»Dichte Beschreibung« in der Arktis: Clifford Geertz und die Kulturrevolution der Inuit in Nordkanada [1. Aufl.] 9783839432341

»Culture as web of significance« - the history and precarious situation of the Inuits makes clear just how important the

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German Pages 484 Year 2015

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Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Darstellung des kulturanthropologischen Ansatzes von Clifford Geertz
2. Anwendung der Geertz’schen Methode: Dichte Beschreibung der indigenen Völker in den Nordwest Territorien Kanadas
3. Diskussion des kulturanthropologischen Ansatzes von Clifford Geertz und seiner Methode zur Erforschung von Kultur
Literatur
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»Dichte Beschreibung« in der Arktis: Clifford Geertz und die Kulturrevolution der Inuit in Nordkanada [1. Aufl.]
 9783839432341

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Barbara Schellhammer »Dichte Beschreibung« in der Arktis

Kultur und soziale Praxis

Den Menschen im Norden Kanadas gewidmet.

Barbara Schellhammer (Dr. phil.), geb. 1977, leitet den Schwerpunkt Erwachsenenbildung an der Hochschule für Philosophie München. Sie lebte und arbeitete viele Jahre in Kanada und beschäftigt sich insbesondere mit Fragen der interkulturellen Bildungs- und Friedensarbeit.

Barbara Schellhammer

»Dichte Beschreibung« in der Arktis Clifford Geertz und die Kulturrevolution der Inuit in Nordkanada

Das vorliegende Werk ist die überarbeitete Fassung der Dissertation, die 2009 an der Hochschule für Philosophie München SJ angenommen wurde. Der Druck wurde durch die großzügige Unterstützung der Hochschule für Philosophie ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Barbara Schellhammer, Fish Lake auf Victoria Island, 2006 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3234-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3234-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort | 7 Einleitung | 9 1

Darstellung des kulturanthropologischen Ansatzes von Clifford Geertz | 11

1.1 1.2 1.3 1.4

Die Person Clifford Geertz und sein Werk | 11 Philosophische Wurzeln des Geertz’schen Denkens | 27 Der Kulturbegriff von Clifford Geertz | 64 Eckpunkte der Geertz’schen Methodik und „dichte Beschreibung“ | 92

2

Anwendung der Geertz’schen Methode: Dichte Beschreibung der indigenen Völker in den Nordwest Territorien Kanadas | 107

2.1 Der Rahmen: Zur Geografie, Politik und Geschichte Kanadas unter besonderer Berücksichtigung der Arktis | 107 2.2 Dichte Beschreibung der Kulturrevolution der Inuit und deren Analyse | 161 2.3 Sivunittini – Unsere Zukunft: Herausforderungen und Chancen | 310 3

Diskussion des kulturanthropologischen Ansatzes von Clifford Geertz und seiner Methode zur Erforschung von Kultur | 331

3.1 Stärken des Geertz’schen Kulturbegriffs vor dem Hintergrund seiner Anwendung | 331 3.2 Diskussion der Geertz’schen Methode der Erkenntnisgewinnung | 355 3.3 Vorschlag des dialogischen Vorgehens als Ergänzung zur dichten Beschreibung | 417 Literatur | 463

Vorwort

Viele Entwicklungsprojekte haben die kulturellen und sozialen Faktoren an den jeweiligen Orten sträflich vernachlässigt. Dies trifft noch mehr auf eine technokratische „Entwicklungspolitik von oben“ zu. In beiden Fällen findet so gut wie kein Dialog mit der Zielbevölkerung, zumal den Armen, statt und die Lebenswelt dieser Menschen wird erst wahrgenommen, wenn daraus Hindernisse für die eigenen Zielvorstellungen und Programme erwachsen. Diese Vorgehensweise ist – zumindest längerfristig – fast immer zum Scheitern verurteilt, denn Entwicklung findet nie in einem sozio-kulturellen Vakuum statt, sondern braucht die Beteiligung der Menschen vor Ort. Sie sollte das vorhandene Potenzial nutzen und auf überkommene Werte Rücksicht nehmen, auch wenn dies mehr Zeit erfordert und Projekte teurer machen kann, zum Beispiel ein Bewässerungsvorhaben, weil das Ableiten von Wasser aus einer „heiligen Quelle“ religiöse Gefühle verletzen würde. Ein weiterer wesentlicher Grund ist, dass sozio-kulturelle Welten weit schwieriger zu erfassen und zu kommunizieren sind als politische Ereignisse und wirtschaftliche Zusammenhänge. Nicht wenige Sozialwissenschaftler und Ökonomen haben dafür keine Ausbildung erhalten und sind ungenügend darauf vorbereitet, in anderen Kulturen zu arbeiten. Umso wichtiger ist es, geeignete Ansätze und Methoden zu finden, die helfen können, diese Defizite zu verringern. Als sehr hilfreich hat sich das Konzept „Dichte Beschreibung“ von Clifford Geertz erwiesen, der jahrzehntelang in Indonesien (Java und Bali) sowie Marokko Feldforschungen durchgeführt hat und auf dieser Grundlage sein theoretisches Konzept entwickelt hat. Besonders wertvoll ist, dass es auch die religiöse Dimension zu erfassen mag, ein Faktor, dessen Wichtigkeit heute in gewisser Weise wieder entdeckt wird. Barbara Schellhammer hatte schon einige Erfahrung mit indigenen Bevölkerungen in Nordamerika sammeln können, bevor sie sich intensiv mit Geertz beschäftigt hat. Dies eröffnete ihr neue Perspektiven und gab ihr tiefer gehende Einsichten in die Lebenswelt dieser Menschen. Sie hat auf diesem Hintergrund dann nochmals viel Feldforschung unter teils sehr widrigen Bedingungen betrieben. Das vorliegen-

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de Ergebnis zeigt nicht nur große Dankbarkeit gegenüber Geertz, den sie kurz vor seinem Tod im Jahr 2006 auch noch persönlich kennen lernen durfte, sondern bestätigt auch, dass seine Methode sehr hilfreich sein kann. Man kann nur hoffen und wünschen, dass auch andere Wissenschaftler diesem Pfad folgen werden. München, 13. Juli 2015 Johannes Müller

Einleitung

Das Wort „Kultur“ ist in Verruf geraten. Es bereitet Menschen Unbehagen, denn es ist unhandlich, störrisch und lässt sich nicht einfangen, weil es sich verstrickt im Dickicht eines begrifflichen Durcheinanders. Dennoch dient der Kulturbegriff häufig als Sündenbock für Stereotypisierung, Kategorisierung, Essentialisierung und sogar den viel zitierten „Kampf“ von Samuel Huntington soll die Kultur verantworten. Clifford Geertz ist so wichtig, weil er mit seinem Kulturverständnis „eine Wahl trifft“, wie er es nennt, welche die lebensnotwendige Bedeutung von Kultur für den Menschen herausstellt. In diesem Angewiesensein auf Besonderheiten und Unterschiede, auf unser „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ gleichen wir uns. Diese Tatsache wird einem nirgendwo deutlicher vor Augen geführt als an Orten, wo Menschen ihr kulturelles Orientierungssystem verloren haben. Die Arktis ist so ein Ort. Die Kulturrevolution der Inuit schleuderte ein Volk, das als Überlebenskünstler jahrhundertelang nomadisch über Eis und Schnee zog, innerhalb kürzester Zeit in die moderne Zivilisation des kanadischen Mainstreams. Die Genauigkeit und Nachdrücklichkeit, mit der Clifford Geertz seinen Kulturbegriff herausarbeitet, besticht – auch wenn er betont, dass dieser immer unabgeschlossen bleiben muss. Denn er entwickelt ihn aus der Begegnung mit den Menschen im Feld. Hier wird er konfrontiert mit Szenen, Verhaltensweisen und Ritualen, die ihn verstören, die ihn verwundert aufschrecken lassen, die ihn sogar existenziell bedrohen. Immer wieder wird er vor den Kopf gestoßen, muss lernen, dass er Verstehen nicht durch die Aneignung von Wissen, durch das Sammeln von Daten und Fakten „über“ die Anderen erreichen kann. Es geschieht vielmehr „ruckartig“ und unberechenbar, wenn er sich öffnet und neugierig nach den Bedeutungen sucht, nach dem Sinn, den die Einheimischen ihrem Handeln geben. Dieses „dichte Verstehen“ ist es, das dem Kulturbegriff vor allem im Nachhinein, also in der ethnografischen Methode, die auf diesem basiert, noch einmal eine ganz besondere Qualität verleiht. Dies durfte ich im Alltag mit den Inuit selbst erfahren. Meine Faszination für Clifford Geertz ist ungebrochen. Sein essayistisches Theoretisieren möchte stets unabgeschlossen bleiben und zielt darauf ab, sich nicht in

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abstrakten Höhenflügen zu weit von der Lebenswirklichkeit der Menschen zu entfernen, sondern seine Leser in das hineinzuversetzen, was er mit den Menschen erlebt hat. Dabei ist beides wichtig: Er erlebt und behauptet nicht, sich übermäßig empathisch eingefühlt zu haben und jetzt aus der Perspektive der Einheimischen verstehen zu können. Zugleich setzt er sich aus, lässt sich korrigieren und bleibt stets ein Lernender. Ich fragte mich lange, wie ich eine methodisch richtige „dichte Beschreibung“ des kulturellen Wandels der Menschen in der Arktis aufs Papier bekommen könnte. Letztlich waren es die Menschen selbst, die mir zeigten, wie es geht, und damit Geertz Recht gaben, als er mir erklärte, ich solle mir nicht den Kopf zerbrechen, sondern einfach schreiben, was ich erlebe, und versuchen zu verstehen – ohne nach Gesetzmäßigkeiten oder abgeschlossenen Theorien zu suchen. So funktioniert eben auch seine Methode, die eigentlich keine sein will, denn jede Methode ist Korsett, sie bestimmt die Parameter, welche der Erkenntnis von Anfang an Grenzen setzen. Meine Zeit im Norden Kanadas, das Leben mit den Inuit, war mit Sicherheit eine der wichtigsten und prägendsten Phasen in meinem Leben. Ich habe versucht, über das zu schreiben, was ich mit den Menschen erleben durfte – auch in der Hoffnung für die Menschen zu schreiben. Ich schreibe aber auch über Clifford Geertz – obwohl er mir sagte, ich solle nicht über ihn, sondern über die Menschen schreiben. Gerade Letzteres hat angesichts schockierender gesellschaftspolitischer Ereignisse – man denke an extremistische Gewalt, Terroranschläge oder inszenierten Widerstand gegen eine offene Flüchtlingspolitik – nichts an seiner Aktualität verloren. Die Erkenntnisse Clifford Geertz’ zur anthropologischen Notwendigkeit von Kultur und von Religion als kulturelles System können helfen, diese Geschehnisse „dichter“ zu verstehen. Es geht dabei aber nicht nur darum, gleichsam After the Fact1 diese Phänomene zu analysieren, sondern sensibel zu werden für Verunsicherungen, Widerstände und Ängste der Menschen, um Gründe für die Gewalt aufzudecken und ihr nachhaltig zu begegnen. Clifford Geertz vermag zudem gleichsam präventiv Projekten interkultureller Bildung einen Kulturbegriff an die Hand zu geben, der über die Funktion als Prügelknabe hinausgeht und einen Weg weisen kann, mit sozio-kulturellen Unterschieden lebensdienlich und bereichernd umzugehen. Hierin drückt sich eine Hoffnung aus, die mich beim Schreiben stets begleitet hat: mich selbst und die Menschen trotz aller Unterschiede oder gerade in allen Unterschieden dichter verstehen zu können. Das Buch ist in drei Teile unterteilt: In einem ersten geht es um die Darstellung des Geertz’schen Denkens, im zweiten um die Anwendung der „dichten Beschreibung“ unter Inuit in Nordkanada. Im dritten Teil steht die Auseinandersetzung mit zentralen kulturanthropologischer Prämissen von Clifford Geertz im Vordergrund, die in den Vorschlag eines dialogischen Vorgehens zur Ergänzung mündet. 1

Geertz 1995

1 Darstellung des kulturanthropologischen Ansatzes von Clifford Geertz

1.1 D IE P ERSON C LIFFORD G EERTZ

UND SEIN

W ERK

1.1.1 Biografie Dadurch, dass ich gehe, lerne ich wohin ich zu gehen habe.2 CLIFFORD GEERTZ

Die Biografie eines Menschen, der kulturelle Zusammenhang aus dem er stammt, und die zeitliche Epoche in der dieser lebt, beeinflussen unbestritten dessen Gedankengut und Vorstellungen. Die Betrachtung der persönlichen Lebensgeschichte von Clifford Geertz mit zu berücksichtigen und nicht nur dessen Theorien und Methoden in der Anthropologie und in seiner Forschung vorzustellen, ist unabdingbar, um adäquat erfassen, darstellen und diskutieren zu können, was diese auszeichnet. Rückblickend auf seine Karriere hat Geertz selbst in mindestens drei Aufsätzen den Versuch unternommen, sein abwechslungsreiches Leben zu beschreiben.3 Im letzten dieser, wie er es nennt, „versuchten“ Autobiografien bemerkt er etwas resigniert, die Menschen erwarten von ihm keine neuartigen Theorien und keine revolutionären Ideen mehr, möchten dafür aber mehr von seinem Leben erfahren: „I have arrived, it seems at that point of my life and my career when what people most want to hear from me is not some new fact or idea, but how I got to this point in my life and my career.“4

2

Geertz 1987, 152

3

Vgl. Geertz 2002, 1; Die drei Biografien finden sich in: Geertz 1995, Geertz 2000a,

4

Geertz 2002, 1

Geertz 2002

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Die Forschung und Lehre, vor allem seine Aufenthalte in Indonesien und Marokko, standen im Mittelpunkt seiner ersten Biografie, die er 1990 im Rahmen einer Vorlesung erstellte und die später unter dem Titel Disciplines in After the Fact erschien. Der in Available Light im Jahr 2000 erschienene Aufsatz Passage and Accident: A Life of Learning5, sein zweiter autobiografischer Aufsatz, gibt persönlicheren Einblick in das Leben und Werk von Clifford Geertz. Mit dem dritten und wie er betont, letztem Versuch in 2002, sein Leben in Worte zu fassen, hat Geertz Folgendes im Sinn: „I want to do something else: namely to trace the development of anthropology as a field of study over the more than half-century, I have been involved in it, and to trace, too, the relationships between that development and the broader movements on contemporary history.“6 Im Folgenden soll das Leben und Werk von Geertz maßgeblich entlang dieser drei autobiografischen Schriften unter Einbezugnahme weiterer Texte von Befürwortern und Kritikern aus der Fachwelt dargestellt werden. Am 23. August 1926 wurde Clifford Geertz in San Francisco, Kalifornien geboren. Er selbst beschreibt seine Kindheit als abgeschieden und isoliert.7 Sehr früh schien er den Wunsch verspürt zu haben, der Einsamkeit des Lebens auf dem Land zu entgehen und aufzubrechen, in die Welt zu reisen, um seine Neugierde für Fremdartiges zu stillen.8 David Apter, ein Kollege und Freund von Clifford Geertz, stellt als eine der vielen Gemeinsamkeiten heraus, beide hätten eine schreckliche Kindheit gehabt, denn „Cliff grew up effectively without a family – farmed out to a family in Santa Rosa who treated him badly.“ 9 Apter fährt fort, mehr durch Zufall habe Geertz schließlich herausgefunden, wie intelligent er sei, „when he took the Navy V-12 examinations during the war and knocked the top off them.“10

5

Dieses autobiografische Werk entsprang ursprünglich einem Vortrag vor dem American Council of Learned Societies mit dem Titel Life of Learning, der von Geertz im Jahre 1999 gehalten wurde.

6 7

Ebd. Geertz 2000a, 3. Fred Inglis (2000, 3) erläutert: „Clifford Geertz’ parents were divorced when he was only three, and he was dispatched into the care of a sixty-year-old foster mother whom he called ,Nana‘, living out of the Great American Depression of the 1930s with her in the hills of northern California, while all the while seeing his parents […] for a day visit once or twice a year. He went off to a two-room, two-teacher village school with four dozen farmworkers’ children and his own inexplicably intellectual bent, ,learning early that ,brightness‘ was my passport out of exile and into the great world‘.“ Vgl. auch Geertz in Shweder, Good 2005, 123

8

Geertz 2000a, 3

9

Apter 2007, 111

10 Ebd.

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Rückblickend gesteht sich Geertz ein, dass es ein gewagtes Unterfangen sei, öffentlich zum Ausdruck zu bringen, er hätte in seinem Leben gelernt und sei weiser geworden, wo er doch viele Momente als improvisiert, als glückliche Zufälle und gelungenes „Timing“ erlebt habe. An anderer Stelle erwähnt er: „My actual life […] has been, in fact, rather a looking for small bits of order to hang onto in the midst of chaos. So it is hardly to wonder that my work looks like a grasping for patterns in a swirl of change.“11 Nichtsdestotrotz erweckt es den Anschein, als hätte Geertz sein Leben stringent und durchweg dem Lernen gewidmet; einem Lernen, das seiner Meinung nach niemals aufhört: „I suppose that what I have been doing all these years is piling up learning. But, at the time, it seemed to me that I was trying to figure out what to do next, and hold off a reckoning: reviewing the situation, scouting out the possibilities, evading the consequences, thinking through the thing again.“12 Seine akademische Karriere verdanke er, so betont Geertz, einer großen Welle des Booms der Bildung, die in Amerika nach Ende des 2. Weltkriegs über das Land schwappte und auf deren Kamm er erfolgreich mitritt. Nach seiner Entlassung aus der U.S. Marine im Jahr 1946 wollte Geertz Kalifornien verlassen und seiner schriftstellerischen Leidenschaft nachgehen: „I was twenty. I wanted to get away from California, where I had an excess of relatives but no family. I wanted to be a novelist, preferable famous. And, most fatefully, I had the G.I. Bill.“13 Niemals hätte er vermutet, so Geertz, als Kind der Wirtschaftskrise, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, die Möglichkeit zu bekommen, eine höhere Ausbildung zu erhalten.14 Dank des G.I. Bills15 jedoch hatte er als Kriegsteilnehmer die Möglichkeit, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Von 1946 bis 1950 besuchte Clifford Geertz das kleine Antioch College in Ohio. Englisch (aufgrund seines Wunsches Schriftsteller zu werden) und Philosophie waren seine Hauptinteressen gewesen. Während der Zeit in Antioch heiratete er seine erste Frau, Hildred

11 Geertz in: Shweder, Good 2005, 123 12 Geertz 2000a, 3 13 Ebd., 4 14 Ebd. 15 Der 1944 von Präsident Roosevelt eingeführte G.I. Bill (Servicemen‘s Readjustment Act von 1944) sollte Kriegsteilnehmern nach dem 2. Weltkrieg helfen, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. Diese staatliche Hilfe umfasste diverse Nachbehandlungen von Kriegsverletzungen, die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben, Geschäfte zu eröffnen und vor allem Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für die Heimkehrer zu schaffen. Neben Büchern und sonstigen Lehrmitteln wurden Schul- und Universitätsgebühren bezahlt und psychologische Betreuung während der Ausbildung angeboten.

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Geertz, die ihm später in zahlreichen anthropologischen Untersuchungen als professionelle Wissenschaftlerin zur Seite stand.16 Nach seiner Graduierung in Philosophie, so gesteht Geertz, wusste er nicht so recht, was er als nächstes tun und wohin er gehen sollte. Aufgrund des Ratschlags und der Unterstützung von George Geiger17, Philosophieprofessor des Antioch Colleges, verschlug es Clifford Geertz in den 50er Jahren nach Bosten an die Harvard University und dort in das von dem Anthropologen Clyde Kluckhohn18 und anderen neu gegründete Department of Social Relations, wo er mit seinem Anthropologiestudium begann. Nach zwei Jahren des Studierens nahm Geertz als Research Assistant des Centers for International Studies des Massachusetts Institute of Technologie19 an einer Feldforschungsstudie in Indonesien teil. Gemeinsam mit seiner Frau lebte er zweieinhalb Jahre in der Familie eines Eisenbahnarbeiters in Java. Die Bedeutsamkeit dieses so genannten „Modjokuto Projektes“ beschreibt Geertz wie folgt: „Its significance lies in the fact that it was, if not the first, sure one of the earliest of what soon turned into a flood of efforts by anthropologists, or teams of them, to adapt themselves and their tribes-and-islands discipline to the study of large-scale societies with written histories, established governments, and composite culture-nations, states, civilizations.“20

16 Vgl. Handler 1991, Geertz 1960, Geertz 1975, Geertz u.a. 1979 17 Die besondere Bedeutung Geigers für Geertz kommt vor allem in einer Ansprache von Geertz zum Ausdruck, die 2000 im Antioch Review veröffentlicht wurde. 18 Clyde Kluckhohn war für Geertz in einer Zeit der Umbrüche und der Suche nach neuen Möglichkeiten bedeutsamer Wegweiser gewesen. Geertz (2002) schreibt über Kluckhohn: „The figure I had most to come to terms with [at Harvard University] in this swarm of talkative authorities was Clyde Kluckhohn. A driven, imperious, rather haunted man, with an enormous range of interests, a continuously restless mind, and an impassioned, somewhat sectarian sense of vocation. […] Of various collective enterprises that Kluckhohn was at that moment either directing, planning, or otherwise animating, I myself became involved […] which […] not only launched my career but also fixed my direction.“ (4) 19 „The Centre for international Studies at the Massachusetts Institute of Technology, […] was set up in 1952 as a combination intelligence gathering and policy planning organization dedicated to providing political and economic device both to the rapidly expanding U.S. foreign aid program and to those it was ostensibly aiding – the ,developing‘, ,underdeveloped‘, or, for the less sanguine, ,backward‘ countries of Asia, Africa and Latin America.“ (Ebd., 6) 20 Ebd., 6-7

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Wieder zurück in Bosten schrieb er an seiner Dissertation über das religiöse Leben der Javaner (welche 1960 unter dem Titel The Religion of Java veröffentlicht wurde) und erlangte daraufhin 1956 seinen Doktortitel. Er blieb anschließend für ein Jahr als Assistant Professor in Harvard. In seinem dritten autobiografischen Aufsatz An Inconstant Profession: The Anthropological Life in Interesting Times charakterisiert Geertz die Phase von etwa 1946 bis 1960 als eine Zeit der Nachkriegs-Euphorie voller Optimismus, Ehrgeiz und Mut zur Veränderung.21 Diese Zeitspanne benennt er als die erste von vier, mit welchen er nicht nur seine eigene professionelle Entwicklung, sondern diese eingebunden in die Profession der Anthropologie zu erklären versucht. Er tut dies unter Einbezugnahme umfassender Weltgeschehnisse in dieser Zeit. Clifford Geertz berichtet davon, dass er nach der Fertigstellung seiner Dissertation weniger an einer akademischen Karriere interessiert war, als vielmehr an Fragen der Modernisierung und Staatenbildung unterentwickelter Länder. Dies sei auch der Grund für seinen Wunsch gewesen, so schnell wie möglich nach Indonesien zurückzukehren.22 Getragen und angefacht wurde seine Idee der Forschung in Entwicklungsländern hauptsächlich vom Gedankengut des deutschen Soziologen Max Weber, der argumentierte, die strenge protestantische Ethik des Kalvinismus sei Hauptantreiber und moralischer Rechtfertigungsgrund des Kapitalismus im Westen gewesen. Geertz griff diesen Gedanken auf und wollte seine Hypothese, ob dem reformierten Islam in Indonesien eine ähnliche Rolle zukäme, prüfen. „I headed back to Indonesia hoping to address the Weberian thesis in a more direct and systematic hypothesis-testing way. I would, I thought, spend four or five months each in a strongly Islamic region in Sumatra, a strongly Calvinist region in Sulawesi and a Hindu region in Bali to try to ferret out the effects, if any, of different varieties of religious belief on the modernization of economic behaviour.“23

Eine weitere spannende, nicht immer ungefährliche Feldforschungszeit von 1957 bis 1958 in den politischen und sozio-kulturellen Unruhen in Indonesien folgte. Inglis erwähnt beispielsweise folgende Begebenheit: „It was during 1957 that Geertz opened his long, loving and horrified relationship with Bali. One October dawn, when civil war impends elsewhere in Indonesia and the Dutch are threatened with wholesale expulsion by Sukarno, the Geertzes wake to find their whole courtyard packed with quietly murmuring, expectant Balinese. A diffident elder finally approaches the Americans. Is it true what the always mendacious government radio station is broadcasting, 21 Ebd., 2 22 Ebd., 7 23 Ebd., 8

16 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS that the Russians have put a moon in the sky? Geertz has heard the news on the infallibly truthful BBC (,I am counting on it to tell me when to run‘) It is so. Sputnik is in heavens, the Soviets have beaten the Americans, the crowed quietly fades away. Contemporary history breaks politely in upon ethnography.“24

Ein Jahr der Erholung von den Strapazen im Feld 25 folgte am neu gegründeten Center for Advanced Study in the Behavioural Sciences in Stanford, Kalifornien. Dort traf Geertz auf Thomas Kuhn, Meyer Fortes, Roman Jacobson, W.V.O. Quine, Edward Shiles, Joseph Greenberg, Tom Fallers und einige weitere bedeutsame Denker und Wissenschafter. Von 1958 bis 1960 unterrichtete Geertz als Assistant Professor an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Die zweite Phase (1960 bis 1975) kennzeichnet Geertz als eine Zeit der Modernisierung und geprägt durch die Auswirkungen des Kalten Krieges. Die rasanten politischen Entwicklungen während dieser Zeit beeinflussten nicht nur stark die Feldforschung in Gebieten, welche auf einmal in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit rückten, sondern veränderten vor allem auch das Denken der Forscher, die in heftige Konflikte vor Ort verwickelt wurden. Er bemerkt: „Some sort of course correction in our procedure, our assumptions, and our styles of work, in our very conception of what it was we were trying to do, seemed, as they say, indicated.“ 26 In seiner Beschreibung der dritten Phase, einer „Explosion der Paradigmen“27, berichtet Geertz davon, dass die Wissenschaft der Anthropologie aufgrund der geschichtlichen Geschehnisse mit ihren Feldstudien in Entwicklungsländern Anfang der 60er Jahre als neo-imperialistisch in Verruf geriet und in akademischen, sowohl auch in öffentlichen Kreisen, in Ungnade fiel. „Academic research on ,underdeveloped‘ countries in general, and on ,modernisation‘ in particular, was put under something of a cloud as a species of neoimperialism, when it wasn’t being condemned as liberal do-goodism. Questions multiplied rapidly about anthropology’s colonial past, its orientalist biases, and the very possibility of disinterestedness or objective knowledge in the human sciences, or whether they should be called sciences in the first place.“28 24 Inglis 2000, 15 25 Geertz 2000a, 10 26 Geertz 2002, 9 27 Geertz bedient sich hier des bekannten Begriffs des Paradigmas, entwickelt von seinem Kollegen Thomas Kuhn, der damit die Trägheit, aber auch Veränderungsprozesse in Wissenschaften erklären möchte. Ein Paradigma ist als vorherrschendes Denkmuster grundlegend für die Begriffsbildung und damit für die Vorstellung von Welt innerhalb einer wissenschaftlichen Theorie. (Vgl. Kuhn 1962) 28 Geertz 2002, 9

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Neue Paradigmen und Nischen mussten für die Anthropologie gefunden werden, um diese vor dem Rückzug in Isolation, abgekoppelt von der Unmittelbarkeit aktueller Geschehnisse, zu bewahren. Geertz berichtet von unzähligen, vielfältigen und oftmals glamourösen Versuchen über die nächsten Jahre hinweg, diese wichtige Standortbestimmung und damit neue Richtung für anthropologische Theorien und Methodologie zu finden.29 Er selbst sieht seinen Beitrag in diesem bunten Strauß der Ideen in der von ihm entwickelten „interpretativen Anthropologie“: „As for me, I contributed to the merriment with ,interpretative anthropology‘, an extension, broadened and redirected by developments in literature, philosophy, and the analysis of language, my concern with the systems of meaning – beliefs, values, world views, forms of feeling, styles of thought – in terms of which particular peoples construct their existence and live out their particular lives.“30

Nach dieser zermürbenden Zeit der Irrungen und Wirrungen zwischen Selbstbeteuerung und Zweifel, so schreibt Geertz, war ein umfassendes Paradigma für die Anthropologie jedoch nicht auszumachen. Die Disziplin schien vielmehr zerstückelt in unterschiedlichste Typologien – eine Reflexion des Zeitgeistes der Postmoderne. 1960 wechselte Clifford Geertz nach Chicago, wo er 1962 zunächst als Associate Professor arbeitete und 1964 den vollen Professorentitel erhielt. Während der zehn Jahre in Chicago (er blieb dort bis 1970) leitete Geertz das Committee for the Comparative Study of New Nations31, ein multidisziplinäres Forschungsprojekt, welches sich die Situation der postkolonialen Länder Asiens und Afrikas zum Thema machte. Da es ihm aufgrund heftiger Unruhen in Indonesien lange nicht möglich war, dorthin zurückzukehren, wich er nach Marokko aus und organisierte dort diverse Forschungsprojekte im Team mit Doktoranten.32

29 Ebd. 30 Ebd., 10 31 „This committee […] was not concerned as such with policy questions, nor with constructing a general theory of development, nor indeed with goal-directed team research of any sort. It consisted of a dozen or so faculty members at the university […] working on or in one or another of the decolonized new states, plus half-dozen or so postdoctoral research fellows, mostly from elsewhere, similarly engaged. Its main collective activity was a long weekly seminar at which one of the members led a discussion of his or her work, which in turn formed the basis for a smaller core group of, if not precisely collaborators, for we all worked independently, similarly minded, experienced field workers directed toward a related set of issues in what was than called, rather hopefully, considering the general state of things, nation building.“ (Geertz 2002, 12), vgl. auch Apter 2007 32 Vgl. Geertz u.a. 1979

18 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Indonesia was no place to be with two under-five-year-olds. [...] It was time to be off, and, having canvassed a number of places, including Uganda, Bosnia, Surinam, he took the advise of an English conference-goer [while attending one of Anglophone anthropology’s most famous conferences in Cambridge 1963] to pick Morocco: ,it is safe, it is open, it is beautiful, there are French schools, the food is good, and it is Islamic‘.“33

In Spurenlesen34 führt Geertz zu dieser Begebenheit aus, die logische Kraft des Arguments nach Marokko zu gehen sei, obwohl die wissenschaftliche Beweisführung fehlte, derart überwältigend gewesen, dass er nach Abschluss erwähnter Konferenz nicht nach Chicago zurückkehrte, sondern direkt nach Marokko flog, um seine Forschung zu organisieren. 1970 zog er schließlich nach New Jersey, um dort in Princeton im Institute for Advanced Study als Professor der Sozialwissenschaften zu unterrichten, zu forschen und die neu gegründete School of Social Science zu leiten. Er selbst beschreibt seine Reaktion auf die Anfrage des damaligen Direktors des Institutes wie folgt: „However exposed and full of hazard it might be, especially in a time of such division within the academy and the dubiousness of the very idea of ,the social sciences‘ in the eyes of many humanists and ,real scientists‘, the prospect of being given a blank and unmarked page upon which to write was, for someone by now addicted to good fortune, simply too attractive to resist.“35

Im Jahr 2000 emeritierte Geertz als mittlerweile einflussreicher und über die Grenzen seines eigenen Fachgebietes hinaus bekannter Kulturanthropologe. Bis zu seinem Tod am 30. Oktober 2006 schien Geertz getrieben zu sein von Fragen über die Unterschiedlichkeit des Menschseins. Er entschloss sich zwar nicht mehr zu reisen, war aber nach wie vor begeistert dabei, Gedanken niederzuschreiben und Aufsätze zu verfassen. „So where am I now, as the millennium approaches me, scythe in hand? Well, I am not going back into the field anymore, at least not for extended stays. I spent my sixtieth birthday couched over a slit trench latrine in ,Modjokuto‘ (well, not the whole day, but you know what I mean), wondering what in hell I was doing there at my age at my bowels. I enjoyed fieldwork immensely (yes, I know not all the time), and the experience of it did more than nourish my soul, and indeed to create it, than academy ever did. But when it’s over, it’s over. I keep

33 Inglis 2000, 15 34 Geertz 1987, 134 35 Geertz 2002, 12

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writing; I’ve been doing it too long to stop, and anyway I have a couple of things I still haven’t said.36 [Hervorhebungen im Original]

Clifford Geertz erhielt zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen 37 und Ehrendoktortitel von den Universitäten Harvard, Yale, Princeton und Cambridge. Einige seiner Werke wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.38 Besonders stolz machte ihn eine Auszeichnung, die er 2000 im Rahmen einer ihm zu Ehren abgehaltenen Konferenz in Marokko erhielt. Denn, wie er bemerkte, „Anthropologists are not always welcomed back to the site of their field studies.“39 Offensichtlich musste sich Geertz diesbezüglich aber keine Sorgen machen. Auch in Indonesien schien er mittlerweile mehr als nur gern gesehener Gast zu sein, hatte er doch das Selbstverständnis der Menschen dort maßgeblich geprägt. So schreibt Robert Elson in einem Nachruf: „In January 2000, the Indonesian newsmagazine Forum Keadilan published a special issue featuring ,One hundred Indonesian figures of the 20th century‘. It presented a more or less uncontroversial listing of acclaimed Indonesians, including such notables as Sukarno, Cokroaminoto, Syahrir, Suharto, Sumitro Joyohadikusumo, Kartini, Wahidin and Rendra. Interestingly, however, included amongst the hundred were eight foreigners, most of them legendary Dutchmen like Van Deventer, Van Vollenhoven and Snouck Hurgronje. But also included was the name of Clifford Geertz; the accompanying notes labelled him the ,pillar‘ of Indonesian anthropology, a powerful marker by Indonesians themselves of Geertz’s extraordinary influence on the ways all of us, Indonesians and foreigners alike, have thought and come to think about modern Indonesia.“40

Eine sehr persönliche Beschreibung von Clifford Geertz als Lehrer stammt von Robert Darnton, einem Geschichtsprofessor, der über viele Jahre hinweg gemeinsam mit Geertz in Princeton unterrichtet hatte. Darnton schreibt, es ginge Geertz in seinem Unterricht nie um die Darstellung klarer Definitionen und eindeutiger Erklärungen, sondern: „Conceptual clarity was what he urged on the students, not a party

36 Geertz 2000a, 19 37 Um nur einige Auszeichnungen zu erwähnen: 1988 erhielt er den National Book Critics Circle Prize in Criticism für sein Werk Works and Lives: The Anthropologist as Autor, 1992 erhielt er den Fukuoka Asian Cultural Prize und 2002 den Bintang Jasa Utama (First Class Merit Star) of the Republic of Indonesia. 38 Vgl. Rosaldo 2007, 207 39 Institute for Advanced Study 2008 40 Elson 2007, 251

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line.“41 Er forderte seine Studenten auf besondere Weise, veranlasste sie, jenseits der eigenen kulturellen Grenzen zu denken: „He wanted to help students crack open distant mental worlds and wander around inside alien ways of thinking. […] Cliff tried to make the distant seem familiar and the familiar look foreign – as in Gulliver’s Travels, one of his favourite books. […] Instead of reducing theories to a lowest common denominator (his own), he revelled in their differences. […] Cliff was always seizing on points that ran counter to our intuition. That was his genius as a teacher: to help us think against the grain of our own culture and to enter imaginatively into mental territory that lies beyond it.“42 [Hervorhebung im Originial]

Dennoch, so erinnert sich Darnton, sei der schüchterne Geertz, der sich manchmal schwer tat, mit den Menschen in Kontakt zu treten (interessanterweise schienen ihm die Begegnungen im Feld leichter zu fallen als Kontakte in der Heimat), nicht der geborene Lehrer gewesen: „He talked too fast and mumbled into his beard so badly that the students found it difficult to understand him. His huge mane of hair hung over his skull in such disorder as if to say: ,Beware! Genius Inside‘. He sat awkwardly in a chair, his jacket buttoned too tight over his pot belly, his legs crossed at an odd angle which exposed six to twelve inches of shiny white skin. None of his clothes fit. The rumpled, dishevelled figure at the far end of the table frequently said nothing, apparently lost in its own thoughts. Then suddenly it would explode in talk. The words would tumble out in a torrent, and we would sit back amazed.“43

Obwohl, so betont Darnton, die scharfe Intelligenz, seine unerschöpfliche Neugier und sein enzyklopädisches Wissen manche einschüchterte, hatte Clifford Geertz keinen Sinn für intellektuellen Snobismus. Seine Begeisterung für die vielfältigen Ausdrucksformen des Menschseins wirkte ansteckend: „When his eyes lit up and the words poured out, he infected students with the excitement of the chase. They, too, could penetrate another world. The game was difficult, but anyone could play. And in Cliff they had an example of a hunter-gatherer who blazed his own trail through the jungle of cultures.“44

41 Darnton 2007 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd.

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Auch Richard Shweder, der sich selbst als Bewunderer und „Fan“ von Geertz bezeichnet45, beschreibt diesen als privaten Menschen, der gern allein arbeitete, aber dessen Gesellschaft anregend und ermutigend war. Geertz und sein Werk ließe sich nirgends einordnen oder einer Richtung zuordnen. Er wehrte sich auch gegen jegliche Etikettierung. Er sei, wie dieser selbst betont, „resolute irresolute“46 und hätte seinen ganz eigenen Stil: „He consciously wrote as a nervous, resolutely irresolute observer, who saw no need to be on one side or the other of any binary divide in the social sciences.“47 Der Witz und die Ironie bereichern zudem die komplexen Aufsätze von Clifford Geertz. In diesem Zusammenhang bemerkt Renato Rosaldo: „Geertz is really funny. When he notes, [...] that cultural differences on our planet are growing less extreme, less clearly marked than they once were (,the good old days of widow burning and cannibalism are gone forever‘), he adds that, nonetheless, significant differences will remain. ,The French will never eat salted butter,‘ he explains. The subtitle of After the Fact is a double entendre, Two Countries, Four Decades, One Anthropologist, two for one, such a bargain. When he depicts himself about to embark on a college career at the age of twenty, he says, ,I wanted to be a novelist, preferably famous.‘“48

Allem voran schien Geertz, so lässt sich aus den vielfältigsten Beschreibungen zu seiner Person feststellen, „Anwalt des Details“ und „Verteidiger der Vielfalt“49 gewesen zu sein, der den Reichtum menschlicher Ausdrucksweisen als notwendige Bedingung des Menschseins überhaupt postulierte und sich gegen jede Form von Verallgemeinerung oder Gleichschaltung ausdrucksstark verwehrte. „If anthropology is obsessed with anything“, so Geertz, „it is with how much difference a difference makes“.50 „Geertz was among the world’s most significant proponents of cultural, moral, and scientific pluralism“51, schreibt Shweder. 1.1.2 Anmerkungen zur persönlichen Begegnung mit Clifford Geertz Im Mai 2006 entschloss ich mich spontan, Clifford Geertz in Princeton einen Besuch abzustatten. Natürlich konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass er im

45 Shweder, Good 2005, 2; Shweder 2000, 1511; Shweder 2007, 192 46 Shweder 2007; Shweder, Good 2005, 2 47 Shweder 2007, 200 48 Rosaldo 2007, 208 49 Mörth, Fröhlich 1998 50 Geertz 2000a, 197 51 Shweder 2007, 202

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Oktober desselben Jahres den Folgen einer Herzoperation erliegen würde. Der Grund für mein Anliegen, mit dem bekannten Anthropologen persönlich zu sprechen, war, ein Gefühl für den Menschen zu bekommen, den ich in unzähligen Schriften und Kritiken über die Jahre kennengelernt hatte. Ich war neugierig zu erfahren, inwieweit mein Bild von Geertz ihm tatsächlich entsprach. Und irgendwie wollte ich mich auch vergewissern, dass ich seine Philosophie, seine Methode, seine Aussagen über Menschsein richtig verstanden hatte. Darüber hinaus hoffte ich, etwas zu erfahren, was über das hinausging, was ich in zahlreichen Werken von und über ihn las.52 Wenn ich jetzt kurz zusammenfassen sollte, was für ein Mensch Clifford Geertz war, so kann ich das paradoxerweise nur darin tun, indem ich es nicht tue. Denn er erklärte mir mit einem Lächeln auf den Lippen und mit einem bestimmten Ton in seinen Worten, das sei genau das, was er nicht wolle: in wenigen Worten beschrieben werden zu können oder auf einige Seiten reduziert zu werden. Die eindrücklichste Erinnerung an meine Begegnung mit Geertz ist: obwohl ich ihm so viele Fragen stellen wollte, kam ich zunächst gar nicht dazu, denn Geertz interessierte sich viel mehr für meine Forschung unter den Inuit, ließ mich kaum zu Wort kommen, und erklärte wiederholt ich solle nicht über ihn, sondern über die Menschen schreiben. 52 Ähnlich wie ich machte auch Richard Shweder (2007) die Erfahrung, dass Geertz ohne Umschweife sofort gern bereit war, ihm mit Rat und Tat bei seiner Forschung behilflich zu sein: „>He was@ quite willing to talk with a student from out of the blue who had phoned him at home.“ (193). Meine Emailkontakte mit Clifford Geertz werfen Licht auf die Bescheidenheit und Freundlichkeit des bekannten Anthropologen: „Dear Ms. Fremgen: Thank you very much for your kind words about my work; letters such as yours showing that someone out there is reading and understanding are the best reward one can have. Your own research in Inuvik etc. sounds most interesting indeed. As for meeting, it seems like a long way to come to New Jersey from Vancouver, but if you think it would be of use to you I would be happy to talk with you. I will be around here for the next month or so and then again in the Fall. As I say, I don’t know how much I can be of help to you beyond my writings; meeting authors in the flesh can be a disappointing experience, but let me know and we‘ll see if something can be arranged. In any case, thank you again for your kind letter and most interesting thesis proposal. Yours sincerely, Clifford Geertz. Dear Ms. Fremgen: So far as I know I will be here in mid-May, but I am still somewhat taken aback by your flying so far just to talk to me. As I said, admired authors are often less than inspiring when you actually encounter them and I worry that I will prove so to you. In any case, I will be here and be glad to meet you should you decide to come. It would be best however that you contact me again closer to the actual time so as to prevent any misconnection and to set a more exact time. Sincerely yours, Clifford Geertz.“

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1.1.3 Hauptwerke Clifford Geertz fand einen Weg, sein Leben lang seiner großen Leidenschaft der Schriftstellerei nachzugehen. Seine eloquente Sprache, die klare, aber dichte Ausdrucksweise, die Lebendigkeit seiner Beschreibungen, die spitze Ironie und die überraschenden, wenn auch wie Geertz selbst betont, unabgeschlossenen Erkenntnisse in seinen Werken zogen Menschen unterschiedlichster Disziplinen in ihren Bann.53 In der Folge werden die Hauptwerke von Geertz aufgeführt und kurz charakterisiert.54 In seinem ersten Buch, das 1960 unter dem Titel The Religion of Java aufgelegt wurde, beschreibt und analysiert Geertz detailliert die Einteilung der javanischen Gesellschaft in drei spezifische Untergruppierungen („social-structural nuclei“55), die santri, abangan und prijaji. Jede dieser Gruppierungen besitzt nach Geertz ihre eigenen Vorstellungen über die Weltordnung, welche in den unterschiedlichsten Ritualen und Gebräuchen zum Ausdruck kommen und durch diese wiederum verstärkt und bestätigt werden. Geertz möchte mit diesen Beschreibungen javanischer Glaubensvorstellungen keine allgemeinen oder gar abschließenden Aussagen treffen, sondern vielmehr die Dichte und Komplexität, die Tiefe und den Reichtum des spirituellen Lebens der Menschen wiedergeben. „It is particularly true that in describing the religion of such a complex civilization as the Javanese any simple unitary view is certain to be inadequate; and so I have tried [...] to show how much variation in ritual, contrast in belief, and conflict in values lie concealed behind the simple statement that Java is more than 90 per cent Moslem.“ 56

Schon wenig später (im Jahr 1963) erschien Agricultural Involution, „which was nothing less than a revolutionary analysis of the connections between agrarian development and cultural behaviour“57. Die komplexe sozio-kulturelle Analyse der Auswirkungen holländischer Kolonialherrschaft auf die javanische Gesellschaft und Ökonomie fand großen Zuspruch, und seine Erkenntnisse wurden bald heftig diskutiert. Richard Elson führt aus:

53 Vgl. Apter 2007, Boon in: Shweder, Good 2005 54 Eine umfassende Sammlung von Texten und Büchern von und über Geertz stellten Ingo Mörth und Gerhard Fröhlich im HyperGeertz World Catalogue zusammen. Vgl. auch Fröhlich, Mörth 1998, Rosaldo 2007 55 Geertz 1960, 5 56 Ebd., 7 57 Schulte Nordholt 2007

24 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Like all Geertz’s work, Agricultural Involution is complexly argued, full of richly revealing metaphor and crowded, suggestive listings, and vitalised and sustained by Geertz’s wittily seductive, evocative, turn of phase. Geertz’s argument about Java’s rural fate was rooted in what he saw as the social and economic implications of the Dutch system of forced cultivations introduced in 1830. While Geertz was by no means the first scholar to point to the allegedly socially immobilising character of the Cultivation System and colonially-driven rural practice in general, his characterisation and explanation of that tendency was by far the most complete and compelling yet presented.“58 [Hervorhebung im Original]

Peddlers and Princes, ebenfalls 1963 erschienen, fand weniger Anklang als Agricultural Involution. Geertz möchte darin zu einem besseren Verständnis des sozioökonomischen Wandels und der Auswirkungen ökonomischer Modernisierung gelangen. Er vergleicht diesbezüglich seine Erfahrungen und Erkenntnisse, die er in intensiven Feldforschungsstudien in Modjokuto in Java und Tabanan in Bali in den Jahren von 1952 bis 1958 sammeln konnte. Die starke Gewichtung auf die Theorie Max Webers, die in seinen Aussagen hinsichtlich des sozio-kulturellen Wandels zum Ausdruck kommt, wird kontrovers diskutiert.59 1965 veröffentlichte Geertz ein weiteres umfassendes Werk über den soziokulturellen Wandel in Indonesien, überschrieben mit dem Titel: The Social history of an Indonesian town. Hierin kommen vor allem die Erkenntnisse seiner Feldforschung in Pare zum Ausdruck. „It was a kind of natural history […] of what he thought Pare’s society was and had been about, and was a model of his interpretive reading of the complex interplay of social process and culture (,or, if you will, systems of ideas‘).“60 Während seiner Zeit in Chicago von 1960 bis 1970 schrieb Geertz einige seiner bedeutungsvollsten Aufsätze, die später in zwei Bänden, in The Interpretation of Cultures (1973) und Local Knowledge (1983) verlegt wurden. Vor allem die Aufsätze Thick description. Toward an Interpretive Theory of Culture und Religion as a cultural symbol, in welchen er seinen interpretativen Ansatz in der Anthropologie darstellte, machten Geertz, seine Theorie und seine Methode der dichten Beschreibung international bekannt. Der Geertz’sche Ansatz entfachte bis weit über die Grenzen der Anthropologie hinaus wissenschaftliche Diskussionen. Sie erfuhr damit den Anstoß zu ihrer interpretativen Wende.61 Vor allem erwähnt werden

58 Elson 2007, 5 59 Vgl. Bruner 1966; Elson 2007, 3 60 Elson 2007, 4; vgl. auch Benda 1966 61 Mit dem Fokus auf kulturelle Symbole, die es hinsichtlich deren Bedeutung für die Menschen, die diese verwenden zu interpretieren gilt (semiotische Analyse), zeichnet sich der Beginn der interpretativen Wende ab. Damit wandte man sich ab vom szientisti-

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muss in diesem Zusammenhang auch der berühmte, immer wieder hitzig diskutierte Aufsatz Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight, in welchem Geertz selbst ein beeindruckendes Beispiel einer dichten Beschreibung vorlegt. In Islam Observed: Religious Development in Morocco and Indonesia (erschienen 1968) versucht Geertz, „einen allgemeinen Rahmen für die vergleichende Erforschung von Religion darzulegen, als auch diesen Rahmen bei der Untersuchung der Entwicklung vermeintlich ein und desselben Glaubenssystems – des Islams – in zwei ziemlich gegensätzlichen Zivilisationen – Indonesien und Marokko – anzuwenden“62. Basam Tibi hebt hervor, Geertz verbinde in diesem Werk meisterhaft konzeptualisierende und empirische Arbeitsweisen und liefere damit ein Paradigma für die vergleichende Religions- bzw. Kulturforschung. Dabei entwickelt Geertz eine „geeignete Grundlage für das Studium der kulturellen Dimension der Entwicklungsprozesse in Entwicklungsgesellschaften in Asien und Afrika.“63 Gemeinsam mit seiner Frau, Hildred Geertz, publiziert Geertz 1975 Kinship in Bali. Darin beschreiben und analysieren sie die komplexe Ordnung der Verwandtschaftssysteme, wie sie auf öffentlicher und auf privater Ebene in Bali vorzufinden sind. 1980 veröffentlichte Geertz Negara: The Theatre State in Nineteenth Century Bali, ein komplexes Werk über seine Feldforschungsstudien in Bali. Darin untersucht Geertz akribisch die Organisationsmechanismen des balinesischen Staates (Negara) und reflektiert über das Verhältnis von dörflichem Leben und staatlicher Regierung. Er stellt dabei heraus, der traditionelle, vorkoloniale balinesische Staat war in erster Linie Ausdruck ritualisierter Darstellungsformen (Theater) und weniger Mittel der politisch-herrschaftlichen Machtausübung.64 „The negara was neither a tyranny nor a hydraulic bureaucracy, nor even very much of a government. It was instead an organized spectacle, a theatre state designed to dramatize the ruling obsessions of Balinese culture: social inequality and status pride.“65 Ein weiteres Buch, das Geertz vor allem auch unter Literaturwissenschaftlern bekannt machte und ihm 1989 den National Book Critics Circle Award einbrachte, erschien im Jahr 1988 unter dem Titel: Works and lives: The anthropologist as author. Mit diesem Werk, das Geertz neben Ehrungen auch zahlreiche Kritik bescherte66, regte er eine Diskussion in der Anthropologie an, die wenig später auch

schen Erklärungsmodell fremder Kulturen und legte den Schwerpunkt auf das Verstehen von Sinnbezügen. 62 Geertz 1991, 10 63 Tibi in: Geertz 1991, 198 64 Vgl. Schulte Nordholt 2007 65 Hinweis des Verlegers in: Geertz 1980 66 Vgl. Leach 1989

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unter dem Begriff des literary turn bekannt wurde67. Geertz analysiert darin literaturkritisch ethnografische Werke bedeutender Anthropologen (Claude Lévi-Strauss, Edward Evans-Pritchard, Ruth Benedict, Bronislaw Malinowski) hinsichtlich deren Güte und Überzeugungskraft. Er wollte zeigen, dass „the ability of anthropologists to get us to take what they say seriously has less to do with either a factual look or an air of conceptual elegance than it has with their capacity to convince us that what they say is a result of their having actually penetrated [...] another form of life“68. Geertz fordert Ethnografen damit auf, sich kritisch-reflexiv mit ihren Texten und mit ihrer Rolle als Autoren ethnografischer Schriftstücke auseinanderzusetzen, anstatt das Erlebte in Form einer bloßen Aufzählung oder Aneinanderreihung von Daten zu dokumentieren. Als eine Art selbstreflexive dichte Beschreibung könnte man wohl das Werk After the fact. Two Countries, our Decades, one Anthropologist beschreiben, das 1995 erschien. Denn Geertz möchte darin den Wandel beschreiben, der sich in seinen Forschungsstädten (Pare in Java und Sefrou in Marokko), seinem Beruf der Anthropologie, seiner Welt und in ihm selbst in den letzten vierzig Jahren vollzogen hat. Dabei sei es nicht möglich, stringent aufzuzählen, was sich ereignet hatte, eine glatte Erzählhandlung zu konstruieren, es sei vielmehr erforderlich, so Geertz, dass er zeige, „wie bestimmte Vorkommnisse und einzigartige Ereignisse, eine Begegnung hier, eine Entwicklung dort, mit einer Vielzahl von Fakten und einer ganzen Reihe von Interpretationen verwoben werden können, um ein Gefühl zu produzieren, wie die Dinge laufen, wie sie gelaufen sind und wahrscheinlich laufen werden“69. After the fact bedeutet für Geertz somit einerseits eine „Interpretation ex post“, ein Verfahren, „mit dem man mit der Art von vorwärts erlebten, rückwärts verstandenen Phänomenen zu Rande kommen kann“, andererseits bedeutet es „die Abkehr von einfachen Entsprechungstheorien der Wahrheit und der Erkenntnis“ 70, die den rückwärts verstandenen Fakten ihr Leben und den Sinn rauben. Eine weitere Aufsatzsammlung und das letzte Buch von Geertz, Available Light. Anthropological Reflections on Philosophical Topics, wird 2000 veröffent67 Der literary turn erfuhr seinen Höhepunkt durch die Veröffentlichung von Writing Culture (1986, James Clifford, George Marcus) und Hermes’s Dilemma & Hamlet’s Desire (1992, Vincent Crapanzano). Im literary turn wurde der Text in den Mittelpunkt der anthropologischen Untersuchungen gerückt, und somit das ethnografische Endprodukt selbst einer kritischen Analyse unterzogen. Zudem erfuhr das Argument von Geertz (1973), man könne Kultur wie einen Text lesen beziehungsweise interpretieren, neuen Aufschwung in der Diskussion. Vgl. auch Boskovik 2002, Clifford 1983, Reyna 1994, Marcus, Fischer 1986, Scholte 1986, Gottowik 1997, 205, Ellrich 1999, Berg, Fuchs 1999 68 Geertz 1988, 4 69 Geertz 1997, 9 70 Ebd., 190

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licht. Darin finden sich zahlreiche Aufsätze, in welchen Geertz verschiedenartige aktuelle Themen aus Wissenschaft, Politik und Philosophie aufgreift und von seiner anthropologisch-philosophischen Warte aus diskutiert. Robert Ulin resümiert in seiner Buchbesprechung zu Available Light: „The essays range from a somewhat personal discussion of how Geertz came to pursue anthropology to a lengthy commentary on the ongoing debates between Marshall Sahlins and Gananath Obeyesekere over understanding the indigenous Other to sympathetic accounts of Thomas Kuhn and the psychologist James Bruner. The essays hold together well in that the themes Geertz raises are consistent with his life project of interpretive anthropology, that is, the elaboration of local meanings while challenging the generally reductive claims of science to identify human laws or universals. Moreover, the essays retain the erudite and conversational style – even humour – for which Geertz has become known. Available Light reminds researchers of why, even if we differ with Geertz, he is to be taken seriously.“71

1.2 P HILOSOPHISCHE W URZELN G EERTZ ’ SCHEN D ENKENS

DES

Obgleich Clifford Geertz leidenschaftlicher Anthropologe und Ethnograf war, schien er die philosophischen Wurzeln in den Anfängen seiner Laufbahn nicht verleugnen zu können – und auch nicht zu wollen.72 Besonders deutlich zeigt sich dies in seinem Werk Available Light. Anthropological Reflections on Philosophical Topics.73 Hier möchte Geertz beide Disziplinen (Anthropologie und Philosophie), die seiner Meinung nach trotz einiger Kontroversen viele Gemeinsamkeiten aufweisen, einander näher bringen. Er ist davon überzeugt, dass beide davon profitieren könnten.74

71 Ulin 2004, vgl. auch Shweder 2000 72 „I came in the field of anthropology from a background in the humanities and have never been fully deprogrammed, or even debriefed, never properly socialized.“ (Geertz in: Shweder, Good 2005, 111; vgl. auch Micheelsen 2002, 3) 73 Geertz 2000a 74 Die Anthropologie scheint für Geertz der Philosophie etwas bieten zu können, das über bloße Konzepte und Ideen hinausreicht. Der Mensch muss unter den Menschen im alltäglichen Leben gesucht werden und nicht in gewagten Thesen, erdacht im leeren Raum geistiger Konstrukte. Auf der anderen Seite bedarf die Anthropologie einer geistigrationalen Fundierung und Reflexion, die nur eine Wissenschaft bieten kann, die sich mit ähnlich unabgeschlossenen Fragen befasst, wie sie selbst. Immer wieder argumentiert Geertz für den Brückenschlag und ringt um Vermittlung zwischen den Disziplinen jen-

28 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „My own interest in effecting a connection, or strengthening one, or [...] perhaps reviving one, stems not from an interest in altering my professional identity, with which I am as comfortable as I could be expected after fifty years struggling to establish it, nor in widening it out to some sort of higher-order thinker-without-portfolio. I am an ethnographer, and a writer about ethnography, from beginning to end; and I don’t do systems. But it probably is related, somehow or other, the fact [...], I started out ,in philosophy‘ but gave it up after an indecently short time, to ground my thought more directly, as I thought, in the world’s variety. The sorts of issues I was concerned with then, and which I wanted to pursue empirically rather than only conceptually – the role of ideas in behavior, the meaning of meaning, the judgement of judgement – persist, broadened and reformulated, and I trust substantialized, in my word on Javanese religion, Balinese states, und Moroccan bazaars, on modernization, on Islam, on kinship, on law, on art and on ethnicity.“75

Clifford Geertz, der sich zu Beginn seiner akademischen Laufbahn gegen die Philosophie, und für die Anthropologie entschied, um seinen Fragen bezüglich der Rolle von Bedeutung, die hinter menschlichem Verhalten steht, vor allem praktisch und nicht nur theoretisch nachzugehen,76 scheint sich nach vielen Jahren in philosophischen Gefilden wieder wohler zu fühlen. Geertz betont zwar immer wieder, er sei an Einsichten über die Vielheit menschlicher Ausdrucksweisen, gewonnen im Kontakt mit den Menschen im Feld, mehr interessiert, als an Erkenntnissen abstrakter Konzepte und Ideen, die im abgeschlossenen Raum philosophischer Fakultäten entwickelt wurden. Dennoch durchdringen seine Aufsätze philosophische Gedanken und tiefgründige Reflexionen, die weit über reine empirische Feststellungen hinausgehen. Zudem, so betont Ortner, „is Geertz one of the foremost figures in the reconfiguration of the boundary between the social sciences and the humanities for the second half of the twentieth century“ 77.

seits seiner Meinung nach sinnloser Grabenkämpfe. Er schreibt (2000a, ix): „Beyond their normally oblique and implicit competition for the last word and the first, the two fields [anthropology and philosophy] share a number of characteristics that trouble their relations with one another and make cooperation between them unnecessary difficult. Most especially, both of them are porous and imperilled, fragile and under siege. They find themselves, these days, repeatedly invaded and imposed upon by interlopers claiming to do their fob in a more effective manner than they themselves, trapped in inertial rigidities, are able to do it.“ 75 Geertz 2000a, x 76 In einem Interview mit Richard Handler (1995, 603) erklärt Geertz: „I thought I’d go to graduate school in philosophy, but I didn’t really want to do that, because it was too abstract and non-empirical.“ 77 Ortner 1999, 1

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Geertz begründet seine bewusste Rückbesinnung auf die Philosophie mit einem Kurswechsel, den er in dieser zu erkennen glaubt,78 welcher seiner Weise der Erkenntnisgewinnung durch akribische Beobachtung tatsächlicher Lebenswelten entschieden näher kommt, als jene, die er in den vierziger Jahren in Antioch vorfand: „Paradoxically, relating the sort of work I do – ferreting out the singularities of other peoples’ way-of-life – to that philosophers, or at least the sort of philosophers who interest me, do – examining the reach and structure of human experience, and the point of it all – is in many ways easier today than it was in the late forties when I imagined myself headed for a philosophers career. This is, in my view, mainly a result of the fact that there has been, since than, a major shift in the way in which philosophers, or the bulk of them anyway, conceive their vocation, and that shift has been in a direction particularly congenial to those, like myself, who believe that answers to our most general questions – why? how? what? whither? – to the degree they have answers, are to be found in fine detail of lived life.“79

Zahlreiche Philosophen beeinflussten Clifford Geertz bei seinem Tun. Einige wichtige davon sollen in der Folge vor dem Hintergrund ihrer Bedeutsamkeit für das Geertz’sche Denken angeführt werden. 1.2.1 Der amerikanische Pragmatismus und die Ordinary Language Philosophy Von Anbeginn seiner akademischen Karriere, so betont Clifford Geertz, war ein Lehrer von besonderer Wichtigkeit für ihn: George Geiger. Dieser, so erzählte mir Geertz im persönlichen Gespräch, sei dafür verantwortlich gewesen, dass sein Interesse für die Philosophie geweckt wurde. Viele seiner eigenen Vorstellungen zu Moral und Ethik seien nach wie vor geprägt durch die Lehre Geigers.80 „After a while, I ran out of English courses and shifted my major – mainly because of the influence and intellectual power of an extraordinary teacher named George Geiger. He was a

78 Wittgenstein, so Geertz (2000a), sei mit verantwortlich für diesen Kurswechsel in der Philosophie: „The main figure making this shift possible, if not causing it, is again, in my view, that posthumous and mind-clearing insurrectionist, ‚The Later Wittgenstein‘.“ (xi) 79 Ebd. 80 In einer Ausgabe des Antioch Review aus dem Jahre 2000 erschien eine Ansprache von Clifford Geertz, die er zu Ehren George Geigers gehalten hatte. Darin beschreibt Geertz (2000b) Geiger als „the greatest teacher I have ever known, and in many ways the most elusive personality“. (505)

30 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS student of [John] Dewey’s. He’s not very well-known, but he was extraordinary – a marvellous teacher.“81

An anderer Stelle schreibt Geertz zu Geiger: „He had a greater impact on the direction of my life and the shape of my judgements than any other single individual – as he did, so I gather from not a few of my contemporaries, on those of a number of others who bumped into his mind and temper at a similar pint in their trajectory toward what we nervously called ,real life‘. [...] he presented an example, such as I at least had never seen before and rarely have after, of what it means to be a concerned and passionate scholar, learned, funny, inquisitive, a bit disenchanted, and stunningly clear – a person caring at once for ideas, their beauty, and their moral consequences.“82

Der begeisterte Schüler John Deweys, George Geiger,83 bestätigte und verstärkte das Geertz’sche Interesse für den amerikanischen Pragmatismus.84 Die Tatsache, dass nach Dewey Denken kein subjektiv-verborgener Prozess ist, sondern öffentlich in zwischenmenschlichen Interaktionen zum Ausdruck kommt, und die Erfahrung dieser Interaktionen die Wirklichkeit der Menschen und deren Sinnauffassung maßgeblich gestalten, ist wesentlich für die Geertz’sche Erkenntnisgewinnung. Die pragmatische Auffassung, dass sich Sinnzusammenhänge und Bedeutung in Handlungen materialisieren und wechselwirkend durch Handeln Sinn und Bedeutung hergestellt wird, schlägt sich im Geertz’schen Kulturbegriff nieder. Der von Charles Sanders Peirce entwickelte intuitiv-abduktive Schluss findet sich in etwas abgewandelter Form in den Geertz’schen Essays und erinnert stark an die Aussage von

81 Handler 1995, 603 82 Geertz 2000b, 506 83 Es lässt sich eine interessante Linie von Lehrern und Schülern bis hin zu Geertz zeichnen: Charles Sanders Pierce als Begründer des Pragmatismus beeinflusst stark den jungen John Dewey, dieser wiederum hinterlässt deutliche Spuren im Denken von George Geiger (vgl. Geiger 1958), welcher später wichtiger Lehrer von Geertz wird. 84 Der Pragmatismus war eine dominante philosophische Strömung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Amerika und wollte das Erkennen und die Wahrheitsbildung eng mit den Handlungen und Erfahrungen der alltäglichen Lebenswelt verbinden. Die Güte einer Erkenntnis wird an dessen Praktikabilität und Nutzen für die Lebenswelt gemessen. „It stresses the priority of action over doctrine, of experience over fixed principles, and it holds that ideas borrow their meanings from their consequences and their truths from their verification. Thus, ideas are essentially instruments and plans of action.“ (Encyclopædia Britannica 2008) Als Hauptvertreter des Pragmatismus gelten William James, Charles Sanders Peirce, John Dewey.

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Geertz, Erkenntnisse in der ethnografischen Forschung wachsen ruckartig.85 Auch das Geertz’sche Verständnis von Symbol und dessen (pragmatistische) Bedeutung für die zwischenmenschliche Kommunikation sind maßgeblich von Peirce beeinflusst.86 Darüber hinaus war es Georg Geiger, der Geertz in die Werke der bedeutsamen Sprachphilosophen der Ordinary Language Philosophy aus Oxford, Gilbert Ryle und John Austin87, einführte. Inglis schreibt, diese beiden Philosophen seien es gewesen, die Geertz den Weg bereiteten, zu einem weiteren Denker, der ihn maßgeblich beeinflusste: der späte Ludwig Wittgenstein.88 Sie taten dies aufgrund ihrer Absage an kartesisch-dualistische Vorstellungen des Menschen, welche diesen in zwei separate Einheiten, Körper und Geist, teilen. In The Concept of Mind89 zeichnet Ryle überspitzt das Bild vom Geist im Körper als einem „Gespenst in der Maschine“, das er in der „offiziellen Lehre“ dualistischer Theorien auszumachen meint. Ryle argumentiert, mentale Zustände sollten konzeptionell als Verhaltensdispositionen, anstatt als Adjektive, als Adverbien aufgefasst werden, welche direkten Einfluss auf die materielle Welt haben. Nur so wäre erklärbar, dass sinnvolles Verhalten möglich ist, denn es sei nicht zu verstehen, wie ein immaterieller Geist in einer materiellen Welt agieren könnte. Der menschliche Geist liefert nach Ryle die Disposition zum Verhalten, verursacht dieses aber nicht im Sinne von wirkursächlichen Vorgängen der materiellen Welt. Ryle spricht in diesem Zusammenhang von einem Kategorienfehler, der Descartes unterlaufen sei, als er res extensa und res cogitans als zwei unterschiedliche Entitäten kategorisierte, dabei aber die gleiche (Ober-)Begrifflichkeit, nämlich res, gebrauchte.90 In der Ryleschen Argumentation liegen die Wurzeln für die Geertz’sche Annahme, dass Denken öffentlich geschieht 85 Geertz 1983a, 36; vgl. ausführlich dazu später unter 3.2.4.2 86 Micheelsen 2002, 7, 15 87 Gilbert Ryle gilt zusammen mit John L. Austin als Hauptvertreter der Ordinary Language Philosophy bzw. Philosophie der normalen Sprache, die einen Hauptzweig der analytischen Philosophie darstellt. In der Tradition von G.E. Moore und Ludwig Wittgenstein wird hier versucht, unter Rückbesinnung auf den alltäglichen Sprachgebrauch philosophische Probleme durch Sprach- bzw. Begriffsanalyse zu klären. Als Hauptwerk Ryles gilt das in 1949 erschienene Werk The Concept of Mind. 88 Inglis 2000, 8. Ludwig Wittgenstein gilt als Schöpfer bahnbrechender Herangehensweisen für die Philosophie der Logik, der Sprache und des Bewusstseins. Seine beiden Hauptwerke Tractatus logico-philosophicus (1921) und Philosophische Untersuchungen (1953, posthum) stellen die Grundlage zweier bedeutender philosophischer Richtungen, des Logischen Positivismus und der Analytischen Sprachphilosophie, dar. 89 Ryle 1957 90 Vgl. Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie; im Original (lat.): Meditationes de Prima Philosophia.

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und Kultur somit beobachtbar auf Märkten und Plätzen stattfindet, denn „obwohl sie aus Ideen besteht, existiert sie nicht in den Köpfen; obwohl sie unkörperlich ist, ist sie keine okkulte Größe“91. Ähnlich wie Ryle betont auch Geertz ausdrücklich, das Denken, bzw. der Geist (mind) sei ein organisiertes System von Dispositionen, welche sich in Handlungen manifestieren: „,Mind‘ is a term denoting a class of skills, propensities, capacities, tendencies, habits; it refers in Dewey’s phrase to an ,active and eager background which lies in wait and engages whatever comes its way.‘ And, as such it is neither an action nor a thing, but an organized system of dispositions which finds its manifestation in some actions and some things.“92

Daraus folgt für Geertz, „that human thinking is primarily an overt act conducted in terms of the objective materials of the common culture, and only secondarily a private matter“93. Noch in anderer Hinsicht spielt Gilbert Ryle für Geertz eine bedeutsame Rolle. Von diesem nämlich, so schreibt Geertz, entlieh er sich den Ausdruck der „dichten Beschreibung“94, welche zentrale Begrifflichkeit für seine Methode wurde (vgl. 1.4.1). Inglis schreibt: „Ryle also provided Geertz [...] with the term ,thick description‘. It proved so compelling precisely because it arouse from a general commitment to understand the world as the product of our way of talking about it.“95 In Ryles Unterscheidung zwischen dünner und dichter Beschreibung sei, so Geertz, der Gegenstand der Ethnografie angesiedelt. Die dünne Beschreibung hält photographisch Beobachtungen fest, die dichte Beschreibung dagegen möchte verstehen, warum Menschen auf eine gewisse Art und Weise handeln und welche Bedeutung sie ihrem Tun beimessen. Es geht Geertz in seinem Ansatz darum, das „Gespenst aus der Maschine“ zu locken, detailliert zu beschreiben, was er unter Menschen einer anderen Kultur beobachtet und im Anschluss daran zu verstehen, wie die Menschen durch ihre Interaktionen ihre je eigene Wirklichkeitsauffassung schaffen. Anders formuliert, geht es in der dichten Beschreibung darum nachzuvollziehen, wie mentale Prozesse, Vorstellungen, Ideen in der materiellen Welt in Form von Handlungen zum Ausdruck kommen und wie diese Handlungen wech-

91 Geertz 1983a, 16 92 Geertz 1973, 58. Geertz macht sich in seinem Aufsatz The Growth of Culture and the Evolution of Mind ausführlich Gedanken über die Rolle des menschlichen Geistes und bezieht sich dabei explizit an mehreren Stellen auf Gilbert Ryle. 93 Geertz 1973, 83 94 Geertz 1983a, 10-12 95 Inglis 2000, 8

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selwirkend gewisse Dispositionen in den Menschen schaffen, Vorstellungen einer Wirklichkeit wecken, die eben bestimmte Verhaltensweisen hervorrufen.96 Austins Rolle im Geertz’schen Denken, so mutmaßt Inglis,97 besteht in dessen Behauptung, dass in der Sprache nicht nur Inhalte beschrieben werden, sondern dass der Akt des Sprechens immer auch (soziale) Handlung darstellt, die entsprechende Konsequenzen mit sich bringt. Die Bewertung einer Äußerung ist also nicht nur beschränkt auf die Wahrheitswerte wahr und falsch. Die Äußerung wird als Akt, eingebettet in einen Gesamtkontext, hinsichtlich ihres gesamtgesellschaftlichen Ausgangs bewertet. Infolgedessen ist nach Austin das Verstehen einer Sprache ohne entsprechende Einsicht in die Tätigkeiten, in die sie verwoben ist, nicht möglich. Wittgenstein geht noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet: „Eine Sprache vorstellen, heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“98 1.2.2 Der späte Ludwig Wittgenstein und die Rückbesinnung auf lebensweltliche Realität Nicht nur aufgrund des oben erwähnten Kurswechsels in der Philosophie, den Geertz auf Ludwig Wittgenstein zurückführt, habe der aufständische Scharfdenker und Rebell unter den Philosophen, wie Geertz den späten Wittgenstein nennt,99 einen großen Einfluss auf ihn gehabt. Wittgenstein habe, so schreibt Geertz, mit seinen Werken und Schriften100 den verkopften Geisteswissenschaften den Weg aus der Gefangenschaft im „Fliegenglas“ 101 gewiesen und sie wieder auf den rauen Bo-

96

Für eine ausführliche Erläuterung der Beziehung von Ryle und Geertz siehe Stephen

97

Inglis 2000, 9

98

Wittgenstein 2003, 21; Schulte 1989, 146

99

Geertz 2000a, xi

Greenblatts The Touch of the Real in Ortner 1999

100 Geertz bezieht sich hier vor allem auf das 1953 posthum erschienene Werk Philosophische Untersuchungen und die ebenfalls nach Wittgensteins Tod 1951 erschienenen Nachlässe über die folgenden Jahrzehnte. 101 In § 309 der Philosophischen Untersuchungen schreibt Wittgenstein (2003): „Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ (168) Wittgenstein kritisiert den falschen Sprachgebrauch der Philosophen, die meinen, Sprache funktioniere immer in der gleichen Weise. Dass dies nicht der Fall ist, erkennt man, wenn man den tatsächlichen Gebrauch der Sprache betrachtet, und sieht, dass ein Wort ganz unterschiedliche Bedeutungen in seinem praktischen Gebrauch haben kann. Philosophen versuchen, Worten ihre Bedeutung durch reine Bewusstseinsakte anzuhängen und verirren sich dabei im Fliegenglas philosophischer Überhöhung. Deshalb besteht die Aufgabe der Philosophie, wie sie Wittgenstein (2003) betreiben möchte, „die

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den der (empirischen) Tatsachen zurückgeführt. Geertz schreibt über sein Verhältnis zu Wittgenstein: „The appearance in 1953, two years after his death, of Philosophical Investigations, and the transformation of what had been but rumors out of Oxbridge into an apparently endlessly generative text, had an enormous impact upon my sense of what I was about and what I hoped to accomplish, as did the flow of ,Remarks‘, ,Occasions‘, ,Notebooks‘, ,Zettel‘ that followed it out of the Nachlass over the next decades. In this way I was hardly alone among people working in the human sciences trying to find their way out of their stoppered flybottles. But I was surely one of the more thoroughly preadapted to receive the message. If it is true, as has been argued, that the writers we are willing to call master are those who seem to us finally to be saying what we feel we have long had on the tip of our tongue but have been ourselves quite unable to express, those who put into words what are for us only inchoate motions, tendencies, and impulses of mind, then I am more than happy to acknowledge Wittgenstein as my master.“102 [Hervorhebungen im Original]

In der Folge sollen konkret einige Aspekte der Philosophie von Ludwig Wittgenstein herausgegriffen werden, die für Clifford Geertz von besonderer Bedeutung waren, die ihm, wie er in obigem Zitat zum Ausdruck bringt, auf der Zunge lagen, es ihm aber nicht möglich war, sie auszusprechen oder sie niederzuschreiben. 1.2.2.1 Die Unmöglichkeit von Privatsprache Zunächst zu erwähnen ist Wittgensteins Attacke gegen das Privatsprachenargument und damit gegen den Solipsismus und Skeptizismus in der Erkenntnistheorie. Wittgenstein behauptet darin, dass Sprache notwendig soziale Tätigkeit ist und selbst die Gedanken, die sich einer privat in seinem Innersten macht, mit Worten einer Sprache formuliert werden, die der zwischenmenschlichen Interaktion entspringt. Diese Befreiung der Gedanken aus der völligen Privatheit, aus der dunklen Höhle des Kopfes der Menschen, wie Geertz schreibt,103 hinein in die lichte Öffentlichkeit der Märkte und Plätze, wo sie beobachtbar und interpretierbar sind, ist fundamental für die Geertz’sche Methode der dichten Beschreibung und überhaupt für sein Verständnis von Kultur.104 Die Unternehmung einer interpretativen Anthropologie, für die Geertz eintritt, wäre ohne die Wittgensteinsche Philosophie nicht denkbar. Geertz betont:

Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück>zuführen@“ (82). 102 Geertz 2000a, xi 103 Geertz 1983a, 16 ff 104 Geertz 2000a, xii

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„Der allgemeine Einwand gegen private Bedeutungstheorien gehört seit dem frühen Husserl und dem späten Wittgenstein so sehr zum modernen Denken, dass er hier nicht noch einmal vorgetragen werden muss. Allerdings muss dafür gesorgt werden, dass man davon auch in der Ethnologie Notiz nimmt. Vor allem aber ist eines deutlich zu machen: Wenn man sagt, Kultur bestehe aus sozial festgelegten Bedeutungsstrukturen, in deren Rahmen Menschen etwa ein Komplott signalisieren und eingehen oder sich beleidigt fühlen und darauf reagieren, so folgt daraus noch keineswegs, dass Kultur ein psychologisches Phänomen, ein Merkmal einer individuellen geistigen Verfassung, einer kognitiven Struktur oder was auch immer ist, sowie daraus ja auch nicht folgt, dass der Tantrismus, die Genetik, die Verlaufsform des Verbs, die Klassifizierung von Weinsorten, das Gewohnheitsrecht [...] bloß ein psychologisches, mentales oder kognitives Phänomen ist.“105

Basierend auf Wittgenstein kann Geertz behaupten, Kultur sei deshalb öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist.106 Bedeutung manifestiert sich öffentlich im (sprachlichen, symbolhaften) Handeln der Menschen. Die Vorstellung, Kultur sei allein in den Herzen und Köpfen der Menschen beheimatet, für die sich die kognitive Anthropologie107 ausspricht, verliert damit ihre Überzeugungskraft. Um eine Kultur bzw. die Menschen, die dieser angehören, zu verstehen, nützt es nach Geertz wenig, sich einzufühlen in die Situation der Eingeborenen, versuchen zu wollen, sie nachzuahmen oder gar wie diese zu sein. Er bemerkt: „Nur Romantiker und Spione könnten darin vielleicht einen Sinn sehen“108. Ebenfalls mit Wittgenstein führt Geertz aus, es sei von vorneherein ein entmutigendes Unterfangen, sich in die Einheimischen einfinden zu wollen, denn ein Mensch kann für einen anderen ein völliges Rätsel sein: „Das erfährt man, wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich

105 Geertz 1983a, 19. Ein ganz ähnliches Argument findet sich in Geertz 1980, 135 106 Ebd., 18 107 Geertz verweist hier vor allem auf Ward Goodenough, einer der bekanntesten Verfechter der kognitiven Anthropologie. Kognitive Anthropologie beruht auf der idealistischen Vorstellung, Kultur bestünde aus bestimmten kognitiven Ordnungskategorien, eben gerade „privaten Sprachen“, die den Menschen dazu dienen, ihre Welt zu verstehen. „Cognitive anthropology posits that each culture orders events, material life and ideas, to its own criteria. The fundamental aim of cognitive anthropology is to reliably represent the logical systems of thought of other people according to criteria, which can be discovered and replicated through analysis […]. Cognitive anthropologists regard anthropology as a formal science. They maintain that culture is composed of logical rules that are based on ideas that can be accessed in the mind. Cognitive anthropology emphasizes the rules of behavior, not behavior itself.“ (Dept. of Anthropology, University of Alabama 2006) 108 Geertz 1983a, 20

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fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht die Menschen nicht. [...] Wir können uns nicht in sie finden.“109 An anderer Stelle stellt sich Geertz in diesem Zusammenhang die erkenntnistheoretisch wichtige Frage, wie, wenn man auf der Forderung beharre, die Dinge aus der Perspektive der Eingeborenen zu betrachten, aber keine „einzigartige psychologische Nähe oder eine Art transkultureller Identifikation mit dem Gegenstand“ beanspruchen kann, überhaupt behaupten könne, zu adäquaten Erkenntnissen über eine andere Kultur gelangt zu sein. Er fragt sich: „Was wird aus dem Verstehen, wenn das Einfühlen entfällt?“110 Nach obigen Ausführungen liegt auf der Hand, dass Geertz diese Frage unter Bezugnahme des Wittgensteinschen Privatsprachenarguments klärt, wenn er betont, dass Menschen erfahrungsnahe Begriffe sowohl intra- als auch intersubjektiv öffentlich verwenden. Meist tun sie dies spontan und unbewusst. Eine reine Privatsprache, bei der nur der Sprecher selbst um die Bedeutung der Worte dieser Sprache weiß, gibt es nicht. Denn, so Wittgenstein, ein Sprachsystem beruht auf Regeln, und Regeln können nur befolgt werden, wenn sie überprüfbar sind.111 Das sind sie jedoch nur, wenn sie in den Bereich des Zwischenmenschlichen fallen. Wir lernen die Bedeutung von Regeln genauso wie von Begriffen für Psychisches, wie Schmerz, Trauer oder Verzweiflung in intersubjektiven Sprachspielen,112 und nur dann machen sie auch für uns selbst Sinn. Ein rein privates Erlebnis lässt sich zwar nicht intersubjektiv vermitteln, wohl aber der Umgang mit diesem. Ein Mensch kann den Schmerz eines anderen nicht fühlen, aber er weiß, was dieser meint, wenn er sagt, er habe Zahnschmerzen, Bauchweh oder Liebeskummer.113 Wittgenstein versucht, diesen Zusammenhang mit einem Beispiel zu verdeutlichen: 109 Wittgenstein, in: ebd. 110 Ebd., 290. Hervorhebung im Original. Diese Unmöglichkeit der Erkenntnis jenseits des eigenen Seins spiegelt die Hauptthese des Solipsismus wieder. 111 Wittgenstein 2003, 134; Schulte 1989, 194 112 Wittgenstein nennt in sich geschlossene Systeme der Verständigung (z.B. Befehle, Behauptungen, Fragen) Sprachspiele. Die Funktion im Sprachspiel stellt den Sinn des Satzes dar; der Sinn entsteht demnach erst innerhalb eines praktischen Zusammenhanges. Das Sprachspiel folgt bestimmten Regeln, die jedoch veränderbar und kontextabhängig sind. Wir lernen die Begriffe in unserem kulturellen Kontext nicht durch Definitionen, sondern durch die Praxis der Sprachspiele (Wittgenstein bezeichnet dies als „Abrichtung“). Erst indem wir eine Regel beherrschen, sind wir in der Lage, sie zu bestimmen. Das wiederum spiegelt sich auch in der Geertz’schen Aussage wieder, Kultur sei ein von Menschen geschaffenes (wandelbares) Produkt (Netz von Bedeutungen), in dem wir sinnvoll handeln können, ohne es vollkommen verstehen zu müssen. 113 Vgl. Wittgenstein 2003, 146

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„Angenommen, es hätte jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ‚Käfer‘ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Anderen schauen, und jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. [...] Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel, auch nicht einmal als ein Etwas, denn die Schachtel könnte auch leer sein.“114

Geertz kann nun basierend auf diesen Erkenntnissen schreiben: „Erfahrungsnähe bedeutet doch im Grunde, dass die Ideen und die Realitäten, die sie ans Licht bringen, natürlich und unauflösbar miteinander verknüpft sind. Wie anders als Flusspferd sollte man ein Flusspferd nennen? Die Götter sind selbstverständlich mächtig, warum sollten wir sie sonst fürchten? Der Ethnograph nimmt weitgehend nicht das wahr, was seine Informanten wahrnehmen, er kann es meiner Meinung nach auch gar nicht. Er nimmt wahr – und auch das noch unscharf genug –, was sie ‚mit‘, ‚vermittels‘, ‚durch‘, oder wie immer man es nennen will, wahrnehmen. Im Lande des Blinden, die gar nicht so wenig mitbekommen, wie es den Anschein haben könnte, ist der Einäugige nicht König, sondern Zuschauer.“115

Um Bedeutungsinhalte einer fremden Kultur aufdecken und verstehen zu können, um dem näher zu kommen, wie die Menschen sich selbst verstehen und ihre Welt interpretieren, müssen wir, so Geertz, in erster Linie mit den Menschen ins Gespräch kommen, zuhören und soziale Handlungen detailliert beobachten: „Dem Verhalten muss Beachtung geschenkt werden, eine recht gründliche Beachtung sogar, weil es nämlich der Ablauf des Verhaltens ist – oder genauer gesagt, der Ablauf des sozialen Handelns –, in dessen Rahmen kulturelle Formen ihren Ausdruck finden. Sie finden ihn natürlich auch in verschiedenen Artefakten und Bewußtseinszuständen; aber diese beziehen ihre Bedeutung von der Rolle (Wittgenstein würde sagen, ihrem ‚Gebrauch‘), die sie in einer fortgesetzten Lebensform spielen, und nicht aus den inneren Beziehungen, in denen sie zueinander stehen.“116

An anderer Stelle schreibt Geertz, „dass wir unsere Aufmerksamkeit dem zuzuwenden haben, was den Symbolen Leben verleiht: ihrer Verwendung.“ 117 Um mit Wittgenstein zu sprechen, erfahren wir nur über den Gebrauch der Worte innerhalb eines bestimmten Kontextes etwas über den Sinn und die Bedeutung von diesen. Denn die Regeln des Gebrauchs eines Wortes sind dadurch bestimmt, dass sprachliche Äußerungen im täglichen Miteinander eine bestimmte Funktion übernehmen. 114 Ebd., 163 115 Geertz 1983a, 293 116 Ebd., 25 117 Ebd., 193

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Dementsprechend fordert Wittgenstein: „Sieh den Satz als Instrument an und seinen Sinn als seine Verwendung.“118 Für die Gesamtheit der Handlungsmuster in einer Kultur verwendet Wittgenstein das Wort „Lebensform“. Die Lebensform bestimmt, was wir als fremd oder vertraut einordnen. Die einzelnen Sprachspiele sind letztlich immer in eine Lebensform eingebettet und begründen diese zugleich. „Das Wort ‚Sprachspiel‘“, so erläutert Wittgenstein, „soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit oder einer Lebensform“119. Sprache dient somit nicht nur der Verständigung, sie ist vielmehr die Grundlage, auf der Verständigung überhaupt erst möglich ist. Infolgedessen müssen sich die Sprecher einer Sprache nicht nur über die Definition der Worte einig sein, sondern auch über deren Funktion, Gebrauch und weitere Bedeutung.120 Mit Inglis lässt sich die Bedeutung Wittgensteins im Zusammenhang des Privatsprachenarguments für Geertz wie folgt zusammenfassen: „Wittgenstein taught [Geertz] to abandon the long-lived psychology of Romanticism, whereby human beings are divided into inner states and outer appearances, and in which the key to understanding other people is to discover how they truly think and feel about the world. We do this by way of our imaginative sympathy (sometimes ,empathy‘) with those thoughts and feelings helped by the capacity of other people so to be able to describe to us their feeling that they make us feel the same. [...] Wittgenstein’s general lesson is that, tradition and intuition to the contrary, we do not know what we feel by introspection of our inner or private self, we find it out be talking to ourselves and others.“121 >Hervorhebung im Original@

1.2.2.2 Die Nutzbarmachung des Common Sense für die Forschung Mit Wittgenstein möchte Geertz Abstand nehmen von allgemeinen Erklärungen, abgehoben von der tatsächlichen Realität der Menschen, deren Kultur er dicht beschreiben möchte. Eine Kultur bzw. eine Lebensform oder eine Sprache kann man, so Wittgenstein, „ansehen wie eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern“122. Geertz argumentiert bei seinem ethnografischen Vorgehen für ein Eintauchen in den Gesamtkomplex der Stadt, für das Wagnis des Ethnologen durch die Straßen

118 Wittgenstein 2003, 205 119 Ebd., 26 120 Vgl. Schulte 1989, 146 ff; Inglis 2000, 47 121 Inglis 2000, 45 122 Wittgenstein 2003, 21

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und Gassen zu ziehen und etwas von dem Leben in der Stadt zu erfahren, anstatt sozusagen aus der Vogelperspektive von oben kartografisch ihre Struktur aufzuzeichnen.123 In Anlehnung an Wittgenstein124 schreibt Geertz, es sei nicht möglich, immer wiederkehrende logische Muster aufzuzeigen und damit zu bleibenden Schlussfolgerungen zu kommen, denn solche seien schlichtweg nicht vorhanden.125 Man müsse vielmehr den eigenartigen Umwegen auf wenig befahrenen Seitenstraßen folgen und die darin charakteristische Färbung und den spezifischen Tonfall, der sich hier findet, untersuchen.126 Anders ausgedrückt, möchte sich Geertz der kulturellen Dimension des Common Sense widmen, die alltäglichen Geschehnisse auf den Märkten und Plätzen beobachten und sich überraschen lassen, anstatt mit vorgefertigten Karten, abstrakten Hypothesen zu allgemeinen Schlussfolgerungen kommen zu wollen. Ähnlich versteht sich Wittgenstein analog zu einem Führer durch eine Stadt oder ein unbekanntes Land, der, anstatt den Leuten zuerst die Hauptstraßen zu zeigen, Nebengassen einschlägt und sich durch interessante Örtlichkeiten ablenken lässt.127 Philosophische Begriffe, so Wittgenstein, können nicht in abstrakten Realitäten philosophischer Konstrukte erklärt werden, sondern nur in ihrem Zusammenhang in der Alltagssprache. Er schreibt über die Verfehlungen der Philosophie diesbezüglich: „Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgend eines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenzen der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen.“128 Wittgensteins Projekt hat zum Ziel, die Wörter von ihrer metaphysischen Verwendung wieder auf ihre alltägliche zurückzuführen, ein Unterfangen, das sich nicht ganz leicht darstellt, denn:

123 Geertz 1983a, 286 124 Wittgenstein (2003) stellt heraus: „In der wirklichen Verwendung der Ausdrücke machen wir gleichsam Umwege, gehen durch Nebengassen; während wir wohl die gerade breite Straße vor uns sehen, sie aber freilich nicht benützen können, weil sie permanent gesperrt ist.“ (206) 125 Dies erinnert auch an die bekannte Wittgensteinsche Forderung: „Denk nicht, sondern schau!“ Es geht nicht darum, funktionalistischen Konzepten und dem Essentialismus strikter Definitionen anheim zu fallen. Man muss vielmehr die Dinge in ihrem Kontext und in ihrem Tätigsein in diesem betrachten, um sie zu verstehen. Wittgenstein spricht hier von „Familienähnlichkeiten“ anstatt von definiten Festschreibungen. S. dazu §66 und §67 in den Philosophischen Untersuchungen. 126 Geertz 1983a, 286 127 Schulte 1989, 136 128 Wittgenstein 2003, 83

40 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, - weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, dass ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.“129 >Hervorhebung im Original@

Zur Verwirklichung dieses Ziels fordert er, Philosophen müssten versuchen, bei dem Gebrauch eines Wortes wie „Wissen“, „Sein“ oder „Satz“ nach dem Wesen des Dings zu fragen. Dazu müssten sie nachsehen („Denk nicht, sondern schau!“130), wie dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, gebraucht wird.131 Wittgenstein verwehrt sich gegen glatte Erklärungen und will zeigen, „dass die Suche nach einem Prinzip der Dinge und die Forderung nach Allgemeingültigkeit oder gar Notwendigkeit unserer philosophischen Erkenntnis bloß Verblendung nach sich zieht, während die aufmerksame Betrachtung der Umstände, durch die uns diese verfehlten Gedanken und Bestrebungen nachgerade aufgenötigt werden, zu wirklichen [...] Einsichten führen kann.“132 In diesem Sinne fordert Wittgenstein die Rückbesinnung auf den rauen Boden der Tatsachen: „Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauen Boden!“133 Geertz schreibt, diese Kritik Wittgensteins an der Abgehobenheit der Philosophie jenseits der Alltagsrelevanz habe diese wieder zurückgeholt in das öffentliche Leben. Hier, im feinen Detail des alltäglichen Lebens, fänden sich die Antworten auf die fundamentalsten Fragen des Menschseins.134 Infolgedessen möchte Geertz „in der Struktur des praktisch orientierten Alltagsdenkens des rechtschaffenen Normalmenschen nach dem Schlüssel zu den tieferen Geheimnissen der Existenz suchen“135. Er lehnt funktionalistische Beschreibungen der den Gesellschaften zugrundeliegenden Mechanismen ab und bemüht sich um deutende (dichte) Beschrei129 Ebd., 86. Ähnlich bemerkt auch Geertz (1983a, 287): „Der Common sense [...] liegt uns so offen vor Augen, dass wir ihn schon nicht mehr sehen.“ 130 Wittgenstein 2003, 57 131 Ebd., 82 132 Schulte 1989, 129 133 Wittgenstein 2003, 79 134 Geertz 2000a, xi. Neben Wittgenstein, Austin und Ryle, die sich auf die normale Sprache konzentrieren, habe zudem die Entwicklung der sogenannten Phänomenologie des Alltagslebens bei Husserl, Schütz und Merleau-Ponty, der europäische Existentialismus und der amerikanische Pragmatismus Alltägliches zum Paradigma der Vernunft gemacht. (Geertz 1983, 265-266) 135 Geertz 1983a, 266

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bungen der von diesen Gesellschaften getragenen Lebensformen. Geertz möchte in seinen Untersuchungen nicht mit umfassenden Theorien und abschließenden Thesen aufs Glatteis geraten. Er möchte vielmehr festen Boden unter den Füßen spüren, um Schritt für Schritt, Detail für Detail, in seinen Erkenntnissen weiter zu kommen: „The notion that anthropology [...] is exploring the rough ground on which it is possible for thought, Wittgenstein’s or anyone else’s, to gain traction is for me not only a compelling idea itself; it is the idea, unfocused and unformulated, that led me to migrate into the field, in both senses of ,field‘, in the first place. Wearied of slipping about on Kantian, Hegelian, or Cartesian iceflows, I wanted to walk.“136

Bei diesen Entdeckungsreisen in den Nebengassen fremder Städte sieht sich Geertz konfrontiert mit einer unglaublichen Vielzahl von sozio-kulturellen Phänomenen, die sich selten zu einer einheitlichen Erkenntnis zusammenfassen lassen. Mit Wittgenstein fragt er sich diesbezüglich: „Ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff? – Ist eine unscharfe Photographie überhaupt ein Bild eines Menschen?“137 Bei Wittgenstein findet er auch seine Antwort darauf: Vielleicht ist es gerade die Verschwommenheit und Undeutlichkeit, die Vielschichtigkeit und Unabgeschlossenheit einer Theorie über fremde Kulturen, die sie zu ihrer Glaubwürdigkeit benötigt und die der Komplexität ihres Inhalts überhaupt nur gerecht werden kann? Oder, um in den Worten Wittgensteins zu sprechen: „Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?“138 1.2.3 Talcott Parsons, Max Weber und die „verstehende“ Soziologie Talcott Parsons139 gründete 1946 das Department of Social Relations140 an der Harvard Universität in Cambridge, das nach Kriegsende Professoren und Studierende

136 Geertz 2000a, xii 137 Wittgenstein in: ebd., xiii 138 Wittgenstein 2003, 60 139 Talcott Parsons gilt als der einflussreichste amerikanische Soziologe nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach einem Promotionsstudium in Deutschland begann für Parsons eine lange Karriere (1927 bis 1973) an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Während dieser Zeit traf er auch auf Geertz. Gemeinsam mit Edward Shils führte Parsons insbesondere Max Webers Werk in die amerikanische Soziologiediskussion ein. 140 An der Harvard Universität erwarb Geertz seinen Doktortitel. Neben Talcott Parsons stieß Geertz dort auf Clyde Kluckhohn, Gordon Allport, Henry Murray, Frederick

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aus allen Richtungen anzog und aufgrund dessen interdisziplinär, integrativ und innovativ arbeitete. Geertz, der in den 50er Jahren in dem Department Anthropologie studierte und von dort aus auch seine ersten Feldforschungsreisen nach Indonesien unternahm, scheint auf seine Zeit dort mit gemischten Gefühlen zurückzublicken: Einerseits schien er die „intellektuelle Gärung“ und den innovativen Geist einer „Sozialwissenschaft in vollem Galopp; gewitzter und zuversichtlicher als zuvor oder seitdem“141 zu genießen und stark von den Professoren der damaligen Zeit geprägt worden zu sein. Im Gespräch mit Handler erwähnt Geertz, er sei völlig fasziniert gewesen, von der Vielfalt und außergewöhnlichen Kombination brillanter Persönlichkeiten; er habe das Wissen aufgesogen, es habe ihn zu dem geformt, der er heute sei.142 Auf der anderen Seite schien er sich nicht so recht mit dem „schmetternden Aufruf [...] ‚Zu einer gemeinsamen Sprache für alle Bereiche der Sozialwissenschaften‘“143 anfreunden zu können. Parsons, der sich als Leiter des Departments nicht nur diesem Aufruf anschloss, sondern durch, wie Geertz bemerkt, „großartig architektonische Projekte zur allgemeinen Theorie des sozialen Handelns“144 diesen vorantrieb, unterrichtete Vorlesungen, die Geertz vor allem hinsichtlich seines Verständnisses von Kultur und kulturellen Systemen nachhaltig beeinflussten.145 Zu seinem persönlichen Verhältnis zu Parsons und dessen Vision, als „Newton der Soziologie“ in die Geschichte der Sozialwissenschaft eingehen zu wollen, erklärt Geertz: „I got along with Talcott very well – he just absorbed me somewhere in the system, and I even taught a course with him. And I liked him a lot. But I never bought >the idea of a social science in the Newtonian sense@, and I was never forced to buy it. [...] I [...] wrote papers attacking his position, and that was alright for him. The scientific thing [...] was very lively. I didn’t feel I didn’t have choices, but I had to fight against it.“146

Es ist schwer zu sagen, so stellt Pals heraus, wie direkt der Einfluss Parsons auf Geertz war, mutmaßt aber dennoch, Parsons habe Geertz vor allem hinsichtlich zweier Gesichtspunkte nachhaltig beeinflusst:147 Zum einen führte Parsons Geertz

Mosteller, Samuel Stouffer, Jerome Bruner, Alex Inkeles, David Schneider, George Homans und Pitrim Sorokin. 141 Geertz 1997, 114, vgl. Geertz 2000a, 8 142 Handler 1991, 604 143 Geertz 1997, 115 144 Ebd. 145 Handler 1991, 608 146 Handler 1991, 607-608 147 Pals 1996, 238; vgl. Peacock in: Shweder, Good 2005, 54

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in die Theorie des deutschen Soziologen Max Weber ein,148 zum anderen verhalf er Geertz durch sein Werk The structure of Social Action zu einem Begriff von Kultur, der, im Gegensatz zu vorherrschenden vagen Vorstellungen von Kultur als Form gesellschaftlicher Haltung oder als kommunale Einstellung zur Welt, handfesten Bezugspunkt für die Forschung darstellte. Geertz selbst betont: „We wanted to get culture, however defined, back in the picture.“149 Er bemerkt, Weber, Parsons und Clyde Kluckhohn seien maßgeblich daran beteiligt gewesen, dies zu bewerkstelligen. Die wichtige Unterscheidung zwischen Kultur und Sozialstruktur, die Geertz in Ritual und sozialer Wandel vornimmt, um die Dynamik von Kultur erklären zu können,150 beruht auf Parsons Dreiteilung von Gesellschaft: „In [...] his most important book, Parsons built on Weber and developed the view that all human groups exist on three tiers, or levels, of organisation: (1) individual personalities, which are shaped and governed by (2) a social system, which is, in its turn, shaped an controlled by (3) a separate ,cultural system‘. The last of these, which is a complex network of values, symbols, and beliefs, interacts with both the individual and the society, but for purposes of analysis it can be separated from them.“151

Diese Argumentation, so Pals, war für viele Soziologen und Anthropologen ein Durchbruch, denn Kultur galt nicht mehr als Ansammlung subjektiver, schwer greifbarer Emotionen bzw. Einstellungen in den Menschen einer spezifischen Gesellschaft, sie war vielmehr objektiv nachvollziehbar, real fassbar. Parsons, so Geertz, „made it possible to talk about meaning and symbols and structures and that was extraordinarily important“152. Pals führt aus: „A cultural system was an objective thing, a collection of symbols – objects, gestures, words, events, all with meanings attached to them – that exists outside the minds of individual people yet works inwardly to shape attitudes and guide actions. [...] This concrete symbolic system is recognized by all the people within a society; it can therefore also be known by anthropologists and others who stand outside of it.“153

Während Parsons vornehmlich strukturalistischen Strömungen anhing und versuchte, „harte“ Sozialwissenschaft zu betreiben, distanzierte sich Geertz von diesen und baute seinen eigenen, interpretativen Ansatz in der Forschung weiter aus. Wie oben 148 Pals 1996, 238 ff; vgl. Peacock in: Shweder, Good 2005, 52; Micheelsen 2002, 5 149 Handler 1991, 608 150 Geertz 1983a, 96-132; vgl. 1.3.2.4 und 3.1.3 151 Pals 1996, 239 152 Panourgia 2002, 424 153 Pals 1996, 239, vgl. Inglis 2000, 39

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bereits erwähnt, konnte sich Geertz nicht mit der Idee einer allgemeinen Theorie sozialer Ordnung anfreunden. Inglis bemerkt diesbezüglich: „This was no good to Geertz, most of whose interest concentrated on the corrugated details which crowded in the spaces below the general theory. His values and symbols were not Parsons’s simple social icons, they were a rare, rich brew of belief, custom, falsehood and reasonableness from which men and women selected interpretative or heuristic instruments as best they could and according to their knowledge of how to look out for and to use luck along with the instruments in order to get through life without its being too awful.“154

Wichtige Gedanken für seinen interpretativen Ansatz fand Geertz über Parsons bei Max Weber, von dem er schreibt, dessen Genie habe seine Arbeit erst ermöglicht.155 Parsons interpretierte Weber im Sinne seiner allgemeinen Theorie sozialen Handelns, Geertz fand dort die Begründung für seine deutende Herangehensweise in der Forschung.156 Geertz erwähnt diesbezüglich: „Parsons introduced me to Weber’s work, so I have to some degree a Parsonian view of Weber. The interpretation of Weber and, therefore, the discussion about Weber is of course whether he really believed in a social science with a scientific approach to culture, or if he believed in an interpretative one. I think one can read him either way – although I use him for the interpretative perspective.“157

