Kopf bewegte er frei in der Luft. »Ärgert Euch nicht - warum sollt Ihr Euch ärgern über Sachen, die Euch nicht angehören. Ich ärgere mich, wenn ich mich ungeschickt benehme; benimmt sich aber ein anderer schlecht, dann freue ich mich. Also

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Lesarten I - J siehe Quellenverzeichnis.

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ärgert Euch nicht, wenn ich sage, daß es der Zweck meines Lebens2 ist, von den Leuten angeschaut zu werden.« »Was sagt Ihr da«, rief ich, viel zu laut für den niedrigen Gang, aber ich fürchtete mich dann, die Stimme zu schwächen, »wirklich, was sagtet Ihr da. Ja, ich ahne schon, ja ich ahnte es schon, seit ich Euch zum erstenmal sah, in welchem Zustand Ihr seid. Ich habe Erfahrung, und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist. Deren Wesen ist so, daß Ihr den wahrhaftigen Namen der Dinge vergessen habt und über sie jetzt in einer Eile zufällige Namen schüttet. N u r schnell, nur schnell! Aber kaum seid Ihr von ihnen weggelaufen, habt Ihr wieder ihre Namen vergessen. Die Pappel in den Feldern, die Ihr den >Turm von Babel< genannt habt, denn Ihr wußtet nicht oder wolltet nicht wissen, daß es eine Pappel war, schaukelt wieder namenlos, und Ihr müßtet sie nennen >Noah, wie er betrunken warWas machen Sie, meine Liebe. Es ist so heiß.< Eine Frau antwortete aus dem Garten: >Ich jause im Grünen.< Sie sagten es ohne Nachdenken und nicht allzu deutlich, als müßte es jeder erwartet haben.« Ich glaubte, ich sei gefragt, daher griff ich in die hintere Hosentasche und tat, als suchte ich dort etwas. Aber ich suchte nichts, sondern ich wollte nur meinen Anblick verändern, um meine Teilnahme am Gespräch zu zeigen. Dabei sagte ich, daß dieser Vorfall so merkwürdig sei und daß ich ihn keineswegs begreife. Ich fügte auch hinzu, daß ich an dessen Wahrheit nicht glaube und daß er zu einem bestimmten Zweck, den ich gerade nicht einsehe, erfunden sein müsse. D a n n schloß ich die Augen, denn sie schmerzten mich. »Oh, das ist doch gut, daß Ihr meiner Meinung seid, und es war uneigennützig, daß Ihr mich angehalten habt, um mir das zu sagen. Nicht wahr, warum sollte ich mich schämen - oder warum sollten wir uns schämen - , daß ich nicht aufrecht und 145

schwer gehe, nicht mit dem Stock auf das Pflaster schlage und nicht die Kleider der Leute streife, welche laut vorübergehen. Sollte ich nicht vielmehr mit Recht trotzig klagen dürfen, daß ich als Schatten mit eckigen Schultern die Häuser entlang hüpfe, manchmal in den Scheiben der Auslagsfenster verschwindend. Was sind das für Tage, die ich verbringe! Warum ist alles so schlecht gebaut, daß bisweilen hohe Häuser einstürzen, ohne daß man einen äußeren Grund finden könnte. Ich klettere dann über die Schutthaufen und frage jeden, dem ich begegne: >Wie konnte das nur geschehn! In unserer Stadt - ein neues Haus - das ist heute schon das fünfte — bedenken Sie doch.< Da kann mir keiner antworten. O f t fallen Menschen auf der Gasse und bleiben tot liegen. Da öffnen alle Geschäftsleute ihre mit Waren verhangenen Türen, kommen gelenkig herbei, schaffen den Toten in ein Haus, kommen dann, Lächeln um Mund und Augen, heraus und reden: >Guten Tag - der Himmel ist blaß - ich verkaufe viele Kopftücher - ja, der Krieg.< Ich hüpfe ins Haus und, nachdem ich mehrere Male die Hand mit dem gebogenen Finger furchtsam gehoben habe, klopfe ich endlich an dem Fensterchen des Hausmeisters. >Lieber Mannes wurde ein toter Mensch zu Ihnen gebracht. Zeigen Sie mir ihn, ich bitte Sie.< Und als er den Kopf schüttelt, als wäre er unentschlossen, sage ich bestimmt: >Lieber Mann. Ich bin Geheimpolizist. Zeigen Sie mir gleich den Toten.< >Einen Toten?< fragt er jetzt und ist fast beleidigt. >Nein, wir haben keinen Toten hier. Es ist ein anständiges Haus.< Ich grüße und gehe. Dann aber, wenn ich einen großen Platz zu durchqueren habe, vergesse ich alles5. Die Schwierigkeit dieses Unternehmens verwirrt mich, und ich denke oft bei mir: >Wenn man so große Plätze nur aus Ubermut baut, warum baut man nicht auch ein Steingeländer, das durch den Platz führen könnte. Heute bläst ein Südwestwind. Die Luft auf dem Platz ist aufgeregt. Die Spitze des Rathausturmes beschreibt kleine Kreise. Warum macht man nicht Ruhe in dem Gedränge? Alle Fensterscheiben lärmen, und die Laternenpfähle biegen sich wie Bambus. Der Mantel der heiligen Maria auf der Säule windet sich, und die stürmische Luft reißt an ihm. Sieht es denn nie146

mand? Die Herren und Damen, die auf den Steinen gehen sollten, schweben. Wenn der Wind Atem holt, bleiben sie stehen, sagen einige Worte zueinander und verneigen sich grüßend, stößt aber der Wind wieder, können sie ihm nicht widerstehn, und alle heben gleichzeitig ihre Füße. Zwar müssen sie fest ihre H ü t e halten, aber ihre Augen schauen lustig, als wäre milde Witterung. N u r ich fürchte mich.