Max Weber argumentiert, dass sich soziales Handeln dadurch auszeichnet, dass die Handelnden ihrem Tun subjektiven Sinn beimessen. Dieses Handeln kann bestimmt sein: „1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen‘ oder als ‚Mittel‘ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigene Zwecke, – 2. wertrational: durch bewussten Glauben an den unbedingten [...] Eigenwert eines bestimmten Sichverhal-

154 Inglis 2000, 50 155 Geertz 1991, 9, vgl. Rosaldo 2007, 207 156 Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang Segals (1999) Aufsatz Weber and Geertz on the Meaning of Religion in welchem er grundlegende Unterschiede zwischen Geertz und Weber diskutiert. Segal stellt darin heraus: „Both >Weber and Geertz@ associate interpretation with meaning, but they diverge on the nature of meaning, on the relationship between meaning and cause, and on the consequent relationship between interpretation and explanation.“ (61) 157 Micheelsen 2002, 5

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tens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, – 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, – 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit.“158

Die Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht nach Weber darin, diesen komplexen Sinn verstehend zu erfassen und somit soziales Handeln erklären zu können. Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, entwickelt Weber die sozialwissenschaftliche Methode des erklärenden Verstehens. Dieses erklärende Verstehen der Sozialwissenschaften geht über das aktuelle, subjektive Verstehen des Sinns einer Handlung hinaus, denn es ist „gerade der Sinnzusammenhang des Handelns Objekt der Erfassung“159. Anders formuliert, entsteht Sinn Einzelner nicht in einem gesellschaftlich leeren Raum, er ist vielmehr auf soziale Interaktion hin ausgerichtet. Insofern betrachtet Weber Kultur als Produkt menschlichen Handelns. Möchte man also eine Gesellschaft sozialwissenschaftlich in wirkursächlichem Sinne erklären können, muss man versuchen, die Sinnzusammenhänge Einzelner deutend zu rekonstruieren, man muss herausfinden, welche Motivation (welchen Grund) der Einzelne hatte, auf eine gewisse Weise zu handeln. „>Y@ou need to have the story of what happened. [...] You want to understand what it is that’s motivating people“160, erklärt Geertz. Er nennt dies „Interpretationen ex post“ und schreibt, dies sei „das wichtigste Verfahren (vielleicht sogar das einzige Verfahren), mit dem man mit der Art von vorwärts erlebten, rückwärts verstandenen Phänomenen zu Rande kommen kann, zu deren Bearbeitung Anthropologen verdammt sind.“161 „Verstehen“, so Weber, „heißt [...] deutende Erfassung.“162 Soziologie ist somit „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“163 Dabei, so stellt Weber heraus, bräuchte man nicht Cäsar zu sein, um Cäsar zu verstehen und fährt erläuternd fort: „Die volle ‚Nacherlebbarkeit‘ ist für die Evidenz des Verstehens wichtig, nicht aber absolute Bedingung der Sinnbedeutung. Verstehbare und nicht verstehbare Bestandteile eines Vorgangs sind oft untermischt und verbunden.“164 Im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Erklären von kausalursächlichen Zusammenhängen will Max Weber Sinnzusammenhänge deutend erklären, welche er als die „Ursache“ für soziales Handeln ansieht. Dabei bemerkt er, dass die Gren158 Weber 1984, 44. Hervorhebungen im Original 159 Ebd., 30. Hervorhebungen im Original 160 Gerring 2003 161 Geertz 1997, 190 162 Weber 1984, 25 163 Ebd., 19 164 Ebd., 20. Ähnlich betont auch Geertz (1983a, 29), man müsse nicht alles wissen, um zu verstehen, und: „You don’t have to explain everything to explain anything.“ (Gerring 2003)

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ze sinnhaften Handelns mit dem eines bloß reaktiven Sichverhaltens fließend ist. Dies gilt in besonderer Weise für traditionales Handeln.165 „Eine richtige kausale Deutung eines konkreten Handelns bedeutet: daß der äußere Ablauf und das Motiv zutreffend und zugleich in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt sind. Eine richtige kausale Deutung typischen Handelns [...] bedeutet: daß der als typisch behauptete Hergang sowohl [...] sinnadäquat erscheint wie als kausal adäquat festgestellt werden kann. Fehlt die Sinnadäquanz, dann liegt selbst bei größter und zahlenmäßig in ihrer Wahrscheinlichkeit präzis angebbarer Regelmäßigkeit des Ablaufs [...] nur eine unverstehbare (oder nur unvollkommen verstehbare) statistische Wahrscheinlichkeit vor.“166 >Hervorhebung im Original@

Mit seinem Ansatz des erklärenden Verstehens möchte Weber somit der Besonderheit des Gegenstandes der Sozialwissenschaften Rechnung tragen, die gerade darin besteht, sinnhaft zu sein. Kepnes beschreibt das Programm Webers wie folgt: „Max Weber [...] pointed out that investigators of human culture do not wish to discover universal laws which will help them to explain a culture; rather, they want to understand the uniqueness and particularity of a culture. In order to understand what is unique about every cultural event, one has to know something of the value orientation of a culture.“167

Basierend auf diesen Thesen Max Webers entwickelt Clifford Geertz seine bekannte Definition von Kultur und die darauf beruhende interpretative Methode bei der Untersuchung von dieser: „Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“168

Die Relevanz Webers für Geertz wird auf dem Hintergrund des hier Dargestellten bei den Ausführungen zum Kulturbegriff (1.3) und zur Methode (1.4) deutlich werden. Zusammenfassend lässt sich mit Pals hinsichtlich der Bedeutung Parsons und Webers für Geertz feststellen: „Weber had shown how to understand culture,

165 Ebd., 19 166 Ebd., 28 167 Kepnes 1986, 505 168 Geertz 1983a, 9

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Parsons had shown where to find it.“169 James Peacock summiert die Parallelen zwischen Parsons, Weber und Geertz wie folgt: „,Action‘, that is, meaningful behaviour as the focal unit for analysis, ‚interpretation‘ by placing behaviour in a framework of meaning defined by the actor (e.g., translating twitches into winks, to use Geertz’s analogy in ,Thick Description‘), a definition of culture (as Geist, as system, as text) as framework of meaning, a premise that culture is both superior and autonomous to society, and a mode of generalizing through highlighting distinctive features of instances rather than averaging statistically across instances (ideal types and ethnographic portrayal in contrast to surveys and experiments).“170

In The Third Stream: Weber, Parsons, Geertz möchte Peacock jedoch deutlich hervorheben, dass Geertz weder auf Weber nach auf Parsons reduziert werden darf, sich vielmehr weitere Anleihen in der Philosophie und Literaturkritik nahm, um dann mit seinem eigenen Ansatz über beide weit hinauszugehen.171 1.2.4 Kenneth Burke und der Brückenschlag zwischen Text und Realität Auf der Suche nach eigener Form und Inhalt stieß Geertz auf Kenneth Burke172, der, wie er betont, ähnlich großen Einfluss auf sein Denken hatte wie Ludwig Wittgenstein: „Two people have been really liberating in my mind for what I was doing; one is Wittgenstein and the other is Burke.“ 173 Vor allem in Works and Lives. The Anthropologist as Author tritt der Einfluss Burkes im Geertz’schen Denken deutlich zu Tage. Geertz selbst reflektiert in seiner Einleitung zu genanntem Werk darüber, wenn er in einer Art Widmung schreibt: „Finally, in lieu of a dedication, which would be presumptuous, I would like merely to mention the name of the man, nowhere cited in the body of the text, who has had no direct connection to it or me, but whose word has served as its governing inspiration at almost every point: Kenneth Burke.“174

169 Pals 1996, 239 170 Peacock in: Shweder, Good 2005, 60n 171 Peacock 1981 172 Kenneth Duva Burke lebte von 1897 bis 1993 und war amerikanischer Schriftsteller, Literaturkritiker, Kommunikationstheoretiker und Philosoph. 173 Olson 1991 174 Geertz 1988, vi

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Zunächst ist festzustellen, dass die Nähe von Clifford Geertz zu dem Literaturkritiker Kenneth Burke sicherlich auf seiner Liebe zur Schriftstellerei beruht. Diese Leidenschaft zu schreiben wird nicht nur in seinen eloquenten ethnografischen Schriften deutlich, sondern auch in Aussagen von Geertz, in welchen er sich selbst sogar als Schriftsteller identifiziert.175 Geertz scheint in der Philosophie Burkes seine Leidenschaft als Autor und als Ethnologe sinnvoll begründet in einen Zusammenhang bringen zu können, denn das, so stellt Geertz heraus, was der Ethnograf in erster Linie tut, ist schreiben.176 Die Aufgabe des Ethnografen ist, so Geertz, die sozialen Diskurse im Feld niederzuschreiben, sie dem flüchtigen Moment zu entreißen und so als Bericht oder Niederschrift für weitere Studien zu konservieren.177 Dabei geht es aber nicht darum, das Gesagte irgendwie festzuhalten. Ziel ist, dicht zu beschreiben, die Bedeutung des Sprachereignisses festzuhalten, damit die Leser mitten hinein versetzt werden, in das, was der Ethnograf beschreibt und somit nicht klischeehaft ein glattes Bild einer anderen Kultur vorgesetzt bekommen, sondern ein buntes, unabgeschlossenes, vielseitiges  eines, das dem tatsächlichen Leben der Menschen entspringt. „The ability of anthropologists to get us to take what they say seriously has less to do with either a factual look or an air of conceptual elegance than it has with their capacity to convince us that what they say is a result of their having actually penetrated (or, if you prefer, been penetrated by) another form of life, of having, one way or another, truly ,been there‘. And that, persuading us that this offstage miracle has occurred, is where writing comes in.“178 [Hervorhebungen im Original]

In Works and Lives möchte Geertz genau diese Fähigkeit von Ethnografen, den Leser einzufangen und teilhaben zu lassen, am selbst erlebten Geschehen im Feld, das Vermögen eine fremde Kultur adäquat und greifbar darstellen zu können, unter die Lupe nehmen, um herauszufinden, was es ist, das eine gute Beschreibung von einer weniger guten unterscheidet.179 Dazu untersucht er literaturkritisch à la Burke klassische ethnografische Werke hinsichtlich deren rhetorischer Überzeugungskraft. 175 Olson (1991) fragte Geertz beispielsweise: „In what way do you think of yourself as a writer?“ Geertz antwortete: „In all kinds of ways. I started out to be one. I wanted to be a novelist.“ 176 Geertz 1983a, 28 177 Ebd., vgl. auch Wolff 1992, 340 178 Geertz 1988, 4 179 Geertz kommt hier allerdings nicht zu einem klaren Ergebnis, was es genau ist, dass uns glaubend macht, was Ethnologen über eine fremde Kultur schreiben. Er selbst sagt: „[…] that is a question I asked rather than tried to give a definite answer to. So my first

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Burke steht in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus, der wissenschaftliche Probleme holistisch und interdisziplinär angehen möchte. Er hat dabei jedoch eigene, völlig neue Schwerpunkte zu setzen versucht. Inglis schreibt: „Burke was an early hand at intellectual boundary-breaking. Or perhaps he was a survival from the nineteenth century’s way of doing things, when men of letters were less contracted to profess, and the academics less absolute in legalizing the limits of the field as well as less powerful in cultivated life in any case. Burke’s ancestors were, let us say, William James, Emerson, Henry Adams, Peirce, Santayana (Geertz’s also), men who moved easily between literary reviewing, philosophy, cultural criticism, art, history and what would now be called, a bit blandly, social theory.“180

Um Kenneth Burke verstehen zu können, so Richard Coe, müsse man sich mit dessen Konzept des Menschen vertraut machen.181 In seinem ersten der fünf Summarizing Essays entwickelt Burke seine Definition vom Menschsein: „Man is the symbol-using (symbol-making, symbol-misusing) animal inventor of the negative (or moralized by the negative) separated from his natural condition by instruments of his own making goaded by the spirit of hierarchy (or moved by the sense of order) and rotten with perfection.“182

Die Nähe zum Geertz’schen Menschenbild ist vor allem hinsichtlich des ersten Satzes der Definition, der Mensch sei ein Tier, welches symbolhaft handelt, nicht von der Hand zu weisen (vgl. 1.3.1). Für Burke als auch für Geertz besteht das Essentielle des Menschseins im Schaffen und Gebrauchen von Symbolen, um sozial handlungsfähig zu sein. Die menschliche Wahrnehmung der Wirklichkeit, die Interpretationen von dieser und sämtliche Einstellungen, Bewertungen, Handlungen, welche daraus folgen, sind vermittelt durch Symbole. Bedeutsamstes Symbol, dessen sich der Mensch bedient, ist die Sprache. Die Besonderheit im Burke’schen (und Geertz’schen) Denken dabei ist, dass Menschen nicht nur Symbole sozial herstellen, sich dieser bedienen und damit ihre eigene Realität in Form eines „seresponse is, that I don’t know. If you look in anthropology, the diversity of kinds of texts that have been persuasive and have had purchase in the field militates against any simple conclusion. In Works and Lives, I really wasn’t trying to establish a canon.“ (Olson 1991) 180 Inglis 2000, 50 181 Coe 1990 182 Burke 1966, 16

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kundären Lebensraums“183, sprich in Form spezifischer Kulturen, schaffen, sondern darüber hinaus von diesen entsprechend geformt werden. Coe erläutert zu Burke: „We not only use language and other semiotic systems, we make them and are made by them. [...] As historical and social groups, we make language (and other semiotic systems). As individuals, we are to a significant degree, made by a language.“184 Menschen leben als „sprachbegabte Tiere“ abgehoben von der Natur, sie bedürfen spezifischen Symbolkomplexen, bzw. einer Kultur, um in dieser Trennung von der Natur gesellschaftliches Lebens organisieren zu können. Kurz ausgedrückt, „we are removed from nature into culture“185. Analog dazu schreibt Geertz, der Mensch bedürfe der „extrinsischen“ Informationsquelle der Symbole, um seiner Instinktreduziertheit in der Abgehobenheit von Natur begegnen zu können.186 Literatur und Rhetorik stellen für Burke symbolische Handlungen dar. Er versteht dabei Rhetorik analog zur Wirklichkeit sozialer Interaktion: Menschliches Miteinander sei wie ein literarisches Werk dramaturgisch strukturiert, und die Wirklichkeit des symbolhaft-menschlichen Zusammenlebens finde sich stets in der Literatur wieder. Coe schreibt: „For Burke defining humanness and defining rhetoric are hardly distinct tasks. What makes us human is our culture, which is founded in our unique form of symbolizing, our languaging, which is in its very nature rhetorical as it goads/gods us, moves/motivates us, makes us social, cultural (non-)animals, allows us to compose ourselves humanly. The study of language, culture, discourse, rhetoric, and humanity is one.“187

Nun stellt sich natürlich die wichtige Frage, wie Burke Rhetorik definiert. Zunächst besteht die Aufgabe der Rhetorik bekanntlich darin, etwas in der Zuhörerschaft zu bewirken. Rhetorik ist die Kunst, den Hörer von einer Aussage zu überzeugen, bzw. zu bestimmten Handlungen zu animieren. In diesem Sinne unterscheidet Burke zwischen der Kommunikation mit seinem Publikum (communication) und dem, was der Rhetoriker mit dieser zum Ausdruck bringen will (ex-pression). Aber, so stellt Coe heraus, „Burke, the dialectician, is never happy with the stasis of a dichotomous pair, his method is always to see a third term“. Infolgedessen findet Burke bei seiner Definition von Rhetorik als Sonderform symbolischer Interaktion 188 einen 183 Geertz 1983a, 51ff 184 Coe 1990 185 Ebd. 186 Geertz 1983a, 51 187 Coe 1990 188 „Burke’s most famous definition of rhetoric intertwines definitions of language, symbolic, rhetoric, and humanness to the point where all these terms define each other: ,For

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dritten Aspekt, der die Einheit mit seinem Publikum zum Ausdruck bringt: Zwiesprache oder Verbundenheit (communion). Es steht zu vermuten, dass gerade dies der Zustand ist, den Geertz in Works and Lives zu finden sucht: der Zustand von Überzeugungskraft in welchem sich der Leser bzw. Hörer völlig in den Worten des Autors bzw. Sprechers wiederfindet – und versteht, was dieser meint. „The movement from expression to communication leads to communion, the state of identification with the community that is the logical outcome of persuasive communication. When an audience is convinced, the atone for their differences, stand at-one with the rhetor and with each other.“189 [Hervorhebungen im Original]

Nach Geertz können es weder Kriterien der Objektivität, Operationalisierbarkeit oder andere sonstige positiv-wissenschaftliche Gütekriterien sein, die einen ethnografischen Text dicht und überzeugend machen, sondern, wie oben bereits erwähnt, die Fähigkeit eines Textes, den Leser mit hineinzunehmen in die tatsächliche Gegebenheit der beschrieben Szene. Der Leser muss dem Autor glauben, dass dieser wahrlich vor Ort war, darf keine Zweifel an der Authentizität der Berichte hegen. Dem Autor muss es mit seinem Schriftstück gelingen, das Erlebte so in Worte zu fassen, dass der Leser es beinahe selbst nacherleben kann: „Eine gute Interpretation von was auch immer – einem Gedicht, einer Person, einer Geschichte, einem Ritual, einer Institution, einer Gesellschaft – versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird.“190 Das, was Geertz laut eigener Aussage am Werk Burkes am meisten fasziniert, besteht in der Auffassung, eine beobachtete symbolische Handlung gleichsam wie einen Text lesen und wie ein Schriftstück interpretieren zu können. Geertz schreibt, Burke heilte die Trennung zwischen dem, was tatsächlich in der Welt geschieht (Handlung) und dem, was in der fiktiven Welt des Autors (das Schreiben darüber) vor sich geht – ohne jedoch die beiden bis zur Unkenntlichkeit zu vermischen: „There are a lot of things about Burke that I like. I guess the main thing is the notion of symbolic action – the notion that writing is a form of action and that action is a form of writing or a form of symbolic behaviour; that you can take (and I have done this; the Balinese cockfight piece is an example) a ritual or a repetitive event as a text, even take the state as a rhetoric as such.., is rooted in an essential function of language as a symbolic means of inducing cooperation in beings that by nature respond to symbols.‘ In its final phrase, this definition of rhetoric is grounded in Burke’s definition of humanity: our essence is not that we have a particular essence but that we respond to symbols, define our own variable essences through discourse, language, rhetoric, culture.“ (Ebd.) 189 Ebd. 190 Geertz 1983a, 26

52 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS text, to ,read‘ action in symbolical terms [...]. Burke healed the division between what goes on in the ,real‘ world (activity) and what goes on in the ,unreal‘ world (that is writing about it) without fusing them.“191

Auf diesen Überlegungen basierend, stellt Geertz heraus: „Die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schultern derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen.“192 Er betont, es ginge ihm hierbei nicht um eine strukturalistische Herangehensweise, wie sie beispielsweise Levi-Strauss anstrebte,193 sondern darum, fremde Texte zu interpretieren und dabei zu versuchen zu verstehen, wie symbolische Formen in konkreten Situationen bei der Organisation von Wahrnehmung funktionieren.194 „Die Untersuchung der Kulturformen findet ihre Parallelen nicht sehr im Sezieren eines Organismus, im Diagnostizieren eines Symptoms, in der Dechiffrierung eines Codes oder im Anordnen eines Systems [...] – sondern gleicht eher dem Durchdringen eines literarischen Textes.“195 Für Burke, der menschliches Miteinander als dramaturgisch strukturiert sieht, daher als literarisches Werk versteht, muss eine Analyse des sozialen Lebens ähnlich wie die eines literarischen Werks vonstattengehen.196 Mit den fünf Begriffen der Szene (Scene), des Akts (Act), des Agenten (Agent), der Agenzien (Agency) und der Absicht (Purpose) möchte Burke ein Raster erstellen, in welchem sich symbolische Handlungen, einem literarischen Stück gleich, verstehen, analysieren und erklären lassen: „We shall use five terms as generating principle of our investigation. They are: Act, Scene, Agent, Agency, Purpose. In a rounded statement about motives, you must have some word that names the act (names what took place, in thought or deed), and another that names the scene (the background of the act, the situation in which it occurred); also, you must indicate 191 Olson 1991 192 Geertz 1983a, 259 193 Geertz (1983b) bemerkt diesbezüglich an anderer Stelle, dass dies überhaupt nicht zielführend sei, denn: „>t@he instruments of reasoning are changing and society is less and less represented as an elaborate machine or a quasi-organism and more and more as a serious game, a sidewalk drama, or a behavioural text.“ (23) 194 Geertz 1983a, 254 195 Ebd., 253 196 Inglis (2000) betont gerade in diesem Zusammenhang die Bedeutung Kenneth Burkes für Geertz: „,Dramatism‘ is >a@ key concept Geertz found and endorsed in Burke. If language is a ‚symbolic means of inducing cooperation in beings that by nature respond to symbols‘, than the ‚dancing of an attitude‘, which is a particular symbolic action, is held in the larger plot of the social drama.“ (52) [Hervorhebungen im Original]

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what person or kind of person (agent) performed the act, what means or instruments he used (agency) and the purpose. Men may violently disagree about the purpose behind a given act, or about the character of the person who did it, or how he did it, or in what kind of situation that as it may, any complete statement about motives will offer some kind of answers to these five questions: what was done (act), when or where it was done (scene), who did it (agent), how he did it (agency), and why (purpose).“197

Burke reicht es jedoch nicht darzustellen, wer, wann, was, aus welchem Grunde tat und dies abgegrenzt voneinander zu analysieren. Es geht ihm vielmehr darum, die Verhältnisse und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Komponenten zu klären (z.B. was hat der Akteur gerade hier an diesem Ort zu dieser Zeit gesucht), um zu verstehen, warum Menschen tun, was sie tun. Burke geht es somit um die Komplexität der Motive, die Menschen veranlassen, entsprechend (symbolhaft) zu handeln.198 Inglis stellt in diesem Zusammenhang heraus: „In saying things, human beings are always up to something; to determine what they are up to is the study of the rhetoric of motives. [...] A motive is the key explanatory concept for explicating context. The task of such explication is to fasten upon the intersubjective meanings each person or institution party to a situation invokes and symbolizes in action. [...] ,Motives‘, wrote Burke, ,are shorthand terms for situations‘; their content is symbolism; their occasion, the social drama.“199

In Geertz’ Verständnis des Symbolbegriffs finden sich Burkesche Überlegungen wieder: Symbole können „Gegenstände, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen >sein@, die Ausdrucksmittel einer Vorstellung sind, wobei diese Vorstellungen die ‚Bedeutung‘ des Symbols ist“200. Wichtig dabei ist, dass Symbole empirisch fassbare Formen von Vorstellungen, konkrete Verkörperungen von Ideen, Meinungen, Sehnsüchten sind. In Symbolen materialisieren sich Handlungsmotive und treten sozusagen öffentlich auf die sozio-kulturelle Bühne. Unter Bezugnahme auf Burke erklärt Geertz: „Es gibt wohl kaum ein besseres Beispiel für

197 Burke in: Radney 1996, 4 198 Dieses Anliegen, die Motivation der Menschen unter die Lupe zu nehmen, um Verhaltensweisen verstehen zu können, tritt vor allem in seinem Werk A grammer of motives (1945) zu Tage. 199 Inglis 2000, 51 200 Geertz 1983a, 49. In Ideology as a cultural system schreibt Geertz (1973, 208): „I use ‚symbol‘ broadly in the sense of any physical, social or cultural act or object that serves as the vehicle for a conception.“

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die Definition eines symbolischen Aktes als ‚getanzter Ausdruck einer bestimmten Haltung‘.“201 [Hervorhebungen im Original] Dadurch, dass kulturelle Handlungen symbolhaft zum Ausdruck kommen, sind sie ebenso öffentlich wie soziale Ereignisse. Zu Analysezwecken ist es dennoch nützlich, so Geertz, sie auseinander zu halten. Bei dieser Argumentation scheint wieder Parsons Dreiteilung von sozialem und kulturellem System und dem Persönlichkeitssystem eine Rolle zu spielen. Wie eng auch immer alle drei Dimensionen im Alltag miteinander verwoben sein mögen, bedarf es dieser Präzisierung, „damit unser Umgang mit Symbolen nicht mit unserem Umgang mit Gegenständen oder Menschen verwechselt wird: letztere sind an sich keine Symbole, auch wenn sie häufig als solche fungieren können.“202 „Es bleibt, um eine Bemerkung von Kenneth Burke aufzugreifen, ein Unterschied, ob man ein Haus baut oder einen Bauplan für ein Haus zeichnet, und es ist etwas grundsätzlich anderes, ob man ein Gedicht über Heirat und Kinder liest oder selbst heiratet und Kinder hat.“203

Burke weist darauf hin, dass der Mensch als symbolhaftes Wesen so sehr in seiner symbolhaften Realität lebt, dass er zuweilen über die eigentliche Bedeutsamkeit der von ihm benützen Symbole und welche Rolle diese in seiner Wirklichkeitsauffassung spielen, nicht mehr objektiv reflektieren kann. Der Mensch glaubt sozusagen an das eigene Drama, aufgeführt auf der Bühne des sozio-kulturellen Miteinanders. Oder, wie Geertz schreibt, die Zuschauer schreiben, spielen und erleben ihr eigenes Stück, sie sind Publikum und Schauspieler zugleich, „ reiterated form, staged and acted by its own audience, makes theory fact“204. Und Burke fragt sich in diesem Zusammenhang: „The ‚symbol-using animal‘, yes, obviously. But can we bring ourselves to realize just what that formula implies, just how overwhelmingly much of what we mean by ,reality‘ has been built up for us through nothing but our symbol systems? [...] And however tiny sliver of reality each of us has experienced firsthand, the whole overall ,picture‘ is but a construct of our symbol systems.“205

Wie Geertz zweifelt Burke an der Möglichkeit, zu abschließenden Aussagen über Menschen einer anderen Kultur, über Menschsein überhaupt, zu gelangen. Interpretationen sind immer nur vorläufig. Gerade in der Unabgeschlossenheit und Mehr201 Ebd., 256. Geertz zitiert hier Burke aus dem Werk The Philosophy of Literary Form. 202 Ebd., 50 203 Ebd., 49 204 Geertz 1983b, 30 205 Burke 1966, 5

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deutigkeit von Interpretationen drückt sich die Wahrheit über das Menschsein aus. Nur dass zwei Interpretationen auf unterschiedlicher Perspektive beruhen und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, heißt nicht, dass eine von beiden falsch ist oder falsch sein muss, damit die andere als wahr gelten kann. Burke betont: „Since no things or acts or situations are exactly alike, you cannot apply the same term to both of them without thereby introducing a certain margin of ambiguity, an ambiguity as great as the difference between the two subjects that are given the identical title.“206 Der letzte Grund, die vollständige Erklärung, so Geertz, sei nicht auszumachen, und umso weiter man denkt, umso mehr man das Gefühl hat, wahrhafter Erkenntnis habhaft zu werden, umso stärker beschleicht den Forscher das Gefühl, eindrucksvollste Erklärungen stünden auf wackeligem Grund und wären nicht in den Griff zu bekommen.207 Mit dieser Einsicht können beide, sowohl Geertz als auch Burke, offensichtlich gut leben. Inglis schreibt: „Burke is a theoretic anti-theorist [...]. His work is copious, protean, sprawling. For him [...] culture is unsystematic and at its most compelling when murky and mysterious. But his appeal, both professional and personal, to a man like Geertz is obvious. Burke’s kind of comedy commends all summer long, making even bad books and trivial remarks legitimate objects of study. In its incongruity of perspective it dispatches the traveller to compare the incomparable in antique lands. In its emphasis on the study of emphatic clusters it dissolves the rigidity of conceptual habit so that the world can be seen afresh. It cherishes error as an aspect of the truth. It sees the duck, takes it for a rabbit, and wonders what other creature it might also be.“208

1.2.5 Paul Ricœur und die hermeneutische Deutung von Symbolen Der Einfluss Paul Ricœurs im Geertz’schen Denken wird vor allem hinsichtlich der von Ricœur entwickelten hermeneutischen Texttheorie wichtig. Zentralen Stellenwert erlangt dabei das erkenntnistheoretisch-hermeneutische Moment, das Geertz in seiner interpretativen Methode nutzbar gemacht hat. 209 Dies schien Geertz wertvolle

206 Burke in: Radney 1996, 3 207 Geertz 1983, 41 208 Inglis 2000, 53 209 Geertz 1983b, 30; vgl. Gottowik 1997, 237 ff, Marcus, Cushman 1982, 43, Ulin 2005, 886. Ulin erwähnt sogar, „Geertz’s influence in anthropology […] has encouraged many anthropologists interested in interpretation theory to read Ricœur in the original.“ (Ebd.)

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Ergänzung zu den Erkenntnissen aus der Auseinandersetzung mit Kenneth Burke gewesen zu sein. Paul Ricœur könnte zudem auch etwas von der Brücke zwischen Phänomenologie und Hermeneutik versinnbildlichen, die für Geertz bei der Begründung seiner interpretativen Kulturtheorie eine wichtige Rolle spielt.210 Denn Ricœur bahnte sich, vor allem beeinflusst von Gadamer und Heidegger, seinen Weg von der Husserl’schen Phänomenologie zur Hermeneutik, in dem er beide sinnvoll zu verbinden suchte.211 Juan Galis-Menendez beschreibt die hermeneutische Methode in Anlehnung an Ricœurs bekannte Formulierung: „the symbol gives rise to thought“ als „interpreting the meaning contained within pre-rational signs or symbols“ und fährt fort, die wichtigste Prämisse der Hermeneutik sei, „that the symbols of myth, religion, art and ideology all carry messages about the ultimate truth of being human in the life-world which may be uncovered by philosophical interpretation.“ 212 Für Ricœur stelle die Hermeneutik demnach eine Methode dar, um Bedeutungen, die nicht offensichtlich fassbar, aber elementarer Bestandteil der Lebenswelt sind, entschlüsseln und deutend verstehen zu können. In seinem Versuch soziales Handeln sozialwissenschaftlich zu untersuchen, nahm Ricœur Abstand von rein empiristischen Erklärungsversuchen unter naturwissenschaftlichen Prämissen und fand in Hans-Georg Gadamers Hinweis zur Textanalogie nicht nur eine plausible Methodik, sondern ein Fundament für die hermeneutische Begründung der Sozialwissenschaften. Gadamer schreibt: „[T]he one appropriate model to invoke in seeking to understand a social action is that of interpreting a text: a model in which we are not in the least concerned with the search for causes or the framing of laws, but entirely with the circular process of seeking to understand

210 Vgl. 3.2.5.3. Im Gespräch mit Arun Micheelsen (2002) erklärt Geertz: „I have been much influenced by Paul Ricœur […] Hermeneutics inevitably takes you into phenomenology, or at least a phenomenological descriptive approach.“ (5) 211 Galis-Menendez (2004) charakterisiert diese Bewegung Ricœurs wie folgt: „Ricœur turns the phenomenological project outward to the interpretative encounter with these public texts containing symbols and signs that convey inner meanings.“ (22) Unter „öffentlichen Texten“ versteht Galis-Menendez symbolhafte Geschichten (Metaphern), die Menschen benützen, um Erlebnisse, Sinnbezüge und Bedeutungsinhalte ausdrücken zu können, die sich einer rational-instrumentellen Sprache entziehen. Die Aufgabe der Kultur sei es, diese Bedeutungsinhalte in Form von Ritualen, Kunst, Philosophie oder Mythen, Wissenschaft oder Technologie herauszuarbeiten und in Metaphern zu hüllen, die, ohne sie erklären, oder analysieren zu können, Sinn erzeugen. 212 Ebd., 17

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the whole in terms of its parts and its parts in terms of the contribution they make to the meaning of the whole.“213

Geertz bedient sich bei seiner ethnografischen Beschreibung von Kultur dieser von Ricœur nutzbar gemachten Textmetapher und möchte wie ein Literaturwissenschaftler den Versuch unternehmen, „ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ‚eine Lesart entwickeln‘), das fremdartig verblaßt, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist.“214 Kultur als „öffentliches (acted) Dokument“215 von all denen als Autoren verfasst, die innerhalb dieses selbst geschriebenen Sinnzusammenhangs stehen, soll also interpretativ verstanden und nicht kausal-logisch erklärt werden. Darin kommt die anti-szientistische Haltung des Programms der interpretativen Kulturanthropologie, wie sie Geertz vertritt, deutlich zum Ausdruck. Denn es geht Geertz nicht in erster Linie um allgemeingültige, objektive Nachvollziehbarkeit und der Herausarbeitung von Gesetzmäßigkeiten oder strukturfunktionalistischen Festschreibungen innerhalb eines geschlossenen Bedeutungshorizontes, sondern um die Erweiterung des menschlichen Diskursuniversums. So betont Geertz, die ethnografische Erklärung sei in hohem Maße anfechtbar, sie vollzöge sich innerhalb einer Wissenschaft „deren Fortschritt sich weniger in einem größeren Konsens als in immer ausgefeilteren Debatten zeigt.“216 In diesem Sinne betont Gottowik: „Mit der Textmetapher wird die Vorstellung von einem geschlossenen Bedeutungshorizont unterlaufen, und eine ‚positive Mehrstimmigkeit‘ behauptet, die in der Offenheit des Textes resp. der Kultur für viele verschiedene Lesarten und Sinnkonstruktionen zum Ausdruck kommt.“217 Sozialwissenschaften, so die Argumentation Ricœurs, könnten sich dem hermeneutischen Verfahren der Textanalyse bedienen, denn Texte seien nichts anderes als „schriftlich fixierte Diskurse“218, die verstanden, interpretiert und erklärt werden können. Soziales Handeln könne demnach, so Gottowik, „Ricœur zufolge prinzipiell wie ein Text gelesen, und im Hinblick auf seine Bedeutung interpretiert werden.“219 Durch die Niederschrift, so Geertz, wird der Versuch unternommen, den 213 Gadamer in ebd., 25; vgl. Skinner 1985, 7 214 Geertz 1983a, 15 215 Ebd., Geertz 1983b, 10 216 Geertz 1983a, 42 217 Gottowik 1997, 340. Mit der hermeneutischen Textmetapher von Geertz beginnt die Debatte um die Writing Culture (Vgl. Clifford, Marcus 1986, Berg, Fuchs 1999, 59ff, Marcus, Fischer 1986, Marcus, Cushman 1982). 218 Ricœur 2005, 80 219 Gottowik 1997, 238

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„Bogen eines sozialen Diskurses nachzuzeichnen“220, ihn so dem flüchtigen Moment zu entreißen und festzuhalten. Geertz betont: „When we speak, our utterances fly by as events like any other behaviour; unless what we say is inscribed in writing [...], it is as evanescent as what we do. If it is so inscribed, it of course passes [...]; but at least its meaning – the said, not the saying – to a degree and for a while remains.“221 >Hervorhebungen im Original@

Wie ein Text festgehalten, damit objektiviert wird (da er immer wieder konsultiert werden kann), kann auch die soziale Handlung ein Zeichen setzen, wenn ihre Bedeutung über ihre Relevanz für die augenblickliche Situation hinausgeht, somit dazu beiträgt, dass sich Kultur als spezifisches Symbolsystem manifestiert. Wie also die Bedeutung, das Gesagte, schriftlich fixiert werden kann, so kann auch der Gehalt einer Handlung fortbestehen: „its meaning can persist in a way its actuality cannot“222. In diesem Sinne möchte Geertz in Anlehnung an Ricœur nicht die subjektive Intention der Handelnden festhalten (Diltheys Vorstellung der hermeneutischen Vorgehensweise), sondern den objektiven Sinngehalt, der – und das ist wichtig – von jener abgelöst ist.223 Gottowik erklärt diesbezüglich: „Unter der Voraussetzung, dass eine Handlung eine solche Markierung in der Zeit bzw. in der Ge-

220 Geertz 1983a, 28. Obwohl Geertz sich an dieser Stelle nicht direkt auf Ricœur bezieht, steht zu vermuten, dass er bei seinem „Bogen des sozialen Diskurses“ auf den „hermeneutischen Bogen“, wie ihn Ricœur als Verbindungsglied von Verstehen und Erklären darlegt, anspielt. Der Text, den Geertz festhalten möchte, soll interpretiert und erklärt werden. Durch diese Dialektik erhält er die notwendige Dichte, die Geertz erzeugen will. Ricœur liefert die Grundlage für die Versöhnung von strukturalistischem Erklären und interpretativem Verstehen, wenn er schreibt, die strukturale Analyse dürfe lediglich eine Etappe – wenn auch notwendige Etappe – darstellen, um aus einer naiven Interpretation auf der Oberfläche eine kritische in der Tiefe zu machen. Erklärung und Interpretation würden so in einen „einzigen hermeneutischen Bogen“ eingegliedert und „die entgegengesetzten Haltungen der Erklärung und des Verstehens in eine umfassende Konzeption der Lektüre als Wiederaufnahme des Sinns“ integriert. (vgl. Ricœur 2005, 103) 221 Geertz 1983b, 31 222 Ebd. 223 Vgl. Berg, Fuchs 1990, 53. „An die Stelle der Empathie“, so bemerken Berg und Fuchs (1990, 49), „tritt die Deutung der Symbolsysteme […]. Nicht die ‚subjektive‘ Intention der Handelnden, sondern den ‚objektiven Sinngehalt‘, der von jener abgelöst ist […], bestimmt Geertz als Perspektive der Handelnden.“

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schichte hinterlässt, kann sie Ricœur zufolge zu einem ‚Dokument‘ werden, dessen Sinngehalt wie ein Text zu interpretieren ist.“224 Die ethnografische Methode von Geertz möchte demnach diesen Bedeutungsgehalt der beobachteten Handlung, die von dem Anthropologen interpretiert wird, in Textform festhalten und einem breiteren Publikum (auch in Zukunft) zugänglich machen. Menschliches Handeln wird sozusagen als Text gelesen und zugleich als Text festgehalten. Es geht dabei um den Sinngehalt der Rede, weniger um die Struktur des Sprachsystems, es soll dicht, nicht dünn beschrieben werden. In diesem Zusammenhang zitiert Geertz Ricœur wie folgt: „Kurz, was wir schreiben, ist das noema (‚Gedanke‘, ‚Inhalt‘, ‚Gehalt‘) des Sprechens. Es ist die Bedeutung des Sprachereignisses, nicht das Ereignis als Ereignis.“225 In der Handlung wie im Text kann der Sinngehalt laut Ricœur losgelöst von Akteur bzw. Autor interpretiert werden, denn die bedeutungsvolle Handlung kann Konsequenzen haben, die außerhalb des Einflussbereichs des Handelnden liegt, genau wie sich die Auslegung eines Textes dem Verfasser entzieht, denn er kann schließlich nicht jedes Mal anwesend sein, wenn dieser gelesen wird. Ricœur geht nun so weit zu behaupten, dass die Interpretation des Autors bzw. des Handelnden nicht notwendigerweise die (einzig) richtige sein muss, denn „>d@ie Tiefensemantik des Textes ist nicht das, was der Autor selbst zum Ausdruck bringen wollte, sondern es ist das, von dem der Text handelt [...]. Was verstanden werden soll, ist nicht die ursprüngliche Situation des Diskurses, sondern der Verweis auf eine mögliche Welt.“226 Ähnlich betonen auch Berg und Fuchs, „eine objektiv, nackte Wahrheit vor jeder Interpretation gibt es nicht“227, denn, so Geertz, das Lesen einer Kultur findet nie direkt und unverfälscht statt, der Ethnograf interpretiert bereits immer Interpretationen.228 Natürlich drängt sich in der Folge dieser Argumentation die Frage auf, was denn nun die „richtige“ Interpretation auszeichnet. Die richtige Herangehensweise an eine Lektüre liegt nach Ricœur in der Dialektik von Erklären und Verstehen. Anstatt sich rein einer strukturalen Herangehensweise zu bedienen, den Text zu zerlegen und entsprechende Erklärungen abzugeben (reduktionistisch, funktionalistisch) oder ihn „nur“ zu interpretieren (nicht reduktionistisch, substantiell), betont er, die Lektüre erschließe sich erst im Zusammenwirken beider Herangehensweisen (dies gilt analog zu sozialen Diskursen und Handlungen):

224 Gottowik 1997, 239 225 Geertz 1983a, 28 226 Ricœur in: Gottowik 1997, 240 227 Berg, Fuchs 1990, 54 228 Geertz 1983a, 22

60 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Wir können als Leser in der Schwebe des Textes bleiben, ihn wie einen Text ohne Welt und ohne Autor behandeln. Dann erklären wir ihn durch seine inneren Beziehungen, durch seine Struktur. Oder aber wir können die Schwebe des Textes aufheben, den Text im Sprechen zum Abschluß bringen, indem wir ihn für die lebendige Kommunikation wiederherstellen. Dann interpretieren wir ihn. Diese zwei Möglichkeiten gehören alle beide zur Lektüre, und die Lektüre ist die Dialektik dieser beiden Haltungen.“229

Ricœur bezieht sich hinsichtlich der Erklärung des Textes bzw. der beobachteten Handlung auf Lévi-Strauss’ strukturale Anthropologie, bzw. nimmt diesen als Beispiel möglicher Zugangsart zur Analyse von Kultur bzw. von Mythen. Obwohl Geertz bei seiner Forderung nach begrifflicher Präzision230 Züge des Erklärungsansatzes von Ricœur anzunehmen, und als wichtig zu erachten scheint, räumt er dennoch eindeutig der Interpretation von Verstehenszusammenhängen weitaus wichtigeren Stellenwert bei der Durchdringung einer fremden Kultur ein. Er schreibt, es sei gängige Methode (vermutlich bezieht er sich dabei auf Lévi-Strauss)231 „Kultur rein als symbolisches System zu behandeln [...], indem man ihre Elemente isoliert, die innere Beziehung zwischen diesen Elementen näher bestimmt und dann das gesamte System auf allgemeine Weise charakterisiert.“ 232 Dieser hermeneutische Ansatz laufe jedoch Gefahr, dem Schematismus verhaftet, „die Erforschung von Kultur von ihrem eigentlichen Gegenstand, der informellen Logik des tatsächlichen Lebens, abzuschneiden.“233 Gottowik bestätigt diese Analyse, wenn er schreibt, Ricœur versuche die Frage der richtigen Interpretation in dem dialektischen Verhältnis von Erklären und Verstehen zu beantworten, Geertz hingegen wolle strukturalen Lösungsbemühungen (wie sie Ricœur bei seinem Erklärungsansatz darstellt) nicht folgen.234 Geertz übernimmt also von Ricœur die Textmetaphorik, er möchte Daten sammeln (den sozialen Diskurs, das Gesagte und Getane, festhalten), sie niederschreiben und dabei die Bedeutung des Gesagten herausgreifen. Anstatt diese Daten jedoch anschließend einer strukturalen Analyse und einer Interpretation in deren 229 Ricœur 2005, 90 230 Geertz 1983a, 34 231 In einer Fußnote schreibt Geertz (ebd.): „Lévi-Strauss geht an Mythen, Totemrituale, Heiratsregeln usw. nicht als zu interpretierende Texte heran, sondern als aufzulösende Chiffren, was etwas ganz anderes ist. Er ist nicht bestrebt zu verstehen, wie symbolische Formen in konkreten Situationen bei der Organisierung von Wahrnehmung (Bedeutungen, Emotionen, Konzepten, Einstellungen) funktionieren; er möchte sie völlig in Begriffen ihrer internen Struktur verstehen.“ (254) 232 Ebd., 25 233 Ebd. 234 Gottowik 1997, 240

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gegenseitigen Wechselwirkung zu unterziehen, scheint sich Geertz unter Bezugnahme der Ricœurschen Methode der Objektivierung,235 diese Daten vornehmlich zum Gegenstand wiederkehrender Interpretationsbemühungen zu machen. Geertz betont: „Die Untersuchung von Kultur besteht darin (oder sollte darin bestehen), Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen; nicht aber darin, den Kontinent Bedeutung zu entdecken und seine unkörperliche Landschaft zu kartographieren.“236

Die erklärenden Schlüsse, die Geertz dennoch ziehen möchte (und hier scheint er auf seine Weise Erklären und Verstehen dialektisch aufeinander zu beziehen), betreffen die oben erwähnte „informelle Logik des tatsächlichen Lebens“ der Menschen einer Kultur bzw. eine „kollektiv getragene symbolische Struktur“ 237. Hauptaugenmerk der Geertz’schen Erklärung sind also weniger funktionalistische Erklärungen hinsichtlich irgendwelcher Strukturen, sondern vielmehr semiotische Analysen von Symbolssystemen. Paul Ricœur selbst scheint diese Orientierung an symbolhaftem Handeln in der Geertz’schen Herangehensweise zu faszinieren, denn er hebt vor: „This [Geertz’ interpretative] attitude is linked to a conceptual framework which is not causal or structural or even motivational but rather semiotic. What particular interests me in Geertz is that he tries to deal with the concept of ideology by the instruments of modern semiotics.“238

Ähnlich wie Ricœur ist Geertz der Auffassung, dass eine eher abstrakte Erklärung der sozialen und psychologischen Funktion von beispielsweise Religion deren ganzheitliche Wirklichkeit nicht unbedingt untergräbt. Sondern, sie orientiert sich an detailliert beschriebenen lebensweltlichen Phänomenen, die den Interpretations235 „Mit dieser Methode“, so erklärt Gottowik (ebd.) „wird soziales Handeln auf eine Weise objektiviert, die Ricœur mit der Überführung der vergänglichen Rede in einen Text vergleicht, der immer wieder konsultiert werden kann und so die Wissenschaftlichkeit des Auslegungsprozesses zu garantieren vermag.“ (238) Ricœur (2005) selbst schreibt: „Bei diesem Paar ‚Verstehen/Interpretieren‘ liefert das Verstehen die Grundlage, nämlich die Kenntnis der fremden Psyche durch Zeichen, und die Interpretation trägt den Grad der Objektivierung bei, dank der Fixierung und Konservierung, welche die Schrift den Zeichen verleiht.“ (87) 236 Geertz 1983a, 29-30 237 Ebd., 253 238 Ricœur 1991, 183

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hintergrund verdichten können. Die Erklärung läuft jedoch ins Leere, wenn sie nicht auf Verstehen gründet. Denn bei der Erforschung von Religion, wie sie Geertz anstrebt, geht es ja nicht rein um psychologische, biologische oder gesellschaftliche Prämissen, sondern um die Darstellung der Bedeutung beziehungsweise des Sinngehalts, welche die Ausübung von Ritualen für die Menschen hat. Um dies herauszufinden und zu verstehen, welchen Sinn die Menschen der zu erforschenden Kultur in rituellen Praktiken finden, kommt es Geertz nicht darauf an, sich durch Empathie Zugang zu der Vorstellungswelt der Menschen zu verschaffen,239 wie dies beispielsweise Dilthey bei seiner hermeneutischen Methode versucht.240 In Anlehnung an Ricœurs Erklärensansatz, die Struktur eines Textes losgelöst von seinem Autor interpretieren und erklären zu können, möchte er aufgrund beobachteter Symbolhandlungen entsprechende Schlüsse ziehen. Ricœur spricht in Abgrenzung zu Diltheys Prämisse des empathischen Verstehens von „objektiver Operation der Interpretation“241 und möchte, indem er den Text beziehungsweise den sozialen Diskurs untersucht, ohne sich in den Autor oder die Teilnehmer des Diskurses hineinversetzen zu wollen, die Interpretation „so weit wie möglich >zu@ entpsychologisieren“242. „Ricœur argues, that what we want to discover in our desire for understanding a historical phenomenon or a text, is not the mind of the historical participant or the author behind the text, but the world in which the historical person lived, or the possible world which is opened ,in front of the text.‘ What we want to understand is ,a possible world‘ and ,a possible way of orienting oneself in it.‘“243

Gottowik behauptet, Geertz würde bei diesen Interpretationen der Bedeutungsgehalte wie Ricœur annehmen, ein besseres Verständnis für das kulturelle Symbolsystem bekommen zu können als die Menschen, welche in dieses verstrickt sind. Die Einheimischen würden zwar die Buchstaben und einzelne Wörter des Textes kennen, aber nicht dessen Sinn; „sie können ihre Kultur durchbuchstabieren, aber keine Aussage über ihre Semantik treffen.“244 Die Tiefensemantik beziehungsweise gesellschaftliche Semantik, bleibt dem Ethnografen vorbehalten, wie die Interpretation eines Textes dem Leser. Diese Auslegung der Geertz’schen Herangehensweise bei Untersuchung von Kultur vor dem Hintergrund der Ricœurschen Textanalogie, 239 Geertz 1983a, 16-17 und 292 240 Steven Kepnes (1986, 505) zitiert diesbezüglich Wilhelm Dilthey wie folgt: „Verstehen involves a total awareness of a mental state and its reconstruction based on empathy.“ 241 Ricœur 2005, 104 242 Ebd., 107 243 Kepnes 1986, 509-510 244 Gottowik 1997, 243

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welche unter-stellt, Geertz räume dem Ethnografen das Interpretationsprivileg hinsichtlich des „richtigen“ Verstehens ein, stellt häufig geäußerte Kritik an Geertz dar (vgl. 3.2.2.1 und 3.3.1). Zusammenfassend lässt sich die Bedeutsamkeit Ricœurs für Geertz hauptsächlich an zwei Aspekten festmachen. Dem ersten zufolge besteht das Tun des Ethnografen im textlichen Festhalten der Sinngehalte beobachteter Symbolhandlungen der Menschen. Dem zweiten zufolge legt der Ethnograf eine Kultur beziehungsweise soziales Handeln analog zu einem Text aus. Dies ist möglich, denn das „Handeln hinterlässt ‚Spuren‘ in der ‚sozialen Zeit‘, indem es zur Entstehung ‚bleibender Strukturen‘ und Handlungsmuster beiträgt, die zu ‚Dokumenten menschlichen Handelns‘ werden“245. „So, wie der Text das noema des Gesagten fixiere und autonomisiere, werde Handlung von den Handelnden und ihrem momentanen Situationsbezug abgelöst in die Geschichte eingeschrieben: diese Sedimentierung in der sozialen Zeit lasse Handlungen zu ‚Institutionen‘ gerinnen, in denen sich das noema des Handelns, seine Bedeutung niederschlage.“246 An dieser Stelle könnten noch viele weitere Denker, Philosophen, Anthropologen, Soziologen, Literaturwissenschaftler, Lehrer und Kollegen angeführt werden,247 die Clifford Geertz im Laufe seiner akademischen Laufbahn beeinflussten. Geertz erklärte mir bescheiden, er hätte als Kind ohne Eltern und Geschwister nicht viel zu tun gehabt und sich dem Lesen gewidmet. Auch Darnton, der gemeinsam in Princeton mit Geertz unterrichtete, erinnert sich an dessen „enzyklopädisches Wissen“: „Cliff seemed to have read everything. Moreover, he read at a prodigious speed, extracting the essence of a book along with a vast amount of detail, which he blended with information

245 Berg, Fuchs 1990, 53; Vgl. Geertz 1983b, 31 246 Ebd. 247 Eine Auswahl derer, denen Clifford Geertz im Laufe seines Lebens entweder in Person begegnet ist oder über deren Theorien er in der Literatur stolperte (oder beides) und die ihn in dieser oder jener Richtung mit beeinflussten: Ruth Benedict, Margret Mead, Clyde Kluckhohn, Gregory Beatson, A. R: Radcliffe-Brown, Bronislaw Malinowski, R.G. Collingwood, Thomoas Kuhn, Charles Taylor, Jerome Bruner, William James, Alfred Kroeber, Derek Freeman, Émile Durkheim, Edwart Shiles, Ervin Goffman, Susanne Langer, Edward Sapir, Wilhelm Dilthey, George Santayana, Michael Foucault, Alfred Schütz. – Vor allem auch die Reibungsfläche mit Kollegen, so Geertz, sei für ihn immer wichtig gewesen. Gegenüber Olson (1991) erklärt er, Meinungsverschiedenheiten und fachliche Auseinandersetzungen seien meist negativ bewertet, er aber sähe darin großen Nutzen. In seinem Aufsatz World in Pieces liest man die Widmung: „To the memory of Edward Shils…with whom I sometimes agreed.“ (Geertz 2000a, 218)

64 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS derived from other books, so that trails of evidence criss-crossed in unexpected patterns from one subject to another.“248

Die einflussreichsten Persönlichkeiten für Clifford Geertz dürften hier jedoch zu Wort gekommen sein. Darüber hinaus ist das Geertz’sche Denken vor allem geprägt von seinen Erfahrungen im Feld. Geertz selbst betont immer wieder, er möchte es nicht mit Theorien bewenden lassen, er möchte diese vielmehr auf dem Boden der Tatsachen, im Umgang mit den Menschen kritisch prüfen und entwickeln.

1.3 D ER K ULTURBEGRIFF

VON

C LIFFORD G EERTZ

Der Kulturbegriff, den ich vertrete, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe.249 CLIFFORD GEERTZ

Jeder weiß, so Geertz, um was es in der Kulturanthropologie geht: um Kultur.250 Das Problem sei jedoch, dass offensichtlich keine Einigkeit darüber bestünde, was der Kulturbegriff beinhalte und welche Rolle ihm konkret für das Menschsein zukommt. Er fährt fort: „Not only is it an essentially contested concept, like democracy, religion, simplicity, or social justice; it is a multiply defined one, multiply employed, ineradicably imprecise. It is fugitive, unsteady, encyclopaedic, and normatively charged, and there are those, especially those for whom only the really real is really real, who think it vacuous altogether, or even dangerous, and would ban it from the serious discourse of serious persons. An unlikely idea, it would seem, around which to try to build a science. [...] Coming into anthropology from a humanities background, and especially from one in literature and philosophy, I saw the concept of culture looming immediately large, both as a way into the mysteries of the field and as a means for getting oneself thoroughly lost in them.“251

248 Darnton 2007 249 Geertz 1983a, 9 250 Geertz 2000a, 11 251 Ebd.

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In Thick description252 reflektiert Geertz zunächst über die begrifflichen Verwirrungen und Unstimmigkeiten in der Wissenschaft bezüglich des Kulturbegriffs und legt in der Folge eine Definition vor, die maßgeblich seine weiteren Überlegungen vor allem hinsichtlich der Methode in der ethnologischen Forschung lenkt.253 An anderer Stelle bemerkt er, dass er sich von einem so breit gefassten Begriff der Kultur, der alles erklären wollte: Ursache, Wirkung, Form und Rahmen (und dabei letztlich nichts mehr erklärte), überfordert fühlte. Er sah es als seine Herausforderung an, diesem Durcheinander mit Hilfe einer stimmigen Analyse des Kulturbegriffs Einhalt zu gebieten. Dies schien ihm nötig, um überhaupt ein Fundament zu haben, damit er als Anthropologe arbeiten konnte: „I took it as my task, then – though in fact no one actually assigned it to me, and I am not sure to what degree it was a conscious decision – to cut the idea of culture down to a size, to turn it into a less expansive affair. [...] It seemed urgent, it still seems urgent, to make ,culture‘ into a delimited notion, one with a determinate application, a definite sense, and a specified use – the at least somewhat focused subject on an at least somewhat focused science.“254

1.3.1 Zum Menschenbild von Clifford Geertz: Die Bedeutung der Kultur für den Menschen Um ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, worauf der kulturanthropologische Ansatz von Clifford Geertz gründet, soll hier der Versuch unternommen werden, das Menschenbild von ihm zu skizzieren. Als ich Geertz während meines Besuchs in Princeton direkt nach diesem fragte, erklärte er mir knapp: „I see the man as a linguistic animal living in a world of meaning.“255 Die Aufgabe des Anthropologen bestünde darin, so fuhr er fort, Vermutungen darüber anzustellen, was die Menschen über sich selbst denken und zu versuchen zu verstehen, welchen Dingen sie auf welche Art und Weise Bedeutung zumessen. Er erwähnte noch, dass dies natürlich nur bedingt von der jeweiligen Situiertheit aus möglich sei.

252 Geertz 1973 bzw. 1983a 253 Auf die Frage hin, welche Denker maßgeblich seine Vorstellung von Kultur prägten, erklärt Geertz im Gespräch mit Handler (1995, 608), es seien neben Max Weber hauptsächlich Talcott Parsons und Clyde Kluckhohn gewesen, die vor allem in der ersten Zeit in Harvard seinen Kulturbegriff beeinflussten – auch wenn er sich später in vielerlei Hinsicht davon distanzierte. 254 Geertz 2000a, 13 255 Geertz 2006

66 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

In einigen seiner Aufsätze256 macht sich Geertz explizit Gedanken darüber, was Menschsein auszeichnet – und welche Rolle der Kultur dabei zukommt. Diese Fragestellung wird von ihm vor allem in The Impact of the Concept of Culture on the Concept of Man257 erörtert. Er differenziert darin zunächst zwei übliche Versuche einer Antwort auf die anthropologische Frage und legt anschließend seine eigene Position dar. Auf der einen Seite möchte er sich von der aufklärerischen Auffassung abheben, Mensch und Natur bestünden aus einem Guss und der Mensch könne infolgedessen mit naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten erklärt werden. Auf der anderen Seite verwehrt sich Geertz jedoch auch gegen die Annahme, der Mensch sei allein durch Bräuche, Sitten und Praktiken zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geformt, und es ließen sich überhaupt keine Grundprinzipien des Menscheins finden. Geertz betont, die Anthropologie müsse bei ihrem Verständnis des Menschen einen Mittelweg finden zwischen naturalistischer Festschreibung und dem Postulat nicht greifbarer, unendlicher Variabilität und dabei die besondere Rolle der Kultur für den Menschen mit bedenken: „Durchs Dickicht solcher, allesamt unbefriedigender Interpretationen hat die Anthropologie einen tauglicheren Begriff vom Menschen zu finden versucht, welcher die Kultur und die Veränderlichkeit von Kultur einbezieht, statt sie als bloße Laune und Vorurteil zu verwerfen, und in dem dennoch das Grundprinzip, nämlich ‚die fundamentale Einheit des Menschengeschlechts‘, nicht zur hohlen Phrase verkommt.“258

Wenn jedoch der Mensch nicht hinter, unter oder jenseits seiner jeweiligen Sitten und Gebräuche, sprich seiner Kultur, zu finden ist, sondern gerade in ihnen und angenommen werden muss, dass er in seinem Wesen ebenso vielfältig ist, wie in seinen Äußerungen, so gesteht sich Geertz ein, gestaltet sich die Suche nach eben diesem Wesen ungleich schwerer und philosophischer: „To take the giant step away from the uniformitarian view of human nature is, so far as the study of man is concerned, to leave the Garden. To entertain the idea that the diversity of customs across time and over space is not a mere matter of garb and appearance, of stage settings and comedic masques, is to entertain also the idea that humanity is as various in its 256 Thick description: Toward and interpretive theory of culture, The Impact of the Concept of Culture on the Concept of Man, The Growth of Culture and the Evolution of Mind, Religion as a cultural system (Geertz 1973); Culture, Mind, Brain/Brain, Mind Culture, Anti Anti-Relativism (Geertz 2000a) 257 Geertz 1973 258 Burkard 2000, 209. Der Text mit der Überschrift Kulturbegriff und Menschenbild, auf den hier Bezug genommen wird, ist die Übersetzung von The impact of the concept of culture on the concept of man aus Geertz 1973.

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essence as it is in its expression. And with that reflection some well-fastened philosophical moorings are loosed and an uneasy drifting into perilous waters begins.“259

Die verzweifelten Versuche, in zitierten bedrohlichen Gewässern nicht das Ruder zu verlieren, drücken sich vor allem in zwei Positionen aus, welche die Sozialwissenschaften der letzten Jahre hervorbrachten. Es handelt sich dabei einerseits um den Kulturrelativismus und andererseits um den Kulturevolutionismus.260 Geertz argumentiert, beide Positionen stehen in der Gefahr, den Menschen letztlich aus den Augen zu verlieren: Erstgenannte in der Vielheit seiner Seinsweisen und letztgenannte in der Determiniertheit durch Tradition und Geschichte. In einer dritten Variante, so fährt Geertz fort, habe man versucht, den Menschen inmitten seiner Bräuche zu lokalisieren. Dabei habe man sich meist einer Strategie bedient, die Geertz „the ‚stratigraphic‘ conception of the relations between biological, psychological, social, and cultural factors in human life“261 nennt. Dieser Auffassung zufolge besteht der Mensch aus einer Reihe voneinander unabhängiger Schichten, wobei die oberen Schichten die unteren überlagern und zugleich die darüber liegenden untermauern. Unter der „kulturellen“ Schicht findet sich die der funktionalen Struktur der sozialen Organisation, darunter diverse psychische Faktoren (Grundbedürfnisse). Im Innersten stößt man schließlich auf die biologischen Fundamente, die Grundbausteine menschlichen Lebens. Zu einer Untersuchung des Menschen könne man laut dieser Theorie, so Geertz, bequem nacheinander die Schichten abziehen, dabei jede offenlegen und einzeln analysieren. Den einzelnen Schichten entsprechen dabei einzelne akademische Disziplinen, die in der Untersu-

259 Geertz 1973, 37 260 Der Kulturrelativismus entstand als Reaktion auf den Rassismus und den Evolutionismus des 19. Jahrhunderts. Der Evolutionismus (wohl hauptsächlich auf eine bestimmte Interpretation von G.F.W. Hegel zurückzuführen) geht davon aus, dass die Menschheit verschiedene Entwicklungsstufen vom „Einfachen“ zum „Komplexen/Fortschrittlichen“ durchläuft. Diese Entwicklungsstufen seien bei allen Gesellschaften dieselben. Die industrialisierte, westliche Kultur wurde auf die höchste Stufe gesetzt. Andere Gruppen müssten, dem Gedanken der klassischen Evolutionisten nach, diese Stufe der „Zivilisation“ erst noch erreichen. Der Kulturrelativismus dagegen betont den Pluralismus der Kulturen und postuliert, dass Kulturen nicht verglichen werden können. Eine Kultur könne nie aus dem Blickwinkel einer anderen bewertet werden. Anhänger des Kulturrelativismus drücken starke Skepsis darüber aus, ob es überhaupt möglich sei, wahre Aussagen über eine andere Kultur treffen zu können. Zu Geertz’ Position hinsichtlich des Relativismus siehe seinen Aufsatz Anti Anti-Relativismus in Geertz 2000a, vgl auch Rosaldo 2007. 261 Geertz 1973, 37

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chung, beziehungsweise der sedimentologischen Analyse der ihnen anvertrauten Schicht ihre klar begrenzte Aufgabe haben. Die Hoffnung der Vertreter dieser stratigrafischen Auffassung bestünde darin, so Geertz, das Wesen des Menschen und die Rolle von Kultur für diesen zu erhellen, indem man die Ergebnisse entsprechender beteiligter Wissenschaften: Anthropologie, Soziologie, Psychologie und Biologie übereinanderlegt und so die zentrale Bedeutung der kulturellen Schicht, die den Menschen vom Tier unterscheidet, offenbar wird. Vergleiche man anschließend sozusagen horizontal die Ergebnisse kultureller Eigenschaften von Menschen unterschiedlicher Herkunft und stoße auf Gemeinsamkeiten, hätte man die Möglichkeit, universal menschliche Eigenschaften zu postulieren. Diese Vorstellung eines consensus gentium, „the notion that there are some things that all men will be found to agree upon as right, real, just, or attractive and that these things are, therefore, in fact right, real, just and attractive“ 262 sei, so Geertz, nicht neu, und vor allem in Zeiten der Aufklärung vorherrschend. Geertz grenzt sich in der Folge seiner Argumentation von einer solchen Suche nach allgemeingültigen Kriterien des Menschseins ab. Er bezweifelt die Stichhaltigkeit der Annahme eines consensus gentium mit folgenden Argumenten: 1. Die entdeckten Gemeinsamkeiten spiegeln keinen substantiellen Gehalt wider, da sie in ihrer starken Verallgemeinerung aussagelos sind. Sie stellen somit leere Kategorien dar. Dadurch, dass versucht wird, durch die Mannigfaltigkeit kultureller Unterschiede hindurch Gemeinsamkeiten zu entdecken, verliert man das, was Menschsein ausmacht: Vielfältigkeit. „That everywhere people mate and produce children, have some sense of mine and thine, and protect themselves in one fashion or another from rain and sun are neither false nor, from some points of view, unimportant; but they are hardly very much help in drawing a portrait of man that will be a true and honest likeness and not an unteneted ,John Q. Public‘ sort of cartoon.“263

2. Die vorgeschlagenen Kulturuniversalien (die ja nach 1. kaum aussagekräftig sind) müssten auf nachvollziehbare Weise in bestimmten biologischen, psychischen oder sozialen Prozessen begründet sein und nicht auseinanderdifferenziert nebeneinander stehen. Dies ist aber im stratigrafischen Verständnis klar abgegrenzter wissenschaftlicher Ebenen der Fall:

262 Ebd., 38-39 263 Ebd., 40

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„There is no theoretical integration here at all but a mere correlation and that intuitive, of separate findings. With the levels approach, we can never, even by invoking ,invariant points of reference‘ construct genuine functional interconnections between cultural and noncultural factors, only more or less persuasive analogies, parallelisms, suggestions, and affinities.“264

3. Der Kern der so dringlich gesuchten Definition des Menschen würde schließlich durch vage Universalien, durch den kleinsten gemeinsamen Nenner, festgelegt. Die offenkundige kulturelle Vielheit und Eigensinnigkeit des Menschseins jedoch müsste dahinter zurückstehen. „However, even if I am wrong [...] in claiming that the consensus gentium approach can produce neither substantial universals nor specific connections between cultural and noncultural phenomena to explain them, the question still remains whether such universals should be taken as the central elements in the definition of man, whether a lowest-common-denominator view of humanity is what we want anyway. This is, of course, now a philosophical question, not as such a scientific one; but the notion that the essence of what it means to be human is most clearly revealed in those features of human culture that are universal rather than in those are distinctive to this people or that is a prejudice we are not necessarily obliged to share.“ 265 [Hervorhebungen im Original]

Eine paradoxe, widersprüchliche Antwort schließlich scheint Geertz bei seiner Suche nach einer Wesensbestimmung des Menschen zu finden: Gerade die Dinge, die das Menschsein ausmachen, die als gemeinsamer Nenner dienen könnten, sind solche, die diesen unmöglich machen. Die Gemeinsamkeit, die sich herauskristallisiert, basiert auf der Vielheit der Ausgestaltung von Lebensformen. Geertz schreibt, das Gespenst des Relativismus sei reiner Popanz und die Flucht davor in hohle Universalisierungen sinnlos.266 Die Ansicht, ein kulturelles Phänomen spiegele nur dann etwas über die Natur des Menschen wider, wenn es empirisch universell sei, müsse endgültig abgelegt werden. Ebenso sinnlos sei es beispielsweise festzustellen, dass sich in jeder Kultur eine Form von Religion findet, es komme vielmehr darauf an, das Spezifische dieses oder jenes religiösen Phänomens zu erfassen. Gerade in diesem Reichtum ließe sich der Mensch entdecken:267

264 Ebd., 42-43 265 Ebd., 43 266 Ebd., 44 267 Vgl. Rosaldo 2007, 210. In diesem Zusammenhang schreibt Shweder (2000) in einer Buchbesprechung von Available Light: „Throughout his career Geertz has put his cognitive and literary skills to work ,ferreting out the singularities of other peoples’ ways of life‘, cultivating a provocative variety of philosophical pluralism and promoting the

70 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „>I@t may be in the cultural particularities of people – in their oddities – that some of the most instructive revelations of what it is to be generically human are to be found; and the main contribution of the science of anthropology to the construction – or reconstruction – of a concept of man may then lie in showing us how to find them.“268

Geertz plädiert folglich dafür, von der starren stratigrafischen Erklärung Abstand zu nehmen und anstatt dessen mit Hilfe einer dynamischeren, synthetischen Auffassung biologische, psychische, soziale und kulturelle Faktoren als Variablen eines komplexen Systems zu sehen. Die Wissenschaften sollten sich dabei nicht um eine Einheitssprache bemühen, sondern vielmehr um eine sinnvolle Integration unterschiedlicher Typen von Theorien und Begriffen ringen:269 „In short, we need to look for systematic relationships among diverse phenomena, not for substantive identities among similar ones. And to do that with any effectiveness, we need to replace the ,stratigraphic‘ conception of the relations between the various aspects of human existence with a synthetic one; that is, one in which biological, psychological, sociological, and cultural factors can be treated as variables within unitary systems of analysis.“270 [Hervorhebungen im Original]

Um die Integration dieser unterschiedlichen Bereiche zu fördern und damit zu einem schärferen Bild vom Menschen zu gelangen, schlägt Geertz in der Folge seiner Argumentation zwei Annahmen zum Menschsein beziehungsweise der Rolle von Kultur für den Menschen vor:271 Erstens soll Kultur nicht als ein spezifischer Komplex von Verhaltensmustern verstanden werden, sondern als eine Menge von Kontrollmechanismen zur Regelung menschlichen Verhaltens. Diese Ansicht resultiert aus der zweiten Annahme, dass der Mensch als instinktreduziertes, sprachbegabtes Tier zur Ordnung seines Verhaltens auf solche extragenetischen, äußerlichen Kontrollmechanismen notwendigerweise angewiesen ist. Denn der Mensch ist, im Gegensatz zum Tier, des Denkens fähig und muss seinem Leben Sinn verleihen können. Er muss den Erfahrungen, die er durchlebt, Bedeutung geben und sie verstehen können, um dadurch Sicherheit und Orientierung zu erfahren. Geertz spricht bildlich von der Notwendigkeit symbolischer Lichtquellen, die durch den zwischenmenschlichen, öffentlichen Austausch signifikanter Symbole am Brennen gehalten werden: „Man is so in need of such symbolic sources of illumination to idea that there is no fixed kernel to human nature. No ,mind for all cultures‘. No ,deep down homo‘. No ,dog under the skin‘.“ (1511) 268 Geertz 1973, 43. 269 Vgl. Keesing 1974, 74 270 Geertz 1973, 44 271 Ebd.

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find his bearings in the world because the nonsymbolic sort that are constitutionally ingrained in his body cast so diffused a light.“272 Ein so verstandener Kulturbegriff, der die Bedeutsamkeit der Rolle von Kultur für den Menschen in eine neues Licht rückt, muss eine entsprechende Definition des Menschen nach sich ziehen. Diese darf weniger die empirischen Gemeinsamkeiten herausstellen, als vielmehr die Mechanismen, mittels derer die ganze Bandbreite und Unbestimmtheit seiner angeborenen Vermögen auf das begrenzte Repertoire seiner tatsächlichen Leistungen reduziert wird.273 Geertz schreibt: „One of the most significant facts about us may finally be that we all begin with the natural equipment to live a thousand kinds of life but end in the end having lived only one.“274 Die Aussage, dass Kultur kein schmückendes Beiwerk des Menschen ist, ihm nur im Laufe der Zeit und im Prozess der Evolution angeheftet wurde, sondern eine notwendige Bedingung seines Seins und seiner Fortentwicklung überhaupt, stellt Kern des Geertz’schen Menschenbildes dar, welches sich folglich auch in seinem Kulturbegriff widerspiegelt. Menschsein und Kultur sind undifferenzierbar vom Anbeginn menschlichen Seins auf der Erde miteinander verwoben und beeinflussen einander wechselseitig.275 Geertz belegt diese Ansicht mit drei Argumenten, die auf neueren Erkenntnissen in der menschlichen Abstammungsgeschichte und der Gehirnforschung (neuro science) basieren: „(1) the discarding of a sequential view of the relations between the physical evolution and the cultural development of man in favour of an overlap or interactive view; (2) the discovery that most immediate progenitors took place in the central nervous system and most especially in the brain; (3) the realization that man is, in physical terms, an incomplete, an unfinished, animal; that what sets him off most graphically from nonman is less his sheer ability to learn [...] than how much and what particular sorts of things he has to learn before he is able to function at all.“276 [Hervorhebungen im Original]

Die Tatsache, dass im Zuge der Evolution biologische und kulturelle Entwicklungen Hand in Hand liefen und darüber hinaus die stärksten Veränderungen im Nervensystem und Gehirn geschahen, belegt nach Geertz eindeutig seine These, dass es keine von Kultur unabhängige menschliche Natur geben kann:

272 Ebd. 273 Burkhard 2000, 219 274 Geertz 1973, 45 275 Vgl. hierzu vor allem auch The Growth of Culture and the Evolution of Mind in: ebd. 276 Ebd., 46

72 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Without men, no culture, certainly; but equally, and more significantly, without culture, no men. We are, in sum, incomplete or unfinished animals who complete or finish ourselves through culture – and not through culture in general but through highly particular forms of it: Dobuan and Javanese, Hopi and Italian, upper-class and lower-class, academic and commercial.“277

Am Schluss des oben genannten Aufsatzes macht Geertz noch einmal deutlich, er wehre sich gegen jedwede idealtypische Vorstellung des Menschen, sei es die des Naturmenschen der Aufklärung oder die des Konsensmenschen der klassischen Anthropologie. In diesen Ansätzen ginge das lebendige Detail stets im toten Stereotyp unter, und die bunte Vielfalt der Menschheit würde einer leeren Vereinheitlichung des Archetypus Mensch geopfert, deren Aussagekraft darüber hinaus höchst zweifelhaft sei. Dieses Opfer sei jedoch, so stellt Geertz heraus, unnötig und unnütz zugleich. Zwischen allgemeinem theoretischem Verständnis und konkretem Verstehen, zwischen einem umfassenden Überblick und dem scharfen Auge fürs Detail bestünde kein Gegensatz – vielmehr könne der Mensch gerade darin entdeckt werden. Menschsein, so Geertz, bedeutet Individuum sein; Menschsein bedeutet spezifisch kulturell zu sein, auf eine ganz bestimmte Art und Weise Mensch zu sein.278 Deshalb, so erklärt er: „We must, in short, descend into detail, past the misleading tags, past the metaphysical types, past the empty similarities to grasp firmly the essential character of not only the various cultures but the various sorts of individuals within each culture, if we wish to encounter humanity face to face. In this area the road to the general, to the revelatory simplicities of science, lies through a concern with the particular, the circumstantial, the concrete, but a concern organized and directed in terms of the sort of theoretical analysis that I have touched upon – analyses of physical evolution, of the functioning of the nervous system, of social organization, of psychological process, of cultural patterning, and so on – and, most especially, in terms of the interplay among them. That is to say, the road lies, like any genuine Quest, through a terrifying complexity.“279

277 Ebd., 49 278 „To be human here is thus not to be Everyman; it is to be a particular kind of human, and of course men differ: ,Other fields‘, the Javanese say, ,other grasshoppers.‘ […] The point is that there are different ways; and to shift to the anthropologist’s perspective now, it is in a systematic review and analysis of these – of the Plains Indian’s bravura, the Hindu’s obsessiveness, the Frenchman’s rationalism, the Berber’s anarchism, the American’s optimism […] – that we shall find out what it is, or can be, to be a man.“ (Ebd., 53) 279 Ebd., 53-54

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Die besondere Rolle der Kultur für den Menschen zeigt sich für Geertz, um dies noch einmal hervorzuheben, nicht in erster Linie darin, dass sie uns als extra Schicht, beziehungsweise als schmückendes Beiwerk vom Tier abhebt, sondern elementar darin, dass sie uns Halt und Orientierung gibt und Menschsein somit überhaupt erst ermöglicht. 1.3.2 Aspekte des Kulturbegriffs 1.3.2.1 Kultur als extragenetischer Kontrollmechanismus Die Geertz’sche Auffassung, Kultur sei ein notwendiger Kontrollmechanismus zur Regelung von Verhalten, beruht auf dessen Menschenbild: Der Mensch findet seine Wirklichkeit nicht nur als feste Gegebenheit vor wie die Tiere ihre natürliche Umwelt. Er schafft sie vielmehr selbst als eine Welt von Bedeutungen, als einen quasi sekundären Lebensraum280 oder als „another world to live in“281. Geertz argumentiert, dass aufgrund der Instinktreduziertheit des Mängelwesens Mensch dieser auf den kollektiv hergestellten Bedeutungszusammenhang der Kultur angewiesen ist, um sich orientieren zu können: „Culture is best seen [...] as a set of control mechanisms – plans, recipes, rules, instructions (what computer engineers call ,programs‘) – for the governing of behaviour. [...] man is precisely the animal most desperately depended upon such extragenetic, outside-the-skin control mechanisms, such cultural programs, for ordering his behaviour.“282

An anderer Stelle vergleicht Geertz die Vorgehensweise beim Bau eines Dammes zwischen Mensch und Biber, was sein Argument verdeutlicht und die Bedeutung von Symbolen für den Menschen als Vehikel von spezifischen Vorstellungen hervorhebt: „Ein Biber benötigt zum Bau eines Damms nur den richtigen Platz und die geeigneten Materialien – seine Vorgehensweise ist durch seine Physiologie bestimmt. Der Mensch aber, dessen Gene bei baulichen Aktivitäten nichts zu sagen haben, benötigt dazu noch eine Vorstellung davon, was es heißt, einen Damm zu bauen; eine Vorstellung, die er nur aus einer symbolischen Quelle beziehen kann – aus einem Bauplan, einem Lehrbuch oder aus verschiedenen Äußerungen von jemandem, der weiß, wie man Dämme baut.“ 283

280 Geertz 1983a, 51 ff 281 Geertz 2005, 7 282 Geertz 1973, 44 283 Geertz 1983a, 51-52

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Darüberhinaus ist der Mensch im Gegensatz zum Tier des Sinns fähig und fragt infolgedessen kontinuierlich nach dem Grund. Er möchte seine Welt verstehen, seine Erfahrungen deuten können und selbst für zunächst Unerklärliches Antworten finden. Es sei dem Menschen unmöglich, so Geertz, „ungeklärte Fragen einfach auf sich beruhen zu lassen [...], ohne zu versuchen, einige wie immer phantastische, widersinnige oder einfältige Ideen darüber zu entwickeln, wie diese Erscheinungen mit den alltäglicheren Erfahrungswerten in Einklang zu bringen wären.“ 284 Diese Ideen, beziehungsweise Antworten auf komplexe Phänomene finden die Menschen eingewoben in das Bedeutungsgewebe ihrer jeweiligen Kultur, meist in der Form von Religion als kulturelles System, von der später noch ausführlich die Rede sein wird (vgl. 1.3.3). Kultur so verstanden ist als kognitives und ethisches Ordnungssystem unerlässlich, damit Menschen Stabilität, Sinn und Handlungssicherheit finden, dass sie sich selbst in ihrer Welt verstehen und wissen, wie sie sich anderen gegenüber zu verhalten haben. In diesem Sinne kann Geertz dann auch behaupten, das wichtigste Gattungsmerkmal von Symbolen sei, dass sie den Menschen als extrinsische Informationsquellen dienen. Im intersubjektiven Bereich der Verständigung angesiedelt, steuern sie das öffentliche Verhalten.285 1.3.2.2 Der semiotisch-deskriptive Kulturbegriff Geertz argumentiert für einen semiotischen, zeichentheoretischen Kulturbegriff, der Kultur als symbolhaftes Handeln in sozial determinierten Bedeutungsstrukturen beschreibt, die geschichtlich übermittelt werden. Wie oben bereits ausführlich dargelegt, bezieht sich Geertz hierbei auf den Soziologen Max Weber, wenn er schreibt, der Mensch sei in selbstgesponnene Bedeutungssysteme, in kulturelle Gewebe verstrickt.286 Bedeutungen und Vorstellungen innerhalb einer Kultur treten in symbolischer Form zu Tage. Geertz verwendet dabei den Begriff des Symbols „für alle Gegenstände, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen, die Ausdrucksmittel einer Vorstellung sind.“287 Anders formuliert, stellen Symbole Vehikel für Bedeutungen dar, sie ermöglichen den zwischenmenschlichen Austausch von Sinngehalten. Symbolsysteme, allen voran Sprache, aber auch Rituale, Gesten, Kunstgegenstände, Etikette usw. ermöglichen es den Menschen, ihr Wissen 284 Ebd., 61. Vgl. Berg, Fuchs 1999, 46 285 Ebd., 51 286 Geertz 1983a, 9. In der deutschen Ausgabe (Dichte Beschreibung) wird „meaning“ mit „Bedeutung“ übersetzt, Weber spricht aber ursprünglich von „Sinn“. 287 Ebd., 49. An anderer Stelle führt Geertz (1973) aus, bedeutungsvolle Symbole können sein: „words for the most part but also gestures, drawings, musical sounds, mechanical devices like clocks, or natural objects like jewels – anything, in fact, that is disengaged from its mere actuality and used to impose meaning upon experience.“ (45)

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über das Leben, ihr Weltbild und ihre Einstellung zur Welt, ihren Ethos einander mitzuteilen, zu erhalten und weiterzuentwickeln.288 In Anlehnung an Wittgenstein und Weber geht es Geertz demzufolge bei der semiotischen Untersuchung von Kultur darum, hinzusehen und zuzuhören, um im Detail Schritt für Schritt zu verstehen, welche Sinnzusammenhänge und Bedeutungen sich hinter Ritualen und Verhaltensweisen, welche zunächst rätselhaft und fremd erscheinen, verbergen.289 Die Arbeit von Ethnologen, die eine Kultur beziehungsweise die Besonderheiten der Menschen, die dieser angehören, erforschen möchten, kann folglich nicht in experimenteller Wissenschaft bestehen, sondern vielmehr im Versuch durch Interpretationen zu verstehen, welche Sinnzusammenhänge die Menschen mit dem jeweiligen Verhalten und Handeln verbinden. Die Vorstellung, es können in der Anthropologie eindeutige kausale Wirkungszusammenhänge wie in den Naturwissenschaften erforscht und allgemeine Gesetzmäßigkeiten entdeckt werden, muss der Annahme eines komplexen Bedeutungsgewebes weichen, dem nur hermeneutisch sinnvoll begegnet werden kann.290 Der Geertz’sche Kulturbegriff ist demnach ein deskriptiver, also beschreibender und fragender, nicht ein normativer, bewertender, festlegender, rein antwortender Begriff. Es geht Geertz nicht darum, festzuschreiben wie die Menschen in dieser oder jener Kultur sind; es geht ihm vielmehr darum, möglichst detailliert zu beschreiben, was er phänomenologisch beobachtet und hermeneutisch interpretiert.291 1.3.2.3 Der realistische Kulturbegriff Die Sichtweise von Kultur als extragenetischer Kontrollmechanismus setzt voraus, dass Bedeutungen symbolhaft im zwischenmenschlichen Diskurs öffentlich zu Tage treten.292 Damit vertritt Geertz einen weitgehend realistischen Kulturbegriff. Er möchte sich abgegrenzt wissen von subjektivistischen (psychologischen) oder mentalistisch-kognitivistischen (idealistischen) Vorstellungen von Kultur, welche diese als geheimnisvollen Gegenstand in den Köpfen und Herzen der Menschen ansiedelt.293 Wie oben erwähnt, wendet er sich mit Wittgenstein deutlich ab von

288 Nähres dazu unter 1.3.3.2 289 Ebd., 9. Vgl. Wittgenstein (2003): „Wie ein Wort funktioniert, kann man nicht erraten. Man muss seine Anwendung ansehen und daraus lernen.“ (178) [Hervorhebungen im Original] 290 Vgl. Gerring 2003 und 3.2.5.1 291 Nähres dazu unter 3.2.5, insbesondere 3.2.5.3 292 Ebd., 45. Er beruft sich dabei auf den symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead. 293 Vgl. Gottowik 1997, 228; Müller 2006. Bekannte Vertreter dieser Vorstellung waren Ward Goodenough, der Kultur als System von Wissen, „of things that people have in

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privaten Bedeutungstheorien und betont ausdrücklich, Kultur finde als gesellschaftlicher Diskurs auf dem Hof, im Markt und dem städtischen Platz statt, sei somit offenkundig beobachtbar und jedem zugänglich.294 Kultur vollzieht sich öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist.295 Denken bestünde nicht aus rätselhaften Prozessen, so schreibt Geertz in Anlehnung an Gilbert Ryle, versteckt in der „geheimen Grotte im Kopf“ 296 Einzelner, sondern ist gesellschaftliches Tun. Denn erst in der Interaktion mit anderen kann der Einzelne seinen Erfahrungen Form und Bedeutung geben. Denken und Empfinden, so Geertz, sind „grundsätzlich immer darauf angewiesen, daß die einzelnen Menschen die vorhandenen gesellschaftlichen ‚Systeme der Sinnproduktion‘, die kulturellen Konstrukte verwenden, die in der Sprache, im Brauch, in der Kunst und Technologie – das heißt in den Symbolen – vorliegen.“297 „Kulturelle Formen“, so erklären Berg und Fuchs, „finden im sozialen Handeln ihren Ausdruck [...], erlangen diese doch ihre Bedeutung erst durch ihre Rolle, ihren Gebrauch, in einer bestimmten Lebensform.“298 „Meaning is not a subjective matter, private, personal, ‚in the head‘. It is a public and social one, something constructed in the flow of life. We traffic in signs en plein air, out in the world where the action is; and it is in this trafficking that meaning is made. We must, as Stanley Cavell, another American philosopher with Wittgensteinian tendencies, has, with appropriate paradox, put it, ,mean what we say‘, because only by ,saying‘ (or otherwise behaving, acting, proceeding, conducting ourselves, in an intelligible manner) that we can ,mean‘ at all.“299 [Hervorhebung im Original]

Elementar wichtig für die Geertz’sche Methode (vgl. 1.4) ist in diesem Zusammenhang, dass er betont, Symbole seien empirisch fassbare Formen von Vorstellungen, „sie sind öffentlich, brauchen also nicht über Spekulationen geahnt, oder durch quasi telegrafische Fähigkeiten erfühlt werden. Sie können beobachtet, analysiert, diskutiert werden.“300 Damit, so stellt er heraus, „wird die Erforschung von Kultur zu einer positiven Wissenschaft wie jede andere auch.“301 „Meaning is materially mind“, versteht und Lévi-Strauss, der Kultur als „shared symbol systems that are cumulative creations of mind“ deutet. (Keesing 1974, 77-78) 294 Geertz 1983a, 2, 133 295 Ebd., 18 296 Ebd., 136 297 Geertz 1991, 38 298 Berg, Fuchs 1999, 47 299 Geertz 2005, 6 300 Aschenbrenner 1990, 410; Vgl. auch Keesing 1974, 79 301 Geertz 1983a, 136

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embodied, [...] it is (and here one searches for the appropriate term) formed, conveyed, realized, emblematized, expressed, communicated, via ponderable, perceptible, construable signs; symbolical devices.“302 1.3.2.4 Der dynamische Kulturbegriff Clifford Geertz vertritt einen dynamischen Kulturbegriff und lehnt strukturalistische und funktionalistische Strömungen in der Ethnologie ab. Denn der Funktionalismus, sei es ein psychologischer (Malinowski), der maßgeblich die Funktion von Religion für den Einzelnen betont, oder ein soziologischer (Radcliffe-Brown), der die funktionale Rolle der Religion für eine Gesellschaft hervorhebt, könne sozialen Wandel nicht erklären.303 Geertz interessiert sich in erster Linie für den Aussagegehalt und nicht für die Funktion von Bedeutungen. Dieser mit Sinn und Bedeutung gefüllte Gehalt ist ständigem Wandel unterworfen und kann mit statischen Homöostase-Konzepten des Funktionalismus und dem Postulat struktureller Zusammenhänge ausgewogener Systeme nicht erfasst werden.304 Um sozio-kulturellen Wandel von Kultur als dichtes Netz historisch tradierter Bedeutungssysteme adäquat deuten zu können, unterscheidet Geertz analytisch zwischen sozialen und kulturellen Faktoren in einer Gesellschaft. Beiden müsse in der Analyse gleichermaßen Rechnung getragen werden. Geertz unterscheidet Kultur und Sozialstruktur wie folgt: „Kultur ist das Geflecht von Bedeutungen, in denen Menschen ihre Erfahrung interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten. Die soziale Struktur ist die Form, in der sich das Handeln manifestiert, das tatsächlich existierende Netz sozialer Beziehungen. Kultur und Sozialstruktur sind daher nur verschiedene Abstraktionen der gleichen Phänomene: Die eine hat mit sozialem Handeln unter dem Aspekt seine Bedeutung für den Handelnden zu tun, die andere mit eben diesem Handeln unter dem Gesichtspunkt seines Beitrags zum Funktionieren eines sozialen Systems.“305

302 Geertz 2005, 6 303 Geertz 1983a, 96 304 Geertz (ebd., 135-136) mutmaßt, dass der Funktionalismus deshalb so attraktiv ist, da er sich rein mit sozialen Systemen befasst und die für die Analyse schwerer zugänglichen Vorstellungssysteme der Kultur auf diese reduziert. Die Annahme jedoch, Kultur spiele sich nicht im Inneren der Menschen ab, sondern finde öffentlich im Austausch bedeutungsvoller Systeme statt, ermöglicht es, Kultur- und Sozialstruktur gleichermaßen erforschen, analysieren und gegenüberstellen zu können, um so sozio-kulturelle Veränderungsprozesse ganzheitlich beschreiben und erklären zu können. 305 Ebd., 99

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Nur wenn soziale und kulturelle Aspekte der zu untersuchenden Gesellschaft nicht untrennbar in einen Topf geworfen, sondern beide bei der sozio-kulturellen Analyse in ihrer je eigenen Funktion für die Menschen gleichermaßen geachtet würden, ließe sich sozio-kultureller Wandel erklären. Reduziere man dagegen einen der beiden Faktoren zum Spiegelbild des jeweils anderen, falle der unbedeutendere Teil als dynamisches Element weg, und es bliebe entweder ein Sammelbegriff von Kultur oder ein allgemeiner Begriff von sozialer Struktur übrig: „Either culture is regarded as wholly derivative from the forms of social organisation [...] or the forms of social organisation are regarded as behavioural embodiments of cultural patterns. [...] In either case, the lesser term tends to drop out as a dynamic factor and we are left either with on omnibus concept of culture [...] or else with a completely comprehensive concept of social structure.“306

Kultur und Sozialstruktur sind begrifflich trennbar, unabhängig variabel, aber dennoch wechselseitig interdependent, d.h. sie beeinflussen sich permanent wechselseitig. „Was einem Volk widerfährt“, so Geertz, „widerfährt im allgemeinen auch seinem Glauben“307. Folglich kann in einem dynamischen Kulturverständnis nicht bei der Ausdifferenzierung einzelner Bestandteile stehen geblieben werden, es muss vielmehr deren Beziehung Gegenstand der Untersuchung sein. In diesem Sinne betont Geertz: „Man muss beides verstehen, die Organisation der sozialen Tätigkeiten – ihre institutionellen Formen – und die in ihnen verkörperten Vorstellungssysteme, aber auch die Art der Beziehung zwischen beiden. Genau darauf richtet sich der Versuch, eine Klärung der Begriffe von sozialer Struktur und Kultur herbeizuführen.“308

Zwischen diesen beiden Formen und einem dritten Element, der Persönlichkeitsstruktur einzelner Individuen einer Gesellschaft, kommt es immer wieder zu Spannungen, Brüchen, inneren Unstimmigkeiten und Diskontinuitäten. Diese werden dadurch hervorgerufen, dass die einzelnen Faktoren nicht harmonisch nebeneinander bestehen, sondern sich reiben und Uneinigkeiten hervorrufen.309 Im Versuch, diese Spannung auszugleichen und zu neuem Gleichgewicht, einer sinnvollen ge306 Geertz 1973, 143-144 307 Geertz 1991, 89 308 Geertz 1983a, 135 309 Eine Isomorphie oder ein Zustand ständiger Homöostase kann nur Grenzfall darstellen und findet sich, wenn überhaupt, nur in isolierten Kulturen und über lange Zeit hinweg stabilen Gesellschaften, in welchen es „zu einer engen Angleichung von sozialen und kulturellen Aspekten kommen konnte“. (Ebd., 98)

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sellschaftlichen Ordnung zu gelangen, vollzieht sich der Wandel. Anders formuliert, entstehen dynamische Elemente des Wandels dadurch, „dass kulturelle Muster nicht völlig mit den Formen der sozialen Organisation übereinstimmen“310, bzw. „dass das Bedürfnis des Menschen, in einer Welt zu leben, der er Bedeutung zumessen kann [...], oft nicht mit dem gleichzeitigen Bedürfnis harmoniert, einen funktionierenden sozialen Organismus aufrechtzuerhalten.“311 Um das Gesagte zu verdeutlichen, zieht Geertz ein Beispiel aus seiner Feldforschung in Java heran. Er schildert, wie es während eines Begräbnisses zu eben diese Spannungen und Konflikten zwischen den daran beteiligten Personen kam, da die Menschen diverse Modernisierungsprozesse sozial mitverfolgten, kulturell jedoch immer noch sehr traditionell lebten und dachten. Diese Unstimmigkeiten seien es letztlich gewesen, so schließt Geertz, dass es zu Brüchen während des Bestattungsrituals kam, denn die traditionellen, trägeren, dem Wandel gegenüber resistenteren Muster von Bedeutungen passten nicht mehr zu modernen Formen gesellschaftlicher Interaktion, welche die Menschen bereits angenommen hatten.312 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass funktionale, sowie sozio-strukturelle Konzepte von Kultur, welche in ihren Analysen von einer Ausgeglichenheit und relativer Stabilität von Gesellschaften ausgehen, zu unzureichenden Erklärungen kommen. Geertz erwähnt, die einseitige Hervorhebung „ausgewogener Systeme und zeitloser struktureller Bilder“ führe zu einer „Bevorzugung wohlintegrierter Gesellschaften“ und einer „tendenziellen Überbewertung der funktionalen Aspekte der Sitten und Gebräuche einer Gesellschaft gegenüber ihren dysfunktionalen Begleiterscheinungen“.313 Dabei würde beispielsweise Religion hauptsächlich hinsichtlich ihrer harmonisierenden und integrierenden Funktion für eine Gesellschaft untersucht, deren offensichtliche Ambivalenz dabei aber völlig vernachlässigt. Geertz bemerkt diesbezüglich: „Schon bei flüchtiger Kenntnis unser eigenen religiösen Geschichte werden wir jedoch zögern, der Religion generell eine ausschließlich ‚positive Rolle‘ zuzuweisen.“314 Die deterministische These eines Kulturessentialismus, die einer Kultur diese oder jene Eigenschaften fest zuschreibt, ist für Clifford Geertz völlig obsolet, denn sie widerspricht der vielschichtigen Komplexität und der offensichtlichen Dynamik,

310 Ebd. 311 Ebd., 131 312 Ebd., 101 ff. Das gesamte Werk Islam observed (Geertz 1968) handelt von dieser Wechselwirkung zwischen religiösen Entwicklungen und sozialem Wandel und damit einhergehenden Herausforderungen und Schwierigkeiten betroffener Gesellschaft. 313 Ebd., 97 314 Ebd.

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die jede Kultur aufzeigt.315 Kulturen als offene Systeme unterliegen so vielen Einflussfaktoren, welchen in kulturalistisch-verkürzten Darstellungen nicht Rechnung getragen werden können. Die Menschen einer Kultur sind nicht nur passiv in ihrem Bedeutungsgewebe gefangen, sie sind permanent aktiv daran beteiligt, es zu weben, sie sind „at once a product and a determinant of social interaction.“316 1.3.3 Religion als kulturelles System Religion is never merely metaphysics. For all peoples the forms, vehicles, and objects of worship are suffused with an aura of deep moral seriousness.317 CLIFFORD GEERTZ

Menschen leben in einem Geflecht unterschiedlicher Daseinsbereiche, wie beispielsweise Arbeit, Familie, Freundeskreis und Glaubensgemeinschaft, die sich überlappen und gegenseitig beeinflussen. Eine klare Abgrenzung lässt sich kaum vollziehen, dennoch fordert jeder Bereich bestimmte Verhaltensweisen und prägt das Denken der Menschen, die ihm angehören. Teilweise können sich widerstreitende Sphären reiben und zu Konflikten und Diskontinuitäten führen, sie können sich aber auch ergänzen und anpassen. Geertz nennt diese Bereiche kulturelle Systeme und stellt heraus, dass die Eingebundenheit bzw. Vernetzung in diese symbolhaft übermittelten Bedeutungsgewebe, jeweils ihre eigene Perspektive, ihre distinkte Weise des Sehens und Deutens der Welt, mit sich bringt. In seinem Aufsatz Religion as a cultural System unterscheidet er konkret zwischen der Common Sense Perspektive, der lebensweltlichen Erfahrungen, der wissenschaftlichen Perspektive, welche vom Zweifel und der systematischen Überprüfung, des Beweisens und der empirisch-objektiven Beobachtung lebt, der ästhetischen Perspektive, der unmittelbaren, sinnhaften Wahrnehmung, der Illusion und der religiösen Perspektive, welche eine absolute Autorität unterstellt und jegliche

315 An anderer Stelle betont Geertz, nichts sei kohärenter als die Wahnvorstellungen eines Paranoikers oder die Geschichte eines Schwindlers. Kohärenz sei kein ausschlaggebender Gültigkeitsbeweis für die Beschreibung einer Kultur – eher sollte dies bedenklich stimmen. Kulturen sind komplexe, durchaus ambivalente Systeme, die sich ständig verändern. „Nichts hat meiner Meinung nach mehr zur Diskreditierung von Kulturanalysen beigetragen als die Erstellung einwandfreier Abbildungen von formalen Ordnungen an deren Existenz so niemand recht glauben kann.“ (Geertz 1983a, 26) 316 Geertz 1973, 250 317 Geertz 1973, 126

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Erfahrung durch die Überzeugung eines „wirklich Wirklichen“318 (Glaube) färbt.319 Hauptmerkmal religiöser Anschauungen im Vergleich zu anderen sei, dass sie nicht aus der Erfahrung induktiv abgeleitet sind, sondern ihnen in gewisser Weise paradigmatisch vorausgehen. Sie stellen keine Beweise für die Wirklichkeit dar, sondern liefern Beispiele für ihre Gültigkeit.320 Geertz trifft diese Unterscheidung, um die besondere Bedeutung der religiösen Perspektive für den Menschen, aber auch für die ethnologische Analyse von Kultur herauszuarbeiten. Nicht zuletzt aufgrund dieser Sonderstellung der Religion hat sich Geertz dieser im Laufe der Jahre seiner anthropologischen Studien ganz besonders intensiv gewidmet.321 Dabei entwickelte er eine („road-map“322-) Definition von Religion, die nicht nur große Erklärungskraft besaß und entsprechend ausgiebig diskutiert wurde, sondern wegweisend war für die Methode der deutenden Ethnografie: „Religion ist 1. ein Symbolsystem, das darauf zielt, 2. starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, 3. indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsweise formuliert und 4. diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass 5. die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.“323

In der Folge soll diese Definition näher ausgeführt, die Besonderheit der religiösen Perspektive in ihrer Anerkennung einer unbedingten Autorität erläutert und die Argumentation dargelegt werden, die Geertz anführt, um zu erklären, wie das Symbolsystem Religion zu ihrer mächtigen Rolle im Leben der Menschen kommt. Hier scheint Geertz vor allem zwei Aspekte hervorzuheben: die zentrale Stellung des Rituals und die menschliche Bedürftigkeit Sinn zu finden, seinen Erlebnissen Bedeutung beimessen zu können. 1.3.3.1 Die unbedingte Anerkennung einer höheren Autorität Die Besonderheit der Religion besteht in der Anerkennung einer absoluten Autorität, der festen Überzeugung einer Wirklichkeit, die nicht empirisch bewiesen, nicht 318 Geertz 1983a, 77 319 Geertz 1975, 75. Geertz schrieb diverse Aufsätze zu diesen unterschiedlichen kulturellen Systemen. So erschien beispielsweise Art as a cultural system (1983b), Common Sense as a cultural system (1983b) und Ideology as a cultural system (1973). 320 Geertz 1991, 143 321 Ebd., 1-2, Vgl. auch Pals 1996, 243 322 Geertz 2005, 7. Geertz (ebd.) schreibt: „>The definition@ was really more of a provocation than anything else, directed toward upending the complacencies at once of structuralism and functionalism, then the reigning paradigms in ethnological research.“ 323 Geertz 1983a, 48

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im Sinne des Common sense verstanden werden muss und sich bewusst nicht, wie in der Kunst, von der Frage des Faktischen verabschieden möchte, sondern ganz im Gegenteil, die Geschehnisse der Welt im Licht dieser Wirklichkeit bewerten möchte. Anders formuliert, übersteigt die religiöse Perspektive die Alltagswelt, sie prägt, korrigiert und ergänzt diese. Gläubige brauchen keine handfesten, wissenschaftlichen Beweise, sie glauben nicht nur, dass etwas so sein könnte, sie sind fest von einer bestimmten Wahrheit, einer unbezweifelbaren „wirklichen Wirklichkeit“ überzeugt, welche von einer religiösen Autorität gewährleistet und zugleich repräsentiert wird. Geertz bemerkt in diesem Zusammenhang, das Grundaxiom der religiösen Perspektive sei: „Wer wissen möchte, muss zunächst glauben.“324 Die religiöse Haltung, die besondere Weise des In-der-Welt-seins, das Selbstverständnis, das in der religiösen Perspektive zum Ausdruck kommt, kann so mächtig sein, dass ihre Wirkung auch in anderen Bereichen menschlichen Seins deutlich wird, diese färbt. Denn, so betont Geertz, es gehöre zum Wesen jeden Glaubens „eine effektive Souveränität über das menschliche Verhalten zu beanspruchen“325: „>Die religiöse Perspektive@ verändert in oft radikaler Weise das gesamte Bild, das sich dem Common sense bietet, und zwar so weitgehend, dass es scheint, als seien die durch das religiöse Handeln erzeugten Stimmungen und Motivationen die allerzweckmäßigsten und einzig vernünftigen in Anbetracht der Dinge, wie sie wirklich sind.“326 [Hervorhebung im Original]

Geertz zieht das Beispiel der Prärieindianer heran, deren Visionssuche nicht nur ein einmaliges Ereignis darstellt, sondern den ganzen Lebensstil des Volkes durchzieht.327 Religion ist kein homogenes Merkmal eines Menschen, keine Rolle, die er annehmen und wieder ablegen kann, ähnlich wie beispielsweise einen Beruf oder ein Hobby. Geertz schreibt: „Religion ist nicht deswegen soziologisch interessant, weil sie [...] die soziale Ordnung wiedergibt [...], sondern deshalb, weil die soziale Ordnung von ihr [...] geprägt wird.“328 Dennoch, so stellt Geertz deutlich heraus, dürfe in der Analyse von Kultur nicht übersehen werden, dass der Mensch „sehr leicht und relativ häufig zwischen radikal 324 Ebd., 74 325 Geertz 1991, 159 326 Geertz 1983a, 90 327 Ebd., 87. Ich kann dies bestätigen, habe ich doch selbst einige Menschen der First Nations in der Prärie Kanadas (Saskatchewan) kennengelernt, die nicht nur das Ritual des Sundance durchführten, sondern ihr ganzes Selbstverständnis, ihre Identität, auf dem „Sundance way of life“ aufbauten. Damit einher gingen diverse Rechte und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft und der Natur und eine ganz bestimmte ethische Vorstellung. 328 Ebd.

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entgegengesetzten Betrachtungsweisen der Welt hin und her wechseln kann“ 329. Dies geschehe umso häufiger, umso religiöser der Mensch sei. 330 Er dürfe weder auf ein rein mystisches, noch auf ein alltäglich-praktisches Leben reduziert werden. In diesem Zusammenhang trifft Geertz die qualitativ wichtige Unterscheidung zwischen reiner (erfahrener) und angewandter (erinnerter) Religion. Erstere beschreibt die Begegnung mit der „wirklichen Wirklichkeit“, die Hingabe an die Vorstellung einer höchsten Autorität, den Glaubensakt selbst. Letztere meint die „Betrachtung der gewöhnlichen Erfahrung im Lichte dessen, was diese Begegnung zu offenbaren scheint“331. Geertz betont, religiöser Glaube im Vollzug des Rituals und „als Amalgam von Ideen, Vorschriften, Urteilen und Emotionen, das die Erfahrung dieser Ergriffenheit unbemerkt in die Färbung des Alltagslebens hineinträgt, sind einfach nicht das gleiche“332. Dasselbe Symbol kann im begrenzten Bereich der religiösen Sphäre eine völlig andere Bedeutung annehmen, wie in der alltäglichen. Es hat aber gesellschaftlich gesehen aufgrund „des fundamentalen Charakters von Wirklichkeit, wie ihn die religiöse Perspektive offenbart, bestimmte moralische und praktische Konsequenzen.“333 Diese sind nicht zu unterschätzen, denn Religion übt einen beachtlichen Einfluss auf das gewöhnliche Leben aus. Geertz betont: „Morality has thus the air of simple realism, of practical wisdom; religion supports proper conduct by picturing a world in which such conduct is only common sense.“334 In einem nächsten Schritt stellt sich nun die Frage, wie die Religion zu ihrer mächtigen Position im menschlichen Leben kommt, warum Menschen so überzeugt sind von einer Wirklichkeit, die jenseits der sinnlich erfahrbaren liegt, warum sie einer absoluten Autorität Glauben schenken und ihr Leben daraufhin ausrichten. Geertz scheint hierfür maßgeblich zwei Gründe anzuführen: Erstens verbinde das Ritual als zentrales Symbol der Religion Weltbild und Ethos, die Vorstellung dessen, wie sich Realität gestaltet und klare Anweisungen, wie man sich in dieser zu verhalten habe. Der zweite Grund lässt sich größtenteils wieder auf das Menschenbild Geertz’ (1.3.1) zurückführen, denn er argumentiert, Menschen seien darauf angewiesen, ihrem Leben Sinn und Bedeutung zu geben – vor allem hinsichtlich der Aspekte, die jenseits seines Erkenntnisvermögens beziehungsweise seiner Interpretations-

329 Geertz 1983a, 89 330 Geertz 1991, 158 331 Geertz 1983a, 89, vgl. auch ebd. 332 Geertz 1991, 160 333 Geertz 1983a, 90 334 Geertz 1973, 127

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möglichkeiten liegen.335 Dieser Sinn würde in fundamentalen, umfassenden Erklärungen der Religion gefunden werden. 1.3.3.2 Das Ritual als zentrales Symbol der Religion Nachdem Geertz erläutert, Symbole seien stets beides: Modell von Wirklichkeit, als auch Modell für Wirklichkeit, Abbild realer Zusammenhänge, wie ethischpraktische Handlungsanleitung, stellt er heraus, im spezifisch religiösen Symbolhandeln, dem Ritual, „sind gelebte und vorgestellte Welt ein und dasselbe, sie sind in einem einzigen System symbolischer Formen verschmolzen und bewirken daher bei den Menschen jene eigentümliche Veränderung in der Wahrnehmung der Wirklichkeit.“336 Geertz bezeichnet die gelebte, gefühlte Welt als Ethos und die rational vorgestellte Welt als Weltbild. In der symbolischen Verschmelzung der beiden, im Ritual, wird eine bestimmte Auffassung der Welt, der Glaube an eine absolute Autorität, kraftvoll bestätigt. Im Ritual lebt die Idee des „wirklich Wirklichen“ und wird spürbar. Die Menschen kommen zu ihrem Glauben, während sie ihn darstellen. Geertz führt aus: „A people’s ethos is the tone, character, and quality of their life, its moral and aesthetic style and mood; it is the underlying attitude toward themselves and their world that life reflects. Their world view is their picture of the way things in sheer actuality are, their concept of nature, or self, or society. It contains their most comprehensive ideas of order. Religious belief and ritual confront and mutually confirm one another; the ethos is made intellectually reasonable by being shown to represent a way of life implied by the actual state of affairs which the world view describes, and the world view is made emotionally acceptable by being presented as an image of an actual state of affairs of which such a way of life is an authentic expression.“337

Diese Praxis religiöser Rituale, in welcher die Unterstellung einer höchsten Autorität ganzheitlich, d.h. mit Herz und Verstand erlebt und geglaubt (bzw. gewusst) wird, sei, so Geertz, elementarer Bestandteil jeder Religion und Hauptaugenmerk seiner Definition von dieser.338 Wie diese Praxis konkret aussieht und welche Form die Realität darin jeweils annimmt, ist jedoch höchst unterschiedlich oder wie Geertz herausstellt: „What all sacred symbols assert is that the good for man is to live realistically; where they differ, is in the vision of reality they construct.“339

335 Geertz 1983a, 60-61 336 Ebd., 78 337 Geertz 1973, 127, vgl. Geertz 1991, 141 338 Ebd., vgl. Geertz 2005, 7; 1991, 159 339 Geertz 1973, 130

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Mit dieser Vorstellung der Realität geht eine bestimmte moralische Haltung und ethische Verpflichtung einher, sich gemäß entsprechender Normauffassung zu verhalten. Das Ethos eines Volkes ist nämlich nicht nur ein Gefühl der Wirklichkeit, sondern impliziert ganz spezifische Vorstellungen, wie die Welt sein soll. Insofern, so stellt Geertz heraus, verbinden heilige Symbole Ontologie bzw. Kosmologie (das Sein) mit Ästhetik und Moral (das Sollen): „Their peculiar power comes from their presumed ability to identify fact with value at the most fundamental level, to give to what is otherwise merely actual, a comprehensive normative import.“340 1.3.3.3 Die menschliche Notwendigkeit des „Meaning-making“ Symbole fungieren als Modelle von Wirklichkeit, sie beschreiben und erklären eine bestimmte Weltauffassung. Zugleich sind sie Modelle für Wirklichkeit, in dem sie „Programme für die Anordnung der sozialen und psychologischen Prozesse, die das öffentliche Leben steuern“341, liefern. Modelle für die Wirklichkeit lassen sich überall in der Natur finden (Geertz führt hier das Beispiel des Lernens durch Prägung oder Modelllernen an). Die Funktion des Symbols als Modell von Wirklichkeit dagegen ist etwas spezifisch Menschliches, denn der Mensch muss sich die Welt erklären können, Weltbilder entwickeln. Genau in dieser Doppelfunktion des Symbols beruht seine wichtige Bedeutung: „on its comprehensiveness, on its fruitfulness in ordering experience.“342 Denn der Mensch ist aufgrund seines Mangels an Instinkten darauf angewiesen, sich durch Kulturmuster extrinsische Informationsquellen zu erschließen, um Sinn und Ordnung in seinem Leben zu erfahren (vgl. 1.3.1). Ginge der Mensch der symbolischen Erklärung seiner Welt verlustig, so schreibt Geertz, wäre er defizient in seinen Funktionen, letztlich hilfloser als die Biber.343 Ähnlich notwendig, wie biologische Bedürfnisse befriedigt werden müssen, um zu überleben, so Geertz, entscheiden Symbolsysteme über die kreatürliche Lebensfähigkeit des Menschen:344 „The drive to make sense out of experience, to give it form and order, is evidently as real and as pressing as the more familiar biological needs.“345 In dem elementaren Werk zur Spiritualität nordamerikanischer Ureinwohner, den Lehren des Sacred Tree, beziehungsweise des Medizinrads, findet sich eine ähnliche Beschreibung der Bedeutung von Symbolen für den Menschen:

340 Ebd., 127 341 Geertz 1983a, 51 342 Geertz 1973, 128 343 Geertz 1983a, 60 344 Ebd. 345 Geertz 1973, 140

86 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Symbols such as the Sacred Tree express and represent meaning. Meaning helps to provide purpose and understanding in the lives of human beings. Symbols can be found on the walls of the first caves of human existence and have guided us to the far reaches of space in our attempts to understand life’s meaning. Through the experience of human consciousness, symbols are eternally giving birth to new understandings of the essence of life as it emerges, ever elusive, out of the unknown mist of creation. Symbols thus create an ever increasing awareness of the ongoing flow of life and give meaning to each sunrise and more meaning to each sunset. Meaning is important for the health, well-being and wholeness of individuals and communities. The presence of symbols in a community, as well as the living out of a belief in these symbols, is a measurement of the health and energies present in the community. Indeed, to live without symbols is to experience existence far short of our unlimited capacity as human beings.“346 [Hervorhebung im Original]

Mit Hilfe des Medizinrades, so heißt es an anderer Stelle, können Dinge gesehen werden, die unsichtbar sind, es können Dinge verstanden werden, die jenseits der materiellen Welt liegen.347 Basierend auf diesem umfassenden Verständnis vermittelt das Medizinrad ethisch-moralische Weisheiten, einen spezifischen „code of ethics“, wie der Mensch mit seinen Mitmenschen und der natürlichen Umwelt umzugehen hat. Durch diesen ethisch-moralisch wertvollen Umgang mit den Menschen erfährt er Zufriedenheit und Glück. In der Sicherheit des Medizinrads als Modell von und Modell für Wirklichkeit findet der Mensch den Weg zur spirituellen Erfüllung. „In addition of the sacred teachings concerning the nature of things, and of the gifts of the four directions, the teachings of the Sacred Tree include a code of ethics to which all should confirm their lives if they wish to find happiness and well-being. This code describes what wisdom means in the relationship between individuals, in family life, in the community. These are the sparkling gems practiced by the Native peoples everywhere. They represent the path of safety leading around the medicine wheel, and up the great mountain to the sacred lake.“348 [Hervorhebung im Original]

Der Mensch, so betont Geertz, fürchtet am meisten, was er nicht zu deuten vermag, wenn etwas in sein Leben einbricht, über das er keine Gewalt hat, das er nicht versteht und die gewohnte Ordnung der Dinge durcheinander bringt. Es gäbe mindestens drei Punkte, so behauptet er, an welchen das Chaos den Menschen bedroht, wo er vor dem klaffenden Raum des Nichts steht und sein Weltbild in der Unordnung unterzugehen droht: „an den Grenzen seiner analytischen Fähigkeiten, an den 346 Lane, u.a. 2004, 20 347 Ebd., 9 348 Ebd., 74

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Grenzen seiner Leidensfähigkeit und an den Grenzen seiner ethischen Sicherheit.“349 In allen diesen Situationen erleben Menschen etwas, das so nicht sein sollte beziehungsweise etwas, das mit dem eigentlich richtigen, stimmigen Verständnis geordneter Welt kollidiert. In diesen Momenten ist die Grundannahme, dass das Leben begreifbar sei, radikal in Frage gestellt und ein Gefühl von Hilflosigkeit, sogar Hoffnungslosigkeit, ergreift den Menschen. Wenn die Unvorhersehbarkeit und die Unübersichtlichkeit des Chaos menschliches Gleichgewicht bedroht, sind religiöse Symbole am wichtigsten, um unbegreifliche Phänomene erklären zu können, um in Leidenserfahrungen neuen Halt zu finden und die offensichtliche Ungerechtigkeit der Welt in einen größeren Zusammenhang stellen und akzeptieren zu können.350 Wenn der Common sense nicht mehr ausreicht, um sich die Welt zu erklären, bietet die religiöse Perspektive mit ihren umfassenden Erklärungen der Wirklichkeit Lösung. Auf einer christlichen Internetseite fand sich kürzlich ein treffendes Beispiel für eine solche symbolhafte Erklärung des Chaos, beziehungsweise eines großen Durcheinanders oder Tohuwabohus: „Tohu va-vohu. When I’m confronted with chaos in my own life – whether in the form of something as small as a messy apartment or as vast as a scene of violence and devastation on the evening news – I often find these Hebrew syllables coming to mind. To me, they serve as a reminder that all the beauty and order in the world began from an absence of those qualities, and that in every situation where chaos seems to reign, a seed of order and goodness is waiting, with God’s help, to be brought forth.“351 [Hervorhebung im Original]

1.3.3.4 Die Besonderheit der Religion für die ethnologische Forschung Die Bedeutung von Religion für die ethnologische Forschung liegt darin, so Geertz, dass sie als Modell von Wirklichkeit „in der Lage ist, dem einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen allgemeine und doch spezifische Auffassungen von der Welt, vom Selbst und von den Beziehungen zwischen Selbst und Welt zu liefern“352, und dass sie zugleich als Modell für Wirklichkeit spezifische tief verwurzelte geistige Dispositionen wecken, Stimmungen und Motivation hervorrufen kann, die bestimmte Verhaltensweisen nach sich ziehen. Religion als kulturelles System besteht dabei nicht isoliert von anderen Bereichen menschlichen Seins, sie

349 Geertz 1983a, 61 350 Ebd., 60 351 Tompkins 2008 352 Geertz 1983a, 92

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beeinflusst vielmehr soziale Strukturen und psychologische Verfasstheiten Einzelner – und wird wechselwirkend von diesen beeinflusst (vgl. 1.3.2.4).353 Die Lehre von der Erbsünde, so ein Beispiel von Geertz, enthält über den metaphysischen Aspekt hinaus auch Anweisungen, wie man sich generell im Leben verhalten soll. Religion ist, so Geertz, ein „soziales, kulturelles und psychologisches Phänomen“354 und liefert dabei eben nicht nur eine Erklärung der Weltzusammenhänge im religiösen Sinne, sondern hat auch ganz direkt Einfluss auf emotionale Dispositionen und Verhaltensweisen der Menschen in anderen Bereichen ihres Lebens: „Religiöse Vorstellungen bleiben nicht auf ihre besondere metaphysischen Zusammenhänge beschränkt; sie bieten vielmehr ein System allgemeiner Ideen, mit dem die Erfahrung in vielen Bereichen – im intellektuellen, emotionalen, moralischen Bereich – sinnvoll ausgedrückt werden kann.“355 Die Erforschung der Rolle von Religion für eine Gesellschaft und für einzelne Menschen dürfe nach Geertz nicht bei der Suche nach Korrelationen zwischen rituellen Handlungen und säkularen sozialen Beziehungen stehen bleiben. Es genügt nicht festzustellen, dass es diese Verbindungen und Wechselwirkungen gibt. Es geht vielmehr darum, der grundsätzlicheren Frage nachzugehen, warum religiöse Vorstellungen, die sich dem Menschen im Ritual als wahrhaftiger, echter und wirklicher darstellen, als die alltäglich erlebte Wirklichkeit, diese so stark beeinflussen können, beziehungsweise wie es dazu kommt, dass Gläubige glauben oder woher dieser Glaube rührt.356 Geertz erklärt: „Sie [die Erforschung der sozialen und psychologischen Rolle der Religion] soll vielmehr darüber hinaus zu einer Klärung der Frage führen, wieso die Vorstellungen der Menschen vom ‚wirklich Wirklichen‘ [...] und die Dispositionen, die diese Vorstellungen in ihnen wecken, ihre Auffassung vom Vernünftigen, Praktischen, Humanen und Moralischen beeinflussen können.“357

Um dieser Frage adäquat nachgehen zu können und damit der Besonderheit der religiösen Perspektive Rechnung zu tragen, muss das Vorgehen der ethnologischen

353 „Die Auffassung, dass Religionen sich verändern“, so bemerkt Geertz (1991), „ist an sich fast eine Häresie“ (88), aber sei offensichtliche Tatsache. Für den Gläubigen sei dies natürlich eine schwierige Situation: Er sei hin und her gerissen zwischen dem religiösen Postulat absoluter, unveränderlicher Wahrheit und einer sozio-kulturellen Welt, die in ständigem Wandel begriffen ist. 354 Ebd., 13 355 Geertz 1983a, 92 356 Geertz 1991, 143 357 Geertz 1983a, 93

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Untersuchung von Religion zwei Stufen umfassen.358 Zunächst müssen die Bedeutungen, die durch Symbole sozial übermittelt werden, akribisch erforscht, d.h. phänomenologisch beschrieben und hermeneutisch interpretiert (verstanden) werden. Und erst in einem zweiten Schritt sollen diese Erkenntnisse der Sinn- und Bedeutungssysteme dann mit soziokulturellen und psychologischen Prozessen in Beziehung gesetzt werden. Meist, so kritisiert Geertz, würde die erste Stufe nicht nur vernachlässigt, sondern als unwissenschaftlich und subjektiv ignoriert werden. Statt dessen beschränkten sich viele ethnologische Arbeiten auf einfache Common sense-Erklärungen und zögen dabei allgemeine Begriffskategorien wie Ahnenverehrung, Tieropfer oder Wahrsagerei heran, ohne diese umfassender (dichter) hinsichtlich deren konkreten Sinns für die Menschen der jeweiligen Gesellschaft zu analysieren.359 Geertz beanstandet diesbezüglich: „Alle Sozialwissenschaften kranken an der Vorstellung, dass die Benennung einer Sache bedeutet, dass man sie verstanden hat, doch nirgendwo ist das so sehr der Fall wie in der vergleichenden Religionsforschung. Hier hat die Überbewertung des klassifikatorischen Denkens, die Manie, alles in Schubladen einordnen zu wollen, derart alarmierende Ausmaße angenommen, dass man fast vermuten möchte, es sei eine tiefgründigere Leidenschaft am Werk, unbequemer Phänomene durch beruhigende Namen Herr zu werden.“360

Grund für den Rückzug auf eher oberflächliche (dünne) Benennungen religiöser Systeme scheint zu sein, so mutmaßt Geertz, dass den meisten Sozialwissenschaftlern der Umgang mit Dingen, die eher dem Feld der Theologie, Philosophie oder Psychologie zugerechnet werden, unbehaglich erscheint und sie sich verloren und bedroht fühlen, sobald sie das Gefühl haben, vom Pfad des strikten Empirismus abzuweichen.361 „Es ist jedoch keineswegs unempirisch“, so Geertz, „wenn man beschreibt, wie der religiöse Glaube den Gläubigen erscheint“, und rekurriert damit auf seine zentrale These, Religion sei ein Symbolsystem beziehungsweise eine soziale Institution, Gottesverehrung eine soziale Tätigkeit und Glaube eine soziale Kraft.362 Der Glaube rührt, so Geertz, (abgesehen von theologischen Antworten über die er keine Aussagen machen will) von der sozialen und psychologischen Wirkung religiöser Symbole her.363 Menschen werden nicht in einen kulturfreien Raum hineingeboren 358 Ebd., 94 359 Ebd., 94-95 360 Geertz 1991, 44 361 Ebd., 143 362 Ebd., 38 363 Ebd., 143-144

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und beginnen aus sich heraus einem bestimmten Weltbild zu folgen. Von Anfang an verstrickt in ein Bedeutungsgewebe kultureller Systeme lernen sie vielmehr, Symbole zu verstehen, zu verinnerlichen und weiterzugeben. In gewissem Sinne lernen sie zu glauben. „So wie niemand eine Sprache erfinden muss, um sprechen zu können“, argumentiert Geertz, „muß auch niemand eine Religion erfinden, um religiös zu sein“364. Symbole (und hinsichtlich der Religion vor allem das Ritual) dienen dabei nicht nur den Angehörigen einer Kultur, sich orientieren, ihre Welt verstehen und adäquat handeln zu können, sie sind es, die eine empirische Forschung von Religion auch für Außenstehende möglich machen. Die Tatsache, dass die praktische Wirkung der verinnerlichten, religiösen Erfahrung sich im täglichen Leben der Menschen niederschlägt, ermöglicht deren Analyse. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Religion für die ethnologische Forschung im Sinne von Clifford Geertz aufgrund des Begriffs des Symbols und vor allem aufgrund des Rituals als zentrales Symbol, welches Weltbild und Ethos eines Volkes zusammenzubringen vermag und damit die Anerkennung einer umfassenden Autorität zum Ausdruck bringt, eine so wichtige Rolle spielt.365 Kultur (und Religion als Teil davon) ist ein Gewebe, geflochten aus Bedeutungen, welche sich in Symbolen materialisieren. Um eine Kultur zu verstehen, reicht es nicht, nur dieses Gewebe, das fertige Produkt zu betrachten und in abstrakte Begriffe einzuordnen, es muss vielmehr der Prozess des Webens analysiert und die einzelnen Symbole in ihrer je eigenen Bedeutung für die Menschen erforscht werden. Insofern versteht sich Geertz als Hermeneutiker, der zwischen „kleinsten lokalspezifischen Details und umfassenden Strukturen“, hin und her springen möchte, um „das Ganze aus der Perspektive seiner Teile, und die Teile aus der Perspektive des Ganzen“366 verstehen und erklären zu können. Es genügt nicht, so betont Geertz, bei der abstrakten Benennung der Dinge stehen zu bleiben, denn diese ist „kaum mehr als ein Vorspiel zu analytischem Denken“367. „To explain a religion without trying to grasp the system of meanings it conveys is not unlike trying to explain a computer without mentioning a program or a book without referring to words. It can’t be done.“368 Des Weiteren möchte Geertz in seiner „kulturellen Dimension der Erforschung von Religion“369 diese nicht auf eine Funktion für den Menschen reduzieren (auch wenn man hinsichtlich seiner These des Mängelwesens diesen Eindruck bekommen könnte). Er möchte vielmehr verstehen, wie diese Funktion in ganz konkreten Fällen jeweils aussieht. Im Gegensatz zu Wissenschaftlern, die umfassende Theo364 Ebd., 144 365 Vgl. Micheelsen 2002, 17-18 366 Geertz 1983a, 307, vgl. auch 3.2.5.1 367 Geertz 1991, 44 368 Pals 1996, 257 369 Geertz 1983a, 46

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rien aufstellen, deren Paradigmen eine Zeitlang dominieren, da sie so klar, einleuchtend und einfach erscheinen, betrachtet Geertz diese in seinen Werken äußerst skeptisch und lehnt sie als abschließende, globale Erklärungen ab. Während Marx, Durkheim oder Freud beispielsweise die Rolle der Religion auf eine versteckte Neurose, ein soziales Bedürfnis nach Anerkennung oder die überhöhte Begründung und Rechtfertigung für einen eigentlich aufgrund ökonomischer Interessenskollisionen basierenden Konflikt beschränken, weist Geertz auf komplexe Zusammenhänge, Bedeutungsinhalte und Vorstellungen der Menschen hin, die nicht außer acht gelassen werden dürfen, um zu verstehen, warum und wie Menschen glauben. „Es gibt so viele Glaubensformen, wie es Menschen gibt – was auch in der Umkehrung gilt. Diese vielfältigen Auswirkungen religiöser Systeme auf soziale Systeme (und auf Persönlichkeitssysteme) machen es unmöglich, die Bedeutung von Religion in ethischer oder auch funktionaler Hinsicht allgemeingültig festzulegen.“370

Gerade diese Unterschiedlichkeit beobachteter Phänomene ermöglicht ein tieferes Verständnis der Rolle von Religion (bzw. auch Kultur als Ganzes) für den Menschen, ohne sie darauf zu reduzieren. Die Erforschung der Religion, so Geertz, „has never been a single, bordered, learnable and teachable, sum-up-able thing“371. Und er fährt fort: „It is, and has always been, a matter of sorting through various happenings variously encountered – large, public ones, like national elections or international migrations; small, intimate ones, like household feasts or Quran chants; merely incidental, parenthetical ones, like a broken funeral, a raided cockfight, or a painted-over house façade – all in an effort to determine how overall conceptions of what reality really is and particular ways of going about in it play into one another to sustain the sense that, more or less anyway and on balance, things make sense. [...] at each stage, in each place, on each occasion, one is presented with a wild multiplicity of individuals, groups, and groups of groups trying to hold their lives together in the face of change, circumstance, and (Satre’s hell) one another. One doesn’t, after all, so much ,examine‘ religion, ,investigate‘ it, or even ,research‘ it, as circumambulate it. Skulking about at the edge of the grove, one watches it happen.“372

370 Ebd., 91 371 Geertz 2005, 13 372 Ebd.

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1.4 E CKPUNKTE DER G EERTZ ’ SCHEN M ETHODIK „ DICHTE B ESCHREIBUNG “

UND

Method is [...] a deeply moral matter, and the style one devises in the practice of method no more than a name for the way in which one lives one’s ethics in a profession. Method is a way of looking at and living in the world. 373 FRED INGLIS

Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass Geertz keine dezidierte methodologische Anleitung für seine Forschungstätigkeit entwickelt hat.374 Im Gegenteil  für ihn scheinen Diskurse über Methoden der Forschung eher irreführend als hilfreich: Methoden engen Menschen ein, pressen sie in Modelle und stellen sich selbst in den Vordergrund, ohne den Menschen den Tribut zu zollen, der ihnen zusteht. Stephan Wolff stellt sogar heraus, dass es charakteristisch für die Geertz’sche Position sei, dass sich um ihn keine Schule gebildet hat.375 Er erklärt: „Dies ist kaum verwunderlich: Sein ‚Ansatz‘ besteht hauptsächlich in einer Darstellungsstrategie, der ‚Dichten Beschreibung‘. Diese findet sich an keiner Stelle in einer Form – sei es als Definition oder als methodische Handlungsanweisung – präsentiert, die es anderen Anthropo-

373 Inglis 2000, 31 374 Geertz (2006) erzählte er mir, er habe niemals geplant, konkret eine Forschungsmethode zu entwickeln. Es sei einfach so passiert. Ein Grund dafür sei unter anderem gewesen, dass er selten das Gefühl hatte, seine Freunde und Kollegen würden nach seiner Heimkehr wirklich verstehen, was er im Feld erlebt hatte. Nachdem Schreiben immer schon seine große Leidenschaft gewesen war, habe er begonnen, sich seine Erlebnisse detailliert von der Seele zu schreiben. In diesem Festhalten seiner inneren Bilder einer fremden Welt habe er nicht nur das Gefühl gehabt, sich selbst gerecht zu werden, sondern vor allem auch den Menschen, deren Kultur er studierte. Über die Jahre hinweg habe er sich dann mehr und mehr Gedanken über sein Tun gemacht und darüber in Aufsätzen reflektiert. Als er dann einige dieser Aufsätze veröffentlichen wollte, erklärte ihm sein Verleger, es müsse noch einen Aufsatz geben, der die vielen diversen, teils zusammenhangslosen Beiträge im geplanten Buch verbindet. Aufgrund dessen erst habe er an dem Werk gearbeitet, das heute als die Erklärung seiner Methode der dichten Beschreibung gilt: Thick description: Toward and Interpretative Theory of Culture (erschienen in: Geertz 1973). Vgl. auch 3.2.2 375 Wolff 1992, 343; vgl. auch Darnton 2007, Boskovik 2002 und 3.2.2

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logen erlauben würde, ihn unmittelbar für eigene Untersuchungen als Forschungsinstrument einzusetzen.“376

Geertz selbst erklärt, „interpretative anthropology is a perspective [...], not a sort of thing in itself, not a sub-discipline“377. Will man eine Wissenschaft verstehen, so argumentiert Geertz, solle man sich in erster Linie das ansehen, was ihre Praktiker tun, nicht aber ihren Theorien blind vertrauen und schon gar nicht auf das hören, was diese selbst über ihr Tun sagen.378 Wenn Geertz schon keine dezidierte Methode als eindeutiges Handwerkszeug entwickelte, hat er doch zahlreiche praktische Beispiele seines Tuns vorgelegt, die Interessierte als Vorbild für die eigene Forschung nehmen können. In diesem Sinne erklärt Gottowik: „Der Begriff der ‚dichten Beschreibung‘ und die dahinter stehende Konzeption sind wiederum in etwas eingebunden, das von Geertz als [...] ‚ein Programm in einem Satz‘ und an anderer Stelle explizit als ‚a general program‘ hervorgehoben wurde. Den Entwurf eines solchen Programms hat Geertz jedoch nicht systematisch verfolgt, sondern sich eher skeptisch gegenüber Versuchen geäußert, eine allgemeine Theorie oder Methodologie der Interpretation für die Anthropologie zu erstellen. Konsequenterweise ist er bei der Begründung seines Ansatzes einen anderen Weg gegangen: Er hat sein ‚interpretative theoretical program’ nicht in einem Entwurf bündig dargelegt, sondern in einer Vielzahl thematisch lose miteinander verbundener Essays entwickelt.“379

Geertz bezeichnet den Essay als „natürliches Genre für die Präsentation kultureller Interpretationen“380, da dieser die Dichte der Beschreibung nicht nur zulässt, sondern einer allgemeinen Abstraktion unbedingt vorzieht.381 „Ähnlichkeiten zwischen Essay und Merkmalen der dichten Beschreibung sind offensichtlich: Die mobile Betrachtung am konkreten Gegenstand statt der theoretischen Ableitung, die Konzentration auf das deutungsvolle Einzelne, an dem sich das kulturelle Ganze zu erschließen vermag, das Spiel mit neuen, ungewöhnlichen Lesarten eines scheinbar einfachen Phänomens und der offene Charakter des Ergebnisses in der Deutung finden sich hier wie dort.“382 376 Ebd. 377 Panourgia 2002, 422-423 378 Geertz 1983a, 9-10 379 Gottowik 1997, 219 380 Geertz 1983a, 36 381 Auf das essayistische Theoretisieren von Geertz wird ausführlich in 3.2.4.2 eingegangen. 382 Fröhlich, Mörth 1998, 55

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Meinrad Ziegler beschreibt das Verhältnis von gegenstandsbezogener Analyse und allgemein theoretischen Ordnungsmodellen, wie sie im Essay, das Adorno prinzipiell als methodisch unmethodisch bezeichnet, zu finden sind, wie folgt: „Adorno vergleicht das methodische Prinzip des Essays mit dem Verhalten einer Person, die, in ein fremdes Land gestellt, gezwungen ist, die Sprache zu sprechen, anstatt sie schulgerecht aus einzelnen Elementen zu lernen. Der Sinn eines Wortes wird nicht aus dem Wörterbuch, sondern aus dem mehrfach wechselnden Gebrauch erfasst, also in seinem praktischen Kontext. Theorien gelten dem Essay nicht als Standpunkte, nicht als Stein der Weisen, sondern als Mittel zur Bildung von geistiger Erfahrung an dem Gegenstand, den er reflektiert.“383

Basierend auf seinem oben ausführlich erläuterten Kulturbegriff betont Geertz eindrücklich, es könne in der ethnologischen Forschung nicht darum gehen, mit herkömmlichen Methoden rein empirisch Daten und Fakten zu sammeln; entscheidend sei vielmehr, „die besondere geistige Anstrengung, die hinter allem steht, das komplizierte intellektuelle Wagnis der ,dichten Beschreibung‘.“384 Volker Gottowik betont, Geertz habe mit seinem Entwurf einer interpretativen Anthropologie 385 maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Anthropologie von ihrem szientistischen Selbstverständnis lösen und zu einer symbol- und bedeutungsorientierten Kulturwissenschaft entwickeln konnte: „Das methodische Vorgehen einer solch symbol- und bedeutungsorientierten Kulturwissenschaft besteht nicht in vermeintlicher Tatsachenbeobachtung, sondern in Zeicheninterpretation, wie auch das daran geknüpfte Erkenntnisinteresse sich nicht in der reinen Beschreibung 383 Ebd. 384 Geertz 1983a, 10. Geertz scheint hier einen Brückenschlag zu wagen zwischen der Empirie, die er in der Sozialwissenschaft als unabdingbar erachtet, um Kultur erforschen zu können und den Geisteswissenschaften mit ihrer gedanklichen Durchdringung von Beobachtungen (hierin spiegelt sich die Nähe von Geertz zur Philosophie wieder). 385 Für die Benennung seines Ansatzes hat Geertz in der Vergangenheit verschiedenste Bezeichnungen gewählt: semantisch, semiotisch, symbolisch und interpretativ. Dass die Angewiesenheit des Menschen auf Symbolsysteme eine grundlegende Annahme für Geertz darstellt, wurde bereits zu Genüge diskutiert. Darüber hinaus jedoch müssen Menschen permanent diese Symbole interpretieren, um sie zu verstehen und der Situation entsprechend handeln zu können. Der Anthropologe tut in seinen dichten Beschreibungen nichts anderes: er interpretiert Interpretationen. Deshalb scheint Geertz den Ausdruck der interpretativen Anthropologie für seine wissenschaftliche Denkrichtung zu favorisieren, obwohl er sich selbst auch diesbezüglich nicht festlegen lassen will, betont er doch: „I myself never talk about interpretivism, but that’s all right, it doesn’t matter.“ (Gerring 2003)

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ethnografischer Sachverhalte erschöpft, sondern auf das zielt, was bei Geertz ‚dichte Beschreibung‘ heißt.“386

1.4.1 Dichte und dünne Beschreibung In der dichten Beschreibung gilt es nicht nur festzuhalten, was gerade tatsächlich augenscheinlich passiert – das entspräche einer „dünnen Beschreibung“. Wichtig ist vielmehr die Intention bzw. der Sinn oder die Bedeutung, die sich für den Handelnden in seinem Tun materialisiert und auf die interpretativ geschlossen werden kann. Der englische Sprachphilosoph Gilbert Ryle 387, auf den sich Geertz bei der Verwendung seiner Begrifflichkeit der „dichten Beschreibung“ bezieht, verdeutlicht dies anhand eines Beispiels von zwei Jungen, welche beide zwinkern. Beim einen stellt die schnelle Bewegung des Augenlids ein ungewolltes Zucken, beim anderen ein geheimes Zeichen an einen Freund dar. Der Unterschied in der Bedeutung dieser Geste ist offensichtlich, und es kommt in der dichten Beschreibung gerade darauf an, diesen herauszustellen. „Indeed what Geertz really likes about Ryle is less the logical nexus in an individual between thought and action than the empirical nexus in culture between thought and action. If Ryle’s key point is that winking is not intent plus eye movement, but instead intentional eye movement, Geertz’s key point is that culture is intent plus behavior. Culture for him is neither sheer intent, as for ethnoscientists and Levi-Straussian structuralists, nor sheer behaviour, as for Skinnerian [...] behaviourists, but instead intentional behaviour. To use the terms that Geertz takes from Ryle, a description of sheer behaviour would be ,thin‘, whereas a description of the intent as well as the behaviour is ,thick‘. But a description of the intent alone would also be thin.“388

Geertz betont, dass die gewinnbringende, erhellende ethnografische Forschung nicht auf der Fähigkeit des Autors beruht, möglichst viele Fakten aus entlegenen Orten zusammenzutragen, um daraus aus stimmiges Bild zu formen. Es ginge vielmehr darum, aufzuzeigen, was sich an diesen rätselhaften, weil fremden Orten abspielt und was für Menschen dort leben.389 Anders formuliert: Ziel ist nicht die originalgetreue Abbildung davon, was ein Mensch tut, sondern eben eine interpretative Rekonstruktion der Handlung bzw. des Verhaltens hinsichtlich dessen, welche

386 Gottowik 1997, 220 387 Ryle ist wie der späte Wittgenstein der Ordinary Language Philosophy zuzuordnen. Vgl. 1.2.1 388 Segal 1999, 64 389 Geertz 1983a, 24

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Bedeutung der Akteur seinem Tun beimisst.390 Ausgehend von der prinzipiellen Anerkennung des Anderen, geht es hierbei vor allem darum, sich die selbstinterpretative Sicht der zu erforschenden Kultur verständlich zu machen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht, so Geertz, herauszufinden, „wie sie [die Informanten, bzw. Menschen im Feld] sich überhaupt selber verstehen.“391 Durch diese Interpretationen gelangt der Forscher nicht nur zu weiteren Gesichtspunkten und Fragestellungen, vielleicht auch zu allgemeineren Hypothesen hinsichtlich der zu erforschenden Kultur, welche dann mit Hilfe neuer Interpretationen kritisch hinterfragt und ergänzt werden können; er gelangt hierdurch zugleich auf ganz neue Ebenen der Gesprächsführung mit den Einheimischen, da der gemeinsame Bedeutungshorizont immer größer wird. Somit eröffnet die dichte Beschreibung eine Möglichkeit des Verstehens von Kultur. „Im Gegensatz zu ‚dünner Beschreibung‘, die sich auf die Sammlung von Daten beschränkt, heißt ‚dichte Beschreibung‘, die komplexen oft übereinander gelagerten und ineinander verwobenen Vorstellungsstrukturen herauszuarbeiten und dadurch einen Zugang zur Gedankenwelt der untersuchten Subjekte zu schließen, ‚so dass wir – in einem weiteren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können‘.“392

Diese Vision von Geertz eine Grundlage zu schaffen, auf der intelligibler Diskurs zwischen den Menschen möglich ist, scheint der Kerngedanke und Ziel der dichten Beschreibung zu sein. Das Geertz’sche, eher unsystematische Programm loser Aufsätze mit zum Teil diskrepanten Aussagen, scheint in diesem Auftrag ihren Mittelund Ankerpunkt zu finden. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu betonen, dass die dichte Beschreibung nicht in erster Linie auf Gesprächen (oder Interviews) beruht, wie zunächst anzu390 Es geht für Geertz, wie oben bereits erwähnt, nicht darum, gleichsam eine exakte Fotografie zu erstellen, denn das würde der Komplexität und Wandelhaftigkeit des Menschseins nicht gerecht werden können. Mit Wittgenstein legt er vielmehr Wert auf verschwommene Bilder, die Raum lassen für interpretative Erklärungen, die letztendlich einen größeren Verstehenshorizont bilden, als scharfe, abgegrenzte Konturen. Bei der Betrachtung eines klaren Bildes besteht oft nicht mehr das Bedürfnis nachzufragen. Alles scheint offensichtlich und klar – auf dem Hintergrund eigener Glaubenssätze und Überzeugungen von der Welt. Betrachte ich hingegen ein Bild, dessen unklare Konturen Fragen aufwerfen, eigene Vorstellungen ins Wanken geraten lassen und so die Möglichkeit eröffnen, ins Gespräch zu kommen, kann im gemeinsamen Ringen um Klarheit eine Dichte erzeugt werden, die der Wahrheit näher kommt, als stringente Erklärungen vermeintlicher Offensichtlichkeiten. 391 Geertz 1983a, 292 392 Ebd., 2

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nehmen wäre, sondern auf phänomenologisch-detaillierten Beobachtungen vom spezifischen Symbolgebrauch einer Gesellschaft. Diese akribischen Betrachtungen ermöglichen eine andere Form der Begegnung, in der Gespräche stattfinden können, die tiefer gehen, als nur das Reden miteinander, da es nicht in erster Linie um reinen Informationsaustausch geht, sondern um gegenseitiges Verstehen. „Wir wollen mit ihnen ins Gespräch kommen, uns mit ihnen austauschen, und zwar in jenem weiteren Sinne des Wortes, der mehr als nur Reden meint [...] So betrachtet ist das Ziel der Ethnologie die Erweiterung des menschlichen Diskursuniversums.“393 Geertz fordert mit seiner Methode auf, nicht die Symbole selbst, sondern ihre Verwendung beziehungsweise ihre Rolle im sozialen Diskurs einer Kultur zu untersuchen.394 Um den Sinn kulturspezifischer Symbole zu verstehen, bedarf es nicht unbedingt der Teilnahme an diesem Diskurs, vielmehr lässt sich auf diesen auch aus einer gewissen Distanz heraus schließen. „Die Methode, die Geertz wählt, um die Bedeutung symbolischer Formen zu ermitteln, ist deshalb auch nicht das Gespräch mit den Mitgliedern der betreffenden Kultur, sondern die systematische Beobachtung ihrer Handlungen.“395 Konsequenterweise hebt Clifford Geertz die Bedeutung dichter Beschreibungen, die interpretative Analyse sozialen Handelns, hervor und sieht wenig Sinn in strukturierten Gesprächen oder Interviews entlang standardisierter Fragebögen. Geertz scheint sich den Blick von außen nutzbar machen zu wollen, welcher Vorstellungsstrukturen anders zu betrachten in der Lage ist, als aus der Innenperspektive der Einheimischen, die meist so in ihrem kulturellen System verwurzelt sind, dass sie diese Vorstellungen zwar leben, aber nur bedingt Auskunft darüber geben können. Was nun, so stellt sich die Frage, macht eine gute Interpretation aus, die dazu dient, verdichtet mit weiteren Interpretationen ein stimmiges Gesamtbild zu entwerfen? Oder anders gefragt: Was kennzeichnet die Dichte einer Beschreibung und hebt sie ab von dünnen Beschreibungen auf der einen und selbstreflexiven Tagebuchaufzeichnungen auf der anderen Seite? „Eine gute Interpretation“, so erläutert Geertz diesbezüglich, „versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird“396 – sei es ein Gedicht, ein Musikstück, ein Kunstwerk, ein Ritual oder eine Person. Geertz betont, dabei ginge es keineswegs darum, blumige Geschichten von fremden Menschen aus fernen Ländern zu erzählen, vielmehr seien eine präzise Wortwahl, klare Aussagen und explizite Schilde-

393 Ebd., 20 394 Ebd., 25 395 Gottowik 1997, 225 396 Geertz 1983a, 26

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rungen maßgeblich.397 Ziel einer gelungenen Interpretation sei es, daraus weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen und „vermöge einer präzisen Charakterisierung dieser Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext zu generellen Einschätzungen der Rolle von Kultur im Gefüge des kollektiven Lebens zu gelangen.“398 In ethnografischen Texten geht es um die Menschen, die diese beschreiben, nicht um die literarische Größe des Autors. Geertz betont, die Brillanz, Schönheit und Genialität eines ethnografischen Textes mag durchaus ihren Reiz haben, liefert aber etwas anderes als das, was sie eigentlich sollte, nämlich herauszufinden, worum es in spezifischen Verhaltensweisen eines Volkes geht.399 „Geertz does not give us a separate programmatic statement about how to tell better from worse interpretations. His approach, as in all such matters, is informed by his belief that one demonstrates the value of a theory by what it shows as about its subject, by its capacity to capture particularity as part of general propositions.“400

In diesem Prozess des Schreibens scheint es Geertz in erster Linie darum zu gehen, Dichte zu produzieren. Er tut dies nicht, wie sonst wissenschaftlich üblich, indem er Erklärungen, Ableitungen oder Klarstellungen vornimmt. Er will vielmehr durch die Zusammenschau unterschiedlichster Beobachtungen gleichsam eines additiven Verfahrens in den unterschiedlichsten Bereichen menschlicher Gesellschaften ein kohärentes Gesamtbild entwickeln.401 „Die Komplexität dieser Zusammenstellung wird etwa deutlich, wenn Geertz, um dem Leser ein Gefühl für die besondere Form der kulturellen Organisation der Personennamen in Bali zu 397 Als ich Geertz konkret nach seiner Methode fragte und wie ich Dichte produzieren könnte, erklärte er mir, er habe eigentlich nie so recht darüber nachgedacht, wie dicht seine Beschreibungen seien. Er deutete auf sein mit Feldnotizen voll gestopftes Regal und bemerkte, er wollte einfach die Menschen verstehen, wollte wissen, warum sie sich so und nicht anders verhielten. Wörtlich fuhr er fort: „There is not much I can tell you. There is no trick, no right way to do it.“ Einen Hinweis gab er mir doch: „Take advantage of your innocence – especially in the beginning when everything is new. Things are getting familiar after a while and you don’t see them anymore. Try to write down as much as you can – just suck it up, don’t worry too much.“ (Geertz 2006) 398 Geertz 1983a, 40 399 Ebd., 26 400 Shweder, Good 2005, 10 401 „Aus dem Gesagten, Gehandelten, den Geschichten, die Mitglieder einer Kultur über sich selbst erzählen, macht der Ethnograph eine neue, das unmittelbare Phänomen übergreifende Aussage. Anders gesagt: Er erzählt aus den Geschichten, die er wahrnimmt eine neue Version dieser Geschichten.“ (Fröhlich, Mörth 1998, 52)

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vermitteln, Eigennamen, Namen der Geburtenfolge, Verwandtschaftsbegriffe, Tekonyme, Statustitel und öffentliche Titel miteinander kombiniert, und dann in einem weiteren Schritt darauf die balinesischen Vorstellungen von Zeit projiziert, wie sie sich in den dort verwendeten unterschiedlichen Kalendersystemen bzw. in ihrem Zusammenspiel manifestieren. Der Text vermittelt so dem Leser den Eindruck, dass die verschiedenen Modi der symbolischen Strukturierung von Erfahrungen in Bali in komplexer Weise ineinander greifen, sich wiederholen und gegenseitig verstärken. Auf allen diesen sozialen Bühnen und Bedeutungsebenen wird immer dasselbe Schauspiel aufgeführt – nämlich das Ethos der balinesischen Kultur.“402

Ethnologische Interpretation ist der Versuch, den Bogen eines sozialen Diskurses nachzuzeichnen und ihn in einer nachvollziehbaren Form festzuhalten. Der Autor verleiht dem Moment des Geschehens somit Ewigkeitswert. Geertz erklärt: „Es gibt also drei Merkmale der ethnografischen Beschreibung: sie ist deutend; das, was sie deutet ist der Ablauf des sozialen Diskurses; und das Deuten besteht darin, das ‚Gesagte‘ eines solchen Diskurses dem vergänglichen Augenblick zu entreißen.“403 Auf die Frage, was ein Ethnograf tut, antwortet Geertz knapp: „Er schreibt nieder.“404 Unter Bezugnahme auf Paul Ricœur möchte Geertz jedoch nicht das Ereignis des Sprechens an sich, sondern vielmehr das beim Sprechen Gesagte, die intentionale Veräußerlichung oder die Bedeutung des Sprechereignisses, beschreiben. Mit der Niederschrift der dichten Beschreibung ist somit eine Situation festgehalten, aber der Prozess der Forschung noch lange nicht festgefahren oder gar abgeschlossen. Weitere Studien und Beobachtungen können auf vorhandenen Beschreibungen aufbauen, diese ergänzen und so für immer tiefere (dichtere) Einsicht, Klarheit und schlüssigere Interpretationen der facettenreichen Kultur sorgen. Die ethnografische Forschung ist nicht rein eine Sache der Beobachtung, sondern, wie bereits erwähnt, vor allem eine Sache der (ge- bzw. beschriebenen) Interpretation. Geertz bemerkt diesbezüglich, es handle sich dabei um Interpretationen zweiter oder dritter Ordnung, denn nur ein Eingeborener könne Informationen erster Ordnung liefern – es sei ja auch seine Kultur.405 „Dichte Beschreibungen sind Interpretationen von Interpretationen. Sie erzeugen Sinn von etwas, das Sinn erzeugt. [...] Wir nehmen nicht wahr, was die Informanten sind oder was sie wahrnehmen, sondern wir nehmen die Bedeutung wahr, die die Informanten ihrer Seinsweise geben. Auf dieser Basis konstruieren wir Geschichten über Geschichten.“406

402 Wolff 1992, 350 403 Geertz 1983a, 30 404 Ebd., 28 405 Ebd., 23 406 Fröhlich, Mörth 1998, 60

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Geertz betont, ethnografische Schriften seien Fiktionen, etwas Gemachtes oder künstlich Erzeugtes. Das bedeutet allerdings nicht automatisch, dass sie eine Verfälschung der Wirklichkeit darstellen oder einem Märchen gleich, unglaubwürdig seien. In der Anthropologie ginge es ja gerade darum, kulturelle Phänomene so gut wie möglich aus der Sicht der Eingeborenen zu beschreiben – und dazu bedürfe es der Imagination, die in Fiktionen ihren Ausdruck finden.407 Diese Fiktionen stehen wissenschaftlichen Fakten auch nicht konträr gegenüber, vielmehr bedarf es gerade der Imagination, um diesen Fakten näher zu kommen. Geertz schreibt von wissenschaftlicher Imagination, die es, wenn sie dicht in der Niederschrift zum Ausdruck kommt, uns mit dem Leben von Fremden in Berührung zu bringen vermag.408 In der dichten Beschreibung gehen wissenschaftliche und literarische Darstellungsweise Hand in Hand, sie stehen in einem Komplementärverhältnis. So betonen auch Mörth und Fröhlich: „Die Aufforderung, sich beim Verfassen ethnografischer Texte zwischen einer wissenschaftlichen und einer literarischen Darstellungsweise zu entscheiden, stellt den Ethnografen jedenfalls vor eine falsche Alternative, denn schließlich hat die Wirklichkeit – wie Geertz eher beiläufig bemerkt – keine Sprache in der sie beschrieben werden möchte.“409

Geertz betont bei der Schilderung seiner eigenen Rolle in der Diskussion um einen stimmigen Forschungsansatz immer versucht zu haben, dem Subjektivismus und dem Kabbalismus410 zu entgehen. Dabei sei er bei seiner deutenden Forschung eng und eindeutig bei konkreten Ereignissen in der Öffentlichkeit des Alltagslebens geblieben, habe diese stringent interpretiert und sich dabei davor gehütet, wissen-

407 Das Beharren auf der Überzeugung, für die Beschreibung einer fremden Gesellschaft keinen anderen Standpunkt wählen zu können, als den der Mitglieder dieser Gesellschaft, führt bei Geertz zu einer Position, die er selbst als „Anti Anti-Relativismus“ (2000, 42ff) bezeichnet. Dahinter steht der Versuch, eine Position zwischen Objektivismus und Relativismus zu beziehen. „The truth of the doctrine of cultural […] relativism is that we can never apprehend another people’s or another period’s imagination neatly, as though it were our own. The falsity of it is, that we can therefore never genuinely apprehend it at all. We can apprehend it well enough, at least as well as we apprehend anything else not properly ours.“ (Geertz 1983b, 44) 408 Geertz 1983a, 24 409 Fröhlich, Mörth 1998, 15 410 Kabbalismus (die Kabbala) stammt aus der jüdischen Tradition und bezeichnet ein geheimes, mystisches Wissen jüdischer Rabbis, mit welchem sie verborgene Bedeutungen des Alten Testamentes interpretieren konnten. Das Wort wird häufig im Zusammenhang mit transzendenten, metaphysischen und esoterischen Lehren benützt.

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schaftlicher Obskurität anheimzufallen.411 Genauso wenig wie Geertz an irgendwelche telepathischen Fähigkeiten und Intuitionen, verborgen im Innersten des Forschers, glaubt, denen man freien Lauf lassen müsse, um einzudringen in die Welt des Anderen, kann er sich mit operationalistisch-sterilen methodischen Mitteln in seiner Forschung anfreunden. Man könne Menschen nicht verstehen, ohne sie zu kennen, argumentiert er. Dies, so betont Geertz, erwarte eine Wissenschaft, die völlige Objektivität, strukturale Linguistik oder Computertechnik überbewerte  sogar fordere, dabei aber die Vielfalt des Menschseins auf Skalen, Daten und Fakten reduziere.412 1.4.2 Zur mikroskopischen Vorgehensweise und der Ablehnung „universeller Großideen“ Anstatt das Hauptaugenmerk in der Forschung auf möglichst einfache und universelle „Großideen“ zu richten, nähert sich der Ethnologe umfassenderen Interpretationen und abstrakteren Analysen von intensiven Bekanntschaften mit kleinen Sachen her. Geertz betont, ein weiteres wichtiges Kennzeichen seiner Art der Beschreibungen sei die mikroskopische Vorgehensweise.413 Dieser Bruch mit dem holistischen Erklärungsideal, so erwähnt Gottowik,414 sei wohl eine der wichtigsten Veränderungen in der Anthropologie, hervorgerufen durch den Geertz’schen Paradigmenwechsel in seiner interpretativen Methode der dichten Beschreibung. Die Analyse exemplarischer Einzeldiskurse auf lokaler Ebene (Rituale, Feste, Märkte, Bräuche, traditionelle Handlungen) steht im Mittelpunkt der Untersuchungen. In der ethnografischen Darstellung gibt es keine Hierarchie von Themen und Motiven. Zudem widersetzt sich die interpretative Anthropologie hartnäckig dem Anspruch, eine vollständige Beschreibung vorlegen zu wollen, noch dem Ideal zu entsprechen, eine abschließende Analyse der betreffenden Kultur leisten zu können. „Geertz verwehrt sich gegen grob vereinfachende, schematisierende ‚Großideen‘, zeigt unbedingte Aufmerksamkeit für das Detail und Lust an Komplexität und Differenzierung. Erklärung sei nicht einfache ‚Reduktion von Komplexität‘ (vgl. Luhmann), sondern bestehe oftmals darin, ‚komplizierte Bilder an die Stelle von einfacheren zu setzen‘.“415

411 Geertz 1983a, 42 412 Ebd., 43 413 Ebd., 30 414 Gottowik 1997, 265. Einige Anthropologen (Boskovik 2002, Scholte 1986, Fabian 1990) sahen in der Geertz’schen Ablehnung moderner Großideen, die umfassend alles zu erklären versuchten, den Beginn der postmodernen Ära in der Ethnologie. 415 Fröhlich, Mörth 1998, 15

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Geertz spricht in diesem Zusammenhang auch von „ethnografischen Miniaturen“, mit denen schöpferisch und kreativ gearbeitet werden soll und weist zugleich auf die methodologischen Schwierigkeiten hin, die in der mikroskopischen Beschaffenheit ethnologischer Forschung beruhen. Denn wie, so fragt sich Geertz, komme man von „ethnografischen Miniaturen“ zu „wandfüllenden Kulturgemälden“?416 Weder die Herangehensweise, einen kleinen Ort als „Fall für die Allgemeinheit“, noch die einer Laborsituation wie etwa: „Wir untersuchen diese Insel als Testfall für…“, beides gängige Methoden der Sozialforschung, scheinen hier Erfolg versprechend zu sein. Geertz warnt sogar vor verdächtig einfachen Verallgemeinerungen, welche die Komplexität von Kultur auf der einen Seite reduzieren und auf der anderen relativieren können: „Das Wichtigste an den Ergebnissen des Ethnologen ist ihre komplexe Besonderheit, ihre Umständlichkeit. Es ist diese Art Material – in ausgiebiger, meist qualitativer, größtenteils teilnehmender und geradezu leidenschaftlich akribischer Feldforschung beigebracht –, das den gigantischen Begriffen, mit denen es die heutige Sozialwissenschaft zu tun hat [...] jene Feinfühligkeit und Aktualität verleihen kann, die man braucht, wenn man nicht nur realistisch und konkret über diese Begriffe, sondern – wichtiger noch – schöpferisch und einfallsreich mit ihnen denken will.“417 [Hervorhebungen im Original]

Das methodologische Problem, das die mikroskopische Beschaffenheit der interpretativen Anthropologie stellt, sollte den Ethnologen jedoch keinesfalls kapitulieren lassen.418 Auch die Tatsache, dass angesichts der enormen Komplexität menschlicher Seinsweisen immer Fragen offen bleiben, darüber hinaus keine endgültige, umfassende Erklärung abgegeben werden kann, soll kein Grund sein, aufzugeben. Denn, so Geertz, „es ist nicht nötig, alles zu wissen, um etwas zu verstehen.“419 Verallgemeinerungen sind nicht generell schlecht. Man müsse sich nur verdeutlichen, so Geertz, dass soziale Handlungen wesentlich mehr als nur sich selbst kommentieren und „dass die Herkunft einer Interpretation noch nichts über ihre Konsequenzen aussagt.“420 Die Allgemeinheit der Theorie in der dichten Beschreibung resultiert aus „der Genauigkeit der Einzelbeschreibungen, nicht dem Höhenflug

416 Geertz 1983a, 31 417 Geertz 1983a, 33-34 418 Im Interview mit Gary Olson (1991) erklärte Geertz bestimmt und ohne Umschweife, wer sich überwältigt sieht von der Vielfältigkeit der menschlichen Ausdrucksformen, mit der sich die Anthropologie befasst, sollte zu anderen Wissenschaften, etwa der Chemie wechseln. 419 Geertz 1983a, 29 420 Ebd., 34

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ihrer Abstraktion“421. Insofern möchte Geertz das fremde Universum symbolischen Handelns verstehen, sich auf mikroskopische Details einlassen und zugleich aus einer gewissen Distanz oder Metaperspektive heraus, die Beobachtungen umfassend analysieren. Aus diesem Hin und Her zwischen Ausschnitt und Überblick, zwischen Detail und Ganzheit, so stellt Geertz heraus, ergibt sich die besondere Weise, in der Erkenntnisse über eine andere Kultur wachsen: ruckartig. 422 Abschließende Thesen mit der Behauptung von allgemeiner Gültigkeit aufstellen zu wollen, sei in der Anthropologie völlig fehl am Platze und würde der Vielfalt der Menschen und Kulturen nicht gerecht werden. Geertz betont vielmehr: „What we need, it seems are not enormous ideas, nor the abandonment of synthesizing notions altogether. What we need are ways of thinking that are responsive to particularities, to individualities, oddities, discontinuities, contrasts, and singularities, responsive to what Charles Taylor has called ,deep diversity‘, a plurality of ways of belonging and being, and that yet can draw from them – from it – a sense of connectedness, a connectedness that is neither comprehensive nor uniform, primal nor changeless, but nonetheless real.“423

1.4.3 Zur Unabgeschlossenheit der Erkenntnisse Die Arbeit des Anthropologen lehrt Demut. Nicht nur, dass eindeutige, großartige Theorien über diese oder jene Kultur unglaubwürdig erscheinen, alle Sätze, die mit „Jede Gesellschaft hat oder ist…“ beginnen, aussagenlos und banal sind,424 darüber hinaus muss jede Erkenntnis über die betreffende Kultur jeden Moment revidiert werden können. Die Untersuchung von Kultur kann nie den Anspruch auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit erheben. Dichte Beschreibungen kommen nicht zu Ende, weil eine Erkenntnis, nach der so lange gesucht wurde, endlich klar vor Augen steht. Sie sind vielmehr dann noch unabgeschlossen, wenn ein Punkt gesetzt wurde. Denn, so Geertz: „Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig. Und mehr noch, je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie. Es ist eine eigenartige Wissenschaft: gerade ihre eindruckvollsten Erklärungen stehen auf dem unsichersten Grund, und der Versuch, mit dem

421 Ebd., 35 422 Ebd., 36. In 3.2.4.2 wird detailliert auf die ruckartige Form der Erkenntnisgewinnung eingegangen. 423 Geertz 2000a, 224 424 Ebd., 135

104 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS vorhandenen Material weiter zu gelangen, führt nur dazu, dass der – eigene und fremde – Verdacht, man habe es nicht recht im Griff, immer stärker wird.“425

Zum einen erweist sich die interpretative Forschung unvollständig, da zunächst ein Interpret beziehungsweise Autor am Werk ist und somit nur eine Perspektive von vielen möglichen zum Ausdruck kommt. Außerdem stellen ethnologische Schriften bereits Interpretationen zweiter oder dritter Ordnung dar,426 und es ist durchaus möglich, dass zwei Menschen der gleichen Kultur denselben Zusammenhang bereits unterschiedlich interpretieren. „Verstehen ist immer Auslegung“427, stellt Hans-Georg Gadamer heraus. Zum anderen erkennt der Forscher immer nur Teilaspekte einer Kultur auf dem Hintergrund der eigenen Herkunft und der eigenen Identität. Jede Erkenntnis und jede Interpretation wirft neue Fragen auf und lässt einstige Erkenntnisse in einem neuen Licht erscheinen. Dabei lassen sich überzeugende ergebnishafte Formulierungen nicht finden. Zudem unterliegen Kulturen ständigen Veränderungsprozessen und damit auch die Symbole, die diesen bedeutungsstiftenden Kontexten innewohnen. Der Anthropologe sieht sich also mit dem Problem konfrontiert, dass er keine stabile Referenzbeziehung zwischen Symbol und Bedeutung voraussetzen kann. Alle Interpretationen sind somit unvollständig und damit in gewisser Weise immer nur vorläufig. Geertz problematisiert: „Eine fremde Kultur als Gegenstand der ethnografischen Auslegung ist nun jedoch keine geschlossene Einheit in dem Sinne, wie von einem abgeschlossenen Text gesprochen werden kann, dessen Lektüre mit dem Lesen des letzten Satzes zu ihrem Ende gelangte; Kultur wäre eher – um im Bild zu bleiben – mit einem offenen Buch zu vergleichen, dem im Laufe der Zeit immer wieder neue Kapitel hinzugefügt werden.“428

Geertz erwähnt, dass viele Auswege aus diesem Dilemma gesucht wurden: Erkenntnisse wurden gesammelt, eingeordnet, gezählt oder klassifiziert, anschließend einander gegenübergestellt und verglichen. Dies alles entspricht nicht der hier diskutierten Forschung. Paradoxerweise – und deshalb, so Geertz, umso anfechtbarer – besteht der Fortschritt der deutenden Ethnologie eben nicht in Klassifizierungen, Einteilungen oder in der Darstellung allgemeingültiger Fakten, sondern in immer komplexeren Diskussionen verschiedenster Interpreten über die unterschied-

425 Geertz 1983a, 41 426 Ebd., 23 427 Gadamer 1975, 291 428 Geertz 1983a, 42

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lichsten Beobachtungen.429 „Ethnologie, zumindest die deutende Ethnologie, ist eine Wissenschaft, deren Fortschritt sich weniger in einem größeren Konsens, als in immer ausgefeilteren Debatten zeigt. Was sich entwickelt, ist die Präzision, mit der wir einander ärgern.“430 Es geht nicht darum, Daten zu sammeln und einem Puzzle gleich, aneinanderzufügen, um ein eindeutiges Bild zu erstellen – dies ist auch gar nicht möglich. Hauptaugenmerk liegt darin, der Unabgeschlossenheit mit Diversität in der Debatte auf der Suche nach Wahrheit zu begegnen. Oder, wie Geertz es formuliert, wir müssen lernen, stückweise zu begreifen, was wir nicht umfassend erklären können.431 „Die eigentliche Aufgabe der deutenden Ethnologie ist es nicht, unsere tiefsten Fragen zu beantworten, sondern uns mit anderen Antworten vertraut zu machen, die andere Menschen [...] gefunden haben, und diese Antworten in das jedermann zugängliche Archiv menschlicher Äußerungen aufzunehmen.“432 Fred Inglis fasst das Gesagte wie folgt zusammen: „Cultural analysis is always incomplete. The best we can do is to enlarge the hermeneutic circle by way of making our interpretations not bigger in area so much as more comprehensive, taking in more, being more persuasive. As we have been told, we do not have to understand everything in order to understand anything, and a conclusive finale in the analysis of a corner of cultural life is rarely convincing, whatever kind of fiction is in front of us. Only kitsch concludes completely. That is one reason why it is kitsch.“433 [Hervorhebungen im Original]

429 In Available Light schreibt Geertz (2000a) über die Schwierigkeit, aber auch die Chancen in einer Welt voller Vielfalt zu leben: „To live in a collage one must in the first place render oneself capable of sorting out its elements, determining what they are (which usually involves determining where they come from and what they amounted to when they were there) and how, practically, they relate to one another, without at the same time blurring one’s own sense of one’s own location and one’s own identity within it. […] We must learn to grasp what we cannot embrace.“ (87) 430 Geertz 1983a, 42 431 Geertz 2000a, 87 432 Geertz 1983a, 43 433 Inglis 2000, 116

2 Anwendung der Geertz’schen Methode: Dichte Beschreibung der indigenen Völker in den Nordwest Territorien Kanadas

2.1 D ER R AHMEN : Z UR G EOGRAFIE , P OLITIK UND G ESCHICHTE K ANADAS UNTER BESONDERER B ERÜCKSICHTIGUNG DER ARKTIS It is a strength and not a weakness that we are a permanently incomplete experiment built on a triangular foundation – aboriginal, francophone and anglophone. What we continue to create today began 450 years ago as a political project, when the French first met with the Aboriginal people. It is an old experiment, complex and, in worldly terms, largely successful. Stumbling through darkness and racing through light, we have persisted in the creation of a Canadian civilization.1 HER EXCELLENCY THE RIGHT HONOURABLE ADRIENNE CLARKSON

Um die dichten Beschreibungen und die Analyse von diesen einordnen und verstehen zu können, bedarf es der Kenntnis einiger geografischer, politischer und geschichtlicher Fakten des Landes und der Nation Kanadas. Deshalb sollen zunächst Kanadas geografische Besonderheiten, die politische Struktur, die Geschichte des jungen Staates und vor allem die Rolle der Ureinwohner als eine Art Rahmen für die nachfolgenden Beschreibungen dargestellt werden.

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Clarkson, in: Government of Canada 2004a

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2.1.1 Lage, Geografie, Klima und politisches System Kanadas Mit einer Gesamtfläche von rund 9.984.670 Quadratkilometern zeichnet sich Kanada nach Russland als das zweitgrößte Land der Erde aus. Es nimmt rund die Hälfte des nordamerikanischen Kontinents ein. Von der Westküste British Columbias (Victoria) bis zur Ostküste in Neufundland (St. Johns) muss der Reisende über siebentausend Kilometer und sechs Zeitzonen überwinden. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind der einzige direkt angrenzende Nachbar im Süden. Die weiteren Nachbarn, Grönland im Norden und Russland im Westen, sind durch Meere von Kanada getrennt. Verschiedene Klimazonen treffen in Kanada aufeinander und prägen das Landschaftsbild. Von dicht bewaldeten Landstrichen an der Pazifikküste, über karge Prärieregionen, hin zu seenreichen Flächen auf dem kanadischen Schild und ewigem Eis in der Arktis, hat Kanada alles zu bieten. Von trockenen Halbwüsten zu Regenwäldern zeigt sich das Land in seinen Extremen. Im Sommer brennt die Sonne in der Prärie heiß vom Himmel, zugleich kann es im Winter bitterkalt werden. Die höchste Erhebung stellt der Mt. Logan im Yukon mit seinen 5,959 Metern Höhe dar. Drei Meere grenzen an das Land: der Arktische Ozean (Beaufort Sea) im Norden, der Pazifik im Westen und der Atlantik im Osten. Mit diesen natürlichen Grenzen kommt das kanadische Festland auf die weltweit längste Küstenlinie von insgesamt 202.080 Kilometern.2 Sechzig Prozent der Gesamtseenfläche der Welt befindet sich allein in Kanada. Damit gilt Kanada als eines der größten Trinkwasserreservoirs der Erde. Das Land nördlich des 49. Breitengrades ist darüber hinaus reich an Bodenschätzen. Einst kamen Goldgräber auf ihrer Suche nach dem großen Reichtum, heute bohren Großkonzerne auf der Suche nach Erdöl und Erdgas tief ins Erdreich, Öl wird aus Ölsand gewonnen. Daneben gibt es Diamantenminen, Uranabbau, Kupfer-, Blei-, Magnesium- und Silberminen. Die Bevölkerungsdichte Kanadas beträgt nur 3,5 Menschen pro Quadratkilometer. Damit ist es eines der am wenigsten besiedelten Länder der Welt. Die Vereinten Nationen haben Kanada in den letzten Jahren als eines der Länder mit dem höchsten Lebenswert der Welt eingestuft.3 Nicht zuletzt deshalb ist Kanada beliebtes Einwanderungsland, das jährlich viele Menschen aufnimmt. „Approximately 200,000

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Botschaft von Kanada 2004, para 2

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Seit 1990 veröffentlichen die Vereinten Nationen ihren Human Development Index, der die Lebensqualität in den einzelnen Ländern der Welt bewertet. Es geht dabei nicht nur um ökonomische Werte. Kriterien sind vielmehr die Lebenserwartung der Einwohner und der Bildungsstandard. Von 1996 bis 2000 stand Kanada auf Platz eins der Liste, wurde dann allerdings von Norwegen überholt.

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immigrants a year from all parts of the globe continue to choose Canada, drawn by its quality of life and its reputation as an open, peaceful and caring society that welcomes newcomers and values diversity.“4 Seit 1901 bot Kanada 13,4 Millionen Menschen ein neues Zuhause. Die Bevölkerung zeigt sich dementsprechend bunt, und jede neue Einwanderungswelle prägt die kulturelle und ethnische Zusammenstellung, das soziale Gefüge der Nation. 5 Vor 50 Jahren kam die Mehrheit der Einwanderer aus Europa, heutzutage stammen die meisten Antragsteller aus Asien.6 Die offiziellen Landessprachen Kanadas sind Englisch und Französisch. Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 31 Millionen Menschen sind 976.305 davon Menschen indigener Völker (Volkszählung von 2001). Die Tendenz ist steigend: „New data from the 2001 Census shows that the Aboriginal people’s share of Canada’s total population is on the rise. Just over 1.3 million people reported having at least some Aboriginal ancestry in 2001, representing 4.4 % of the total population. In 1996, people with Aboriginal ancestry represented 3.8 % of the total population.“7

Obwohl beinahe die Hälfte der indigenen Menschen numerisch gesehen in den großen Ballungsräumen Ontarios und British Columbias leben, findet sich die höchste Konzentration von Ureinwohnervölkern in den Prärieprovinzen Saskatchewan, Manitoba und im Norden, in Nunavut und den Nordwest Territorien. „The 22,720 Aboriginal people in Nunavut represented 85% of the territory’s total population, the highest concentration in the country. Aboriginal people represented more than one-half (51%) of the population of the Northwest Territories, and almost one-quarter (23%) of the population of the Yukon. The census enumerated 150,040 Aboriginal people in Manitoba and 130,190 in Saskatchewan, in each case about 14% of the province’s population.“8

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Government of Canada 2004b

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Bei einer Gesamtanzahl von rund dreißig Millionen in Kanada lebenden Menschen sind 11,682,680 Kanadier, 5,978,875 Engländer, 4,668,410 Franzosen, 4,157,210 Schotten; danach folgen Iren, Deutsche (2,742,765), Chinesen, Italiener, Ukrainer und weitere Einwanderer. Am 23.02.07 betrug die geschätzte Gesamtanzahl der in Kanada lebenden Menschen laut Statistics Canada 32,836,559 Menschen. (Statistics Canada 2005a)

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Government of Canada 2005

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Statistics Canada 2005b

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Statistics Canada 2005c

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Die Volkszählung von 2006 ergab, dass zum ersten Mal in der Geschichte Kanadas die Population der drei Territorien des Nordens die Marke von 100.000 Einwohnern überstieg.9 Das Ringen um eine Einheit in der Vielheit durchzieht die kanadische Geschichte und prägt seine sozio-kulturelle, politische und ökonomische Struktur. Dies kommt vor allem in der distinkt kanadischen politischen Philosophie des Multikulturalismus10 zum Ausdruck. Der Multikulturalismus erlaubt es den Bürgern des Landes, eigene kulturelle Prägungen und Präferenzen beibehalten zu können und diese in die Gesamtheit der Bevölkerung zu integrieren. Es geht im kanadischen Multikulturalismus nicht darum, wie in einem Schmelztiegel eine Einheitskultur des kleinsten gemeinsamen Nenners zu produzieren, sondern vielmehr darum, einem ethnischen Mosaik gleich, die Einheit in der Vielheit bzw. eine Vielheit in der Einheit zu fördern.11 Dabei stehen Respekt und Akzeptanz des Andersartigen und die Gleichberechtigung aller Bürger, egal welcher Herkunft, im Mittelpunkt. Multikulturalismus ist mehr als reine Theorie. Er ist Ausdruck der Beziehung zwischen Kanada und seinen Bürgern. Das Recht auf die Entfaltung eigener Präferenzen steht der Pflicht der Integration und Mitgestaltung des sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Lebens gegenüber. Die kanadische Verfassung, das Rechtssystem und die offiziellen Sprachen müssen von allen Bürgern gleichermaßen geachtet werden. Im Gegenzug dazu behandelt das Gesetz aber auch alle gleich. Mit seinem Multikulturalismusgesetz könnte Kanada unter Umständen Vorreiterrolle darstellen für mögliche Rechts- und Staatsformen in einer immer globali9

„With a population of 41,464 in the 2006 Census, the Northwest Territories is the most populous of the three. Yukon Territory and Nunavut were very close in population size, with 30,372 and 29,474 respectively.“ (Statistics Canada 2007)

10 1971 stellte Premierminister Pierre Trudeau das Konzept des „Multikulturalismus in einem zweisprachigen Rahmen“ als politische Grundsatztheorie und zentrale Leitlinie künftiger kanadischer Politik vor. 1985 wurde der Multikulturalismus als Grundrecht in der kanadischen Verfassung verankert und 1988 im „Multikulturalismusgesetz“ rechtlich konkretisiert. Darin wurden ganz besonders auch die Rechte der Ureinwohner betont und die Zweisprachigkeit des Landes bestätigt. „It is hereby declared to be the policy of the Government of Canada to foster the recognition and appreciation of the diverse cultures of Canadian society and promote the reflection and the evolving expressions of those cultures.“ (Government of Canada 2004c) 11 Kanada will sich mit seinem Konzept des Multikulturalismus bewusst und nachdrücklich vom „Schmelztiegel“-Ideal der Vereinigten Staaten von Amerika abgrenzen: Die Vielfalt der Kulturen soll nicht in einem „melting pot“ zu einem Einheitsbrei verschmolzen werden, sondern jede ethno-kulturelle Gruppe darf, wie bunte Steinchen eines Mosaiks, ihre je spezifische Identität erhalten.

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sierteren Welt12, so erklärte Jean Chretien, ehemaliger Ministerpräsident Kanadas (1993-2003): „Canada has become a post-national, multicultural society. It contains the globe within its borders, and Canadians have learned that their tow international languages and their diversity are a comparative advantage and a source of continuing creativity an innovation. Canadians are, by virtue of history and necessity, open to the world.“13

Politisch gesehen ist die ehemalige britische Kolonie Kanada eine konstitutionelle Monarchie mit parlamentarischer Demokratie. Das Land gehört dem Britischen Commonwealth an. Die britische Monarchin, derzeit Königin Elisabeth II., ist Staatsoberhaupt von Kanada. Sie ernennt auf Vorschlag des Premierministers einen Vertreter für sie auf kanadischem Boden, der für fünf Jahre sein Amt bekleidet. Diese Position des Generalgouverneurs hat vornehmlich repräsentativen Charakter. Kanada besteht aus zehn Provinzen14 und drei Territorien15. Die Provinzen stellen föderale Gliederstaaten des kanadischen Bundesstaates dar, die Territorien unterstehen direkt der Bundesregierung. Es bestehen zwei Regierungsebenen: die Landes-, die Bundesregierung, bzw. drei Regierungsebenen, betrachtet man die als eigenständig anerkannte Selbstverwaltung der indigenen Völker Kanadas (Aboriginal Self-government) als eine weitere. Der Premierminister (Bundesregierung in der Hauptstadt Ottawa) verfügt über weitgehende Befugnisse auf Bundesebene. Er ist zuständig für Außenpolitik, Verteidigung, Handel, Geldwesen, Verkehr und Post sowie für die Aufsicht über die Administration der drei bundesabhängigen Nordterritorien Yukon, Nordwest Territorien und Nunavut. Die einzelnen Provinzen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Eigenständigkeit gegenüber der kanadischen Bundesregierung aus. Diese bewusste Dezentralisierung ist hinsichtlich der Größe des Landes und der Unterschiedlichkeit der sich darin wiederfindenden Kulturen sinnvoll, um der Unterschiedlichkeit der Menschen und Kulturen gerecht werden zu können. Es bestehen bekanntlich vor allem zwischen dem frankophonen Teil Kanadas, Quebec, dem anglophonen Rest des Landes und den verschiedenen Ureinwohnergruppen große kulturelle Unterschiede. Kanadas Ureinwohnernationen zeichnen sich ebenfalls durch bunte kulturelle Vielfalt aus. Sie wohnen über den ganzen Kontinent verteilt, und deren Kulturen 12 So macht sich beispielsweise auch Rainer Geißler in seinem Aufsatz Multikulturalismus in Kanada – ein Modell für Deutschland? Gedenken darüber, ob das kanadische Konzept nicht auch ein Programm für Deutschland sein könnte. (Geißler 2003) 13 Chretien, in: Government of Canada 2004b 14 Alberta, British Columbia, Manitoba, New Brunswick, Nova Scotia, Ontario, Québec, Prince Edward Island, Saskatchewan, Newfoundland & Labrador. 15 Northwest Territories, Nunavut, Yukon.

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und Traditionen entwickelten sich je nach regionalen Gegebenheiten völlig verschieden. Heute unterscheidet man drei Gruppen indigener (oder autochthoner) Völker: die First Nations (früher „Indianer“ genannt), die Inuit (früher „Eskimos“ genannt) und die Métis, Nachfahren von Siedlern und Pelzhändlern, die mit First Nations Frauen Verbindungen eingegangen waren.16 Seit 1995 versucht die kanadische Regierung verstärkt die Selbstverwaltung seiner indigenen Völker wieder zu implementieren, 17 die im Zuge der Kolonialisierung des Landes weitgehend verlustig ging. Diese Umsetzung des Aboriginal Selfgovernment ist durchaus vergleichbar mit der Anerkennung einer dritten Regierungsebene neben den Bundes- und Länderregierungen, obwohl als solche nicht eindeutig verfassungsrechtlich verankert. 18 Deutlichstes Symbol dieser Anerkennung der Selbstverwaltung dürfte wohl das 1999 geschaffene Territorium Nunavut (ehemals Teil der Nordwest Territorien) sein, das die Inuit weitgehend eigenständig verwalten. Im Gegensatz zu den unabhängigeren Provinzen unterstehen die drei Territorien Kanadas direkt der Bundesregierung und sind beispielsweise nicht bemächtigt, ihre Verfassung eigenständig zu verändern oder Landstücke zu verkaufen.

16 Es ist nicht ganz einfach, die richtige Begrifflichkeit für die indigenen Völker Kanadas zu finden, die sowohl politisch als auch sachlich korrekt ist. „Indianer“ (Indian) wird auf die Verwechslung Christopher Columbus’ zurückgeführt, der bei seiner Landung in Amerika irrtümlich dachte, er sei in Indien gelandet und in Folge dessen, die Menschen, die er dort antraf „Indians“ nannte. Nachdem jedem Volk das Recht zugestanden werden soll, sich selbst zu benennen, ist der gängige Begriff in Kanada für seine Ureinwohner First Nations, manchmal auch Native oder First People, wie diese sich selbst bezeichnen. Der Begriff Aboriginals schließt auch die Inuit und Métis mit ein, die sich selbst nicht als First Nations bezeichnen. „The term Aboriginal peoples refers to organic political and cultural entities that stem historically from the original peoples of North America, rather than collections of individuals united by so-called ‚racial‘ characteristics. The term includes the Indian, Inuit and Métis peoples of Canada.“ (Indian and Northern Affairs 2008b). Da ich den deutschen Begriff „Ureinwohner“ als unbefriedigend empfinde, werde ich in der Folge meiner Ausführungen auch englische Begrifflichkeiten verwenden. 17 1995 veröffentlichte die kanadische Regierung den Federal Policy Guide on Aboriginal Self Government, „which marks a fundamental change in how the federal government will work together with Aboriginal peoples in the future.“ (Indian and Northern Affairs 2008a). Darin wird den indigenen Völkern Kanadas das Recht auf Selbstverwaltung ausdrücklich zugestanden. 18 Die Geschichte und derzeitige Situation der indigenen Selbstverwaltung in Kanada ist hoch komplex und widersprüchlich. Konkreter wird davon später noch die Rede sein.

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„The two major differences between the legislative powers of Territories and that of provinces are the power of the provinces to amend their constitutions and control the management and sale of public lands. The Constitution Act of 1982 granted each province the power to amend its own constitution. The constitution of the Northwest Territories is the Northwest Territories Act, which is a federal statute. Therefore, only the Parliament of Canada has the right to amend the provisions of the Act, and amend the constitution of the Northwest Territories.“19

Die Abgeordneten der Regierung der Nordwestterritorien gehören keiner Partei an, wie etwa Politiker der Provinzen. Sie werden in den jeweiligen Regierungsbezirken direkt als unabhängige Kandidaten in die Territorialregierung gewählt (consensus system of government vs. system of party politics). Dies ermöglicht es den Mitgliedern des Legislative Assembly, kurz auch MLAs genannt, unabhängig Entscheidungen zu treffen und darüber in Wahlen abzustimmen. Einstimmigkeit ist dabei nicht notwendig, eine einfache Mehrheit gewinnt die Wahl. Die Regierung der Nordwest Territorien argumentiert, das Konsensus-Regierungssystem entspräche eher traditionell-indigenen Formen politischer Entscheidungsfindung als das Parteiensystem. 20 2.1.2 Die Rolle und Situation der Ureinwohner in Kanada einst und jetzt I was warmed by the sun, rocked by the winds and sheltered by the trees as other Indian babes. I was living peaceably when people began to speak bad of me. Now I can eat well, sleep well and be glad. I can go everywhere with a good feeling. GERONIMO

Die derzeit wohl bedeutsamste und ergiebigste Literatur zur Geschichte der Beziehung von Aboriginals und non-Aboriginals (der „Weißen“21) in Kanada befindet

19 Legislative Assembly of the Northwest Territories 2004a 20 Legislative Assembly of the Northwest Territories 2004b 21 Obwohl die Begrifflichkeit der „Weißen“ in relevanter Literatur häufig und oft ohne Vorbehalte benutzt wird, empfinde ich ihn als problematisch. Ich werde ihn darum zu vermeiden versuchen. Weißsein scheint weniger die reine Bezugnahme auf eine neutrale Hautfarbe, sondern ein sich in der Geschichte entwickeltes Konzept oder ein Programm spezifischer Seinsweise zu sein. Das Konzept des Weißseins entstand in jahrhundertelanger Geschichte von europäischer Expansion, Kolonialismus und Sklaverei. Es ist ein eurozentrischer Entwurf der Abgrenzung, der Über- bzw. Unterordnung: Weiß die Tugend,

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sich im abschließenden Bericht der Royal Commission on Aboriginal People.22 Auftrag der von der Regierung in den 90er Jahren zusammengestellten Kommission war, einen Bericht über die Geschichte des Verhältnisses von First Nations, Inuit, Méti und der kanadischen Regierung bzw. der anglo- und frankokanadischen Gesellschaft als Ganzes abzulegen. Die Unternehmung sollte ein gemeinsames Projekt darstellen und nicht wieder einseitig koloniale Bilanz ziehen. Menschen indigener Herkunft sollte der Raum gegeben werden, ihre Sorgen und Nöte offen zum Ausdruck zu bringen. Die Verletzungen und aktuellen sozialen Probleme sollten als Folge von Kolonialpolitik und gewaltvollen Eingliederungsversuchen anerkannt werden: „It was to help restore justice to the relationship between Aboriginal and non-Aboriginal people in Canada, and to propose practical solutions to stubborn problems, that the Royal Commission on Aboriginal Peoples was established. In 1991, four Aboriginal and three nonAboriginal commissioners were appointed to investigate the issues and advise the government on their findings.“23

Somit machten sich 1991 Aboriginal und non-Aboriginal Forscher bei ihrer gemeinsamen Rekonstruktion der Geschichte auf die Suche nach adäquaten Lösungsansätzen, um die Beziehung der kanadischen Regierung mit seinen indigenen Völkern zu verbessern und gegenseitiges Verstehen zu befördern. Man ging davon aus, dass erst durch ein besseres Verständnis der Geschichte gewinnbringende Maßnahmen für eine positive gemeinsame Zukunft eruiert werden könnten. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass das Verständnis von Geschichte als solche in beiden Kulturen völlig verschieden ist: Die westliche Tradition bringt ein lineaSchwarz die Anti-Tugend oder das Laster. Die Definitionsgewalt liegt bei den Weißen. Weißsein erzeugt das Andere, entzieht sich aber selbst der Definition durch Andere. In Kanada lässt sich ein übergeordneter Begriff für alle nicht-indigenen Menschen schwer finden, denn als Einwanderungsland beheimatet es Menschen unterschiedlichster Ethnien und Kulturen. 22 Der Bericht der Royal Commission enthält in fünf Teilen einen Reichtum an Informationen, Analysen, Handlungspläne und Empfehlungen zur problembelasteten Beziehung von Aboriginals und der kanadischen Regierung bzw. der restlichen Bevölkerung Kanadas: „The Commission’s report is an account… …of the relationship between Aboriginal and non-Aboriginal people that is a central facet of Canada’s heritage. …of the distortion of that relationship over time. …of the terrible consequences of distortion for Aboriginal people – loss of lands, power and self-respect.“ (Indian and Northern Affairs 2004a) 23 Indian and Northern Affairs 2004a, para2

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res Verständnis von Geschichte (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), von Fortschritt und Evolution mit sich, welches ein Gefühl von Distanz zu geschichtlichen Ereignissen hervorruft. Aboriginals dagegen beschreiben Zeit kreisförmig. Alte Geschichten werden von einer Generation zur nächsten weitergetragen und sind relevant und wichtig für jede. Geschichte ist nicht vergangen oder abgeschlossen, sondern in Geschichten gehüllt, ständig präsent. In ihrem abschließenden Bericht stellten die Beauftragten der Kommission somit das Verhältnis zwischen Aboriginal und non-Aboriginal Menschen im Laufe der kanadischen Geschichte in vier unterschiedlichen Entwicklungsstufen dar, die sowohl linear als auch kreisförmig Sinn machen. Diese historische Rahmenhandlung in vier Entwicklungsstufen soll auch hier als roter Faden zur Rekonstruktion der Geschichte dienen: „1. There was a time when Aboriginal and non-Aboriginal people lived on separate continents and knew nothing of one another. 2. Following the years of first contact, fragile relations of peace, friendship and rough equality were given the force of law in treaties. 3. Then power tilted toward non-Aboriginal people and governments. They moved Aboriginal people off much of their land and took steps to ,civilize‘ and teach them European ways. 4. Finally, we reached the present stage – a time of recovery for Aboriginal people and cultures, a time for critical review of our relationship, and a time for its renegotiation and renewal.“24

2.1.2.1 Getrennte Welten Die erste Phase vor 1500 beschreibt eine Zeit räumlicher Trennung von Ureinwohnern auf dem amerikanischen Kontinent25 und distinkten Gesellschaften in Europa. Auf beiden Seiten entwickelte sich eine bunte Vielfalt von Kulturen mit je eigenen Traditionen, spirituellen Vorstellungen, Rechts- und Regierungssystemen. „From an Aboriginal philosophical perspective, the separation between the two distinct worlds could also be expressed as having been established by the acts of creation. Accordingly, the Creator gave each people its distinct place and role to perform in the harmonious operation of nature and in a manner and under circumstances appropriate to each people.“26

Stärker als in Europa entfalteten sich die verschiedenen Kulturen auf dem amerikanischen Kontinent im Zusammenhang mit der Umwelt, der geografischen Lage, in 24 Indian and Northern Affairs 2004b, The Ghosts of History 25 Zwar ist die genaue Rekonstruktion der ersten Besiedlung Amerikas umstritten, gehen doch Archäologen und andere Wissenschaftler davon aus, dass der amerikanische Kontinent im Zeitraum von 28.000 v. Chr. und 9.000 v. Chr. in mehreren Einwanderungswellen besiedelt worden ist. Die am häufigsten erwähnte Route führte über eine Landbrücke von Sibirien über die Beringsee nach Alaska und von dort weiter nach Süden. 26 Indian and Northern Affairs 2006a, 2.1 Stage 1: Separate Worlds

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der sie zu Hause waren. So entwickelten zum Beispiel die indianischen Völker an der Westküste völlig andere Rituale und Jagdstrategien wie ihre angrenzenden Nachbarn in den Rocky Mountains oder noch weiter östlich in der Prärie  je nach den unterschiedlichen Gegebenheiten der Jagdgründe. Die einzigartigen Überlebenskünste der Inuit in der Eiswüste der Arktis faszinieren und erstaunen die Menschen überall auf der Welt. Amerika war demnach alles andere als ein herrenloses, unentwickeltes „Niemandsland“ (terra nullius) ohne zivilisierte Kultur und Tradition, das es zu kolonialisieren galt. Dies aber war die vorherrschende Meinung und Rechtfertigung europäischer Machthaber für die Landnahme und Unterwerfung der First People auf dem neuen Kontinent. 2.1.2.2 Erster Kontakt, Verträge und Kooperation Obgleich es wohl schon von 1400 bis etwa 1340 vereinzelte Kontakte mit amerikanischen Ureinwohnern und Wikingern gab, die von Island und Grönland im heutigen Neufundland landeten (archäologisch nachzuweisen und in alten Sagen der Inuit zu finden), spricht man erst ab 1500 von ausgiebigen Kontakten zwischen Europäern und Ureinwohnerstämmen Amerikas. Diese ersten vorsichtigen Annäherungen, gekennzeichnet von gegenseitiger Neugier und Offenheit, charakterisieren den Beginn der zweiten Phase in der Beziehungsgeschichte von Aboriginal und non-Aboriginal Menschen in Kanada. Der Austausch von Gütern, anfänglich nur sporadisch, bald aber im Rahmen fester Handelsbeziehungen, führte zu intensiverem Kontakt, nicht selten auch zu Freundschaften, Heiraten und Bündnissen zwischen Familien unterschiedlicher Herkunft. Auf der Suche nach einem kürzeren Weg zu den reichen Handelsmärkten des Fernen Ostens durchkreuzten französische und englische Entdecker Nordamerika auf seinen Wasserstraßen. Dabei kam es immer wieder zu Erkundungstouren der Seefahrer auf dem unbekannten Kontinent. Der heiß begehrte Seeweg blieb zwar noch lange unentdeckt, aber die Reisenden konnten nach der Rückkehr in Europa von reichen Fischvorkommen und Pelztieren in Hülle und Fülle berichten. Die erste Landnahme (terra nova) auf dem neuen Kontinent erfolgte durch Jacques Cartier, einem französischen Entdecker im Jahre 1534/35. Nur mit Hilfe kooperationswilliger Eingeborener gelang es ihm, die Gegend um den Sankt-LorenzStrom erfolgreich zu erkunden und den politisch wichtigen Handelsposten (Pelze) für Frankreich zu sichern.27 Neben den Franzosen besaßen auch die Engländer von Anbeginn der Entdeckungen großes Interesse an dem Kontinent mit seinen viel versprechenden Ressourcen und errichteten Forts und Handelsposten. Kolonial27 Kanada war also zunächst einmal französisch. Laut Überlieferungen stammt der Name Canada von Jacques Cartier und bezeichnete einst das heutige Quebec. (Trudel 2000, in: Dictionary of Canadian Biography online)

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überhebliches Auftreten wurde zunächst gedämpft durch das Wissen um die Abhängigkeit von den Einheimischen auf dem unbekannten, gefährlichen Land. „Non-Aboriginal accounts of early contact tend to emphasize the ,discovery‘ and ,development‘ of North America by explorers from Europe. But this is a one-sided view. For at least 200 years, the newcomers would not have been able to survive the rigours of the climate, succeed in their businesses (fishing, whaling, fur trading), or dodge each other’s bullets without Aboriginal help.“28

Vorsichtige Zusammenarbeit, nicht Konflikt und kriegerische Auseinandersetzungen standen im Vordergrund der ersten Kontakte zwischen europäischen Entdeckern, ersten Siedlern und den indigenen Völkern Nordamerikas dieser Periode, die bis in das 18., mancherorts auch bis ins 19. Jahrhundert reichte. Diese respektvolle Kooperationsbereitschaft gleichberechtigter und unabhängiger Partner kam vor allem in zwei bedeutsamen Formen zum Ausdruck, die in der Folge ausgeführt werden sollen: erstens im Abschluss von diversen Handelsverträgen und Verträgen um Länderrechte, den so genannten treaties und zweitens in der Royal Proclamation von 1763. Das Aushandeln von Verträgen war nichts Neues für die indigenen Völker des neuen Kontinents. Schon lange bevor die Europäer Fuß auf Nordamerika setzten, regelten Vereinbarungen zwischen den Stämmen die gemeinsame Nutzung von Ländern und Jagdgründen und damit das friedliche Zusammenleben. Rituale wie das Rauchen der Friedenspfeife verlieh diesen Übereinkommen sakrale beziehungsweise spirituelle Bedeutung. Auch in Europa garantierte das Abschließen von Verträgen zwischen unterschiedlichen Nationen Sicherheit und Frieden. In Friedens-, Bündnis- und Handelsabkommen wurde gegenseitige Unabhängigkeit und Hoheitsgewalt versichert und gegenseitiger Respekt gezollt. Das Bedürfnis von vertraglichen Regelungen in den Kolonien wurde bald offensichtlich. Die ersten Siedler fürchteten sich nicht nur vor den ihnen überlegenen Einheimischen  sie brauchten sie, um überhaupt in dem unbekannten Land überleben zu können. Zudem wuchsen die Konflikte zwischen französischen und englischen Herrschaftsansprüchen in den Kolonien: ein europäischer Kampf, der weit weg von der Heimat ausgetragen wurde. Beide Seiten suchten Bündnispartner unter den Ureinwohnern, um die eigene Position zu stärken. Diese ersten Verträge spiegelten somit eine paradoxe Mischung aus dem Anspruch auf die Großmachtstellung innerhalb Europas (verwirklichbar unter Zuhilfenahme der Rohstoffe aus Nordamerika) und einem vorsichtigen Realismus angesichts der Abhängigkeit von den Eingeborenen des neuen Kontinents wider.

28 Indian and Northern Affairs 2004b, Stage 2: Nation-to-Nation Relations

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Obwohl beide Seiten mit Vertragssystemen vertraut waren, unterschieden sich diese in Form und Inhalt grundlegend. Verschiedene Weltbilder, Vorstellungen von Machtausübung, sowie orale und schriftliche Weisen der Vertragsverhandlungen prallten aufeinander. Die Missverständnisse resultierend aus diesen Abkommen führten im Laufe der Geschichte zu Enttäuschung, Trauer, Verachtung und Misstrauen.29 „The Aboriginal view of the treaties was very different. They believed what the king’s men told them, that the marks scratched on parchment captured the essence of their talks. They were angered and dismayed to discover later that what had been pledged in words, leader to leader, was not recorded accurately. They accepted the monarch, but only as a kind of kin figure, a distant ,protector‘ who could be called on to safeguard their interests and enforce treaty agreements. They had no notion of giving up their land, a concept foreign to Aboriginal cultures.“30

Die Vertragsverhandlungen, vor allem die Abschlüsse an sich, basierten rein auf europäischem Verständnis und ignorierten das der eingeborenen Vertragspartner. Im Bericht der Royal Commission liest man gar, die Verträge der britischen Kolonialherren seien „schizophren“ gewesen.31 Denn es hatte den Anschein, als würden die englischen Machthaber die Eigenständigkeit der indigenen Völker als gleichberechtigte Nationen anerkennen (wie auch in der Royal Proclamation von 1763 verankert). Im selben Atemzug erwarteten sie aber von den First Nations nicht nur die Autorität des Monarchen anzuerkennen, sondern darüber hinaus immer größere Stücke des Landes zu Zwecken der Besiedelung und des Schutzes vor Übergriffen anderer europäischer Mächte oder der Vereinigten Staaten unter dessen Kontrolle zu stellen. Im Laufe der Zeit strömten immer mehr Siedler aus Europa in das heutige Kanada und ließen sich dort permanent nieder. Sie erhofften sich im neuen Land Reichtum und ein Leben in Fülle. Viele davon mussten allerdings feststellen, dass sie sich getäuscht hatten, beziehungsweise täuschen ließen und sahen sich konfrontiert mit einem Leben, das außer dem Kampf ums Überleben nicht viel zu bieten 29 Vor allem hinsichtlich der Abtretung von Land waren viele Stammesführer ahnungslos, was sie unterzeichneten: Sie dachten, es ginge um Kooperation und das Teilen von Lebensräumen, dabei ging es der Kolonialmacht um die Übereignung von Land für einige Sonderrechte und entsprechende Zahlungen. Chief Francois Paulette erklärte dazu: „In my language there is no word for ‚surrender‘. There is no word. I cannot describe ‚surrender‘ to you in my language so how do you expect my people to (have) put their X on ‚surrender‘?“ (Indian and Northern Affairs 2004b, Stage 2: Treaty Making) 30 Ebd. 31 Ebd.

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hatte – zumindest nicht in den ersten Jahren der Einwanderung. Auch sie mussten sich auf die jahrelange Erfahrung und das Wissen der First Nations verlassen, um überhaupt Fuß fassen zu können. Die Einwanderer brachten furchtbare Krankheiten mit, die für viele indigene Stämme verheerende Folgen hatten. Diese hatten keinerlei Abwehrstoffe gegen die eingeschleppten Bakterien, und zahlreiche Familien und Siedlungen erlagen elend den Seuchen. Mancherorts rafften Pocken, Masern, Influenza, Typhus und andere Infektionen ganze Stämme dahin.32 „Der Anthropologe Dobyns glaubt, die eingeborene Bevölkerung sei bis in das 17. Jahrhundert auf nur noch fünf Prozent der früheren Stärke zurückgegangen. Ob dies übertrieben ist, sei dahin gestellt, doch der Fakt des Bevölkerungsschwundes an sich ist kaum zu widerlegen.“33

Mit der stetigen Bevölkerungsabnahme der Eingeborenen und gleichzeitig der immer größer werdenden Einwanderungsströme europäischer Siedler in die Neue Welt waren gegen Ende des 17. Jahrhunderts etwa so viele Franzosen und Engländer im Land, wie Ureinwohner. Vor allem im Osten (heute Québec) gestaltete sich dieser Prozess, kombiniert mit technischen Überlegenheiten der Einwanderer, bald zum Vorteil der Neuankömmlinge. Die Ureinwohnerstämme verloren immer mehr ihre Autonomie. Viele davon entschlossen sich umzusiedeln, um durch die räumliche Distanz von den Einwanderern ihre Unabhängigkeit so gut wie möglich wahren zu können: eine Tendenz, die in der nächsten Phase des Verhältnisses der beiden Gruppen zunehmen sollte. Stereotype auf beiden Seiten wuchsen und rissen tiefe Gräben in das Verhältnis von First Nations und Einwanderern. Die feindseligen Gefühle steigerten sich jedoch nicht nur zwischen diesen. Durch diverse Bündnisse französischer und englischer Kolonialherren mit den Eingeborenen, die diese für ihre kriegerischen Zwecke um die Vormachtstellung ausnutzen, verfeindeten sich auch bald die unterschiedlichen Stämme miteinander (die oft ohnehin schon nicht gut aufeinander zu sprechen waren, da sie sich die Jagdgründe zur Fellgewinnung streitig machten). Die so genannten „Biberkriege“, auch Franzosen- und Irokesenkriege genannt (ca. 1640-1701), gelten als eine der blutigsten Auseinandersetzungen in der Geschichte Nordamerikas. 1756 brach der Siebenjährige Krieg in Europa aus. Für England und Frankreich ging es dabei vor allem um die Herrschaft in Amerika und in Indien. In der Schlacht 32 Die Zahlen der Dezimierung von Ureinwohnerstämmen durch die eingeschleppten Seuchen der Europäer unterscheiden sich teilweise enorm. Die meisten Quellen besagen, es seien etwa 50% bis 80% der Eingeborenen in den ersten 300 Jahren des Kontakts mit Europäern dahingerafft worden. 33 Oeser 2003, 10

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auf den Plains of Abraham in Québec im Jahre 1759 konnte England knapp den Sieg erringen, und Frankreich ergab sich den britischen Armeen in Montreal. Im Frieden von Paris musste Frankreich 1763 seine Kolonien in Nordamerika an Großbritannien abtreten (die Franzosen durften dafür ihre Insel in der Karibik, Guadaloupe, behalten).34 „Between 1663 and 1763, the French built an empire in North America and then lost most of it to Great Britain. New France at its height included Newfoundland and Acadia, and extended along the St Lawrence and Great Lakes, into the Prairies, and down the Mississippi. Valued for the commerce (mostly fish and furs), prestige, and military might it brought to the French monarch, New France never attracted many settlers. Only close alliances with Native people enabled France to lay claim to such a vast domain. When wars erupted between Great Britain and France for dominance in Europe, they inevitably spilled into the colonies. France was defeated during the Seven Years’ War but left a legacy of French settlement in North America that remains to this day.“35

Gleich im Anschluss an den Friedensvertrag und die Landübernahme erließ der siegreiche britische Machthaber, König Georg III, die Royal Proclamation (7. Oktober 1763), die Sicherheit und Frieden in die neu erworbenen Gebiete bringen sollte. Zweck der Proklamation war vor allem das Verhältnis der europäischen Siedler mit den Ureinwohnern, klar zu definieren und Regeln festzulegen, die galten, wenn Handel zwischen den beiden Gruppen getrieben wurde. Zentral im Mittelpunkt standen hierbei die Verhandlungen um Länderrechte. Unter anderem wurde den First Nations der Schutz der Krone vor Übergriffen habgieriger Siedler versprochen: „Aboriginal people were not to be ,molested or disturbed‘ on their lands. Transactions involving Aboriginal land were to be negotiated properly between the Crown and ,assemblies of Indians‘. Aboriginal lands were to be acquired only by fair dealing: treaty, or purchase by the Crown.“36 Die Royal Proclamation stellt ein komplexes Rechtsdokument dar, das neben der Verfassung und einer eigenen Rechtsform für die Kolonien das Nation-NationVerhältnis zwischen den Einwanderern und den indigenen Völkern hervorhebt: „In short, the Proclamation portrays Aboriginal nations as autonomous political units living under the Crown’ s protection and on lands that are already part of the Crown’s dominions. 34 Obwohl 11 Jahre später im Quebec Act von 1774 den Franzosen ihre eigenen Rechte, Regierungsform, Kultur- und Religionsausübung von der englischen Krone weiterhin gebilligt wurden, bestehen jeher starke Abspaltungstendenzen der Québacois, die sich vom Rest Kanadas lossagen wollen. 35 Conrad, Finkel 2002a, 83 36 Indian and Northern Affairs 2004b, Stage 2: The Royal Proclamation

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Aboriginal nations hold inherent authority over their internal affairs and the power to deal with the Crown by way of treaty and agreement. In a word, it portrays the links between Aboriginal peoples and the Crown as broadly ,confederal‘.“37

In den Jahren von 1763 bis 1821 erreichte der Handel mit Fellen seinen Höhepunkt. Sowohl europäische Händler, wie auch indigene Fallensteller und Jäger profitierten vom gemeinsamen Geschäft. Beide Gruppen mussten mit Konflikten und internen Konkurrenzkämpfen umgehen. Auf europäischer Seite musste sich die englische Hudson Bay Company38 gegen die North West Company39, einer Vereinigung von anglo- und frankophonen Händlern und Kaufleuten, die in Montreal Fuß fassten, durchsetzen. Auf Seiten der First Nations machten sich die einzelnen Stämme gegenseitig Konkurrenz, obgleich sie vom Wettbewerb der beiden Großkonzerne um die beste Ware profitierten, denn beide Unternehmungen versuchten, die meisten Fallensteller für sich zu gewinnen.40 37 Indian and Northern Affairs 2006b 38 Die Hudson Bay Company (HBC) wurde 1670 gegründet. Das Unternehmen, das heute noch besteht, berichtet vom Beginn seiner Erfolgsgeschichte wie folgt: „Two centuries before Confederation a pair of resourceful Frenchmen named Radisson and des Groseilliers discovered a wealth of fur in the interior of the continent – north and west of the Great Lakes – accessible via the great inland sea that is Hudson Bay. Despite their success French and American interests would not back them. It took the vision and connections of Prince Rupert, cousin of King Charles II, to acquire the Royal Charter which, in May, 1670 granted the lands of the Hudson Bay watershed to the Governor and Company of Adventurers of England trading into Hudson Bay.“ (Hudson Bay Company 2008) Im Zuge der Gründung übertrug der englische König Charles II der Hudson Bay Company einen großen Teil Nordamerikas, das so genannte Rupert’s Land. Diese Übertragung umfasste das gesamte Land um die Hudson Bay (heute der Norden von Québec and Ontario nördlich des Lorenzstroms, ganz Manitoba, das meiste von Saskatchewan, Süd-Alberta, ein Teil der Northwest Territorien und Nunavut). Die Unternehmung hatte zunächst Monopolstellung und alleinige Kontrolle über das riesige Gebiet. 39 Die North West Company wurde im Jahr 1779 gegründet, wurde allerdings 1821 dann von ihrem ärgsten Konkurrenten, der HBC geschluckt, die damit die Monopolstellung des Fellhandels zurückgewann. Zwar stammte die Hauptorganisation und Kapitalausstattung der Firma von zwei anglo-kanadischen Geschäftsmännern (Frobisher und MacTavish), waren doch im Gegensatz zur HBC ein Großteil der Mitarbeiter in der Unternehmung Frankokanadier. 40 An anderer Stelle (Conrad, Finkel 2002a, 222) finden sich allerdings auch Hinweise darauf, dass oftmals nicht bessere Angebote und höhere Bezahlung die Jäger zum Verkauf an die eigene Gesellschaft überzeugen sollten, sondern oft auch Androhung von Gewalt und Missbrauch genutzt wurde, um an die beste Ware zu gelangen.

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Die Abhängigkeit von den erhandelten Gütern seitens der Ureinwohner wuchs. Die versprochenen Erleichterungen der Technik wie Gewehre führten letztlich für einige Stämme zu großer Erschwernis, da ganze Landstriche innerhalb kürzester Zeit völlig ausgebeutet waren und Jäger mühsam weite Strecken zurücklegen mussten, um überhaupt noch die Aussicht auf erfolgreiche Jagd zu haben. Der Segen des Fortschritts wandelte sich zum Fluch der Hilflosigkeit. Viele Stämme litten unter Hungersnot, und die traditionelle Gesellschaftsstruktur begann durch das lange Fortbleiben der Männer zu erodieren. Die jüngere Generation verlor nicht nur den Kontakt zu den Älteren der Gruppe, die als Vorbild und Lehrer dienten, sie verlor darüber hinaus den Respekt vor diesen, denn sie versagten, ihre Familien ausreichend zu versorgen. Darüber hinaus war die Sterblichkeitsrate junger Männer auf der Jagd und im Konkurrenzkampf gegeneinander enorm, was vermehrt Polygamie, ein verändertes Geschlechterverhältnis und neue Sozialformen mit sich brachte. Zerrissenheit, Verwirrung und ein Zerfall kultureller Netzwerke führte zur Identitätsdiffusion auf gesamtgesellschaftlicher, kultureller, sowie auf personaler Ebene. 41 2.1.2.3 Assimilation und Umsiedlung Im Laufe des 18. Jahrhunderts kippte das Gleichgewicht der Aboriginal und nonAboriginal Bevölkerung endgültig und läutete damit die dritte Phase der Entwicklung des Verhältnisses dieser in Nordamerika ein: ein trauriges Kapitel kanadischer Geschichte. Ironischerweise vollzog sich der Umschwung vom respektvollen Miteinander zur Unterwerfung der Ureinwohner unter anderem mit Hilfe der Royal Proclamation, dem Hauptinstrument, das ursprünglich die partnerschaftliche Kooperation fördern sollte. Der darin versprochene Schutz der englischen Krone für die Ureinwohner wandelte sich zur treibenden Kraft für die Bevormundung und Unterdrückung. „Protection took the form of compulsory education, economic adjustment programs, social and political control by federal agents, and much more. These policies, combined with missionary efforts to civilize and convert Indigenous people, tore wide holes in Aboriginal cultures, autonomy and feelings of self-worth.“42

Bald schon dominierten die europäischen Neuankömmlinge das Land und damit auch die Menschen, die es seit Jahrhunderten vor ihnen bewohnt hatten. Um das Jahr 1812 waren die Einwanderer den Ureinwohnern in Kanada zahlenmäßig weit 41 Identitätsdiffusion meint das Problem der Zersplitterung des Selbstverständnisses und der daraus resultierenden Orientierungslosigkeit. Sie beruht auf den Zweifeln der eigenen kulturellen, ethnischen, sozialen oder geschlechtlichen Identität, entstanden durch Unsicherheiten hinsichtlich des eigenen Selbstverständnisses und Handelns. 42 Indian and Northern Affairs 2004b, Stage 3: Respect gives Way to Domination

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überlegen.43 Der Pelzhandel stagnierte, und damit starben die alten Partnerschaften zwischen den Fallenstellern und den Händlern der Ware. Technische Neuerungen aus Europa sicherten den Siedlern weitere Vorteile, und die Wirtschaft verlegte sich mehr und mehr auf Holz, Mineralien und Landwirtschaft. Um diesen Entwicklungen Vorschub zu leisten, brauchten die Einwanderer Land, keine Arbeitskräfte. Die Ureinwohner wurden ohnehin bald als Hindernisse und Anti-Symbol für den Fortschritt gesehen und nicht mehr als wertgeschätzte Partner. Darüberhinaus benötigten die Kolonialmächte nach dem Krieg mit den Vereinigten Staaten von Amerika von 181244 keine indigenen Alliierten mehr, da ihre Position in Kanada sowohl gegenüber den USA als auch gegenüber Frankreich zunächst gefestigt schien. Zudem schwappte die Ideologie der Vormachtstellung und der Überlegenheit Europas und damit die Rechtfertigung der Eingliederung und Assimilierung unterentwickelter bzw. rückständiger Völker über das Land und riss die Idee gleichberechtigter, gewinnbringender Kooperationen von Ureinwohnern und Einwanderern mit sich. Um die Menschen der First Nations vor der Habsucht und Gier der einströmenden Einwanderer zu schützen und vordergründig deren Kultur und Lebensweise zu erhalten, errichtete die Regierung so genannte Reservate: Land – ausschließlich bereitgestellt für Ureinwohner. Meist waren diese Landstücke zu klein und ohne ausreichende Ressourcen, um autark leben zu können. Die Menschen konnten sich darin unmöglich traditionell durch die Jagd selbst versorgen. Die Isolation, Verarmung und Abhängigkeit von der Kolonialregierung wuchs und damit die Hoffnung einer möglichen Eingliederung der Ureinwohner in die zivilisierte Gesellschaft.45 „Humanitarians in Britain and the Canadas believed that assimilation of First Nations into Christian culture with agricultural and commercial values was the best hope for their survival.

43 Ebd. 44 Im Krieg von 1812 erreichten jahrelange Spannungen zwischen den USA und Großbritannien ihren Höhepunkt. Britische Übergriffe auf einige Kriegsschiffe der Amerikaner schienen für diese ein willkommener Vorwand für die Umsetzung der langjährigen Vision einer Eroberung Kanadas zu sein und führten zur Kriegserklärung der Amerikaner. Für Kanada war der Krieg von enormer Wichtigkeit, da er der britischstämmigen und der französischstämmigen Bevölkerung durch den Kampf gegen einen gemeinsamen Feind ein gemeinsames Nationalgefühl gab, eine verstärkte Loyalität der britischen Krone gegenüber weckte und sogar so etwas wie ein Gefühl des „kanadischen Nationalismus“ aufkam. 45 Eingeführt wurde das System der Reservate 1637 mit einer von Jesuiten geführten Siedlung in Sillery in Neu Frankreich. (Indian and Northern Affairs 2004b, Stage 3: Policies of Domination and Assimilation)

124 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS On reserves, Natives could live under the tutelage of missionaries and learn to become good famers and good Christians.“46

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebte bereits eine erhebliche Anzahl von Nachkommen europäischer und indigener Mischehen, so genannte Métis 47, in allen Teilen Kanadas. Ihre gemischte Abstammung und ihre Rolle als Vermittler zwischen den unterschiedlichen Fraktionen, die um Fellhandel und Land gegeneinander kämpften, hatte die Entwicklung einer distinkten Kultur zur Folge, die sich sowohl von den Traditionen der First Nations als auch von den Gebräuchen und der Lebensart europäischer Siedler abhob. Die Politik der Regierung diskreditierte Métis, die als Menschen „zwischen den Stühlen“, als „nichts Halbes und nichts Ganzes“, schlicht als Menschen zweiter Klasse galten und folglich auch so behandelt wurden. Neben dem Traum vom ökonomischen Aufschwung, von den Errungenschaften industrieller Revolution (allem voran der Eisenbahn und neuen Kommunikationstechniken), dem Geist des Nationalismus und der kolonialen Einheit, schürte wieder einmal die Angst vor amerikanischen Übergriffen den Wunsch der vereinzelten Kolonien nach einem starken, geeinten Land.48 Drei wichtige Konferenzen (Konferenz von Charlottetown 1864, Konferenz von Quebec 1864 und Konferenz von London 1866-67) an welchen maßgeblich Politiker der Province of Canada49, New Brunswick, Nova Scotia und Prince Edward Island teilnahmen, führten 1867 schließlich zum British Northamerica Act (BNA Act) beziehungsweise zur Konföderation (1. Juni). Die erste Verfassung eines geeinten Kanadas mit den vier Provinzen New Brunswick, Nova Scotia, Ontario und Quebec war geboren. 1869 kaufte 46 Conrad, Finkel 2002a, 280 47 „The term Métis theoretically refers to ,mixed-blood‘ people – that is, people whose ancestral heritage is a mixture of European and Native Indian. In practice only a fraction of mixed-blood individuals ever identified themselves as Métis.“ (Ebd., 226) 48 Seit der amerikanischen Unabhängigkeit von Großbritannien 1776 war das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien sehr gespannt. Vor allem nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865), bei dem die Briten die Südstaaten unterstützten, wurden immer wieder Stimmen der Amerikaner laut, die Kanada einnehmen wollten, um damit den gesamten amerikanischen Kontinent zu besitzen. Vor diesem Hintergrund unterstützte die britische Krone ihre Kolonien in Nordamerika, sich zu einer Nation zu vereinen, um sich gegen den Anspruch des machthungrigen Nachbarn als geeinte Nation besser schützen zu können. 49 1840 vereinten sich die Kolonien von Ober- und Unterkanada zur Provinz Kanada (Province of Canada). Während Oberkanada weitgehend englischsprachig war, lebte in Unterkanada die frankophone Gesellschaft. Nach der Konföderation von 1867 wurde Oberkanada zur eigenständigen Provinz Ontario und Unterkanada zur Provinz Québec. (Government of Canada 2001)

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das junge Kanada Rupert’s Land von der Hudson Bay Company ab. Somit war der Weg geebnet für die Errichtung weiterer Provinzen und Territorien, die, wie oben bereits aufgezählt, nach und nach in die Konföderation folgten. Von innerer Einheit und Geschlossenheit konnte jedoch in den ersten Jahren der Konföderation bei weitem nicht gesprochen werden. Zu unterschiedlich und isoliert hatten die Provinzen zusammenhangslos viele Jahre nebeneinander bestanden, so dass deren Einwohner distinkte Kulturen herausbildeten, die einen gemeinsamen Geist noch lange vermissen ließen. Während der gesamten Verhandlungen um die Gründung eines geeinten Kanadas blieb eine Einwohnergruppe des Landes völlig außen vor: Kanadas indigene Völker wurden regelrecht ignoriert. Diese fehlende Achtung, Anerkennung und Wertschätzung der Ureinwohner als eigenständige Nation sollte in der Folge erklärtes politisches Ziel der brandneuen kanadischen Regierung werden, umgesetzt durch rigide Assimilationsprogramme. „At no time, however, were First Nations included in the discussion, nor were they consulted about their concerns. Neither was their future position in the federation given any public acknowledgement or discussion. Nevertheless, the broad outlines of a new constitutional relationship, at least with the First Nations, were determined unilaterally. The first prime minister, Sir John A. Macdonald, soon informed Parliament that it would be Canada’s goal ,to do away with the tribal system and assimilate the Indian people in all respects with the inhabitants of the Dominion‘.“50

Die Royal Proclamation erkannte noch die Eigenständigkeit der First Nations als unabhängige, gleichberechtigte Nation an, wohingegen die Verfassung von 1876 „Indianerfragen“ innerhalb der föderalen Aufteilung der zwei Regierungsebenen von Bund und Länder schlichtweg unter „Bundessache“51 subsumierte (wie beispielsweise auch Straßenbau oder Geldwesen). So genannte „Indianergesetzte“ (Indian Acts), eingeführt im Jahr 1876, sollten das Leben der Ureinwohner regeln. Ziel war, diese zu zivilisieren, christianisieren und assimilieren; sprich zu guten Staatsbürgern im Sinne der Väter der Konföderation zu machen. Diese Ge- und Verbote, die durch Indian Agents, gesandt vom Department of the Interior (später Indian Affairs), auf ihre Befolgung hin überprüft werden sollten, hatten für die

50 Indian and Northern Affairs 2006c 51 Interessante Tatsache in diesem Zusammenhang ist, dass die Royal Proclamation von 1763, welche die indigenen Völker Kanadas als eigenständige Nationen offiziell anerkannte, bis zum heutigen Tage nie aufgehoben wurde und somit ein offensichtlicher Verfassungswiderspruch zwischen dieser und dem BNA Act (erste Verfassung von 1876) besteht.

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Kultur der First Nations, Métis, später auch der Inuit, verheerende Auswirkungen, die bis zum heutigen Tag spürbar sind. Durch das Verbot zentraler Kulturrituale wie der potlatch ceremony der an der Westküste lebenden First Nations oder des Sonnentanzes53, der als „way of life“ für die in der Prärie beheimateten indigenen Völker unabdingbarer Bestandteil ihres Selbstverständnisses war, nahm man den Ureinwohnern Würde, Stolz und kulturelle Identität.54 1885 verfügte das Department of Indian Affairs ein Eintrittssystem in die Reservate. Kein Fremder durfte ohne die Genehmigung des zuständigen Indian Agent ein Reservat betreten, um dort Geschäfte mit First Nations abzuschließen. Mancherorts, unter der Aufsicht besonders rigider Regierungsbeauftragter, ergab sich sogar der Eindruck, dass auch kein Bewohner des Reservates dieses verlassen durfte, ohne sich entsprechend abzumelden. Ein Gefühl der Inhaftierung und totalen Kontrolle raubte den Menschen die Freiheit. 55 Der wohl schwerwiegendste Eingriff in das kulturelle (und persönliche) Selbstverständnis der Ureinwohnervölker Kanadas war die Einführung so genannter residential schools („Wohnschulen“ bzw. Internate). „The schools were located in every province and territory, except Newfoundland, New Brunswick and Prince Edward Island. Most residential schools ceased to operate by the mid-

52 Die Potlatchzeremonie (verboten ab 1884) stellt eine Art „Geschenkfest“ dar, bei dem der Gastgeber, in der Regel der Häuptling eines Stammes, seine Gäste (Häuptlinge und Mitglieder anderer Stämme) über alle Maßen beschenkt und damit seine gesellschaftliche Stellung hervorhebt. Das Ritual ist jedoch wesentlich mehr als nur ein Akt des Schenkens. In der Potlatchzeremonie spiegelt sich die Quintessenz und Komplexität aller Aspekte des Lebens der an der pazifischen Nordwestküste lebenden First Nations wider. Stämme werden zusammengeführt, Verträge ausgehandelt und die soziale Ordnung festgelegt. 53 Der Sonnentanz (verboten ab 1885) ist wohl das bedeutsamste spirituelle Ritual der Prärieindianer. Während der Zeit des Sonnentanzes, auf den sich die Teilnehmer oft monatelang vorbereiteten, wird durch Fasten, Tanzen, Singen, Trommeln und Fleischesopfer in Trance nach Visionen gesucht, die das Leben des Einzelnen und des Stammes maßgeblich beeinflussen. Im Sonnentanz manifestiert sich nicht nur das Ritual an sich; der Sonnentanz wird von den First People der Prärie vielmehr als Lebensart beschrieben. Dabei steht das Bewusstsein um die Einheit der Menschen mit der Natur im Mittelpunkt – und damit das Wissen um Verletzlichkeit und ein Bewusstsein von Demut. 54 Erst 1951 wurde das Verbot aufgehoben, und die Rituale und Zeremonien durften wieder öffentlich praktiziert werden. 55 Indian and Northern Affairs 2004b, Stage 3: Policies of Domination and Assimilation

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1970s; the last federally-run residential school in Canada closed in 1996. It is estimated there are 80,000 people alive today who attended residential schools.“56

Vertreter der Kirchen und der Regierung waren zu dem Schluss gekommen, dass dem „Indianerproblem“ am effektivsten dadurch begegnet werden könnte, wenn man die Kinder schon früh aus ihren traditionellen Familienzusammenhängen nehmen und in entlegenen Internaten entsprechend des Christentums und den Vorstellungen der „zivilisierten“ Kultur unterrichten und erziehen würde. Ein Kabinettsmitglied drückte diese Überlegungen der Regierung 1883 wie folgt aus: „If these schools are to succeed, we must not have them too near the bands; in order to educate the children properly we must separate them from their families. Some people may say that this is hard, but if we want to civilize them, we must do that.“57 Die erste residential school in Alderville, Ontario, öffnete ihre Pforten im Jahr 1849. Es bestand Schulpflicht für alle Kinder. Mit Hilfe gezielter Maßnahmen und Erziehungsstrategien sollte die nächste Generation der First Nations, Méti und Inuit von ihrer Kultur und sich selbst entfremdet werden, um Raum zu schaffen, für ein neues Weltbild, das sich in den allgemeinen anglo-kanadischen Kontext eingliedern ließ. Letztlich ging es darum, so Stephen Harper, „to kill the Indian in the child.“58 Alle Kinder bekamen bei Eintritt in die Schule neben der Schuluniform den gleichen Haarschnitt und anstelle ihres traditionellen Namens eine Nummer oder einen christlichen Namen. Die Ausübung traditioneller Praktiken und das Sprechen der indigenen Sprachen waren unter Androhung drakonischer Strafen verboten. Kontakte mit der „schädlichen“ Ursprungsfamilie wurden unterbunden. Zurück blieben Kinder, die sich mit ihren eigenen Eltern nicht mehr verständigen konnten, die verängstigt und beschämt ihre Kultur und Herkunft verleugneten. Die in den Reservaten zurückgebliebenen Erwachsenen hatten den Mittelpunkt ihres Familienzusammenhalts verloren und damit den Sinn der Existenz. Die auf Gemeinschaft und Familie ausgelegte Kultur der First People erfuhr einen intergenerativen Bruch, von dem sie sich bis heute nicht erholen konnte. Zwar behandelten die Erzieher der einzelnen Schulen laut Berichten ihre Schützlinge sehr unterschiedlich gut oder schlecht, so drangen in den letzen Jahren immer wieder erschreckende Berichte in die Öffentlichkeit: Ehemalige Schüler, so genannte „residential school survivor“, erzählten von permanentem Hunger und Kälte, schlechter medizinischer Versorgung bei Krankheit, der Verpflichtung zu harter Arbeit, grausamen Strafpraktiken und sogar von physischem, psychischem,

56 Government of Canada 2007a 57 Conrad, Finkel 2002b, 75 58 Harper 2008

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spirituellem und sexuellem Missbrauch. Einige Kinder starben, andere kehrten nie wieder zurück nach Hause.59 „While it is not uncommon to hear some former students speak about the positive experience in these institutions, their stories are overshadowed by disclosures of abuse, criminal convictions of perpetrators and the findings of various studies such as the Royal Commission on Aboriginal Peoples, which tell of the tragic legacy that the residential school system has left with many former students.“60

Die Beliebigkeit der Umgangsweise und die Selbstverständlichkeit der Verfügung über die indigene Bevölkerung zum Zwecke der Eingliederung in die dominierende kanadische Gesellschaft drückten sich nicht nur in der geschilderten Errichtung von Internatsschulen aus. Die kanadische Regierung begann ganze Gemeinschaften von einem Ort zu einem anderen wahllos umzuziehen, wenn sie die Befürchtung hatte, dass sich die Menschen an ihrem ursprünglichen Standort nicht mehr selbst versorgen konnten oder das Land wertvolle Bodenschätze oder lukrativen Baumbestand aufwies. All dies geschah, ohne jemals die betroffenen Menschen nach ihren Bedürfnissen zu befragen. Die Regierung verfuhr direktiv und autoritär mit den Menschen wie mit unmündigen Kindern oder einer Herde von Tieren. „If they were suffering from illness, they could be relocated to new communities where health services, sanitary facilities and permanent housing might be provided. If they were in the way of expanding agricultural frontiers, or in possession of land needed for settlement, they could be relocated ,for their own protection‘. If their lands contained minerals to be mined, forests to be cut, or rivers to be dammed, they could be relocated ,in the national interest‘.“61

In Gutgläubigkeit und der steten Hoffnung auf faire Vertragsabschlüsse, auf das friedliche Zusammenleben mit der anglokanadischen Mehrheit und gelockt vom Versprechen besonderer staatlicher Leistungen verkauften die First Nations unversehens nicht nur ihr Land und ihre Rechte als gleichberechtigte Menschen, sondern

59 In diesem Zusammenhang sei unbedingt erwähnt, dass diese Schilderungen die Extremformen der Assimilation darstellen. Es gab natürlich auch zahlreiche Versuche, synkretistische Mischformen von traditioneller Spiritualität und dem Christentum zu entwickeln. Einige Missionare gingen sehr sensibel auf kulturelle Bedürfnisse ein, und schützten die ursprüngliche Tradition so gut sie konnten. 60 Government of Canada 2007a 61 Indian and Northern Affairs 2004b, Stage 3: Policies of Domination and Assimilation

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zugleich auch ihre Eigenständigkeit, ihre Unabhängigkeit, ihr Selbstbewusstsein und letztlich große Teile ihrer Kultur.62 Bis 1960 besaßen die Menschen der First Nations als treaty indians63 keine Staatsbürgerschaft (fochten aber als „Kanadier“ in zwei Weltkriegen) und somit kein Wahlrecht. Dies erscheint paradox, wo doch die kanadische Regierung zugleich so sehr um die Assimilierung und Eingliederung der First Nations in das Leben als gutbürgerliche Staatsdiener rang. Die Brutalität, mit der die kanadische Regierung unter dem Deckmantel des Schutzes, der Ausbildung und damit der Hoffnung auf Chancengleichheit, in ihrer Integrationspolitik vorging, hatte mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts den bloßen Überlebenskampf einiger indigener Völker zur Folge. So ziehen Finkel und Conrad erschütternde Bilanz: „By the beginning of the twentieth century, with their total numbers dipping below 200.000, the very survival of Canada’s First Nations seemed seriously in doubt.“64 Das junge Kanada rang viele Jahre um Einheit der Kulturen in dem riesigen Land. Erst nach dem zweiten Weltkrieg spürte es Möglichkeiten, tatsächlich eine Rolle in der Weltpolitik spielen zu können  unabhängig vom Britischen Commonwealth auf der einen, aber auch von den Vereinigten Staaten von Amerika auf der anderen Seite. Zum ersten Mal erhielten Kanadier einen kanadischen Pass, und erste Ideen zu einer eigenen Flagge wurden laut. Alles deutete darauf hin, dass Kanada versuchte, mit eigener Identität unabhängige Schritte zu wagen. Auch die Stimmen der First Nations, Métis und Inuit ließen sich von Unabhängigkeitsbewe62 Nach wie vor lebten die Menschen der First Nations in der Logik ihrer eigenen ganzheitlichen Prämissen, die sich wesentlich von den Vorstellungen westlich zivilisierter Gesellschaften unterschied. Diese Tatsache erklärt auch, warum es nie zu Aufständen und Revolten seitens der First Nations kam, denn sie glaubten an die Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher, doch gleichberechtigter Partner: „In contrast to western society’s linear conception of progress and evolution, Aboriginal conceptions continued to be based on the concept of the circle. For example, western conceptions spoke of the evolution of different forms of production from simple to more complex, with the latter replacing the former over time (and never to return to them again). By contrast, Aboriginal perspectives continued to emphasize diversity and local autonomy. In this view, different groups have adopted ways of life best suited to their local needs and circumstances; each is equally valid and should not be expected to change unless the group believes that a different model would meet their needs better.“ (Indian and Northern Affairs 2006c, Conclusion) 63 Als treaty oder registered Indians werden die Aboriginals bezeichnet, die einem Stamm (band) angehören, der Verträge mit der Regierung unterzeichnet hat, somit unter dem Indian Act registriert wurde. 64 Conrad, Finkel 2002b, 72

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gungen anstecken, wurden lauter und aggressiver. Trotz aller Integrationsversuche schienen die Menschen ihre Jahrhunderte alten Wurzeln nie ganz verloren zu haben, begannen auf ihre missliche Lage hinzuweisen und ihre Rechte einzufordern. 2.1.2.4 Verhandlung und Erneuerung Die vierte Phase der Beziehungsgeschichte der kanadischen Regierung mit seinen indigenen Völkern, charakterisiert als eine Zeit des Neubeginns und Wiederaufnahme der Verhandlungen, zeichnete sich anfänglich durch organisierte Opposition seitens der First Nations aus. Vor allem das so genannte White Paper on Indian Policy, das die Bundesregierung im Jahr 1969 veröffentlichte, sorgte für Erregung und gab Anlass für heftigen politischen Widerstand der First Nations. In diesem Gesetzesentwurf sah die Regierung (unter Premierminister Pierre Trudeau) vor, die nach dem BNA Act ausgehandelten Indianergesetze (Indian acts) und alle Verträge, die davor mit der Regierung ausgehandelt wurden, zu annullieren, beziehungsweise diese kollektiven Sonderrechte der Treaty Indians zu Gunsten allgemeiner Rechte, wie sie für alle Staatsbürger Kanadas gelten, auszutauschen. Der Schutz der Ureinwohner durch Reservate sollte dabei aufgehoben und Sozialleistungen ausschließlich durch die Länder (Provinzen) erbracht werden. Zudem sollte der eigenständige Nationenstatus der indigenen Bevölkerung offiziell aberkannt werden. Ziel dieser Angleichung an die allgemeinen Rechte und Pflichten aller Staatsbürger in Kanada war wieder einmal, die First Nations in ein modernes Kanada einzugliedern. In diesem Sinne erklärte die Regierung 1969: „[A] separate road cannot lead to full participation, to equality in practice as well as theory. [T]he Government has outlined a number of measures and a policy which it is convinced will offer another road for Indians, a road that would lead gradually away from different status to full social, economic and political participation in Canadian life. This is the choice. Indian people must be persuaded, must persuade themselves, that this path will lead them to a fuller and richer life.“65

Beinahe einstimmig erhob sich ein Aufschrei des Protestes zu diesem geplanten Gleichschaltungskonzept der kanadischen Regierung, bei welchem die indigenen Völker ihren Nationenstatus hervorhoben und deutlich machten, sich als distinkte Kulturen von der Kultur der anglo- bzw. frankophonen Mehrheit abzuheben. Gemeinsam mit Inuit und Métis schienen die Menschen der First Nations in diesem Prozess der Bedeutsamkeit und Stärke ihrer kulturellen Herkunft gewahr zu werden, die es ihnen trotz zahlreicher Assimilierungsversuche der Regierung ermöglichte, nach wie vor Identität und Zugehörigkeit in ihren Traditionen zu finden (im 65 Statement of the Government of Canada on Indian Policy (1969) in: Indian and Northern Affairs 2006d

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Gegensatz zu den meisten Einwanderern, die sich nach wie vor schwer tun, kanadische Identität zu formulieren). Als Gegenvorschlag zu Trudeaus White Paper erschien prompt das von Dr. Harold Cardinal (bekannter Cree Häuptling und politischer Führer) verfasste, so genannte Red Paper. Es regte sämtliche Vereinigungen der Ureinwohner in Kanada an, ihre Stimmen zu vereinen. Die 1968 gegründete Vereinigung des National Indian Brotherhood66 (zuständig hauptsächlich für treaty indians) führte den Widerstand an und forderte den eigenen Nationenstatus für die First Nations mit entsprechender Selbstverwaltung.67 Das Zugeständnis zur Selbstverwaltung ließ zwar noch etliche Jahre auf sich warten, aber das White Paper war durch die Proteste erfolgreich vom Tisch der Regierung gefegt worden. Der starke und laute Widerstand der First Nations, Métis und Inuit gegen eine Eingliederung in die Mainstream-Gesellschaft des modernen Kanadas schien die restliche Bevölkerung zu

66 Indigene Gruppen in Kanada hatten es nicht nur schwer, starke politische Vereinigungen hervorzubringen, weil dies Jahre lang von der Regierung verboten war und aktiv unterbunden wurde. Zudem ist die Diversität der unterschiedlichen Stämme und Traditionen so groß, dass sich ein gemeinsamer Nenner für politische Konzepte kaum finden lässt. Eine derartige Vereinigung war Jahrhunderte lang nie nötig gewesen und stand der Kultur und Geschichte der First Nations, die sich gerade durch Abgrenzung und Unterschiedlichkeit auszeichnete, entgegen. Auf den Webseiten der Assembly of First Nations (vormals National Indian Brotherhood; der Name wurde 1982 geändert) findet sich eine Rekonstruktion der Geschichte wichtiger Vereinigungen der First Nations, die diese schwierigen, aber letztlich erfolgreichen Prozesse zum Ausdruck bringt. „The Status and Treaty aboriginal groups formed the National Indian Brotherhood, while the non-status and the Mètis groups remained united and formed the Native Council of Canada. Thus, the National Indian Brotherhood (N.I.B.) was born in the midst of controversy. Soon after the N.I.B. came into existence, the Federal Liberal Government revealed its 1969 White Paper policy which called for the assimilation of all First Nation peoples into the mainstream of Canadian society, and the removal of First Nations from the Canadian Constitution. The N.I.B. quickly organized itself and confronted the Liberal government. With the unity of its provincial and territorial members the N.I.B. successfully lobbied parliament and the Canadian public to defeat the White Paper. For the next thirteen years the N.I.B.’s structure remained relatively unchanged with the provincial and territorial organizations forming its major pillars of strength. From 1969 to the present the National Indian Brotherhood has became a very powerful and increasingly articulate lobby group for aboriginal rights in Canada.“ (Assembly of First Nations s.d.) 67 Die Führer indigener Vereinigungen machten auf die Tatsache aufmerksam, dass die Royal Proclamation von 1763 nie aufgehoben wurde und den Ureinwohnern darin ein eigener Nationenstatus rechtlich zuerkannt wurde.

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überraschen, irgendwie auch aufzurütteln, und ein allgemeines Interesse für die Ureinwohnerkulturen des Landes erwachte. Mitte der 90er Jahre schwappte ein neues Bewusstsein für die Schönheit und Stärke kultureller Vielfalt über Kanada. Dies drückte sich vor allem in Kunst, Musik, Film, Sport und auch in der Politik aus. Das Ansehen und der Respekt dafür, der von der restlichen Welt gezollt wurde, halfen, einen gewissen Stolz für kanadische Produkte, Errungenschaften und Philosophien zu schaffen  ohne dabei eine Einheitskultur anstreben zu wollen. Finkel und Conrad erwähnen diesbezüglich: „As Canadians began seeing themselves reflected in cultural productions they also developed a sense of their own identity. This did not mean that national differences were erased.“68 1982 gelang es Pierre Trudeau nach langem Ringen mit den Premierministern der einzelnen Provinzen, die um ihre Selbständigkeit bangten, die Verfassung endlich gänzlich in die Hände Kanadas zu legen, beziehungsweise von der britischen Kolonialmacht „heimzuholen“. Bis dahin lag diese nämlich noch im Verantwortungsbereich Großbritanniens. Der British North America Act bekam den neuen Namen Constitution Act, einen ergänzenden Zusatzartikel69 und die Charter of Rights and Freedoms (Grund- und Menschenrechte). Die vorbereitende Konferenz zur Entwicklung dieser ersten, wirklich unabhängigen Verfassung Kanadas im November 1981, bei der sich Trudeau mit neun Premierministern der Länder beriet, brachte einen ersten Entwurf zur Verfassung hervor, der allerdings ein haarsträubendes Versäumnis aufwies: Die besondere Stellung und die spezifischen Rechte der indigenen Völker in Kanada waren wieder einmal völlig unter den Tisch gefallen – ganz wie im Programm des White Papers angekündigt. Diese Tatsache ließ die First Nations noch stärker zusammenrücken, denn sie begannen, gemeinsam Strategien zu entwickeln, um ihre Interessen in die Verfassung einbringen zu können. Die mittlerweile stark gewordenen indigenen Lobbyisten konnten zwar ihre völlige Selbstbestimmung als eigene Nation innerhalb Kanadas nicht durchsetzen (ähnlich wie Quebec), waren aber dennoch erfolgreich. Denn der in der Royal Proclamation von 1763 zuerkannte Nationenstatus und die kollektiven Sonderrechte der First Nations, Métis und Inuit, seit Jahren veran-

68 Conrad, Finkel 2002b, 425 69 Dieser wichtige Zusatzartikel zur Verfassung erlaubte der kanadischen Bundesregierung die Verfassung unter bestimmten Voraussetzungen zu ändern. Darüber hinaus wurde die weitgehende Selbstverwaltung der einzelnen Provinzen besonders hervorgehoben und durch entsprechende Regelungen gesetzlich verankert. Nur so konnte Trudeau die Provinzen zu einer Unterzeichnung der Verfassung bewegen. Quebec konnte sich jedoch bis heute nicht zur Unterzeichung durchringen, da es seine Selbstständigkeit und distinkte Kulturausübung durch diese gefährdet sieht.

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kert im Indian Act und diversen Treaties, fanden letztlich in der Charter of Rights and Freedoms verfassungsrechtliche Berücksichtigung.70 Binnen eines Jahres nach der Proklamation des Consitution Acts sollte eine konstitutionelle Konferenz einberufen werden, in welcher Pläne für die Rückgabe der Selbstverwaltung an die First Nations, Inuit und Métis besprochen werden sollte (eine entsprechende Regelung fand sich in Paragraph 37 der Verfassung). Diese Konferenz fand dann 1983 tatsächlich statt, eine klare Form der Selbstverwaltung konnte jedoch auch hier nicht ausgehandelt werden. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die einzelnen Provinzen der eigenen Regierungsform für die First Nations nicht zustimmen wollten, da sie befürchteten, dadurch selbst Machteinbußen zu erleiden. Die machthabenden Politiker begründeten ihre Ablehnung mit der Aussage, die Forderungen der First Nations seien zu ungenau, und die indigene Selbstverwaltung würde ihre eigene provinziale Kontrolle über die Ressourcen in den jeweiligen Ländern einengen. Erst in einem Vorschlag zur Verfassungsänderung von Charlottetown 1992 wurde den First Nations, Métis und Inuit das inhärente Recht auf Selbstverwaltung von sämtlichen Politikern auf Landes- und Bundesebene anerkannt. Zu einer tatsächlichen Änderung der Verfassung kam es aber nicht, da im nationalen Referendum die erforderliche Stimmenanzahl nicht erreicht wurde; die bloße Tatsache einer allgemeinen Anerkennung der Selbstbestimmung für die indigenen Völker Kanadas war jedoch ein großer politischer Durchbruch. „The constitutional conferences of 1992, with the full participation of national Aboriginal leaders, resulted in the Charlottetown Accord. The accord included many provisions related to Aboriginal people, but the most important was one that recognized the inherent right of Aboriginal self-government. All governments – federal, provincial and territorial – agreed to 70 In entsprechendem Auszug aus dem Constitution Act (Section 25) von 1982 findet sich geschrieben, die Canadian Charter of Rights and Freedoms würde nicht „abrogate or derogate from any aboriginal, treaty or other rights or freedoms that pertain to the aboriginal peoples of Canada including a) any rights or freedoms that have been recognized by the Royal Proclamation of October 7, 1763; and (b) any rights or freedoms that may be acquired by the aboriginal peoples of Canada by way of land claims settlement“. Der Paragraph 35 schützt verfassungsrechtlich die Sonderrechte der Aboriginals mit dem Wortlaut: „35. (1) The existing aboriginal and treaty rights of the aboriginal peoples of Canada are hereby recognized and affirmed. (2) In this Act, aboriginal peoples of Canada includes the Indian, Inuit and Métis peoples of Canada. (3) For greater certainty, in subsection (1) ,treaty rights‘ includes rights that now exist by way of land claims agreements or may be so acquired. (4) Notwithstanding any other provision of this Act, the aboriginal and treaty rights referred to in subsection (1) are guaranteed equally to male and female persons.“ (Indian and Northern Affairs 2006d)

134 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS include this right in the constitution, an idea some had rejected just five years earlier. The Charlottetown Accord was put before the people of Canada in a national referendum on 26 October 1992 and defeated. Although this doomed the constitutional amendments relating to Aboriginal peoples, the fact that the federal, provincial and territorial governments accepted that the right of Aboriginal self-government is inherent – and not delegated from other governments or created by the constitution – is a recognition that cannot be readily or easily withdrawn.“71

1995 gab es einen weiteren wichtigen Schritt hin zur faktischen Selbstbestimmung der Aboriginals in Kanada. Die 1993 gewählte liberale Regierung unter Jean Chrétien entwickelte den Federal Policy Guide zur indianischen Selbstverwaltung. Sie nannte diesen einen „historischen Neubeginn der Partnerschaft“ und wollte mit der Richtliniensammlung das immanente Recht auf Selbstverwaltung fest gründen und zu praktischer Geltung bringen lassen:72 „The objective of the federal government is clear. Significant change must be made to ensure Aboriginal peoples have greater control over their lives. The most just, reasonable and practical mechanism to achieve this is through negotiated agreements.“73

Auch wenn dies verfassungsrechtlich nicht eindeutig bestätigt ist, stellt dieses wichtige Dokument der Bundesregierung doch in gewissem Sinne Ausdruck der Verfassung dar, denn die Autoren der Federal Policy Guides betonen ausdrücklich, sich auf den Artikel 35 der kanadischen Verfassung zu berufen: „The Government of Canada recognizes the inherent right of self-government as an existing Aboriginal right under section 35 of the Constitution Act, 1982. It recognizes, as well, that the inherent right may find expression in treaties, and in the context of the Crown’s relationship with treaty First Nations. Recognition of the inherent right is based on the view that the Aboriginal peoples of Canada have the right to govern themselves in relation to matters that are internal to their communities, integral to their unique cultures, identities, traditions, languages and institutions, and with respect to their special relationship to their land and their resources.“74 71 Ebd. 72 Im 1993 zur Wahl vorgelegten Liberal Red Book kennzeichnet die Liberale Regierung unter Jean Chrètien ihre Absichtserklärung, die in der Verfassung unter Absatz 35 anerkannte indianische Selbstverwaltung tatsächlich in die Tat umsetzen zu wollen. (Indian and Northern Affairs 2008a, Message from the Ministers) 73 Ebd. 74 Indian and Northern Affairs 2008a, Part I, The Inherent Right of Self-Government is a Section 35 Right

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De facto führte die Richtliniensammlung der Bundesregierung zu diversen politischen Konsequenzen, und ihre Bedeutsamkeit drückt sich vor allem in der Tatsache aus, neben den Bundes- und den Landesregierungen, eine dritte Regierungsebene anzuerkennen: die indianische Selbstverwaltung.75 Der Weg zur vollständigen Umsetzung dieser scheint jedoch lang und steinig angesichts der traumatischen Geschichte der First Nations, Métis und Inuit in Kanada. Nach wie vor geht es der indigenen Bevölkerung in Kanada in der Regel schlechter als dem Rest der Bevölkerung. Die Lebenserwartung ist niedriger, die Selbstmordrate höher. Eltern haben nie gelernt, ihre Kinder zu erziehen, waren sie doch selbst als Kinder jahrelang in residential schools. Bedeutsames Wissen um die Kultur und viele alte Geschichten sind verschüttet und verloren. Viele der ursprünglichen Sprachen existieren nicht mehr. Trotz Vollbeschäftigung in Kanada haben viele Aboriginals keine Arbeit, hausen in schlechten Lebensverhältnissen und leben von Sozialhilfe. Nicht selten gehen sie zwielichtigen Arbeiten wie Prostitution und Schwarzarbeit nach. Obwohl nur zwei Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung Menschen indigener Völker sind, liegt die Rate der in Gefängnissen inhaftierten Aboriginals bei 15%.76 Vorurteile auf beiden Seiten, direkter und indirekter Rassismus sind in Kanada nicht von der Hand zu weisen. 2.1.3 Die besondere Situation und Geschichte des Nordens: Kulturrevolution in der Arktis Canada’s vast unoccupied continent to the north constitutes the fiercest challenge and the brightest promise that has ever fallen to one nation’s lot in history.77 GENERAL THE RIGHT HONOURABLE GEORGE P. VANIER

75 Will Kymlicka (2001) betont in Politics in the Vernacular. Nationalism, Multiculturalism, and Citizenship man könne nicht mehr länger nur noch von „Multikulturalismus“ sprechen, sondern müsse auch den besonderen Status von Nationen hervorheben. Der „Multinationalismus“ in Kanada müsse anerkannt werden, um den First Peoples gerecht werden zu können. Denn die indigenen Völker gehören nicht nur einzigartigen Kulturen an, sie besitzen einen Nationenstatus, den Einwanderer in Kanada nicht haben. Neben den Aboriginal Menschen betont er, müsse auch den Québecois der Nationenstatus zuerkannt werden. Diese Argumentation scheint richtungweisend für die nächsten Jahre in Kanada. 76 Conrad, Finkel 2002b, 472 77 Vanier (Governor General of Canada, 1959-67) in: Phillips 1967, x

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Wenngleich einige Parallelen mit oben geschilderter Geschichte nicht von der Hand zu weisen sind, stellt sich die Situation des Nordens dennoch anders dar. Aufgrund der isolierten Lage und der unwirklichen Lebensbedingungen in Eis und Schnee lebten die Einheimischen dort viel länger unbehelligt von den Geschehnissen im Rest des Landes. Die Veränderungen der letzten Jahrzehnte waren jedoch so abrupt, rapide und folgenschwer, dass John Hamilton sein Buch über den sozialen Wandel in den Nordwest Territorien von 1935-1994 Arctic Revolution78 betitelte. Ähnlich dramatisch wie eine Revolution stellen sich nämlich die neuen Lebensverhältnisse für die Menschen des Nordens dar. Dieser besonderen Lage der kanadischen Arktis soll in der Folge Rechnung getragen werden, wenn die wichtigsten Eckdaten ihrer Geschichte dargestellt werden. 2.1.3.1 Land der Extreme Die Definition des „Nordens“ ist nicht eindeutig und muss spezifiziert werden. Es soll hier um das westliche Kanada jenseits des 60. Breitengrades gehen: um den Yukon und vor allem die Nordwest Territorien. Auch der Begriff der Arktis kann unterschiedlich bestimmt werden. Zum einen bezeichnet er die Land- und Wassermassen innerhalb des arktischen Zirkels (nördlich des 66. Breitengrades). Andere Wissenschaftler halten sich bei der Definition an spezifische Merkmale wie Sonneneinstrahlung, Temperatur und Klima. Wieder andere argumentieren, die Arktis sei allgemein der unbewaldete Landschaftsstreifen des hohen Nordens.79 Der Norden offenbart sich dem Menschen in Extremen: eisige Kälte, endlose Schneewüsten80, tagelange Dunkelheit im Winter und nächtelanger Sonnenschein im kurzen Sommer. Der Norden drückt sich in einer Einfachheit aus, bei der es um das pure Überleben geht und weist dennoch ungeahnte Komplexität auf. Nicht umsonst haben die Inuit über zwanzig Worte für Schnee. Das Wissen um die unterschiedlichen Eis- und Schneeformen war zu Zeiten umherziehender Nomadengruppen lebensnotwendig und spielt auch heute noch für die Jäger eine wichtige Rolle. Die Landschaft zeigt sich über das Jahr meist schneebedeckt und weiß, hellblau schimmert das Eis zugefrorener Seen. Nordlichter 81 tanzen geschmeidig in den

78 Hamilton 1994 79 Hamilton 1994, 9 80 Es handelt sich hier geographisch gesehen tatsächlich um eine (Halb-)Wüste („kälteste Wüste der Welt“), denn die Niederschlagswerte sind außerordentlich gering. 81 Die Nordlichter, oder auch aurora borealis, fluoreszieren in kalten Winternächten am Himmel und scheinen die Luft in Brand zu stecken. „The colours range the spectrum; the most common is the bluish green that darts in rays and crowns, spreads like enormous erupting flowers, or shifts like the coloured arc-lights of a pageant. The cause of the display is the bombardment of the earth’s outer atmosphere by protons and electrons travel-

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vielfältigsten Farben und Formen über den Himmel. Im kurzen Sommer blüht das karge Land unerwartet bunt, und die flache Sonne zeichnet alles in einem weichen, klaren Licht. Über der Erde hat das steinige, wüste Land nicht viel zu bieten, dennoch besitzt es unglaubliche Reichtümer unter der Erde. Seine Bewohner müssen hart arbeiten, um überleben zu können und dennoch erklären viele Älteste, das Leben einst wäre einfach, unbeschwert und gut gewesen. Die Menschen waren aufeinander angewiesen und brachten sich dennoch immer wieder im Kampf um Ressourcen und Nahrung ums Leben. Zwei Landschaftsformen prägen den Norden: bewaldete Gegenden der Taiga in der Subarktis82 und unbewaldete Landstriche der Tundra (auch Barrenland genannt) jenseits der Baumgrenze in den nördlichsten Regionen der Arktis.83 Die unterschiedlichen Landschaften bergen unterschiedliche Bewohner und fördern verschiedenartigste Lebensformen. Dies gilt für Tiere und Pflanzen wie auch für Menschen: „West of the tree line is the Mackenzie Basin, and because the river valley, the lakes, and the various mountain ranges protect the land, a forest of varying size and density flourishes almost to the ocean. It is in this basin that all of the NWT’s Indians have lived for many hundreds (or thousands) of years. East of the tree line is the tundra – that is the Barren Lands – the Arctic coast, Hudson Bay, and the Arctic Islands. This is the habitat of the Eskimos, about 15.000 Inuit plus 2.500 Inuvialuit who live in the general territory and islands around the mouth of the Mackenzie River, sharing parts of the treed Delta with the Gwich’in (formerly known as the Loucheux or Loucheux Kutchin) Indians.“84

Unzählige Mengen von Moskitos quälen Mensch und Tier im Sommer. Aufgrund des Permafrostes85 entstehen große Seen, oder besser riesenhafte Pfützen, denn das ling at hundreds of thousands of miles a second; they release energy in the form of light.“ (Phillips 1967, 15) 82 Als Subarktis wird das Gebiet der nördlichen Hemisphäre südlich der Arktis bezeichnet. Neben Kanada weisen Sibirien, Nordskandinavien, Mongolei und Teile Nordchinas große subarktische Landstücke auf. In der Regel befinden sich diese zwischen dem 50. und 70. Breitengrad – ja nach örtlichem Klima. Das subarktische Klima (boreal climate) zeichnet sich allgemein durch lange, kalte Winter und kurze, warme Sommer aus. 83 „The Canadian North, [...] is divided into two immense segments. The tree line runs diagonally from the Beaufort Sea in the northwest to a point on Hudson Bay just north of Churchill, Manitoba, in the southeast. It continues on through the Ungava Peninsula in Quebec and Labrador.“ (Hamilton 1994, 9) 84 Ebd. 85 Permafrost (Dauerfrost) bedeutet, dass der Boden ständig gefroren ist. Dieser Zustand hält über viele Jahrhunderte hinweg an. Vorraussetzung für die Ausbildung von Dauer-

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Wasser kann nicht versickern, und die Larven der aggressiven Blutsauger können sich darin hervorragend fortpflanzen. In diesem Land der Extreme müssen seine Bewohner nicht nur um die Gesetze der Natur wissen, sie müssen sich ihr beugen, mit ihr eins sein, um überleben zu können. Die einzigartige Kultur der Inuit spiegelt diese enge Verbundenheit mit der Natur eindrücklich wider. Ohne ein grundlegendes Verständnis der Herausforderungen eines Lebens in Eis und Schnee sind Kultur und Tradition der Inuit sowie die Geschichte des Nordens nicht zu verstehen. 2.1.3.2 Zur Geschichte der Menschen des Nordens Archäologen gehen davon aus, dass Paläo-Eskimos (Dorset) vor etwa 4.000-3.000 v. Chr. von Asien über die Beringstraße nach Alaska kamen. Sie sind demnach deutlich später auf den amerikanischen Kontinent gelangt als die indianischen Ureinwohner (erste Paläo-Indianer werden so um 20.000 v. Chr. angesiedelt 86). Man kann die genaue Herkunft der in der kanadischen Arktis lebenden Inuit nicht vollständig klären. Doch weisen archäologische Funde daraufhin, dass es sich bei einigen dieser Volksgruppen auch um späte Einwanderer aus dem heutigen nord-westlichen Alaska handelt, die niemals über die Baumgrenze hinaus kamen. Dort drängten nämlich die schon lange das ressourcenreiche Habitat südlich der Baumgrenze bewohnenden First Nations die Neuankömmlinge immer wieder zurück in Eis und Schnee. „It was probably around 4.000 B.C. that the Eskimos arrived in North America. Some stayed in The Aleutian Islands and on the coasts of Alaska. Others spread eastwards into the Canadian barrens because of population pressures and altering patterns in hunting, or as a result of a

frostböden ist eine mittlere Jahrestemperatur von unter 0 °C. Diese Bedingung ist in Gebieten mit einer extrem langen Winter- und einer kurzen und kühlen Sommerperiode gegeben. Weiterhin begünstigen wenig Schneefall und eine dünne Vegetationsdecke die Bildung von bis in große Tiefen gefrorenen Böden. Das Auftauen der oberen Schichten des Permafrostes birgt für Ingenieurbauten wie Straßen, Gebäude oder Pipelines eine Vielzahl von Problemen. Durch den permanent gefrorenen Boden unter der Auftauschicht kann Niederschlags- oder Schmelzwasser nicht versickern, so dass der Oberboden immer wassergesättigt bleibt. Dies führt je nach Geländeneigung zu Fließ- und Rutschbewegungen des Bodens, wodurch Bauwerke über Permafrost stark gefährdet sind. 86 Die Zahlen gehen hier weit auseinander und die Bandbreite reicht von 28.000 Jahren bis 15.000 Jahren. Eine Rekonstruktion gestaltet sich aufgrund spärlicher archäologischer Funde schwer. Sicher ist, dass die ersten Inuit wesentlich später als die ersten First Nations in Nordamerika ankamen.

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changing climate. [...] Archaeologists have not yet found evidence to identity the time and place of movements from Alaska into Canada.“87

Somit steht zu vermuten, dass sich zwei Hauptgruppen von Inuit in der Arktis befanden: die aus Alaska kommenden Thule Inuit und die älteren Dorset PaläoInuit. Die Mitglieder der Thule Kultur entwickelten beachtliche Fähigkeiten, um in der harschen Arktis zu überleben. In einer Region, in welcher europäische Siedler auch viele Jahre später nicht ohne Hilfe von außen hätten überleben können, blühte die Kultur der Thule.88 Etwa vor 1100 Jahren setzten sich die Thule Gruppen schließlich durch und verdrängten die Dorset Inuit. 89 Die heutigen Inuitkulturen Kanadas zeigen einerseits einige Unterschiede in Dialekt, Kleidung, Werkzeugen und Gebräuchen auf, sind aber andererseits doch sehr ähnlich, da sie ihre gemeinsame Herkunft von den Thule Inuit teilen. Diesbezüglich erläutert Crowe: „There was no certain time when the Thule way of life became the Inuit way, only a gradual change, greater in some places than others. Most people agree that by about A.D. 1700 the true Thule culture had become that of the modern Eskimo, the Inuit.“90

Hamilton erwähnt, nichts demonstriere die Meinung, die unterschiedliche kulturelle Gruppen voneinander haben, so gut, wie gegenseitige Be- und Zuschreibungen.91 Die in den bewaldeten Gegenden der Subarktis lebenden Ureinwohner lieferten sich immer wieder blutige Kämpfe mit den weiter im Norden beheimateten Inuit, die sich auf ihren Jagdstreifzügen gegenseitig Konkurrenz machten. Von diesen Begegnungen zwischen Chipewyan (Cree) und Inuit stammt der Ausdruck „Eskimo“,

87 Phillips 1967, 29 88 Die frühen Thule Inuit waren vor allem durch ihre exzellenten Fähigkeiten als Walfänger in die Geschichte eingegangen. Sie hatten es fertig gebracht, mit einfachsten Mitteln sogar Grönlandwale zu erlegen. Die Kunst des Walfangs ging allerdings während der kleinen Eiszeit von 1650 bis 1850 weitgehend verloren; die großen Legenden darüber bestehen nach wie vor. 89 „Thule pioneers spread rapidly east throughout the Arctic in a series of migrations which changed the ethnic map of the entire North American Arctic. They were not entering an unoccupied land. Most of Arctic Canada and Greenland was the home of an eastern ,Palaeoeskimo‘ people known to archaeologists as Dorset. Within a few decades, or at most a few centuries, they dis-appeared entirely, apparently pushed into oblivion by the more vigorous and more accomplished newcomers.“ (Canadian Museum of Civilization Corporation 1997) 90 Crowe 1974, 18 91 Hamilton 1994, 11

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den der „weiße Mann“ (qallunaaq in Inuktitut92) übernommen hat. Eskimo 93 heißt in der Sprache der Chipewyan „Rohfleischesser“ und spiegelt das Entsetzen der Cree über die rauen Eigenschaften der Inuit wider. Bis auf einige Kontakte mit skandinavischen Wikingern um 1250 n Chr.94 lebten die Inuit lange Zeit völlig unbehelligt von europäischen Einwanderern und regelten eigenständig ihr Zusammenleben. Vor dem Kontakt mit Europäern gab es in Kanada etwa 20.000 bis 25.000 Inuit. Die Menschen lebten und jagten in der Regel nicht in größeren Gesellschaften, sondern in losen Zusammenschlüssen mehrerer Familien. Außer einigen wenigen Gruppen zogen sie auf ihrer Suche nach Nahrung an den Küstenstreifen von Alaska bis Labrador entlang. Nur durch enorme Kreativität und intelligenten Erfinderreichtum konnten die Menschen in den harschen Bedingungen der Arktis überleben. Unter den zahlreichen Entwicklungen sind vor allem das Iglu, Öllampen, Kleidung aus Tierhaut und Fellen, leichte Kajaks für die Jagd auf dem Meer und Transportmittel wie Hundeschlitten maßgeblich für den Erfolg der Inuit verantwortlich. Werkzeuge und Jagdwaffen wie Pfeil und Bogen, das Ulu (Allzweckmesser mit runder Klinge) und Speere erzielten hohe Effizienz. Inuit waren Nomaden, die den Jahreszeiten und Gesetzen der Natur zur Folge den Tierherden nachzogen. Je nach Ausbeute konnte das Leben angenehm oder 92 Die Sprache der Inuit, Inuktitut („Sprache des Menschen“), gehört zur Gruppe der eskimo-aleutischen Sprachen und zum Sprachtyp der polysynthetischen Sprachen. 93 Das Wort Eskimo mit seiner Bedeutung „Rohfleischesser“ wird von vielen Inuit als entwürdigend empfunden. Während der Inuit Circumpolar Conference (internationale Organisation, die ca. 145.000 Inuit der arktischen Regionen Alaskas, Kanadas, Grönlands und Russlands vertritt) wurde darum 1977 beschlossen, die Bezeichnung „Eskimo“ generell durch „Inuit“ zu ersetzen. „Inuit“ ist Inuktitut und bedeutet „Menschen“. Die Einzahl lautet „Inuk“ (Mensch), zwei Menschen sind „Inuuk“. Traditionell betrachteten die Inuit alle anderen Menschen als Mischungen von Mensch und Tier oder Mensch und Dämon. Auch die Royal Commission on Aboriginal People hält fest: „Following accepted practice and as a general rule, the term Inuit replaces the term Eskimo.“ (Indian and Northern Affairs 2008b) 94 Sowohl archäologische Funde als auch wikingische Schriftzeugnisse belegen, dass es Begegnungen zwischen den Eskimo-Kulturen und Wikingern vor allem auf Grönland gegeben hat. Dort haben sich die skandinavischen Siedler seit dem Jahr 986 unter Eric the Red diverse Siedlungen errichtet. Diese bestanden rund 500 Jahre lang, bis sie aus bis heute nicht restlos geklärten Gründen wieder verlassen wurden. Ob diese Begegnungen regelmäßige Handelsbeziehungen oder nur gelegentliche, womöglich kriegerische Kontakte waren, ist umstritten. Mündliche Überlieferungen der Inuit berichten von kriegerischen Auseinandersetzungen. Eine gute Beschreibung dieser frühen Kontakte findet sich in: Phillips 1967, 42 ff

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aber auch kurz und grausam sein. Die Tötung von Babys und Kleinkindern stellte nicht selten ökonomische Notwendigkeit dar. Dabei waren Jungen als zukünftige Jäger meist wertvoller als Mädchen. Die Alten und Kranken wussten um die Bürde, die sie der Sippschaft auferlegen würden, wenn sie weiter mit umherzögen und wurden oftmals im Camp zum Sterben zurückgelassen. Die Inuitkultur kennt keine Erbfolgen oder Häuptlingstraditionen. Führer der Gruppe war der erfolgreichste und erfahrenste Jäger. Schamanen mit spirituellem Charisma und besonderen Fähigkeiten galten als Weise, Heiler und Ratgeber, konnten aber auch Führungspositionen einnehmen. Alle mussten für das Überleben aller zusammenarbeiten – jeder nach seinen Begabungen und Fertigkeiten. Aggressives, streitsüchtiges oder kriminelles Verhalten war selten und regulierte sich in der Regel schnell von selbst. Denn Diebstahl, Lüge, Gewalt oder Faulheit konnte schnell mit dem Tod mehrerer bezahlt werden und wurde sofort mit dem Ausschluss aus dem Familienzusammenhang geahndet. Rupert Ross erklärt, es gäbe „a practical reason for >the ethic forbidding expression of criticism or anger@: the need to maintain the highest possible level of corporation in the struggle for survival“95. Die Spiritualität der Inuit kreiste um übernatürliche Kräfte, die ihrer Weltanschauung zufolge das Wetter und die Tiere beeinflussten. Schamanen wurden als religiöse Autoritäten und Medizinmänner der Heilkunst mächtig verehrt. Sie allein standen in Kontakt mit Geistwesen. Die Schriftkultur blieb lange unbekannt und hielt erst mit den Missionaren des 19. Jahrhunderts Einzug. Eine starke orale Tradition garantierte die Überlieferung von Geschichten, Traditionen und Moralvorstellungen. Zahlreiche Gesänge zum Trommelschlag erzählen noch heute von Jagdszenen, Geistwesen oder der mühsamen Herstellung diverser Werkzeuge und Kleidung. Der Tanz zur Trommel und Gesang, bei dem Jagdszenen pantomimisch dargestellt oder Tiere imitiert wurden, stellte neben einigen Geschicklichkeitsspielen, die auf engem Raum gespielt werden konnten und die körperliche Fitness während langer Wintermonate gewährleistete, einzige Freizeitbeschäftigung dar. Kunsthandwerk gab es in Form von Schnitzereien in Steine, Knochen, Elfenbein und Geweihen. Die Herstellung überlebenswichtiger Utensilien stand jedoch im Vordergrund. Das einsame Leben der Inuit im hohen Norden fernab von Kolonialpolitik, Krieg, Industrialisierung und Modernisierung änderte sich schlagartig durch den Kontakt mit Entdeckern unterschiedlichster Herkunft96 und brachte ab dem 15. 95 Ross 2006, 200 96 Auch Crowe beschreibt die Schwierigkeit, eine passende Begrifflichkeit für die Einwanderer beziehungsweise kurzzeitigen Besucher des neuen Kontinents zu finden: „The whole time during which northern native people were seeing their first foreigners is called by historians the contact period. Altogether this period lasted about 400 years, beginning near Newfoundland and ending near Victoria Island in the Arctic less than a century ago.

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Jahrhundert große kulturelle und soziale Veränderung mit sich. Kanada war zunächst nicht das Ziel der Seereisen, sondern vielmehr Durchgangsstation auf dem verzweifelt gesuchten Seeweg nach Asien, der Nordwest Passage. Aber es lockte auch bald selbst durch seinen Reichtum an Bodenschätzen und weiteren lukrativen Ressourcen – allem voran Fische und Felle. Im Anschluss an die ersten Entdeckungsreisen John Cabots (1497) und Martin Frobishers (1576) gab es zahlreiche Seefahrer und Abenteuer (meist britischer Herkunft), die sich gewinnbringende Entdeckungen erhofften. Vor allem diejenigen, die sich nicht auf den Rat und die Klugheit der Inuit verlassen wollten und auf eigene Faust das Land beziehungsweise die Seewege erkundeten, mussten dafür häufig mit dem Leben bezahlen. Eine der bekanntesten Tragödien stellt wohl die Franklin Expedition von 1845 dar. Nach dem spurlosen Verschwinden der Mannschaft im ewigen Eis suchten rund 40 weitere Expeditionen zunächst nach den menschlichen Überresten der Verschollenen, später vor allem nach der Ursache der Katastrophe. Diese ersten intensiveren Kontakte der Entdecker mit den Inuit ergaben zwar hin und wieder ergiebige Handelsbeziehungen für beide Seiten, meist allerdings überwog die Furcht der Inuit vor dem Unbekannten oder die Neugierde der Seefahrer hinsichtlich der exotischen Wilden – beides ließ keine dauerhaften Beziehungen entstehen. Berichten zu Folge kam es öfters vor, dass Expeditionsleiter „Vorzeige-Inuit“, mehr oder weniger freiwillig mit in die Heimat nahmen, um sie als Attraktion vorführen und ausstellen zu können. Die meisten davon starben schon nach kurzer Zeit an Infektionskrankheiten, für die sie keine Abwehrstoffe besaßen.97 Einen weitaus größeren Einfluss auf die sozio-kulturellen Aspekte des Lebens der Inuit als die Entdecker hatten die europäischen und amerikanischen Walfänger, die im 19. Jahrhundert in Scharen arktische Meere befuhren. „In the 1850s, Europeans and Americans began to appreciate the commercial value of the Arctic’s animal resources. The North Atlantic commercial whaling industry, operating out of Britain and New England, began large-scale operations in what are now Canadian waters, where they killed thousands of whales. They hired hundreds of Inuit to work on their ships as What should these foreigners be called? First there is the problem of origins. We cannot say ,white men‘, because some were black. European is not accurate, because eventually some were African or Asian, and after several hundred years later many were Canadian and American. Some of them lived all their lives among native people and cannot be called ,strangers‘, or ,newcomers‘. Words like ,Euro-Canadian‘ and ,non-native‘ are clumsy; in fact any term we choose will be open to debate.“ (1974, 63) 97 „One Inuit man kidnapped (with his kayak) by Martin Frobisher from Baffin Island gave an exhibition for Queen Elizabeth I, hunting royal swans on the palace pond.“ (Crowe 1974, 65)

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hunters and seamstresses. A huge range and quantity of manufactured goods entered Inuit society, everything from rifles and tent canvas to whale boats and flour.“98

Bald gab es feste Walfangstationen entlang der Beringsee. Eine der größten und meist besuchten befand sich um 1890 auf Herschel Island99, eine kleine Insel, die von den Inuit seit jeher als Walfangstützpunkt genutzt wurde. Aufgrund der großen Entfernungen ließen die Walfänger nicht selten ihre Schiffe im Meer einfrieren, verbrachten den Winter über in der Arktis und nahmen am Leben der Inuit teil. 100 Dies hatte für viele Inuitgesellschaften katastrophale Folgen: Die Walfänger brachten nicht nur Güter wie Gewehre, Stahlfallen, Mehl, Tabak oder Streichhölzer mit, welche das Leben der Inuit radikal veränderten, darüber hinaus schleppten sie unterschiedlichste Infektionskrankheiten ein. Aufgrund mangelnder Immunität gegen die Bakterien rafften die Krankheiten tausende von Menschen dahin. 101 Auch der Alkohol, den die raubeinigen Walfänger mitbrachten, forderte seinen Zoll an Toten unter den Inuit, die dem Rauschmittel schnell verfielen und daraufhin ungewohnt aggressiv miteinander umgingen. Hamilton berichtet davon, dass aufgrund der Einführung von Patronengewehren die Moschusochsen- und Karibubestände derart zurückgingen, dass hunderte von Inuit verhungerten: „In 1925 Knut Rasmussen said of white influence: ,The clocks cannot be turned back. In most sections

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Morrison 2001a, The Whalers

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Herschel (Qikiqtaruk in Inuktitut), befindet sich etwas über dem 69. Breitengrad. Herschel ist eine sehr kleine Insel in der Beaufortsee (Teil des Arktischen Ozeans): 14.5 Kilometer lang und 8 Kilometer breit. Die Insel liegt gerade einmal zwei Kilometer entfernt vom Festland (Yukon).

100 „When the English and Yankee whalers arrived and invited them to participate, the Inuit were delighted. They liked the excitement of whaling and they liked trading meat, ivory, furs, ammunition, and a few commodities like tobacco, salt, and flour.“ (Hamilton 1994, 13) Crowe (1974, 107) schreibt, neue Gegenstände brachten neue Worte für die Sprachen der Inuit. Englische Seemänner brachten ihre Frauen mit, die den Inuitfrauen Backen und Stricken beibrachten. Einige amerikanische und europäische Walfänger heirateten Inuitfrauen. Der amerikanische square dance wurde eingeführt und löste mancherorts zeitweise sogar die Trommeltänze der Inuit ab. Europäische Sportarten wie Fußball vermischten sich mit traditionellen Spielen und schufen neue Formen des Sports. 101 „The population of the western Canadian Arctic Inuit (called Inuvialuit) fell from an estimated 2000 to 2500 people in 1850, to 150 people in 1910. In the East, the effects of disease were more sporadic. One local group, the Sadlirmiut of Southampton Island, disappeared entirely during the winter of 1902-03. They caught dysentery, a severe disease, from sailors on the Scottish whaling ship Active.“ (Morrison 2001a, Disease)

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the young men are familiar with firearms and have lost their ability to hunt with bows and arrows, kayaks and spears.‘“102 An anderer Stelle erklärt Hamilton, dass die Inuit in Kanada in zwei Gruppen mit je signifikanten Merkmalen zerfallen: in die Inuit der östlichen Arktis und in die Inuvialuit des westlichen Mackenzie Deltas und der Beaufort See. 103 Diese Unterscheidung hat direkt etwas mit dem Sterben der Inuit zu tun und soll deshalb an dieser Stelle erwähnt werden: „Originally, the Mackenzie Delta was occupied by the Mackenzie Inuit, closely related to the Baffin Island and Copper Inuit. They were wiped out by disease, however, from 1880 to 1912 when American whalers operated out of Herschel Island in the Beaufort Sea. The Mackenzie Inuit were partially replaced by Inupiat Eskimos from Alaska’s North Slope, who intermarried with the white whalers and other Europeans. Today’s Inupialuit provide something of an Inuit parallel to the Métis. Many Inuvialuit speak a jargon of English, Inupiat Eskimo dialects, and Inuktitut.“104

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es aufgrund des exzessiven Walfangs kaum noch Wale und die Entwicklung von künstlichen Materialien als Fischbeinersatz für Reifröcke und Ersatzstoffe für Walöl ließ den Walfang obsolet werden. Sowohl die in den Walfang involvierten Inuit wie auch die Walfänger selbst suchten sich andere Existenzgrundlagen. Viele begannen eine Karriere als Fallensteller, denn exquisite Wintermäntel waren nachgefragt und wurden teuer gehandelt. Die Hudson Bay Company entwickelte großes Interesse an den vielversprechenden Fellbeständen der Arktis und eröffnete ihre Handelsposten immer weiter nördlich, bis schließlich zehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg der komplette Norden mit Handelsstationen abgedeckt war. Im Zuge des boomenden Fellhandels, der immer mehr Menschen in den Norden lockte und aufgrund brutaler Rivalitäten der Fallensteller musste die Royal Canadian Mounted Police (RCMP) für Recht und Ordnung sorgen. Neben der Errichtung von Polizeistationen strömten immer mehr anglikanische und katholische Missionare in den Norden, um dort die Christianisierung voranzutreiben. Traditionelle Glaubensüberzeugungen und rituelle Praktiken der Inuit wurden als heidnisch-primitiv erklärt und verdrängt oder verschwanden im Untergrund. Schleichend und unbe102 Hamilton 1994, 14 103 Aus zwei Gründen wird diese Unterscheidung hier erwähnt: Erstens, um den Menschen Rechnung zu tragen. Zweitens ist das Wissen um diese Unterscheidung wichtig, denn die gesamte Forschung dieser Arbeit fand unter den Inuvialuit des Mackenzie Deltas, nicht unter Inuit statt, somit wird in der dichten Beschreibung hauptsächlich von den Inuvialuit die Rede sein. 104 Hamilton 1994, 11

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merkt gingen die Inuit ihrer Unabhängigkeit verlustig und verloren die Verantwortlichkeit über ihr Leben. Viele rutschten in Armut, da ihre Versorgung nicht mehr nur von ihnen selbst abhing, sondern von ihren Handelspartnern und unsicheren Fellabsatzmärkten in weiter Ferne. Aus selbstbestimmten Meistern des Überlebens in Eis und Schnee waren von der Wirtschaft abhängige Händler geworden. Ähnlich wie bei den indigenen Völkern des Südens ging mit dem Verlust des einstigen Lebensvollzugs und des Weltbildes große Teile der Kultur und letztlich auch die Identität, das Selbstverständnis der Inuit verloren. Eine weitere wichtige sagenumwobene Episode der Geschichte des Nordens und deren Einfluss auf die indigene Bevölkerung soll hier am Rande noch erwähnt werden: der Goldrausch im Klondike am Ende des 19. Jahrhunderts. Innerhalb kürzester Zeit schwappte eine ganze Horde abenteuerlustiger Goldsucher aus aller Herren Länder in den Yukon: „Within two years an unbelievable horde of men, women, and children, wild for gold or adventure, poured into the Yukon. They came from all over the world, good people, bad people, actors, criminals, dentists, lords, most of them seeking gold from the ground, some from the pockets of others, and all infected with a sort of crazy excitement.“105

Dass die Menschenmassen aus dem Süden, die bis dahin weit ab vom Trubel großer Metropolen lebenden indigenen Völker nicht unbeeinträchtigt ließen, scheint offensichtlich. Keith Crowe stellt zwei Seiten des Goldrausches für die Ureinwohner heraus:106 Auf der Schattenseite zogen plötzlich unzählige Fremde durch die Jagdgründe der First Nations und brachten Krankheiten, Alkohol und Gewalt. Diskriminierung und Rassismus gegenüber indigenen Menschen hielten Einzug und nahmen ähnliche Formen an wie in den Vereinigten Staaten gegenüber Schwarzen oder dort lebenden Ureinwohnern. Auf der sonnigeren Seite beendete die Ablenkung durch den Goldrausch alte Fehden zwischen einzelnen Völkern und brachte ein Wissen um die Vielseitigkeit der Welt jenseits des eigenen Horizontes. Nicht alle Minenbesitzer behandelten Ureinwohner als Menschen zweiter Klasse. Viele sahen sie als gleichwertig – eine Haltung, die den Menschen der First Nations aus ihren Kontakten mit Händlern der Hudson Bay Company oder mit Missionaren weitgehend unbekannt war. Nachdem um 1920 die Minen erschöpft waren und die Goldsucher schlagartig den Ort des Geschehens verließen, zogen auch die First Nations und Inuit wieder dorthin zurück, wo sie hergekommen waren und versuchten ihr einstiges Leben fortzuführen. Aber, so Crowe, der Schock der Blitzinvasion durch den Lockruf des Goldes saß tief. Das Land war nicht mehr unberührt und die Menschen im Yukon und den Nordwest Territorien nicht mehr die alleinigen Herren ihrer 105 Crowe 1974, 124 106 Ebd., 125

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Länder. Sie fühlten vielmehr den Schatten der Fremden, die mächtig und unberechenbar jeder Zeit wieder kommen konnten. Die kanadische Regierung nahm bis Ende des Zweiten Weltkriegs kaum Notiz vom Leben und Leiden seiner indigenen Völker jenseits des arktischen Zirkels. Während die First Nations schon lange Verträge abgeschlossen und unter dem Indian Act zumindest eine gewisse kanadische Identität hatten, besaßen die Inuit nichts dergleichen.107 Ob dies von Vor- oder von Nachteil war, sei dahingestellt. Die plötzliche Aufmerksamkeit der Regierung bezüglich des Wohlergehens der Inuit hatte mehrere Gründe: Zunächst konnten die schrecklichen Berichte von Hungersnöten und Epidemien nicht mehr länger überhört werden. 108 Durch den gesteigerten Einsatz von Flugzeugen zur Erschließung des Nordens wuchs dieser immer näher an Kanada und an die restliche Welt. Weltweit weckte der verborgene Reichtum des Nordens Begehrlichkeiten. Die Frage der kanadischen Souveränität in der Arktis stellte sich immer dringlicher.109 Ab 1935 zeigte der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt110 gesteigertes Interesse an der Verteidigung des Nordens – inklusive Kanadas. Die daraus resultierenden Maßnahmen 111 begannen noch 107 Erst 1924 gab es eine Ergänzung zum Indian Act, die besagte, dass die Inuit nun auch unter der Verantwortlichkeit des Superintendent General der Indianerbehörde Kanadas (Indian Affairs) stehen. Es gab aber keine eigenen Rechtsbestimmungen für die Inuit – sie wurden einfach unter die First Nations subsumiert. 108 Durch den Bau des Alaska Highways 1942 strömten ähnlich viele Menschen in den Norden wie zu Zeiten des Goldrausches. Diese kamen zurück mit schockierenden Berichten über die Lebensumstände der Inuit und First Nations des Nordens. 109 Die Inuit passten hervorragend in den Plan der Regierung, die Souveränität im Norden zu festigen. Teilweise wurden ganze Familien in feste Siedlungen an „strategisch“ günstigen Punkten umgesiedelt. Hamilton (1994) schreibt: „In the 1950s, for example, largely for sovereignty reasons, Ottawa established Inuit communities at Grise Fjord on Ellesmere and at Resolute on Cornwallis Island, thus creating the farthest north communities in North America.“ (40) 110 Franklin D. Roosevelt war von 1933 bis zu seinem Tod 1945 der 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. 111 Zu den bedeutsamsten Maßnahmen zählt der Bau des Alaska Highways, der weite Strecken durch Kanada führt, die Erweiterung des Flugnetzes inklusive der Errichtung weiterer Flughäfen und das CANOL (Canadian Oil) Projekt. Letzteres sollte die Ölversorgung für den Bau des Highways und die Luftwaffenstützpunkte der Amerikaner sichern. Die sicherste Variante schien die Ausbeutung der Ölvorräte von Norman Wells (am Mackenzie in den Nordwest Territorien) zu sein. Eine gigantische Pipeline von 600 Meilen Länge wurde durch wüstes Land, Sümpfe, reißende Flüsse und hohe Berge von Norman Wells nach Whitehorse gebaut. Dort wurde das Rohöl aufbereitet und mit einer kleineren Pipeline nach Fairbanks gepumpt. Der Aufwand an Arbeitern und Kapital war

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weit bevor die Vereinigten Staaten von Amerika in den 2. Weltkrieg eingriffen. Dies machte die kanadische Regierung in besonderem Maße auf die Bedeutsamkeit seiner nördlichsten Regionen aufmerksam. Viel versprechende Bodenschätze der Arktis erforderten zu deren Ausbeutung entsprechende Länderrechte, die noch verhandelt werden mussten. Die Inuit schienen von den Erfahrungen der First Nations hinsichtlich der Vertragsverhandlungen mit der Regierung gelernt zu haben und begannen schon früh, entsprechende Ansprüche stellen. Die Strategie der Regierung bestand darin, aktiv die Inuit zu ermutigen, ihr nomadisches Dasein gegen ein Leben in festen Siedlungen einzutauschen. Dies schien der einfachste und günstigste Weg zu sein, notwendige Sozialleistungen erbringen und verwalten zu können. Zugleich schien durch die Errichtung von Städten beziehungsweise Siedlungen in der Arktis mit allem was dazu gehört (Polizei, Krankenstation, Altenheim, Kirche, Schule) die Souveränität Kanadas im Norden bewiesen. „Government services and facilities were greatly expanded within these new settlements. Cheap housing was made available, and schools, medical facilities, airports, and modern stores were built. New ,micro-urban‘ communities sprang into being. A population once spread thinly across an immense landscape was now concentrated in a small number of communities. By the mid 1960s, nearly all Inuit in Canada lived in these new settlements.“ 112

Die enorme sozio-kulturelle Veränderung, welche die Inuit durch diese Maßnahmen erlebten, stellte sich als höchst problematisch heraus. Wieder hatte die Regierung eigenmächtig über das Leben seiner Ureinwohner entschieden, ohne diese in die Prozesse mit einzubeziehen. Die Menschen wurden verwaltet. Ihre traditionellen Namen waren für die Regierungsbeamten zu schwer auszusprechen, so bekamen sie Nummern auf kleinen Metallplatten, die Herkunft und das Geburtsjahr kundtaten. Die Inuit hatten keine Möglichkeit mehr, ihr Leben selbst zu regeln. Die Abhängigkeit, die mit der Dreiheit Kirche, Polizei und Hudson Bay Company ihren Anfang nahm, wurde nun staatlich geregelt fortgesetzt. Nachdem die sesshaft gewordenen Inuit immer weniger der Jagd nachgingen, somit auch nicht mehr vom Land leben konnten, wuchs die Zahl derer, die ohne Sozialhilfe vom Staat nicht mehr überleben konnten. Die Arbeitsmöglichkeiten in arktischen Siedlungen waren (sind nach wie vor) sehr beschränkt und die Arbeit, die vorhanden war, konnte nur durch Experten aus dem Süden (Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Ingenieure, Polizisten, Regierungsbeamte) ausgeführt werden. Die Inuit waren natürlich nicht für ein Leben in enorm: 25,000 Männer (und etwa 150 Frauen) bauten 1,800 Meilen an Pipeline und 2,000 Meilen Straße in 20 Monaten. 1944 stand die Pipeline. Jedoch schon ein Jahr später wurde die Raffinerie in Whitehorse geschlossen. Noch heute befinden sich in den unzugänglichen Gegenden Zeitzeugen des umstrittenen Projektes. 112 Morrison 2001a, Re-Settlement

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der Stadt ausgebildet. Dass sich dies ändern musste, war klar, und somit wurden auch Inuitkinder in residential schools geschickt – oftmals weit entfernt im Süden, in völlig andere sozio-kulturelle Zusammenhänge und getrennt von ihren Familien. Teilweise gab es in den kleinen Gemeinden monatelang keine Kinder mehr. Die Folgen der Distanzierung von der Heimat, dem Familien- und Gemeinschaftszusammenhang und von einer Erziehung ohne traditionelle Inhalte stellten sich ähnlich dramatisch dar wie für die Menschen der First Nations im Süden. Kinder lernten nie die seit Generationen weitergetragenen Geschichten und alten Weisheiten des Überlebens auf dem Land, sie lernten nie, was es heißt, Vater oder Mutter zu sein, sie verlernten ihre Muttersprache und traditionelles Sozialverhalten. Die Kinder, die in die Gemeinden zurückkehrten, waren Fremde. Sie konnten ihre Ältesten nicht mehr verstehen und sie auch nicht mehr entsprechend ihrer Kultur mit traditionellen Gütern vom Land versorgen. Nach dem 2. Weltkrieg hatte das moderne Leben und die Zivilisation mit allen dazugehörigen Schwierigkeiten und Chancen endgültig im Norden Einzug gehalten.113 Fluglinien und Flughäfen, Highways und Straßennetze, moderne Städte, Minen, Pipelines und Ölplattformen, unter enormen Kosten und Mühen errichtet, veränderten das Bild der Arktis völlig: sowohl das Landschaftsbild wie auch die Sozialstruktur. Alles ging rasend schnell. Das viele Jahrhunderte lang unberücksichtigt gebliebene Volk der Inuit musste sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten an ein völlig neues Leben anpassen. Bei diesem Sprung vom Nomadenleben im Iglu zum modern-bürgerlichen Leben in Häusern mit Küche, Fernseher und Computer innerhalb nur eines Menschenlebens hatten die Inuit keinerlei Mitspracherecht oder Einflussmöglichkeit. Die Regierung hatte sich entschlossen, Einfluss zu nehmen, sich um seine Ureinwohner des Nordens zu kümmern, damit jedoch war ein radikaler Eingriff in die Kultur und teilweiser Verlust von dieser nicht zu vermeiden: ein Dilemma ohne Ausweg. Der Kalte Krieg zwischen den beiden Großmächten, den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und der Sowjetunion (UDSSR), brachte weitere Radarstationen und Luftwaffenstützpunkte in die kanadische Arktis, da im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung die Hauptflugroute beider Nationen über diese verlaufen wäre. Kanada und die USA bauten in einer gemeinsamen Unternehmung zur Verteidigung von 1946 bis 1956 neben Wetter- und Signalstationen die so genannte 113 Hamilton (1994; 300) argumentiert, was im Yukon der Goldrausch war, stellte für die Nordwest Territorien die Invasion durch den Bau diverser kriegsrelevanter Technologien dar. In beiden Fällen wurde der hohe Norden nicht nur für den Rest der Welt aufgeschlossen, durch die geballte Konfrontation mit dem Fremden begannen die Einheimischen über ihre eigene Identität nachzudenken und Fragen der Eigenverantwortlichkeit traten verstärkt in den Vordergrund.

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Distant Early Warning (DEW) Line. Dieses teuere Radarsystem erstreckte sich entlang der gesamten Küste von Alaska nach Labrador und sollte vor feindlichen Raketen und Flugzeugen warnen. Viele Inuit und First Nations fanden Arbeit auf den Stützpunkten und zogen häufig mit der ganzen Familie zur Radarstation. Der direkte Kontakt mit den Errungenschaften der Moderne und den Menschen aus dem Süden hatte erneut großen Einfluss auf die Lebensweise und Kultur der Ureinwohner. Nachdem sich die akute Spannung zwischen der UDSSR und USA gegen Ende der 80er Jahre gelegt hatte, erstarb der Betrieb der DEW Linie. Die dort stationierten Arbeiter aus dem Süden zogen wieder in die Heimat. Zurück blieben die Inuit, die sich eingelassen hatten auf einen weiteren Schritt in die zivilisierte Welt und nun doch wieder zurückgeworfen waren auf sich selbst. 1955 begann der Bau von Inuvik, der größten Ansiedlung in der westlichen Arktis. Inuvik sollte das administrative Zentrum der Region und Modellprojekt einer arktischen Stadt werden. Darüber hinaus galt Inuvik als Meisterwerk neuester Ingenieurstechnologie.114 Eine Forschungsstation und Militärbasis sollte die kanadische Souveränität demonstrieren. In nur sechs Jahren stand die perfekt durchgeplante Stadt im Mackenzie Delta und beherbergt seitdem Menschen der unterschiedlichsten Herkunft. Hamilton schreibt, eigentlich bestand Inuvik, wie auch andere arktische Siedlungen, aus zwei Städten: eine für die Ureinwohner (Gwich’in First Nations bzw. Inuvialuit) und eine für die euro-kanadische Bevölkerung, die diese verwaltet.115 Die Macht, Einfluss zu nehmen, lag allein bei der Regierung, die indigene Bevölkerung musste sich fügen. Die große Arbeitslosigkeit unter den Ureinwohnern gab der Regierung Anlass zur Sorge. Beim Bau der DEW Linie zeigte sich, dass sich die Inuit schnell an ein Leben als Arbeiter beziehungsweise Angestellte anpassen konnten. Um die Bildung der Inuit dem Standard des Südens anzupassen, wurden nun auch in entlegensten Gemeinden Schulen errichtet (das Kurrikulum und die Lehrinhalte wurden einfach von Schulen des Südens übernommen). Diese Ausbildungseinrichtungen sollten die Menschen auf ein Leben in der Industriegesellschaft vorbereiten und es ihnen ermöglichen, als Minenarbeiter und auf Ölplattformen zu arbeiten. Hamilton erwähnt

114 Der Bau großer Gebäude wie Krankenhaus, Hotels, Schulen und Feuerwehrstation auf Permafrost stellte sich als Herausforderung dar. Die Errichtung der Häuser auf Stelzen verhinderte ein Schmelzen des Permafrostes und Einstürzen der Häuser, die nicht mehr auf weichen, sich ständig verändernden Böden standen. Ein gigantisches Abwasser- und Frischwassersystem, das so genannte utilidor-system, verbindet die einzelnen Häuser und sorgt für Wasser aus dem Hahn und problemlose Abwasserentsorgung. 115 Hamilton 1994, 80

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dazu allerdings kritisch, das paternalistisch anmutende Konzept der Regierung bildete die Inuit rein zu Arbeitern aus, nicht zu gleichberechtigten Bürgern. 116 Es gab noch weitere Versuche der Regierung, den Inuit eine neue Lebensgrundlage zu ermöglichen. Die meisten davon wurden allerdings implementiert, ohne sich mit den Inuit selbst zu beraten. So kam es zu einigen gewagten, aber wenig erfolgreichen Maßnahmen wie die der Einführung von Rentierzuchtstationen, welche Inuit, ausgebildet von professionellen Züchtern aus Lappland, verwalten sollten. Zu diesem Zweck veranlasste die kanadische Regierung in den dreißiger Jahren eine riesige Rentierherde (3.000 Tiere) von Alaska unter enormen Anstrengungen und Kosten nach Kanada zu treiben. Die Inuit zeigten allerdings nicht das gewünschte Interesse, in den Zuchtbetrieb einzusteigen, und so musste die Regierung bald selbst ihre Herden versorgen.117 Die rasanten Entwicklungen machten es zunehmend schwer, die enorme Landmasse des Nordens mit seinen verstreuten Ansiedlungen von Menschen von dem weit entfernten Ottawa aus verwalten zu können. Eine Dezentralisierung der Politik schien immer dringlicher, um den Besonderheiten des Nordens gerecht werden zu können. Die Regierungsbeamten im fernen Ottawa hatten zudem keine Ahnung von den Herausforderungen des Nordens und der Verschiedenartigkeit der Kulturen in der Arktis. Die meisten, wenn nicht alle, waren noch nie dort gewesen. Aufgrund der Empfehlung der Carrothers Commission118 wurde Yellowknife 1967 schließlich 116 Ebd., 81 117 Es dauerte fünf Jahre, um die Tiere durch das unwegsame Gelände zu treiben. 2370 Tiere erreichten 1935 das Mackenzie Delta. Die Aufzucht und Pflege von Rentieren wie dies beispielsweise in Lappland in Norwegen in großem Stil betrieben wird, war der Kultur der Inuit gänzlich unbekannt, und das Ziel der Regierung längerfristig eine neue Lebensgrundlage für die Inuit zu schaffen, war weniger erfolgreich als erwartet. 1921 schon hatte die Hudson Bay Company vergeblich versucht, den Inuit die Domestizierung und Herdenhaltung näher zu bringen. Das gut gemeinte Projekt scheiterte nicht völlig, doch nach wenigen Jahren schon musste die Regierung ihre Herden selbst übernehmen, da die Inuit das Fallenstellen oder Anstellungen in der Industrie lukrativer fanden. (Phillips 1967, 154, vgl. auch Porslid 1936) 118 Die Carrothers Commission (The Advisory Commission on the Development of Government in the Northwest Territories) unter A.W.R. Carrothers hatte von der kanadischen Regierung (Premierminister Lester B. Pearson) den Auftrag bekommen, mögliche Grundzüge einer regionalen Regierung für die Nordwest Territorien zu entwickeln. Die Kommission unternahm in den Jahren 1965 und 1966 weitreichende Umfragen unter der Bevölkerung in den Nordwest Territorien. Die Hauptempfehlungen im Abschlußbericht lauteten, die territorialen Regierungsinstanzen von Ottawa nach Yellowknife (der neuen Hauptstadt) zu legen. Darüber hinaus kamen die Kommissare zu dem Schluss, dass eine Trennung des riesigen Gebietes der Nordwest Territorien zu dem gegebenen

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zur Hauptstadt der Nordwest Territorien erklärt und die territorialen Regierungsinstanzen mit Stuart Hodgson als erstem Regierungsbeauftragten von Ottawa dorthin verlegt. Ende der 70er Jahren stellte die Regierung der Nordwest Territorien schließlich eine gewählte, repräsentative Instanz dar. In den 60er und 70er Jahren lockte der Norden wieder einmal durch den Reiz des großen Reichtums – diesmal waren es die unzähligen Erdöl und Erdgas Vorkommen. In Alaska musste die amerikanische Regierung jedoch zunächst dem Druck von Naturschutzorganisationen und ersten politisch aktiven Ureinwohnerorganisationen (Alaska Federation of Natives119) nachgeben. Gerichte hatten entschieden, dass erst die Länderrechtsverhandlungen mit den Ureinwohnern abgeschlossen sein mussten, bevor die Regierung an den Bau von Bohrstationen, Pipelines und Raffinerien denken konnte. Daraufhin drängten die Ölfirmen, die den großen Geldsegen vor Augen hatten, die Regierung zu rascher Handlung. 1971 kam es zum Native Land Claim Act. Diese Verhandlungen der amerikanischen Regierung mit seinen Ureinwohnern motivierten die Inuit, Inuvialuit und First Nations in Kanada, sich auch stärker politisch zu engagieren. Dazu kam, dass die Führer der Ureinwohner aus Fehlern ihrer Eltern und Großeltern gelernt hatten und sehr vorsichtig und wachsam in die Vertragsverhandlungen gingen. 1921 hatten Repräsentanten der Dene Nation120 in Arctic Red River (heute Tsiigehtchic) und Fort McPherson den Treaty 11121 unterZeitraum noch nicht zu empfehlen sei, auf lange Sicht jedoch wünschenswert und wohl auch unvermeidlich. Diese Ergebnisse bereiteten den Weg für die Teilung und Errichtung des selbständigen Territoriums Nunavut im Jahr 1999. 119 Die Alaska Federation of Natives (AFN) wurde 1966 gegründet, als sich 400 Ureinwohner aus 17 verschiedenen Organisationen drei Tage lang trafen, um Länderrechte in Alaska zu verhandeln. Durch die Vereinigung wuchs die politische Machtposition der Ureinwohner in Amerika enorm. (Alaska Federation of Natives 2008) 120 Mehrere Ureinwohnergruppen der Nordwest Territorien (Akaitcho, Gwich’in, Sahtu, Tli Cho (Dogrib), Deh Cho (Slavey)) bezeichnen sich selbst als Dene tribes und nicht als „Indian“ tribes. Die Dene sind Nachkommen der Denedeh und sprechen Athapaskan. Dene heißt so viel wie „die Menschen“. Interessant ist, dass auch die Inuit mit ihrer Selbstbezeichnung darauf hinweisen, „die Menschen“ zu sein. 121 Nachdem reiche Ölvorkommen in Norman Wells entdeckt wurden, bemühte sich die Regierung um den möglichst schnellen Abschluss eines Länderrechtsvertrags mit den Ureinwohnern des Landes entlang des Mackenzie (Slavey, Dogrib, Loucheux, Hare und andere), denn diese wehrten sich aggressiv gegen Ölfirmen, die natürlich nun gesteigertes Interesse an deren Ländern zeigten. Übereilig wurde eine Kommission der Regierung in das Land gesandt (die wenig freundlich begrüßt wurde) und der Vertrag Nr. 11 unterzeichnet. Obzwar die Ureinwohner versuchten, vorsichtig alle Fehler ihrer Vorgänger zu vermeiden und beispielsweise Reservate ablehnten, traten sie doch enorme

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zeichnet. Angeregt durch das gesteigerte Interesse der Regierung in den 70er Jahren, das große Mackenzie Delta Pipeline Projekt in die Wege zu leiten, erhitzte sich die Diskussion um die Gültigkeit dieses Vertrages Nummer 11. Dies lag unter anderem an der Behauptung der indigenen Vertreter, dass ihnen mündlich etwas anderes zugesagt worden war, als das, was letztendlich im Vertrag stand. Die Dene argumentierten, sie hätten nie ihr Land inklusive aller Rechte vollständig abgegeben, sie hätten lediglich erlaubt, auf ihrem Land Ressourcen abbauen zu lassen. Die Regierung erklärte sich daraufhin bereit, zu Gesprächen um Länderrechte an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das Bild der politischen Bühne begann sich zu verändern, und die Regierung in Ottawa wusste, dass sich die Ureinwohner nicht mehr mit der einstigen Vertragspolitik abspeisen lassen würden. So berichtet Hamilton von folgender Begebenheit: „In 1969 Chief Pierre Catholique of Snowdrift stomped out of a Yellowknife meeting with DIAND [Department of Indian Affairs and Northern Development] officials saying: ,From now on, if twenty-one government people come to a meeting, twenty-one Indian leaders must come and sit across the table from them. From now on, we, the chiefs, must talk to the government only when we are all together.‘“122

Mit der Unterstützung von dem Department of Indian Affairs and Northern Development (DIAND)123 gründeten 1969 sechzehn Häuptlinge unterschiedlichster Herkunft die Vereinigung „Northwest Territories Indian Brotherhood“124. Die junge Organisation hatte auch gleich alle Hände voll zu tun, denn immer mehr Prospektoren und Unternehmer strömten auf ihrer Suche nach dem flüssigen Gold Landstücke für versprochene Sozialleistungen ab, die im Nachhinein nur halbherzig erfüllt wurden. (Indian and Northern Affairs 2006e) 122 Hamilton 1994, 130 123 „The Department of Indian Affairs and Northern Development [DIAND], created in 1966, is a highly decentralized organization which responds to the varying needs of a culturally, economically and geographically diverse clientele. The department is responsible for Indian and Inuit affairs and the residents of the Yukon and Northwest Territories and their resources. It also fulfills the lawful obligations of the federal government to Aboriginal peoples as outlined in treaties, the Indian Act and other legislation. DIAND is responsible for funding, the delivery of basic services to First Nation and Inuit communities, including education, social assistance, housing and community infrastructure.“ (Williams s.d.) 124 1975 legte die Vereinigung der Indian Brotherhood (Nordwest Territorien) seine Haltung bezüglich der Länderrechte und der politischen Rechte in der so genannten Dene Declaration dar. 1978 nannte sich die Indian Brotherhood der Nordwest Territorien ihrem Selbstverständnis folgend „Dene Nation“.

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in den Norden und organisierten professionelle Bohrungen. Zahlreiche Untersuchungen bestätigten enorme Erdöl und Erdgas Vorkommen, und Petroleum Firmen begannen mit Werbekampagnen für ein riesiges Pipelineprojekt von Alberta zur Beaufort Sea. 1972 schloss sich die Métis Association der Nordwest Territorien (Métis Nation, ab 1983 organisiert im Métis National Council125) der Indian Brotherhood an, um mit gemeinsamer Stimme nachdrücklich Länderrechte einzufordern. Laut der Zeitschrift NWT Plain Talk on Land and Self-Government126 akzeptierte die Regierung deren umfassende Gemeinschaftsanträge auf Länderrechte im Mackenzie Delta. Die Verhandlungen begannen 1981, und erste Abkommen kamen 1990 zum Abschluss. Es kam allerdings nie zu einer endgültigen Ratifizierung der Verträge, da sich die einzelnen indigenen Gruppen aufgrund teilweise völlig unterschiedlicher Präferenzen nicht zu einem gemeinsamen Abkommen durchringen konnten. Die Métis, Gwich’in und Sahtu First Nations gingen daraufhin eigene Wege und forderten die Verhandlung von individuellen Vereinbarungen.127 Die Gwich’in Dene und die Métis im Mackenzie Delta waren die ersten First Nations, die 1992 ihren Vertrag mit der Regierung unter Dach und Fach bringen konnten (die Inuvialuit kamen bereits 1984 zu einem Abschluss). Daraufhin folgte 1994 das Sahtu Dene and Métis Comprehensive Land Claim Agreement. Die Inuit der östlichen Arktis und die Inuvialuit der Beaufort Sea beschritten jeweils eigene Wege. 1969 gründete eine Gruppe im Mackenzie Delta lebender Menschen das Committee for the Original People’s Entitlement (COPE). Ziel war, alle Ureinwohner im Delta unter einer Körperschaft zu vereinen, um auf der politischen Bühne geeint mitspielen zu können.128 COPE war 1971 auch an der Grün-

125 Vgl. Métis National Council s.d. 126 Indian and Northern Affairs 2005, 2 127 Im 1982 errichteten Mackenzie (Beaufort) Delta Regional Council waren die Dene First Nations als eine Gruppe jedoch mit den Métis und den Invuialuit des Deltas gemeinsam vertreten. 128 Im Zuge der Verhandlungen um Länderrechte erkannten einige Indianer und Inuitführer, dass es wichtig war, sich nach Art der Weißen zu organisieren, um adäquat und zielführend verhandeln zu können. COPE war eine solche Organisation, die sich mit dem Ziel zusammengeschlossen hatte, sich für die Belange der Ureinwohner einzusetzen. „In 1969 a group of Delta people organized the Committee for the Original People’s Entitlement (COPE) on the assumption that all people with aboriginal blood in the area should have a single body to negotiate for them.“ (Hamiliton 1994, 137)

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dung der nationalen Vereinigung der Inuit in Canada, der Inuit Tapiriit Kanatami (ITK)129, beteiligt, verhandelte aber unabhängig von dieser eigene Länderrechte. Die Inuit im Osten stellten 1976 den Antrag zur Errichtung eines eigenen Territoriums und bekamen 1999 Nunavut tatsächlich zugesprochen,130 die Inuvialuit im Westen dagegen erwirkten unter der Vereinigung von COPE in den Verhandlungen mit der kanadischen Regierung und der Regierung der Nordwest Territorien 1984 das Inuvialuit Final Agreement131. In Quebec unterzeichneten die Makivik Corpora129 Inuit Tapiriit Kanatami ist Inuktitut und bedeutet: Inuit Brotherhood (die Organisation hieß auch zunächst so) und erwuchs aus der in den 60iger Jahren gegründeten Organisation der Indian and Eskimo Association. (Inuit Tapiriit Kanatami 2008) 130 „An important step toward self-government was taken in 1971, with the founding of the Inuit Brotherhood, now called Inuit Tapirisat of Canada. In 1976, the Inuit proposed the creation of a new territory to be called Nunavut (our land). The new Nunavut would be made up of the central and eastern portions of the Northwest Territories and it would represent a majority of Inuit citizens. The Nunavut proposal also included a comprehensive land claim. In 1982, a plebiscite, or vote of the people, supported the Nunavut Proposal, and, in 1992, an Agreement in Principle was supported by 85 percent of Inuit voters. In May 1993, the Nunavut Final Agreement was signed, and the new territory of Nunavut was proclaimed on April 1, 1999.“ (Morrison 2001b) 131 Im Inuvialuit Final Agreement gaben die Inuvialuit ihre alleinigen Rechte auf die Nutzung der Länder ihrer Urahnen auf und bekamen dafür besondere Rechte der Regierung zugesprochen. Diese Rechte berühren vor allem die drei Bereiche: Land, Natur (Tier- und Pflanzenwelt) und Geld (Zahlungen der Regierung). Die Inuvialuit haben seither die rechtliche Kontrolle über ihr Land und besitzen 91.000 Quadratkilometer inklusive 13.000 Quadratkilometer mit alleinigem Schürfrecht (Erdöl, Erdgas, Mineralien). Darüber hinaus erhielten die Inuvialuit das uneingeschränkte Recht in dem ihnen zuerkannten Land zu jagen und aktiv teilnehmen zu können am Wildlife Management Team der Regierung, das eine nachhaltige Entwicklung der Region sicherstellen soll. Die Inuvialuit gründeten Gesellschaften, um die Erhaltung und Verwaltung der Sozialleistungen und Sonderrechte durch das Inuvialuit Final Agreement zu gewährleisten. Die Inuvialuit Regional Corporation (IRC) ist seitdem verantwortlich für die übergeordnete Verwaltung, die Tochtergesellschaften Inuvialuit Development Corporation, Inuvialuit Investment Corporation, Inuvialuit Petroleum Corporation, Inuvialuit Land Corporation, Inuvialuit Land Administration, Community Development Division und Inuvialuit Cultural Ressource Centre kümmern sich gezielt um spezifische Einzelbereiche der Vereinbarung. „The basic goals of the IFA are to: Preserve Inuvialuit cultural identity and values within a changing northern society; Enable Inuvialuit to be equal and meaningful participants in the northern and national economy and society; Protect and preserve the Arctic wildlife, environment and biological productivity.“ (Inuvialuit Regional Corporation 2007a) Vgl. auch Stern, Stevenson, 110

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tion (Northern Quebec Inuit Association) und die Regierung 1975 und 1978 das James Bay and Northern Quebec Agreement. Eigentumsrechte auf Land und weiter Rechte für die Inuit im arktischen Quebec waren somit ebenfalls festgelegt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich die Geschichte der modernen Länderrechtsverhandlungen inklusive der Organisation von politisch aktiven Ureinwohnergruppen und Anträgen auf Selbstverwaltung nebst eigener Regierungsformen höchst komplex und vielschichtig darstellt. Auf die Details soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Wichtig festzuhalten ist hier vor allem der revolutionäre Aufstieg der First Nations, Métis, Inuit und Inuvialuit in eine aktive Teilnahme an der Politik Kanadas in den letzten Jahrzehnten. Es ist bemerkenswert, in welch kurzer Zeit vor allem die Inuvialuit und Inuit lernten, mit Bürokratie, westlichen Herrschaftsformen, Administration, Wirtschaft und Technik umzugehen. Der Machtzuwachs der Ureinwohner wurde vor allem während der so genannten Berger Kommission von 1974 offensichtlich, als sich viele politische Führer der Dene Nation und der Inuvialuit laut und ausdrücklich, manchmal sogar außergewöhnlich aggressiv, gegen den geplanten Bau einer großen Pipeline im Mackenzie Delta aussprachen – und ihre Stimmen gehört wurden. Die weltweite Ölkrise mit ihrem Höhepunkt des OPEC (Organisation of the Petroleum Exporting Countries) Öl Embargos von 1973132 und entsprechende Pläne großer Ölfirmen, die vielversprechenden Ölvorräte Nordamerikas anzuzapfen, veranlasste die Regierung in Ottawa, die Mackenzie Valley Pipeline Inquiry133 in die Wege zu leiten. In dieser Untersuchung unter der Leitung des Richters Thomas Berger sollten die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Baus der Ölleitung sowie die möglichen Schäden für die Umwelt durch das Großprojekt untersucht werden. Während frühere ähnliche Unternehmungen der Regierung die Ureinwohner mit in politische Entscheidungen einzubeziehen, kaum mehr als gut gemeinte Gesten ohne große Wirkung waren, nahm Thomas Berger seinen Auftrag sehr ernst: „Up to this point, the commission resembled hundreds of previous ones: a calm judge presiding impassively over sober witnesses in three piece suits, most of them lawyers or ,experts‘, talking an incomprehensible jargon and answering arcane questions. This was about to 132 OPEC steht für Organization of Petroleum Exporting Countries. Die Ölkrise von 1973 begann, als Mitglieder der OPEC verlauten ließen, kein Erdöl mehr in Länder zu exportieren, die Israel in seinem Konflikt mit Syrien und Ägypten unterstützen. Dieses Embargo betraf die Vereinigten Staaten von Amerika und seine Alliierten in Europa. Die daraus resultierende Energiekrise hatte neben der extensiveren Forschung mit erneuerbaren Ressourcen (Holz-, Wind-, Wasser- und Solartechnik) ein gesteigertes Interesse an den Ölvorkommen Nordamerikas zur Folge. 133 Die geplante Pipeline sollte Öl und Gas von Prudhoe Bay in Alaska durch das Mackenzie Tal (Nordwest Territorium und Yukon) in die USA bringen.

156 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS change. Berger was ready to go to the people and let them have their own way in their own languages, words, and style. This technique was absolutely unheard of in the history of government commissions.“134

Von 1974 bis 1976 organisierte Berger unzählige Treffen mit betroffenen Ureinwohnergruppen in 35 Gemeinden des Mackenzie Deltas, in welchen er den Argumenten, Bedenken, manchmal auch Wutausbrüchen der Beteiligten intensiv Gehör schenkte. Diese Versammlungen erhielten enorme Aufmerksamkeit der Medien, und viele Kanadier sahen und hörten über Fernsehen und Radio zum ersten Mal von den Belangen und Bedürfnissen der indigenen Bevölkerung  von dieser selbst vorgetragen. Diese gezielte Instrumentalisierung der Medien mit dem zugehörigen Rummel war wohl Teil der Strategie Bergers. 1977 erschien dann ebenfalls unter großem Medienrummel der Abschlussbericht, inklusive entsprechender Empfehlungen an die Regierung. Die Haltung Bergers, dass der Norden in erster Linie Heimat und Lebensraum der Menschen und Tiere sei, die ihn schon seit Jahrhunderten bewohnen und erst nachrangig Ölressourcen für die Regierung darstellen sollte, kommt darin deutlich zum Ausdruck. Die Klarheit der Wortwahl und die Direktheit mit der Berger seine Ergebnisse vorbrachte, machte auf die Nöte der Menschen im Norden in besonderer Weise aufmerksam und schockte die Regierung. Berger schreibt: „The social, cultural and political tensions in the North are well-known. They are, moreover, closely linked to industrial advance. The fact is, the intrusion of large-scale frontier development among native people leads to the aggravation of the cluster of pathologies that are SO familiar in the North: welfare, crime, violence, disease, alcoholism, and social and personal disarray. This is a hard fact to accept, requiring as it does a reconsideration of conventional wisdom, but it is founded on the evidence before the Inquiry, indeed on all of our experience. The evidence showed that, if a pipeline were built now in the Mackenzie Valley, its economic benefits would be limited, its social impact devastating, and it would frustrate the goals of native claims.“135 [Hervorhebung im Original]

134 Hamilton 1994, 187. In einem Bericht des kanadischen Nachrichtensenders CBC findet sich eine ähnliche Ausführung: „It was up to a Canadian judge, Mr. Justice Thomas Berger of British Columbia, to examine the impact of the pipeline on the people who lived in its path. Berger took to the job so thoroughly that some said he ran off with the terms of reference that established what was formally known as The Mackenzie Valley Pipeline Inquiry, embarrassing the Liberal government that appointed him.“ (Canadian Broadcasting Corporation 2007a) 135 Berger 1977, 3

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Hauptempfehlung des Dokuments136 war die zehnjährige Verzögerung des Baus der Pipeline. Dies würde Zeit für weitere Studien und den Abschluss der Länderrechtsverhandlungen mit den Ureinwohnern einräumen. Die Regierung ließ sich mehr oder weniger zähneknirschend auf die Empfehlung ein und verschob den Bau. Die Auswirkungen der Berger Kommission gingen weit über den tatsächlichen Bericht hinaus. Die beteiligten indigenen Gruppen fühlten sich vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Kolonialisierung ihres Kontinents gehört und respektiert. Dies stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der First Nations und Inuit im Norden Kanadas dar. „,Berger served to politicize a lot of people‘, said John T’Seleie, ,It focused the attention of Canadians for the first time on First Nations people and some of their issues, related to the land, culture ... People from here spoke about their land, were allowed to appear on television and talk about their own history. ‘“137

Wie so viele Geschichten der Arktis war auch die von Thomas Berger wesentlich komplexer als zunächst angenommen und bei weitem keine reine Erfolgsstory. Die „soziale Revolution“ war schon so weit vorangeschritten, dass die First Nations und Inuit nicht mehr vom Land leben konnten und angewiesen waren auf Lohnarbeit. Mit dem Rückzug der Investoren und Ölfirmen und der Absage des Megaprojektes im Mackenzie Delta gingen die Länderrechtsverhandlungen mit der Regierung nur noch schleppend voran, und viele, die noch kurz vorher Berger erzählt hatten, sie würden ihr Leben einsetzten, um die Pipeline zu verhindern, mussten bald feststellen, dass ohne das Großprojekt auch die Aussicht auf Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Aufschwung hinfällig war. Die Befürworter der Pipeline gewannen an Macht. Die Einheit unter den Ureinwohnern zerbröckelte mehr und mehr angesichts dieser Probleme, die aus ihrem scheinbaren Sieg gegen die Regierung erwuchsen. Wie oben bereits erwähnt, versuchten die unterschiedlichsten Ureinwohnerorganisationen (Métis Nation, Dene Nation, Inuit und Inuvialuit) in den 70er Jahren Länderrechte und vor allem auch eigene Regierungsformen mit der Regierung auszuhandeln.138 Die Vorstellungen der einzelnen indigenen Völker stellten sich 136 Der Bericht wurde 1977 unter dem Titel Northern Frontier, Northern Homeland veröffentlicht und erfuhr einer Beliebtheit Bestsellern gleich. Öffentlicher Zuspruch und großes Interesse an den Belangen der Ureinwohner und auch hinsichtlich des Umweltschutzes im Norden waren bedeutsame Nebeneffekte der Untersuchung Bergers. 137 Canadian Broadcasting Corporation 2001a 138 Die in den Verträgen (Treaties) 8 und 11 ausgehandelten Sonderrechte (1900 und 1921) sollten dabei nicht aufgelöst, sondern konkretisiert werden: „Today, First Nations and the federal government are trying to come to a common understanding of these treaties. The federal government sees existing treaties as the foundation of a special relationship

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dabei so unterschiedlich dar, dass die Regierung bald mit jedem einzeln verhandeln musste: ein langwieriger Prozess. Die Länderrechtsverhandlungen konnten weitgehend in den 80er und 90er Jahren abgeschlossen werden. Dabei traten die Ureinwohner selbstbewusster in die Verhandlungen ein und waren besser vorbereitet als noch ihrer Väter und Großväter. Entsprechend erfolgreich stellten sich die Ergebnisse der Verträge dar. Die indigenen Gruppen waren nicht nur Besitzer eigener Landstücke geworden, sie hatten dazu auch noch beachtliche Schürfrechte zugesprochen bekommen und sind damit bereits heute und sicherlich auch in zukünftigen Öl- und Gasgroßprojekten wichtige, gleichberechtigte Vertragspartner. 139 Die Inuit und First Nations begannen das Bild des Nordens aktiv mit zu gestalten. „The North of 2001 bears little resemblance to the North of Berger ’s time. The land is the same, and the oil is still there. But the people of the North have changed: most land claims have been settled, traditional ways of life have waned, and natives have control of their own destinies. The people who fought so fiercely against a Mackenzie Valley pipeline are now almost all in favour of building one.“140

Das Recht auf Selbstverwaltung wollte die kanadische Regierung mit den einzelnen Gruppen konkret erst nach Abschluss der Länderrechtsverhandlungen diskutieren.141 Im Mackenzie Delta schlossen sich im Jahre 1993 zu diesem Zweck die

between itself and Treaty First Nations. The government’s main goal now in settling land claims is not to re-open, change, or ignore existing treaties, but to put together a clearly defined package of rights and benefits.“ (Indian and Northern Affairs Canada 2004c) 139 Die Inuvialuit Petroleum Corporation (Inuvik Gas) und die Aboriginal Pipeline Group (APG) sind beispielsweise wichtige und mächtige Spieler auf der politisch-wirtschaftlichen Bühne. Das Mackenzie Gas Project, der Bau der großen Pipeline, den Berger noch hinauszögerte, der aber mittlerweile gerade von den Ureinwohnergruppen vorangetrieben wird, ist ohne die genannten indigenen Unternehmen nicht mehr denkbar. 140 Canadian Broadcasting Corporation 2001b 141 Die Regierung der Nordwest Territorien brachte 1999 eine Informationsbroschüre zum Aboriginal Self-Government heraus. Darin findet sich geschrieben: „The Inuvialuit, Gwich ’ in and Sahtu land claim agreements all include sections dealing with selfgovernment. The Gwich’ in and Sahtu agreements say that the federal and territorial governments will negotiate self-government agreements with the Gwich’in and Sahtu Dene and Metis. The Inuvialuit land claim agreement says that the Inuvialuit will be treated as favourably as other Aboriginal peoples in changes to government in the Western Arctic Region. The Dogrib Comprehensive Land Claim and Self-Government

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Inuvialuit Regional Corporation (IRC) mit dem Gwich’in Tribal Council (GTC)142 zusammen, um gemeinsam einen entsprechenden Antrag für ihre gemeinsame Region im Beaufort Delta143 zu stellen. Die Inuvialuit hatten bereits 1984 im Inuvialuit Final Agreement ihre Länderrechte zugestanden bekommen, die Gwich’in folgten, wie oben bereits erwähnt, 1992. Nach der Einführung des Federal Policy Guide of Self-Govnerment der Regierung von 1995 stand den Verhandlungen zur Selbstverwaltung somit nichts mehr im Wege, und 2003 unterzeichnen die Vertreter der Inuvialuit, der Gwich’in, der Bundesregierung und der Regierung der Nordwest Territorien das so genannte Gwich’in and Inuvialuit Self-Government Agreement in Principle (AIP)144 für die Region des Beaufort Delta. Das Abkommen stellt eine Art Rahmen für die Verhandlungen um einen abschließenden Vertrag zur Selbstbestimmung der Gwich’in und der Inuvialuit dar. Die geplante Übergabe der Selbstverwaltung an die Ureinwohner würde die Struktur der Gemeindeverwaltung auf regionaler Ebene deutlich verändern. Diese Rückgabe der Selbstverwaltung beinhaltet die Verantwortlichkeitsbereiche: Sozialhilfe, Kinder- und Familienhilfen (Adoption und Pflegefamilien), Gesundheit, Bildung, Kultur und Sprache, Gemeindeverwaltung (Heiraten, Tourismus, Verkehrswesen, Wohnungswesen), Gerichtsund Polizeiwesen.

Agreement-in-Principle deals extensively with issues of self-government in the Dogrib region.“ (Government of the Northwest Territories 1999, 11) 142 Das Gwich’in Tribal Council wurde, ähnlich wie die Inuvialuit Regional Corporation, errichtet, um die Gwich’in Dene gemäß des umfassenden Landabkommens von 1992 zu vertreten. Der Gemeinderat der Gwich’in verwaltet die Länder und Gelder, die durch das Abkommen an die Gwich’in übergingen. 143 Gwich’in und Inuvialuit bewohnen gemeinsam das Gebiet des Beaufort Delta. Hier gibt es acht Gemeinden. Die Inuvialuit wohnen hauptsächlich in den nördlichen Gemeinden Ulukhaktok (ehemals Holman), Sachs Harbour, Paulatuk, Tuktoyaktuk, Inuvik und Aklavik. Die weiter südlich gelegenen Gemeinden Tsiigehtchic und Fort McPherson sind Gwich’in Siedlungen. 144 Jede Verhandlung (Verhandlungspartner: Regierung Kanada, Regierung NWT, Vertreter der Ureinwohner, die Antrag stellen) beinhaltet mehrere Phasen: Die Antragstellung, die Annahme des Antrages, die Aushandlung eines Rahmens für die Verhandlungen, die prinzipiellen Übereinkünfte (Agreement in Principle) und schließlich die Verfassung des endgültigen Abkommens nebst Implementierung desselben. „An Agreementin-Principle (AIP) is an agreement entered into as part of the treaty process in Canada. It sets out the objectives of, and elements to be included in a final agreement. The AIP does not create binding legal relations between the parties but paves the way for negotiation, and thereby functions as the basis of a final agreement.“ (Agreements, Treaties and negotiated settlement project 2007)

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2006 allerdings erklärten die Vertreter der Gwich’in, dass sie das gemeinsam mit den Inuvialuit ausgehandelte Agreement in Principle doch nicht als Basis für eine abschließende Vereinbarung sehen könnten und lieber eine eigene Vereinbarung mit der Regierung verhandeln wollten. Daraufhin trafen sich wieder alle Vertreter, um neue Vorstellungen für einen Vertrag auszuhandeln. Dieser Prozess führte zum Ende der gemeinsamen Verhandlungen, und die Gwich’in und die Inuvialuit beschritten eigene Wege: „These events lead to the negotiation and completion of a Process and Schedule Agreement to negotiate a self government agreement between the Inuvialuit, the Federal Government, and the GNWT in 2007.“145 Mit Beginn des 21. Jahrhunderts öffnen sich den Inuit, Inuvialuit und First Nations des Nordens Kanadas viele Türen, die sowohl Chancen als auch große Herausforderungen darstellen. Der Reichtum an Bodenschätzen146 steht einer Armut aufgrund mangelnder Arbeitsplätze und dem Verlust traditioneller Werte, Weisheiten, Ritualen, Jagdpraktiken, Spiritualität und Tugenden gegenüber. Die Möglichkeit, in naher Zukunft wieder selbstbestimmt und unabhängig Leben gestalten zu können, lässt bei vielen Menschen Ängste und Zweifel aufkommen, denn die ursprünglichen kulturellen Wurzeln, die Sicherheit gaben und Handlungsfähigkeit gewährleisteten, sind nicht mehr vorhanden. Der Sprung in die Moderne forderte ihren Tribut und stellt für viele Menschen derzeit eher noch zittrigen Spagat dar: die Menschen stehen mit einem Fuß im traditionellen Leben und mit dem anderen schon im Zeitalter von Fast Food, Fernseher, Sozialhilfe und Lohnarbeit. Neue Entwicklungen schwappen in das Land und überfordern die Menschen, die diese nicht verstehen und dafür nicht ausgebildet wurden. Ängste, Rückzug, ein Gefühl von Minderwertigkeit und Aggression gegen sich selbst oder die Menschen und die Errungenschaften aus dem Süden sind Folgeerscheinungen. Doch es gibt durchaus Grund, positiv in die Zukunft zu blicken. Die Bevölkerung der Inuit und Inuvialuit ist jung und aufgeschlossen. Traditionell und historisch sind diese Völker daran gewöhnt, in schwersten Lebenssituationen einen Weg zu finden.

145 Government of the Northwest Territories 2008 146 Morrison wagt einen Blick in die Zukunft und resümiert hinsichtlich möglicher Chancen und Risiken: „Many look to a growing tourist industry for prosperity, but it is only a partial solution. Mining and other forms of resource extraction are growing sectors of the economy, especially now that land claims are settled. In the Inuvialuit area, the development of gas reserves in the Beaufort Sea and plans for a western pipeline may help fuel economic growth. In Nunavut, diamond, gold and heavy metal mines offer employment opportunities as well as revenues. However, as many realize, an economy based on raw materials is highly vulnerable to price fluctuations and to environmental problems such as heavy metal pollution (from mining) and the environmental destruction caused by road and pipeline construction.“ (Morrison 2001b, The Future)

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Um die Analyse dieser prekären Situation des Wandels in der Arktis soll es in der dichten Beschreibung und der Analyse derselben entlang zweier Feldforschungsstudien gehen. Im Anschluss daran und sozusagen resultierend aus den Beschreibungen soll ein möglicher Ausblick, eine Art Zukunftsvision, für die Inuvialuit gewagt werden. „At the still point of the turning world Neither arrest nor movement. And do not call it fixity Where past and future are gathered.“147

2.2 D ICHTE B ESCHREIBUNG DER K ULTURREVOLUTION DER I NUIT UND DEREN ANALYSE Die Arbeit eines Ethnologen ist, was immer ihr […] Hauptthema sein mag, häufig nur Ausdruck der Erfahrungen, die er während seiner Forschungen gesammelt hat, oder genauer gesagt: dessen, was diese Erfahrungen bei ihm bewirkt haben.148 CLIFFORD GEERTZ

2.2.1 Zum Ablauf des Forschungsunternehmens Die Arbeit an der Analyse der Kultur und des sozialen Lebens der Inuit im Wandel verlief in mehreren Phasen. Die erste Phase begann mit der Vorbereitung auf den ersten Aufenthalt in den Nordwest Territorien Kanadas im Mai 2005. Neben der Antragstellung für eine Forschungslizenz149 stand das Literaturstudium zur Situation und Geschichte der Inuit bzw. Inuvialuit an. Der erste Forschungsaufenthalt in Inuvik im Juli und August desselben Jahres folgte. Die zweite Phase der Forschung bestand in der Auswertung der Daten und dem Austausch darüber mit Kollegen an

147 Elliot in: Phillips 1967, 2 148 Geertz 1991, 11 149 Jegliches Forschungsvorhaben in den Nordwest Territorien muss laut dem Scientists Act von 1988 bewilligt und eine Forschungslizenz ausgestellt werden. Sozialforschungen benötigen zur Genehmigung ein Ethical Review durch eine Universität oder das Aurora Research Institute (Inuvik). Im Scientists Act Para. 2 (a) steht: „No person shall carry on scientific research in or based on the Territories, or collect specimens in the Territories for use in scientific research, unless he or she is the holder of a licence issued under this Act.“ (Aurora Research Institute, Aurora College 2008)

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der Royal Roads University in Victoria, dem Aurora College in Inuvik und mehreren Vorträgen in Deutschland. Fragen, kritische Hinweise und Überlegungen aus anderer Perspektive halfen während dieser Zeit, das Verständnis, aber auch den Fragenhorizont über die Situation der Inuit zu erweitern. Die Kontaktaufnahme mit der Inuvialuit Regional Corporation im April 2006 läutete die dritte Phase des Forschungsprojektes ein, die in ein Kooperationsabkommen und dem erneuten Aufenthalt im Norden von Oktober bis Mitte Dezember 2006 mündete. Die letzte Phase zu Beginn des Jahres 2007 war erneut der Datenauswertung und Diskussion gewidmet. Neben Vorträgen in Deutschland und Kanada halfen Diskurse mit Kollegen und fachkundigen Freunden aus dem Feld, die Situation der Inuit in ihrem Spagat zwischen Tradition und Moderne immer dichter zu verstehen. Die intensive Beschäftigung mit der Geschichte Kanadas und der des Nordens im Besonderen trug zudem zur Fundierung und Erweiterung dieses Verstehenshorizonts bei. Im Juni 2008 folgte ein weiterer Aufenthalt in Inuvik. Hauptintension dabei war der Besuch der Petroleum Show150, um ein besseres Verständnis der anstehenden gewaltigen sozio-ökonomischen Veränderungen zu bekommen, sollte die große Mackenzie Valley Pipeline gebaut werden. Besondere Bereicherung stellte bereits erwähnter Besuch bei Clifford Geertz (vgl. 1.1.2) am Institute for Advanced Studies in Princeton im Mai 2006 dar. Von ihm erfuhr ich Zuspruch und Bestätigung für meine Vorgehensweise im Feld. Zudem lernte ich nicht nur den Menschen Clifford Geertz kennen, sondern erhielt darüber hinaus wertvolle Hinweise zur Methode.

150 Die größte jährlich abgehaltene Konferenz des Nordens, die Inuvik Petroleum Show, fand 2008 bereits zum achten Mal statt. Die große Öl- und Gas-Messe zieht in der Regel über 800 Vertreter des Ölgeschäfts, der Regierung und diverser indigener Gruppen an, die das Ereignis nutzen, um Kontakte zu knöpfen, über neueste Entwicklungen auszutauschen, für eigene Geschäfte zu werben oder neue Anregungen zu bekommen. Neben Experten aus dem Feld reisen zusätzlich durchschnittlich 600 Besucher nach Inuvik, die sich die Messe mit ihren Attraktionen, Präsentationen und Vorträgen und zahlreiche künstlerische Darstellungen nicht entgehen lassen wollen. Die Messe ist vor allem auch deshalb wichtig, da man dort von den neuesten wirtschaftlichen, wie politischen Entwicklungen hört. Themen der Messe 2008 waren zum Beispiel: Arctic Sovereignty, Consultation & Regulatory Process, Offshore drilling, Bridging the Knowledge gap (zwischen traditionellem Wissen der First Nations und Inuvialuit und modernen Wissenschaften), Transportation: Supply & Demand. (Vgl. Town of Inuvik 2008)

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2.2.2 Hinweise zur Vorgehensweise und der Darstellung der dichten Beschreibungen Um der Vielfalt und dem Reichtum an Notizen aus der Feldforschung Herr werden zu können, soll in der Folge eine Vorgehensweise gewählt werden, die eine sinnvolle Darstellung und Analyse der Daten gewährleistet. Ähnlich wie Clifford Geertz in seiner Dissertation151 werde ich immer wieder aussagekräftige Teile der originalen Feldnotizen zitieren, um diese im Sinne der dichten Beschreibung auszuwerten. Personennamen, Daten und Fakten werden dabei anonymisiert, so dass die Identifikation einzelner Individuen nicht möglich ist. Die dichten Beschreibungen und deren Analysen sollen gemäß der zeitlichen Abfolge meiner Forschungsreisen chronologisch erfolgen und ortspezifisch gebunden sein. Grund dafür ist, dass sich jede der von mir besuchten Gemeinden trotz vieler Gemeinsamkeiten mit anderen als so unterschiedlich erwies, dass es mir unmöglich erscheint, über meine Beobachtungen allgemein in der Arktis zu schreiben. Den Beschreibungen wird eine kurze Charakterisierung des jeweiligen Ortes vorangestellt. Auf zeitlicher Schiene gibt es Differenzen hinsichtlich des Fokusses in der dichten Beschreibung der ersten und der zweiten Feldforschungsphase. Die erste stellt eine Auswahl von dicht beschriebenen Momentaufnahmen direkt beobachtbarer Handlungsweisen oder Strategien der Inuit beziehungsweise First Nations dar, auf ihre schwierige Situation im Übergang von einem traditionellen Leben auf dem Land zu einem modernen, in festen Siedlungen zu reagieren. In den Ausführungen zu meinem zweiten Feldforschungsaufenthalt wird deutlich, dass der rapide Wandel der Gesellschaft nicht nur auf sozio-kultureller Bühne seine Spuren hinterlässt, sondern auch auf verborgener, personenbezogener Ebene, psycho-sozial. Diese (zunächst ungeplante) Verschiebung in der Perspektive lässt sich auf mehrere Gründe zurückführen. Zum einen besuchte ich Inuvik im Sommer 2005 in erster Linie als Forscherin, beteiligte mich am öffentlichen Leben nur insofern, als dass ich bei diversen gemeindlichen Aktivitäten als freiwillige Helferin mitarbeitete. Ich kannte niemand, war eine Fremde. Obwohl ich vertraut war mit Aspekten des Lebens in First Nations in Gemeinden und Reservaten im Süden, war ich noch nie so hoch im Norden gewesen. Viele öffentlich beobachtbare Aspekte des alltäglichen Lebens der Menschen, die mir später gar nicht mehr auffielen oder nicht mehr im Mittelpunkt meiner Beobachtungen standen, waren neu, unbekannt, faszinierend und somit dominant in den Beschreibungen. Zudem ist der Sommer in Inuvik in der Regel gefüllt mit gemeindlichen Ereignissen, die Menschen aus der

151 Geertz 1960, 383-386. Erschienen ist die Dissertation von Geertz unter dem Titel The Religion of Java.

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ganzen Welt anlocken. Die indigenen Kulturen stellen sich auch für andere dar, es scheint schwerer zu sein, einzudringen in den authentischen Kern des täglichen Lebens der Menschen. Mein zweiter Forschungsaufenthalt im Herbst/Winter 2006 war anders organisiert. Ich arbeitete in meiner Eigenschaft als Sozialarbeiterin mit der Inuvialuit Regional Corporation (IRC) zusammen. Ich hoffte, so nicht nur über die Menschen schreiben zu können, sondern mit ihnen zumindest für die Zeit meines Forschungsaufenthaltes Alltag leben zu können. Die Tatsache, dass ich mit der bedeutsamsten Organisation der Inuvialuit zusammenarbeitete, öffnete mir viele Türen, die mir einen völlig neuen Einblick in deren Kultur gewährte.152 Außerdem kannten mich einige Menschen, und ich kam zurück in eine mir vertrauter gewordene Gegend, ich hatte das Gefühl, basierend auf bereits gewonnenen Kenntnissen dichter zu verstehen, tiefer einzudringen. Meine Rolle war nicht nur die der Forscherin, die mit skeptischen Augen gemustert wurde, sondern auch die der Sozialarbeiterin. In dieser hörte ich persönliche Lebensgeschichten, Schicksale, erfuhr von den Traumata der Assimilationspolitik und den mehr oder weniger verzweifelten Versuchen einzelner, sich in eine neue Welt einzupassen. Die Darstellung und Analyse der Beschreibung soll jedoch trotz dieser unterschiedlichen Aspekte und Blickwinkel durchweg, wie im Titel der Arbeit angekündigt, vor dem Hintergrund des rapiden ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels, den die Inuvialuit (bzw. First Nations) erfuhren und auch gegenwärtig noch erfahren, geschehen. Dieser kultur-revolutionäre Wandel dient somit als roter Faden oder als fragendes Leitmotiv durch Raum (respektive die unterschiedlichen Gemeinden) und Zeit (die jeweiligen Feldforschungsaufenthalte). Verschiedene Aspekte mikroskopischer Beobachtungen während der Feldforschung sollen hierfür gezielt herausgegriffen und dicht beschrieben werden. Ziel dabei ist, nicht nur zu bestimmten Hypothesen, sondern darüber hinaus letztlich auch zu Deutungsmustern ganzer Gesellschaften zu gelangen, die allgemeine Erklärungshilfen bieten, was passiert, wenn Menschen ihrer kulturellen Grundlage so rasant verlustig wurden, wie dies bei den Inuit der Fall war und ist. Wichtig dabei zu bemerken ist, dass die jeweiligen Deutungsversuche nur Ausdruck der Erfahrung meiner Person ist (wie in Eingangs erwähntem Zitat bereits angedeutet). Es geht dabei weder darum, allgemeingültige Wahrheitsansprüche erheben zu wollen, noch geht es darum, die Komplexität des Nordens von Kanada auf die jeweiligen untersuchten Gemeinden reduzieren zu wollen. Mit Clifford Geertz soll es vielmehr darum gehen, „herauszufinden, inwieweit das Verständnis 152 In diesem Zusammenhang ist ebenfalls wichtig zu erwähnen, dass der Hauptaugenmerk meiner Forschung nun auf der Kultur der Inuvialuit lag und ich weniger Kontakt mit Gwich’in hatte, die in Inuvik leben, nicht aber in Ulukhaktok und Paulatuk (zwei ausschließliche Inuvialuit Siedlungen), wo ich die meiste Zeit zubrachte.

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engbegrenzter Bereiche zum Verständnis umfassender Bereiche beizutragen vermag, inwieweit besondere, persönlich gewonnene Erkenntnisse Anhaltspunkte für allgemeine, großangelegte Interpretationen liefern können.“153 2.2.3

Feldstudie 1: Leben zwischen Alt und Neu. Trommelschlag in Jeans und Sonnenbrille The government told us not to live in igloos anymore – they gave us houses. I thought a house would be good because it is warm. I thought the walls would last forever and never get dirty. 154 TOOKOOME

2.2.3.1 Inuvik im Sommer 2005 Wie oben bereits erwähnt, stellt die in den 50er Jahren detailliert geplante und gegründete Stadt Inuvik das administrative Zentrum der Arktis dar. Die größte Ansiedlung nördlich des arktischen Zirkels, die alle Annehmlichkeiten weiter südlich gelegener Städte bietet, liegt im Mackenzie Delta, etwa 100 Kilometer vor dessen Mündung in die Beaufortsee auf einem flachen, gerade noch bewaldeten Plateau. Die Gegend um die Waldgrenze am Mackenzie war schon immer beliebter Lebensraum für Mensch und Tier. Nicht umsonst bedeutet das Wort Inuvik (in Inuktitut) „Ort der Menschen“, denn die rund 3,500 Einwohner 155 stellen eine bunte Mischung von Menschen unterschiedlicher Kulturen dar. Es wohnen nicht nur Inuvialuit156 (etwa 37%), Gwich’in First Nations (etwa 15%) und Mètis (etwa 7%) in Inuvik, ein großer Teil der Bevölkerung stammt, angelockt durch die Faszination des Andersartigen oder den Reiz der reichen Ölvorkommen, aus aller Herren Länder.157 Meist bleiben die Menschen, die nicht zu den Ureinwohnergruppen zählen, allerdings nur wenige Jahre und ziehen dann weiter. Gesprochen werden neben Englisch die einheimischen Dialekte, vor allem Inuktitut (bzw. Inuvialuktun, ein spezieller Dialekt der Inuvialuit) und Gwich’in. Die Gemeinde ist mit dem Flugzeug leicht das ganze Jahr über erreichbar. Seit 1979 kann Inuvik auch über den 670 Kilometer langen, so genannten Dempster

153 Geertz 1991, 12 154 Tookome, Oberman 1999, 53 155 Statistics Canada 2008 156 Derzeit leben insgesamt rund 3.500 Inuvialuit in den sechs Gemeinden Tuktoyaktuk, Ulukhaktok, Sachs Harbor, Aklavik, Paulatuk und Inuvik. 157 Inuvik Native Band 2004

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Highway angefahren werden und ist somit auch für viele Touristen im Sommer reizvolles Reiseziel. Die moderne Stadt mit ihren Hotels, Restaurants, Geschäften, Kirchen, Banken, Schulen, dem Aurora College, einem Krankenhaus, der Polizei und diversen Sportstätten wie Schwimmbad, Eishockeystadion und Fußballfeld spiegelt das Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne, denn nach wie vor spielen ursprüngliche Rituale und Praktiken der indigenen Bevölkerung eine bedeutsame Rolle im Alltag. Vergangenheit und Zukunft scheinen sich in der Gegenwart von-einander fasziniert, aber auch vorsichtig und mit Vorbehalten belastet zu begegnen. Immer noch sichern viele der Inuvialuit und Gwich’in in Inuvik einen großen Teil ihres Lebensunterhaltes durch die Jagd, das Fallenstellen und die Fischerei. Andere hingegen haben längst feste Anstellungen im Staatsdienst, in der Ölindustrie, im Tourismus oder im Transportwesen und verlassen sich auf ihr regelmäßiges Einkommen. Üblich unter den Inuvialuit und First Nations sind Mischformen aus beidem. Spiritualität und das Wissen um die Einheit mit und die Abhängigkeit von der Natur stellen nach wie vor wichtige Elemente des täglichen Lebens dar. Vor allem hier scheint sich die Dominanz der weißen Einwanderer aus dem Süden bemerkbar zu machen, so gibt es in Inuvik neben der archetektonisch auffälligen katholischen Iglu Kirche (errichtet zwischen 1958 und 1960) neun verschiedene Kirchen mit je anderer Konfession. Obwohl im Zuge der Assimilierung das Christentum im Norden Einzug hielt, sind Züge der einstigen Spiritualität in Kunst, Gedankengut und Ritualen nicht von der Hand zu weisen. Synkretistische Glaubensformen scheinen im Alltag zu dominieren.158 Rollenvorstellungen und Gesellschaftsordnung Während meines Aufenthaltes wohnte ich bei einer Professorin des Aurora Colleges159, die schon seit vielen Jahren ein kleines Haus in Inuvik besitzt. Viele der

158 Synkretismus bezeichnet Mischformen religiöser Vorstellungen. Viele Missionare des Nordens waren darauf bedacht, Aspekte der ursprünglichen Sprititualiät der Ureinwohner trotz Missionierung zu erhalten. „Only 10,840 native Canadians >out of 1,002,945 Canadians of North American Indian, Inuit or Métis ancestry@ claimed to be followers of the traditional beliefs of their people. [...] Yet, First Nation elders, the RCMP and others who have observed the issue closely relate that many more First Nations members are incorporating some traditional beliefs and practices in their religious life or turning entirely to their heritage to express their spiritual needs.“ (Government of Canada 2007b) 159 Im Zuge der Dezentralisierung entschloss die Regierung 1992 kleinere Collegeableger des Arctic College in Yellowknife in die Gemeinden weiter im Norden zu verlagern. Im

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Geschichten, die Anita aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung mit den Menschen im Norden zu erzählen wusste, berichteten von diversen Versuchen der Ureinwohner (Inuit sowohl auch Gwich’in), den Spagat zwischen dem Einst und Jetzt auf unterschiedlichste Weise zu bewerkstelligen. Anita erzählte von einem alten Inuit, der eines Tages mit einem riesigen Artic Char160 bei ihr vor der Tür stand und sie fragte, ob sie kochen könne. Als sie das bejahte, fragte er weiter, ob sie auch Chowder161 zubereiten könne. Wieder nickte sie. Ohne ein weiteres Wort und mit breitem Grinsen im Gesicht drückte ihr der Elder 162 den Fisch in die Hand und bemerkte wie selbstverständlich und offensichtlich sehr zufrieden, er bringe ab jetzt den Fisch, sie koche. Anitas Fischchowder machte bald die Runde im Ort, und viele Frauen erkundigten sich nach dem Rezept. Kurzerhand lud sie alle Interessierten zu einer Art Kochkurs ein – auch den Fischfänger und Initiator der Suppenzubereitung. Der jedoch war aus der Küche voller eifriger Frauen auf einmal verschwunden. Anita fand ihn vor dem Fernseher. Als sie ihn damit konfrontierte, dass er doch auch etwas lernen sollte, blickte er nur völlig verständnislos und bemerkte, dass er keinen Sinn darin sähe, auch in der Küche aktiv zu werden, wenn so viele Frauen für ihn kochen würden. Anita erläuterte später, dass trotz der modernen, multikulturellen Gesellschaft in Inuvik und der damit einhergehenden Auflösung von Großfamilien mit eindeutigen Aufgabenzuschreibungen, traditionelle Rollenvorstellungen der First Nations und Inuit noch stark spürbar sind. Männer gingen auf die Jagd und waren teilweise wochenlang unterwegs. Während dieser Phasen ernährten sie sich von rohem Fleisch, das sie an Ort und Stelle beim Zurechtschneiden der Beute für den Transport aßen. Kochen mussten sie hierfür nicht. Einige der Jäger blieben im ewigen Eis verschollen. Frauen bemühten sich hauptsächlich um die Herstellung von Kleidung, Nahrung und waren für die Kindererziehung verantwortlich. Der alte Mann in der geschildertern Geschichte lebte in dem Paradoxon einer modernen Zeit: Er konnte zwar den Fisch fangen, hatte aber keine Frau, die seine Beute für ihn zubereitete – bis er aktiv begann, auf die Suche zu gehen…

Januar 1995 schließlich entstand das Nunavut Arctic College in Nunavut und das Aurora College in den Nordwest Territorien. (Vgl. Aurora College. 2007) 160 Der Arctic Char ist ein besonders schmackhafter Fisch, der in arktischen Gewässern beheimatete ist. Er ist dem Lachs ähnlich. 161 Ein Chowder ist eine dicke, nahrhafte Suppe; meist mit Zutaten gekocht, die dem Koch gerade zur Verfügung stehen. 162 Die Ältesten der Gemeinde gelten als Hüter der Geschichte(n) und Bewahrer der Tradition. Sie erfahren als Weise besondere Achtung und Ehrerbietung seitens der Gemeinden. Die besondere Rolle der Elders wird im Laufe der dichten Beschreibungen noch zum Ausdruck kommen, und ich werde dabei maßgeblich dem ursprünglichen Begriff „Elder“ treu bleiben.

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Im Gegensatz zu anderen Gesellschaften, wie beispielsweise einige der First Nations Kulturen, definierte unter den Inuit traditionell nicht die Rolle den Aufgabenbereich, sondern umgekehrt, durch die zuverlässige Erledigung der Aufgabe fand die Rollenzuschreibung statt. Natürlich bedingte sich dies auch in gewissem Sinne wechselseitig, denn einmal eine gewisse Rolle innehabend, bestand seitens der Sippschaft natürlich schon die Erwartung, dass gewisse Tätigkeiten von entsprechender Person ausgeführt werden. Grund für diese Form der Rollenzuschreibung bestand in der Notwendigkeit in Eis und Schnee zu überleben. Jeder musste je nach seinen Fähigkeiten zu diesem kollektiven Ziel beitragen. Einen „Häuptling“ als Stammesführer gab es nicht. Dennoch erhielt der erfolgreichste Jäger das größte Ansehen. Menschen mit besonderen spirituellen Fähigkeiten waren als Schamanen geachtet und verehrt. Die Bedeutsamkeit von Kindern beziehungsweise gesicherter Nachkommenschaft zur Erhaltung des Generationenvertrages war aus demselben Grund für das Fortbestehen der Familie offensichtlich. Der Kinderreichtum und die Tatsache, dass sehr junge Frauen auch heute noch bereits mehrfache Mütter sind, lässt den Schluss zu, dass dieses Denken nach wie vor Bedeutsamkeit hat. In der Folge dieser Gesellschaftsstruktur der Inuit schienen Menschen jedoch nicht aufgrund ihrer Person wichtig zu sein, sondern vor allem aufgrund dessen, was sie zum Überleben der Gemeinschaft beizutragen hatten. Das kollektive Sein stand über dem individuellen Sein. So schreibt Velma Wallis in ihrem Bestseller Two old Women163, dass zwei alte Frauen, die den Clan beim winterlichen Umzug von einem Camp ins nächste zu lange aufhalten würden, einfach zurückgelassen und damit dem sicheren Tod übergeben wurden. Auch Kinder ereilte laut Überlieferungen traurigerweise manchmal ein ähnliches Schicksal. Nicht selten kam es während Hungersnöten zu Kindstötungen, wenn ein Stamm befürchtete, dass zu viele Kinder versorgt werden müssten, diese vermutlich im Laufe der Zeit an Unterernährung oder Kälte sowieso sterben würden und nicht die Kraft hätten, für den Fortbestand des Stammes sorgen zu können. Das Thema des Infantizid unter Inuit muss jedoch mit Vorsicht behandelt werden. Vorurteile und verfremdete Vorstellungen führten zu teilweise grausamen Geschichten, die mit der Realität nichts mehr zu tun hatten.164 In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass Kinder stets im Mittelpunkt des Lebens der Gemeinde standen. Kinder wurden nicht, wie in westlichen Erziehungsidealen üblich, dazu erzogen, selbständig zu sein und ein eigenständiges 163 Wallis 1993 164 Moran (2000) betont dazu: „Inuit sexual norms always expressed a desire to maintain as high a birthrate as possible, and childlessness was seen as a great misfortune. Although there is no doubt that infanticide was practiced in the Arctic [...] it is now seen as a rare and locally emergent solution under very stressful circumstances rather than as a routine method of population regulation.“ (139-140)

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Leben unabhängig vom Familienverband zu führen, es ging vielmehr darum, den Fortbestand der Gemeinschaft zu sichern und jemanden zu haben, der sich um die Alten kümmert.165 Kinder wurden von der Gemeinschaft, nicht nur von den leiblichen Eltern aufgezogen, und nicht selten galt der Titel „Mama“ seitens eines Kindes mehreren Frauen. So war ich anfangs sehr überrascht, kleine Kinder ihre Großmutter oder die ältere Schwester mit „Mom“ anreden zu hören. Anita wusste auch hierzu eine Geschichte zu erzählen. Eine junge Bekannte, die in einem ähnlich kleinen Häuschen wie meine Gastgeberin wohnte, allerdings gemeinsam mit Mann und sieben Kindern, konnte nicht glauben, dass Anita keine Kinder hatte und völlig allein wohnte. Voller Mitgefühl fragte sie eines Tages mit besorgter Miene, ob Anita vielleicht ein oder zwei von ihren Kindern „abhaben“ möchte. Besagte Frau, so fuhr Anita fort, trat einige Tage später auf sie zu und bat mit ernster Miene um ein Gespräch, in welchem sich folgendes abspielte: Bekümmert und sichtlich besorgniserregt erklärte die junge Inuit, dass Anitas Eier alt seien. Als diese zunächst ein verdutztes Gesicht machte und nicht so recht verstand, warum sich ihre junge Bekannte um die Vorräte ihres Kühlschranks sorgte, stellte sich heraus, dass es sich bei diesem Gespräch nicht um die Haltbarkeit von Hühnereiern handelte, sondern vielmehr um die Tatsache, dass Anita in ein grenzfälliges Alter käme, um selbst noch Kinder zu bekommen, die sie später versorgen könnten.

Es hat den Anschein, als sei der Wandel im Norden vom einstigen Überlebenskampf in Eis und Schnee zu einem modernen Leben in der Stadt schneller vonstatten gegangen, als kulturelle Symbol- bzw. Bedeutungssysteme hätten Schritt halten können. Die Rollenverteilung und damit zusammenhängende Nutzbarmachung der Menschen zum Überleben aller diente nicht allein dem Zweck des Fortbestandes, darüber hinaus galt sie jahrhundertelang als Orientierungssystem, wie menschliches Zusammenleben sinnvoll organisiert wird. Der Überlebenskampf ist nicht mehr notwendig. Dass dennoch alte Vorstellungen und Denkweisen das Alltagsleben der Menschen durchdringen, hängt wohl an dieser Funktion, ein Gefühl von Sicherheit und Orientierung zu vermitteln. Schlösse man darauf, dass die Menschen, die vor rund 60 Jahren noch im Iglu geboren wurden, in irgendeiner Weise naiv, rückständig oder aufklärungsbedürftig seien (was seitens der modern-aufgeklärten Bevölkerung Kanadas leider nicht selten der Fall ist), würde man sich so manches Mal gewaltig in die Nesseln setzen, beziehungsweise, um im arktischen Bedeutungszusammenhang zu bleiben, selbst aufs Glatteis führen. Die Rolle des Ethnologen hat sich diesbezüglich gewaltig 165 Rupert Ross (2006) berichtet von einem Elder, der ihm erklärte: „We want our children to take over our homes, feed us and support us, etc., even wear our old clothes and ornaments. Thus we will achieve continuity and immortality.“ (22)

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verändert. Die Menschen haben längst gelernt, schon eine Antwort parat zu haben, bevor überhaupt die Frage gestellt wird. Ich hatte manchmal den Eindruck, als wüssten die Inuvialuit, dass Neuankömmlinge in der Arktis nach wie vor von ihrem alten Erfahrungsschatz profitieren müssen und sie damit in gewissem Sinne überlegen sind. Auf einem meiner Beobachtungstouren durch Inuvik begegnete mir eine Inuvialuit Familie. Die Frauen trugen wunderschöne, mit bunten Perlen bestickte Mokassins, darüber abgeschnittene Gummistiefel, um das kostbare Leder der Schuhsohle vor dem Schlamm auf den Straßen zu schützen. Kleinkinder hüpften von einem Bein auf das andere. Eine junge Frau trug ihr Baby in einem traditionellen Tragetuch mit kunstvoll gestickten Blumen. Schon von weitem musterten sie mich eindringlich. Der älteste Mann sprach mich an. Seine Augen blitzten freundlich, seine Worte waren aufgrund großer Zahnlücken etwas undeutlich, und ich hatte Mühe sie zu verstehen. Eine bunte Baseballkappe zierte seinen Kopf. Er fragte ohne Umschweife, wo ich herkäme. Als ich bereitwillig anfing zu erzählen, lächelte er wissend und bemerkte, er habe sofort gesehen, dass ich von Europa sei – er wollte nur sicher gehen.

Dass es oftmals Fremde aus einer modernen Welt sind, denen es an grundlegendem Wissen und Information fehlt (und nicht umgekehrt), spiegelt eine Begebenheit wider, die mir eine Frau erzählte, welche bereits seit vielen Jahren im Norden lebt. Erst kürzlich sei ein Klimaforscher im Zuge einer Umfrage in einer kleinen Inuitgemeinde von Haus zu Haus gegangen, um die Menschen zu den Einflüssen des Klimawandels zu interviewen. Höflichkeit und Gastfreundschaft stellen wichtige Tugenden der Inuit dar. Der Mann wurde in die Familien eingeladen und bekam warmen Tee angeboten. Ganz besonders geehrt fühlte sich der Mann jedoch, als er nach einiger Zeit als Qallunaaq von der Gemeinde einen „Eskimonamen“ verliehen bekam. Die Frau lächelte verschmitzt, als sie fortfuhr und mir erklärte, übersetzt bedeutete der vermeintliche Ehrenname „dummer, weißer Mann, der viele Fragen stellt“. Die Gastfreundschaft der Inuit heute hat allerdings auch Grenzen, was folgende Begebenheit zeigt: Eines Nachts versuchte eine Gruppe von Drogenhändlern ihre Ware in Inuviks „Mad Trapper“, einer düsteren Bar in Inuvik mit langjähriger Tradition, an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Innerhalb kürzester Zeit sahen sich die Dealer konfrontiert mit einer großen, kulturell bunt gemischten Schar Einwohner der Stadt, die ihnen unmissverständlich zu verstehen gaben, dass sie hier unerwünscht wären. Der Bürgermeister erzählte mir später, diese „Gäste“ mussten sogar um ihre körperliche Unversehrtheit bangen, und die Polizei wurde gerufen, um sie unbeschadet aus dem Ort zu patrouillieren. 166 Qallunaaq, manchmal auch Kabloonaq geschrieben ist Inuktitut und meint „weißer Mann“; bzw. wörtlich: „Menschen mit den großen Augenbrauen“.

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Es hat den Anschein, als würden die Inuit schnell die „Wege der qallunaaq“ verstehen. Oftmals manövrieren sie sich geschickt zwischen dem Anspruch des fremden Gegenübers und den eigenen Bedürfnissen, d.h. sie müssen eigene Präferenzen nicht aufgeben, noch schlagen sie sich durch unfreundliches Verhalten mögliche Türen bequemer Extras aus dem Süden zu. Als ich beispielsweise einen Mann um ein Gespräch bat, fragte er sofort, wie viel ich ihm dafür bezahlen würde und betonte, ohne Geld gäbe es keine Information. An anderer Stelle ging ich einem jungen Inuvialuit Künstler, mit dem ich während des Great Northern Arts Festivals167 ins Gespräch kam, gewaltig auf den Leim: Er trug eine Baseballkappe mit dem Aufdruck Proud Native. Ich fragte ihn, ob er als Künstler auf dem Festival tätig sei. Mit ernster Miene erklärte er mir daraufhin, er sei Reinigungspersonal und mit der wichtigen Aufgabe betraut worden, die WCs und die Küche sauber zu halten. Er fuhr fort, ihm sei alles recht gewesen, um nicht mehr im ewigen Eis am Nordpol wohnen zu müssen. Dort sei es todlangweilig, er müsse ständig Schneeschippen, Hügel bauen und Löcher graben. Ich ertappte mich dabei auf meiner Jagd nach kulturellen Besonderheiten, zwar zu zweifeln, ihm aber dennoch im Großen und Ganzen seine Geschichte abzunehmen. Als ich ihm erzählte, ich käme aus Victoria, blickte er mich mit großen Augen an und erklärte, das hätte er noch nie gehört. Er fragte, wo das denn wäre. British Columbia kenne er auch nicht. Später erfuhr ich, er erwarb seinen Abschluss am College of Art in Victoria und lebte dort eine ganze Weile. Mit breitem Grinsen brachte der junge Mann schließlich seine Freude darüber zum Ausdruck, dass er wieder einmal eine unwissende Europäerin mit seiner Geschichte gelinkt hatte.

Bedeutsamkeit der Trommeln und des Tanzes (Drumdance) Viele ursprüngliche Rituale und Praktiken haben nach wie vor große Bedeutung, und es scheint fast so, als seien sie Anker, die helfen, noch in der Tradition zu gründen, wenn die Modernisierung wie eine große Flutwelle über die Menschen einzubrechen droht. Eines dieser Rituale stellt sicherlich das Trommeln, Singen und Tanzen dar, welches für die First Nations ebenso wichtig ist, wie für die Inuit. Es gibt jedoch von Stamm zu Stamm, von Volk zu Volk sehr große Unterschiede, wie getrommelt wird, wie die Trommeln aussehen und wie sie gehalten werden. Es wäre ein großer Fehler, allgemeine Erklärungen für alle Ureinwohnergruppen Kanadas finden zu wollen. Nachfolgende Beschreibungen beziehen sich somit hauptsächlich auf die Inuvialuit und Dene. Die Trommeln sind kunstvoll meist vom Trommler selbst gefertigt. Auf einen 30 bis 50 cm Durchmesser großen Rahmen wird dünnes Leder (in der Regel Seehund oder Karibu) aufge-

167 Großes Kunstereignis in Inuvik von dem später noch die Rede sein wird.

172 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS spannt. Gehalten werden die Trommeln je nach kultureller Herkunft des Trommlers entweder an einem langen Stab, der am Rahmen befestigt wird (Inuit Trommel) oder an einem Flechtwerk aus Tiersehnen auf der Rückseite der Trommel, die zur Straffung der Haut dort zusammen geknotet werden (Dene Trommel). In ihren Gesängen und Tänzen erzählen die Inuit und Dene vornehmlich Geschichten. In vielen Gegenden der Arktis hat jede Person ihre eigene Geschichte zum Lied gemacht, in Trommelschläge gehüllt. Da gibt es den Eisbärentanz, bei dem sich ein älterer Mann behäbig, aber dennoch gewitzt und aufmerksam zum Trommelschlag bewegt. Beim Seehundtanz, der von der Jagd erzählt, stellen Frauen pantomimisch dar, wie das Fleisch geteilt, und die Haut getrimmt wird. Ein Lied erzählt von erfolgloser Jagd, ein anderes von der Bedeutsamkeit der Alten für die Jungen und umgekehrt. Männer und Frauen, Kinder und Alte scheinen gleichermaßen am Drumdance beteiligt zu sein. Dabei übernehmen Männer und Frauen unterschiedliche Aufgaben – das scheint jedoch je nach Herkunft zu variieren. In den vielen Jahren, die ich in Kanada verbrachte, lernte ich, dass Musik und Gesang seit jeher eine bedeutsame Rolle im Leben der Ureinwohnerkulturen spielen. Kultur und Tradition konnten so verpackt in Lieder und Tänze auch im Wandel der Zeit von einer Generation zur nächsten bestehen. Bei Zusammenkünften von Menschen weit abgelegener Gebiete werden durch die Tänze und Gesänge, Neuigkeiten über große Entfernungen hinweg weitergegeben. Getrommelt und getanzt wird zu allen denkbaren Anlässen: angefangen von politischen Ereignissen bis hin zu kleineren Zusammenkünften anlässlich von Hochzeiten, Geburtstagen, Beerdigungen, zur Feier der Wechsel der Jahreszeiten, nach erfolgreicher Jagd, wenn die Sonne nach langen Tagen der Finsternis im Winter wieder aufgeht oder um einen Besuch zu ehren. Darüber hinaus spielen die Trommeln spirituell eine wichtige Rolle. Laut Tradition stellen die Trommelschläge Kontakt mit der Geistwelt her und tragen Gebete zum Schöpfer. Bei jedem wichtigen Ereignis wird getrommelt und somit um Beistand und Schutz gebeten. Vor allem in den letzten Jahrzehnten der rapiden Veränderungen scheint das Trommeln, Tanzen und Singen an Bedeutung zu gewinnen. Im Festhalten dieser Tradition wird kulturelle Identität zum Ausdruck gebracht und Geschichten werden weitergegeben, die bedroht sind, in Vergessenheit zu geraten. Vor langer Zeit, so erzählte mir ein Trommler, bestanden große Unterschiede in der Art und Weise, wie und was getrommelt, gesungen und getanzt wurde – je nach Tradition der speziellen Gemeinschaft und je nach Anlass. Mittlerweile sind viele der ursprünglichen Lieder, Bewegungen und Gesten der Tänze verschwunden, und das übriggebliebene Liedgut unterschiedlichster Gruppen habe sich vermischt.

Besonders eindrückliche Erfahrungen mit Trommeln konnte ich während der Northwest Territories Summer Games168 sammeln. Die Sommerspiele wurden ini168 Michael Male (2005), einer der Fußballtrainer während der Spiele, schreibt zu den NWT Summer Games: „The goal of the NWT Games is to provide a developmental multi-sport games opportunity for NWT athletes between the ages of 10 and 14 years that enable them to experience and enjoy involvement in sport to the extent of their abil-

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tiiert, um Kindern und Jugendlichen aus Gemeinden der ganzen westlichen Arktis169, diverse Sportarten näher zu bringen und zugleich über richtige Ernährung, Hygiene und Gesundheit aufzuklären. Dies scheint auch dringend nötig, denn leider ist ein großer Teil der Jugendlichen stark übergewichtig. Viele ernähren sich vorwiegend durch zahlreiche Fastfood-Angebote und verbringen den Tag vor dem Fernseher. Die Zeiten, in welchen Familien wochenlang in Fischcamps verbrachten, Frauen Beeren sammelten, Männer Karibuherden nachjagten und dabei weite Strecken zurücklegten, sind größtenteils vorbei. Elders erzählten mir, es sei schwer geworden, Jugendliche aus ihren bequemen Häusern wegzulocken, um ihnen in der Wildnis, den traditional way of life näher zu bringen. Die fetthaltige Nahrung, welche die Inuit einstmals brauchten, um ihren Körper in eisigen Temperaturen warm zu halten und den Energiehaushalt zu regeln, wirkt sich heute eher negativ auf die Gesundheit der Menschen aus. Die Lebensart hat sich verändert, das Bewusstsein, die Ernährung entsprechend anzupassen, oft noch nicht. Die Abende der Sommerspiele waren gefüllt mit Musik und Tanz. Trommeln schallten durch ganz Inuvik. Menschen folgten diesen (ich musste an die Funktion von Kirchenglocken denken) und fanden sich auf dem Festplatz ein. Der kräftigmonotone Trommelschlag schien sich im Takt des eigenen Herzschlages wieder zu finden. Langsames Trommeln beruhigte, wohingegen schnelles Trommeln Aufregung und Spannung erzeugte. Trommeln scheinen auf ungewohnte Weise (First Nations und Inuit würden wohl sagen, auf spirituelle Weise) mit dem inneren Selbst zu kommunizieren: Der Trommler schlägt im Takt seiner Befindlichkeit, und die Trommel beeinflusst diese wechselseitig. Einige Trommler hatten sich auf der Bühne versammelt, die auf dem großen Platz vor der Schule errichtet worden war und schienen es zu genießen, zwanglos für sich selbst Musik zu machen. Zwei ältere Damen aus Holland versuchten sich mit Hilfe von grünen Fliegennetzen ities and interests. The NWT Games will be based on two components: 1. A Learn to compete component that will feature the sports of flag football, softball, soccer and swimming. 2. A demo Sport component will give participants an opportunity to try new sport, recreation and cultural activities. These games are not your typical ,Games‘. The kids involved in these games are typically kids that would never make it to games like the Canada Summer Games or the Canada Western Summer Games. Most of these kids [...] have not tried a lot of sports so these games give them a chance to try the different sports and compete for fun.“ 169 Beteiligte Gemeinden waren: Aklavik, Inuvik, Tsiigehtchic, Deline, Fort Good Hope, Fort Providence, Wrigley, Rae-Edzo, Yellowknife, Hay River Reserve, Fort McPherson, Paulatuk, Tuktoyaktuk, Tulita, Enterprise, Fort Simpson, Dettah, N’Dilo, Fort Resolution, Lutsel K’e, Holman, Sachs Harbour, Colville Lake, Norman Wells, Fort Liard, Kakisa, Wha Ti, Fort Smith, Hay River.

174 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS über dem Kopf Horden von Moskitos zu erwehren. Einige amerikanische Touristen umkreisten die Bühne wie auf der Pirsch, um möglicht gelungene Aufnahmen des Geschehens einfangen zu können. Kinder spielten und erklommen die Bühne, um in großem Bogen so weit wie möglich wieder davon herunter zu springen. Mütter trugen ihre Babys in mit kunstvollen Blumenmustern bestickten Tragebändern oder in übergroßen Kapuzen ihrer traditionellen Parkas (amauti in Inuktitut) auf dem Rücken und unterhielten sich angeregt. Ein Hauch von Anti-Moskito-Spray („bug-dope“) lag in der Luft. Die Mitternachtssonne zeichnete die Szene in weichen Farben. Viele der Jugendlichen nutzten die Chance und trommelten stolz mit den Alten mit. Welch ein buntes Bild: ältere Inuit, in prächtiger Tracht neben Jungs mit gefärbten Haaren, spiegelnder Sonnenbrille und zerrissener Jeans – alle gleich ernst, konzentriert und bemüht, im Einklang ihre Trommeln zu schlagen. Die Männer schienen sich voll und ganz auf ihre Trommeln zu besinnen. Einige hatten die Augen geschlossen. Manche sangen laut mit, andere hin und wieder verhalten und leise, und manche beließen es dabei, gleichmäßig ihre Trommel zu schlagen. Immer wieder fand sich jemand, der frei und ohne Selbstoffenbarungsängste zum Trommelschlag zu tanzen begann – Männer und Frauen. Für Außenstehende hört sich ein Lied, ein Trommelrhythmus an wie der andere. Dass es jedoch große Unterschiede gibt, erzählte mir der junge Mann, der neben mir Platz genommen hatte. Unvermittelt und ohne dass ich ihn gefragt hatte, erklärte er, dies sei ein lustiges Lied, das Paare zum Tanz auffordert, wohingegen die Trommeln davor die Geschichte einer erfolglosen Jagd schilderten. Ich beobachtete, dass immer wieder Trommler in einem kleinen Unterstand auf der Bühne verschwanden, um ihre Trommeln an einer kleinen elektrischen Herdplatte zu erwärmen. Als ich später einen der Männer daraufhin ansprach, erklärte er mir, die Haut würde so weicher, und die Töne würden länger anhalten und voller klingen. Er fügte noch hinzu, er habe seine Trommel vor Jahren selbst gefertigt. Das Karibu, dessen Haut auf die Trommel gespannt sei, habe er selbst erjagt. Jeder Mann braucht seine eigene Trommel; keine erzeugt Töne wie eine andere. Jede ist unverwechselbar und einmalig. Unvermittelt drückte er mir seine Trommel in die Hand. Ich hielt sie beinahe andächtig und erkundigte mich, aus welchem Grund er bunte Stoffbänder an seinem Instrument befestigt habe. Der ältere Mann blickte mich auf einmal sehr ernst an und murmelte leise, er könne mit seiner Trommel Menschen heilen. Traurige Menschen vor allem. Seine Trommel habe Macht bei Menschen mit Depressionen.

Kunst, Handwerk, Geschick und Geschichten Eines der wohl bedeutsamsten Ereignisse in Inuvik ist das einmal jährlich stattfindende Great Northern Arts Festival. Auf diesem bereits zum 17. Mal stattfindenden, weit bekannten Kunstmarkt wird den Kulturen des Nordens die Ehre gegeben. Darüber hinaus stellt es wichtige Einnahmequelle für viele Inuit und First Nations Künstler dar. Menschen aus der ganzen Welt genießen es nicht nur, beeindruckende Kunstgegenstände zu bewundern, den einen oder anderen Kauf zu tätigen, sondern

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vor allem auch die Möglichkeit zu haben, den Künstlern vor Ort bei ihrer Arbeit zuzusehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Daneben gibt es das Angebot, an zahlreichen Workshops teilzunehmen, das von Einheimischen und auch von Reisenden gern angenommen wird. Die zahlreichen Organisatoren des Festivals ersinnen für jedes Jahr ein neues Thema für dieses Großereignis. Things of Bone and Stone stand dieses Jahr auf diversen Plakaten, T-Shirts und Informationsbroschüren. Die Bedeutsamkeit von Steinen und Knochenstücken, eigentlich unspektakulären (Wegwerf-)Artikeln, für den einstigen Überlebenskampf in der Arktis und die damit verbundene Kreativität und der unglaubliche Erfindungsreichtum der Menschen des Nordens, sollte mit der Wahl dieses Themas in den Mittelpunkt gerückt werden. Höhepunkt der feierlichen Eröffnung stellte das mit Trommeln untermalte Hereintragen eines großen Walknochens dar, welcher in der Galerie für die Dauer des Festivals ausgestellt wurde.

Jeder der zehn Tage des Kunstereignisses bot ein neues Programm. Neben der Galerie mit seiner Ausstellung, die immer neu durch die vor Ort erstellte Kunst bestückt wurde, gab es traditionelle Tanz- und Musikveranstaltungen am Abend, Geschichtenerzählrunden mit Elders und als großen Höhepunkt eine Modenschau à la Inuit. Alle Facetten der reichen Kultur der einstigen Überlebenskünstler wurden zur Schau gestellt: eine sonderbare Mischung aus künstlicher, moderner Darbietung und tiefer Begeisterung für die eigene Herkunft und Tradition. Vielleicht stellt diese Form der Schaustellung eine Möglichkeit dar, alte Rituale, Bräuche, Sitten und überholtes Wissen und Können in die neue Zeit zu retten. Beeindruckendes Beispiel hierfür ist die Kunst des Peitschenschlagens, die an einem Abend von dem Elder Simon Tookoome präsentiert wurde: Als jemand bekannt gab, Simon Tookoome würde eine Whipping170-Vorführung im Curling Stadion geben, blickten sich einige der Gäste in der Galerie fragend an. Viele der Anwesenden ließen es sich jedoch nicht nehmen herauszufinden, was es mit der angekündigten Attraktion auf sich hat. Tookoome selbst erzählt seine Geschichte zur traditionellen Art des Peitschenschlagens wie folgt: „When I was eight years old my father and my uncle made me a whip from the skin of a bearded seal. We used the whip to direct the dogs as they pulled the sled. We didn’t hit them. 170 Die Kunst des Whipping diente traditionell dem Lenken der Schlittenhunde während der Jagd oder bei Reisen über das arktische Eis. Ein sehr präziser Schlag mit einer langen Peitsche dirigierte die Hunde ohne sie zu berühren. Heute werden Hundeschlitten kaum noch mit dieser schwer zu erlernenden Technik gelenkt. Rufe, Pfiffe und sonstige Laute der Schlittenlenker übernahmen das traditionelle Peitschenschlagen.

176 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS We just cracked the whip at the side and the dogs would turn. If dogs started to fight, I would use the whip handle to separate them. When I was twelve I would borrow my father’s long whip and slip out while everyone was asleep. I did not want my mother to see me use the long whip. I practised on bits of antlers. Then I learned to use it to hunt ptarmigans [Schneehuhn]. I would sneak up and whip off their heads. I often came back with five or six birds. As I grew, the whips they made for me grew as well until I had a whip forty feet [ca. 12 m] long. By that time I had a rifle. But when I ran out of bullets I used the whip to hunt caribou. I chased caribou in the sled and when they got too tired to run, I walked alongside them until I was close enough. I would strike a caribou on the legs with the whip or else I would catch the antlers. I then grabbed the caribou and killed it with a knife. Often I could strike at the ear and that would be enough. The caribou would fall down stunned and I would finish it off.“171 In seiner ruhigen, besonnenen Art stand der kleine Mann aus Baker Lake mit einer langen Peitsche in der Halle und wartete geduldig, bis sich alle Interessierten eingefunden hatten. Sein Übersetzer erklärte kurz, was es mit der Whipping-Kunst auf sich hat und erläuterte, dass es wohl kaum jemand in der Arktis gäbe, der diese Kunst so beherrsche wie Tookoome. Mehrere Cola-Dosen, die in etwa 10 Metern Entfernung aufgestellt wurden, dienten als erste Zielobjekte für die lange Peitsche des alten Inuit. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so angespannt war die Stimmung in der großen Eishalle. Anscheinend völlig unbeeindruckt ging Tookoome seinem Geschäft nach und wedelte erst schlapp und wenig aufregend mit seiner Peitsche hin und her. Auf einmal jedoch spannte sich der gesamte Körper des Mannes, die Peitsche zischte durch die Luft und schnalzte mit lautem Knall die erste der Dosen durch die Luft. Einige der Zuschauer zuckten erschrocken zusammen, und diejenigen, die sich in der Nähe der Dosen aufgestellt hatten, nahmen einen deutlich größeren Abstand ein. Nacheinander flog eine Dose nach der anderen durch die Halle. Die Bewegung Tookoomes schien einfach. Er schwang seinen Arm mit der Peitsche in der Hand zunächst auf und nieder, bis er dann mit einer stärkeren Bewegung zum eigentlichen Schlag ausholte. Ein Zuschauer erkundigte sich nach dem für die Peitsche verwendeten Material. Mit breitem Grinsen erklärte Tookoome in Inuktitut, er habe die Peitsche selbst gefertigt und dafür eigentlich nur drei Dinge verwendet: Seehundhaut, Reste einer alten Jeanshose und Ducttape172. Schallendes Gelächter folgte nachdem Tookoomes Übersetzer die Antwort in Englisch wiedergegeben hatte. Spannung, Ernsthaftigkeit und Ruhe kehrte aber gleich wieder ein, denn diesmal ersann Tookoome ein weiteres Zielobjekt für seinen Whip: Eine Zigarette auf eine Nadel gesteckt am Fuß seines Übersetzers, der sich dort auf den Boden legte, wo vorher die Dosen standen. Einige Male knallte die Peitsche gefährlich nahe am Körper des Mannes am Boden, und man konnte lautes Murmeln unter den Zuschauern vernehmen. Als Tookoome 171 Tookoome, Oberman 1999, 22 172 Ducttape ist ein sehr starkes Klebeband, das in den USA und Kanada fast zu allen Zwecken Verwendung findet.

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schließlich tatsächlich die dünne Zigarette in Fetzen durch die Luft wirbeln ließ, brach lautes Klatschen los, und Rufe der Erleichterung wurden laut. Unbeeindruckt von der Aufregung um ihn herum schüttelte der alte Mann lächelnd seinem mutigen Übersetzer die Hand und bot seine Peitsche Freiwilligen unter den Zuschauern an, die seine Kunst ausprobieren wollten. Sofort fand sich ein junger Mann, der selbstbewusst versuchte, die schwungvolle Armbewegung des „Profipeitschers“ nachzuahmen. Dieser grinste wissend, als sich das lange Ende der Peitsche wie eine unbezähmbare Schlange um den jungen Mann wickelte. Es dauerte eine Weile, bis dieser sich aus den Fängen des heimtückischen Gerätes befreit hatte und zum nächsten Schlag ausholen konnte. Viele der Zuschauer hatten bisher versucht, sich das Lachen so gut wie möglich zu verkneifen, doch als auch dieser gut gemeinte Versuch zu engsten Verstrickungen führte, war selbst die kanadische Höflichkeit überfordert, und lautes Gelächter schallte durch die Halle. Der junge Mann versuchte sich hierdurch aber nicht verunsichern zu lassen, entwirrte sich ein weiteres Mal und ließ sich gern noch einmal von Tookoome zeigen, wie der Schlag professionell auszuführen sei. Mit unglaublicher Leichtigkeit und gewisser Form der Eleganz knallte die Peitsche in der Luft, bevor sie ohne geringste Schwierigkeiten zu bereiten, wieder ruhig auf dem Boden lag. Kopfschüttelnd blickte der junge Mann seinen Lehrer an, als dieser ihm aufmunternd zunickte und die Peitsche nochmals in die Hand drückte. Nach einigen weiteren verunglückten Versuchen gab der junge Mann auf, und alle klatschen kräftig Beifall. Tookoome wickelte ruhig seine Peitsche zusammen, sammelte seine Cola-Dosen auf und verließ den Ort des Geschehens.

Vor allem die Begegnung mit Simon Tookoome gab mir Aufschluss darüber, wie weit der Sprung für viele Inuit in die neue Welt war und ist. Der alte, ruhige Mann widersetzte sich lange den Bemühungen der Regierung, die Inuit sesshaft zu machen. Er war wohl einer der letzten, der mit seiner Familie das Nomadenleben aufgab, um nach westlichem Vorbild in einem Haus in Baker Lake nahe des Arktischen Zirkels westlich der Hudson Bay zu leben. Mit Hilfe von Sheldon Obermann erzählt Tookoome in seinem Buch The Shaman’s Nephew. A Life in the Far North von seinem ursprünglichen Leben auf dem Land, aber auch von seinen Erfahrungen, sich in einer modernen Welt zurechtfinden zu müssen. Tookoome besitzt nach wie vor seine Schlittenhunde. Er geht mit ihnen auf die Jagd, um seine Familie so gut wie möglich mit dem zu versorgen, was ihm die Natur bietet, aber auch um traditionelle Praktiken an seine Kinder und Enkel weiterzugeben. Tookoome spricht nur Inuktitut und wird geachtet als Hüter alten Wissens und langjähriger Traditionen. Er sei, so schreibt Obermann, Friedensrichter, Trommeltänzer und über die Grenzen Kanadas hinaus bekannter Künstler.173 Der Kultur der Inuit war die Herstellung von Kunstobjekten als Zweck an sich lange unbekannt. Im Mittelpunkt des Lebens in Eis und Schnee stand vielmehr Funktionalität. Kreativität war deshalb nicht minder wichtig, jedoch vornehmlich 173 Tookoome, Oberman 1999, 4-5

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als Mittel zum Zweck, um das Leben in rauen, arktischen Bedingungen einfacher zu gestalten. Die Kunst der Inuit, welche man heute bestaunen und teuer erstehen kann, kristallisierte sich erst in den letzen Jahren, im Umbruch von Tradition zur Moderne, heraus. Für einige der Künstler war ihre Tätigkeit schlichtweg eine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, nachdem ein Leben auf und von dem Land nicht mehr möglich war. Für andere, wie für Tookoome, besteht der Sinn der Kunst darin, dem einstigen Leben auch heute noch Raum zu geben, ihm Ausdruck und Ewigkeitswert zu verleihen. Das spirituelle Ansinnen des Neffen eines Schamanen ist in den Bildern Tookoomes nicht von der Hand zu weisen. Seine Bilder und Figuren sind außergewöhnlich. Es sind einfache Figuren, erinnern an naive Malerei oder Kinderzeichnungen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er bildlich Geschichten seines Volkes erzählt und spirituelle Visionen zum Ausdruck bringt, wirkt authentisch bestechend. Seine Bilder stecken voller faszinierender Rätsel und Geheimnisse: Menschen in Tierformen, die ineinander verwoben, miteinander verstrickt zu sein scheinen – verstrickt in einer Geistwelt, die vom Betrachter der Zeichnungen nur erahnt werden kann.174 Ich setzte mich ihm gegenüber und sah ihm beim Malen zu. Er blickte kurz unter seinem großen, seltsam anmutenden Cowboyhut hervor und lächelte mich an. Unterhalten konnten wir uns nicht, denn Tookoome spricht kein Englisch. Mit dem Finger deutete er auf sich und sagte: „Tookoome“. Er malte seinen Namen in gekritzelten Buchstaben auf ein Blatt Papier. Dann grinste er verschmitzt und zeichnete drei mir völlig fremdartige Zeichen darunter: Schriftzeichen von christlichen Missionaren entwickelt, um die Bibel in Inuktitut übersetzen zu können. Er lachte laut und gab mir zu verstehen, wie seltsam es doch sei, dass die weiße Schrift aus einem so einfachen Wort ein so langes machte. Wie ich später von seinem Übersetzer erfuhr, verweigerte sich Tookoome lange, nicht nur von seinem nomadischen Leben

174 Tookoome (1999) selbst berichtet über die Anfänge seiner Kunst: „I first drew in 1971. The Kabloonaq paid me $5 for my first picture. I was very happy. I drew few more pictures and they took them all. At first I drew what I thought the white people wanted to buy. Later I began to draw what I wanted. When I draw pictures, I think of the way it used to be when my people, the Inuit, still lived on the land. I think of legends. I think of my family at that time. I think of the shamans and I hear my uncle speaking to me in my mind. I remember my dreams. Sometimes when I draw it is like being in a dream. In the old days the animals and the people were very much the same. They lived together on the land. They thought the same way and felt the same way. They understood each other. Shamans could even take on animal shapes or enter an animal and direct it to do their will. When we fall asleep and dream and things that seem different join together – just like the animals and people once were joined together.“ (54)

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auf dem Land Abstand zu nehmen, sondern er mochte auch den Namen nie so recht annehmen, den ihm christliche Missionare einst gaben: Simon. 175 Unvermittelt nahm Tookoome seinen Hut ab und drückte ihn mir in die Hand. Er strahlte amüsiert über meinen erstaunten Gesichtsausdruck, als ich seine außergewöhnliche Kopfbedeckung vorsichtig in meinen Händen wog. Unzählige kleine Anstecker machten seinen Cowboyhut so schwer, dass Tookoome unter ihm immer ein buntes Tuch auf dem Kopf trug. Tookoomes Bilder sind in zweifacher Hinsicht wertvoll. Neben dem Wert als Bewahrer einstiger Tradition und der Darstellung spiritueller Visionen lässt sich ihr Wert mittlerweile in beträchtlichen Dollarbeträgen ausdrücken. Seine Kunstwerke werden hoch gehandelt. Eines davon ziert sogar eine kanadische Briefmarke. Als ihm das Papier ausging, malte Tookoome kleine Bildchen auf Papierreste am Tisch und auf andere Dinge, die sich als „bemalbares“ Material anboten, wie z.B. die Rückseite eines Fotos, das er von einem Tourist geschenkt bekam und ihn in seiner traditionellen Tracht zeigte. Kurz vorher hatte er mir das Bild noch stolz unter die Nase gehalten. Er benötigte kaum zehn Minuten für die kleinen Bildchen mit Wölfen, Eisbären, menschenähnlichen Figuren mit Flügeln oder großen Fischen. Die kleinen „Kunstwerke“ lagen dann eine Zeit lang unbeachtet an seinem Platz. Kaum waren sie auseinander zu halten von anderen Papierschnipseln. Ich war völlig erstaunt, sie am nächsten Morgen in der Galerie ordentlich gerahmt an der Wand hängen zu sehen – mit beträchtlichen Dollarbeträgen dotiert. Tookoome selbst wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, die kleinen Bildchen für so viel Geld zu verkaufen, besteht doch die Hauptmotivation seines Tuns in der künstlerischen Artikulation von spirituellen Visionen für sein Volk. Der Ruhm und die Anerkennung jedoch, die er durch seine Kunst erfährt, schien er allerdings sehr zu genießen. Gern hätte ich mir eines der Werke von Tookoome gekauft, doch leider reichten meine Ersparnisse hierfür nicht. So konnte ich meine Freude kaum zum Ausdruck bringen, als mich Tookoome während des Kunstfestivals unerwartet zu sich winkte und mir eines seiner Bildchen schenkte. Es war das Bild, das er auf die Rückseite des Fotos malte, als ich mich zu ihm gesetzt hatte, um ihm zuzusehen. Tookoome deutete auf den Wolf, den er gemalt hatte, blickte mich vielsagend an und lachte dann laut – ich weiß bis heute nicht, was er mir sagen wollte, bin mir aber sicher, dass es von Bedeutung war.

An mehreren Tagen während des Festivals fanden Geschichtenerzählrunden statt. Die Kunst des Geschichtenerzählens war in Kulturen mit oraler Tradition von besonderer Bedeutung. Durch Geschichten wurden alte Weisheiten von einer Generation zur nächsten weitergetragen, Kinder wurden in Moral, Ethik und spirituellen Vorstellungen unterrichtet. Es gab immer einige in der Familie, meistens Elders mit 175 „Before the Kabloonaq, no one had a family name. My name was just Tookoome. The Church came when I was a young man and gave all the people Christian names. They called me Simon. Now my name is Simon Tookoome.“ (Tookoome, Oberman 1999, 15)

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entsprechender Lebenserfahrung, die besonders gut Geschichten erzählen konnten und deren besondere Funktion somit die des Geschichtenerzählers war. Mit Einzug der Schrift und dem Verlust der alten Sprachen gingen viele der ursprünglichen Geschichten verloren. Zudem übernimmt der Fernseher längst die Funktion des Geschichtenerzählers und füllt die Abende und Tage in langen, dunklen Wintermonaten. Um die Kunst des Erzählens wieder interessant zu machen, wurde ein professioneller Geschichtenerzähler aus Saskatchewan eingeladen, der verantwortlich war für die Organisation und den Ablauf von Erzählrunden während des Festivals. Er organisierte darüber hinaus Workshops für Interessierte, die die Kunst des Erzählens lernen wollten. Als großer Auftakt der Erzählrunden waren einige Elders, erfahrene Geschichtenerzähler aus Inuvik, eingeladen worden. Einige von ihnen wurden dafür aus dem Altenheim angefahren. Zur angekündigten Zeit trafen viele Neugierige und Interessierte ein, die den Geschichten lauschen wollten. Darunter waren Touristen aus Amerika und Europa, Künstler, Einheimische und einige, die zufällig dazustießen. Es lag gespannte Stimmung in der Luft, als die Zuhörerschaft ihre Gespräche einstellte und darauf wartete, dass die Runde eröffnet und die Ältesten ihre Geschichten zum Besten geben würden. Aber nichts dergleichen geschah. Zunächst einmal waren die geladenen Elders nämlich damit beschäftigt, sich über das frische Bannock 176 herzumachen, das von den Organisatoren auf die Tische gestellt worden war. So blieb den neugierigen Zuhörern zunächst nichts anderes übrig, als den Erzählern bei ihrem Mahl zuzusehen und abzuwarten. Ein älterer Mann hatte sichtlich Probleme mit seinem Gebiss, das ihm immer wieder zu entgleiten schien, eine Dame im Rollstuhl hielt nach kurzer Zeit einen Mittagsschlaf, und auch die anderen Elders schienen nicht sonderlich daran interessiert zu sein, den geduldig Wartenden Geschichten zu erzählen. Unter den Zuhörern wurde es wieder etwas lauter. Der Verantwortliche der Runde sah sich jetzt befleißigt, all sein Motivationsvermögen einzusetzen, um zumindest einer Person aus der Runde der Elders eine Geschichte entlocken zu können. Er sprach eine der Damen, die noch den interessiertesten Eindruck machte, direkt an und bat sie, etwas zu erzählen. Die Frau wollte gern, dass man ihr Fragen stellte. Es fand sich auch sofort jemand, der ihrer Bitte entsprach und sich nach ihrer Herkunft erkundigte. Sehr leise begann die Alte zu erzählen, dass sie in Aklavik aufgewachsen sei und mit einem „stranger“177 aus Fort McPherson verheiratet worden wäre. Sie erinnere sich noch, dass ihr 176 Bannock ist bekannt als traditionelles Brot der First Nations, das entweder in der Pfanne herausgebacken oder in kleineren Stücken im heißen Fett frittiert wird. Tatsächlich stammt diese besondere Brotart von europäischen Fellhändlern, welche im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur Mehl gegen Felle tauschten, sondern den First Nations beibrachten, wie man Bannock zubereitet. 177 Zwischen den First Nations der südlichen Taiga und den Inuit in der nördlichen Tundra gab es seit Jahrhunderten erhebliche Spannungen, und erst spät fanden Mischehen statt.

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Vater sich in der Gegend sehr gut auskannte und oft die RCMP Beamten durch das nördliche Delta führte, somit nur sehr selten zu Hause war. Sehr viel mehr konnte man von der Frau selbst bei weiterem Nachfragen jedoch nicht erfahren. Mittlerweile schlief ein weiterer potentieller Geschichtenerzähler und schnarchte lautstark, was seinen Tischnachbarn dazu veranlasste, ihn ab und zu fest zu schütteln. Die Zeit des „Ausgangs“ musste dann wohl für die Altenheimbewohner abgelaufen sein, denn zwei Schwestern kamen und brachten die älteren Herrschaften wieder nach Hause.

Über den Grund des Schweigens der Gruppe der Elders lässt sich nur spekulieren. Obwohl sie den Eindruck erweckten, sich untereinander wohl zu fühlen, sich anlächelten und einander in ihren Gebrechen aushalfen, schien ihnen das Ausgeliefertsein auf dem Präsentierteller nicht sehr zu behagen. Vielleicht lag es daran, dass man sich Geschichten einst nur im trauten Kreis der Familie und nicht in der Öffentlichkeit erzählte. Geschichten wurden erzählt, um der Geschichte und deren Inhalt wegen, nicht aufgrund einer Show oder Präsentation. Es mag auch sein, dass sich ihre Geschichten nicht so recht auf Englisch übersetzen lassen. Wer versteht beispielsweise heute noch die vielen verschiedenen Bedeutungen von Schnee? Geschweige denn, dass sich dafür entsprechende Worte in Englisch finden lassen. Vielleicht ist aber auch die Bedeutung des Geschichtenerzählens auf dem Weg in die moderne Zeit verloren gegangen. Die Tricks und Kniffe, um in einer unmenschlichen Gegend aus Eis und Schnee leben zu können, scheinen in einer Welt voller technischer Errungenschaften überflüssig geworden zu sein. Vielleicht fühlten sich auch die Alten mit ihrer „überholten“ Weisheit überflüssig. Was der Grund des Schweigens auch gewesen sein mag, die Alten jedenfalls hatten müde Gesichter und spiegelten das Gefühl, vom Leben betrogen und von der Zeit überrannt worden zu sein. Obermann schreibt von Tookoomes Erklärung zum Verlustigwerden der alten Geschichten: „Tookoome explained. ,In the past‘, he said, ,our stories were told too often to count. Everyone knew all the stories. It is no longer that way‘. I asked him what had changed. Was it because of the TV? Has it stopped the people from telling their stories? Are they too absorbed by the stories from Hollywood and New York? It went further than that for Tookoome. ,It is the walls‘, he said. ,In the igloo there were no walls. In these buildings we are separated. We do not see or hear each other. We have become different.‘ Stories are not being passed on. Nor is the sense of art. The next generation does not have the same skills. They were born in the settlements, taught in public or residential schools. They grew up with machines and electric appliances. Most of their food is bought in a store. They

Dies könnte möglicher Grund sein für die Wortwahl der Inuit bei der Erzählung über ihren Mann aus Fort McPherson, ihrer Aussage nach ein „Fremder“.

182 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS and their parents live together in the same small place yet the new generation lives and perceives quite differently.“178

Es fällt auf, dass vor allem die älteren Menschen, die noch lange nach Umsiedlungen und dem Städte- und Siedlungsbau in der Arktis auf dem Land in ihrer gewohnten Lebensweise verharrten, glücklicher, zufriedener und meist auch offener sind zu erzählen, wie es damals war. Sie sind es, die die Bedeutung alter Weisheiten in die neue Zeit retten möchten – und sei es durch Erzählrunden über das örtliche Radio oder Fernsehen. Die Menschen jedoch, die von heute auf morgen ein neues Leben führen, versuchen, sich einzugliedern, scheinen einfach kapituliert zu haben. Der Stolz, ein Leben in Eis und Schnee unter den unmenschlichsten Bedingungen führen zu können, musste der Scham und der Angst weichen, sich in einer modernen Welt nicht mehr zurechtfinden zu können. Die nächste Geschichtenerzählrunde am folgenden Tag verlief eindeutig aktiver. Der Organisator bat diesmal die Teilnehmer in der Runde selbst eine Geschichte mit dem Rest der Gruppe zu teilen. Einige hatten zuvor an einem Workshop für Geschichtenerzähler teilgenommen und hielten nun stolz die eigene Erzählung in der Hand. Das erste Wort bekam jedoch Mary Kendi, eine respektierte Gwich’in Elder. Die alte Frau lächelte. Ihre vom Wetter gegerbte Haut und die rauen Hände legten Zeugnis ab von einem Leben auf dem Lande. Dennoch ruhten ihre Hände bewegungslos in ihrem Schoß. Deshalb gelingt es der alten Dame wohl nach wie vor, den Faden selbst in die Nadel zu fädeln, um ihre Stickereien zu fertigen. Marys Augen strahlten die Zuhörerschaft an, als sie begann aus ihrem Leben zu erzählen. Geboren sei sie in der Nähe von Aklavik zu einer Zeit, als es diese Ansiedlung noch gar nicht gab. Die Menschen lebten auf dem Land und jagten Bisamratten. Ihr Mann sei zu früh gestorben, und sie musste neun Kinder versorgen. Eigentlich un-typisch für eine Frau, stellte sie selbst Fallen und ging auf die Jagd. Es gelang ihr so, den Kindern eine sichere Zukunft zu geben. Als sie dann älter wurde – und dabei bemerkte sie verschmitzt – sie habe rein gar nicht das Gefühl, alt zu sein - das erzählten ihr immer nur die anderen, musste sie ins Heim. Als jemand in der Runde nachfragte, wie alt sie denn sei, erklärte sie völlig überzeugend: 75 Jahre. Als ihre Tochter, die auch unter den Zuhörern saß, jedoch laut protestierte und erklärte, ihre Mutter sei bereits 90 Jahre alt, lachten alle – Mary eingeschlossen. Die alte Frau fuhr fort, das Altersheim sei schon in Ordnung, denn dort ließ man sie in Ruhe, und sie würde sehr viel handarbeiten, um nach wie vor ihre Kinder unterstützen zu können. Mary sprach mit ruhiger, fester Stimme und strahlte Zufriedenheit aus. Manchmal, wenn sie lachte, hüpfte ihr ganzer Körper auf dem Stuhl auf und nieder. Mit einem Mal wurde sie sehr ernst, und nach einer kurzen Pause betonte sie, Geschichten erzählen sei wichtig. Sie habe alles durch Geschichten erlernt. Auf die Schule sei sie kaum gegangen. Sie sei immer wissbegierig gewesen und neugierig auf die Welt. Die Kinder 178 Tookome, Oberman 1999, 8

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heute müssten lernen, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Genauso wichtig sei aber, dass es nach wie vor Menschen gäbe, die ihnen von den alten Traditionen berichten. Mary beendete die Geschichte ihres Lebens nicht ohne eine Botschaft für ihre Zuhörer. Nachdem sie kurz von ihrer Reise nach Nairobi in Afrika erzählt hatte und schilderte, wie sehr sie sich gefürchtet hatte, so weit zu reisen, erklärte sie, wir sollten die Möglichkeiten, die sich uns im Leben bieten am Schopfe packen. Auch wenn es hart sei und man sich überwinden müsse, sei es wichtig sich durchzuringen, das Abenteuer Leben voll und ganz anzunehmen.

Höhepunkt des Kunstfestivals stellte eine große Modenschau dar: Lange Parkas aus Seehundfell, dicke Stiefel aus Eisbärenpelz, geknüpfte und bestickte Kindertragegurte wurden zur Schau gestellt wie unbezahlbare Karl Lagerfeld oder Calvin Klein Anfertigungen. Bevor die Show losging, spielte sich hinter der Bühne reges Treiben ab. Die Frauen überprüften kichernd gegenseitig noch ein letztes Mal, ob Make-up und traditionelles Outfit auch richtig saßen. Einige unternahmen letzte Laufproben und stolzierten staksig über eine imaginäre Bühne. Die Männer traten aufgeregt von einem Bein auf das andere. Mütter versuchten verzweifelt, ihre Kinder davon abzuhalten, die schöne Tracht, die so mühsam in die richtige Stellung gebracht worden war, nicht durch wildes Rennen oder Hüpfen durcheinander zu bringen. Endlich ging es los. Es wurde dunkel in der großen Halle (eigentlich der städtische Curlingstadion) Laufstegmusik erklang, die Zuschauer stellten ihre Gespräche ein und blickten erwartungsvoll zur Bühne. Zunächst traten einige Elders auf, die sich offensichtlich erst nach langem Zögern ein Herz genommen hatten, die selbst genähten Gewänder zu präsentieren. Der Stolz über das eigene Werk und der Wunsch es zur Schau zu stellen, hatten am Ende wohl doch über das Lampenfieber gesiegt. Schnell und ohne großes Aufsehen erregen zu wollen, marschierten sie über den Laufsteg, drehten sich kurz im Kreis und verließen möglichst bald den Präsentierteller wieder. Die Sprecherin der örtlichen Radiostation, CBC North, hatte alle Hände voll zu tun, die einzelnen Kleidungsstücke gebührend erklären zu können. Nicht nur die Funktionalität dieser Stücke, erprobt in vielen Wintern in eisiger Kälte, war hierbei herauszustellen, sondern vor allem auch die in die Tracht eingearbeiteten Kunstwerke.179 Teilweise verbringen Frauen jahrelang damit, ihr Beadwork180 auf Jacken, Babytragegurte und Mokassins zu nähen. In der 179 Eine junge Frau erzählte mir später, die Bedeutung warmer Kleidung für die Jäger der Familie war so wichtig gewesen, dass die Frau in gewissem Sinne mit verantwortlich für den Jagderfolg war. Darüber hinaus gäbe es viele spirituelle Mythen um die Muster auf den Parkas der Männer. Es lag beispielsweise eine besondere Macht oder Stärke in einem Kleidungsstück, wenn es die Frau nähte, während sie menstruierte. 180 Beadwork ist eine wunderschöne, sehr aufwendige Perlenstickerei mit winzigen Perlen, die in vielen First Nations Kulturen in ganz Kanada in leicht abgewandelter Form üb-

184 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS Dene Kultur entwickelt jede Frau ihre eigenen Muster. So kann z.B. die Jacke eines Mannes eindeutig auf eine Künstlerin zurückgeführt werden. Für den Betrachter war der Stolz der Inuvialuit und First Nations auf die Erzeugnisse ihrer Kultur deutlich spürbar. Die Menschen der Völker, die vor nicht allzu langer Zeit noch als „wild“ und unzivilisiert gegolten hatten, schienen es zu genießen, nun Menschen aus der ganzen Welt würdevoll zu präsentieren, was ihre Kultur zu bieten hatte. Darüber hinaus war ein gewisser Wettkampfgeist zwischen den Näherinnen und Stickerinnen nicht von der Hand zu weisen. Eine Messlatte für Gütekriterien war jedoch aufgrund der Vielfältigkeit der präsentierten Stücke kaum zu finden. Neben dicken Parkas aus Walrosshaut oder Wolfspelz in Kombination mit dicken, warmen Eisbärfellstiefeln und der Schneebrille geschnitzt aus Karibugeweih traten Frauen in bunt genähter Sommertracht mit übergroßen Kapuzen für den Kindertransport auf. Nach wie vor sieht man Frauen in Inuvik ihre Kleinkinder in diesen so genannten amauti herumtragen. Dank der großen Kapuze haben die Frauen beide Hände frei, um häusliche Tätigkeiten verrichten zu können, ohne dabei den Nachwuchs aus den Augen zu verlieren. Für etwas gemischte Gefühle und kontroverse Diskussionen sorgte eine moderne Modeschöpferin, die Elchleder Bikinis und Badehosen entworfen hatte und hier zur Schau stellte. Eine ältere Inuit neben mir bemerkte laut, sie wolle die Dame mit dem heftpflastergroßen Bikini, die gerade elegant über den Laufsteg schlenderte, gerne draußen unter den Moskitos sehen. Zudem zweifle sie an der Funktionalität von Bademode in der Arktis. Noch lange nach der Modenschau waren diese, für viele Geschmäcker zu gewagten Kleidungsstücke, Gesprächsthema in Inuvik.

Die Rolle angemessener Kleidung geht über die lebensnotwendige Schutzfunktion im eisigen Winter der Arktis hinaus. Die Symbolhaftigkeit dessen, was man als Besucher in Inuitgemeinden trägt, wurde mir in einem Gespräch mit Anita deutlich vor Augen geführt: Anita hatte mich zum Abendessen eingeladen und fragte mich (während ich in der Arktis sage und schreibe eine frische Ananas181 in Stücke schnitt), ob ich entsprechend ausgerüstet lich ist. „Throughout the forested regions of the western Arctic, colourful beadwork adorns caribou and mooshide clothing. Now a trademark of Dene and Métis handicrafts, beads were introduced to the Arctic by the Europeans around 1750. Prior to this, decoration was through the geometric designs created from porcupine quills. The floral design, so popular in beadwork today, were originally taught to Dene and Métis girls by nuns at mission schools in the late 19th century.“ (Government of the Northwest Territories 1991, 13) 181 Der über die Grenzen der Arktis hinaus legendäre Fruitman (es gab sogar Dokumentationen über ihn im deutschen Fernsehen) pendelt seit der Fertigstellung des Dempster Highways von Vancouver nach Inuvik, um dort frisches Obst und Gemüse zu verkau-

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sei, für den Winter im Norden und bot mir ein Paar „nordpoltaugliche“ Expeditionsstiefel an. Außerdem habe sie einen warmen Parka für mich. Ich war sehr dankbar über dieses Angebot, spürte ich doch schon an kälteren Tagen in Inuvik den eisigen Wind meinen Körper trotz guter Bergsteiger-Kleidung schnell auskühlen. Anita erklärte mir, wenn ich mit meiner gelben Funktionsjacke in den Inuitgemeinden im Winter auftauchen würde, hätte ich schon von vorneherein schlechte Karten, ernst genommen zu werden. Immer wieder einmal kämen reiche Amerikaner zur Eisbärenjagd in die Gegend und würden insgeheim belächelt werden, wenn ihre noblen Expeditionsjacken nach stundenlanger Schlittenfahrt über Eis und Schnee stocksteif gefroren wären und sie dann außerordentliche Schwierigkeiten hätten sich zu bewegen, geschweige denn, überhaupt noch etwas zu treffen. Zudem würde moderne Outdoorkleidung nicht selten als Affront aufgefasst, denn dem alten Wissen der Einheimischen würde nicht mehr die gebührende Achtung geschenkt. Die Erfahrung, dass die Inuit westlichen Erfindungen diesbezüglich weit überlegen sind, mussten ja bereits die ersten Expeditionsführer machen, die nur mit Hilfe der Inuit überlebten. Im Zugeständnis der eigenen Abhängigkeit ehrt man die Kultur der Inuit.

Körperliche Geschicklichkeit: einst überlebensnotwendig, heute Sport Nicht nur eine gute Ausrüstung, auch körperliche Fitness war Voraussetzung für das Leben in der Arktis. Seit jeher gibt es aus diesem Grund die so genannten Northern Games, Spiele und Wettbewerbe, die Körper und Geist auch in langen Wintermonaten trainierten: „Played for both fun and survival, these games developed strength, endurance, and resistance to pain. The people were tested and prepared for the hard life on the land.“ 182 Heutzutage haben diese speziell auf die Situation der Inuit angepassten (sie können auf engem Raum, im Inglu, stattfinden) Sportarten vor allem die Aufgabe, junge Menschen vom Fernseher oder Computer wegzulocken und neben gesunder Bewegung alte, wertvolle Traditionen zu fördern. Seit bereits 35 Jahren finden jedes Jahr im Juli die Northern Games in Inuvik statt. Die Spiele stellten immer schon Anlass dar, Familien in weit entlegenen Gebieten zu besuchen, Kräfte zu messen und neue Menschen kennen zu lernen. Darüber hinaus galten die Wettkämpfe als ritualisierte Form von Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Menschen oder ganzen Familien. Konflikte konnten so ausgetragen werden, ohne größeren Schaden zu verursachen. Selten kam es zu Verletzungen der Athleten. Im Gegensatz zum Kunstfestival schienen die Spiele in erster Linie für das eigene Volk zu sein, weniger zum Zwecke der Schaustellung der Kultur für Touristen

fen. Nicht selten wird die Ankunft seines Trucks zum Event und eine Menschentraube wartet geduldig vor der engen Tür zu seinem LKW, um die lang ersehnten Vitaminträger zu erstehen. 182 Inuvialuit Regional Corporation 2007b

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oder um Geld zu verdienen. Dies merkte man nicht zuletzt daran, dass die Organisatoren zwar ein Programm mit genauem Ablauf erstellten, sich die Menschen aber nicht im Geringsten darum zu kümmern schienen. Hier im Norden diktiert nicht die Uhr beziehungsweise der Mensch die Zeit, sondern die Natur.183 Tookoome erklärt: „We learned everything from the land. We learned about time from the sky, not from clocks. During the day, the sun told us the time as it crossed the sky. At night we looked at the whole sky. We watched for when the moon came out and went away again. And when the different stars appeared and disappeared. The sky was our clock.“184

Anita erzählte mir in diesem Zusammenhang, sie hätte längst aufgegeben, Vorlesungen am College während der Jagdzeit zu halten – kommen würde dann sowieso kaum einer ihrer Studenten. Denn nach wie vor hat für die meisten Menschen das Leben und Lernen auf dem Land Vorrang vor dem Studieren aus Büchern. Rupert Ross analysiert, dass es bei Völkern, die abhängig davon waren, was die Natur ihnen bot, stets auf das richtige „Timing“ ankam. Erst wenn alle Faktoren zusammenkamen, welche beispielsweise den optimalen Jagderfolg gewährleisteten, wurde gehandelt – und zwar rasch, energisch, ausdauernd, zielgerichtet und effektiv. Bis es soweit war, warteten die Menschen geduldig, bereiteten sich innerlich mental und äußerlich strategisch auf das Ereignis vor. Eigene Präferenzen mussten hinter denen der Gruppe zurückstehen. Zeit wurde nicht individuell nach eigenen Bedürfnissen gestaltet und eingeteilt, sie bestimmte und diktierte den Tagesablauf und die jeweiligen Handlungen.185 Ich erstand ein Programm für die Tage der Wettkämpfe. Aber ich lernte bald, dass diesem zu folgen, keinerlei Sinn machte. Die Uhren (wenn man hier überhaupt von „Uhren“ sprechen kann) schienen völlig anders zu schlagen. Keinen erregte diese Tatsache im Geringsten. Die Menschen, die gekommen waren, hatten endlose Zeit mitgebracht. Die meisten genossen 183 Richard Condon (1996) erklärt hinsichtlich der Geduld, Ausdauer und Bedeutung von äußeren Umständen, die den Zeitbegriff der Inuit bestimmten: „The [...] Eskimos think nothing of spending twenty-four hours on a hunt, tramping continually over stony hills without a morsel of food, and with only a few short halts to rest their limbs and look around them. In spring I have seen them spend whole days fruitlessly digging one hole after another through thick ice of lakes and jigging their lines without ever getting a bite. In winter they sit for hours over their seal holes even in howling blizzards [...]. The patience instilled in them by hunting becomes so engrained in their very natures and permeates all their social life, so that tolerance and forbearance are two of the most marked features in Eskimo society.“ (23) 184 Tookoome, Oberman 1999, 12 185 Ross 2006, 44-47

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einfach nur die Gemeinschaft, freuten sich, Familienmitglieder aus weit entfernten Gemeinden zu treffen und ratschten lautstark in der Turnhalle, während sie die sportlichen Wettkämpfe interessiert verfolgten. Es schien, als würden sie einfach mit dem zufrieden sein, was sich ihnen gerade bot. Sie nahmen, was kam. Keiner sah je in das Programm und keiner bemerkte ungehalten, er hätte auf das eine oder andere Ereignis umsonst gewartet. Die einzigen, die sich empörten, schienen einige Europäer auf Reisen, welche gern den Alaska High Kick oder andere Disziplinen verfolgen wollten und keiner eine Aussage darüber machen konnte, wann diese Sportart an der Reihe war. Zwischen einzelnen Wettkampfarten entstanden ewige Pausen, und man fragte sich, wie es den Veranstaltern gelang, alle Sportler, Schiedsrichter und Zuschauer irgendwann wieder zu versammeln, um mit dem nächsten Wettkampf beginnen zu können. Staunend verfolgte ich, wie aus heillosem Chaos disziplinierte Ordnung und Ruhe entstanden, wenn sich die Sportler des nächsten Wettkampfes vorstellten. Da es abends nicht dunkel wurde, schien niemand das Bedürfnis zu haben, nach Hause zu gehen. Wenn sich die Kämpfe bis spät in die Nacht hineinzogen, spielte das keine Rolle. Meist wurde bis in die frühen Morgenstunden hinein getanzt, getrommelt, gesungen. An einem Abend spielte ein Alleinunterhalter auf der großen Bühne an einem Keyboard und versuchte sich in Country- und Westernmusik. Der Klang war oft übersteuert, quietschte und dröhnte manchmal unangenehm laut. Ich blieb eigentlich nur noch in der Hoffnung, dass im Anschluss an diese ohrenbetäubende Veranstaltung der Jigging186-Wettkampf stattfand (wie im Program angekündigt), und ertappte mich dabei, ungeduldig und ungehalten meinem Unmut über die Planlosigkeit des Ablaufs Ausdruck zu verleihen. Rosi, eine Gwich’in Bekannte, deren Augen immer fröhlich zu blitzen schienen, saß neben mir, lachte laut und sagte, man müsse das Leben so nehmen, wie es kommt. Ich solle die positiven Aspekte sehen und mich nicht auf die negativen Töne konzentrieren – dann sei es gar nicht so schlecht; die dargebotene Musik und das Leben als solches. Ich musste daran denken, dass mir eine weitere Bekannte aus dem Ort erzählt hatte, Rosi habe ihren Mann an den Alkohol und zwei Kinder durch einen Hausbrand verloren, dies aber als ihr Schicksal akzeptiert und sich darauf besonnen, die „wohlklingenden Töne“ in ihrem Leben nicht durch dieses schreckliche Ereignis auszublenden.

Da der Schicksalsglaube nach wie vor eine große Rolle in der Kultur vieler First Nations und der Inuvialuit spielt, sich dessen Ausdruck und Konsequenzen in einer modernen Zeit jedoch anders darstellen, als noch zu Zeiten des Lebens auf dem 186 Jigging ist ein schneller „Hüpftanz“ zu einer speziellen Geigen- und Gitarrenmusik (auch Fiddlermusik genannt). Diese schnelle Tanzmusik wurde ursprünglich von europäischen Siedlern importiert. Sie fand vor allem in der Metis-, aber auch in der First Nations- und Inuitkultur Anklang. Es gibt extra Jigging-Kleider mit kleinen Glöckchen dran, die im Tanz zur Musik klingen. Was für den unbedarften Beobachter den Anschein eines wahllosen Rumhüpfens hat, ist eine Kunst. Es bedarf viel Ausdauer und Übung, um diese Art des Tanzes zu erlernen.

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Land, soll an dieser Stelle kurz darauf eingegangen werden. Das Wissen um die Abhängigkeit von der Natur und deren Launen, gegen die kein Mensch etwas ausrichten kann, ist wohl ein Grund, dass nach wie vor die Menschen gewisse Lebenserfahrungen ohne Anklage akzeptieren und als für sie bestimmt hinnehmen. Die westliche Zivilisation ist stark geprägt durch individualistische Lebenskonzepte, die Ureinwohnerkulturen Kanadas dagegen sehen sich als Teil eines größeren Ganzen, als Teil eines komplexen Systems, als Einheit mit der Natur. Während wir lange trauern, womöglich in Sinn- und Glaubenskrisen fallen, gegen Ungerechtigkeiten aufbegehren, nach Ursachen suchen, Schuld zuweisen und anklagen, unser Schicksal nicht akzeptieren wollen, scheinen First Nations und Inuvialuit relativ schnell Trauer und Unheilserfahrungen zu verarbeiten. Dies scheint auch nötig, so Ross, damit Energieressourcen möglichst schnell wieder für das kollektive Gut freigesetzt werden, welche sonst für die persönliche Trauerarbeit verloren gingen: „>Grief and sorrow@ are emotions, which if indulged can threaten the group, for they incapacitate the person who is overwhelmed by them. The rule seemed to require that grief and sorrow – and the sources of those incapacitating feelings – had to be forgotten as quickly as possible. Only in that way could the group continue to meet its survival challenges with the fullest attention and energy of every member.“187

Es kommt nicht selten vor, dass sich Menschen der euro-kanadischen Gesellschaft über diese Emotionslosigkeit wundern und in extremen Fällen gar annehmen, Ureinwohnerkulturen seien hart gesotten, verroht und kalt. Manchmal hört man sogar von Sozialarbeitern, die Menschen würden ihren Problemen nicht adäquat begegnen (wollen), denn sie würden sich nicht öffnen, nicht davon sprechen, um Schicksalsschläge entsprechend zu verarbeiten. Beschriebene Akzeptanz unheilvoller Lebensereignisse scheint aber noch tiefere Gründe zu haben, Gründe, die in spirituellen Vorstellungen wurzeln. Im Gegensatz zu vorrangig kausalursächlichen Erklärungen der Welt westlich zivilisierter Kulturen, spielen Magie und Mystik im Weltbild der Ureinwohnerkulturen nach wie vor eine entscheidende Rolle. Der indigene Glaube an eine Welt mit guten und bösen Geistern ist nicht zu vergleichen mit beispielsweise dem christlichen Glauben. Er kann nicht hin und wieder praktiziert werden, er ist vielmehr grundlegender Teil der Realität, des gelebten Alltags der Menschen.188 Menschen erzählten mir, sie hätten Angst vor Flüchen, die über ihre Familie ausgesprochen wurden, denn böse Geister könnten ihr unheilvolles Spiel mit ihnen treiben. Ich hatte manchmal den Eindruck, die Menschen würden sich ohnmächtig fühlen angesichts einer Geistwelt, welche die Natur, persönliches Schicksal und andere Menschen, inklusive deren Handlun187 Ross 2006, 34 188 Vgl. ebd., 63

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gen bestimmten. Alles, was sie tun könnten, ist zu versuchen, sich mit den Geistwesen gut zu stellen, diese nicht zu erzürnen und sich dem ihnen zugedachten Schicksal hörig zu ergeben. Ähnlich resümiert Ross: „If it is the spirits who ordain one’s fate, there is simply no point in gnashing one’s teeth. Keeping such pain alive not only threatens survival by reducing energy, will power and attention; it is also pointless, because the initial tragedy could not have been averted. Misfortune had to be accepted, then put behind as quickly as possible.“189

Anita erzählte mir allerdings auch, dass manche Jugendliche heutzutage als eine Art Mutprobe ihr Schicksal bewusst herausfordern, indem sie beispielsweise mit ihren Schneemobilen im Frühling während des Eisbruchs versuchen, auf den Mackenzie zu springen, möglichst schnell über das dünne Eis rasen, ohne dabei in die kalten Fluten einzubrechen, was das sichere Todesurteil für sie wäre – ein Schicksal, das deren Eltern angesichts der Tatsache, dass ihre Kinder die Geistwelt auf ungehörige Weise herausforderten, wohl als gegeben hinnehmen würden. Die Northern Games präsentieren zwei Kategorien von Wettkampf. Einen sportlicheren Wettkampf, in welchem Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit gefordert sind und einen, der „Gütesigel“ für traditionell häusliche Fertigkeiten vergibt. Viele musikalische und tänzerische Höhepunkte wie Drumdancing, Square Dance und Jigging standen ebenfalls auf dem Programm. Immer, wenn man die Sporthalle betrat, umfing einen aufgeregte Spannung und Wettkampfgeist. Ein Sprecher kommentierte alle Geschehnisse während der Kämpfe und forderte abwechselnd zur Ruhe, damit die Sportler sich konzentrieren konnten und dann wieder zu Applaus auf, um für neue Motivation und Stimmung zu sorgen. Es war faszinierend zu beobachten, mit welcher Ernsthaftigkeit vor allem die jugendlichen Sportler, die im Vergleich zu modernen Sportarten wie Baseball, Basketball, Volleyball und Fußball, die eher unspektakuläreren Northern Games durchführten. Mit faszinierender Körperspannung ließen sie sich einem Flugzeug gleich in der „Airplane“-Disziplin durch die Halle tragen, bis ihnen der Kopf rot anlief und der Körper schlaff den Dienst versagte. Wie zwei große Büffel stemmten sich junge Frauen und Männer gegeneinander im Versuch sich gegenseitig aus dem runden Kreis am Boden zu stoßen. Schiedsrichter entschieden über Millimeter und damit über Gewinner oder Verlierer. Schnelligkeit und Qualität des Ergebnisses galten als Kriterien für die traditionellen Wettkämpfe. Männer und Frauen häuteten Seehunde um die Wette, kneteten riesige Berge von Teig, um Bannock über dem Feuer zu backen und rupften Enten so schnell sie konnten. Sehr genau wurden hierbei strenge Richtlinien beachtet, so durfte beispielsweise nur das

189 Ebd., 67

190 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS Ulu190 als Werkzeug dienen, und moderne Messer und andere Hilfsmittel waren verboten. Die Wertschätzung und Bedeutsamkeit dieser einstmals alltäglichen Verrichtungen erfuhr noch eine Steigerung im Verkauf traditioneller Speisen und Getränke. Mit einem bunten Filzstift war die Speisekarte an eine „Inuit-Imbissbude“ angeschrieben: Muktuk191, Karibusuppe, Moschusochsen-Kuchen, geräucherter Whitefish, Arctic Char Chowder und Tee. Letzterer schmeckte etwas rauchig, da er über dem offenen Feuer gekocht wurde. Für wenige Dollar fand hier der Liebhaber traditionellen Inuit Essens alles, was das Herz begehrt. Um die Bude sah man ständig eine Traube von Menschen, die sich über die letzte Jagd austauschten (es war gerade die Zeit der Belugawaljagd), über Politik in Sachen Pipeline diskutierten oder über potentielle Gewinner der Spiele Vermutungen anstellten. Ältere Menschen warteten geduldig darauf, dass ihnen etwas zu Essen serviert wurde, und jüngere standen dafür in langen Schlangen an der Bude an. Muktukstücke wurden gekonnt präpariert und schwammen in großen Blechwannen in heißem Wasser, bis sie in kleinere Stücke geschnitten, verkauft wurden. Die Luft roch nach Räucherfisch und Karibu-Burger, die auf dem Grill brutzelten.

Gebuchte Tour in das exotische Leben eines modernen Inuk Anita ermöglichte mir, einen Tag in der Gemeinde Tuktoyaktuk 192 (meist nur Tuk genannt) zu verbringen. Dort bekam ich vor allem anhand der Lebensgeschichte

190 Ein Ulu ist ein scharfes (Allzweck-)Messer, mit dem die Inuit Fleisch und Fisch zerlegen. Es sieht aus wie ein Wiegemesser mit großem Griff, der er auch mit Handschuhen sicher gehalten werden kann. Ulus kommen in Inuvik ständig zum Einsatz. Es gibt sie in allen Größen und in allen Versionen: in Kleinformat für die Handtasche der Dame und als Kunstobjekt liebevoll verziert und teuer an Touristen verkauft. 191 Muktuk ist in kleine Stücke geschnittene Belugawalhaut (3,5 bis 5 cm dick) mit der dazugehörigen rosa Fettschicht. Die mit dem Ulu zerkleinerten Stücke werden in großen Tonnen im flüssigen Fett, das ebenfalls vom Wal gewonnen wird, aufbewahrt. Man kann Muktuk roh oder gekocht genießen (wobei der Geschmack für Nicht-Inuit gewöhnungsbedürftig ist). 192 In Tuktoyaktuk, das 137 km nördlich von Inuvik an der Beaufortsee liegt, leben heute etwa 980 Personen. Die Ansiedlung an der Kugmallit-Bucht ist die nördlichste Gemeinde auf dem kanadischen Festland. Sie kann das ganze Jahr über mit dem Flugzeug von Inuvik aus erreicht werden. Im Sommer findet die Versorgung von Gütern hauptsächlich per Fähre statt. Im Winter verbindet der Mackenzie als Eisstraße Tuk mit Inuvik und Aklavik. Schon immer galt der nördlichste Teil des Mackenzie Deltas als besonders attraktiv. Vor allem im 19 Jahrhundert lebten viele Inuit Walfänger in der Gegend um Tuktoyaktuk. Mit den amerikanischen Walfängern, die um 1890 die Gegend (vor allem die nahe gelegene Insel Herschel Island) für sich entdeckten, kamen zahlreiche Epidemien, welchen viele Inuitfamilien zum Opfer fielen. 1928 zogen die letzten Überleben-

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eines Mannes eine Ahnung davon, wie das Leben der Inuit von Morgen aussehen könnte. Ich besuchte die Ortschaft, wunderschön an der Beaufortsee gelegen, im Rahmen eines Ausflugsangebotes der Arctic Nature Tours. Besagter Mann, Roger Gruben, ist Eigentümer dieser Firma. Darüber hinaus ist er leidenschaftlicher Jäger, Walfänger, Geschichtenerzähler, Verfechter alter Traditionen und zugleich einflussreicher Politiker, studierter Wirtschaftsexperte und mutiger Unternehmer. In einem Beitrag des CNN193 über Reisen in den Norden Kanadas berichtet Jack Hamann über seine Erfahrungen mit Roger Gruben, die etwas von dessen Facettenreichtum spiegeln: „The Arctic Tour Company is owned by Roger and Winnie Gruben. Roger Gruben, 46, was raised in Tuk as a hunter of whales, caribou, polar bears and geese, but became a radio talkshow host after attending college and returning to Inuvik. From 1984-1994 he was arguably the most powerful person in the Western Arctic as CEO of the Inuvialuit Regional Corporation, the group founded on the millions from the land settlement. Now, Gruben contents himself with tours. He was one of the most extraordinary hosts we’ve ever had for an overnight stay. […] We sat at the Gruben’s kitchen table for a lunch of caribou soup and bannock, a sort of arctic scone. Our host passionately defended his village’s annual whale hunt, making little effort to hide his resentment toward Greenpeace and others who oppose native whaling and seal hunts. Gruben, who con-siders himself an outdoorsman and entrepreneur, worries

den in die Ansiedlung um die Hudson Bay Handelsstation, das heutige Tuk. Mit dem Bau der Distant Early Warning Line (DEW-Line) in den 50er Jahren erlebte die Ortschaft ihre Blüte als größter Küstenort in der westlichen Arktis, denn sie galt als Versorgungsstation für die Radarstationen. Heute leben die meisten Bewohner von Tuk von Anstellungen in der Transport- oder Ölindustrie, wobei nach wie vor die traditionelle Art der Lebensmittelbeschaffung durch die Jagd für viele Familien notwendige Ergänzung zum Einkommen darstellt. Der Name „Tuktoyaktuk“, vormals „Tuktuujaartuq“; bedeutet übersetzt aus dem Inuvialuktun „Sieht aus wie ein Karibu“. Eine alte Inuit Legende gibt Aufschluss über die sonderbar anmutende Namensgebung: „When caribou were plentiful in the area there lived a woman, who was pregnant, on an island. She wanted very much to look at some caribou as they waded in the water. However, women were not allowed to look at animals when they were having babies since it frightened the animals. So, when she glanced at them, she committed a taboo. Immediately, the caribou turned to stone. To this day, at low tide, rocks resembling the shape of caribou can still be seen. This is what our ancestors have passed to the present generation.“ (Tour the North s.d.) 193 Das Cable News Network (CNN) ist eine amerikanische Fernsehanstalt, die vor rund 25 Jahren die Idee einer Nachrichtensendung rund um die Uhr einführte.

192 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS whether his grandson, Travis, will want to continue the family tradition of hunting up to 40 caribou each winter to help feed Tuk’s elders.“194

Nach dem etwa 35-minütigen Flug mit einer kleinen Propellermaschine von Inuvik nach Tuktoyaktuk holte uns (eine fünfköpfige Tourgruppe) Roger mit einem der in Kanada üblichen gelben Schulbusse ab. Im Bus musterte ich Roger. Er war für einen Inuk erstaunlich groß. Als schien er meine Gedanken zu erahnen, schmunzelte er, blickte mich durch den Rückspiegel an, und erklärte, er wisse schon, dass die meisten sich über seine Größe wunderten. Er fuhr fort, seine Ahnen hätten sich bereits vor vielen Jahren mit Europäern gemischt. Daher komme auch sein Name: „Gruben“. Er sei zur Hälfte Inuit, zu einem Viertel Gwich’in und zu einem Viertel österreichischer Herkunft. Roger zeigte sich außerordentlich belesen und kannte sich hervorragend in kanadischer Geschichte aus. Zugleich schien er erfahren nach alter Tradition jagen und fischen zu gehen. In Wirtschaft und Politik rund um die Selbstverwaltung und Länderrechte schien Roger Experte zu sein. Es wunderte mich nicht, dass er jahrelang offizieller Geschäftsführer der Inuvialuit Regional Corporation war und in dieser Funktion sein Volk vertrat. Tatsächlich sprach Roger immer sehr wertschätzend und beinahe liebevoll von „my people“, wenn er von den Inuvialuit sprach. Mit spürbarer Leidenschaft für Land und Leute fuhr uns Roger durch seine Heimat. Gemäß seiner Kultur erklärte er während dessen nicht nur geologische und historische Sachverhalte, er packte diese vielmehr in spannende und lehrreiche Geschichten. Unser erster Stopp war in der Nähe eines großen Pingos 195, den ich schon aus dem Flugzeug mit Erstaunen wahrgenommen hatte. Im flachen, baumlosen Delta stechen diese gefrorenen Erd- und Steinbuckel, die wie kleine Vulkankrater aussehen und in vielen Jahrtausenden aus dem Boden wuchsen, sofort ins Auge. Roger erklärte uns lang und breit die Entstehung dieser Pingos – ein sehr komplizierter und langwieriger Prozess. Sein Vater habe ihm beigebracht, diese Merkmale des Landes, die man in der flachen Tundra schon von großen Entfernungen aus wahrnehmen kann, als wichtige Orientierungshilfen auf der Jagd zu nutzen. Er fuhr fort, darüber hinaus habe sein Volk die gefrorenen Erdhügel seit jeher als „walk-in“ Gefrierschränke benützt. Lange Gänge und regelrechte Gefrierzimmer wurden in die Pingos

194 Hamann 2000 195 Auf der Halbinsel von Tuktoyaktuk befindet sich das größte Pingo-Aufkommen der Welt, was diese zu einem nationalen Wahrzeichen für Kanada macht. Pingos (Inuktitut für Hügel) sind Bodenerhebungen in Permafrostgebieten, die durch so genannte Eislinsen entstehen. Eislinsen sind Erhebungen des Bodens, die durch einen Kapillareffekt (Wasser wird durch enge röhrenartige Durchlässe nach oben gedrückt und gefriert) entstehen. Sie lassen sich in der Regel auf einen verlandeten Teich oder Tümpel zurückführen. (Vgl. Government of Canada 2008)

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gegraben, um das erjagte Fleisch frisch und von Ungeziefer fern zu halten. In Tuk gibt es nach wie vor einen solchen „community freezer“ (gebaut um 1900).

Die Einflussnahme der Inuvialuit in die Politik und die Wirtschaftsentwicklung im Norden ist beeindruckend. Wie bereits erwähnt, waren sie 1984 das erste indigene Volk der Nordwest Territorien, das umfassende Länderrechte mit der kanadischen Regierung verhandelte und zu einem erfolgreichen Abschluss brachte. Die Vorstellung, dass dasselbe Volk vor einigen Jahrzehnten noch weitgehend von den Einflüssen der Zivilisation unberücksichtigt, nomadisch über Eis und Schnee zog und heute souverän und größtenteils eigenverantwortlich auf weltpolitischer Bühne Einfluss nimmt, ist bemerkenswert. Wir fuhren an einer für diese abgelegene Gegend ungewöhnlich großen Hafenanlage vorbei, in welcher riesige Lastkähne beladen mit Containern lagen. Stolz erklärte uns Roger, seinem Volk gehöre neben den Fluggesellschaften Aklak Air und Air North eine der einflussreichsten Transportfirmen der Arktis: die Northern Transportation Company Limited (NTCL) 196. „Wir wollen mitspielen, bei dem was in der Welt geschieht und nicht nur (aus)gespielt werden“, erklärte er. Roger fuhr fort, sein Volk würde teilhaben am Millionengeschäft der Verschiffung von Öl und anderen Bodenschätzen. Darüber hinaus könnten sie wichtige Bedingungen hinsichtlich des Umweltschutzes stellen und die Zusammenarbeit großer Firmen mit den Inuvialuit fordern. Wichtigster Grund hierfür sei, so fügte Roger ernst hinzu, dass sein Volk wieder glücklicher und zufriedener würde – und das könnte es nur werden, wenn die Menschen die Möglichkeit bekämen, eigenverantwortlich und unabhängig, basierend auf traditionellen Werten, Einfluss zu nehmen auf das, was in ihrem Land und mit dem Land geschieht. Bei einer Arbeitslosensrate von 50% bräuchten die Menschen hier dringend Arbeit, eine sinnvolle Beschäftigung, um nicht krank und abhängig zu werden. Sein Volk solle wieder lernen, einen aufrechten Gang zu gehen. Deshalb sei er auch für den Bau der großen, nach wie vor heftig um-strittenen Pipeline im Mackenzie Delta. Winnie, seine Frau, sei in Tuk Sozialarbeiterin gewesen und kenne viele der Schicksale von Menschen, die aufgrund von Arbeitslosigkeit 196 Northern Transportation Limited ist Mitglied der NorTerra Companies, eine Dachgesellschaft, die völlig in der Hand der Inuit bzw. Inuvialuit liegt. Die Inuvialuit Regional Corporation als Vertreterin der Inuvialuit ist Eigentümerin seitens der westlichen Arktis und die Nanusi Corporation ist dessen Partnerin als Vertreterin der Inuit, die in Nunavut leben. (vgl. Northern Transportation Company Limited s.d.) „NorTerra Inc. is a 100% aboriginally-owned holding company. It is managed and owned equally by the Inuvialuit Development Corporation, representing the Inuvialuit of the Western Arctic and Nunasi Corporation, representing the Inuit of Nunavut. These corporations began with a vision: to create more meaningful participation in the Canadian and trans-Arctic economies for the people they represent.“ (The NorTerra Group of Companies s.d.)

194 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS und dem Gefühl der Nutzlosigkeit ihren Lebenssinn verloren hatten. Die Selbstmordrate unter Inuit sei schockierend hoch. Vor allem Jugendliche sähen viel zu oft keinen Ausweg aus Arbeitslosigkeit, Isolation und Bildungsnotstand. Im Rahmen seiner verantwortungsvollen Rolle als Geschäftsführer von der Inuvialuit Regional Corporation war Roger in das so genannte „Environmental clean-up“ Projekt involviert worden. Dabei ging es darum, die große Distant Early Warning Line Radarstation in Tuktoyaktuk von Asbest und anderen giftigen Materialien, die beim Bau um 1950 benützt worden waren, zu befreien. Die großen runden Kugeln der Radaranlage stehen seltsam unwirklich mitten in der flachen Tundra an der Beaufortsee. Wir hielten dort an und Roger berichtete uns von hitzigen Debatten mit der Regierung über die Frage: „How clean is clean?“ Obwohl die kanadische Regierung eine preisgünstigere Variante vorgezogen hätte (einfach alles irgendwo im Permafrost zu vergraben), habe er und sein Team sich durchsetzen können, das kontaminierte Material ordnungsgemäß in Entsorgungsfirmen im Süden für viel Geld zu entsorgen. Schmunzelnd bemerkte Roger, ihm habe diese Aufgabe der Verschrottung der Radarstation besonders gut gefallen, denn der Bau der Anlage habe vor allem seiner Familie außerordentlich geschadet. Er erklärte, nachdem im Jahr 1951 die Jagdausbeute sehr schlecht ausfiel, und sein Vater fürchtete, er könne die Familien nicht ausreichend ernähren, gab er sein Fischcamp bei Tuktoyaktuk auf und machte sich mit einem Schlittenhundeteam auf den Weg, um weit entfernt vom Dorf sein Glück mit dem Fallenstellen zu versuchten. Seinen Sohn Roger nahm er mit. Aufgrund widriger Verhältnisse des Packeises konnten die beiden Männer in diesem Jahr nicht zurück zum Dorf und mussten ein weiteres Jahr in der Wildnis überleben. Roger erzählte, sie seien beinahe verhungert. Nachdem sie im folgenden Jahr ausgemergelt und müde die lange Reise zurück schafften, mussten sie feststellen, dass das Fischcamp des Vaters verschwunden war: Es war einfach in die DEW Line integriert worden. Roger schien nach wie vor fassungslos über diese Dreistigkeit der Regierung, als er kopfschüttelnd bemerkte: „They just took it!“

Das Tourpaket „Tuktoyaktuk“ versprach ein traditionelles Mittagessen. Gegen Mittag erreichten wir somit das Haus der Grubens. Winnie, Rogers Frau, öffnete die Tür und lud uns in ihr Wohnzimmer ein. Es duftete nach frischem Bannock, geräuchertem Fisch und würziger Karibusuppe. Das Haus der Grubens mit moderner Küche, Computer und Fernseher unterschied sich nicht im Geringsten von Häusern, wie sie sich in modernen nordamerikanischen Städten finden lassen. Bilder von Verwandten und Bekannten hingen an der Wand, Schnitzereien standen in Bücherregalen, ein gemütliches Sofa lud zum Ausruhen ein. Die Titelseite einer Ausgabe des Financial Post Magazine von der einem Roger anstrahlte, hing gerahmt an der Wand. Titel der Ausgabe war: „This land is my land. Roger Gruben and other native leaders measure their financial clout in billions.“

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Zwischen Naturglaube und Christentum Obwohl das Christentum mit seinen zahlreichen Missionaren und Kirchen nicht nur allgemein in der Geschichte des Nordens eine bedeutsame Rolle spielte, sondern vor allem auch im Leben einzelner Menschen, sprechen diese sehr wenig darüber. Viele Erfahrungen hinsichtlich der Christianisierung scheinen ambivalent. Da gibt es einige, die als Kinder in den von Kirche und Staat geführten Internaten weit weg von ihren Eltern schreckliche Dinge erlebten, andere wiederum, die diese Erfahrung nicht teilen, aber auch wenig von dieser Zeit erzählen  vielleicht weil sie um die Traumata wissen und alte Wunden nicht aufreißen wollen. Umsomehr erstaunte mich, dass Roger sehr ausführlich auf die Missionierung der Arktis und seine persönlichen Erfahrungen in der residential school einging. Auf dem Weg zurück zum Bus erläuterte Roger, es gäbe sage und schreibe vier Kirchen in dem kleinen Tuktoyaktuk: eine anglikanische, eine katholische, eine baptistische Kirche und eine Pfingstgemeinde. Missionare, Kirche und Religion allgemein hatten in der Geschichte der Siedlung eine wichtige Rolle gespielt. Er selbst gehöre der anglikanischen Kirche an und fuhr fort, er wisse, dass viele Menschen seines Volkes heute europäischen Missionaren und Glaubensrichtungen sehr misstrauisch gegenüberstehen. Er könne jedoch aus seinem Leben von keinen Erfahrungen mit der Kirche berichten, die völlig schlecht gewesen seien. Die Kirchen mit ihren Missionaren erschlossen den Norden. Selbst die vielfach als verheerend geschilderten Erfahrungen der residential school könne er so nicht teilen. Im Gegenteil: dort bekam er als Junge in Zeiten großer Hungernöte etwas zu essen und lernte diverse Fähigkeiten, die ihm heute noch nützen würden: Lesen und Schreiben, die Fähigkeit, sinnvoll zu kommunizieren, mit anderen effektiv zu kooperieren und eigene Ressourcen unabhängig von der Familie ausschöpfen zu können. Auch Freundschaften mit Gleichaltrigen seien sicherlich gewinnbringendes Erbe der residential schoolErfahrung. So habe er auch seine Frau (Gwich’in First Nations) kennengelernt. Sie sei vom Süden nach Inuvik ins Internat geschickt worden, er vom Norden. Für einen kurzen Moment hielt Roger inne und blickte durch den Rückspiegel des Busses in die Runde derer, die interessiert seinen Ausführungen folgten und bemerkte, er wisse natürlich auch um die traurigen Geschichten, die sich hinter den Internatsmauern abspielten. Freunde, die auf die katholische Schule in Inuvik gegangen waren, hatten Jahre danach versucht, Selbstmord zu begehen, seien hoffnungslos dem Alkohol verfallen oder nun im Gefängnis zu finden. Es wären zweifellos grausame Dinge passiert, und er sei froh, dass die Opfer ihre Angst und Scham in den letzten Jahren mehr und mehr überwinden und berichten, was ihnen widerfahren ist. Mittlerweile waren wir an der kleinen, katholischen Holzkirche aus dem Jahre 1935 angekommen. Ein Schiff namens Lady of Lourds, das einstmals lebensnotwenige Materialen und kirchliches Personal zu den weit verstreuten Inuit Ansiedlungen transportiert hatte, lag schon seit einigen Jahren auf dem Trockenen vor der Kirche. Daneben war der erste Priester

196 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS der Gemeinde bestattet worden. Roger sperrte die hölzerne Tür des Gotteshauses auf. Dämmeriges Licht und modriger Geruch empfing uns. Das Gotteshaus war kunstvoll in einer bunten Mischung von Symbolen des Katholizismus und Inuit-Kunstwerken geschmückt. Kerzenständer aus Karibugeweih zierten neben bunten Plastikblumen den Altar, auf dem eine wunderschöne, geklöppelte, weiße Decke lag. Die kunstvolle Stickerei in der Altardecke zeigte einen Missionar in Inuittracht vor einem Iglu, der einem Gottesdienstbesucher freundlich die Hand zur Begrüßung reichte. Darüber war ein großer goldener Kelch mit Hostie und einem Kreuz im Hintergrund abgebildet. Unter der Decke spitzte ein glänzendes Seehundfell hervor, auf welchem ein Bild von einer Person, die sich auf dem Weg von einem Iglu zur Kirche befand, abgebildet war. Ein großes Kruzifix hing vor einer blauen Samtdecke mit unzähligen bunten Plastikrosen über dem Altar. Rechts davon stand eine geschnitzte Marienstatue, die das Jesuskind sorgsam in den Armen hielt. Roger bat uns alle auf den kleinen Holzbänken Platz nehmen. Es schien ihm sehr wichtig zu sein, dass ihm alle gut zuhören würden, bei dem was er jetzt zu sagen hatte. Keine der Kirche würde mehr von Gläubigen „von außen“ geführt, erläuterte er. Alle Priester und Pastoren seien Inuit. Die Messen würden in Englisch und in Inuktitut abgehalten. Viele Weiße, die nach Tuktoyaktuk kämen, gingen irriger Weise davon aus, dass Inuit einstmals die Sonne, den Mond oder Tiere anbeteten. Seit jeher habe sein Volk an einen Schöpfer geglaubt und nicht nur dessen Schöpfung geehrt. Er selbst sei zur anglikanischen Kirche durch die religiöse Erziehung in der residential school gekommen. Außerdem sei seine Mutter sehr religiös, sie sei die anglikanische Pastorin von Tuktoyaktuk. Draußen auf dem Friedhof erfasste mich eine seltsame Stimmung, als ich in aufgescheuchten Horden riesiger Moskitos über den weichen, welligen Boden zwischen den teilweise unkenntlich zusammengewachsenen Gräbern umherlief. Künstliche Blumen und Kränze zierten die Gräber, die oftmals mit einer dicken, trüben Plastikfolie zugedeckt worden waren. Sehr häufig fanden sich Gräber von jungen Menschen. Kinder und Jugendliche waren auf Fotos abgebildet, kleine Zettelchen, Briefchen und Stofftiere waren an das Holzkreuz am Grab geheftet. An einem der Gräber fand sich ein alter verrosteter Spaten. Viele Holzkreuze lagen zerbrochen unbeachtet im Gras. Um manche Gräber waren Zäune errichtet worden. Ich fragte mich, wie wohl die Toten in einem Boden bestattet werden würden, der unter etwa nur 50 Zentimetern eine mehrere Meter dicke Permafrostschicht birgt. Als ich Roger später darauf ansprach, erwiderte er ungewohnt knapp, sie würden die Toten einfach vergraben. Fertig.197 197 Später fand ich bei Tookoome eine Erklärung, wie Menschen einstmals bestattet wurden: „Sometimes I come to a grave on the land. The graves are stones built up over the body because the ground is always frozen and hard to dig. I do not touch the stones out of respect, and I always leave a gift to its spirit. It depends on what the person wanted. Dying people used to say what they wanted from those who passed by. There is one grave where you make a gesture – pull the skin of your eyes because the person said he wanted people to open their eyes when they passed by. Sometimes I give small gifts

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Mit der Christianisierung ging die Tabuisierung alter spiritueller Vorstellungen und Praktiken einher. Wie oben hinsichtlich des Schicksalsglaubens bereits angemerkt, scheint der Glaube an Schamanen, deren Heilkunst, helfende und bedrohliche Geistwelten, Segen und Fluch vor allem unter älteren Menschen nach wie vor das Weltbild zu prägen. Synkretistische Mischformen beider Glaubensvorstellungen sind alltäglich zu beobachten. Zur feierlichen Eröffnung des Great Northern Arts Festivals wurden beispielsweise zwei Elder gebeten, ein Gebet zu sprechen: Es wurde sehr ruhig in der großen Galerie, als die erste der beiden alten Damen nach dem Verstummen der Trommeln im Rollstuhl zum Mikrofon gefahren wurde und mit zittriger Stimme in Inuktitut zu beten begann. Kaum war sie fertig, bat sie um die Bibel, bemerkte kurz, sie könne nicht so gut auf Englisch lesen, aber sie möchte gern eine Stelle aus der Heiligen Schrift vortragen. Einige der Zuhörer im Raum wurden hierdurch sichtlich auf die Probe gestellt, denn die alte Frau ließ sich viel Zeit, sehr langsam einen langen Psalm zu lesen.

Die Offenheit und Empfänglichkeit der Inuit für neue Glaubensvorstellungen verwundert. Die Missionare des Nordens mussten zwar gegen eine fest verankerte Vorstellung von Spiritualität nebst damit zusammenhängenden Ritualen antreten, stießen aber auf wenig Widerstand bei ihrer Christianisierung. Während in Europa Missionskriege gefochten wurden, hört man kaum von Auseinandersetzungen während Bekehrungsunternehmungen in der Arktis. Inuvialuit und First Nations glaubten nicht an eine abstrakte absolute Wahrheit und besaßen keine Heilige Schrift als höchste Autorität, sie fühlten sich untrennbar mit der Natur und sämtlichen Phänomenen, die diese hervorbrachte, verbunden. Dabei gab es viele Dinge, die sie sich nicht erklären konnten und Geistwesen, oftmals in Tiergestalt, dahinter vermuteten. In gewisser Weise scheinen die Menschen versucht zu haben, den christlichen Glauben in ihr bestehendes Weltbild einzupassen. Ein treffendes Beispiel dafür findet sich bei Rupert Ross, der erzählt:

when I pass a grave; even if it is just a bit of food, I drop it on the ground near the grave. That, too, is the Inuit way. Sometimes people sit by the graves to get wisdom. This is also good for the spirit because it is lonely. It doesn’t matter if you knew the person or not. You approach from the left and walk in a circle, then stand, and then finally sit. It clears the mind. It brings peace and wisdom. People used to see ghosts often in the old days. This is because they worried about their dead ones more back then. The spirits felt pity for them and would appear as ghosts. There is nothing to fear from them. They are protecting spirits. People stopped grieving as deeply when Christianity took over. They stopped worrying so much about the dead because they believed that their spirits went to a better world.“ (Tookoome, Oberman 1999, 33)

198 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „I also remember standing on a dock at one northern reserve when a planeload of children came back for the summer from a religious residential school. One young lad carried a bow which he had made over the winter. On it, in pencil, were the words ,God Be With Me In The Hunt‘. Also on that bow were the pencilled heads of an eagle and of a bear. I knew by that time that the eagle was not an intended target, for eagles occupy a revered place in Native belief. I also guessed that the bear was probably his Clan Spirit and that both these animals had been drawn on his bow as a supplication. […] by his words and his pictures the boy had merely been covering all the bases paying homage to his Christian God and to his own spirits as well.“198

Dass die Offenheit der Inuit für neue Glaubensvorstellungen vor allem in der Fragilität des Wandels von Tradition zu Moderne besonders groß war (bzw. ist) und wie direkt unverfälscht, vielleicht auch mit einer besonderen Form natürlicher Naivität die Menschen den Erzählungen der Missionare Glauben schenkten, zeigt folgende Geschichte, die eine Frau in erwähnter Geschichtenerzählrunde während des Northern Arts Festivals zum Besten gab. Bevor sie ihre Geschichte mit dem Titel „Ich traf Gott in der Hudson Bay“ begann, erklärte sie, sie habe eine Zeitlang in einer kleinen Inuitgemeinde auf einer der Inseln in der Beaufortsee als Sozialarbeiterin gearbeitet und Folgendes erlebt: Eines Tages legte ein kleines Schiff an und zwei Männer betraten die Insel. Einer war Gott, der andere Jesus (zumindest behaupteten sie das). Beide zogen von Haus zu Haus und predigten. Einige der Familien zeigten sich höchst skeptisch, hatten doch die Missionare erzählt, die Geschichte von Jesus ereignete sich vor tausenden von Jahren. Auf der anderen Seite gab es solche, die der Auffassung waren, dass Gott allmächtig sei und vielleicht jetzt auf ihre Insel wiederkehrte. Die Diskussionen um die zwei geheimnisvollen Gestalten zogen weite Kreise und arteten nicht selten in heftige Streitszenen aus. Nach dem die Angelegenheit nach einiger Zeit außer Kontrolle zu geraten schien, sah sich der RCMP Beamte der Gemeinde gezwungen, einzuschreiten und verwies „Gott“ und „Jesus“ von der Insel. Die beiden Unfriedenstifter hatten daraufhin einige Jahre im Gefängnis zu verbüßen. Die Erzählerin blickte kurz auf und berichtete ernst, „Jesus“ sei hier tragischerweise an Tuberkulose gestorben. Später, so fuhr sie fort, nachdem Gras über die Sache gewachsen war, und die Familien wieder friedlich zusammenlebten, sei sie zum Einkaufen in die Hudson Bay gegangen. Als sie noch sorgsam abwog, ob das angeschriebene Angebot wirklich so gut sei wie angepriesen, betrat ein alter Mann den Laden. Wie vom Blitz getroffen ließen sämtliche Kunden ihre Einkauftüten fallen und verließen schlagartig den Ort des Geschehens. Selbst die Verkäuferin, die eben noch eifrig Rechnungen addiert hatte, zog sich in den hinteren Teil des Ladens zurück. Verwundert und verwirrt über das seltsame Verhalten blieb der Erzählerin auch nicht viel anderes übrig, als unverrichteter Dinge den Heimweg anzutreten. Sie beschloss aller198 Ross 2006, 61

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dings, noch bei ihrer Freundin vorbeizugehen, da die meist bestens informiert war, was sich im Dorf ereignete. Als sie der Freundin von ihrem Erlebnis berichtete, konnte diese gar nicht fassen, dass sie, die Erzählerin, noch nicht gehört hatte, dass Gott wieder gekommen sei. Wenige Tage später jedoch waltete die Polizei wieder ihres Amtes und verbannte „Gott“ endgültig von der Insel.

Tiefergreifende, detaillierte Informationen und Geschichten über die Spiritualität der Inuit mit ihren Ritualen und Glaubensvorstellungen vor allem hinsichtlich des Schamanismus und der Geisterwelten sind schwer zu erhalten. Zum einen gibt es hauptsächlich orale Überlieferungen in Inuktitut, die sich schwer übersetzen lassen und sehr wenige schriftliche Dokumente. Zum anderen steht zu vermuten, dass sich viele Inuit für ihren Naturglauben schämen, der ihnen im Zuge der Zivilisierung als archaisch-naiv und heidnisch (manchmal sogar auch dämonisch) abspenstig gemacht wurde. Dazu kommt, dass die spirituellen Vorstellungen selbst verbieten, darüber zu sprechen, denn das erzürnt die Geister und bringt Unglück. Ross berichtet davon, wie er sich ein Herz fasste und bei Menschen in einem Reservat in Nordontario nachfragte, „whether the spirits were still ‚as strong in each person’s heart‘ as they were in their parents’ times.“ Die Antwort war anders, als er erwartet hatte: „There was at first a shocked silence, and an atmosphere of what I can only describe as sudden fear. It was quickly followed by a circle of vehement nods. It was as if even contemplating some lessening of the spirit’s power was a dangerous affrot. The conversation, light and humorous only moments before, came to a quick halt. I had not only trespassed significantly; I had risked their safety by offering such insult to the spirits.“199

Eine wichtige Quelle auf der Suche nach Informationen zum Schamanismus der Inuit stellte wieder einmal Tookoome, der Neffe eines Schamanen, dar. Nicht nur seine Geschichten, auch seine Bilder zeugen von tiefer Spiritualität. Eigentlich hätte auch er Schamane200 werden sollen, doch die Zeit der Schamanen sei, so erklärte er, 199 Ross 2006, 62 200 „A shaman (angakok) could be a man or a woman. Ever shaman was different. Some were very troublesome; others were good and kind. It depended on the shaman’s nature. The good ones healed the sick. They could pull things out of the body without breaking the skin, things like caribou bones that caused the illness. They had many powers. They could fly and see beyond normal sight. They had great strength. Shamans had many invisible creatures as friends and helpers. They were called tungnaq (spirit helpers). Shamans could put their spirits into these creatures. They could take the form of birds, of animals or even people. A shaman could tell his spirit helpers to hunt out his family and see if everyone was still well. […] Sometimes a Shaman would show you magic and make you forget. You would not remember the magic until he reminded you. Shamans

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vorbei. Tookoome hat in der Kunst seinen eigenen Weg gefunden, Seher, Wandlungskünstler und Heiler zu sein. Über seinen Onkel, den Shamanen Oohuluaq, erzählt Tookoome: „My mother’s brother was a shaman. He was named Oohuluaq. He was blind. I used to go fishing and hunting with him. I would point his weapon and tell him what I saw. He knew when to strike or shoot. He was very special to me, and I was special to him. I used to bring him to a fishing hole near the igloo so that he could fish. Sometimes my uncle would go home alone by feeling the frozen footprints in the snow with a stick. He could make an igloo by himself. He could even hunt a caribou blind. I would go hunting with my uncle. I had a .22 rifle and hunted inland. I would stand beside my uncle, and he would tell me what to look for and what to do and when to shoot the caribou. Then he would teach me how to cut the meat and how to save it in a cache underground. I was his eyes and he was my mind. He showed me how to live. When people were sick my uncle would fix them. He could pull the sickness out of the person’s heart and bones. There was a time when I was very sick. I was bleeding from my nose a lot201 and it wouldn’t stop. My parents were afraid that I would die. I was getting very weak from this bleeding. My uncle told me that if I saw something strange, not to be afraid. I didn’t understand what he meant. Then I went to another igloo that we used for a toilet room. It was sunset and the sun was very bright in my eyes as it came through the doorway. I looked into the sun and saw the shadow of a polar bear coming right at me. The bear did not seem to have a mouth. It came very near and pressed close to me. It began to lick my face. I was not afraid. I did not move or cry out. Then my face was clean. My nose stopped bleeding and the bear went away. When I returned to the igloo my uncle examined me for blood and then began to laugh. He asked me, ,Did you get scared?‘ I said, ,No, I was not afraid‘. He asked me what I saw and I told him. He had red on his face but it was not blood. That is how I knew that he had done magic on me. My uncle’s magic made the polar bear. It was his spirit helper. It had cured me. After that I never had trouble with bleeding again.“202

had great power in many camps. They could make a tent shake. When I was a boy I saw a shaman flying.“ (Tookoome, Oberman 1999, 34) 201 Keith Crowe (1974, 34) schreibt, dass heftiges Nasenbluten unter Inuit häufig vorkam. Er führt dies auf den fast ausschließlichen Verzehr von Fleisch zurück, ohne dies jedoch weiter auszuführen. 202 Tookoome, Oberman 1999, 36

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2.2.4 Feldstudie 2: Verlorene Identitäten auf der Suche nach dem (neuen) Selbst When the Europeans arrived I felt very happy because I didn’t think we’d suffer anymore But, in the long run, we lost our identity and culture. When I am still alive I’d like to assist the next Inuit generation and their own identity.203 INUIT ELDER, MARIANO AUPILARDJUK

Bei der Arbeit als Sozialarbeiterin für die Inuvialuit Regional Corporation (IRC) bestand meine Aufgabe darin, den Koordinatoren der Aboriginal Healing Foundation (AHF)204 im Aufbau ihrer Programme, beziehungsweise in der Ausführung bereits bestehender Projekte, unterstützend zur Seite zu stehen. 205 Dazu sollte ich zunächst drei Wochen in Inuvik bleiben, bevor ich in die Gemeinden Ulukhaktok und Paulatuk eingeflogen wurde. Die von der Regierung finanzierte AHF ist Teil des 1998 vorgestellten Aktionsplans „Gathering Strength“ zur Wiedergutmachung und Entschädigung der Opfer der Assimilationspolitik; allen voran der Inuit und First Nations, welche traumatische Erfahrungen in den residential schools gemacht hatten.206 Sowohl in Inuvik, wie auch in Ulukhaktok hatte gerade eine neue Person die

203 Barr 2002 204 Die im Jahr 1998 gegründete Stiftung AHF macht sich unter dem Motto Helping Aboriginal People Heal Themselves zum Ziel, vor allem den Opfern des Missbrauchs in residential schools zu helfen, deren Traumata zu bewältigen und Ureinwohnergemeinden zu stärken. Sie finanziert Programme, um Alkoholismus, Drogenkonsum, Suizid, Gewalt und Missbrauch in Familien begegnen zu können und um Müttern und Vätern bei der Erziehung ihrer Kinder zu helfen. Die Non-Profit-Organisation arbeitet eng mit den Programmen der Bundesregierung zusammen und macht sich zum Ziel, traditionelle Heilverfahren und Therapieprogramme auf der Basis kultureller Präferenzen der indigenen Bevölkerung zu nutzen, um effektiv Veränderung zu erwirken. Der Vorstand der Stiftung ist ausschließlich zusammengesetzt aus Vertretern unterschiedlicher indigener Völker ganz Kanadas. (Vgl. Aboriginal Healing Foundation 2008) 205 Um den einzelnen Gemeinden die Möglichkeit zu geben, vor Ort zu entscheiden, was im Rahmen der Aboriginal Healing Foundation geboten zu sein scheint (Dezentralisierung), übertrug die Inuvialuit Regional Corporation die Verwaltung des Programms zum 1. April 2007 den jeweiligen Gemeindeverwaltungen. 206 In seinem Aktionsplan Gathering Strength entschuldigt sich die Bundesregierung zunächst für die Fehler und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit, bevor sie verschiedene Zusagen zur Verbesserung der Situation der Ureinwohner und der Beziehung zwischen diesen, dem Rest der kanadischen Bevölkerung und der Regierung macht. Eine dieser

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Stellung als Koordinator angenommen (beide Inuvialuit); in Paulatuk arbeitete die Koordinatorin (Méti) zwar schon einige Jahre in dieser Position, hatte allerdings in der kleinen Gemeinde mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen und hoffte, durch neue Impulse und die Unterstützung von außen, diesen effektiver begegnen zu können. Während der gesamten zweieinhalb Monate meines Aufenthaltes arbeitete ich eng zusammen mit Pat, einer Mitarbeiterin von IRC, die in der Community Development Division zuständig für die Koordination und Ausbildung der Mitarbeiter in den unterschiedlichsten Gemeinden war. Bevor ich jedoch überhaupt erst einmal dazu kam, meine Arbeit aufzunehmen, hatte ich wie im Vorjahr mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen, meine Forschungslizenz zu erhalten, die, wie bereits erwähnt, notwendige Voraussetzung für jede Art von Forschung in den Nordwest Territorien ist. Die Episode rund um die Antragstellung soll hier zur Sprache kommen, weil sie treffendes Beispiel für kulturelle Missverständnisse darstellt, die darauf beruhen, dass meist über die Menschen gesprochen wird, selten aber mit ihnen. Die Tatsache, dass die kanadische Regierung nach wie vor Entscheidungen trifft, ohne die Menschen, die es direkt betrifft, zu konsultieren, führt immer wieder zu paradoxen Situationen. Schon immer waren die Inuit als Überlebenskünstler in Eis und Schnee beliebtes Forschungsobjekt von Wissenschaftlern diverser Disziplinen. Um der Wahllosigkeit der Forschung einen Riegel vorzuschieben und die Menschen davor zu schützen, ständig erforscht zu werden, wurde 1988 der Scientists Act der Nordwest Territorien erlassen.207 Um eine Forschungslizenz zu erhalten, müssen einige Auflagen erfüllt werden. Unter anderem bedarf es der strikten ethischen Prüfung hinsichtlich der Vorgehensweise und der Methodik des Forschers. Als ich meine (die Geertz’sche) Methode der Ethikkommission vorlegte, erhielt ich zunächst eine Absage und die Auflage, einen Fragebogen für Interviews und eine Einwilligungserklärung zu erstellen, die meine Informanten unterschreiben müssten. Erst dann könne ich die Genehmigung zur Forschung erteilt bekommen. Ein standardisiertes Fragenstellen stand jedoch nicht nur meiner Auffassung des Geertz’schen Vorgehens entgegen, denn die dichte Beschreibung will sich nicht durch die Engführung eines festgelegten Fragenkatalogs in ihren Beobachtungen beschneiden, sondern es stand zudem auch meinem Verständnis der oralen Tradition der First Nations und Inuvialuit entgegen. Diese lesen beziehungsweise unterschreiben traditionell keine Einverständniserklärungen. Vor allem Elders können häufig nicht einmal lesen, und es erschien mir äußerst taktlos, sie zu bitten, in kraZusagen war die Finanzierung der Aboriginal Healing Foundation mit einer einmaligen Zahlung von 350 Millionen Dollar. (Vgl. Minister of Indian Affairs and Northern Development 1997) 207 Vgl. Aurora Research Institute 2008

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keliger Schrift ihr Zeichen unter mein Formular zu setzen. Zudem lernte ich, dass Fragenstellen unter den Inuvialuit als unhöflich gilt. Tookoome betont: „We did not ask questions. To ask a question was considered rude. We waited to find things out. We learned by being quiet and watching. This is still true even as adults.“ 208 Wer fremd ist und noch dazu neugierig ungehörige Fragen stellt, hat von vorneherein einen schweren Stand. Die gut gemeinte Intention der Regierung, die Menschen vor ungewollten Übergriffen diverser Forscher zu schützen, führte meines Erachtens zumindest hinsichtlich der Forschung, die ich vorhatte, ins Leere. Denn sie wurde über die Köpfe der Menschen hinweg durchgesetzt und war in Folge dessen nicht sensibel genug für die Kultur derer, die es zu schützen gilt. Das Dilemma, in das ich mich durch die Antragstellung der Forschungslizenz unweigerlich hineinmanövrierte, wurde während meines zweiten Feldaufenthaltes besonders deutlich. Um nämlich die Lizenz 2005 zu erhalten, erbrachte ich schließlich sowohl den Fragebogen als auch die Einwilligungserklärung, die 2006 gemeinsam mit dem Antrag zur Verlängerung der Forschung automatisch an die Gemeinden Inuvik, Ulukhaktok und Paulatuk mit der Bitte um Aufenthaltsgenehmigung und Einverständnis zur Forschung zugeschickt wurden. Letztgenannte Gemeinde verweigerte die Erlaubnis, denn die Menschen wollten nicht wieder befragt und erforscht werden. Erst nachdem ich einen langen Brief an die Gemeindeverwaltung direkt schrieb, in welchem ich die Zusammenhänge darstellte und die Inuvialuit Regional Corporation darüber hinaus erklärte, dass ich neben meiner Forschung als Sozialarbeiterin in der Gemeinde tätig sein würde, gab auch Paulatuk grünes Licht für meinen Antrag. 2.2.4.1 Inuvik im Herbst 2006 Mitarbeiterversammlung bei IRC: Geldsegen oder -sorgen? Um die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von IRC kennenzulernen und einen ersten Einblick zu erhalten, mit welchen Themen sich die Organisation derzeit politisch, ökonomisch und sozial beschäftigt, lud mich Pat zu einem wichtigen Mitarbeitertreffen ein. Menschen unterschiedlichster Herkunft fanden sich in dem modernen Sitzungssaal ein. Die Stühle um den langen Tisch waren schnell besetzt, und weitere wurden in einer Art zweiten Reihe dazu gestellt. Bevor es zu den eigentlichen Tagesordnungspunkten ging, betrat Nellie Cournoyea, die mächtige Geschäftsführerin von IRC, den Raum. Das laute Stimmengewirr

208 Tookome, Oberman 1999, 19. Auch Molly Lee berichtet von ihren Felderfahrungen unter Yup’ik Eskimos in Alaska, in welchen sie teilweise unsanft lernen musste, als Anthropologin weniger Fragen zu stellen und sich mehr auf Beobachtungen zu konzentrieren. (in: Stern, Stevenson 2006, 27-29)

204 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS brach schlagartig ab, als sie zu sprechen begann. Nellies Autorität und Charisma ließ die Menschen andächtig ihren Worten lauschen. In ihrer kurzen Ansprache betonte Nellie die Bedeutsamkeit eines jeden Mitarbeiters in der Runde; unabhängig von Status, Rang oder Tätigkeit. Darüber hinaus hob sie die Bedeutsamkeit guter Teamarbeit hervor: „You are only as good as your team. It is just like being out there on the land. One person alone couldn’t survive. We need each other.“ Ihre Rede war ernst und würdevoll, aber zugleich anregend und humorvoll. Immer wieder verstand es Nellie, kleine Witze und Anekdoten einzuflechten, so dass das aufmerksame Publikum herzhaft lachen konnte. Konfliktmanagement und der richtige Umgang mit Kritik sei unabdingbar, um auch in schwierigen Situationen nicht das Ruder zu verlieren. Hitzige Debatten fair und gerecht auszutragen, ohne sich persönlich angegriffen zu fühlen, sei für alle eine Herausforderung, die, wenn sie erfolgreich bestanden würde, dazu beitrage, sich selbst und andere besser kennenzulernen.

Die herausragende Stellung Nellie Cournoyeas für die Menschen des Nordens und deren Hoffnungen und Träume für die Zukunft, die sich mit ihrem Namen verbinden, verdeutlicht sich in folgendem Beitrag des kanadischen Radiosenders CBC: „,You’d better ask Nellie‘. Those words are spoken a hundred times a week in this tiny corner of the Canadian Arctic – Inuvik. The Nellie they refer to is Nellie Cournoyea. The fact that her first name is enough, speaks to the hands-on, grass-roots, leadership style that has kept her in charge of the Northwest Territories for close to three decades. In many ways, the story of Nellie Cournoyea is the story of the new North. In her lifetime, she has seen Northern aboriginal people go from relying on the ups and downs of the fur industry and on government handouts, to truly being masters of their own social and economic destiny. It’s no exaggeration to say that at 63, Nellie is one of the most powerful women in Canada. She’s the CEO of a corporation worth more than $300 million dollars and co-chairs a new coalition that now owns a major share in a $4 billion dollar pipeline. An amazing accomplishment for a woman whose highschool education came by way of correspondence courses mailed to her family’s trap-line, near the shores of the Arctic Ocean. Her resume includes being the first Native Woman ever elected Premier in Canada. She’s also been a broadcaster, a land claims negotiator and a tireless fighter for aboriginal self-determination. In 1995 Nellie announced she was stepping down as premier and moving on to take over the Inuvialuit Regional Corporation. The organization oversees the lands and financial compensation resulting from the 1984 land claim settlement she helped negotiate. Under her leadership, the Inuvialuit Regional Corporation has grown stronger, making varied investments in oil and gas, airlines, and transportation companies. She is now in her fifth term as IRC’s leader and the driving force behind the deal that sees aboriginal people in the north becoming full partners in one of Canada’s biggest natural gas pipeline deals. Nellie Cournoyea is at the forefront of the revolution that’s taking place in the far north today. It’s a revolution that’s happening not in com-

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munity rallies or town hall meetings, but in corporate boardrooms and private oil company jets.“209

Erster Punkt der Tagesordnung stellte das Mackenzie Gas Project dar, das in Inuvik permanent diskutiert zu werden scheint und hier auch schon mehrfach erwähnt wurde. Geplant ist der Bau einer 1.220 Kilometer langen Pipeline entlang des Mackenzie Deltas. Ziel ist die Verbindung der Erdgasgewinnung im Norden mit den Absatzmärkten im Süden. Die Pipeline soll mit einem bereits bestehenden Pipelinesystem in Alberta verbunden werden. Das geplante Projekt verläuft in den Nordwest Territorien über vier Regionen im Besitz der Ureinwohner: Inuvialuit Settlement Region, Gwich’ in Settlement Area, Sahtu Settlement Area, Deh Cho Territory. Noch zu Zeiten der Berger Kommission von 1974 sprachen sich die Mehrzahl der Menschen eindeutig gegen den Bau der Pipeline aus, heute dagegen scheinen sie sich Wirtschaftsaufschwung, Arbeitsplätze und günstigere Sozialprognosen mit der erfolgreichen Ausführung des Großprojektes zu erhoffen. Sicherlich stimmen so viele indigene Menschen für den Bau, da sie nach Abschluss der Länderrechtsverhandlungen machtpolitisch einen anderen Status haben und ernst zu nehmenden Einfluss ausüben können. So forderten die vom Bau der Anlage betroffenen Ureinwohnergruppen im Jahr 2004 Entschädigungsleistungen von den Ölfirmen, um den sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen der Pipeline gewachsen zu sein. Diese lehnten die Verantwortung für die soziale und ökonomische Wohlfahrt der Menschen ab und erklärten, dies sei Angelegenheit der Bundesregierung. Da die Regierung ein Interesse am Bau des wirtschaftlich vielversprechenden Großprojekts hat, versprach sie nach langen Verhandlungen mit den Inuvialuit, First Nations und der Regierung der Nordwest Territorien, betroffenen Ureinwohnergruppen einen so genannten Social Economic Impact fund von 500 Millionen Dollar.210 Darüberhinaus vertritt die im Jahr 2000 gegründete Aboriginal Pipeline Group (APG) die ökonomischen Interessen der Ureinwohnergruppen der Nordwest Territorien hinsichtlich einer Gewinnteilhabe beim Bau der Pipeline. Die kanadische Regierung unterstützt die APG mit elf Millionen Dollar bei ihrem Ziel, ein Drittel des Großprojekts als Miteigentümer zu erhalten. „The main reason for creating APG [Aboriginal Pipeline Group] was to offer a new model for Aboriginal participation in the developing economy, to maximize ownership and benefits from a proposed Mackenzie Valley pipeline and to support greater independence and selfreliance among Aboriginal people. This is the first time that Aboriginal groups in Canada will

209 Canadian Broadcasting Corporation 2004 210 Eine gute Zusammenfassung und Erklärung der hier erwähnten Maßnahmen und Zugeständnisse der Regierung findet sich in: Indian and Northern Affairs Canada. 2007

206 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS participate as an owner in a major, multi-billion dollar industrial project. By being a part of the Mackenzie Gas Project, APG is making history.“211

Dass viel Geld unter Umständen nicht nur Segen bedeutet, ist bekannt. Der Bau der Pipeline im Mackenzie Delta wird eine weitere Welle der Veränderungen für die Bevölkerung und deren Kultur bedeuten. Es stellt sich die Frage, ob die Menschen in ihrer derzeitig prekären Situation in der Lage sind, nicht nur mit den Veränderungen, sondern auch mit dem Reichtum umgehen zu können. Zum ersten Mal in der kanadischen Geschichte wurden Regierungsgelder direkt Ureinwohnerorganisationen versprochen – ohne ein vorgeschobenes Regelwerk der Regierung mit entsprechender Verteilungsgewalt. Auflage für den Social Economic Impact Fund ist allerdings, schon im Vorhinein eine detaillierte Forschung (so genannte community wellness studies) zu betreiben, wie das Geld sinnvoll eingesetzt werden kann – nicht nur, um Schäden zu vermeiden, sondern auch um die bereits bestehenden sozialen Schwierigkeiten effektiver angehen zu können, damit die Menschen gestärkt und vorbereitet werden, für das, was auf sie zukommt, wenn die Ölkonzerne beginnen, mit riesigen Maschinen und unzähligen Arbeitern den Boden aufzubrechen. Drei Punkte, so betonte ein Sprecher, kristallisierten sich bereits bei erwähnten Studien heraus, die in der nächsten Zeit besonders gefördert werden sollen: Bildung, Arbeitsplatzbeschaffung und der effektive Umgang mit der Drogen- und Alkoholproblematik (und damit mit Gewalt und Kriminalität).212 Nächster Tagesordnungspunkt waren die so genannten residential school survivors („Überlebende“ bzw. ehemalige Schüler der staatlich und kirchlich geführten Internatsschulen). Dabei ging es wieder um Geld, denn die Regierung hatte 1998 das Eingeständnis abgelegt,213 dass die Wegnahme der Kinder aus ihren Familien 211 Aboriginal Pipeline Group s.d. 212 Vgl. auch Kuptana, Simpson 2007 213 „Sadly, our history with respect to the treatment of Aboriginal people is not something in which we can take pride. [...] One aspect of our relationship with Aboriginal people over this period that requires particular attention is the Residential School system. This system separated many children from their families and communities and prevented them from speaking their own languages and from learning about their heritage and cultures. In the worst cases, it left legacies of personal pain and distress that continue to reverberate in Aboriginal communities to this day. Tragically, some children were the victims of physical and sexual abuse. The Government of Canada acknowledges the role it played in the development and administration of these schools. Particularly to those individuals who experienced the tragedy of sexual and physical abuse at residential schools, and who have carried this burden believing that in some way they must be responsible, we wish to emphasize that what you experienced was not your fault and

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zum Zwecke des Schulbesuchs (letztlich der Assimilation) verheerende Folgen für Einzelne, Familien, Gemeinden und Kulturen der First Nations und Inuit hatte. Erschütternde Sozialstudien belegen dies.214 Nachdem zu Beginn der 90er Jahre die ersten Fälle von Missbrauchshandlungen des Schulpersonals an den ihnen anvertrauten Kindern ans Licht kamen, und sich um 1995 die kanadische Regierung vor gerichtlichen Anklagen kaum noch retten konnte (12.000 Fälle), trat eine Arbeitsgruppe bestehend aus Regierungsvertretern, Vertretern der Kirche und Betroffenen zusammen, die Alternativen zu Gerichtsverhandlungen ausarbeiten sollte. Erste alternative Prozesse zur rascheren Abwicklung von Entschädigungsleistungen traten im Herbst 2003 in Kraft.215 Die Inuvialuit Regional Corporation war hierbei insofern involviert, als dass sie den Betroffenen half, Formulare auszufüllen, notfalls den nötigen Rechtsbeistand zu bekommen und weitere Ressourcen zur Verfügung stellte. Wie kompliziert sich die Beantragung der Gelder für die Betroffenen darstellt, wusste Anita in einer Geschichte zu beschreiben: Eine alte Frau betrat ihr Büro und bat sie, ihr bei der Antragstellung der Entschädigungszahlungen um Hilfe. Die Frau hatte das Problem, dass sie außer ihrem Namen viele wichtige Daten in das entsprechende Formular der Regierung nicht einfüllen konnte. Sie wusste weder wann, noch wo sie geboren wurde. Natürlich konnte sie ungefähr die Jahreszahl nennen und erinnerte sich vage, wo sie als Kleinkind auf dem Land aufgewachsen war. Beide Eltern waren früh gestorben und Onkel und Tante hatten sie adoptiert. Eine Sozialversicherungsnummer existierte natürlich nicht, es bestand keine Taufurkunde, sie war nie gemeldet worden und hatte auch nie eine Volkszählung mitgemacht. Es lagen den Behörden somit keine Daten der Frau vor. Als Anita die entsprechende Amtsstelle anrief, wurde ihr mitgeteilt, die Person, von der sie sprach, existiere nicht. Anita stoppte hier ihre Erzählung und schüttelte den Kopf, als könne sie es immer noch nicht glauben. Dann fuhr sie fort, sie habe der Dame am Telefon sehr freundlich verständlich zu machen versucht, dass die Frau aber jetzt im Moment neben ihr säße. Das Mindeste was die Behörden bräuchten, so die Beamtin, wäre Geburtsdatum und Geburtsort. Sie fuhr fort, ob denn nicht jemand die Geburt bezeugen should never have happened. To those of you who suffered this tragedy at residential schools, we are deeply sorry.“ (Saskatchewan Indian 1998) Im Juni 2008 kam es zu einer erneuten Entschuldigung des Premierministers Stephen Harper, die für viel Aufruhr sorgte (vgl. Harper 2008). 214 „First Nation communities experience higher rates of violence: physical, domestic abuse (3x higher than mainstream society); sexual abuse: rape, incest, etc. (4-6x higher); lack of family and community cohesion; suicide (6x higher); addictions: drugs, alcohol, food; health problems: diabetes (3x higher), heart disease, obesity; poverty; unemployment; illiteracy; high school dropout (63% do not graduate); despair; hopelessness; and more.“ (Indian Residential School Survivors Society s.d.a) 215 Indian Residential School Survivors Society s.d.b

208 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS könnte. Nach einigem Hin und Her fand sich eine entfernte Verwandte der Antragstellerin, die sich dazu bereit erklärte. Hinsichtlich des Ortes erinnerte sich die Frau an einen Baum, und Anita machte daraus die „Treelane“. Als Ort gab sie eine Ansiedlung ganz in der Nähe vom vermuteten Geburtsort an.

Der Kampf mit den Formularen, dem sich die alten Menschen, die häufig kaum schreiben und lesen können, stellen müssen, ist meist erst der Anfang einer Kette von Schwierigkeiten, die sie zu überwinden haben, bevor sie die Regierungsgelder sinnvoll für sich nützen können. So sehen sie sich beispielsweise wieder konfrontiert mit den traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit, die sie detailliert angeben sollen. Es gibt derzeit kaum Einrichtungen, die den Menschen helfen, ihren Verletzungen Ausdruck zu verleihen und die psychologische Verarbeitung von dem zu fördern, was da ans Tageslicht tritt. Die Behörden, die mit den zahlreichen Anträgen umgehen müssen, sind völlig überlastet. Wird der jeweilige Antrag erfolgreich genehmigt, sind die Geldsummen, welche die Betroffenen erhalten, beträchtlich. Das Dilemma besteht nun darin, dass viele der Ältesten nie gelernt haben, mit Geld umzugehen. Einige verfügen nicht einmal über ein Bankkonto. Ihre Kinder und Enkel werden häufig zu Verwaltern der Gelder. Leider scheint die Verführung groß, das Nichtwissen der Eltern oder Großeltern entsprechend auszunutzen und das eine oder andere Schäfchen ins Trockene zu bringen („elders abuse“ wird in Ureinwohnergemeinden derzeit stark problematisiert). Damit zusammen hängt die berechtigte Befürchtung, dass mehr Geld in den Gemeinden auch zu steigendem Alkohol- und Drogenkonsum führt. Einzelschicksale: Auf dem Weg in eine neue Zeit Während meines zweiten Feldforschungsaufenthaltes in Inuvik schien das Leben dort authentischer zu sein, als zu Zeiten des großen Kunstfestivals und der vielen Attraktionen, die der Sommer bot und erstaunlich viele Touristen in den hohen Norden lockte. Die Zahl direkt beobachtbarer, exotisch-fremdartiger kultureller Symbole, wie sie Geertz in seinen Studien in Indonesien oder Marokko zu beschreiben vermochte, waren kaum noch anzutreffen. Die Trommeln wurden leiser und das Leben zog seine Kreise, wie in jeder anderen kanadischen Stadt auch. Die Inuvialuit und Gwich’in schienen sich zu arrangieren mit ihrem Leben in der Moderne. Und dennoch fielen einige von ihnen bei ihrem Ringen um Perspektive und eine neue Lebensausrichtung aus dem Rahmen des Bildes einer stimmigen Gesellschaft. Die sozialen Probleme traten ungeschminkt ans Tageslicht. Dennoch, wenn man genau hinsah, war die Bedeutung kultureller Symbole beziehungsweise die Suche nach neuer Bedeutung, öffentlich „auf den Märkten und

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Plätzen“216 beobachtbar. Sie war nur weniger auffällig, stiller und distanzierter. Sie war beobachtbar im Schicksal Einzelner. Ich begann vor allem meine Begegnungen mit Menschen dicht zu beschreiben, versuchte sie zu verstehen und eine Ahnung davon zu bekommen, welchen Sinn der Inhalt ihres Handelns für sie persönlich, aber damit auch für ihre Kultur als Ganzes hat. Dass der Geldsegen in Form von Alkohol- und Drogenmissbrauch für die Menschen zum Fluch werden kann, lernte ich eindrücklich von Tony, mit dem ich während der ersten drei Wochen meiner Feldforschung in Inuvik zusammenarbeiten sollte. Als betroffener residential school survivor bestand das Hauptanliegen seines Tuns darin, die Lücken zu füllen, die materielle Güter im Heilungsprozess nicht füllen können. Tony war Inuvialuit. Er wuchs in Inuvik auf und lebte auch die meiste Zeit hier. Eine Zeitlang arbeitete er in der Hauptstadt von Nunavut, Iqaluit, und in Cambridge Bay. Dort war er politisch aktiv und mit an der Entwicklung des eigenständigen Territoriums Nunavut beteiligt. Im Zuge seiner politischen Aktivitäten setzte er sich besonders dafür ein, dass gute Therapieeinrichtungen eröffnet wurden, die residential school survivors helfen sollten, ihre traurige Vergangenheit zu bewältigen.217 Der kleine, etwas untersetzte Mann von etwa 43 Jahren hatte lebhafte Augen, dichte, dunkle Haare und eine ruhig-gelassene Ausstrahlung. Es war manchmal schwer, ihn zu verstehen, da sein oberes Gebiss vorne keine Zähne mehr aufwies und er deshalb stark nuschelte. Tony war verheiratet, stolzer Vater von vier Kindern und hatte bereits ein Enkelkind. Er besaß ein Diploma in Sozialarbeit und hatte sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, online an seinem Bachelorabschluss zu arbeiten.

216 Geertz 1983a, 2 217 In einem von CBC mit dem Titel Feds must help residential-school victims heal: NTI [Nunavut Tunngavik Inc.] heißt es: „Nunavut’s land-claims organization is calling on Ottawa to create a territory-wide healing centre to help victims of residential-school abuse. Nunavut Tunngavik Inc. passed a resolution [...] calling for the federal government to fund such a centre. The resolution followed an emotional presentation by a residential school survivor at NTI’s annual general meeting in Cambridge Bay. >Tony@ started his presentation by asking delegates at the NTI meeting to stand if they went to residential school. Almost half of the 48 NTI board members rose from their seats. Then >Tony@ told the story of how he went to residential school in Inuvik. He says the teachers hit him when he spoke Inuinnaqtun. ,It was painful‘, he said. ,I couldn’t speak my language – not even to my relatives or friends. And that part of my life is gone‘. >Tony@ wept, saying the residential-school abuse drove him to rely on drugs and alcohol from the ages of 13 to 20. >Tony@ overcame his addictions, but psychological scars remain.“ (Canadian Broadcasting Corporation 2005)

210 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS Tony hatte erst seit wenigen Tagen seine Arbeit in Inuvik für IRC aufgenommen. Im Rahmen der Aboriginal Healing Foundation lag dabei sein Hauptaugenmerk auf diversen Angeboten für Männer, die sich in der Regel sehr schwer tun, über Missbrauch, Abhängigkeiten, Ängste und Sorgen zu sprechen. Ihm war ein (eigentlich zu) kleiner Raum für seine Programme und ein Büro im Obdachlosenheim von Inuvik, dem so genannten Turning point, zugestanden worden. Dort trafen wir uns zum ersten Mal, als er erstaunlich offen und sehr ehrlich von sich und seinem Leben zu erzählen begann. Er habe die katholische Internatsschule in Inuvik elf Jahre lang besucht und dabei viele sehr unschöne Dinge erlebt. Alkohol und Drogen seien daraufhin Rettungsanker gewesen, um Gefühle und Erinnerungen zu betäuben. Er schluckte, als er mir erzählte, auch heute noch spüre er den kräftigen Schlag auf seinem Hinterkopf immer, wenn er in Inuktitut spräche. Die Brücke zu seinen Eltern und zu seiner Familie sei mit dem Verlust der Sprache abgerissen. Er fuhr fort, er habe Weiße gehasst. Nicht selten seien starke Emotionen Anlass für offene Aggression gewesen, und gemeinsam mit anderen Inuivaluit habe er sich unter Alkoholeinfluss zu Handgreiflichkeiten hinreißen lassen. Als ich ihn fragte, was ihn Abstand nehmen ließ von Sucht und Aggression, erklärte er mir, die Worte seines Vaters, die in ihm immer lauter wurden, hätten ihn gestärkt, den Schmerz „anzusehen“ und zu bearbeiten. Mit dem Weinen sei das allerdings so eine Sache gewesen. Als Junge wurde ihm auch von seinem Vater eingebläut, Tränen seien Frauensache und Zeichen von Schwäche. Er sähe das mittlerweile anders: Tränen transportieren die Verletzungen nach draußen, so dass Heilung möglich sein kann. Weinen ist gut, um den Dreck und das Gift aus dem Körper und der Seele zu spülen. Das, so Tony, erkläre er auch immer „seinen“ Männern [Klienten]. Das Spüren kultureller Wurzeln im (Über-)Leben auf dem Land sei im Heilungsprozess von großer Bedeutung. Das Erleben der Einheit mit und der Abhängigkeit von der Natur führe zum Erleben der Ganzheitlichkeit der Person. Deshalb organisiere er derzeit für seine Klienten eine längere Ausfahrt auf das Land. Gemeinsam mit einem Elder, der dem Überleben in eisiger Kälte und karger Landschaft noch gewachsen sei, möchte er sie zum freeze-up >Zeit, wenn der große Fluss zufriert@ des Mackenzie auf das Land schicken. Dort müssten sie sich wieder auf die Einfachheit des Lebens besinnen, jagen gehen und dafür sorgen, dass sie es warm hätten.218

218 Edmund Searls schreibt in seinem Aufsatz Anthropology in an Era of Inuit Empowernment über die Ungewissheit des Selbstverständnisses der Inuit im Wandel von Tradition zur Moderne und der Bedeutsamkeit der zumindest zeitweisen Erfahrung des Lebens auf dem Land: „[...] the importance of being ‚on the land‘ and learning traditional hunting skills served as a marker of their Inuit identity – of their Inuitness.“ (in: Stern, Stevenson 2006, 91) An anderer Stelle hebt er die therapeutische Wirkung von erlebnispädagogischen Maßnahmen für die Menschen hervor: „I also witnessed the healing effects of being on the land, away from town. The therapeutic effects of being out on

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Zudem sei er dabei, traditionelle Kunst- und Handwerksworkshops zu organisieren. Männer (und natürlich auch Frauen, exklusiv wolle er nicht sein) könnten hier unter Anleitung Handschuhe und Mützen nähen, Holzarbeiten erstellen oder anderweitig künstlerisch tätig werden. Tony betonte (wohl hinsichtlich dessen, dass ich mit ihm Kommunikationstheorien und Fragen zur Identität erarbeiten sollte), er habe gelernt, Kritik auszuhalten – auch von Weißen, von Frauen und von Jüngeren. Er sei ruhig und friedlich geworden. Er habe gelernt zuzuhören. Aufgrund seiner Lebensgeschichte, die sehr ähnlich sei, wie die seiner Klienten, habe er das Gefühl, sie würden sich ihm öffnen. Er wünschte sich allerdings, dass noch mehr Männer den Mut hätten, etwas von ihrem Innersten Preis zu geben. Er würde gerne von mir wissen, wie er sie zum Reden bringen könnte. Fragend blickte er mich an und fuhr nach kurzer Überlegung fort, Vertrauen sei wohl das Wichtigste überhaupt. Die Menschen müssen erst wieder lernen zu vertrauen, denn das Vertrauen seines Volkes sei oft missbraucht worden. Gastfreundschaft führte zu Seuchen und Tod. Die Internatsschule brach das Vertrauen in sie selbst. Wie können die Menschen anderen vertrauen und sich öffnen, um wieder den Zugang zu sich zu finden? Alte Traditionen seien überholt und können nicht mehr wiederbelebt werden, seufzte Tony während er sich eine weitere Tasse Kaffee eingoss. Vieles sei vergangen und durch moderne Errungenschaften überflüssig geworden. Er wurde still und überlegte eine Zeitlang, um mit einem passenden Beispiel das Gesagte zu unterstreichen. Dann fuhr er fort, es sei wie mit einer Gurke, die zu einer Gewürzgurke verarbeitet wurde. Man kann den Vorgang nicht ungeschehen machen: einmal Gewürzgurke, immer Gewürzgurke. Ich gab zu bedenken, dass die Gewürzgurke dennoch eine Gurke sei. Und dieser Teil der Identität dürfte nicht aufgegeben werden, um glückliche „Gewürzgurke“ sein zu können. Die Frage sei allerdings, und da waren wir uns einig, wie man Alt und Neu so verbinden könnte, damit die Fundamente der Kultur in gesunder Weise in die heutige Zeit einfließen, so dass sich die Menschen auch in „Gewürzgurkenform“ wohl fühlen und nicht nur überleben, sondern leben.

Tonys Frage, wie er seine Klienten zum Reden bringen könnte, beschäftigte mich. Erst viel später verstand ich, dass es vielleicht nicht nur die Angst vor der Konfrontation mit schmerzhaften Erinnerungen ist, welche die Menschen davon abhält, sich zu öffnen, sondern dass es unter den Inuit traditionell eine Tugend gewesen sein könnte, seinen Gefühlen von Schmerz und Trauer nicht so ohne weiteres freien Lauf zu lassen. In Gesprächen mit Elders erfuhr ich, dass Weinen, Trauern, Schimpfen, aber auch Loben auf dem Land unangebracht waren, denn sie raubten die Energie, die benötigt wurde, um zu überleben. Ross schreibt, „the prohibition

the land are well-known to Inuit, and for this reason many treatment programs for criminals, alcoholics, and others often include an on-the-land component.“ (ebd., 99)

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against emotional indulgence [...] include>s@ talking about, or even thinking about, one’s own confusions and turmoils.“219 Eine kurze, aber intensive Begegnung hatte ich mit Sue, einer Mitarbeiterin der Inuvialuit Regional Corporation. Auch von ihr lernte ich, was die Menschen bewegt und wie sie versuchen, mit den Schwierigkeiten des Verlusts kultureller Identität umzugehen: Sue fragte mich, was genau es sei, was ich hier tat. Ich versuchte, ihr mein Forschungsprojekt näher zu bringen und erklärte, was für mich wichtig an meiner Art der Forschung sei: Forschung mit den Menschen und nicht über die Menschen. Mein Ziel sei, Menschen als gleichberechtigte Subjekte, nicht als Objekte zu betrachten und im gemeinsamen Erkenntnisprozess Veränderung zu bewirken; hin zu einer gestärkten kulturellen und individuellen Identität. Zudem erzählte ich ihr, ich sei Sozialarbeiterin und würde Tony im Turning Point aushelfen, für die Menschen, die der Ausweglosigkeit eines Lebens auf der Straße im eisigen Winter und Alkohol ausgeliefert sind, Anker und Zuflucht zu sein. Ich erkundigte mich anschließend bei Sue nach ihrem Tun, ihren Plänen und Zielen und bemerkte wenig später, dass unser Gespräch unmerklich eine besondere Tiefe erhalten hatte. Sue erzählte mir, sie sei manchmal traurig und spüre den dringenden Wunsch in ihrem Herz zu helfen, aber sie wüsste oft nicht wie. Sie stünde lahm und hilflos da und sähe wie ein lieber Mensch nach dem anderen dem Alkohol und den Drogen verfalle. Gerade am Wochenende habe sie ihren Cousin zu Grabe getragen, der sich hoffnungslos in den Fängen der Sucht selbst verloren hätte. Sie fuhr fort, sie würde den Menschen gern nahe sein und mit ihnen Zeit verbringen, mit ihnen sprechen oder einfach nur zuhören. Zuhören sei überhaupt der Schlüssel. So oft wollen Menschen einfach nur gehört werden. Sie wollen keinen schlauen Rat, keine oberflächliche Hilfe – aber gehört werden. Das Problem sei, dass es keine „neutralen“ Treffs in Inuvik gäbe. Was Tony und andere Vertreter sozialer Organisationen taten, sei schon ein Ansatz, aber sie würde sich noch etwas anderes wünschen: eine Art großer überinstitutioneller Drop-in in offener Atmosphäre mit Therapeuten und anderen, die gerne helfen würden. Es müsse etwas geben, das Brücken schlage zwischen den unterschiedlichsten Programmen, um mehr Menschen erreichen zu können. Sie erwähnte das Dilemma, dass die Menschen auf der Straße und im Suff so schwer zu erreichen seien. Der Alkohol entfremde sie von sich selbst, und man würde nur mit einer Hülle sprechen. Manchmal denke sie, man müsse ihnen in ihrem Umfeld begegnen, auf sie zugehen, aber sie selbst sei gefährdet im Umgang mit Alkohol und sie würde sich dort nicht wohl fühlen. Ich spürte eine tiefe Traurigkeit, als ich ihr ruhig zuhörte und bemerkte, dass Sue mit den Tränen rang. Ihr Bruder, so fuhr sie fort, sei verloren in der Vergangenheit. Er habe den Sprung in das moderne Leben, wie es sich heute entfaltet, nicht geschafft. Er lebe mit ihr, und sie könne sein Gerede von den Großeltern manchmal kaum noch ertragen, habe auch nicht die nötige 219 Ross 2006, 37

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Geduld, ihm positiv zu begegnen. Ständig jammere er, dass alles Moderne schlecht und was seine Großeltern taten, glorreich gewesen sei. Er würde sich aber auch nicht aufraffen, aktiv diese alten Traditionen zu pflegen. Eigentlich sei er nur lethargisch, ginge keinem Beruf nach und leide notorisch. Als Sues Mann vor einigen Jahren starb, zog sie zur Trauerarbeit nach Yellowknife – sie wollte einfach nur weg von hier. Aber sie erkannte sehr schnell, dass sie das Leben im Süden nicht mochte und kam zurück nach Inuvik. Hier waren auch ihre zwei Kinder und einige Enkelkinder. Sie nahm die Stellung bei IRC an, und die Arbeit machte ihr große Freude. Sie spielte jedoch mit dem Gedanken, zusätzliche Ausbildungen in Richtung psychologische Beratung anzustreben, um dem Wunsch ihres Herzens zu entsprechen.

Während des Great Northern Arts Festivals im Sommer des vergangenen Jahres stellte die Erstvorführung des Filmes My Father, my Teacher220 von Dennis Allan einen Höhepunkt dar. Dennis, ein professioneller Filmemacher, verarbeitet in seinem Werk nicht nur die Geschichte seines Vaters, sondern vor allem seine eigene und die seines Volkes.221 Dennis’ Mutter ist Gwich’in und sein Vater Inuvialuit (Inupiak Eskimo). My Father, my Teacher erzählt einerseits von der Faszination der Kultur der Inuit und andererseits in erstaunlich ehrlicher und ungeschminkter Weise vom Straucheln eines jungen Mannes zwischen der Welt alter Traditionen und den Versuchungen der neuen Welt. Dennis entsprach meiner Bitte und traf sich mit mir am Tag nach der Vorführung. Ich fragte ihn, worin seine Motivation bestand, den Film zu drehen. Er erklärte, Grund sei die wachsende Hochachtung für seinen Vater gewesen. Er wollte dessen einzigartigen Charakter darstellen, der nicht nur Vorbild für ihn ist, sondern für viele sein könnte, die Ähnliches durchmachten und immer noch durchmachen wie er. Dennis erzählte mir von Gefühlen der Scham und der Angst, wenn er die Wurzeln seiner Herkunft offenbarte. Die Sendungen, die er als Teenager im Fernsehen verfolgte, zeigten erfolgreiche, gut aussehende Menschen mit vielen Attributen, die er nicht aufweisen konnte. Er begann sich selbst, seine Herkunft und seine „primitiven“ Eltern zu verleugnen. Er erwähnte den Verlust kultureller und persönlicher Identität beim Versuch, jemand anderes zu sein als der, der er war: eine Mischung aus Gwich’in und Inuit. In der Hoffnung seinen Idealen aus der Hollywood Filmwelt näher zu kommen, sagte er sich schließlich bewusst von seinen Wurzeln los, woraufhin er schmerzvoll feststellte, dass er mit dem Verlust des festen Bodens unter den Füßen Allem und Jedem folgte. Alkohol, Geld, Ansehen und Ruhm diktierten bald sein Leben. Er brach mit alten Familientraditionen – und mit seinem Vater. Er ver220 Allan 2005 221 Dennis absolvierte erfolgreich das Southern Alberta Institute of Technology’s film program. Er drehte mehrere Filme und arbeitete für CBC North, der Funk- und Radioanstalt des Nordens von Kanada. Viele seiner Filme handeln von der Situation kanadischer Ureinwohner im Wandel der letzten Jahrzehnte.

214 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS ließ seine Familie, um auf Ölplattformen möglichst viel Geld zu verdienen, während seine Mutter als führende Aktivistin bei COPE gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern gegen die Ausbeutung der Erde für Nachhaltigkeit und Aboriginal Selfgovernment kämpfte. Erst als er realisierte, eigentlich allein zu sein und seine „Freunde“ keine Freunde waren – die Drogen eingeschlossen – kehrte er diesem Leben den Rücken und besann sich auf die Wurzeln seiner Tradition. Sein Vater war ihm Ankerpunkt und Lehrer. Der Alkohol, so schloss er, nahm ihm alles: das Gefühl von Zugehörigkeit, von Heimat, von Stolz und Ehre – und immer machte er seine Eltern und seine Herkunft dafür verantwortlich. Wörtlich formulierte er, er habe seine Kultur zur Geisel gemacht. Diese Geschichte der Entzweiung mit seinem Vater (seiner Kultur) und der mühsame Weg zurück, sei der rote Faden für den Film gewesen. Dennis erwähnte noch, er sei davon überzeugt, der Verlust kultureller Identität der Ureinwohner Kanadas rühre in erster Linie vom Verlust des Landes und der damit einhergehenden Verbindung zur Natur. Trauriges Beispiel seien die Menschen in den Reservaten im Süden. Anstatt wie einst nomadisch großen Herden durch das ganze Land zu folgen, seien die First Nations heute in ihre Schranken verwiesen. Wenn er nicht mehr mit seinem Vater im Sommer die Beluga-Wale jagen könnte, wäre er verloren. Mit dem Land geht die Identität. Auch wenn viel von der einstigen Kultur verloren ist, zur Natur zurückgehen könnten die Menschen. Das Problem bestünde allerdings oft darin, dass mit dem Verlust der Kultur das Wissen um das Überleben in der Natur verloren ging, die Tür zum einstigen Leben damit versperrt sei. Deshalb seien Elders heute wichtiger denn je. Sie gehörten auf das Land und nicht  in Altenheime weggesperrt  in die Stadt. Elders müssten wieder Lehrer sein für Kinder und Kindeskinder. Er fuhr fort, er müsse auf seinen Vater hören und von ihm lernen, auch wenn dies manchmal schwer sei. Dennis sprach sich gegen den Bau der Pipeline aus und erklärte überzeugt, dies würde alles verändern. Mit dem Geld veränderten sich die Menschen. Die Regierung möchte die Menschen des Nordens eingliedern, sie möchte sie zu Individualisten, zu Bürgern, zu Kapitalisten und zu Arbeitern machen – aber, so fuhr Dennis fort, „wir sind seit jeher gemeinschaftsbezogene, konservative Minimalisten und wir sind Bewahrer der Natur.“ Die Auswirkungen der Eingliederungsversuche habe er nicht nur an sich selbst gemerkt, die Spuren der verhängnisvollen Verführung seien leider allzu deutlich in seiner erweiterten Familie. Anstatt sich umeinander zu sorgen, passierte physischer, psychischer und spiritueller Missbrauch. Ein Cousin sei sogar wegen Mordes im Gefängnis, andere seien hoffnungslos der Drogensucht verfallen. Dennis erklärte mit fester Stimme, er möchte alles tun, was in seiner Kraft steht, um Menschen, die sich selbst verloren hätten, eine neue Richtung zu geben. Er möchte, wie sein Vater ihm einst die Achtung vor sich selbst wieder lehrte, Menschen aus seiner Kultur zeigen, dass man sich nicht schämen muss, Aboriginal zu sein  ganz im Gegenteil.

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Alte Weisheit, neues Wissen: Was bleibt und was kommt? Während meines zweiten Aufenthaltes in Inuvik hatte ich die Ehre, Victor (Dennis’ Vater) persönlich kennenzulernen.222 Victor wollte für Tonys „Überlebenscamp auf dem Land“ seine kleine Hütte am Mackenzie anbieten, denn er würde ohnehin wie jedes Jahr zum freeze-up dorthin in die Wildnis ziehen. Als ich im Turning Point ankam, stieß ich zwar nicht auf Tony, dafür aber saß ein alter Mann mit bunter Baseballkappe auf einem der Sofas. Ich stellte mich vor. Er begann unverzüglich, mir eine Geschichte nach der anderen zu erzählen – als würden wir uns schon ewig kennen. Als ich ihn im Laufe des Gesprächs fragte, wer er sei, staunte ich nicht schlecht, dass ich Victor Allen vor mir hatte. Es war ein Genuss, ihm zuzuhören – obwohl es manchmal nicht ganz leicht war, alles zu verstehen, denn Victor hatte kaum noch Zähne im Mund. Der alte Mann strahlte Ruhe, Zufriedenheit und Freundlichkeit aus, seine Augen lächelten und blitzten, wenn er hier und da seinen Erzählungen Scherze und lustige Anekdoten beimischte. Oftmals unterstrich er seine Witzelei mit einer Handbewegung oder er rempelte mich liebevoll an und lachte dabei laut auf. Ich war begeistert von der feinen Weisheit, die Victor in seinen Geschichten über das Leben humorvoll zum Ausdruck brachte. Er kannte sich aus. Ihm konnte keiner etwas vor machen – und dies obwol er nur eineinhalb Jahre auf der Schule war. Er habe sich nicht an die Regeln der Internatsschule halten können, auf die er geschickt worden war, erklärte er. Außerdem vertrug er das Essen dort nicht und sei ständig krank gewesen. Da habe man ihn nach Hause geschickt. Er sei nie wieder zurückgekehrt – er wurde auch von seiner Familie auf dem Land gebraucht. Er fuhr fort, er habe sich sein Wissen selbst angeeignet. Lesen habe er gelernt indem er die Etiketten von diversen Haushaltsartikeln studierte. Schreiben könne er auch. In seiner Hütte am Mackenzie hatte er eine kleine Bücherei eingerichtet – mit Lexika und Büchern von Expeditionen in den Norden. Von Universitäten hielt er nicht viel – zumindest nicht für das Fortkommen seiner eigenen Kultur. Universitäten seien gut für die Menschen des Südens, die immer nur den Fortschritt wollen; für die Rückbesinnung und das Wissen um traditionelle Fähigkeiten wirken sie jedoch zerstörerisch. Seine Kinder hätten studiert, dabei aber nie gelernt, Karibus zu jagen,

222 Victor Allen starb im July 2008 tragisch, aber ganz wie es zu seiner Lebensgeschichte passt, auf dem Land. Gemeinsam mit vier weiteren Familienmitgliedern war er mit dem Boot auf dem Mackenzie unterwegs zu ihrem traditionellen Camp, von dem aus sie auf ihre jährliche Belugajagd gehen wollten. Es kam ein Sturm auf und das Boot kenterte. Nur ein 13jähriges Kind überlebte den Unfall. CBC berichtete über das Geschehnis: „If we can get anything good out of this, we can celebrate the life of Victor Allen […] and the way I remember him.“ und „Live life the way he taught us to live it, and we’ll be better people for it.“ kommentierten einige Freunde und Bekannte von Viktor. (Canadian Broadcasting Corporation 2008)

216 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS geschweige denn, diese zu verwerten. Seine Tochter wäre schon viel zu lange auf der Universität und würde ihn oftmals weinend aus Edmonton anrufen. Die jungen Menschen würden ihre Familien und das Land verlassen. Wenn sie zurückkämen, seien sie zu alt zum Lernen, das Leben sei fast schon vorbei und sie hätten etwas studiert, das ihnen zum Überleben auf dem Land nichts nützen würde. Auch die Schulen verfolgten ein falsches Konzept, fuhr er fort, denn dort würden die Kinder in Zimmern über die Tier- und Pflanzenwelt aus Büchern lernen. Warum gäbe es keine Schule auf dem Land? Die Kinder würden nicht einmal wissen, wie sich Tiere anfühlen, welche Kraft in ihnen steckt, wenn sie leben und welche Dankbarkeit man empfindet, wenn man sie erjagt und sich von ihnen ernährt. Der Kontakt zur Natur ginge verloren. Aber, so bemerkte er mit erhobenem Finger, die Dinge ändern sich, das wisse er. Vieles bräuchte man ja heute gar nicht mehr zum Überleben, und technische Errungenschaften machten einstiges Wissen hinfällig. Es gibt kein Zurück mehr, kein „rewind“, alles ist „fastforward“. Das sei ja nichts Schlechtes, aber wenn seine Generation sterbe, ginge wertvolles Wissen anderer Art, das in keinen Büchern zu finden sei, verloren. Er erinnere sich beispielsweise noch, wie er mit seinem Großvater Kanus aus Seehundhäuten gebaut habe. Die Schwimmblase sei aus Seehundmagen gewesen, den man zusammennähte und Luft reinblies. Kaum jemand wisse heute noch, wie das geht. Nachdenklich schüttelte Victor den Kopf und murmelte, das sei nun wirklich alles vorbei. Er grinste, als er scherzte und mich anrempelte, er sei nun wohl gut für das Museum. Auch Schamanen wurden durch Priester ersetzt. Er habe die Bibel gelesen, erklärte er und begann mir einige Geschichten, die ihm gefielen, zu erzählen. Es habe ihn beeindruckt, wie ein Mann auf dem Wasser gehen konnte und geärgert, dass Jesus von einem seiner Freunde verraten wurde. Verständnislos schüttelte er den Kopf und murmelte, er fände es schön, den Gott aus der Bibel einmal zu sehen oder zumindest ein Zeichen von ihm zu bekommen, dass er da sei – bei den Mächten der Natur gäbe es keine Zweifel. Victor verstummte kurz, dachte nach und fuhr fort, er würde oft mit den Männern auf der Straße sprechen. Viele von ihnen seien obdachlos. Es sei ein Wunder, dass nicht jedes Jahr im langen Winter mehr von ihnen sterben würden. Gerade habe er auch wieder einige hier bei Tony auf einen Kaffee einladen wollen. Alle hatten abgelehnt  sie waren nur an Bier interessiert. Die Menschen heute seien allein. Unmutig fuhr Victor fort, darüber hinaus hätten sie auch keine Zeit mehr. Auch sein Sohn Dennis sei immer unterwegs. Die Menschen sprechen davon, dass ihre Zeit voll sei, aber er frage sich ernsthaft, mit was und wohin sie unterwegs seien. Für Geschichten und Gespräche wäre auch kaum noch Raum – der wird gefüllt vom Fernseher und vom Computer. Eltern kümmern sich nicht mehr um ihre Kinder und Kinder nicht mehr um die Eltern. Er sei auch in dieses Fahrwasser gekommen und habe nach dem Umzug in die Stadt arbeiten müssen, um seine Familie zu versorgen und dabei keine Zeit mehr gehabt, seine Kinder in Inuktitut zu unterrichten. Die Folge davon sei, dass sie jetzt nur Englisch miteinander sprechen könnten. Englisch sei eine mächtige Sprache, die Sprache der Kolonialherren, die die Feinheiten der ursprünglichen Sprachen und damit altes Wissen der Kultur platt walzt.

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Immer wieder sprach Victor von der Zeit, dass heute alles so schnell geht, die Menschen immer nur vorwärts denken und die Vergangenheit abschneiden wollen. Dabei hatte ich nicht das Gefühl, als wollte er sagen, früher war alles besser und alles Neue ist schlecht. Ich hatte eher den Eindruck, als würde er unser Konzept von Zeit und wie wir sie leben, nicht verstehen. In Folge dessen begann ich, Nachforschungen anzustellen über ein mögliches Zeitverständnis der Inuit. 223 Es hat den Anschein, als prallten zwei unterschiedliche Vorstellungen vom Ablauf der Zeit und damit zwei völlig verschiedene Weltbilder und Auffassungen von der Bedeutsamkeit alter Weisheiten aufeinande: Die westlich zivilisierte Gesellschaft ist geprägt durch Vorstellungen der Evolution, des Fortschritts, permanenten Entwicklungen in Richtung Zukunft, die Leben verbessern und vereinfachen sollen. Die Inuit hingegen (er)leben Zeit in wiederkehrenden Schleifen: Tageszeiten, Jahreszeiten, Jagdzeiten, Schonzeiten, Generationsfolgen. Das Wissen und die Weisheit der Ältesten war relevant und wichtig für jede neue Generation; denn auch die würde, wie viele andere vor ihnen, nomadisch über dasselbe Land ziehen, mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert sein, die gleichen Techniken benötigen, um überleben zu können. Das Rad des Lebens wird sozusagen von einer Generation zur nächsten weitergegeben, anstatt dort weiterzumachen, wo die vorige Generation aufgehört hat. In der Kultur der Inuit geht es weniger um neues Wissen, das alte Entwicklungen ablöst und die Welt verändert, es geht um die Sicherheit in Beständigkeit und Wiederkehr. Eine passende Analogie findet sich in Ross: „It would be something like a relay race which never ends, each generation passing the baton to the next for its turn around the track, the old and new generations running side by side while the transfer takes place, the older one slowing as the newer picks up speed. Each would go where the other had already gone, would come to see and hear and think what had already been seen and heard and thought by countless earlier generations. No matter who travelled it or when, the track would be common to all. It is little wonder, then, that the ,track‘ would become sacred, for it would have been shared by all and have given sustenance to all since time beyond memory, just as it must provide sustenance into the infinite future. This is more than just an emotional tie to the land; the land itself is a tie to the communal past, present and future. We post-industrial societies, in contrast, seem to run a cross country relay race, passing the baton to a generation that will never set foot upon the ground we have covered, a generation that will not know where we have been, that will never see our footprints. As we pass them the baton and watch them speed away, we have no sense of them visiting where we have been or coming. […] The more remote their lives become from what we have known, the less

223 Aspekte davon kamen bereits hinsichtlich des Unterschieds von linearer und zirkulärer Geschichtsauffassung in 2.1.2 zur Sprache.

218 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS confident we feel that we can know and understand them. And the more we are tempted to feel alone and in some fashion unconnected.“224

Mit dem Wandel von der Auffassung wiederkehrender Muster, hin zu einem linearen Entwicklungsverständnis, damit dem Verlust der Bedeutsamkeit alter Weisheiten, sind die Menschen konfrontiert mit einer komplexen Welt, die jeden Tag neue Herausforderungen bietet. Die Angst scheint groß, diesen nicht gewachsen zu sein. Die Geschwindigkeit des Wandels, der den Norden erfasste, überwältigt viele, und der Rückzug auf das Land, welches einstmals Sicherheit bot, ist für die wenigsten noch möglich. Früher, so erzählte Victor einmal, habe er noch gedacht, schlau und intelligent zu sein. Da konnte er den Menschen noch etwas beibringen. Mit einem Schmunzeln im Gesicht erwähnte er, dass er als alter Mann nun von den Jungen lernen musste: Er musste lernen, pünktlich zu sein. In der Stadt musste seine Orientierung an Jahreszeiten und der Abfolge der Gestirne der Uhr weichen. An Stelle der Jagdzeiten als Jäger standen für ihn als Arbeitnehmer nun feste Arbeitszeiten mit Urlaubstagen und strikten Zeitrichtlinien. Die Zeit hätte sich geändert, sie sei künstlich zerteilt worden. Es gäbe keine Zeit mehr – keiner habe mehr Zeit. Zu oft, so erzählt Victor, sei er zu langsam. So vieles würde er nicht mehr verstehen und vieles, was er kann, sei nicht mehr gefragt. Ein großer Irrglaube der Kabloonaq sei, dass das Leben auf dem Land hart und grausam war und ein Leben in der Stadt einfach und bequem sei. Vor vielen Jahren habe der weiße Mann die Erfahrungen und Weisheiten der Inuit benötigt, z.B. sich durch Eis und Schnee führen lassen müssen. Nun hätte er die Führung übernommen und die Inuit müssten folgen. Zu unsicher, zu dicht und zu undurchsichtig sei das Leben in der Stadt. Viele seien gekommen und haben geforscht – über die Eskimos – aber niemand von ihnen habe wie sie gelebt. Die Menschen sagen immer, es sei so erstaunlich, dass die Eskimos im Eis überleben konnten und dass deren gesamtes Leben ein Kampf ums Überleben war. Mit fester Stimme betonte Victor eindringlich, während er mich anblickte, es sei schlichtweg eine Dummheit so zu denken. Das Leben auf dem Land war einfach. Hart ist das komplizierte Leben in der Stadt. Es gibt auch einige, die Bücher über das angeblich so unvorstellbar grausame Leben der Eskimos schreiben. The Snow Walker225 sei so eine Geschichte und er wundere sich nur darüber. Der Autor hatte selbst nie auf dem Land gelebt – wie könne er dann darüber schreiben? Auch der Titel sei komisch: Snow Walker. Er lachte und erklärte: „Natürlich sind sie immer auf Schnee gegangen – was sonst?“ Viel zu früh bekämen junge Frauen heute Kinder, so Victor. Auf dem Land hätte man andere Sorgen gehabt. In erster Linie sei man damit beschäftigt gewesen, Nahrung zu besorgen. Eltern wurde man erst, wenn man über das Wissen und Können verfügte, auch als Familie 224 Ross 2006, 104 225 Mowat 2003

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überleben zu können (er selbst hat 7 Kinder). Er bemängelte, dass Kinder heutzutage entehrend von ihren Eltern sprächen. Dennis habe auch eine Zeit gehabt, wo er weit weg auf Ölfeldern viel Geld verdiente und von ihm nichts mehr wissen wollte. Eines Tages habe er zu Hause angerufen und geweint. Das Leben in der Stadt brächte die Menschen zum Weinen, auf dem Land weine man nicht. Seine Frau habe mit Dennis am Telefon gesprochen und ihm, Victor, gesagt, er solle einen Flug für ihn nach Hause buchen – das tat er dann auch und verbrachte erstmal einige Zeit mit seinem Sohn auf dem Land. Das heilte. Victor fuhr fort, er liebe seine Kinder, und sie würden auch gern Zeit mit ihm verbringen. Er glaubt, die Kinder und Enkelkinder spüren seine Liebe wie eine Art „Ausstrahlung in Pyramidenform“ um ihn. Victor erzählte von einer Begebenheit, als seine Kinder noch kleiner waren und in die Schule gingen. Dort lernten sie Reinlichkeitsgebote und an welchen Orten sich überall Krankheitserreger befinden würden. Auf einmal ekelten sich seine Kinder vor allem und jedem. Eines Tages, während des familiären Abendessens, fiel Dennis ein Stück Fisch auf den Boden. Als er es aufhob, und ohne groß Aufsehen zu erregen, in seinen Mund schob, erntete er erregten Protest von seinen zwei älteren Schwestern, die ihn darüber aufklärten, welche Arten von Bakterien er gerade zu sich nahm. Sie fuhren fort, dass man etwas, das auf dem Boden lag, nicht mehr essen dürfe. Dennis erklärte daraufhin nur, die Menschen hätten früher immer auf dem Boden gegessen, und nie sei dadurch einer krank geworden. Victor schmunzelte als er erzählte, er hätte natürlich den Damen des Hauses zustimmen müssen, aber insgeheim habe er sich über die Reaktion seines Sohnes gefreut. 226 Lächelnd berichtete er davon, dass er immer wieder von Politikern und Ölkonzernen eingeladen wurde, an Konferenzen teilzunehmen, um seine Meinung zu den aktuellen Entwicklungen im Mackenzie Delta preiszugeben. Ich hatte das Gefühl, er amüsierte sich über die Art und Weise, wie die Diskussionen geführt wurden. Er erklärte, er nähme schon an, sie seien interessiert an seinem Wissen, belächeln dann aber seine Ansichten eher, als ernsthaft darüber zu diskutieren. Da flögen sie ihn überall durch die Gegend (Edmonton, Yellowknife), hörten andächtig zu, aber machten doch was sie wollen.

Ich traf Victor noch einige Male, bevor er schließlich die Zusage bekam, mit drei obdachlosen, alkoholkranken Männern in sein Camp aufzubrechen. Nachdem sich kein Therapeut fand, der mit der Gruppe für einige Wochen in die Wildnis ziehen 226 Auch bei Tookoome (1999) findet sich dazu eine Geschichte: „The government told us not to live in igloos anymore – they gave us houses. I thought a house would be good because it was warm. I thought the walls would last forever and never get dirty. But I also felt uncomfortable because the house didn’t belong to me. I worried about damaging the floor with my caribou meat that I kept on the floor. We eat the traditional foods on the floor as we did in an igloo but we eat the Kabloonaq foods at the table or on the couch. We keep our caribou snow boots in the fridge to keep them from drying out. It is very warm for us in the house and bad for the meat – it thaws too fast and tastes bad. The igloo had a snow floor to keep things cool.“ (53)

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wollte, wurde nach reiflicher Überlegung beschlossen, dass die Zeit in Zurückgezogenheit und Isolation auch ohne fachliche Betreuung heilende Wirkung haben könnte. Zudem erklärte Victor, er sei da, falls die Männer reden wollten. Das Selbstbewusstsein und Vermögen, nicht nur das eigene Leben in viel versprechende Bahnen der Zukunft zu lenken, sondern darüber hinaus dem eigenen Volk beispielsweise als Sozialarbeiter, Polizist oder Regierungsbeamter dienen zu können, scheint zunehmend davon abzuhängen, dem westlichen Bildungsstandard zu entsprechen. Dies ist aber im Norden noch kaum der Fall. Durch die negativen Erfahrungen mit residential schools haben First Nations und Inuit das Vertrauen in westliche Bildungseinrichtungen größtenteils verloren beziehungsweise beobachten diese vornehmlich mit Argwohn. Dazu kommt, dass vor allem weiterführende Schulen und Universitäten im Norden fehlen, welche den Bedürfnissen der Menschen dort und deren Situation entsprechen. So gibt es schlichtweg keinerlei Möglichkeit, für Bewohner entlegener Gemeinden der Arktis eine Universitätsausbildung zu erhalten, die es ihnen erlauben würde, zugleich in ihrer Gemeinschaft zu bleiben. Viele fürchten sich davor, ihr gewohntes Leben zu verlassen und sich dem Individualismus und Konkurrenzdenken der Menschen in kanadischen Großstädten auszusetzen. Zudem machen sie unweigerlich die Erfahrung, mit ihrem Wissensstand nicht mithalten zu können und zu versagen. Dass dies dem geringen Selbstbewusstsein und der Scham einer angeblich „primitiven“ Kultur anzugehören, nicht gerade zuträglich ist, scheint offensichtlich. Deshalb wohl hält Victor wenig von Universitäten. Auf dem Land würden seine Kinder würdevoll lernen, denn da könnten sie mithalten. Auf der Universität scheint seine Tochter nicht glücklich zu sein, muss aber dorthin, um sich eine Basis für die Zukunft zu schaffen. Auch sogenannte Online-Programme über Internet scheinen wenig erfolgsversprechend. Zum einen fehlt den Menschen oftmals die Kompetenz, mit dem Computer umzugehen und sich in einer virtuellen Vorlesungswelt sicher zu bewegen, zum anderen stellt in der Kultur der Inuvialuit seit jeher die Gemeinschaft zentraler Ankerpunkt der Existenzsicherung dar. Der Computer kann hier noch weniger den zwischenmenschlichen Diskurs ersetzten wie in Kulturen, in welchen die Menschen schon lange gelernt haben, vornehmlich allein ihres Glückes Schmid zu sein. In der Diskussion um Bildung und Wissen muss noch ein wichtiger Aspekt erwähnt werden: Es ist nämlich noch lange nicht gesagt, dass Menschen, die den Absprung schafften, ein Studium im Süden erfolgreich absolvierten und danach in die Gemeinde zurückkehren (was häufig nicht der Fall ist), so ohne weiteres dort wieder aufgenommen, geschweige denn als Führungspersönlichkeit akzeptiert werden. Eine Gwich’in Bekannte aus Tsiigehtchic,227 deren Vater Jahrzehnte lang 227 In Tsiigehtchic (vormals Arctic Red River; indigene Bedeutung: „mouth of the iron river“), das 96 km südlich von Inuvik am Dempster Highway liegt, leben etwa 200 Personen, die meisten davon sind Gwich’in First Nations.

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Chief (Häuptling) der Gemeinde war, brachte kürzlich ihre Magisterarbeit zum Abschluss. Darin dokumentierte sie die vielen Nutzpflanzen, welche die Gwich’in seit Jahrhunderten zu medizinischen Zwecken einsetzten. Als Anthropologin befragt sie derzeit Elders nach deren Wissen, um dieses detailliert im Rahmen einer groß angelegten Forschungsunternehmung des Gwich’in Social and Cultural Institutes228 festzuhalten. Darüber hinaus erstellte sie mit Kollegen am Institut eine Liste von traditionell bedeutsamen Orten, um dieses Wissen für die folgenden Generationen bewahren zu können. Gwich’in wie auch Inuit gaben speziellen Orten spezifische Namen. Das Institut hat mittlerweile rund 1000 solcher Ortsnamen für die Gwich’in Regionen ausfindig machen und detailliert auflisten können.229 Ich erzählte ihr von meinen Bedenken zur richtigen Methode und davon, dass ich immer wieder vor der Problematik stehe, nicht Teil der Kultur zu sein  somit könne ich nicht an entsprechende Informationen gelangen, da mir Einheimische ja nie so vertrauen wie beispielsweise ihr. Daraufhin erklärte sie mir, für sie sei das auch nicht immer leicht, denn für die meisten aus der Gemeinde sei sie zu gebildet. Die Menschen wären ihr gegenüber skeptisch und reserviert. Ähnlich erzählte mir eine Frau aus Paulatuk, sie würde als „zu gebildet“ nicht mehr richtig dazu gehören, es sei, als wäre sie vom „weißen Wissen infiziert“. Nach wie vor erlangt traditionelles Wissen oftmals in den Gemeinden einen höheren Stellenwert als das Wissen der Kabloonaq. Es hat den Anschein, als würde sich mit der Bildung nach westlichen Idealen das Inuitsein beziehungsweise Aboriginalsein und die Anerkennung, die damit einhergeht, stückweit ablösen. 228 Das Mandat des Institutes lautet: „To document, preserve and promote the practice of Gwich’in culture, language, traditional knowledge, and values.“ Leitende Prinzipien dabei sind: „Our Elders play a crucial role as teachers. They are the source of traditional knowledge, history, language and culture. The preservation and respect for the land are essential to the well-being of our people and our culture. Our family history is important to our identity as Gwich’in. All Gwich’in have a role to play in keeping the culture alive. Cross cultural understanding and awareness between Gwich’in and non-Gwich’in is essential in building a new respect and understanding in today’s global community.“ (Gwich’in Social and Cultural Institute 2003) 229 Eine sehr interessante Interpretation für die Namensgebung wichtiger Orte und Plätze in der Kultur der Inuit findet sich in der Einleitung von Stern und Stevenson (2006): „Collignon makes the claim that place names, rather than being good for travel, are good to think with. That is, place names exist in the universe of memories, associations, and beliefs that make up community’s collective knowledge. [...] Collignon argues that place names and their associated stories describe specific human relationships to the physical environment and among the people who share those spaces and the names are thus ,founded on a very high sense of context and relations, where space and networks are indeed more important than places‘.“(17-18)

222 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „>T@he meaning of Inuit identity includes demonstrating Inuitness to qallunaat, but it probably also includes demonstrating or bringing higher consciousness to themselves and the practices they wish to maintain as Inuit. […] Eric Taggona, […] working as a land claims negotiator, stated in a radio broadcast: ‚While I’m working in Ottawa, I’m not a real hunter, I’m too educated, I’m nothing unless I’m using my life as an Inuk.‘“230

Damit befinden sich die Menschen in einer schwierigen Zwickmühle: sie müssen wohl lernen, sich in der neuen Welt zurechtzufinden, möchten aber dennoch ihr Inuitsein nicht aufgeben. Es gibt Versuche, beide Aspekte miteinander zu verbinden, sozusagen modern traditionell oder traditionell modern zu leben. Eines der wohl eindrücklichsten Beispiele für die Nutzbarmachung traditionellen Wissens für ein Leben in der Moderne findet sich in Nunavut: „The spirit of reaching away from town and into the past to find more authentic sources of Inuit knowledge and wisdom is also evident in the implementation of a new Nunavut government policy called Inuit qaujimajatuqangit (or IQ as it is known to most people in Nunavut). […] IQ has become the guiding ethical and intellectual template for building a new government and society, one that many Inuit believe is a formula for both cultural preservation and greater self-determination. Both Inuit and non-Inuit employees of the Nunavut government receive a packet of information about IQ and are expected to use IQ in the workplace.“231

Weitere bemerkenswerte Entwicklung hinsichtlich Ausbildung und Wissensvermittlung ist, dass einige junge Erwachsene indigener Herkunft, die durch die Internatserfahrung ihrer Elterngeneration den Faden zur eigenen Herkunft weitgehend verloren haben, diesen wieder aufnehmen wollen. Sie tun dies interessanterweise über Angebote der Schulen und Colleges: Eine junge Frau (Gwich’in und Inuvialuit) aus Inuvik erzählte mir von ihrer Kindheit in Yellowknife. Wenn sie jetzt zurückginge, um Freunde zu treffen, sei das immer sehr frustrierend für sie. Ihre Freunde würde sie meist gar nicht mehr antreffen, da sie so viele Probleme mit Crack und anderen Drogen hätten und kaum noch ansprechbar seien. Deren Leben sei ein einziges Auf und Nieder. Sie seien nicht mehr die von früher. Die Diamantenfunde hätten die Stadt völlig umgekrempelt. Alles sei so schnell gegangen, die Veränderung habe sich angeschlichen und dann plötzlich alle überrumpelt. Keiner habe überhaupt gemerkt, was geschah, bis es schon zu spät war, um noch etwas dagegen zu tun. Sie würde auch kaum noch jemanden kennen, sich jedoch an Zeiten erinnern, wo jeder jeden kannte. So viele Menschen seien zugezogen, die sich von den vielen Minen um den Ort, Geld und Reichtum erhoffen. Die 230 Garburn in: Stern, Stevenson 2006, 152 231 Searls in: Ebd., 97-98

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Stadt sei kalt, die Menschen isoliert und engstirnig, nur auf das eigene Wohl bedacht. Zudem schienen sich die Menschen in Interessensgruppen zu formieren, oft „traditionell“ gegen „modern“ und würden nicht mehr so zusammenarbeiten, wie das früher der Fall war. In dem ganzen Hin und Her habe sie auch die Orientierung verloren und gar nicht mehr gewusst, wer sie war. Sie empfand eine große Leere in sich. Ihre Eltern seien auch nie darauf bedacht gewesen, ihr bedeutsame Aspekte ihrer Kultur näher zu bringen. Eines Tages begann sie selbst ihre Wurzeln zu erforschen. Sie erklärte, sie besuche mit Begeisterung das Traditional Arts Programm am College und hätte nun das Gefühl, ihren Kindern zumindest einige Fähigkeiten und Fertigkeiten ihrer Großeltern weitergeben zu können.

Von Tätern, Opfern und Helden Die Zahl der Inuvialuit und First Nations, die aktiv ihr Leben in die Hand nehmen, scheint verschwindend gering im Vergleich zu denen, die sich passiv ihrem Schicksal zu ergeben scheinen. Die großen Vorbilder, Zugpferde oder Führungspersönlichkeiten sind rar, werden aber dringend vor allem in den Reihen der Menschen an der Basis gebraucht. In diesem Zusammenhang hörte ich viel Kritik an der Strategie der großen indigenen Führungsliga seitens derer, die in Inuvik mit den Menschen „an der Basis“, sprich auf den Straßen und im Rahmen von Sozialprogrammen direkt arbeiten. Nicht selten wurde Nellie Cournoyea hier mit einer Nationalheldin oder Königin verglichen, die unerreichbar und abgeschottet im Prunkbau der Inuvialuit Reginal Corporation in Inuvik residiert (tatsächlich das beeindruckendste Gebäude im Ort). Öl- und Gasgeschäfte, die große Politik und das viele Geld ließen die Führung den Blick für die Menschen auf der Straße und in den isolierten Gemeinden verlieren, erklärte mir ein Sozialarbeiter in Inuvik. Gerade die bräuchten aber nicht nur mehr Geld, das effektiv für sinnvolle Sozialprogramme ausgegeben werden sollte, sondern darüber hinaus erreichbare Rollenvorbilder, die eine Richtung angeben und den Menschen auf ihrer Ebene begegnen können. Was den Menschen fehlt, ist intrinsische Motivation, das Wissen, dass auch sie es schaffen können, in der neuen Welt zu bestehen. Non-Aboriginal Sozialarbeiter können die kulturelle Kluft in der Regel nicht überwinden und die tatsächlichen Bedürfnisse der Inuvialuit nicht verstehen. Es bräuchte Sozialarbeiter, Juristen, Lehrer und Polizisten aus den eigenen Rängen. Die sind aber kaum zu finden. Ich habe mich lange gefragt, warum so viele Menschen den Eindruck vermittelten, resigniert zu haben. Sie scheinen sich damit abzufinden, dem Leben das abzuringen, was es ihnen bietet. Dabei gehen sie aber nicht aktiv auf die Suche nach neuen Möglichkeiten. Vor allem in Gesprächen mit den Menschen selbst fand ich hin und wieder Erklärungsansätze, die aber meist nur Einblick gewährten in noch komplexere Zusammenhänge, die sich mir umso dichter darstellten, umso länger ich in der Arktis war. Nicht selten hatte ich das Gefühl, einen immer dickeren Knäuel vor mir zu haben, an dem ich mühsam einen Strang nur eine Zeitlang ver-

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folgen konnte, bevor er sich wieder mit anderen verstrickte. Zwei wichtige Stränge kristallisierten sich dabei fortwährend heraus, die sich wechselseitig zu beeinflussen und zu verstärken schienen: Neben der (gemäß westlicher Vorstellungen) fehlenden Bildung beziehungsweise fachlichen Kompetenz als Individuum und Volk in einer modernen Zeit innerhalb der Paradigmen der kanadischen Zivilgesellschaft mündig und eigenständig agieren zu können, scheint die Identifikation mit einer Opferrolle die First Nations und Inuit zu lähmen. Diese Mentalität der Opferrolle betrifft dabei vermutlich nicht nur Einzelne, sondern ganze indigene Völker (meines Erachtens die First Nations noch mehr als die Inuvialuit) Kanadas. Auf kollektiver Ebene scheinen die Verletzungen der Assimilationspolitik zu Identitätsmerkmalen der Kultur geworden zu sein. Auf individueller Ebene sehen sich die Menschen als Opfer, die sich ihrem Schicksal ergeben. Die Überzeugung des entrechteten Ausgeliefertseins lässt die Menschen Ansprüche stellen und erstickt dabei eigene Ressourcen und die Suche nach neuen Möglichkeiten im Keim. Die kollektive, sowie die individuelle Ebene verstärken sich dabei wechselseitig. Wichtig zu bemerken ist, dass die indigene Bevölkerung Kanadas nicht nur einseitig über die Jahre der Kolonialisierung in diese Rolle geschlüpft ist. Die kanadische Regierung hat diese Identifikation als Opfer deren Politik durch ihre Entschädigungsleistungen noch verstärkt und ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis geschaffen. Anstatt wohl durchdachte, kultursensitive Empowernment- Programme zu entwickeln, flossen Gelder, die entmündigten und Eigenverantwortlichkeit negierte. Kamanijjuak aus Baker Lake drückt dies wie folgt aus: „Before the white people came, we used to be adults (inummariit). We lived by hunting all over the land coming and going whenever we wanted. Sometimes life was good and sometimes it was bad, but we could do what we wanted. Now the whiteman is here, we are only children – even though we may not have such difficult times, the government does everything for us, just like our parents.“232

Zynische Kritiker bezeichnen die Entschädigungszahlungen der kanadischen Regierung einen einfachen Weg, sich das Gewissen rein zu waschen. Man muss der Regierung bei ihrer Vorgehensweise jedoch zu Gute halten, dass sie nach den unguten Erfahrungen der paternalistischen Einflussnahme in der Geschichte den Menschen größtmöglichen Spielraum geben wollte, die zugestandenen Gelder nach eigenem Ermessen zu verwalten. Der Schaden war jedoch bereits da, die Identifikation mit einer gut funktionierenden Kultur nicht mehr möglich. Die Menschen sehen sich als Opfer kanadischer Assimilationspolitik, als rechtmäßige Empfänger regelmäßiger Zahlungen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Anstatt den Schmerz effektiv anzugehen, wird er betäubt, so jedenfalls die Aussage von Tony, der mir 232 in: Stern, Stevenson 2006, 151

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erzählte, viele seiner Klienten würden nur auf den „pay-day“ warten, um die Regierungsgelder in Alkohol umzusetzen. Die Abhängigkeit wächst, und eine bewusste Selbstbestimmung wird immer schwieriger. Die Menschen verlieren ihr Selbstwertgefühl und letztlich sich selbst.233 Eine hilfreiche Erklärung zur Opferrolle scheint sich in Gary Harpers Drama Triangle234 zu finden. Er argumentiert, dass Menschen in Krisensituationen, respektive innere oder äußere Konflikte, in der Regel in eine von drei Rollen, Opfer, Täter oder Held/Retter fallen. Bezüglich der Opferrolle führt er aus: „With the victim role comes a belief in our innocence as well as a feeling of powerlessness. We might withdraw the ,flight‘ part of ,fight or flight‘ or even freeze like a deer caught in the headlights. Other times we wait for something to change or for someone to rescue us. Although some people suffer in silence, we often express our frustration by complaining about the situation and blaming the person we see as responsible for our plight. Victimhood has its rewards. We receive a significant amount of attention in the form of sympathy. [...] Alternatively, we can play the ,guilt card‘ in the hope that the other person will see the pain they have caused, recognize the error of their ways [...]. By playing the victim, we also absolve ourselves of responsibility. After all, we are innocent and the conflict is not our fault. [...] The rewards of victimhood come at a price. As victims, we relinquish our sense of control or influence over the situation. This sense of powerlessness erodes our self-esteem and leads to resentment and frustration. Others may see us as weak or needy, and our relationships may become defined by co-dependency. In short, by playing the victim we trade personal power for sympathy and ironically increase the very stress and negativity we seek to avoid.“235 233 Hinsichtlich des Vorwurfs an die Regierung hört man auch oft das Argument, dass sich die Abhängigkeit der indigenen Völker durch den Eingriff der Regierung „nur“ verschoben hat: Einstmals waren sie abhängig von der Natur, heute eben von der Sozialhilfe. Dem lässt sich entgegensetzen: „It is one thing to have to act within nature’s constraints. It is another thing to live under constraints imposed by outsiders who supply the money.“ (Ross 2006, 124) 234 Auch wenn Harper sich selbst dazu nicht äußert, scheint die Theorie vom Dramadreieck bereits in der von Eric Berne (kanadischer Psychiater) in den fünfziger Jahren entwickelten Transaktionsanalyse ihren Ursprung zu haben. Die Transaktionsanalyse beinhaltet nicht nur ein Verfahren zur therapeutischen Behandlung, sie stellt zugleich eine Theorie dar, die Aufschluss gibt über menschliche Persönlichkeitsstrukturen. Darüberhinaus veröffentlichte Stephen Karpmann bereits 1968 seinen Aufsatz Fairy tales and script drama analysis. Darin beschreibt er drei wiederkehrende Rollen, die er in der Analyse von Märchen heraus kristallisierte und in welche Menschen in Konfliktfällen zu schlüpfen scheinen: Verfolger (Täter), Opfer oder Retter (Held). 235 Harper 2004, 4-5

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Nachdem ich diese Überlegungen in einem Gespräch Tony mitgeteilt hatte, bestätigte er meine Beobachtungen. Sein Gesichtsausdruck spiegelte erstaunte AHA-Erkenntnis, als er mir erklärte, er fände in dieser Beschreibung des Opfers sein eigenes Leben wieder. Er bat mich um weiteres Material zu diesem Thema. Gerne würde er den Menschen beibringen, von beschriebener Opferhaltung Abstand zu nehmen, selbstbewusst und eigenverantwortlich der Gefangenschaft in Passivität zu entkommen und schließlich neue Rollen einzuüben. Ein weiterer Gedanke hinsichtlich beschriebener Opferrolle, der unter Umständen kennzeichnend für einige Ureinwohnergemeinden sein könnte, soll an dieser Stelle noch zur Sprache kommen. Ross erwähnt, dass die Passivität, mit der die indigenen Völker Kanadas viele Jahre auf Kolonialisierung und Assimilation reagiert haben, verwundert. Er vermutet, dass Widerstandslosigkeit „may flow from a code of ethics which required not forceful response but stoic acceptance“ und fährt fort, dass dieser Kodex auf dem bereits erwähnten Glauben beruht, das Schicksal nicht ändern zu können und darüberhinaus in dessen Lauf nicht eingreifen zu sollen. Denn „it is the spirits which are responsible for things, and that man attempts to force them to change at his mortal peril.“236 Er resümiert: „The pronounced fatalism evident until recently in so many communities may not, in other words, have resulted solely from economic, political and cultural subjugation since contact. That subjugation may instead have been facilitated by a traditionally acquiescent stance towards life’s events. If one believes that it is ultimately the spirits who ordain one’s fate, whether the immediate causes are weather, harvests, fish, game or the activities of other men, then the entire notion of , fighting back‘ makes little sense.“ 237

Dennoch gibt es einige, die, wie eingangs erwähnt, die Formen des Umgangs westlicher Zivilisation rasch lernten und damit zu herausragenden Stellungen innerhalb der eigenen Kultur gelangten. Denn sie waren in der Lage, zwischen der Welt der Aboriginals und non-Aboriginals zu verhandeln und brachten dadurch oftmals größeren Gewinn für die Gemeinschaft, als die Menschen, die nach wie vor der Jagd nachgingen. „Suddenly, the development of essentially political and bureaucratic skills became more essential than dealing wisely and productively with the natural world. Whoever developed these new skills also developed power over his own people. They, in turn, became increasingly dependent upon his successful use of those skills. Traditional authority lines were challenged [...] by those other people who, wise or not, revered or not, moral or not, showed the

236 Ross 2006, 66 237 Ebd.

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greatest aptitude for dealing successfully with the outside world“238 >Hervorhebung im Original@

Die neuen „Helden“ lösten Elders als Ratgeber und erfolgreiche Jäger als Führungspersönlichkeiten ab und sorgten für Verwirrung: „to whom could >the people@ look for guidance, the traditional wise man or the young kid who has a knack for getting white bureaucrats to open their wallets?“239 Durch die Verwicklung in die Geschäfte der westlichen Zivilisation verloren die neuen Eliten nicht selten den Kontakt zum eigenen Volk, werden als Helden gefeiert, können aber die tatsächlichen Nöte der Menschen in den isolierten Gemeinden nicht mehr verstehen. Sie versuchen die Probleme der Menschen für diese zu lösen und obwohl die Intention dabei gut gemeint sein mag, „reinforces >this approach@ the helplessness of the victim they are rescuing.“240 Die Kluft zwischen dem Wissen, wie (vornehmlich Geld-) Ressourcen beschafft werden können und den Bedürfnissen der Menschen ist zu groß, um nachhaltig aus Opfern Aktivisten für die eigene Sache zu machen. Das große Geld allein heilt nicht. Zum Selbstmord unter Inuit Bevor ich nach Ulukhaktok aufbrach, besuchte ich noch einmal Tony. Seine zwei jüngsten Kinder kamen in der Mittagspause von der Schule und durften gemeinsam mit ihrem Vater Mittagessen. Tony hatte für uns alle eine Brotzeit mitgebracht. Während wir aßen, erzählte er mir grinsend, die Lieblingsmahlzeit seines zweijährigen Enkels sei gefrorenes rohes Fleisch, das dieser genüsslich lutschte.241 Kaum hatten die Kinder wieder Tonys Büro verlassen, erzählte er mir von den Sorgen mit seinem Sohn. Er erkenne ihn kaum wieder. So kurz nach dem Umzug sei er wohl etwas durcheinander. Die anderen Kinder in der Schule würden ihn ärgern, was seinem ohnehin schon geringen Selbstbewußtsein nicht gerade zuträglich sei. Jedenfalls habe ihn der Lehrer angerufen und sich über das aggressive Verhalten seines Sohnes beschwert. Lange habe er daraufhin mit seinem Sohn über die Bedeutsamkeit des achtungsvollen Umgangs miteinander

238 Ebd., 128 239 Ebd. 240 Harper 2004, 6 241 Graburn berichtet, er habe während seiner Feldstudien im Jahre 2000 immer wieder erlebt, wie Kinder dazu angehalten wurden, traditionelle Speisen zu essen. „Most Inuit children are accustomed to store-bought foods from an early age, so teaching a child to eat raw meat becomes a concentrated effort, in which some relative, perhaps a grandfather concerned with the loss of culture, tries to get the child to eat, chew, and swallow while other family members look on anxiously.“ (in: Stern, Stevenson 2006, 142)

228 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS gesprochen und dass aggressives Verhalten seit jeher von Inuit abgelehnt würde. Kindererziehung in der heutigen Zeit sei ganz schön schwer, seufzte er.

Von diesem Gespräch über seinen Sohn kam Tony unmittelbar auf eine andere traurige Geschichte zu sprechen. Ich verstand erst später, dass beide Szenarien für ihn zusammengehörten und begriff darin die Tragweite der Angst um seinen Sohn. Eines Tages saßen er und andere Familienmitglieder wie so oft nach dem Abendessen zusammen, spielten oder unterhielten sich. Er habe mit seinem Cousin, der immer mal wieder starke Probleme mit Alkohol hatte, abgemacht, am nächsten Morgen zur Jagd aufzubrechen. Als dieser nicht zur abgemachten Zeit erschien, rief Tony dessen Frau an und fragte, was los sei. Die Erschütterung und Verzweiflung war groß, als er erfuhr, der Mann habe sich in der Nacht erhängt und zwei kleine Kinder und seine Frau zurückgelassen. Er habe noch eine kurze Nachricht geschrieben – er sei ein schlechter Mann und Vater, er könne so nicht mehr weiterleben.

Die hohe Selbstmordrate unter Inuit ist schockierend. Frank Tester und Paule McNicoll berichten in Isumagijaksaq: mindful of the state: social constructions of Inuit suicide von einer Selbstmordrate in Nunavut, die sechsmal höher liegt als im Rest von Kanada (südlich der Arktis). Junge Männer im Alter von 15 bis 29 Jahren seien besonders gefährdet, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. 242 Die Autoren argumentieren, es seien maßgeblich drei Erklärungsansätze zum Suizid der Inuit in der Literatur und in Forschungsberichten zu finden: Erstens würden biologische Gründe basierend auf der Entwicklungsgeschichte der Inuit angeführt; zweitens gäbe es Erklärungsversuche, die auf dem rapiden gesellschaftlichen Wandel basieren und der damit verbundenen Störungen des sozialen Gleichgewichts und drittens fänden sich psycho-soziale Modelle im Zusammenhang mit den Lebensumständen der gefährdeten Person (Arbeitslosigkeit, Langeweile) beziehungsweise den Werten, Normen und Beziehungssystemen, in welchen Inuit heute

242 Tester, McNicoll 2004, 2625. Während in Nunavut die Selbstmordrate in den letzten Jahren dramatisch in die Höhe schnellte, sank die Zahl derer, die sich in den Nordwest Territorien das Leben nahmen (vgl. Issacs u.a. 1998). Laut der Volkszählung in 2001 leben in Nunavut verhältnismäßig aber auch wesentlich mehr Inuit als in deren Nachbarterritorium im Westen. Von 45.070 Inuit in ganz Kanada lebt die Hälfte davon in Nunavut (22.569 Menschen) und nur 9% (4.056 Menschen) in den Nordwest Territorien (Statistics Canada 2001). Auch Kral und Idlout betonen: „Suicide rates for Canadian aboriginal people far exceed the average Canadian rate, and in Nunavut the prevalence of suicide is even higher. [...] Suicide [...] is almost exclusive to Inuit youth.“ (in: ebd., 59)

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leben. Tester und McNicoll stellen heraus, dass keines dieser Erklärungsmodelle allein zufriedenstellende Erklärungen anbieten kann und führen aus: „We argue that these approaches offer incomplete explanations of the current problem. Attempts to complete the picture by identifying risk factors have produced contradictory and unsatisfactory results. We conclude that the impact of colonial relations of ruling has much to do with the current problem and advocate an approach that combines narrative research and intergenerational communication with community action to address the problem. Low Inuit inuusittiaqarniq (self-esteem) is an important factor in Inuit suicide, but rather than a psychological problem, has its roots in a history of colonialism, paternalism and historical events.“243

Kral und Idlout berichten von dem Unikkaartuit Project244, einem partizipatorisch (narrativ) durchgeführten Forschungsprojekt, welches die Komplexität des Suizidphänomens unter Inuit eruieren sollte. Im Mittelpunkt der Studie stand die Frage, welche Faktoren zum Wohlergehen der Inuit beitragen, beziehungsweise welche dieses vereiteln und in welchem Zusammenhang diese Faktoren mit der Selbstmordproblematik stehen. Zum Ergebnis der Studie erklären sie: „Narratives of wellness, happiness, and sadness were most closely tied to family and kinship. The next common theme was that of the importance of talking, whether to family, friends or others in the community. The third theme was IQ (traditional Inuit values and practices) and its importance as part of the foundation for the good life among Inuit. Well-being was linked to their absence or change in them. Many people were concerned about high-speed change in their communities, especially as it contributed to a growing sense of anonymity and social distance. [...] There was significant concern about the increasing segregation of the generations.“245

Ein weiterer interessanter Aspekt findet sich bei Ross (2006). Die einstmals vorherrschende Tugend der Inuit und First Nations, Aggression nicht offen zum Ausdruck zu bringen, kehrt sich vor allem induziert durch Alkohol nach innen und führt zu Gewaltakten gegen sich selbst. Oder, wenn Menschen ungewohnt ausfällig werden und Familienmitgliedern Schaden zufügen, führt das nicht selten zu heftigen Selbstvorwürfen und geringem Selbstbewusstsein. Zudem besteht die Angst vor Konsequenzen der schädlichen Handlung in der materiellen, wie auch spirituellen Welt, was letztlich auch zum Selbstmord führen kann. Das spirituelle Weltbild der Inuit darf in der Diskussion um Selbstmord nicht vernachlässigt werden. So erklärt William Noah aus Baker Lake es reiche nicht, 243 Tester, McNicoll 2004, 2625 244 In: Stern Stevenson 2006, 59 ff (vgl. auch Kral 2003) 245 Kral, Idout in: ebd., 64-64, vgl. auch Kral 2003, 17

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Selbsthilfegruppen für Selbstmordgefährdete einzurichten, Informationsbroschüren auszugeben, Notruftelefone anzubieten oder Gremien und Tagungen abzuhalten. Denn all diese Maßnahmen gehen nicht tief genug, sie behandeln nicht das eigentliche Problem. Sie können nichts ausrichten gegen die bösen Geister, die Dämonen, die in den Herzen der Menschen sitzen. Er fordert: „Get to the heart and cast out the demons that are causing suicide. Don’t play games with it anymore. You have tried it before and it did not work. So games are over; you don’t play games with the spirits. Get to the point; go to the person, sit down in front of a person, and ask the spirit inside of a person: ,Who are you?‘ Keep asking until the demon response to your questions. Do not just ask, ask by the highest Name; ask by the Name of Almighty God; ask by the powerful Name of Jesus Christ of Nazareth; who died on the Cross and rose again from the dead; don’t give in until the demon is cast out and has left the person.“246

2.2.4.2 Ulukhaktok im Winter 2006 We’ve always been a community that has community pride in itself. [...] We’re kind of independent and we try to keep it that way.247 GARY BRISTOW

Die kleine Gemeinde Ulukhaktok liegt auf Victoria Island, einer Insel in der Beaufortsee, etwa 925 Kilometer nördlich von Yellowknife. Die rund 450 Einwohner der Siedlung leben, wunderschön gelegen, an der Küste der so genannten Kings Bay im Westen der Insel. Erst 2006 wurde der Inuitsiedlung (ehemals Holman) ihr traditioneller Name Ulukhaktok (Uluqsaqtuua) wiedergegeben. Ulukhaktok ist Inuinnaqtun und bedeutet: Der Ort, wo sich das Material finden lässt, aus dem die Ulus gemacht sind (Kupfer). Bis auf zwei RCMP Beamte mit ihren Familien und einigen Lehrern leben in Ulukhaktok ausschließlich Inuit. In Ulukhaktok gibt es folglich zwei Sprachgruppen: ein spezieller Dialekt des Inuinnaqtun, Kangiryuarmiutun (Untergruppe des Inuvialuktun248) und Englisch. Obwohl der Inuvialuit Regional Corporation angeschlossen, zählen Anthropologen die Menschen auf Victoria Island eher zur Gruppe der Copper Inuit249, als zu den Inuvialuit. Ursprünglich 246 Noah 2006 247 Condon 1996, 195 248 Inuinnaqtun bzw. Inuvialuktun ist eine indigene Sprachgruppe Kanadas, die laut dem Northwest Territories Official Languages Act von 1998 als eigenständige Sprache der Inuit neben Inuktitut anerkannt wurde, und nicht nur als Dialekt gilt. 249 „In language and culture, the various groups identified by anthropologists as Copper Inuit display a distinctiveness that separates them from the Mackenzie Delta people to

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zogen die Copper Inuit als Nomaden umher und lebten nur zeitweise in der Gegend des heutigen Ulukhaktoks. Erst mit Errichtung der ersten Hudson Bay Handelsstation um 1923 entstand eine feste Siedlung. Bis heute spielt die Jagd, das Fallenstellen und die Fischerei eine entscheidende Rolle für den Lebensunterhalt der Menschen. Außerdem ist der kleine Ort weit bekannt für die besondere Kunst des Printmaking250. Zwei kleine Lebensmittelgeschäfte werden hauptsächlich durch die einmal jährlich kommende Barke bestückt. Milch, Gemüse und Obst werden teuer eingeflogen. Es gibt ein Hotel, das vornehmlich Facharbeiter wie Installateure, Computertechniker oder Elektriker, Eisbärenjäger aus aller Welt, den Zahnarzt, der einmal im Jahr die Gemeinde besucht, Filmemacher, Golfspieler251, Öl- und Gasexperten, Politiker, Piloten und manchmal auch Touristen zu horrenden Preisen beherbergt. Ulukhaktok hat eine moderne Schule mit Turnhalle, Bücherei und Internetanschluss. Seit wenigen Jahren gibt es sogar die Möglichkeit, dort den Highschool-Abschluss zu erhalten. 1984 bekam Ulukhaktok den Hamletstatus anerkannt, und kann damit Gemeindefragen politisch eigenverantwortlich klären.252

the west and the Netsilik people to the east. Prior to the concentration of the population into settlements and towns, the Copper Inuit were composed of a number of fairly distinct regional subgroups. [...] Despite uniformity of culture and language the various [groups] displayed minor differences, based upon their adoption to local resources. [...] At the time of contact, the total population of Copper Inuit was probably no more than eight hundred to nine hundred, scattered over a vast territory of arctic tundra, probably exceeding 80.000 square miles.“ (Condon 1996, 66-67) 250 Schon während dem Great Northern Arts Festival im Vorjahr machte ich die Bekanntschaft mit einer bekannten Künstlerin aus Ulukhaktok. Ich hatte nun die Freude und Ehre, in ihrem Heimatort an einem ihrer abendlichen Printmaking Workshops teilnehmen zu können. Bei der Druckkunst wird ein Bild entworfen (meist eine Szene aus dem Leben als Inuit) und in eine Druckfolie eingeschnitten, die dann als Art Schablone für mehrere Drucke dient. Die Farbe wird vorsichtig mit einem Rasierpinsel in die leeren Flächen der Schablone getupft. 251 Ulukhaktok verfügt über den nördlichsten Golfplatz des amerikanischen Kontinents (wenn nicht gar der ganzen Welt). Jeden Sommer lockt das Billy Joss Golf Turnier professionelle Golfer aus der ganzen Welt in die arktische Abgeschiedenheit, die nicht nur die Aufregung des Golfens auf offener Tundra genießen, sondern vor allem auch die Mitternachtssonne, die den weit gereisten Gästen das Spielen bis spät in die Nacht ermöglicht. 252 „In April 1984, Holman was incorporated as a hamlet. Under this form of government, Holman residents are able to elect a mayor and councillors who have much more control over financial matters. The Holman Hamlet Council can pass bylaws, apply for and

232 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS Nach dem langen, turbulenten Flug in einer kleinen Propellermaschine durch Schneegestöber und Windböen war ich froh, in Ulukhaktok sicheren Boden unter meinen Füßen zu spüren. Eisiger Wind peitschte mir um die Ohren, ich spürte die Kälte beim Atmen in den Lungen. Die Isolation, das Gefühl völliger Abhängigkeit und des Ausgeliefertseins legte sich wie ein schwerer Mantel um meine Schultern. Schon aus der Luft hatte ich die wenigen Häuser der Gemeinde Ulukhaktok inmitten endloser Eiswüste gesehen. Es würde für die Wochen meiner Anwesenheit von dort kein Entkommen geben. Ich schwankte von Neugierde und Faszination zu Verzweiflung und Unwohlsein. Alles hier war völlig fremd und nicht im Entferntesten vergleichbar mit dem, was ich bisher gesehen und erlebt hatte. Die weite, endlos scheinende Schneewüste erweckte den Eindruck grenzenloser Freiheit. Dennoch spürte ich die Gefangenschaft im Ort, denn die Gefahren draußen auf dem Land sind für den Unkundigen zu groß, um sich dort frei bewegen zu können. Es gab keinen Baum und keinen Strauch mehr. Überall vermutete ich Eisbären hinter Schneewechten. Die eisige Luft ließ die Konturen der Häuser und Felsen in der Ferne über dem Meer klar und markant erscheinen. Mehrere Inukshuks253 stachen auf den Hügeln in der Ferne in den Himmel. Zugleich tauchte die nur mehr sehr flach stehende Sonne alles in ein weiches, warm anmutendes Licht. Ein freundlicher Inuk holte mich mit einem der wenigen Trucks ab, die es im Ort gab.254 Er zeigte mir die wichtigsten Gebäude der Siedlung und fuhr mich zu dem Haus, in welchem ich die nächste Zeit wohnen sollte. Das kleine Häuschen lag etwas außerhalb des Ortes, direkt an der Beaufortsee, die noch nicht zugefroren war und sanft ihre Wellen über den Kies am Strand spülte. Im Laufe der Zeit lernte ich für die vielen Schlittenhunde, die um mein Haus an Pflöcken festgebunden waren, dankbar zu sein. Sie heulten zwar nachts stundenlang, hielten mir aber umherschleichend Füchse und andere wilde Tiere vom Hals. Bei meinem ersten Rundgang durch den Ort wurde ich eingehend gemustert und freundlich gegrüßt. Ich fiel auf – eine große blonde Frau unter den vielen kleineren, dunkelhaarigen Inuit. Kinder liefen auf mich zu und fragten aufgeregt nach meinem Namen. Es bestand überhaupt keine Scheu – nur freundliche Neugierde. Die Menschen trugen wunderschöne, aus bunten Stoffen genähte, traditionelle Parkas. Eine warme Kapuze mit Fellbesatz wärmte Kopf und Gesicht. Überall im Ort hörte man die lauten Motoren der Schneemobile. Man musste genau aufpassen, wo man ging, denn wo genau die Straßen verliefen, war vor allem für den Außenstehenden nur zu erahnen. Hinter jeder Hausecke musste man mit einem Schneemobil rechnen, das jeden Augenblick um die Ecke schießen könnte. Ab und zu sah man Stoppschilder in großen Tonnen krumm im Schnee stecken. Das Lebensmittelangebot in dem kleinen

administer municipal grants, and perform many functions not previously possible.“ (Condon 1996, 170) 253 Inukshuks sind traditionelle Landmarker. Sie sehen aus wie übergroße Steinmenschen. 254 Es gibt natürlich keine Autos in Ulukhaktok. Außer dem RCMP Truck, einem Taxi und einem Fahrzeug zum Flughafentransfer knattern nur unzählige Schneemobile überall laut durch die Gegend.

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Laden überraschte: Trotz der Abgeschiedenheit würde ich meine Ernährung nicht völlig auf Fleisch und Fisch umstellen müssen.

Arbeit mit Jo: Projekte zur Förderung des Inuitseins heute Meine Aufgabe, den Koordinatoren der Aboriginal Healing Foundation (AHF) beratend zur Seite zu stehen, sah in Ulukhaktok völlig anders aus als in Inuvik (und wieder anders als in Paulatuk). Die Probleme, mit welchen sich die Koordinatoren beschäftigen müssen, deckten sich zwar größtenteils in allen drei Gemeinden, die Erscheinungsformen dieser variierten jedoch. Zudem scheint jede(r) Koordinator(in) der Aboriginal Healing Foundation das eigene Programm völlig anders zu verwalten und unterschiedliche Schwerpunkte zu setzten. Diese Unterschiede der Herangehensweisen beruhen wohl auf der Tatsache, dass drei verschiedene Menschen mit anderer kultureller Herkunft, persönlicher Lebensgeschichte und Einbindung in der jeweiligen Gemeinde die Programme verwalten. Während Tony sich als ehemaliger Alkoholiker zentral dem Thema der Abhängigkeit und den Problemen männlicher residential school survivors widmete und seine Programmangebote in seiner unkomplizierten, lockeren (für den westlich zivilisierten Außenstehenden manchmal erstaunlich unkoordiniert wirkenden) Art mit großem Eifer und voller Hingabe durchführte, arbeitete Jo in Ulukhaktok zielstrebig und engagiert vor allem an der Erhaltung einstiger kultureller Werte. Sie schien damit nicht nur die Hoffnung zu verbinden, Traditionen, Sprache und alte Rituale in die neue Zeit retten zu können, sondern vor allem jungen Menschen ein Bewusstsein für die wertvollen Seiten ihrer kulturellen Herkunft zu vermitteln und damit deren Selbstbewusstsein zu stärken. Dies deckt sich mit wichtigen Aspekten des offiziellen AHF Arbeitsplans für die Gemeinde Ulukhaktok: „Ulukhaktok identified two main goals in their work plan which addresses the areas of restoring balance and community healing. […] (1) The first involves the children and youth in the community and the interaction with their families. Many families were separated when children had to attend residential school. Many families today were the ,residential school children of yesterday‘ and have no parenting skills. They don’t know how to interact with their own children. Today, we are finding many ,lost youth‘, because the families are not able to communicate or even nurture their children; this is due to the intergenerational impacts of residential schools. Youth are losing hope, have very few nurturing role models, and are continuing the cycles created by the residential school experiences. The goal is to increase the youth’s self concept by giving them a sense of self identity and decreasing alcohol and drug abuse as well as suicide tendencies through positive activity choices. (2) The second goal is the loss of the traditional & cultural values. When sent to residential schools, children were forbidden to celebrate their culture and traditions or speak their aborig-

234 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS inal language. Now we have generations of survivors and their children that have little experience living a traditional lifestyle or speaking their aboriginal language. These families struggle with who they are and where they come from. This has a great affect on the communities self esteem and the individual’s ability to feel they are part of society. The goal is to decrease drug and alcohol use in young adults and their families and increasing their positive lifestyle choices by increasing the knowledge and awareness of traditional life skills, land survival skills and history of families.“255

Jo hatte gerade erst seit einer Woche ihre Stellung als AHF Programm Koordinatorin angenommen, doch schon nach kurzer Zeit organisierte sie unzählige Projekte und Aktivitäten für Alt und Jung in Ulukhaktok. Eine groß angelegte Aktion, die Jo während meiner Anwesenheit im Ort durchführen wollte, war der so genannte FishLake-Trip für Jugendliche der Gemeinde. Gemeinsam mit zwei erfahrenen Elders sollte eine Gruppe Jugendlicher mit Schneemobilen und Schlitten zu dem entlegenen Fish-Lake fahren, um dort auf traditionelle Weise eine knappe Woche zu leben und möglichst viele Fische als Wintervorrat für die Gemeinde zu fangen. Als ich am Nachmittag bei Jo im Büro ankam, war sie gerade dabei, einen Brief an die Schulverwaltung zu schreiben, in dem sie erklärte, dass der von ihr geplante und von AHF bezuschusste „on-the-land-trip“ am Fish-Lake keine Belohnungsaktion für besonders gute Schüler darstellen sollte. Es ginge vor allem darum, sozial auffälligen Schülern und denen, die sich schulisch schwer taten, die Chance zu geben, Wissen und Können, das auf der Schule weniger gefragt war, in der Wildnis unter Beweis zu stellen. Es bestünde die Hoffnung, so argumentierte Jo, dass Jugendliche, die in einer Phase der Orientierungslosigkeit stecken, auf dem Land ihre kulturellen Wurzeln spüren könnten. Oftmals hätten auch gerade die Kinder Probleme, deren Selbstwertgefühl gering sei, und da wäre es bestimmt nicht förderlich, diesen ein solches Erlebnis aufgrund von Schulnoten vorzuenthalten. Jo erklärte mir, sie habe das Gefühl, diese Gründe für einen Jugendaufenthalt auf dem Land so ausführlich darlegen zu müssen, da in der Vergangenheit von Lehrern und dem Schuldirektor argumentiert wurde, dass sich für Kinder, die ohnehin eher mangelhafte Noten vorwiesen, entsprechende Fehltage in der Schule negativ auswirkten.

In dieser Diskrepanz zwischen den Lehrern und Jo drückt sich ein wichtiger, nicht zu vernachlässigender kultureller Unterschied zwichen dem Verständnis der kanadischen Mainstreambevölkerung und der Kultur der Inuit aus. Belohnungen und Bestrafungen für (Schul-) Leistungen scheinen der ursprünglichen Kultur der Inuit fremd zu sein. Kinder lernten traditionell durch Partizipation und Rollenvorbilder. Inuitkinder, so Ross, lernen durch den „modelling approach to education [...]. There can be no cajolery, no praise or punishment, no withholding of privileges or prom255 Davison 2006

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ising of rewards. It is up to the child to observe constantly and carefully, to study entirely on their own.“256 Bei einem Leben auf dem Land war in erster Linie entscheidend, dass Kinder ihre Nische fanden, ihren eigenen Beitrag zum Überleben der Familie leisteten und darin ein Gefühl von Selbstsicherheit und Selbstwert entwickelten. Eine Einheitsvorstellung von Erfolg und Versagen und wie konkret Leistung auszusehen hat, gab es nicht. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht weiter verwunderlich, dass sich diese Kinder schwer tun, Sinn zu finden im Erreichen eines gewissen Notendurchschnitts (vor allem, wenn die meisten Eltern und Großeltern keinerlei Verständnis dafür zeigen) und auch wenig Lust haben, in die Schule zu gehen. Einer der Highschoollehrer im Ort bestätigte diese Beobachtungen, als er mir erzählte, dass Vorstellungen von Erfolg in der Schulausbildung in Ulukhaktok völlig andere seien, als beispielsweise in Toronto, wo er einige Jahre als Lehrer tätig war. Die Kinder im Süden seien getrimmt auf gute Noten, Konkurrenz, Hierarchien und Karriere. Dieses System, das in westlicher Tradition von Anfang an eingeimpft werde und sich im Schulkurrikulum wieder fände, funktioniere hier nicht. Gute und schlechte Noten scheinen regelrecht belanglos zu sein. Zudem würden die Kinder (und Familien) in der Schulausbildung die Praxisrelevanz nicht sehen.257 Im Norden ginge es um Zusammenarbeit, nicht um Konkurrenz. Deshalb fehle auch die Motivation bei den meisten überhaupt zum Unterricht zu erscheinen, geschweige denn, intensiv zu lernen. Wenn die Hälfte seiner Klasse anwesend sei, könne er froh sein. Eigentlich wäre es wirklich kein Wunder, dass seine Highschoolabgänger, die sicherlich nicht dümmer seien als Kinder im Süden, dort kaum eine Chance hätten. In der Schule fehlen den Kindern wichtige Voraussetzungen, um ihr Inuitsein leben zu können und ein Gefühl von Selbstwert zu entwickeln. Deshalb, so das Argument von Jo, ist es so wichtig, gerade die Kinder, die sozial auffällig sind (in der Regel aus dysfunktionalen Familien stammen) nicht zu strafen, sondern ihnen die Chance zu geben, sich selbst zu finden, „ganz zu werden, zu heilen“. Dies ist Voraussetzung dafür, dass Kinder und Jugendliche überhaupt eine Chance haben, den westlichen Vorstellungen von Erfolg und Karriere gerecht werden zu können. Obgleich Jo nicht den Eindruck erweckte, sie würde mich dazu brauchen, half ich ihr einige Aushängeposter für den Trip zu erstellen (Poster und Plakate an wichtigen Orten schien Hauptinformationsmittel in der Gemeinde zu sein). Ein Poster fragte nach Elders und Betreuern, nach Freiwilligen, die mit ihren Schneemobilen und Schlitten das Material ins Camp 256 Ross 2006, 18-19 257 Da die meisten Kinder und Jugendlichen nicht vorhätten, auf weiterführende Schulen oder die Universität zu gehen, sind Noten offensichtlich nicht von derselben Bedeutung wie für Schüler im Süden.

236 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS transportierten, nach Hüttenbesitzern am See, die ihr Camp vermieten würden und nach einem Koch. Ein weiteres Poster richtete sich an die jugendlichen Teilnehmer, die sich offiziell zu dieser Ausfahrt anmelden mussten. Jo übersetzte die Hinweisschilder auch auf Inuinnaqtun. Sie brauchte eine ganze Weile dafür und erklärte mir, es gäbe eine alte und eine neue Art in ihrer Sprache zu schreiben (ähnlich wie deutsche Rechtschreibreformen), und sie würde immer durcheinander kommen. Gesprochen würde man den Unterschied nicht hören. Immer wieder sprang sie völlig in Gedanken versunken auf, um im Büro nebenan bei ihrer Schwester nachzufragen, ob ihre Formulierungen verständlich wären. Sie bat mich anschließend, diesen Text ebenfalls in den Computer einzugeben. Ich hatte Spaß daran, die teilweise ewig langen Worte, deren Sinn ich nicht verstand, laut vor mich hermurmelnd in die Aushängeposter einzufügen (Beispiel: naonaigigumayatka oder kikluguahimaitunun).

Ich glaube, Jo hatte Freude daran, mich mit ihrer Sprache abmühen zu sehen. Sie lud mich zu einem Treffen am Abend ein, bei dem sich einige Frauen über Möglichkeiten Gedanken machen wollten, ihre Sprache beziehungsweise den spezifischen Inuit-Dialekt dieser Gegend am Leben erhalten zu können. Darüber hinaus hatten sie das ehrgeizige Ziel, ihre Sprache wieder attraktiver für die Menschen zu machen, denn vor allem Jugendliche würden sich schämen, in Inuinnaqtun zu kommunizieren. Eine der Frauen, so erklärte mir Jo, habe begonnen, ein Inuinnaqtun-Lexikon zu erstellen und Begriffe zu sammeln, die in Gefahr stehen, in Vergessenheit zu geraten. Sie habe diverse Gespräche und Interviews mit Elders aufgenommen und würde diese als Quelle für ihr Lexikon nutzen. Wir unterhielten uns über das rückbezügliche Verhältnis von Sprache und Kultur: Worte gehen verloren, weil Aspekte der Kultur nicht mehr existieren, und Aspekte der Kultur gehen verloren, weil die Worte dazu fehlen. Jo sagte mir, dass sie von Fremden oft gefragt werde, warum sie in ihrer Sprache so viele Worte für Schnee haben und erklärte mir dabei kopfschüttelnd, als würde sie diese Frage nicht recht verstehen, dass doch der Schnee auch in so vielen verschiedenen Arten aufträte. Zur Orientierung auf der Jagd, um zu wissen, ob die Eisdecke trägt oder auch zum Bau eines Iglus ist es unabdingbar zu wissen, welche Konsistenz der Schnee genau haben muss, damit das Unternehmen erfolgversprechend und nicht gefährlich ist. Ohne die richtige Ausdrucksform geht das Wissen um diese verschiedenen Schneearten verloren, und ohne das Wissen werden auch die Worte überflüssig. Jo erklärte mir, sie versuche viel mit Kindern und Jugendlichen im Ort in ihrer Sprache zu kommunizieren. Oftmals würde sie zwar Antworten nur auf Englisch erhalten, aber zumindest wüssten die Kinder noch, wie sich die Worte anhören, auch wenn sie sich nicht zutrauten, Inuinnaqtun zu sprechen.258 258 Nelson Graburn argumentiert, dass die Selbstbestimmung des Inuitseins in einer modernen Zeit nach neuen Definitionen sucht. Fähigkeiten und Fertigkeiten, inklusive der

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Das Inuinnaqtun Treffen am Abend fand im Katimavik (Inuktitut: Treffpunkt), einem Gebäude mit großem, gemütlichen Versammlungsraum statt, in dem auch diverse Kunst- und Handarbeitworkshops angeboten wurden. In einem der Räume hatten sich gerade einige Jugendliche zu einem Handarbeitskurs versammelt. Drei Elders zeigten ihren jungen Schützlingen geduldig, wie man Handschuhe oder warme Fellslipper näht. Viele Mädchen und ein Junge im Alter von 10 bis 16 waren gekommen und nähten motiviert an ihren Fell- und Lederstücken. Ein Mädchen zeigte mir mit breitem Grinsen ihre selbst genähten Lederhandschuhe. Aus eigener Erfahrung (ich hatte in Tonys Workshop angefangen, Handschuhe zu nähen) wusste ich, es bedarf nicht nur eines gewissen Geschicks, sondern vor allem auch der Ausdauer, einen solchen Handschuh zu nähen. Im Nebenraum waren bereits etwa sechs Frauen eifrig dabei, sich Gedanken zu machen, wie sie ihre Sprache in der Gemeinde zu neuem Leben verhelfen könnten. Auf den Tischen türmten sich Kassettenhüllen und Kassetten, Papierberge und Bücher. Die Gastgeberin des Treffens war offensichtlich schon seit Jahren mit ihrem Inuinnaqtun-Lexikon beschäftigt. An den Wänden hingen große Flipcharts zu den unterschiedlichsten Themenbereichen, die traditionell eine wichtige Rolle spielten. Da fanden sich beispielsweise Worte wie Trommeln, Geschichten, Kleidung, Jagd und Spiritualität. Darunter standen eine ganze Reihe mir völlig unbekannter Inuinnaqtun-Begriffe, die sie gemeinsam mit Jugendlichen gesammelt hatte, indem sie sich von Elders traditionelle Geschichten erzählen ließen. Jo stellte mich der Runde vor, ich wurde eingehend gemustert, und eine der Damen reichte mir eine Tasse Kaffee. Wörter regelrecht zu sammeln und Forschung über sie zu betreiben, sei unglaublich wichtig, erzählte die Frau mit dem Lexikon-Projekt. Gerade heute, fuhr sie fort, war sie beim Abhören des Interviews von einem Elder über Worte gestolpert, von denen sie keine Ahnung habe, was die bedeuten. Sie vermutet, so erklärte sie, es handle sich in der Geschichte um irgendwelche Geistwesen mit Tierkörper und Menschengesicht. Eine weitere Frau pflichtete dem Gesagten bei und erklärte, ihre Mutter, die sie lange pflegte, hatte Schwierigkeiten sich ausdrücken, da ihr die Worte in Inuinnaqtun fehlten und sie nicht wusste, sich entsprechend in Englisch auszudrücken. Worte werden vergessen, wenn sie nicht mehr benützt werden. Neue Techniken verdrängen alte Praktiken und neue Worte müssen erfunden werden, die alte ersetzen oder Gegenstände benennen, die es füher nicht gab. Sprache, die einst unreflektiert zum Alltag gehörten, werden von Anthropologen und Inuit selbst akribisch gesammelt und katalogisiert, um der Nachwelt, wenn schon nicht praktisch gelebt, zumindest schriftlich fixiert weitergegeben werden zu können. „Hence we have the paradox that cultural and bodily dispositions (including the linguistic and metalinguistic) that normally and traditionally were matters of habitus can come to consciousness and can be specifically selected for preservation by sensitive members of a threatened cultural group. Thus attitudes and behaviours that are or were at one time normally practiced unconsciously can become conscious and subject to preservation efforts at another time or by other members of the same group.“ (in: Stern, Stevenson 2006, 141)

238 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS Eine Frau meinte, man solle mit den Schildern im Ort anfangen und fragte die Versammelten, warum diese alle nur auf Englisch seien? Sie wünsche sich zumindest eine zweisprachige Schilderwelt in Ulukhaktok. Sprachunterricht auch für Erwachsene (Kinder in der Schule hatten Inuinnaqtun Unterricht) einzuführen, schlug eine weitere Frau vor. Vor allem hinsichtlich der neuen Änderungen der Sprachstruktur und den damit einhergehenden Unsicherheiten beim Schreiben sei dies wichtig. Man könnte eine Radioshow in Inuinnaqtun anbieten und Live-Lesewettbewerbe („on the air“) für alle Alterstufen über den lokalen Radiosender organisieren.259 Familienaktionen wie Wortwettbewerbe oder Geschichtenerzählen in Inuinnaqtun wäre eine weitere Möglichkeit. Eine der Damen schien sich die Sache wirklich zu Herzen zu nehmen und sprach die meiste Zeit in Inuinnaqtun, so dass ich kein Wort verstand. Ich hatte Jo vorher gefragt, ob das Treffen in Englisch oder Inuinnaqtun stattfinden würde, und sie hatte mir zugesichert, sie würden in Englisch reden. Nach einiger Zeit fragte ich mich allerdings, ob die Frauen vielleicht nur aus Höflichkeit mir gegenüber nicht in ihrer Sprache Gedanken austauschten.

An einem Abend organisierte Jo eine „Ladies Night“ im Katimavik. Ziel dabei war, möglichst viele Frauen, egal welchen Alters, zu einem gemeinsamen Spiel-, Nähund Bastelabend einzuladen, an welchem Geschichten erzählt und traditionelle Fertigkeiten weitergegeben werden konnten. Als ich den großen Versammlungsraum betrat, hatten bereits einige Damen auf den gemütlichen Sofas im Kreis Platz genommen. Lautes Stimmengewirr aus Inuinnaqtun und Englisch empfing mich. 259 Jo setzte diese Idee wenige Tage später in die Tat um. Es gibt in Ulukhaktok eine kleine Radiostation, untergebracht in einem alten Trailer. Wichtigstes Radioprogramm schien das wöchentliche Bingo Spiel zu sein. Ähnlich wie in der Lotterie werden dabei weiße Kugeln in einer Maschine durch die Luft gewirbelt und ergeben unterschiedliche Zahlenkombinationen, die dann über Radio in Englisch und Inuinnaqtun bekannt gegeben werden. An Bingo-Abenden sind die Straßen von Ulukhaktok wie leer gefegt, da alle zu Hause vor ihren Radios sitzen und entsprechende Bingokarten ausfüllen. Jo nahm mich mit in die Radiostation, um dem Wettbewerb live beiwohnen zu können. Auf dem Tisch in der Station stapelten sich CDs von Johnny Cash und anderen Westernsängern, die populärste Musikrichtung im Ort. Die Musik wurde über ein einfaches Mikrofon übertragen, das die „Radiosprecherin“ an den Lautsprecher des altmodischen CD Spielers hielt. Jo stellte den Wettbewerb vor und lockte mit Preisen in Form von mehreren Litern Benzin: ein teurer Schatz so weit im Norden für viele, die auf ihre Schneemobile zur Jagd angewiesen sind. Es riefen tatsächlich einige Personen an, die eine Geschichte zu ihrer „Lieblingssommeraktivität“ (so das vorgegebene Thema) auf Inuinnaqtun zum Besten gaben. Die Erzählungen müssen teilweise sehr lustig gewesen sein, denn die aufmerksame Zuhörerschaft (bestehend aus Jo und zwei Moderatoren) in der engen Radiostation brach hin und wieder in lautes Gelächter aus.

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Jo begrüßte mich herzlich, die Damen nickten mir freundlich zu, und einige forderten mich auf, bei den Snacks zuzulangen, die sich auf einem langen Tisch stapelten. Ich schenkte mir gerne einen heißen Tee ein, war jedoch zurückhaltend bezüglich typischer Inuit-Essensangebote. Neben einem großen Stück rohem Fleisch, das aus einer Einkauftüte ragte, gab es rohen und geräucherten Fisch unterschiedlichster Altersklassen. Ein dickes Stück Speck, ein Topf Suppe und frisches Bannock waren ebenfalls im Angebot. Ein Ulu lag bereit, um sich mundgerechte Stücke von den unterschiedlichsten Köstlichkeiten abzuschneiden. Jo hatte am Tag vorher einen Mann engagiert, der vom Airforce Lake260 einen Eimer voller Eis geholt hatte. Vor allem die Elders liebten so genannten Eistee beziehungsweise Eiswasser. Ich konnte mir nicht erklären, worin der Unterschied zu dem Wasser aus dem Hahn bestand, welches aus dem gleichen See kam. Nachdem sie sich ordentlich gestärkt hatten, waren die Frauen über ihre Handarbeiten gebeugt und eifrig ins Gespräch vertieft. Inuinnaqtun und englische Wortfetzen erfüllten den Raum. Eine lachende, lustige Runde. Einige konnten es sich nicht verkneifen und liefen interessiert durch den Raum, um die Handarbeiten anderer Damen zu begutachten, Geschichten dazu zu erzählen und anerkennend mit dem Kopf zu nicken. Ich hatte die Druckschablonen aus meinem Printworkshop dabei und erntete ebenfalls Anerkennung für meinen Entwurf. Jo spielte (nachdem sie innerhalb kürzester Zeit einen neuen Reißverschluss in ihren Parka eingenäht hatte) mit Kindern und Jugendlichen auf dem Boden in einer Ecke des Raums Brettspiele und puzzelte mit ihnen um die Wette. Ich verstand viele der Geschichten der Elders nicht, da sie auf Inuinnaqtun erzählt wurden, aber es war trotzdem spannend ihnen zu lauschen. Nicht selten brachen alle gemeinsam in schallendes Gelächter aus, so dass sich viele vor Lachen den Bauch hielten und mühsam nach Luft schnappten. Oftmals konnte ich nicht anders und musste einfach mitlachen.

Der Einfluss technischer Errungenschaften des Südens und der damit einhergehenden Vorstellungen und Lebensweisen scheint Haltungen, Vorlieben und Abneigungen der Menschen des Nordens zu verändern. Richard Condon, ein Anthropologe, der lange in Ulukhaktok mit den Menschen lebte,261 zitiert einen Bewohner der Gemeinde: 260 Der Airforce Lake ist ein See in der Nähe der Gemeinde, aus welchem seit 1985 mit Hilfe einer Pumpstation das Trinkwasser für die Gemeinde gewonnen wird. Angeliefert wird das kostbare Gut mit Hilfe eines großen Wassertanklasters, der von Haus zu Haus fährt, um Frischwasser zu bringen und Brauchwasser abzuholen. 261 Jo lieh ein Buch von ihm und erklärte, darin würde ich sicherlich wertvolle Informationen zu Ulukhaktok und die dort lebenden Menschen finden. Sie erklärte mir, Condon sei einer der wenigen Forscher gewesen, der in der Gemeinde sehr beliebt gewesen war. Den Inhalten aus seinem Buch dürfte ich Glauben schenken, denn Condon genoss das Vertrauen der Menschen. Im Versammlungsraum des Hamlets hing groß ein Portrait des Mannes, der 1995 während einer seiner Feldforschungsreisen spurlos verschwand.

240 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Do you notice that it seems like people don’t visit anymore? Since everybody has a TV, people don’t visit as much anymore. It used to be that people would come over and visit and stay for a long time and talk and have tea. And almost everybody would have food, too. Now it’s like people can come over for a little while, they watch TV, maybe have tea, and then they leave. Since everybody’s watching TV, they hardly talk about anything either.“262

Manche Gebräuche, die den Menschen einst lieb und teuer waren, scheinen heute vor allem durch Sozialprogramme (wie beispielsweise die Angebote der Aboriginal Healing Foundation) oder groß angekündigte Gemeindeereignisse aufrechterhalten zu werden. Viele, vor allem jüngere Menschen, erklärten mir, es sei ihnen zu anstrengend, wochenlang auf die Jagd zu gehen. Sie hätten sich an die Annehmlichkeiten des Hauses und des Einkaufsladens gewöhnt. Zur körperlichen Betätigung gibt es in Ulukhaktok neben dem bereits erwähnten Golfplatz eine Eishalle, eine Curlingarena, im Sommer ein Baseballfeld und die Turnhalle in der Schule. Im Hamlet wurde ein eigenes Büro für Sport- und Freizeitaktivitäten geschaffen, und ein entsprechendes Budget steht für die Organisation sportlicher Wettkämpfe und anderer Freizeitgestaltungsmaßnahmen zur Verfügung. Vor allem die ältere Generation der Gemeinde scheint gemischte Gefühle und Ansichten hinsichtlich dieser Entwicklungen zu haben: „Recreation has been mostly good for the community. The only bad thing is that it makes people forget about what they used to do before they had all these facilities. Now, they’re not doing all the things they used to do, and it takes away the closeness. It’s too competitive now.“263

Zum Umgang mit Gewalt Es dauerte eine ganze Weile, Jo näher kennenzulernen. Sie scheute sich nicht, mir alle ihre Vorhaben und Pläne im Rahmen ihrer Tätigkeit als AHF Koordinatorin mitzuteilen. Von ihr persönlich erfuhr ich jedoch anfänglich nichts. Erst als ich längere Zeit in der Gemeinde wohnte, schien sie Vertrauen zu fassen und erzählte mir von ihrer Kindheit und von alten Geschichten ihrer Großmutter. 264 Jo wuchs in

262 In: Condon 1996, 197 263 In: Ebd., 194 264 Clifford Geertz starb während meines Aufenthalts in Ulukhaktok (am 31.10.06). Diese Nachricht erschütterte mich, auch wenn ich den Achtzigjährigen nur kurz kennengelernt hatte. Ich erzählte Jo von seinem Tod, meiner Traurigkeit darüber und von meiner persönlichen Geschichte mit Geertz und seinem Werk. Sie hörte mir ruhig zu und begann, Geschichten von ihrem Vater zu erzählen (der, ich wie auch erst später von anderen erfuhr, wenige Wochen vorher verstarb). Im Nachhinein hatte ich den Eindruck, als wäre

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(oder besser auf dem Land um) Ulukhaktok auf und sprach fließend Inuinnaqtun und Englisch. Im Sommer, so erklärte sie mir, hielt sie im Büro nichts. Von Mitte Mai bis Mitte August sei es rund um die Uhr hell, und sie würde auf ihr Camp ziehen. Dort lebte sie dann mit ihrer Familie (bestehend aus drei jugendlichen Mädchen und ihrer Mutter) nach alter Tradition auf dem Land. Jo sorgte sich vor allem sehr um ihre älteste Tochter. Oftmals, wenn diese im Büro anrief, ließ sie blitzartig alles stehen und liegen und eilte zu ihr nach Hause. Es war, als hätte sie Angst um sie. Ihr Mann sei erst letztes Jahr gestorben, erwähnte sie knapp, vermied sonst aber dieses Thema. Auf ihrem Schreibtisch standen neben selbst gebastelten, bunten Papierblumen Familienbilder aus glücklichen Tagen. Eine der beiden Polizistenfamilien und Mike, ein Highschoollehrer in Ulukhaktok, wurden mir wichtige Gesprächspartner und Informanten. Sie lebten seit fast zwei Jahren im Ort und hatten aufgrund ihrer Funktion Einblicke in Zusammenhänge, die mir noch völlig fremd waren. Von ihnen erfuhr ich mehr über Jo, und manches Verhalten der zerbrechlich wirkenden Frau verstand ich erst dann. Jos (zweiter) Mann, so erfuhr ich, habe sich mit seinem Jagdgewehr erschossen. Jos älteste Tochter (das einzige Kind aus erster Ehe) habe ihn gefunden. Die Achtzehnjährige war zu dieser Zeit in Mikes Klasse. Er erzählte mir, sie sei seit diesem Vorfall nicht mehr zurück in die Schule gekommen. Offensichtlich wurde Jos Mann in Trunkenheit oftmals ausfällig, schlug seine kleine, zierliche Frau und richtete sie furchtbar zu. Mike erzählte mir, Jo habe eine Zeitlang in der Bücherei der Schule gearbeitet und sei oft mit blauen Flecken und geschwollenem Gesicht zur Arbeit gekommen. Noch bei der Beerdigung ihres Mannes sei sie gezeichnet gewesen von seinem letzten Übergriff. Dennoch seien am Grab nur Lobeshymnen über ihn gesprochen worden. Während Gesprächen mit Jo vermittelte sie mir immer das Gefühl, sie habe einen sehr liebevollen Mann und Familienvater gehabt und vermisse ihn sehr. Sie bat mich sogar, ihr ein Familienfoto mit ihm als Desktop Hintergrund auf ihrem Computer einzurichten.

Die Tatsache, dass mit Tätern gewaltvoller Übergriffe in Inuitgemeinden völlig anders umgegangen wird, als in westlich zivilisierten Kreisen üblich, stellt für Polizisten, Sozialarbeiter und Richter, die in diesen Gemeinden tätig sind, neben Verwunderung eine große Herausforderung dar. Ross berichtet dazu: „Those who work in the North are regularly astounded by the extend to which Native people routinely welcome back into their midst people who have done them significant harm. Most communities stand behind those people and regularly ask the court not to take them to jail in the first place. Even when they agree that a particular offender has to go out because of the meine eigene Verletzlichkeit, Traurigkeit und Offenheit darüber ein Schlüssel zu einem tieferen Kontakt mit Jo gewesen.

242 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS risk he poses to the safety of others, they appear to be almost entirely without rancour or blame. On the contrary, there are often demonstrations of heartfelt regret, as if they are sorry that things went so far wrong that no other option remains.“265

Grund für den Wunsch, Täter nicht zu strafen, scheint ein Weltbild zu sein, das auf Ganzheitlichkeit und Interdependenz fußt und wenig mit unserem linearen Verständnis von Ursache und Wirkung, Verantwortlichkeit, Schuldzuweisung und Strafe zu tun hat. Es hat den Anschein, als würden die Inuit kriminelle Handlungen im Zusammenhang eines größeren Kontexts erklären, in welchem ein anderer Umgang mit diesen geboten scheint, als zu strafen. Menschen handeln nicht bösartig, weil sie schlechte Menschen sind und werden nicht zu gutem Handeln erzogen, indem sie bestraft werden, sie sind vielmehr Teil eines spirituellen, naturellen und sozialen Gesamtsystems und bedürfen der Heilung beziehungsweise Ausrichtung, Wiedereingliederung in dieses. Diese Wiederherstellung ist nicht nur wichtig für die Wohlfahrt der jeweiligen Person, sondern für die Gemeinschaft als Ganze. Im Zuge der Selbstverwaltung gibt es vermehrt Bestrebungen in Kanada, in Ureinwohnergemeinden, das im Zuge der Kolonialisierung und Assimilation eingeführte Konzept der retribrutive justice (Vergeltung) auszutauschen gegen sogenannte restorative justice (Wiederherstellung) Programme. In vielen Fällen scheint dies vor allem hinsichtlich von Jugendkriminalität vielversprechend und effektiv zu nachhaltigen Verhaltensänderungen zu führen. Manchmal jedoch scheint hier auch Vorsicht geboten, denn die Probleme, mit denen sich die Menschen heute konfrontiert sehen, sind komplexer und angesichts des Drogen- und Alkoholkonsums drastischer als einst. Zudem, so stellt Ross heraus, fällt in Zeiten fester Siedlungen und staatlich organisierter Sozialprogramme der natürliche Kontrollmechanismus unerwünschten Verhaltens durch die ständige Bedrohung zu verhungern weg. Menschen, die sich nicht eingliedern konnten oder wollten, stellten einstmals eine Gefahr für die Gemeinschaft dar. In Folge dessen mussten sie befürchten, in Isolation und Verbannung nicht mehr vom gemeinsamen Jagderfolg profitiern zu können, was in den meisten Fällen den sicheren Tod bedeutete. Heute können Gewalttäter ohne weiteres zurück in ihre Gemeinden, ohne befürchten zu müssen, den Hungertod zu erleiden.266 Es war interessant (manchmal auch nicht ganz leicht) zu beobachten, dass die persönliche Geschichte von Jo die Arbeit in der Gemeinde nicht unbeeinflusst ließ: Der Polizeibeamte erzählte mir, wenige Tage bevor sich Jos Mann das Leben nahm, sah man Ulukhaktok plakatiert mit Postern über Gewalt in Familien im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch. Eine Vortragsreihe zu diesem brisanten und hoch aktuellen Thema sollte in den 265 Ross 2006, 67 266 Ebd., 152 ff

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nächsten Tagen stattfinden. Er erwähnte, er habe sich sehr gefreut, dass endlich einmal besprochen und öffentlich gemacht werde, was hier hinter verschlossenen Türen ständig geschehe und sonst nur in Form von traurigen grünen und blauen Flecken ans Tageslicht käme. Nach dem Selbstmord von Jos Mann jedoch wurde der Vortrag bis auf Weiteres abgesagt. Seitdem habe keiner mehr davon gesprochen. Das Thema „Gewalt in Familien“ wurde weiterhin tabuisiert. Während einer meiner ersten Tage bei Jo im Büro wurde ein dickes Paket mit Broschüren dort abgegeben. Auf deren Titelblatt stand: Family Violence Awareness Week. Violence is not part of our culture. Die Person, die das Paket ablieferte, erklärte, sie wüsste nicht, wohin damit und sie glaube, Jo und ihr Programm sei der Ort, für den die Unterlagen gedacht waren. Das gesamte Paket lag, seit es das Büro erreicht hatte, unberührt im untersten Fach eines Regals. Ich konnte nur erahnen, wie schmerzhaft es für Jo sein musste, ein Projekt zum Thema Gewalt in Ulukhaktok durchzuführen. Ich hatte manchmal den Eindruck, als laufe sie diesem Thema und sich selbst davon. An manchen Tagen sogar buchstäblich: sie rannte permanent aus dem Büro und kam kurze Zeit darauf wieder, nur um wenig später wieder hektisch aufzuspringen, um irgendjemanden zu treffen. Alle Versuche meinerseits, Workshops zu den Themen Identität, Sucht, Kommunikation und Gewalt anzubieten, schienen keinen Anklang zu finden – sie wurden jedenfalls nicht weiter verfolgt und verliefen im Sand. Für mich eine schwere Gradwanderung: Wie viel darf ich mitmischen und selbständig etwas organisieren und wie viel Selbstverantwortung muss ich den Menschen zugestehen? Ab wann mache ich mich schuldig zuzusehen und ab wann mache ich mich schuldig, meine Vorstellungen ohne Rücksicht auf kulturelle Selbstbestimmung umzusetzen?

Die eigene Betroffenheit als Opfer von Gewalt in Familien und darüberhinaus die Betroffenheit der gesamten Gemeinde legte einen Mantel des Schweigens um dieses mit Angst und Scham bedeckte Thema. Alkoholmissbrauch und Gewalt scheint ein heißes Eisen in Ulukhaktok zu sein, das in Eis und Schnee sicher begraben bleibt. Der Schmuggel von Alkohol ist ein offenes Geheimnis. Alle wissen um die Verletzungen resultierend aus Gewaltausbrüchen in Trunkenheit. Einer der Polizeibeamten erzählte mir, Kinder würden vernachlässigt. Einmal sei es schon vorgekommen, dass eine Mutter ihr Kleinkind aus dem Tragegurt unbemerkt „verloren“ hätte und es erst am nächsten Morgen erfroren im Ort aufgefunden worden sei. Er fuhr fort, er könne oft gar nicht glauben, dass liebenswürdige, friedfertige Menschen aus der Gemeinde unter Alkoholeinfluss zu unberechenbaren Gewalttätern würden.267 Eine Inuit Elder erzählte mir ernst, Alkohol habe eine Persönlichkeit. Er 267 Die Polizei im Ort übernimmt derzeit vornehmlich Sozialarbeiterfunktion. Seit Jahren ist die Sozialarbeiterstelle in Ulukhaktok unbesetzt. Die meisten, so erfuhr ich, hielten es auch nicht länger als zwei oder drei Monate aus. Die sozialen Probleme seien überwältigend und die Kultur für die meisten zu befremdend. Dazu käme der Faktor der Isolation und damit zusammenhängend, fehlende Unterstützungsmechanismen für die be-

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sei wie ein böser Geist, der die Menschen erfasse und überwältige. An anderer Stelle hörte ich, die Menschen würden versuchen, von Alkohol auf andere Rauschmittel wie Marihuana umzusteigen, in der Hoffnung, dadurch weniger aggressiv zu sein. Geschichten vom Weg in die Moderne Eines Tages lud mich Jo völlig unerwartet zu ihrer Mutter nach Hause ein, da sie mir, so erklärte sie, bei meiner Forschung weiterhelfen wollte und ihre Mutter über einen großen Wissensschatz verfügen würde. Englisch spräche sie allerdings nicht, aber Jo wolle für mich übersetzen. Beim Eintritt in das geräumige Wohnzimmer grüßte ich die alte Frau, die auf einem sichtlich häufig genutzten Sofa saß und sorgsam Stücke aus einem großen Stück Leder ausschnitt. Der Fernseher lief und erfüllte den Raum mit einem Stimmengewirr in Inuktitut (APTN 268). Während Jo mir eine Tasse Tee einschenkte, ließ ich den Blick durch den Raum schweifen. Alles war ordentlich und sauber. Das Wohnzimmer ging nahtlos in die Küche über; überhaupt standen alle Türen offen. Die Einrichtung war auf das Nötigste reduziert. Zwei Bilder hingen an den Wänden. Eines zeigte Jos Mutter und ihren Mann und das andere ein kleines Mädchen. Beide Bilderrahmen waren mit knallbunten Stoffstücken verziert. Der Fußboden bestand aus dicken Plastikfliesen und ermöglichte so die schnelle Reinigung nach der Verarbeitung von Fleisch oder wenn viele Menschen Schmutz und Schnee von draußen herein trugen. Ich vermutete, dass Jos Mutter angesichts der großen Familie meist das Haus (sprich diesen Raum) voller Menschen hatte. Jos Neffe lebte mit der alten Frau ständig hier. Er war ebenfalls anwesend und gerade dabei, sich einen großen Topf mit Essen auf dem Herd zu wärmen, bevor er nach draußen ging, um die Eingangstreppe von den Schneemassen zu befreien. Gleich neben Jos Mutter auf einem kleinen Tisch in der Ecke des Raumes befanden sich das

lastende Arbeit innerhalb einer Gemeinde, in welcher der Sozialarbeiter immer Außenstehender bleibt. – Weiterhin erschwerend scheint die Tatsache zu sein, dass Sozialarbeiter in Kanada sehr viel Macht über die ihnen anvertrauten Menschen haben. So können sie beispielsweise Kinder aus (wie sie meinen) dysfunktionalen Familien nehmen und in die Betreuung von Pflegeeltern geben. Dies hat zur Folge, dass die Menschen Suchtproblematiken vor den Experten verstecken und das Vertrauen Sozialarbeitern gegenüber gering ist. 268 APTN steht für Aboriginal Peoples Television Network und ist eine Fernsehstation, die seit 1999 Anliegen von Ureinwohnernationen für diese in deren jeweiligen Sprachen übermittelt. Ich erlebte es als seltsamen Zufall, dass gerade Dennis Allen in einer Fernsehshow zu traditioneller Kochkunst über den Bildschirm flimmerte, als ich bei Jos Mutter zu Gast war.

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Telefon und eine altmodische Funkradiostation, wie sie noch bis vor wenigen Jahren hier benutzt wurde (auf dem Land nach wie vor benutzt wird). Ich nahm auf dem Sofa Platz und wusste zunächst nicht so recht, was ich sagen sollte. Jo unterhielt sich mit ihrer Mutter, die kaum von ihrer Arbeit aufsah, in Inuinnaqtun. Ich bemerkte, dass in ihrem Sprachfluss immer wieder englische Begriffe vorkamen. Jo erklärte mir später, als ich sie daraufhin ansprach, ihre Mutter hinge an manche Inuinnaqtun-Worte sogar die englische Verlaufsform „-ing“ an, da es ein Äquivalent in ihrer Sprache nicht gäbe. Eine ganze Weile saß ich da und wartete ab, was kommen würde, bis schließlich Jos Mutter ihre Lederstücke beiseite legte und begann, einige Geschichten auf Inuinnaqtun zu erzählen. Jo übersetzte so gut sie konnte. Vor vielen Jahren, so Jos Mutter, als mehr und mehr Kabloonaq begannen, Handel mit den Inuit zu treiben, schenkte eine Frau ihrer Familie Mehl und Tee. Keiner wusste so recht, was damit anzufangen sei. Von Bannock hatte bisher noch nie jemand gehört. Alle standen ratlos vor der Schüssel Mehl und begannen, Wasser für den Tee zu erhitzen. Eine Frau warf einige Teeblätter in das kochende Wasser und rührte diese heftig durcheinander. Alle warteten gespannt auf den Effekt, der sich ergab, wenn man, wie damals üblich, Blut in eine Suppe einrührte: die Flüssigkeit dickte an. Nachdem nichtsdergleichen passierte, begann die Köchin mehr und mehr Tee hinzuzufügen, bis die gesamte Menge Tee im kochenden Wasser immer noch nicht zur erwünschten Wirkung führte. Jos Mutter lachte herzhaft über diese Geschichte, die ihr heute so unglaublich erschien, da doch nun jedes Kind wisse, was Tee und Bannock sei. Dies schien Jo an eine Geschichte aus ihrer Kindheit zu erinnern, und sie erzählte von ihrem Erlebnis, als sie das erste Mal als Kind Cola in der Dose zu trinken bekam. Sie war mit ihrer Familie gerade von einem längeren Aufenthalt auf dem Land nach Ulukhaktok zurückgekehrt. Während sie als Kinder damit beschäftigt waren, das Zelt aufzuschlagen, waren ihre Eltern, zum Coop gelaufen. Sie wollten dort Felle, die sie erjagt hatten eintauschen. Ihr Vater brachte ihnen aus dem Laden einige Dosen Limonade und Cola mit und erklärte, das sei etwas ganz Neues, was er selbst noch nie gesehen hätte. Als er zunächst eine Dose öffnete, um das Getränk zu probieren, bevor er es seinen Kindern weiterreichte, schüttelte er sich entsetzt und erklärte, dieses Getränk sei viel zu stark, man müsse es wohl verdünnen, damit es trinkbar sei. Somit, so schloss Jo laut lachend ihre Geschichte, habe sie ihre ersten Colas  halb Cola, halb Wasser  getrunken. Einmal vor langer Zeit, so Jos Mutter, seien Inuittrapper (Fallensteller) auf der Jagd nach Seehunden auf dem Festland gewesen und auf einige Kabloonaq gestoßen. Gerade als sich die beiden Gruppen freundlich grüßten und neugierig musterten, zündete sich einer der Kabloonaq eine Zigarette mit einem Streichholz an. Die Inuitjäger erschraken und Angst bekamen, denn sie befürchteten, dass die Fremden sie mit ihrer „Feuerkunst“ in Brand setzten wollten. Nur ein mächtiger Zauber konnte in der Lage sein, aus so einem kleinen Stückchen Holz Feuer zu entfachen. Tabak hatten sie auch vor der Ankunft der Weißen hier nicht gekannt. Metalle seien auch erst mit den großen Expeditions- und Handelsschiffen in den Nor-

246 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS den gelangt. Die Schneiden der einstigen Ulus waren aus Kupfer, das sich in den Steinen der Region befand. Der Griff wurde aus dem großen Geweih des Karibus gefertigt. 269 Eine Frage, die mich schon lange beschäftigte, hatte mit den ersten Missionaren und der schnellen Verbreitung des christlichen Glaubens in der Arktis zu tun. Ich fragte Jo beziehungsweise ihre Mutter, warum sie scheinbar so unbefangen den christlichen Glauben annahmen. Sie erklärte, die ersten Missionare hätten kleine Kirchen errichtet und begonnen, Geschichten aus der Bibel zu erzählen. Zu dieser Zeit des ersten Kontakts mit Kabloonaq änderte sich so viel im Leben der Inuit – der Glaube sei einfach ein Teil davon gewesen. Ihr Mann sei Helfer des Pfarrers in Ulukhaktok gewesen und dafür sogar auf eine besondere Schule gegangen. Nach und nach hätten immer mehr Inuit den christlichen Glauben angenommen, es sei ein Schneeballeffekt gewesen. Der starke Gemeinschaftsbezug der Inuit, so überlegte ich später, hatte sicherlich zur raschen Verbreitung des Christentums beigetragen. Jo erzählte mir grinsend, dass sie sich erinnere, als Kinder heimlich im hinteren Teil der Kirche mit den Zahninstrumenten des Pfarrers gespielt zu haben. Die Missionare seien nämlich die ersten Zahnärzte vor Ort gewesen. Dies zwar mehr schlecht als recht, aber immerhin konnten sie aufgrund eines Crashkurses, an dem sie vor ihrem Missionseinsatz im Norden teilnahmen, Zähne ziehen und so die schlimmsten Schmerzen lindern (später erzählte mir eine andere Frau, Pfarrer seien auch manchmal Geburtshelfer gewesen). Eine Frau, die ich schon öfters in der Schule getroffen hatte und die sich mir dort als die Bibliothekarin vorstellte, stand plötzlich mit ihrer Tochter im Raum. Gemeinsam mit Jos Neffen genoss sie das Essen, das der junge Mann in einem großen Topf erwärmt hatte. Es handelte sich um große Knochenstücke mit etwas Fleisch daran – ohne jegliche Beilage.270 269 Immer wieder hörte und las ich Geschichten davon, dass die Inuit sich die modernen Gerätschaften der Entdecker nicht anders erklären konnten als magisch und von besonderen Kräften, die nur Schamanen besitzen können. „The Inuit of that area thought the two white men [Stefansson und Natkusiak oder Billy Banksland] were shamans with great powers. The way they exhibited their firearms and other hunting equipment exemplified to the Inuit that they had great powers, especially when they tried out the telescope. They were wonderstruck. After a while they became wary and started talking among themselves about the great powers the white men supposedly possessed. The Inuit concluded that the white men had great powers and considered their equipment as taboo.“ (Condon 1996, 50) Auch Nelson Graburn berichtet: „Many Inuit later confessed to me that at the time of my first sojourns in the Arctic, they still believed that qallunaat were not like them as human beings but were a different, perhaps more powerful kind of entity.“ (in: Stern, Stevenson 2006, 140) 270 Die Gewohnheit, einfach unangekündigt und ohne Klopfen ein Haus zu betreten und sich darüber hinaus mit Essen und Trinken selbst zu bedienen, wird in Peter Kulchyskis six gestures (in: ebd.) ausführlich beschrieben: „local people visiting one another simply walk in, sometimes calling out the name of the occupant they want to visit, or else simply making themselves at home until the occupant chooses to appear. when i ask in-

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Der junge Mann kümmerte sich nach dem Essen um den Abwasch. Jos Mutter erklärte, sie sei nun fertig mit Reden und wolle noch zum Einkaufen gehen.

Wie bereits mehrfach erwähnt, scheint der Aberglaube und die Vorstellung einer Geistwelt nach wie vor die „wirkliche Wirklichkeit“271 der Inuit stark zu färben. Dies war auch in Ulukhaktok der Fall: Jo fragte mich eines Tages geheimnisvoll, ob ich schon etwas von den Zwergen gehört hätte, die beinahe unbemerkt auf dem Land um Ulukhaktok wohnten. Sie fuhr fort, es handle sich dabei um eine besondere Menschenart, die außergewöhnlich kleinwüchsig sei und immer wieder auf der Jagd in Schnee und Eis zwischen Steinhaufen gesichtet würde. Diese Menschen seien zwar klein, aber doch unglaublich stark. So könne ein erwachsener Mann leicht ein ganzes Karibu über die Schultern gelegt tragen. Überreste von riesigen Langhäusern aus Stein auf Victoria Island zeugten von der Kraft der Zwerge. Große Steinquader fände man da aufeinander geschichtet, und keiner wüsste so genau, für was die Zwerge diese Häuser bauten. Ein Cousin von ihr habe sogar einmal einen solchen Zwerg hier im Ort gesehen: eingehüllt in Fellkleider und mit einem großen Bogen bewaffnet. Er sei dann aber plötzlich verschwunden. Das könnten sie, diese Wichte: denn sie seien ja so klein, dass sie sich einfach schnell hinter einem Schneehaufen oder Steinen verkriechen könnten. Jo erzählte, sie habe von einer Geschichte gehört, wo eine Gruppe umherziehender Inuit ein Baby dieser kleinen Menschen, verpackt in warme Felle in Eis und Schnee, verlassen vom Rest des Stammes, gefunden habe. Einige Frauen hatten sich dem kleinen Wicht angenommen. Einige Wochen später, als die Frauen einen Moment lang das Kind unbeaufsichtigt ließen, um frische Felle aus dem Zelt zu holen, war das Baby verschwunden und ward nicht mehr gesehen. Angeregt fuhr sie fort: Während eines Jugend-Sommerlagers im vergangenen Jahr habe ein Junge einen solchen Zwerg mitten in der Nacht im Zelt stehen sehen und sei furchtbar erschrocken. Er habe so laut geschrien, dass das ganze Lager aufwachte. Der Zwerg sei aber längst über alle Berge gewesen. Nachdenklich fuhr sie fort: Wenn die Anthropologen und Forscher im Süden von diesen Menschen hören würden und Beweise für deren Existenz fänden, wäre es sicher-

uit elders in pangnirtung [Inuitsiedlung auf Baffin Island mit etwa 1.400 Einwohnern] how this came to be, they reply quite sensibly that one could not ,knock‘ on a tent or igloo.” (161) An anderer Stelle heißt es, man könne lange darauf warten, bedient oder aufgefordert zu werden, zuzugreifen, denn „when visiting in pangnirtung, it is polite to find a cup, pour some tea, cut or break off some pulauga [bannock in pangnirtung], try some of the seal or char or muktuk on the floor, and perhaps smile a thank-you as one enjoys it.“ (163) [Anmerkung zu den Zitaten: Die Kleinschreibung ist im Original.] 271 Geertz 1983a, 77

248 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS lich nur eine Frage der Zeit, bis sie kämen und den Norden mit ihren Forschungsvorhaben überschwemmten.272 Flüsternd erläuterte mir Jo anschließend die spirituelle Bedeutsamkeit von Inuitnamen. Wenn ein Kind geboren wird, bekommt es nicht nur den Namen, den die Eltern ihm geben. Die ganze Familie tritt zusammen und gibt dem Neugeborenen den Namen eines Verstorbenen. Dieser Name kann über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden. So kommt es vor, dass einige Familienmitglieder die gleichen Inuinnaqtun Namen haben, was manchmal zu Verwirrungen führt. Die Menschen, die einen Namen teilen, verbindet eine Art Seelenverwandtschaft, erläuterte Jo. Der Geist des Verstorbenen begleitet und beschützt den jungen Menschen, bis dieser etwa 20 Jahre alt ist und dann seine eigene Identität soweit ausgebildet hat, dass er den Schutzgeist nicht mehr braucht. Jo fuhr fort, als das Kind ihrer Nichte vor einigen Wochen auf die Welt kam, habe die Familie beschlossen, dem Neugeborenen den Namen ihres verstorbenen Mannes zu geben. Das Kind jedoch sei ständig krank und schwächlich gewesen, und man habe daraus geschlossen, dass der Geist des Verstorben aus irgendeinem Grund nicht in den jungen Menschen fahren wollte. Daraufhin sei die Fami-

272 Condon schreibt von den sogenannten Dorset Menschen, die als direkte Abkömmlinge der Paläo-Eskimos eine der harschen Umwelt noch besser angepasste Kultur entwickelten (der Übergang von der Paläo- zur Dorsetkultur vollzog sich um 800-500 v. Chr.). Die orale Tradition der Inuit ist voller Geschichten über sogenannte Tunnit Menschen („People of the distant past“ – gemeint sind wohl die Dorset), die über viele Generationen weitergegeben wurden. Aufgrund dessen wird stark vermutet, dass direkter Kontakt zwischen den moderneren Inuit und den Dorset stattgefunden hat. Die Faszination für die Menschen, die schon in der Arktis lebten, bevor die Inuit kamen, ist zweifellos groß und spiegelt sich in unzähligen Geschichten wider. Eine besondere Art der Tunnit scheinen wohl die Inuagulgit gewesen zu sein. Frank Kuptana erzählt in Condons Buch ähnliche Geschichten wie Jo: „Those large houses were built by people known as Inuagulgit – small people with big houses. People from around here refer to them as Inuagulgit. Those people are still around, at places like Quaraukat. Their houses are still being built. People here can hear them making noises sometimes. They were also known as Kangiryuarmiut or Pulayuqat – small people. Their bows and arrows were too big for them. They would drag them on the ground when they went hunting caribou. That’s how the elders told us stories about them. [...] Once some people were walking and came across them and startled them. Everyone left into the ground, those Pulayuqat. They left behind a baby, and those people who were walking picked up the baby. They started to kiss the baby and said that the baby had a strong scent of baby smell, which left those people who kissed it smelling like a baby. They put the baby back down on the ground and discussed the baby and the Pulayuqat. The next thing they knew, the baby was gone. Those people who had gone had picked their baby up. They say the baby was a very cute baby, too.“ (Condon 1996, 10)

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lie erneut zusammengetreten, und man habe sich auf einen neuen Namen geeinigt. Sobald die Mutter das Kind damit angesprochen habe, sei es ihm besser gegangen. 273

Halloween und Rememberance Day Der zwischenmenschliche, vor allem inter-familiäre Kontakt scheint den Menschen nach wie vor wichtig zu sein. Obwohl sie sich nicht selten vom „modernen Geschichtenerzähler“, dem Fernseher, gefangen nehmen lassen, gab es doch auch in der kurzen Zeit meiner Anwesenheit immer wieder Veranstaltungen, an welchen die gesamte Gemeinde zusammenkam. Eine davon war an Halloween, ein hauptsächlich anglo-amerikanisches Volksfest, das mit der ursprünglichen Kultur der Inuit nicht das Geringste zu tun hat. Am Nachmittag war Spiel und Spaß für die Ältesten der Gemeinde angekündigt. Am Abend sollte es Programme für die Kinder und später am Abend für die Jugendlichen geben. Ich betrat das Gemeindehaus und befand mich in einer großen Halle mit Bühne. Eine kleine Küche mit offenem Eingang lag versteckt im hinteren Teil. Auf einem Tisch standen eine große Kaffeemaschine, Schüsseln mit Knabbergebäck und seltene Köstlichkeiten wie Weintrauben, Käse und Karotten. Ich nahm auf einem der Stühle im großen Stuhlkreis Platz. Etwa 20 Elders knabberten an ihren Snacks, die sie auf Plastiktellern auf dem Schoß hielten. Einige Kinder sprangen wild durch die Halle. Ich war die einzige non-Inuit und wurde entsprechend neugierig gemustert. Zunächst hatte ich das Gefühl, zwar geduldet zu werden, aber nicht wirklich dazuzugehören. Jo ermutigte mich freundlich lächelnd, bei den Snacks zuzugreifen und zu fotografieren. Immer mehr Menschen betraten den Raum. Ein dicker Mann (ein außerordentlich guter Jäger, wie ich später erfuhr) erklomm mühsam die Bühne, schnappte sich das Mikrofon und begann,

273 Ähnlich berichtet Tookoome (1999) von seiner Namensgebung: „My grandfather died before I was born but he wanted me to have his name: Tookoome. No one knows what that name means anymore. Our name decides our nature. If a child is named after an elder, then it is believed that the nature of that elder enters and shapes the child’s character. Even if the child is named after someone who is dead, the spirit of the name giver enters the child and everyone treats the child as they had treated the name giver. My granddaughter is named Kajurjuk after my younger sister who is dead. Her spirit moves through her. She speaks and acts like my sister. To me, my granddaughter is my sister. [...] Often names come from dreams. The Inuit believe that the spirit of a dead elder may send a dream to tell parents what to name a child. Some people will not listen or will not understand. They will decide a different name. That can cause problems. A child may become sick and no one will be able to find a cure. The parents must learn to what the child’s proper name should be. Changing the name may bring the child out of the illness.“ (14)

250 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS den Ablauf des Programms für den Nachmittag anzukündigen. Nach dem Maskenwettbewerb der Elders sollte es einige Spiele geben. Auf einem Tisch mitten im Raum lag ein großer Haufen Masken und andere Verkleidungsstücke. Auf ein Kommando hin wühlten die Ältesten darin und halfen sich gegenseitig, sich möglichst lustig zu verkleiden. Gelächter erfüllte den Raum, als schließlich auch Kinder und Enkel versuchten, ihre Elders halloween-gerecht zu verpacken. Anschließend sollten sich alle in einer Reihe aufstellen. Eine Jury entschied über die gelungenste Verkleidung. „Staffel-Apfelwettessen“ und „Mit-Keks-im-Mundeinander-zum-Lachen-bringen“ stand als nächstes auf dem Programm. Die mittlerweile zahlreichen Zuschauer hielten sich den Bauch vor Lachen. Dies erfuhr noch eine Steigerung, als die älteren Herrschaften beim nächsten Spiel mit verbundenen Augen, Geschenke, die überall am Boden verteilt waren, krabbelnderweise ertasten sollten. Alles, was sie dabei fanden, durften sie behalten. Einer der Polizeibeamten kam, um nach dem Rechten zu sehen. Er sah verfroren aus und erklärte, er habe sein neues RCMP Schneemobil ausprobiert und seine Uniform sei einfach nicht für den Norden gemacht. Am Abend fand die Halloweenfeier für die jüngeren Generationen statt. Zunächst war die Kür der besten Masken geplant. Unvermittelt winkte mich der Mann, der schon am Nachmittag den Zeremonienmeister spielte, zu sich an die Bühne und fragte, ob ich in der Jury zu Wahl der lustigsten Verkleidung aushelfen könne. Dies war keine leichte Aufgabe, denn die einzelnen Verkleidungen übertrafen sich in Originalität und Kreativität. Im Anschluss an einige Spiele wurde der Raum zum Tanzen freigegeben, und die Jugendlichen konnten sich entsprechend austoben. Ich hatte den Eindruck, als sei fast die gesamte Gemeinde anwesend. Alle Spiele und Wettkämpfe wurden mit Geldpreisen ausgezeichnet, so dass jeder Gewinner mit einer entsprechenden Summe nach Hause gehen konnte. Immer wieder kamen Kinder zu mir, fragten neugierig nach meinem Namen und erkundigten sich, wo ich herkäme. Sie kannten keine Scheu, und sobald ich mich hinsetzte, krabbelten sie abwechselnd auf meinen Schoß. Besonders attraktiv schien der „Limbo“ zu sein, das Tanzen unter einem Stock hindurch, der von zwei Personen gehalten wurde und in jeder Runde etwas tiefer rutschte. Auch hier ging es um die Wette, und der oder die Beste gewann. Ich blieb noch bis zum Disco-Tanz-Teil des Abends, brach jedoch gegen Mitternacht auf, um in klirrender Kälte nach Hause zu laufen. Plötzlich  ich traute meinen Augen kaum  sah ich die Nordlichter über den klaren Nachthimmel tanzen. Kinder rannten um mich herum, als sei dieses Spektakel das natürlichste auf der Welt – war es wahrscheinlich für sie auch.

Nicht nur Halloween hat Einzug gehalten in den Norden, auch der in Kanada hoch gehaltene Remembrance Day274 wurde hier feierlich und mit großem Ernst began-

274 Der Remembrance Day wird jedes Jahr am 11.11. als Tag der Erinnerung der Opfer der beiden Weltkriege in Kanada, Australien und England abgehalten. Die Bedeutung der roten Mohnblumen, die als Anstecker an diesem Tag getragen werden, entstammt dem Gedicht eines kanadischen Militärarztes (In Flanders Fields). Mohnblumen blühten auf

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gen. Schon einige Tage vor diesem Ereignis kursierten rote Ansteckblumen in der Gemeinde, und sämtliche Schulklassen hatten sich intensiv mit dem Thema Krieg und Frieden beschäftigt. Die Gemeinde versammelte sich in der Turnhalle. Die zwei Polizisten trugen ihre Ausgehuniform und marschierten im Gleichschritt um diverse Kränze zur Erinnerung der Kriegsopfer. Dabei stampften sie kräftig mit ihren braunen Lederstiefeln auf den Boden, so dass die Sporen daran klirrten. Einige Kinder schienen davon außerordentlich beeindruckt, denn während der feierlichen Gedenkminute hörte man aus sämtlichen Ecken Kinderfüße stampfen. Einhellig stimmten alle in die kanadische Nationalhymne ein, Kinder trugen Gedichte vor, sangen Lieder oder gaben kurze Präsentationen (eine Klasse hatte sich mit dem Thema: „Frauen im 2. Weltkrieg“ auseinandergesetzt). Um den Schrecken des Krieges etwas anschaulicher darzustellen, hatte die Schule einen alten Vietnamveteran ausfindig gemacht (kein Inuk), der am Vormittag mit den Kindern einige Workshops abhielt und Fragen beantwortete. Auch er war bei der Zeremonie anwesend – und trug dabei die ihm verliehen Orden. Eine Abordnung Rangers275 versuchte, möglichst zackig im Gleichschritt, in die Turnhalle einzumarschieren. Sie trugen rote Kapuzenpullis und präsentierten ihre Gewehre, standen still oder rührten sich – je nach Kommando. Alle bemühten sich mit strenger Miene, die Kommandos ernsthaft und simultan auszuführen. Trotzdem schien der Auftritt etwas unbeholfen. Ich fragte mich, was die Inuit mit den Weltkriegen oder dem Vietnamkrieg zu tun hätten. Bis auf die DEW Line, auf deren Stationen viele Menschen vor allem zu Zeiten des Kalten Krieges Arbeit gefunden hatten, fiel mir dazu nicht viel ein, lebten doch die Menschen hier, bis vor nicht allzu langer Zeit, weitgehend unbehelligt von politischen Ereignissen der restlichen Welt.

Teambuilding oder Familientherapie? Pat hatte mich gebeten, einen Workshop zur Teamentwicklung für die Mitarbeiterinnen des Kindergartens von Ulukhaktok anzubieten, da es immer wieder Konflikte zwischen der Leitung und den vier Mitarbeiterinnen gab. Dass ein derartiger Workshop vor allem meine Kenntnis in Familientherapie erforderte, war etwas Neues. In den kleinen Gemeinden des Nordens leben in der Regel nur wenige Familien zusammen. Jeder scheint mit jedem verwandt. Diese Tatsache erleichtert die Zusammenarbeit oftmals nicht gerade, da alte Familienstreitigkeiten, manchmal so-

dem Schlachtfeld von Flandern (1.Weltkrieg) und symbolisieren die Tragik des dort vergossenen Blutes. 275 Die kanadischen Rangers sind eine Art freiwillige Abordnung Reservesoldaten, eine Unterordnung der kanadischen Armee, die vor allem im spärlich besiedelten Norden eine Militärpräsenz darstellen sollen, vor allem um Hoheitsrechte zum Ausdruck zu bringen. Die Rangers im Norden bestehen in der Regel ausschließlich aus Inuit.

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gar jahrzehntelang andauernde Fehden, eine gelungene Kommunikation erschweren. So auch hier: Der Jüngeren von zwei Schwestern war die Leitung des Kindergartens anvertraut. Damit war sie ihrer älteren Schwester, die als Mitarbeiterin tätig war, übergeordnet. Das führte immer wieder zu Streitigkeiten, die Auswirkungen auf das ganze Team hatten. Die Damen des Kindergartens hatten mich vor dem Workshop zum Abendessen eingeladen. Lebensmittel beziehungsweise Fleisch und Fisch zu teilen und gemeinsam zu essen, scheint ein zentrales Kommunikationsinstrument und darüberhinaus eine vertrauensbildendende Maßnahme untereinander und mit Fremden zu sein.276 Ich sei, so betonten die Frauen, jederzeit herzlich bei ihnen zum Essen eingeladen – sie würden jeden Mittag kochen. Es gab Arctic Char Chowder mit Bannock und Maskox Spareribs mit Kartoffelbrei. Vor dem Essen sprach eine Elder, die alle nur „Großmutter“ nannten und öfter im Kinderhort aushalf, ein Tischgebet in Inuinnaqtun. Es schien für alle Beteiligen von großer Bedeutsamkeit zu sein, dass die alte Dame während des Workshops anwesend war. Ich hatte mir lange den Kopf darüber zerbrochen, wie und ob ich den Menschen etwas beibringen könnte, das für sie relevant wäre und wie ich ihnen sensibel für ihre kulturellen Präferenzen begegnen könnte. Mir war klar, dass ich die Theorie, die ich den Damen näherbringen wollte, völlig anders präsentieren musste, als beispielsweise an der Universität in Victoria. Ich entschloss mich, mit einigen Spielen zu beginnen, denn ich hatte gelernt, dass die Inuit in erster Linie durch praktisches Tun lernen und weniger durch theoretische Wissensvermittlung. Die vier Erzieherinnen und die Älteste schienen Spaß an der „Aufwärmrunde“ zu haben. Alle hörten anschließend aufmerksam zu, als ich versuchte, einige Kommunikationstheorien von Schulz von Thun277 als Einführung für die Theorie des Inneren Teams in Geschichten verpackt, zu erläutern, während ich auf große Poster Bilder dazu malte. „Großmutter“ sprach kein Englisch. So versuchten die Frauen während meinen Erklärungen immer wieder, das Gesagte für die Älteste zu übersetzten – ein schwieriges und langwieriges Unterfangen, denn viele englische Begriffe lassen sich nicht so einfach in Inuinnaqtun übersetzen. Alle halfen so gut wie möglich zusammen, die Worte für die alte Dame zu umschreiben. Pat hatte mir geholfen, ein passendes Beispiel aus dem Alltag der Tagesstätte zu finden, um die Theorie für die Frauen praxisrelevant darzustellen: Eine Frau liefert ihr Kind ab, das 276 Peter Kulchyski stellt die Bedeutsamkeit des Teilens von Nahrungsmitteln heraus, welches für die Inuit überlebenswichtig war. Hatte heute ein Jäger einen guten Fang gemacht, wurde dieser im Ort geteilt, denn morgen könnte er wieder Pech haben und darauf angewiesen sein, von der Beute eines anderen einen Teil für sich und seine Familie zu bekommen. Insofern war es nicht nur wichtig, selbst satt zu werden, darüber hinaus war es wichtig, dass alle satt wurden. Jeder war für jeden verantwortlich. Jeder musste jedem vertrauen. (in: Stern, Stevenson 2006, 162-167) 277 Schulz von Thun 1998

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seit Tagen dieselbe Kleidung trägt und mittlerweile einen strengen Geruch verbreitet. Ich bat die Damen, für dieses Szenario ihr „inneres Team“ 278 zusammenzustellen und auf ein großes Blatt Papier aufzumalen. Ich fragte sie anschließend, ob sie bereit wären, ihre Erkenntnisse über sich selbst ihrem „äußeren Team“ vorzustellen. Ziel dabei war, den Frauen die Möglichkeit zu geben, über ihre eigene Identität nachzudenken, in dem Prozess sich selbst besser kennenzulernen, um den Platz im Team einnehmen zu können, der für sie am besten passt. Lange diskutierten wir über den möglichen Ursprung der inneren Stimmen (unseres inneren Teams), die unser Selbstwertwertgefühl so maßgeblich mitbestimmen. Nach dieser Übung schienen mir die Frauen durch lautes Gähnen zu vermitteln, dass sie jetzt genug hätten, und ich beschloss, die Runde abzuschließen. Ich bot an, an einem weiteren Abend unsere Gespräche fortzusetzen, wenn der Bedarf bestünde und erntete allgemeines Kopfnicken. Eine der Damen klopfte später am Abend noch an meine Tür und brachte mir eine warme Decke, denn ich hatte erwähnt, dass die Ausrüstung in meinem Haus eher spärlich sei. Sie erklärte mir, dass wir beinahe Nachbarn seien und deutete auf ein Haus in der Ferne, von dem ich im Dunkeln nur den Lichtschein aus den Fenstern wahrnehmen konnte. Ich sollte mich nur melden, wenn ich noch etwas bräuchte.

Komplexe Beziehungen und Missverständnisse Anders als in Inuvik sah keiner der non-Aboriginals im Ort eine längerfristige Perspektive in Ulukhaktok. Zwei Jahre war in den Gesprächen mit den Menschen die maximal geplante Aufenthaltsdauer. Eine Vermischung beider Kulturen, der Inuit und der euro-kanadischen, fand so gut wie gar nicht statt. Die Menschen schienen nur miteinander umzugehen, wenn es sein musste: Lehrer mit ihren Schülern und die Polizei im Rahmen ihrer Aufgaben im Ort. Ihre Freizeit verbrachten die Menschen nur mit Angehörigen der eigenen Kultur. Anstatt mit den anderen zu sprechen, wurde über sie gesprochen – auf beiden Seiten.279

278 Die Theorie des inneren Teams reflektiert in erster Linie über die eigene Identität und setzt diese in Bezug zur sozialen Umwelt. Das Thema Identität schien mir während meiner Zeit im Norden immer wieder von elementarer Wichtigkeit für die Menschen zu sein, die nicht nur als Völker auf der Suche nach kultureller Identität sind, sondern vor allem auch als Individuen um Orientierung und individuelle Selbstbestimmung ringen. 279 Nach meinem kurzen Gespräch mit dem Direktor der Schule notierte ich folgende Überlegungen: Er erzählte mir, er sei jetzt in seinem zweiten Jahr hier in Ulukhaktok und kratze nach wie vor nur an der Oberfläche der Kultur der Inuit. Diese Kultur habe so viele Schichten. Immer wenn er meinte, etwas verstanden zu haben, musste er es im Nachhinein revidieren. Er habe nicht das Gefühl „drin“ oder Teil davon zu sein. Obwohl, und dies betonte er besonders deutlich, er Wert darauf lege, zu „deren“ offiziellen Versammlungen und Veranstaltungen zu gehen (während der Halloweenfestivitäten war ich jedoch die einzige non-Inuit). Gestern erst sei er bei einer Beerdigung gewesen. Ein

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Interessanterweise sind die Menschen trotz dieser Kluft wechselseitig aufeinander angewiesen, um zu lernen, sich in der je anderen Welt zurechtzufinden. Die non-Inuit im Ort leben dort in erster Linie, um als Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter oder Krankenschwestern notwendige Aufgaben der modernen Welt zu übernehmen, welche die Inuit (noch) nicht in der Lage sind, selbst zu übernehmen. Umgekehrt müssen sie auf das traditionelle Wissen und die Erfahrung der Einheimischen vertrauen können, um sich in der fremdartigen, oft auch bedrohlichen Umgebung von Eis und Schnee zurechtfinden zu können. Nur sehr selten hatte ich den Eindruck, als würden wirklich tiefe Begegnungen über die Grenzen der Unterschiedlichkeit hinweg gelebt werden. Meist schienen die Mittel den Zweck zu heiligen, die Beziehungen rein zweckrational oder nutzungsorientiert zu sein: Die Gehälter der Staatsdiener aus dem Süden in den kleinen Gemeinden des Nordens sind beachtlich und nicht selten bedeutet die Stationierung dort für einen Polizisten Karrieresprungbrett in die nächst höhere Dienstebene. Ich lernte auch einige Lehrer kennen, die sich kurz vor dem Ruhestand noch ein dickes Polster verdienen wollten, andere liebten das Abenteuer. Für die Inuit bedeuten die Menschen aus dem Süden auch nicht mehr, als nötiges Mittel, um zu lernen, in der neuen Zeit erfolgreich zu sein. Sie scheinen darüber hinaus kein ernsthaftes Interesse zu haben, Freundschaften mit ihnen zu schließen, denn sie wissen ganz genau, dass die Kabloonaq nie lange bleiben, nur ihre Aufgabe erfüllen, um dann wieder dorthin zurückzugehen, wo sie hergekommen sind. Ein Lehrer erzählte mir von seinem Gefühl, zwar als notwendiges Übel geduldet, aber nicht unbedingt gern gesehen zu sein. Eines der Dilemmas, in welchem er die Spanunng zwischen den

Mann sei hinterher zu ihm gekommen und habe sich dafür bedankt. Generell, so erklärte er, seien sie hier nicht erwünscht, denn indirekt seien sie nach Ansicht der Einheimischen „schuld“ an dem Verlust der Kultur. Die Menschen hier seien so anders, uns doch zwanzig, dreißig Jahre hinterher. Lehrerdasein sei nicht vergleichbar mit dem im Süden. In meinem kurzen Aufenthalt, so erklärte er, würde ich gar nichts sehen und verstehen, zumindest nichts, was tatsächlich dem inneren Kern der Kultur entspräche. In diesem Gespräch fiel mir zum einen wieder einmal auf, wie ungern ich über „die“ rede. Wir kommen aus unterschiedlichen Kulturen und ich bin mir sicher, „die“ reden auch mit „die“ über uns – vielleicht ist das normal, so übereinander zu sprechen und das Miteinander-Sprechen ist einfach nicht immer möglich. Könnte man auch miteinander sprechen, wenn man übereinander spricht? Zum anderen beschlichen mich Zweifel, ob meine Hoffnung, in einzelnen Begegnungen mit Menschen zu dichten Erkenntnissen gelangen zu können, nicht am Ende nur vage Luftschlösser seien beziehungsweise ob die Unterschiede, die uns kulturell trennen, größer sind als die Gemeinsamkeiten, die uns als Brücken gegenseitiger Erkenntnis dienen könnten. Bezieht sich Martin Buber’s Ich und Du vielleicht am Ende doch nur auf die Menschen innerhalb einer homogener Kultur?

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Kulturen spürte, eine Spannung, die er in der Beziehung mit seinen Schülern erlebte, schilderte er wie folgt: Es bestünde eine vielschichtige Dynamik der Macht zwischen ihm und den Schülern. Bis auf eine Inuktitut-Lehrerin seinen alle Lehrer an der Schule Kabloonaq und alle Schüler Inuit. Er persönlich würde sehr gerne der Kultur seiner Schüler folgen, würde die Dinge gern so tun, wie sie hier üblich sind (wenn schon das Schulkurrikulum aus Alberta übernommen und der Situation des Nordens nicht gerecht wird). Doch in diesen Versuchen bewege er sich immer in der Gefahr, seine Autorität zu verlieren. Es sei ein schwieriger Balanceakt, der Kultur gerecht zu werden und zugleich als Lehrer aus dem Süden Anerkennung zu erfahren. Immer wieder würden Schüler kritisieren, dass alle Lehrer Kabloonaq seien, so fuhr er fort und seufzte: Er stimme dieser Kritik zu und habe seinen Schüler näher zu bringen versucht, dass sie es seien, die diese Tatsache eines Tages ändern könnten. Dazu müssten sie allerdings gute Noten vorweisen, dann in den Süden an die Universität gehen, nach 4-5 Jahren dort erfolgreich abschließen und wieder zurückkommen, um als Lehrer hier zu arbeiten. Als er fragte, wer dazu bereit sei, habe sich keiner gemeldet.

Während meiner Zeit im Norden stieß ich immer wieder auf abstruse Beschlüsse, Gesetzgebungen, Einrichtungen und Abkommen zwischen der kanadischen Regierung und seinen Ureinwohnern. Einige davon fanden hinsichtlich der Vergabe von Forschungslizenzen und der Entschädigungsleistungen für residential school survivors bereits Anklang. Zwei weitere dieser mehr oder weniger offensichtlichen Unachtsamkeiten beziehungsweise Unsicherheiten der Regierung im Umgang mit den Inuit sollen hier noch zur Sprache kommen: Ein Mann erzählte mir vom so genannten Food Mail Program, einem Angebot der kanadischen Post, subventioniert von der kanadischen Regierung. Menschen, die in kleinen, isolierten Gemeinden in Kanada wohnen, können sich im Rahmen dieser Initiative frische Nahrungsmittel, Obst, Gemüse und Milchprodukte bestellen, die dann per Luftpost aus der nächstgrößeren Stadt zugesendet werden. Das Problem bestünde darin, so erfuhr ich, dass man die Lebensmittel über Internet bestellen und mit Kreditkarte bezahlen müsse. Kaum einer im Ort hätte jedoch eine Kreditkarte, die älteren Menschen besäßen nicht einmal ein Bankkonto. Zudem hätte kaum jemand Internetzugang oder das Wissen um die Nutzung dessen. Profitieren von diesem Programm würden also hauptsächlich die Polizisten und Lehrer des Ortes. Sehr kontrovers wird in Kanada vor allem unter First Nations und Inuit über das Olympiaemblem für die Spiele 2010 in Vancouver diskutiert. Sämtliche Fahnen, Maskottchen und andere Werbeartikel zur Olympiade ziert bereits ein Inukshuk –

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wichtiges Symbol der Inuitkultur. 280 Zunächst wäre dagegen nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil wird so doch die viele Jahre lang „vergessene“ Kultur des Nordens in den Mittelpunkt Kanadas gerückt. Stein des Anstoßes für Kritik war jedoch, dass das Komittee, welches sich für die Steinfigur (bunt in den olympischen Farben) entschloss, nie Vertreter der Inuit konsultierte oder diese um Einwilligung bat. Das bedeutsame Symbol der Inuit wurde somit über deren Köpfe hinweg zweckentfremdet und für eigene Zwecke nutzbar gemacht. Auch die First Nations der kanadischen Westküste fühlten sich betrogen, denn deren Nationen rund um Vancouver hätten ebenfalls Symbole vorzuweisen, die sich durchaus als Emblem angeboten hätten. Auf einem der Hügel um Ulukhaktok standen drei prächtige Inukshuks. Jo erklärte mir dazu, sie glaube nicht, dass Einheimische diese dort errichtet hätten. Die Hügel seien nämlich traditionell für die Inuit Landmarker genug. Sicherlich hätten Fremde oder Touristen im Laufe der Zeit diese Steinmänner errichtet. Jetzt würden Besucher, die in die Gemeinde kamen, denken, sie stünden vor ursprünglichen Relikten der Inuitkultur. Kürzlich, so erzählte Jo grinsend, habe ein Kreuzschiff auf seinem Weg nach Alaska in der Kings Bay angelegt, und eine ganze Horde Menschen, alle mit den gleichen Jacken ausgestattet, seien ehrfürchtig zu den Inukshuks gepilgert und hätten unzählige Fotos geschossen. Von einer etwas anderen Version „Steinhaufen“, oder wie sich einige Elders von Ulukhaktok auf ihre Weise Eintritt in die „Welt der Moderne“ verschafften, beziehungsweise die Kluft zwischen einst und jetzt zu überwinden versuchten, weiß einer der Lehrer zu berichten: „A few days ago, a truck pulled up to the front steps of the school during the last class of the afternoon and dumped this giant pile of rocks right in front of the steps. A couple of my 280 Tookoome (1999, 31) erklärt die Bedeutung von Inukshuks wie folgt: „Inukshuks are piles of stones in the shape of a person. They are all over the land. You can see them for a long distance. They have many purposes. Even if you have not been to a certain area, the Inukshuk is a marker that will tell you what you need to know. The Inuit could tell where the caribou were by the Inukshuks. The rocks showed the people where caribou would pass on their way south or north. They also directed the caribou to move in a certain way, like a herder. Inuit put moss on top of the Inukshuks to look like hair so the caribou would think they were people. Inukshuks stood on places were people camped. Inukshuks on a hill were used as lookout points for caribou. So we waited there to see them. Inukshuks by the river showed the path that caribou would take to cross the river. Now people build Inukshuks as markers for their snowmobiles in case they get lost on the land. The Inukshuks direct them home. Rocks that were piled together near water were markers for fishing. We measured the distance they stood from the shoreline – that was the same distance we went into the water to jig for fish.“

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students noticed all the commotion, so I glanced out my window to have a look. As I left the school later on to go to the post office, I clambered over the pile of rocks, wondering vaguely why they had been dumped there, but didn’t give it much thought at the time. I naturally assumed there must be a perfectly good reason, and that the powers-that-be knew exactly what they were doing. As the next few days passed, the rocks remained, and no-one else seemed to notice or comment or complain. It’s funny how you can go through the daily routine of life without skipping a beat when suddenly something changes in your environment for no apparent reason. Why should I or anyone else be concerned that suddenly we have to climb over a mysterious pile of red rocks to get to the steps? I finally broke down and asked Chip [Schuldirektor] yesterday the question that had been simmering on the back burner of my mind for days: ,So what the hell’s the deal with the freakin’ rocks, anyway???‘ He laughed and said that some of the elders in town had trouble climbing onto the steps from the ground, so someone had requested the rocks as a kind of scaffolding to bridge the gap from ground to steps. The problem is, that anyone who wants to enter the main doors of the school now has to climb over a very large and uneven pile of rocks to get to the steps. So despite the best intentions of the mysterious benefactors who brought the rocks, the work required to get up into the school has actually increased. And, of course, the kids have now been provided with a fresh new supply of rocks for throwing at each other, at houses, at windows, at lemmings, at ravens, and at anyone or anything else that might present itself as a worthy target. Maybe that’s all part of the master plan, though. If enough kids pillage the pile, it will eventually be worn down to just the right level height to make a perfect platform under the steps. And then all will be right with the world again.“281

Entdeckungsreise zum Selbst: Fishlake Trip Nachdem es „endlich“ (Wortlaut der Elders aus der Gemeinde) kälter wurde und die Beaufortsee zu gefrieren begann, konnten die 12 Jugendlichen mit einem der Ältesten der Gemeinde als Begleitperson zum abenteuerlichen Fishlake Trip aufbrechen. Jo hatte diese etwa einwöchige Unternehmung im Rahmen ihres AHF Arbeitsplanes282 seit Tagen geplant und vorbereitet. Die Seen waren weitgehend zugefroren, so dass die Truppe auf Schneemobilen und in vier Schlitten gefahrlos auf die lange Fahrt (viereinhalb Stunden über Eis und Schnee, etwa 80 Kilometer) gehen konnte. Ich war als weitere Betreuungsperson (und einzige non-Inuit) mit von der Partie. Der Tag der Abfahrt war besonders kalt. Die Sonne stand flach am

281 LeBourdais 2006 282 „Traditional cultural activities will be included in the programming to help youth regain a sense of self identity and where they belong, also giving youth hope for their future by breaking the cycles of addictions and violence. Through positive life choice activities […] the youth will have an opportunity to heal and break the cycles of unhealthy behaviours such as abuse.“ (Davison 2006)

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Himmel und zeichnete alles in weiches, rötliches Licht. Eisnebel flimmerte in der Luft. Einige Menschen versammelten sich vor dem Hamlet, um den Davonfahrenden zu winken. Sie musterten mich ungläubig, als ich erklärte, ich würde mich ebenfalls dem Wagnis „Fishlake“ aussetzen. Während die Schlitten beladen und die Schneemobile betankt wurden, begannen einige über die Arktistauglichkeit meiner Ausrüstung zu diskutieren. Ich war mir nicht sicher, ob die Menschen besorgt um mich waren oder mir eher zu verstehen geben wollten, dass ich mir überlegen sollte, ob ich bei diesem Trip in die Wildnis nicht fehl am Platze wäre.283 Um etwa 12.00 war es dann so weit. Mit gemischten Gefühlen bestieg ich den Schlitten, und wir brachen auf. Ich saß mit unserer Köchin in einem der primitiven Holzschlitten und versuchte mich, so gut wie möglich, vor dem eisigen Wind unter Schlafsäcken, Küchenutensilien und Essenskisten zu verkriechen. Ich war erstaunt, mit welcher Geschwindigkeit unsere Schneemobilfahrer die Schlitten über das gefrorene Land zogen. Immer wieder hielten wir an und stiegen aus den Schlitten (was mit den vielen Schichten Kleidung gar nicht so einfach war, denn bewegen konnten wir uns kaum noch), um nicht völlig einzufrieren. Die Pausen waren sicher auch dazu gedacht, alle beteiligten Schlitten wieder zu sammeln, denn teilweise hatten sie einen großen Abstand voneinander. Auf etwa halber Strecke legten wir eine längere Pause ein. Unser Elder schenkte heißen Tee aus; es gab Kekse, Cornedbeef und Bannock. Das tat sehr gut, und bis auf meine Füße fühlte ich mich danach wieder aufgewärmt. Einer der Jungs hatte sein Snowboard mitgebracht, nütze die Gelegenheit und lief eine kleine Anhöhe hoch, um das Sportgerät zum Einsatz zu bringen. Der Elder erzählte mir, vor Jahren habe er diesen Trip regelmäßig mit dem Hundeschlitten unternommen. Dabei habe er meist hier nach einem Tag Fahrt eine Pause eingelegt. Rechts und links der Sonne, die mühsam gerade noch über den Horizont rollte, hatten sich zwei riesige sundogs284 gebildet, welche die Eiswüste in ein mystisches Licht tauchten.

283 Meine dichten Beschreibungen werden an dieser Stelle sehr persönlich. Ich bin mir der Gefahr bewusst, dass mein eigenes Empfinden die Beschreibungen stark färbt. Dennoch spiegelt mein Erleben etwas von der Lebenswirklichkeit in der Arktis wieder. Wenn ich meiner Schlittenpartnerin während der kalten Fahrt durch eine unwirkliche Eislandschaft ins verfrorene Gesicht blickte, sah ich etwas von dem wieder, was ich in mir erlebte: Faszination und Staunen, aber auch Furcht vor der Übermacht und dem Ausgeliefertsein der Natur. Vielleicht muss man sich den Lebensbedingungen der Menschen stellen und dabei erleben, wie sie leben, um ganzheitlich verstehen zu können. Ich hoffe, in Anlehnung an Clifford Geertz, der Leser kann sich zumindest teilweise hineinversetzen, in das, was ich zu interpretieren versuche. (vgl. Geertz 1983a, 26) 284 Sundogs sind so genannte Nebensonnen, die links und rechts, manchmal auch beidseitig neben der Sonne auftreten. Hervorgerufen wird diese Erscheinung durch dünne Wolken von Eiskristallen, in welchen die Sonnenstrahlen reflektierten.

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Die Fahrt ging weiter. Die Stöße im harten Schlitten wurden heftiger. Ich bemerkte, dass wir jetzt über blanke Eisflächen fuhren, der Boden schimmerte hellblau. Mein Rücken begann zu schmerzen. Ein großes Brett, das als Windschutz an den Schlitten angebracht war, löste sich durch die starken Stöße und kippte nach vorne weg. Es dauerte eine Zeitlang, bis wir dies unserem Schneemobilfahrer durch Winken und lautes Rufen verständlich machen konnten. Dabei mussten wir aufpassen, nicht aus dem Schlitten zu fallen. Ich fürchtete, dass unser Gefährt auf der rasanten Fahrt auseinanderbrechen könnte und war beeindruckt, dass dies nicht der Fall war. Das letzte Stück war sehr unangenehm. Es zog sich endlos, denn wir machten keine Pausen mehr. Die Kälte ließ sich nicht mehr abschütteln, und ich begann jeden Knochen zu spüren. Ich hatte den Eindruck, dass das Eis stellenweise noch sehr weich war, so dass die Fahrer es nicht wagten, langsamer zu fahren oder anzuhalten. In einem Gespräch hörte ich später wie der Elder erwähnte, die Eiskondition sei hin und wieder furchteinflößend gewesen. Eine Situation wirkte besonders bedrohlich: Beim Blick über den Rand des Schlittens bemerkte ich, dass wir (als es einen langen steileren Hang hinab ging) schneller wurden als das Schneemobil, das uns zog. Dabei schossen wir unkontrolliert an diesem vorbei. Bei der Geschwindigkeit, hätte ich nicht kippen wollen…

Das Eisfischen im Herbst am Fishlake ist wichtige Tradition für die Menschen in Ulukhaktok, denn seit jeher wird hier der Fischbedarf für den langen Winter für die ganze Gemeinde gedeckt. Heute leben die Menschen nicht mehr ausschließlich vom Land, sondern decken einen Großbedarf ihrer Lebensmittel durch Güter aus dem Süden. Die ältere Generation bevorzugt jedoch vor allem traditionelle Speisen, die sie „real food“ oder „country food“ nennen. Es geht hierbei bei weitem nicht in erster Linie darum, womit die Menschen ihren Hunger stillen, vielmehr steht und fällt eine ganze Lebensform (inklusive diverser Riten und traditioneller Praktiken) mit dem Essen, das in Inuitfamilien auf den Tisch kommt: „The sharing of ,land‘ foods continues to be important in Inuit social relations. Foods obtained from subsistence hunting are usually shared. An active hunter will not only provide for his or her own family, but will provide food to related households. This reflects the Inuit recognition of social interdependence between families and households, as well as the fact that the eating and sharing of land foods […] is an essential ingredient in the definition of Inuit identity.“285

Junge Erwachsene in Ulukhaktok, so schildert ein Elder, stecken fest in einer Zwischenzeit.286 Deren Eltern propagieren nach wie vor traditionelle Werte, obwohl alte Symbole wie beispielsweise country food in der modernen Gesellschaft nicht mehr den einstigen Stellenwert haben. Jo hoffte, durch die abenteuerliche Ausfahrt den 285 Condon 1996, 174 286 Ebd., 173

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Jugendlichen Zugang zu ihrer Tradition und kulturellen Identität vermitteln zu können. Das Gefühl, haltlos „durchzufallen“ oder zwischen den Zeiten „festzustecken“, sollte durch ein Bewusstsein der Verantwortungsübernahme als Teil des Beitrags zum Gemeinschaftsleben als Inuit ersetzt werden. So bekamen die jungen Menschen den wichtigen Auftrag, für die Gemeinde möglichst viele Fische zu fangen. Was vor wenigen Jahrzehnten alltägliches Geschäft war, wird heute zur erlebnispädagogischen Abenteueraktion. Zahlreiche kleine, aus dünnen Pressspanplatten gebaute Hütten am See (der im zugefrorenen und zugeschneiten Zustand für mich nicht auszumachen war) zeugten von regem Fischfangbetrieb in der Vergangenheit. Der Fishlake schien seinem Namen alle Ehre zu machen und auch heute noch eine der wichtigsten Fischquellen der Gemeinde Ulukhaktok zu sein. Ich war völlig durchgefroren und spürte meine Füße nicht mehr. Es gab keine Möglichkeit, sich irgendwo aufzuwärmen. Ich stellte mich in eine der Hütten und wartete ab, was geschah. Die große, rote Sonne verschwand am Horizont. Es wurde dunkel. Mit vereinten Kräften gelang es einigen, die Öllampe, unsere einzige Lichtquelle, zu entzünden. Unsere Köchin begann, einen alten Gaskocher in Gang zu setzen. Ich konnte nicht glauben, dass die kleine Hütte, deren Wände von innen dick mit Eis beschichtet waren, jemals warm werden würde – mit Kocher und Lampe als einzige Wärmequellen. Innerhalb kürzester Zeit waren alle Essenskisten verräumt und dienten in unserer spärlich eingerichteten Unterkunft als Stühle und Tische. Unser Elder brachte einen großen Topf mit Eis, um Wasser zu kochen. Einige der Kids waren hungrig und begannen in den Essenvorräten zu wühlen. Es dauerte eine Zeitlang, einzelne Wurstscheiben in gefrorenem Zustand auf ein Stück Brot (ebenfalls hart gefroren) zu befördern. Nachdem das Karibu- und Oomingmak-Fleisch287, das uns Jo angeblich mitgegeben hatte, trotz ausgiebiger Suchaktionen nicht gefunden wurde, beschloss unser Elder, einen Arctic Char aus einem der Gefrierlager im Camp zu nehmen, zu zersägen und in dem bereits kochenden Wasser zu garen. Dazu gab es Kartoffelpüree und – kaum zu glauben – buntes Gemüse, das wir ebenfalls mitgebracht hatten. Alle versammelten sich zum Essen in einer Hütte. Ich hatte nicht gewusst, dass jeder sein eigenes Geschirr hätte mitbringen sollen. Jo hatte nie etwas davon erwähnt (obwohl ich mehrfach nachgefragt hatte, was ich noch bräuchte). Einigen anderen ging es auch so. Zum Glück fanden wir in der Hütte einige Töpfe und Tassen, so dass wir improvisieren konnten. Das warme Essen tat gut, der Fisch schmeckte hervorragend und selbst die Hütte begann, wärmer zu werden. Immer wenn jemand die Tür öffnete, strömte kalter Eisnebel in das Innere der Hütte. Es wurde allmählich sehr dampfig, denn die vereisten Wände begannen aufzutauen und ihre Feuchtigkeit in die Luft abzugeben. Meine Füße waren immer noch völlig eingefroren. Ich versuchte alles nur Erdenkliche, sie wieder aufzuwärmen. Einige der Kids liehen mir abwechselnd ihre Stiefel und versicher-

287 Oomingmak ist die Inuktitut Bezeichnung für Moschusochse (engl.: Muskox) und bedeutet „Tier mit der Haut wie ein Bart“.

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ten, darin sei es jetzt ganz warm. Überhaupt sorgten sich alle um mich. Ich hatte außer dem Schlafsack, den mir Jo mitgeschickt hatte (und nach genauerer Inspektion des Elders als „viel zu dünn“ eingestuft wurde) nichts weiter dabei – also auch keine Matratze. Ich stellte mir schon vor, völlig verfroren am nächsten Morgen aufzuwachen. Zwei Mädels boten an, sich einen sehr warmen Schlafsack zu teilen und mir einen ihrer Schlafsäcke zu überlassen, den ich zusätzlich zu meinem verwenden könnte. Zwei andere teilten sich eine Matratze, so dass ich auch in den Genuss einer Schaumstoffliege kam. Von Bettzeit war aber noch lange nicht die Rede. Die Mädels besuchten die Jungs in deren Hütte und spielten noch die eine oder andere Runde Karten. Ich unterhielt mich mit meinen Hüttenmitbewohnerinnen und beschloss, mich der Herausforderung zu stellen, nochmal hinaus in die Kälte zu gehen, um im aufgewärmten Zustand die Nacht zu begrüßen. Unser Elder werkelte noch an einem der Schlitten und unterhielt sich mit einem weiteren Fischer, der seit einigen Tagen damit beschäftigt war, den Bedarf für seine Familie für das kommende Jahr zu erfischen. Die Begegnung mit diesem Mann stimmte mich nachdenklich, denn ich hatte den Eindruck, er war zwar freundlich, aber wollte mich eigentlich nicht hier sehen. Ein seltsames Gefühl, den Menschen in meiner Ausgeliefertheit vertrauen zu müssen und zu erahnen, dass ich bei weitem nicht immer gern gesehener Gast war. Ich stand noch eine Zeitlang vor unserer Hütte und blickte in die Ferne. Die Sterne und der Mond schienen greifbar nah und ließen die Schneedecke der flachen Landschaft hell erstrahlen. Als ich morgens aufwachte, schmerzten meine Zehen, und bei näherer Betrachtung bemerkte ich deutliche Zeichen von Erfrierungen. Ich wusste, dass einige der Fischer und Jäger, die auch gerade an Fishlake kampierten, im Laufe des Tages zurück nach Ulukhaktok fahren wollten und beschloss schweren Herzens, mit ihnen den Heimweg anzutreten. Ich schämte mich, aufgeben zu müssen und stellte mir vor, wie die Einheimischen mich in Ulukhaktok begrüßen würden. Ich hörte regelrecht ihre Stimmen, wenn sie erwähnen würden, sie hätten ja gleich gewusst, dass ich klein beigeben würde. Ich rang noch eine Zeitlang mit mir, nicht so einfach aufzugeben. Vor allem als ich nach einem guten Frühstück aufgewärmt interessiert meine Truppe beobachtete: Sie bereiteten gerade ihre Netze vor, die sie unter das Eis im See setzten wollten. Es fiel mir schwer, den Ort des Geschehens zu verlassen. Unser Elder war schon lange wach und gerade damit beschäftigt, unseren Schlitten zu reparieren. Dabei verzehrte er genüsslich einen gefrorenen Fisch stückweise als Frühstück. Er hatte zwei Fische mit Kopf nach unten in den Schnee gesteckt und säbelte immer wieder mit seinem großen Messer daran herum. Freundlich blickte er zu mir auf und fragte mich, wie es meinen Füßen ginge. Der alte Mann überließ es völlig den Jugendlichen selbst, den Tag zu gestalten. Nicht ein einziges Mal hörte ich ihn, sie antreiben, endlich fertig zu werden, damit sie die Netze setzen könnten. Geduldig wartete er, bis alle ausgeschlafen und gefrühstückt hatten. Ein einziges Mal erlebte ich ihn autoritär, als einige der Jugendlichen am Vorabend schon aufsprangen, um draußen rauchen zu gehen, als andere noch nicht mit dem Essen fertig waren. Außerdem rügte er einen Jungen, der über Nacht seinen Parka in einem der Schlitten liegen gelassen hatte – der war nämlich jetzt stocksteif gefroren.

262 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS Unser Trupp zwängte sich schließlich laut lachend in zwei Schlitten, um ihr Glück mit der Netzfischerei zu versuchen. Ich blieb zurück und beobachtete die Männer, mit welchen ich den Rückweg antreten sollte, wie sie ihre Fische in die Schlitten verluden. Ich fragte den Mann, den ich schon am Vorabend getroffen hatte, ob ich ihm helfen könnte, seine reiche Fischbeute aus einer Holzkiste vor dem Haus im Schlitten aufzuschichten. Er murmelte, er müsse die Fische schon selbst in den Schlitten laden, damit sie ordentlich Platz fänden und auf der Fahrt nicht umherrutschten. Einer der Männer erklärte mir, ich müsse bei ihm auf dem Schneemobil mitfahren, denn sein Schlitten sei voll beladen mit Fischen und einem weißen Fuchs, den er letzten Abend in einer Falle gefangen habe. Die Mädels hatten mir am Morgen schon aufgeregt von dem Fang erzählt. Das eine Bein des armen Fuchses sei beinahe herausgerissen gewesen, so sehr habe er versucht, sich aus den Fängen der Falle zu befreien. Geduldig wartete ich, bis die Männer mit ihren Packaktionen fertig waren. Sie redeten kaum mit mir, und ich hatte das Gefühl, sie ignorierten mich. Irgendwann deutete mir mein Fahrer, es könne losgehen. Ich setzte mich zu ihm auf das Schneemobil. Wir waren fünf Personen auf vier Schneemobilen mit Schlitten, die etwa um die Mittagszeit vom Camp aufbrachen. Unser Gefährt ruckte als sich das Seil zum Schlitten spannte und die schwere Last sich langsam in Bewegung setzte. Rasend schnell ging es wenig später abwechselnd über gefrorene Seen, windgepresste Hügel und weichen Schnee. Mein Fahrer blickte ab und zu verunsichert zurück auf seinen Schlitten, fragte aber kein einziges Mal, wie es mir auf seinem Bock erging. Ich hatte teilweise die größten Schwierigkeiten, bei der Geschwindigkeit, den vielen Bodenwellen und Unebenheiten nicht von dem schmalen, glatten Sitz zu rutschen. So gut ich konnte, krallte ich mich an den beiden Handgriffen, rechts und links von mir, am Sitz fest – keine leichte Aufgabe mit dicken Handschuhen und steif gefrorenen Händen. Mehrfach befürchtete ich, den Halt zu verlieren und versuchte, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn ich tatsächlich in voller Fahrt von der Maschine fallen würde – zumal der schwere Schlitten immer wieder gefährlich nah an uns herankam. Einen Helm trug ich natürlich nicht. Meine Arme schmerzten nach einiger Zeit, denn sie wurden ständig überstreckt, wenn es mich in die Luft riss und meine Wirbelsäule ächzte, wenn ich anschließend wieder auf dem harten Sitz landete. Nur mit Mühe konnte ich meine Füße auf dem schmalen Trittbrett halten. Ich glaube, mein Fahrer hatte keine Ahnung, wie sehr ich hinter ihm zu kämpfen hatte. Er wechselte kein Wort mit mir. Ohne jegliche Erklärung hielten wir urplötzlich mitten in der arktischen Weite an einem verlassenen, völlig eingeschneiten Skidoo (Schneemobil). Einer der Männer hatte offensichtlich Platz auf seinem Schlitten gelassen, um das liegen gebliebene Gefährt aufzuladen und fest zu verschnüren. Gemeinsam machten sich die Männer an die Arbeit, die schwere Maschine zu verladen. Ich staunte nicht schlecht, als sie (teilweise mit bloßen Händen im kalten Wind) das Schneemobil am Schlitten mit einigen festen Schnüren verzurrten. Weiter ging die Fahrt. Dabei hatte ich umsonst gehofft, wir würden mit der schweren Ladung auf einem der Schlitten etwas langsamer fahren. Wir mussten allerdings noch einige Male anhalten, da die Skier des verladenen Skidoos immer wieder vom Schlitten rutschten und im Schnee stecken blieben, somit das gesamte Gefährt bremsten. Nach einigen Notbremsungen beschlossen die

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Männer, die Maschine andersherum auf den Schlitten zu laden, so dass es in Fahrtrichtung stand und die Skier neben dem Schlitten mitfahren konnten. Ich kam mir vor wie Luft. Die beiden arbeiteten vor sich hin, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Ich spürte allerdings, dass sie es nun eilig hatten. Zu viel Zeit war durch das Auf- und Umladen des kaputten Schneemobils verloren gegangen. Es dämmerte bereits, und beide wollten offensichtlich noch vor Einbruch der (völligen) Dunkelheit im Ort ankommen. Ich wunderte mich überhaupt, wie sie sich orientieren konnten – für mich sah in den Stunden der Fahrt die Landschaft überall gleich aus. Zwei der Männer hatten schon länger nicht mehr auf uns gewartet und waren am Horizont verschwunden. Der Rückweg erschien mir wesentlich länger als der Hinweg, und ich bildete mir ein, die ersten Häuser von Ulukhaktok jeden Moment hinter dem nächsten Hügel ausmachen zu können. Mir stockte der Atem, als der junge Inuk auf einmal die Maschine bis zum Anschlag beschleunigte, um mit Schwung über noch nicht vollständig zugefrorene Stellen des Eises zu jagen. Der schwere Schlitten ruckte und bremste uns abrupt im weichen Eismatsch. Die Schneeketten schienen einen Moment lang keinen Griff im flüssigen Untergrund zu finden nur knapp schafften wir es, das Hindernis zu überwinden. Ich war erleichtert, als ich spürte, wie die Ketten im soliden Eis wieder griffen und auch der Schlitten aus seiner misslichen Lage befreit wurde. Als ich mich mit dem Gedanken vertraut gemacht hatte, dass noch ein weiter Weg vor uns lag, verlor ich völlig das Gefühl für die Zeit. Wir mussten schon relativ nah an Ulukhaktok gewesen sein, als mich der Zauber der Arktis überwältigte: Die Sonne saß als riesiger, rot glühender Ball am Horizont und verwandelte eisige Kälte in warmes Licht. Ein unwirklicher Schimmer zeichnete weich die Konturen der Eiswüste. Das Naturschauspiel entzog sich allem, was ich bisher gesehen hatte und überwältigte mich. Vielleicht war ich auch so erschöpft von diesem Abenteuertrip, dass ich alles wie im Traum erlebte. Ich weiß es nicht. Ich kann mich nur noch erinnern, dass auf einmal alles Sinn machte, was ich erlebt hatte, auch wenn ich es nicht erklären konnte. Ich spürte meine Arme kaum noch, dachte nicht mehr an meine eisigen Füße; ich verlor meine Angst und war so präsent beim Anblick dieses Spiels von Licht, Luft und Form. Tiefe Dankbarkeit erfüllte mich. Ich fühlte mich den Menschen näher. Kurz nach 15.00 Uhr erreichten wir Ulukhaktok. Es war bereits dunkel. Klamm und steif stieg ich am Hamlet vom Schneemobil und hatte Mühe bei den ersten Schritten. Jo wartete schon auf mich. Sie war über Radiofunk informiert worden, dass ich den Heimweg angetreten hatte. Mit gemischten Gefühlen betrat ich das Hamlet und wurde von allen Anwesenden freundlich begrüßt. Eine der Damen machte sich gleich daran, mir einen Tee zu kochen, andere halfen mir, mich aus den ersten Schichten der unzähligen Klamotten zu schälen und erkundigten sich nach meinem Wohlergehen. In der Krankenstation nahmen mich zwei fürsorgliche Krankenschwestern in Empfang. Meine Füße wurden ausführlich begutachtet, langsam in Wasserbädern aufgetaut und Erfrierungen unterschiedlichen Grades festgestellt. Jo hatte mich begleitet. Es war fast so, als wüsste sie, wie mir zumute war, als würde sie merken, dass ich mich schämte, früher zurück-

264 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS gekommen zu sein. Ruhig begann sie zu erzählen, wie sie einmal am Fishlake als Kind so laut geweint und geschrieen hätte, dass sie ihr Vater nach Hause fuhr – den ganzen weiten Weg nur für sie. Sanft nahm sie meinen nackten Fuß und steckte ihn unter größten Protesten meinerseits unter ihr T-Shirt, um ihn an ihrem warmen Bauch zu wärmen. Sie beruhigte mich und erklärte, sie habe drei Kinder aufgezogen und wisse, was bei Erfrierungen zu tun sei. Ich wusste nicht, wie mir geschah, vertraute und ließ los. Ich spürte nicht nur die Wärme, die meinen Füßen gut tat, ich war in Kontakt, genoss das Gefühl von Sicherheit und die Nähe. Die Schwestern nahmen dann aber wieder das Zepter in die Hand und wickelten mich in eine aufgewärmte Decke. Ich bekam Schmerzmittel, welches ich sofort (vor allem im Kopf) spürte. Jo setzte sich auf einen kleinen Schemel neben mich und erzählte mir: Ein Mann sei vor wenigen Jahren vom schlechten Wetter auf dem Land überrascht worden und hätte zwei Tage in einer Schneehöhle aushalten müssen. Er hatte sich zwei Zehen völlig erfroren und da er so weit weg von Ulukhaktok war, musste er selbst Hand anlegen. Er nahm sein Beil und schlug sie ab. Ich erzählte Jo von meinem Wunsch, Zugänge zu ihrem Volk zu finden und von der Befürchtung, nach meinem „Versagen“ auf dem Land als Kabloonaq gestempelt und von den Menschen noch weniger anerkannt zu werden. Ich versuchte, meine Vision zu schildern, eine Methode zu finden, die es ermöglichen würde, über kulturelle Unterschiede hinweg in Kontakt zu treten, miteinander zu Erkenntnissen übereinander zu gelangen. Dies nicht um zu wissen, sondern um zu verstehen, nicht um mächtig zu sein, sondern um zu ermächtigen. Ich erwähnte meinen Zweifel, ob so etwas überhaupt möglich sei und merkte im selben Moment, dass ich (um mit Buber zu sprechen) versuchte, Ich und Du als einen möglichen Zugang zur Welt zu erklären, während ich eben diesen (er)lebte. Ich fand den Mut, Jo gegenüber auszudrücken, dass ich das Gefühl hatte, dass sie uns westlich Zivilisierte hier nicht haben wollen und am liebsten unabhängig ihrer Tradition treu bleiben würden – obwohl alle Menschen hier freundlich und offen sind. Es tat gut, in meiner eigenen Verwundbarkeit mit ihr über Aspekte meiner Forschung reden zu können, die ich sonst nur mit Meinesgleichen austauschte, indem ich über sie (die Inuit) redete. Paradoxerweise fühlte ich mich in meinem Ausgeliefertsein ermutigt, bestätigt und stärker als je zuvor. Trotz heftiger Proteste organisierte Jo einen Fahrer, der mich nach Hause bringen sollte. Der freundliche Mann half mir, sämtliche Kleidungsstücke und meinen Rucksack zu verladen. Mir fiel schon früher einmal seine Baseballkappe auf, denn in großen Buchstaben stand da ZDF. Ich sprach ihn darauf an, und er erklärte, er habe tatsächlich letztes Jahr einem deutschen Filmteam hier geholfen, für eine Dokumentation Szenen ins rechte Licht zu rücken. Auf der ganzen Heimfahrt erzählte er mir von seiner wichtigen Aufgabe, die ihm diese Baseballcap als Erinnerung bescherte. Er half mir noch meine Sachen auszuladen und versprach, nachher noch einmal nach mir zu sehen.

Am Tag meiner Abreise aus Ulukhaktok, gerade als ich noch die letzten Aufräumarbeiten in „meinem“ Haus vornahm, klopfte es an der Tür. Jo stand davor und wedelte mit zwei großen gefrorenen Fischen, welche die Jugendlichen von Fishlake

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mitgebracht hatten. Sie erklärte, die dürfte ich auf keinen Fall vergessen. Zum Glück fand ich nicht nur genügend Plastiktüten, sondern auch noch Platz in meinem Koffer für diese Delikatesse des Nordens. Ich war gerührt und wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Jo blickte mich an und erklärte, in ihrer Sprache gäbe es kein Wort für Goodbye. In Inuinnaqtun würden sie sagen: „Bis wir uns wieder sehen!“. Sie fuhr fort, wenn sie mich irgendwie durch ein Schreiben oder etwas Ähnliches unterstützen könne, um wiederzukommen (für eine weitere Forschung), würde sie das gerne tun. 2.2.4.3 Paulatuk im Winter 2006 Everybody likes Paulatuuq ’cause it got lots of things to hunt, eh? Like it got caribou, fish, muskox, anything you want to hunt.288 THOMAS THRASHER

Eingebettet in die Südküste der Darnley Bucht, östlich vom Kap Parry liegt das Hamlet Paulatuk beziehungsweise Paulatuuq mit seinen rund 320 Einwohnern.289 Paulatuuq ist Inuvialuktun und bedeutet: Ort des Rußes oder der Kohle. Der Name nimmt Bezug auf Kohleablagerungen, die sich rund um den Ort finden lassen und den Menschen, die in den frühen 20er Jahren dort siedelten, als Heizquelle dienten. Die natürlichen Kohlevorkommen kokeln mehr oder weniger stark vor sich hin und lassen dabei Rauchfahnen entstehen, die noch weit ins Land sichtbar sind. Deshalb werden die Hügel von den Einheimischen auch „Smoking Hills“ genannt. Der Hornaday Fluss fließt nicht weit entfernt, östlich der Ansiedlung in den arktischen Ozean. Im Verlauf der letzten hundert Jahre war der Ort immer wieder bewohnt, dann aber auch wieder Jahre lang verwaist. Einheimische erklären: „It is an area rich with caribou, fish and other animals to hunt; it has access to both the sea and to fresh water; it is a good place to anchor boats; and is a friendlier land to build homes and travel on than the peninsula.“ 290 Katholische Missionare errichteten 1935 eine Kirche in Paulatuk und öffneten die Roman Catholic Trading Post. Sie schufen damit ein religiöses, soziales und wirtschaftliches Zentrum für die Menschen, die sich dort bald fest ansiedelten. Der Bau der DEW Line Station am Kap Parry in den 50er Jahren schuf Lohnarbeitsplätze und veranlasste viele Familien in die Nähe der Anlage zu ziehen. 1996 wurde der 288 Parks Canada 2004, 5 289 Paulatuk ist hinsichtlich der Altersstruktur seiner Bewohner eine sehr junge Gemeinde. Von 324 Bewohnern in 2007 waren 81 Personen im Alter von 15 bis 24 und 99 Personen im Alter von 25 bis 44. (Northwest Territories Bureau of Statistics. s.d.b) 290 Parks Canada 2004, 3

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Tuktut-Nogait Nationalpark291 eröffnet, der östlich von Paulatuk liegt. Im Park ist kommerzielles Jagen und Fallenstellen untersagt, dennoch wurde den Inuvialuit im Zuge des Inuvialuit Final Agreement uneingeschränktes Jagdrecht zur Aufrechterhaltung traditioneller Lebensweisen zugestanden. Während Ulukhaktok als die „Vorzeigegemeinde“ der westlichen Arktis gilt, leidet Paulatuk unter dem Ruf, von sozialen Problemen überwältig zu werden. Die Menschen in Inuvik warnten mich schon vor meiner Reise dorthin und erzählten mir von beängstigenden Vorkommnissen in der „Problem“-Gemeinde.292 Um mich besser auf die Zeit dort vorzubereiten und konkretere Informationen über Paulatuk zu erhalten, bat ich einen Angestellten von Parks Canada, der für die Eröffnung des Tuktut-Nogait-Nationalparks in Paulatuk verantwortlich war, noch in Inuvik um ein

291 Neben der reichen Vielfalt an Tieren und Pflanzen finden sich im 16.340 Quadratkilometer großen Tuktut Nogait Nationalpark zahlreiche archäologisch interessante Spuren einstiger menschlicher Ansiedlungen. Die Bluenose Karibus bringen im Park ihre Kälber zur Welt und gaben damit dem geschützten Ressort seinen Namen: „Tuktut Nogait in the Inuvialuktun language means ,young caribou from the moment it is born on wobbly legs to one year of age.‘“ (Parks Canada s.d.) 292 Ich lernte vorsichtig zu sein hinsichtlich Geschichten über die Menschen – vor allem wenn diese entsprechend reißerisch dargestellt wurden. Einige erzählten mir, viele Menschen in Paulatuk hätten kurze Finger und seien weniger intelligent, da Inzucht ein großes Problem sei. Andere schilderten mir Geschichten von grausamen Gewaltverbrechen in Trunkenheit. Über die Tatsache hinaus, dass solche Erzählungen häufig einseitige Verkürzungen der Wahrheit darstellen, bereiten sie Schwierigkeiten für die Menschen, die in der Gemeinde leben. Jugendliche aus Paulatuk erzählten mir, der schlechte Ruf ihrer Herkunftsgemeinde würde ihnen, wohin sie auch kämen, vorauseilen, und sie würden einerseits bemitleidet und andererseits interessiert gemustert. Für Forscher scheint das isolierte Paulatuk außerordentlich reizvoll zu sein, denn im Zuge meines Forschungsantrags hörte ich von Bewohnern, sie hätten es satt, ständig erforscht zu werden. – Zur „Problem“-Gemeinde sei auch noch bemerkt, dass ich eher hatte den Eindruck hatte, dass die Menschen in Paulatuk sehr ehrlich und offen mit ihren Problemen umgingen, diese deshalb offensichtlicher zu Tage traten. Der Mantel der Verschwiegenheit ist durchlässiger, als beispielsweise in Ulukhaktok, wo die Menschen sorgsam darauf achten, ihrem Ruf als „sauberste“ Gemeinde der Arktis nachzukommen. So zitiert Condon einen Bewohner Ulukhaktuks: „We’re proud of our facilities, of the looks and the appearance of the community as a whole. Generally, most of the yards are clean and tidy compared to some of the other communities in the Arctic.“ (1996, 195) Ich habe mich manchmal gefragt, ob nicht die Ehrlichkeit im Umgang mit den Herausforderungen in Paulatuk weniger ein Makel oder eine Schwäche, sondern eine Chance für die Menschen dort darstellt.

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Gespräch. Chris lebte sechs Jahre lang in der Gemeinde. 293 Einige seiner zahlreichen Geschichten und Erlebnisse, die mir wichtige Ergänzungen auf der Suche nach einem besseren Verständnis der Situation der Menschen in Paulatuk waren und meine dichten Beschreibungen bereicherten, sollen diesen vorangestellt werden: Die Gemeinde Paulatuk besteht maßgeblich aus vier (Groß-)Familien: den Thrashers, den Rubens, den Greens und den Wolkis, wobei, so erläuterte Chris, eigentlich nur zwei der Familien (die beiden erstgenannten) im Ort das Sagen haben und in sämtlichen soziokulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Gremien sitzen. Eine langjährige, starre Hierarchie der Familien sei im Verhalten der Menschen untereinander deutlich spürbar. Die lange Geschichte von Familienfehden und Streitigkeiten entzieht sich zunächst dem oberflächlichen Blick des Neuankömmlings. Jeder geht mit jedem stets höflich um (außer natürlich der Alkohol hält Einzug, der unterdrückte Gefühle aggressiv-gewalttätig, auch gegen sich selbst, in Form von Selbstmord freisetzt), denn nur die geschlossene Zusammenarbeit garantierte das Überleben aller in Eis und Schnee. Chris erklärte, dass man sich eher die Zunge abbeißen würde, als ein falsches Wort zum Nachbarn zu sagen, denn man wisse nie, ob man ihn im nächsten Moment nicht brauchen würde. Er fuhr fort, ein weiteres, für ihn schwer nachvollziehbares Phänomen stelle die Tatsache dar, dass Gewaltverbrecher, wie Mörder und Vergewaltiger nach der Entlassung aus dem Gefängnis wieder in die Gemeinschaft aufgenommen würden, als wäre nichts geschehen.

In Never in Anger beschreibt die Anthropologin Jean Briggs ihre Erfahrungen, als „adoptierte Tochter“ siebzehn Monate lang in einer Inuit Familie zu leben. Schon der Titel verrät etwas von der Bewunderung der Autorin über die verschiedenen Arten der Inuit, Konflikte zu vermeiden beziehungsweise diesen vorzubeugen. Eine gute Zusammenfassung ihrer detaillierten Ausführungen findet sich auf der Website von Peaceful Societies: „The Inuit try to prevent conflicts by being modest, cautious, and reticent about their own accomplishments. In order to avoid directly confronting others, they tend to phrase requests 293 Im Rahmen der Eröffnung des Nationalparks in der Nähe von Paulatuk wurde der Wissensdurst diverser Biologen, Geologen, Anthropologen, Klimaforscher usw. über die Tier- und Pflanzenwelt, aber vor allem auch über die Menschen, die dort seit Jahrhunderten jagten und lebten, geweckt. Eines der vielen Forschungsvorhaben bestand darin, altes Wissen über biologische, soziale und kulturelle Ressourcen im Park zu sammeln. Chris war maßgeblich am sogenannten Paulatuuq Oral History Project beteiligt, das sich zur Aufgabe machte, nicht nur ein ausführliches Interview mit dem katholischen Priester Father Dehurtevent, der 40 Jahre lang mit den Inuvialuit in Paulatuk lebte, sondern mit acht der Elders, durchzuführen und als Buchprojekte zu veröffentlichen. (Vgl. Parks Canada 2004)

268 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS as non-threatening jokes. They do not make invitations or promises, and they hesitate to ask questions to avoid forcing others to give direct answers. When conflicts do arise, people often express their feelings with hints. Anger occasionally erupts, but when it does the angry person simply walks away. The community may ostracize people who develop a tendency to anger, though that would be done subtly, with the people doing the ostracizing acting more nurturing and warmer than ever.“294

An anderer Stelle295 macht sich Briggs Gedanken darüber, inwiefern sich Konfliktbewältigungsstrategien in modernen Inuitsiedlungen wandelten. Sie erläutert, durch den Umzug in feste Siedlungen tauschten Inuit physische Entbehrungen und Belastungen nebst sozialer Ausgeglichenheit ein für physische Erleichterung, sahen sich dafür konfrontiert mit sozialen Spannungen und Unsicherheiten, für die sie keine adäquaten Umgangsweisen hatten. Briggs schreibt, aufgrund des Zwangs, dauerhaft in der Siedlung als Gruppe, nicht nur zusammengesetzt aus Inuit und Kabloonaq, sondern vor allem aus unterschiedlichen Inuitfamilien mit tief verwurzelten Vorurteilen voneinander, würde sich Konflikt nicht vermeiden lassen. 296 Zugleich weichen familiäre Bande im Zuge der Modernisierung und dessen Konzept der Kernfamilien auf. Damit verschwindet die emotional gefühlte Verantwortlichkeit, auf gegenseitige Bedürfnisbefriedigung zu achten. In den Vordergrund tritt die Herausforderung, sich selbst zu profilieren, um in der individualistischen Gesellschaft der Moderne Fuß fassen zu können. Zusammengefasst, so folgert Briggs, schafft ein Leben in modernen Siedlungen neue Quellen für Konflikt und untergräbt zugleich traditionelle Strategien, diesen adäquat begegnen zu können. Ständig, so seufzte Chris, würden in Paulatuk Sitzungen, Gremien und Ausschüsse abgehalten werden. Dies sei die einzige „Arbeit“, die es im Ort gäbe. Die fest gewählten Mitglieder der Gremien würden für jede Sitzung entsprechend bezahlt werden. Das Problem dabei sei, dass nicht selten in unterschiedlichen, teilweise opponierenden Gremien die gleichen Personen als Vorsitzende fungieren. Dass diese Tatsache Korruption und Machtmissbrauch Tor und Tür öffnet, sei offensichtlich. Ansonsten gäbe es in Paulatuk für die meisten Menschen keine sinnvolle Beschäftigung. Die Jagd sei so teuer geworden, dass nur wenige Privilegierte sich ein Schneemobil, ein Motorboot (beide Fortbewegungsmittel haben in den extremen Wetterbedingungen nur kurze Überlebensdauer) und das nötige Benzin leisten können, das über weite Strecken angeflogen werden muss. Die Versorgung mit Fleisch für die Gemeinde obliegt somit nur zehn bis fünfzehn Männern. In der Regel werden diese von ihren Frauen, welche die wenigen Arbeitsplätze, meist administrativer Art, ausfüllen, finanziell unterstützt. Paulatuk bestünde eigentlich 294 Bonta, Boulding s.d. 295 Briggs in: Schweitzer u.a. 2000, 110-124 296 Vgl. auch Ross 2006, 116 ff

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nur aufgrund von Subventionen der kanadischen Regierung.297 Kein Haus wird von den Menschen selbst besessen. Kein Unternehmen könne, so Chris, genug für sich selbst erwirtschaften. Zum einen ist es schwer, ein gewinnbringendes Unternehmen in der Isolation aufzubauen, zum anderen bestünde auch nicht die Motivation dazu. Die Geldquelle „Regierung“ sprudelt ja – zumindest reicht die Sozialhilfe zum Überleben und darüberhinaus sich den Minimalbedarf an Alkohol leisten zu können. Viele Menschen seien kaum über die Gemeindegrenze herausgekommen, außer zur Jagd auf das Land. Chris beschrieb den gewöhnlichen Tagesablauf eines Bewohners in Paulatuk wie folgt: Schlafen bis mittags; nachmittags Kaffee- und Teetrinken, Fernsehen und Glücksspiel (bei dem oft sehr viel Geld umgesetzt würde); abends Alkoholkonsum bis Mitternacht – dies wiederholt sich am nächsten Tag. Viele, vor allem jüngere Inuvialuit in Paulatuk, haben nie in ihrem Leben richtig gearbeitet (bis auf kurzzeitige Gelegenheitsjobs) und seien nur sporadisch auf die Schule gegangen. Mit siebzehn Jahren haben die Jugendlichen Anspruch auf Sozialhilfe und einem eigenen Wohnraum – ohne jemals dafür etwas tun zu müssen. Das Nichtstun werde so zum Lebensstil. Eltern kümmerten sich oftmals nicht darum, ob ihre Sprösslinge zur Schule gingen. Für die Kinder bestünde traurigerweise nicht selten die Hauptmotivation die Schule zu besuchen darin, den aggressiven, durch Alkohol stimulierten Ausbrüchen zu Hause zu entkommen. Alkohol werde mehr oder weniger offensichtlich in die Gemeinde gebracht. Bootlegging (Alkoholschmuggel) sei ein lukratives Geschäft, man könne teilweise bis zu fünffachem Profit einfahren.298 Die zahlreichen Abnehmer wären auch in der Lage, horrende Summen für das 297 Lisa Stevenson zitiert einen Zeitungsartikel (1999), der Bezug darauf nahm, wie teuer die Errichtung Nunavuts für die Regierung (Steuerzahler) war beziehungsweise nach wie vor ist. Ähnliches gilt für viele Gemeinden in den Nordwest Territorien: „With little likelihood of solving Nunavut’s problems any time soon, federal taxpayers could be forgiven for wondering if it might be wiser to ship its entire population south. Housing and feeding an Inuit family or four in Orlando, Florida, where a decent two-bedroom apartment rents for under $1.000 per moth, would be far cheaper than the $100.000-plus in transfers the same family in Nunavut. Even if the family opted for a two-bedroom, two-bathroom air-conditioned suite with full kitchen facilities at the Sea World Ramada, the annual room charge of $62.800 and a $2.500 monthly allowance would still save Canadians almost $10.000 a year.“ (in: Stern, Stevenson 2006, 16-17) Neben der Veranschaulichung der Kosten für die kanadische Regierung, sich um ihre Ureinwohner des Nordens zu kümmern und zugleich ihre Souveränität gewahrt zu wissen, kommen in diesem Artikel nach wie vor existierende überhebliche Vorstellungen der Kolonialmacht zum Ausdruck: „that Inuit could make a place for themselves in any space, thus ignoring the politcial, ethical, and spritiutal nature of place.“ (ebd.) 298 Ulukhakot ist eine „dry community“, in welcher Alkoholbesitz und -konsum verboten ist. Das Hamlet Paulatuk dagegen erlaubt nach wie vor die Einfuhr großer Mengen von Alkohol ohne Restriktion.

270 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS beliebte Rauschmittel zu bezahlen, denn viele Möglichkeiten, die Regierungsgelder anderweitig auszugeben, gäbe es in Paulatuk nicht. Immer wenn sich Touristen und Sportjäger in den Ort verirren, würden sofort einige der Einheimischen anfangen, in Windeseile das eine oder andere „Kunstwerk“ herzustellen, um es an den Mann oder die Frau zu bringen. Ziel dabei sei, die Alkoholquelle wieder sprudeln lassen zu können. Der Alkohol sei manchmal sogar wichtiger als Lebensmittel. Chris erzählte, es komme auch vor, dass Kinder hungrig blieben und entweder unterernährt oder aufgrund des vielen Junkfood299 übergewichtig wären. Er fuhr fort, er habe nach einiger Zeit begonnen, jeden Abend einen großen Topf heiße Suppe für unerwartete junge Besucher zu kochen. Dies habe sich schnell herumgesprochen. Oftmals sei sein Haus voller Kinder gewesen, die nicht nur aufgrund des knurrenden Magens zu ihm kamen, sondern vor allem, um vor den Übergriffen der Erwachsenen Zuflucht zu finden. Für die Kinder sei dies völlig normal. Gingen Eltern im Süden ins Kino, würden sich die Eltern in Paulatuk eben betrinken und entsprechend ausfällig werden. Als er den Ort nach erfolgreicher Erfüllung seiner Aufgabe wieder verließ, blieb ihm, so berichtete Chris, nichts anderes übrig, als einen der Jungen zu adoptieren. Er sei jetzt vierzehn Jahre alt, und gerade gestern habe er mit ihm gemeinsam dessen Mutter aus dem Gefängnis abgeholt. Sie ginge dort ein und aus. Der Bruder seines „Sohnes“ war mit elf Jahren schon schwer dem Alkohol verfallen und vom Klebstoffschnüffeln gezeichnet. Er hielt sich zurzeit in einer Drogeneinrichtung in Vancouver auf. Mit siebzehn Jahren allerdings würde er entlassen und mit samt Sozialhilfe zurückgeschickt werden nach Paulatuk. Viele der traumatischen Lebensthemen, wie psychischer, physischer und sexueller Missbrauch des Jungen, blieben offene Wunden. Die Zukunft des Jugendlichen, so murmelte Chris traurig, sähe nicht rosig aus. Die Suizidproblematik in Paulatuk sei wie in vielen Gemeinden in der Arktis schwer in den Griff zu bekommen. Ein weiteres Phänomen in den Erzählungen von Chris schockierte: Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe, so berichtete er, geschehen teilweise auf offener Straße und würden in der Regel nicht weiter verfolgt. Sie seien geduldeter Teil des Lifestyles in Paulatuk. Die Folgeerscheinung daraus ist dann auch nicht weiter verwunderlich: Bei einer Population von etwa 300 Menschen wären rund 200 schulpflichtig. Deshalb sei die Schule in Paulatuk auch recht groß. Der Bevölkerungsanstieg ist enorm. Familien mit über 10 Kindern stellen keine Seltenheit dar. Chris hielt einen Moment inne und bemerkte, er habe ein sehr negatives Bild gezeichnet, aber es sei nicht alles hoffnungslos. Vor allem bei Menschen der jüngeren Generation sähe er immer mehr die Neugierde, über den Tellerrand blicken zu wollen. Vor allem die Brückenschläge durch Fernsehen und Internet öffneten Augen und gäben Raum für Sehnsüchte jenseits dessen, was in Paulatuk möglich sei. Bis zum tatsächlichen Schritt hinaus in die weite Welt sei jedoch noch ein langer Weg. 299 Gemeint sind vor allem stark fett-, salz- oder zuckerhaltige Lebensmittel wie Pommes frites, Kartoffelchips, Süßwaren und Limonaden, die ähnlich wie auch diverse FastfoodAngebote den Norden rasant in Beschlag genommen haben.

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Chris erzählte, die Angst vor dem Unbekannten sei groß. Dies könnte auch ein Grund dafür gewesen sein, dass mein Forschungsvorhaben von der Gemeindeleitung Paulatuks zunächst abgelehnt worden war. Alles was die Menschen nicht verstehen, sei bedrohlich. Selbst wenn Ihresgleichen den Sprung nach draußen schafften und mit höherem Bildungsniveau zurückkämen, würden sie argwöhnisch gemustert und oftmals nicht mehr völlig als Teil der Gemeinschaft akzeptiert. In diesem Zusammenfang empfand ich es erstaunlich und aus meiner Perspektive traurig, dass Mörder und Vergewaltiger anscheinend eher wieder in die Gemeinde aufgenommen werden, als Menschen mit Universitätsabschluss, was bedeuten würde, dass die Menschen mit Ersteren eher vertraut sind. Chris erwähnte noch den katholischen Geistlichen, Vater Léonce Dehurtevent, der jahrzehntelang einen großen Einfluss auf die Gemeinde hatte. Er sah wohl in den Menschen so etwas wie seine Schutzbefohlenen und achtete sehr darauf, dass die Kultur zu jedem Preis erhalten blieb. Das ging soweit, dass er jeglichen Einfluss der Bildung aus dem Süden im Ort untergrub, Tradition über alles erhob und stets betonte, die Menschen hier seien Jäger und Sammler, keine Ärzte oder Professoren. Dies hatte zum einen die Folge, dass nicht alle auf die residential school geschickt wurden, zum anderen aber auch, dass die Abhängigkeit der Menschen von Staat und Kirche bald noch existentieller war, als in anderen Gemeinden. Nachdem der Geistliche dann vor wenigen Jahren starb, verlor die Gemeinde ihre Leitperson und hatte, auf sich selbst zurückgeworfen, niemand anderen, der als Vorbild dienen konnte. An einen passenden Nachfolger hatte der katholische Priester wohl nie gedacht. Lehrer und Sozialarbeiter hielten es kaum länger als einige Monate in Paulatuk aus. Während seinen sechs Jahren im Ort, so Chris, habe er keinen Sozialarbeiter länger als ein Jahr dort beschäftigt gesehen.

Erste Eindrücke vom Leben in Paulatuk Eine kleine Propellermaschine brachte mich von Ulukhaktok nach Paulatuk. Ich war der einzige Fluggast, der nach Paulatuk wollte, und der Pilot scherzte noch, ich solle nicht vergessen, rechtzeitig auszusteigen. Die kleine Twin-Otter300 landete mitten in der Eiswüste. Eine Rollbahn konnte ich nicht ausmachen. Mein Gepäck wurde ausgeladen, die Maschine hob sich wieder in die Lüfte und ließ mich alleine zurück. Mir blies kalter Wind ins Gesicht, als ich versuchte, meine schweren Gepäckstücke über die Landebahn in das nahe gelegene kleine Flughafengebäude zu tragen. Zum Glück traf ich dort eine Frau an, die damit beschäftigt war, dem Piloten noch einige Daten zum Start durchzugeben. Sie organisierte mir einen Zubringerbus zum Ort. Pat sollte ebenfalls von Inuvik aus nach Paulatuk kommen, um mich zu treffen und der zuständigen Aboriginal Healing Foundation Koordinatorin vorzu-

300 Die de Havilland of Canada 6 Twin Otter ist ein robustes, 20-sitziges STOL (Short Take-off and Landing-)Flugzeug, das mit Kufen oder Schwimmern ausgerüstet auch auf Schneeflächen und im Wasser landen und starten kann.

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stellen. Für die ersten Tage war ich gemeinsam mit ihr im Hotel301 der Gemeinde untergebracht, bis eine andere Unterkunft gefunden werden sollte. Die Ehrlichkeit und Offenheit, mit der die Menschen hier über ihre sozialen Schwierigkeiten sprachen, schockierte. Kaum angekommen, wurde ich mit Pat in der Eingangshalle des Hotels in ein Gespräch verwickelt, das mir unversehens die Augen für die komplexen, vielschichtigen Problemzusammenhänge öffnete, mit welchen die Menschen in Paulatuk zu kämpfen hatten. Angefangen hatte das Gespräch damit, dass mich Pat einigen Damen, die im Erdgeschoss des Hotels ihre Büros hatten, vorstellte und erklärte, ich würde Anne bei der Koordination ihrer Programme im Rahmen der Aboriginal Healing Foundation helfen. Dies schien für eine der Frauen starke Erregung hervorzurufen, und sie fragte aggressiv, ob Anne etwa auch für die Verlängerung des Programms noch hier in der Gemeinde bliebe. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort, Anne würde wirklich nichts machen, was der Gemeinde diente. Die von ihr eingeführten Programme für die Jugend seien ja ganz schön, aber die Erwachsenen und die Menschen, die auf die residential school gingen, hätten nichts vom Segen der Aboriginal Healing Foundation, obwohl dies die eigentliche Zielgruppe des Programms sei. In einem gewaltigen Wortschwall erklärte sie uns, sie mache sich ernsthaft Sorgen über die Zukunft der Menschen in Paulatuk. Vor allem, wenn nun durch die Entschädigungsleistungen der Regierung für die residential school Abgänger wieder viel Geld in die Gemeinde käme, wäre das für viele ein weiterer Schritt nach unten auf der Spirale abwärts in die Sucht. Sie selbst sei Alkoholikerin und käme gerade von ihrem zweiten Entzug. Es gäbe keine Form der Nachbehandlung in der Gemeinde, und sobald man wieder hier sei, würde man denselben Verlockungen wieder ausgesetzt: Derselbe Frust, dieselbe Traurigkeit und Trostlosigkeit lassen einen wieder zur Flasche greifen. Es gäbe keine Unterstützung oder Anreiz, abstinent zu bleiben. Nur ihre Kinder und der Wunsch, dass diese anders aufwachsen würden, als sie selbst, hielt sie davon ab, sofort wieder mit dem Trinken zu beginnen. Der Gruppenzwang sei gewaltig. Es sei schon fast nicht mehr normal, „normal“ zu sein. Man werde zum Außenseiter, wenn man sich bei Alkoholorgien nicht blicken ließe. Der Konsum von Alkohol wäre so etwas wie der soziale Kitt, der die Menschen verbindet. Den Erwachsenen müsse geholfen werden. Die Jugend komme im Moment ganz gut zurecht, aber deren Eltern steckten so tief im Morast und keine Hilfe sei in Sicht. Sie habe für sich selbst genauso wie für andere Angst vor dem Geldsegen der kanadischen Regierung, der sie bald erreichen wird. 301 Das Hotel in Paulatuk stellt das Gemeindezentrum dar. In dem, für arktische Verhältnisse, großen Bau befinden sich die wichtigsten Büros der Gemeindeverwaltung (AHF Programm mit Jugendtreff, Self-government Büro, Parks Canada, das Sozialprogramm Brighter Futures, Community Corporation) und Versammlungsräume. Die Übernachtungskosten für ein einfaches Hotelzimmer in Paulatuk sind so hoch wie in Luxushotels der Weltmetropolen. Das Hotel, wie auch die Airlines Air North und Aklak Air, gehören IRC.

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In einer Atempause schaltete sich nun eine weitere Frau ein, welche die Ausführungen der ersten Dame bereits ausgiebig durch heftiges Kopfnicken unterstrich und ließ ihrem Groll auf die kanadische Regierung freien Lauf. Die Politiker würden sich um alle möglichen anderen Leute kümmern und Truppen nach Afghanistan senden, dort hohe Verluste in Kauf nehmen, aber die Menschen im eigenen Land vergessen. Sie fühle sich wertlos, denn Geld allein bringe gar nichts. Die Menschen hier wüssten nicht, wie man Kinder erzieht. Sie selbst sei, wie viele hier, ohne Eltern aufgewachsen.302 Sie hätte sich lange überwinden müssen, ihr eigenes Kind in den Arm zu nehmen. Zärtlichkeit und Nähe habe sie selbst einfach nie erlebt. Mit leiser Stimme fuhr sie fort, sie hätte es sich zur Routine gemacht, ihr Kind zu liebkosen, habe dabei aber nichts gespürt. Sie sei einfach kalt gewesen. Irgendwie mechanisch-neutral. Auch sie sei sehr anfällig für Alkohol. Sie bräuchten dringend Hilfe in Paulatuk. Ihre Familie würde nicht trinken, aber es sei schwer abzusagen, wenn sie auf Feiern eingeladen werde. Sie wüsste, dort würde viel getrunken werden. Sie fühle sich durch die Entscheidung gegen den Alkohol regelrecht isoliert vom Rest der Gemeinde. Aber sie wisse sehr genau, was der Alkohol mit ihr mache. Sie habe einige Einträge im Strafregister und sei schon mehrfach wegen Körperverletzung verurteilt worden. Einmal habe sie eine Frau so brutal geschlagen, dass diese wochenlang blau und grün im Gesicht war und sogar genäht werden musste. Sie senkte ihren Blick auf den Boden und erklärte leise aber bestimmt, das sei aber nicht sie, und das wolle sie auch nicht sein. Sie wünsche sich, ihren Kindern ein gutes Elternhaus zu bieten, damit sie etwas im Leben erreichen könnten. Sie wolle nicht, dass ihre Kinder aus Angst vor den eigenen Eltern nachts draußen im Freien bleiben müssten, wie so viele Kinder hier im Ort.

Unkontrollierte Gewaltausbrüche, Zerstörungswut, sexuelle Übergriffe und Selbstmord sind elementare Probleme in Paulatuk. Zentrale Rolle dabei spielt exzessiver Alkoholkonsum, der überproportional häufig in Ureinwohnergemeinden vorkommt. So genanntes binge drinking303, maßloses Trinkverhalten, lähmt Kontrollmecha302 Paulatuk galt lange Zeit als zu klein, um eine eigene Schule zu errichten. Eine, wenn nicht zwei Generationen sind deshalb als Kinder in weit entlegenen residential schools erzogen worden. Die Reise mit dem Schiff und später auch Flugzeug ist lang und kostenaufwendig gewesen, so dass viele Kinder von ihren Eltern über Jahre hinweg getrennt waren. In der Folge waren sie oftmals nicht in der Lage, ihren eigenen Kindern gute Rollenvorbilder in Sachen Elternschaft zu bieten. Alkoholmissbrauch und Vernachlässigung sind die Folge. 303 Binge Drinking meint den Konsum von fünf oder mehr alkoholischen Getränken zu einer Gelegenheit. Gemäß des Northwest Territories Addictions Reports von 2006 stieg der monatliche exzessive Alkoholkonsum in den Nordwest Territorien in den letzten Jahren von 33% auf 45%. „Residents aged 15 to 24 were more likely than the older age groups to engage in regular binge drinking. Males were more likely than females and Aboriginals were more likely than Non-Aboriginals to binge drink. University gradu-

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nismen über eigenes Verhalten. Nicht selten trinken Betroffene bis zur Bewusstlosigkeit. Dr. Clare Brant führt aus, dass die Tugend der Inuit, „that anger must not be shown“ möglicher Grund sein könnte für die explosionsartigen Gewaltausbrüche in Ureinwohnergemeinden, wenn Alkohol im Spiel ist. Denn „anger that has been stored up, never shown, not ventilated and discharged, comes pouring out when the person is intoxicated.“304 Hinsichtlich dessen, was ich über den Umgang mit Konflikt (beziehungsweise die Vermeidung von Konflikt) in Inuitgemeinden hörte, gelesen und bisher erlebt hatte, verwunderte mich die beinahe aggressive Art, offen den Unmut über Anne, die Koordinatorin des AHF Programms, die bereits seit zwei Jahren in der Gemeinde tätig war, zum Ausdruck zu bringen. Ich erklärte mir zunächst den Grund für die offen geäußerte Kritik dadurch, dass Anne zwar Méti war, sie aber nicht ursprünglich aus der Gemeinde stammte. Als ich nach einiger Zeit dichtere Einblicke erhielt in das Gesamtsystem Paulatuk, verstand ich, dass sich die Dynamik wesentlich komplexer darstellte. Ganz im Gegensatz zu dieser Erfahrung war meine erste Begegnung mit der Sekretärin der Gemeindeverwaltung,305 die in Paulatuk bedeutenden Einfluss hatte, zwar fremd und unerwartet, aber völlig im Sinne dessen, was ich über Konflikt(vermeidungs)strategien der Inuit gehört hatte. Sie hatte sich mit einigen anderen der Führungsliga in Paulatuk ursprünglich gegen meine Forschung ausgesprochen, was, wie bereits oben erwähnt, zu Schwierigkeiten bezüglich meiner Forschungslizenz führte. Bereits von Inuvik aus hatte ich mit ihr telefonisch Kontakt aufgenommen, um mein Anliegen direkt und nicht nur über Dritte (IRC auf der einen und das Forschungsinstitut auf der anderen Seite) zu klären. Bereits während ates were less likely to binge drink than the other education groups, while high income households had a lower prevalence than both low and middle income households.“ (Northwest Territories Health and Social Services 2006) 304 In: Ross 2006, 164 305 Die Sekretärin (Community Corporation Manager) war eine der wenigen in der Gemeinde (wenn nicht die einzige), die einen Universitätsabschluss vorweisen konnte. Später erzählte sie mir, sie sei als Alleinerziehende mit ihrem Kind vor vielen Jahren nach Saskatoon an die Universität gegangen, um dort zu studieren. Nach vier Jahren habe sie einen Bachelor in den Erziehungswissenschaften erhalten und nebenbei noch einige Kurse in Anthropologie belegt. Der Schritt, tatsächlich für einige Zeit Paulatuk den Rücken zu kehren und sich der Fremde auszusetzen, war schwer gewesen. Gut war, dass sie ihre Tochter dabei hatte. Außerdem brachte sie neben vielen Bildern von ihrer Familie ein ganzes Paket Handarbeiten mit, damit sie sich einsame Abende sinnvoll füllen konnte. Sie erwähnte noch, sie würde sich wünschen, dass auch ihre Tochter auf die Universität ginge, aber die zeige keinerlei Interesse, besuche die Highschool nur sporadisch und würde stattdessen mit gleichaltrigen Jugendlichen im Ort nur herumhängen.

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dieses Telefonates wunderte ich mich über die widersprüchlichen Botschaften, die ich erhielt, denn im direkten Kontakt zeigte sie sich überaus erfreut über mein Kommen und betonte, ich solle so bald wie möglich nach Paulatuk (und nicht erst nach Ulukhaktok) fliegen. Die Gemeindeverwalterin blickte mich ungläubig an und erklärte, sie habe sich nach meinem Brief an die Gemeinde eine kleine, wenig belastbare, ältere Dame vorgestellt, aber nicht eine große, junge Frau. Mit dem Vorsitzenden des Gemeinderates sei sie in ihrem Büro gesessen, habe ihm meinen Brief vorgelesen und über mich und mein Vorhaben im Ort beratschlagt. Er habe dabei die Stirn gerunzelt und sich besorgt gefragt, ob ich es denn hier in Paulatuk überhaupt aushalten würde  bei den vielen offensichtlichen Schwierigkeiten und harschen Umständen, in die man als Außenseiter kommen könnte. Nach diesen Ausführungen überschlug sich die Frau fast vor Freude, dass ich endlich da war. Eine gute Forschung über die Situation der Menschen hier sei dringend erforderlich, erklärte sie mir, denn sie bräuchten Hilfe. Die sozialen Probleme seien überwältigend, die Menschen völlig entwurzelt. Ich konnte nicht anders und musste lächeln beim Gedanken an die lange Vorgeschichte und dass der Gemeinderat zunächst mein Forschungsgesuch strikt abgelehnt hatte. Aufgeregt begann sie in ihrem großen Terminplaner zu blättern und mich zu allen möglichen Treffen, Sitzungen und anderen Zusammenkünften, die in der nächsten Zeit stattfinden sollten, einzuladen, damit ich möglichst viele Einblicke erhalten würde.

Sitzungen, Versammlungen und Gremien: Mittel oder Zweck? Eine der Sitzungen, zu der ich eingeladen wurde, fand in der Schule 306 statt. Neben bedeutsamen Persönlichkeiten aus der politischen Führung der Gemeinde kamen einige Lehrer und der Schuldirektor zum Paulatuk Distinct Education Authority Regular Meeting. Eine Reihe von Punkten stand auf der Tagesordnung. Der Vorsitzende der Runde achtete mit großer Ernsthaftigkeit darauf, dass alle nacheinander abgearbeitet wurden und Abstimmungen ordnungsgemäß vonstatten gingen. Zunächst wurden alle Anwesenden auf eine Liste aufgenommen, bevor sie sich erhoben und mit ernster Miene das Vaterunser beteten. Erster Tagesordnungspunkt waren die bedenklich niedrigen Schülerzahlen in der Highschool. Eine der Anwesenden erwähnte besorgt, dass die Anwesenheit der Schüler in der

306 „Angik School was established in the 1970s and is named after Mr. Angik, a prominent resident of Paulatuk. The original school was simply a house. The current school building was built in 1993 and houses a K-10 program with approximately 90 students. The school’s logo is ,Be the best that you can be‘. Attached to the school is the community gymnasium, which is used by both the school for gym class and by the community for social events.“ (Urban-Rich 2005)

276 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS Highschool gewaltig zu wünschen übrig ließe (von 36 gemeldeten Schülern würden im Schnitt nur vier erscheinen). Immer wieder würde sie Kinder und Jugendliche auf der Straße sehen, die eigentlich zu dieser Zeit in der Schule sitzen sollten. Zudem sei es eine alarmierende Tatsache, dass ein kürzlich erschienener Polizeibericht die traurige Vermutung bestätigte, dass die Zahl Alkohol konsumierender junger Erwachsener in den letzten Jahren angestiegen sei. Da bestünde wohl ein Zusammenhang. Eine andere Frau brachte ihre Bedenken darüber zum Ausdruck, dass einige der Schüler, die als Mitglieder der Drumgroup des Ortes oder als abgeordnete Athleten der Northern Games auf Reisen gehen dürften, auch nicht regelmäßig die Schule besuchten. Diese Schüler sollten doch eigentlich Vorbilder sein für andere und darüberhinaus Paulatuk würdevoll vertreten. Sie forderte, dass nur die Tänzer und Sportler, die vorbildliche Leistungen in der Schule erbringen, auch entsprechend ihrem Hobby nachgehen dürften. Weitere Themen, die diskutiert wurden, hingen mit den extremen Wetterverhältnissen im Ort zusammen. Ein Bus sollte eingesetzt werden, um die Kinder im Winter zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. Der Direktor machte sich über das Budget Gedanken und wie man einen solchen Hol- und Bringservice finanzieren könnte. Weiterer Diskussionspunkt in Sachen Wetter war die Regelung, dass Eltern morgens selbst entscheiden konnten, ihre Kinder bei schlechtem Wetter zu Hause zu lassen und aufgrund welcher Wetterkriterien dies möglich sein sollte. Die Schulordnung sieht vor, dass Eltern die Schule in Kenntnis setzten müssten, wenn sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken würden. Das Problem bestände darin, dass viele kein Telefon besäßen und somit nicht anrufen könnten. Es wurde darüber nachgedacht, eine Wettermeldung im örtlichen Radio durchzugeben, sollte es so kalt oder stürmisch sein, dass der Schulweg für die Kinder unzumutbar wäre.307 Als letzter Tagesordnungspunkt stand der Bericht des Schuldirektors auf dem Programm. Während er die Liste der Schüler durchlas und einige Namen erwähnte, explodierte eine der Anwesenden völlig unerwartet. Laut und in aggressivem Ton mit unschöner Wortwahl erregte sie sich, dass ein Junge mit falschen Nachnamen in der Schülerliste geführt würde. Sie habe sich schon mehrfach um die Änderung bemüht und der Direktor solle doch endlich den Behörden melden, dass dieser Fehler behoben werden sollte. Der sanfte Schuldirektor, der erst seit wenigen Monaten in Paulatuk tätig war, schien sichtlich überfordert mit der Situation. Ich erlebte die Empörung der Frau als irrational und überzogen. Erst als mir Pat auf dem Heimweg die Umstände erklärte, verstand ich die Reaktion. Bei dem Kind handelte es sich 307 Ich wunderte mich später darüber, dass sich das Gremium so ernsthaft über den relativ kurzen Schulweg Gedanken machte (ganz Paulatuk ist vielleicht zwei Kilometer lang). Denn wenn es draußen stürmte und die Temperaturen gefährlich weit unter Null fielen spielten die Kinder manchmal völlig unbeaufsichtigt bis in die frühen Morgenstunden auf der Straße Hockey, um sich die Zeit zu vertreiben und um warm zu bleiben, wenn ihre Eltern dem Alkohol zusprachen. Der junge Polizist im Ort erzählte mir später, wenn er nachts besonders viele Kinder auf den Straßen sah, könnte er davon ausgehen, dass er zu unzähligen Einsätzen gerufen werden würde.

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um den adoptierten Sohn der Frau: ein ehemaliger „Wolki“, der jetzt ein „Ruben“ sei. Aufgrund der starren Hierarchie zwischen den Familien im Ort stellt die Benennung eines „Ruben“-Kindes in der Schülerliste als „Wolki“, nicht nur einen Fauxpas dar, sondern gleicht einer Beleidigung des gesamten Rubenclans.

Oftmals, so erfuhr ich später von Anne (AHF Koordinatorin Paulatuk), sei es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, für Projekte und Programme Freiwillige aus der Gemeinde zu finden, denn die Menschen seien gewohnt, für jedes Treffen bezahlt zu werden. Die Motivation, sich in der Gemeinde zu engagieren, sei fast ausschließlich extrinsischer Natur. Die Tatsache, dass es in Paulatuk sonst kaum Möglichkeiten gäbe, (legal) Geld zu verdienen, habe die Regierung mit ihren unzähligen Programmen dazu veranlasst, den Einsatz und das Engagement „Freiwilliger“ zu bezahlen. Die Bezahlung sei somit häufig Zweck des Treffens, nicht die Inhalte selbst. Umfragen oder Gemeindeversammlungen der Inuvialuit Regional Corporation würden hauptsächlich durch die Verlosung von attraktiven Geschenken (door prizes) Gemeindemitglieder anziehen. Selbst Elders erzählen manchmal Geschichten, hauptsächlich motiviert durch entsprechende Entlohnung. Diese Aussage wurde wenig später bestätigt, als ich zum (bezahlten) Treffen des Elders Board in Paulatuk eingeladen wurde: Einer der Elders fragte mich, wo ich herkäme. Nachdem ich ihm erklärt hatte, ich sei Deutsche, bemerkte er etwas abfällig: „I thought that is a Russian breed.“ Ich wusste nicht so recht, wie ich mit dieser Aussage umgehen sollte und hatte das ungute Gefühl, nicht von allen in der Runde erwünscht zu sein. Unter anderem ging es in der Versammlung um die Rolle der Elders in der Gesellschaft – eine Rolle, die sich in der neuen Zeit gewaltig verändert hat und neue Verortung braucht. Es sei wichtig, öffentlich wirksam zu sein und teilzunehmen am Leben in der Gemeinde, betonte die Vorsitzende. Allerdings stand dabei immer die Frage im Raum, was für die unterschiedlichsten „freiwilligen“ Dienste an finanzieller Entschädigung herausspringen würde. Geschichtenerzählen über Radio sei eine gute Sache gewesen. Eine der Damen in der Runde bemerkte: „The people like the stories and string games – we will do it – as long as we get the money.“ Mich beschlich das ungute Gefühl, dass durch die Bezahlung traditioneller Dienste wie das Geschichtenerzählen kulturelle Praktiken zunehmend nur noch Mittel darstellen, um Geld zu verdienen – auch wenn dies in der Öffentlichkeit anders dargestellt wird. Irgendwie ist diese Tatsache auch verständlich, denn es gibt ja in Paulatuk keine andere Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ich erfuhr, dass die Ältesten für jedes Treffen, das sie besuchten, hundert Dollar bekamen. Das Problem mit diesen Honoraren sei jedoch, dass sich dadurch die sowieso schon sehr geringe staatliche Rente verringere. Es müssen auch in Zukunft Mittel und Wege gefunden werden, das Honorar „an der Regierung vorbei“ zu verdienen, erklärte eine der Anwesenden. Nächster Programmpunkt des Treffens war die geplante Weihnachtsfeier

278 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS der Ältesten. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob es traditional food oder ein turkey dinner geben sollte. Die Elders entschieden sich fürs Erstere, und die Vorsitzende der Runde bemerkte: „I have friends high and low in the community and I can get country food“. Menüfavoriten für das Fest waren: Karibouhead soup, kugyak oder „Eskimo turkey“ (Schwan) und Gans mit Cranberries. Gleich im Anschluss an das Treffen konnte sich jeder, der daran teilgenommen hatte, einen entsprechenden Scheck abholen. Ich wunderte mich im Nachhinein, dass ich zu derartigen Treffen eingeladen wurde, wo heikle Themen so offen diskutiert wurden.

Spiel, Spaß und Trommeln Mehr oder weniger inoffizieller Treff im Ort schienen die Räumlichkeiten des Kindergartens, gefördert durch die Aboriginal Head Start308 Initiative, zu sein. Vor allem viele Elders tranken hier nachmittags gerne eine Tasse Kaffee und erzählten sich Geschichten. Oftmals dampfte ein großer Topf Karibusuppe auf dem Herd, oder es roch wunderbar nach frischem Bannock – von beidem durfte sich jeder Besucher unaufgefordert bedienen. Frauen fanden sich ein, um gemeinsam zu nähen oder zu sticken. Auch ich verbrachte viel Zeit dort und wunderte mich, dass kaum Kinder in den Kindergarten gebracht wurden. Die drei Frauen, die im Rahmen der Initiative fest angestellt waren, hatten teilweise gar nichts zu tun und gingen ihren Handarbeiten nach oder kochten für die Besucher. Manchmal kamen Kinder auch nur kurz (ohne Eltern und aus freien Stücken), um sich aufzuwärmen oder sich eine warme Mahlzeit abzuholen.

308 „Aboriginal Head Start (AHS) in Urban and Northern Communities is a Health Canada-funded early childhood development program for First Nations, Inuit and Métis children and their families. The primary goal of the initiative is to demonstrate that locally controlled and designed early intervention strategies can provide Aboriginal children with a positive sense of themselves, a desire for learning, and opportunities to develop fully as successful young people. […] AHS projects typically provide half-day preschool experiences that prepare young Aboriginal children for their school years by meeting their spiritual, emotional, intellectual and physical needs. All projects provide programming in six core areas: education and school readiness; Aboriginal culture and language; parental involvement, health promotion, nutrition and social support. Projects are locally designed and controlled, and administered by non-profit Aboriginal organizations. AHS directly involves parents and the community in the management and operation of projects. Parents are supported in their role as the child’s first and most influential teacher, and the wisdom of elders is valued.“ (Public Health Agency of Canada 2004)

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An einem Abend organisierten wir dort einen „Lebensmittel-Bingo-Abend“:309 Von den Jüngsten der Gemeinde bis zu den Ältesten freuten sich die Menschen offensichtlich über die Abwechslung der Gemeinschaftsaktionen am Abend. Viele waren gekommen und saßen dicht gedrängt auf dem Boden, auf kleinen Kinderstühlchen oder auf niedrigen Schränken, alle bewaffnet mit diversen Bingokarten und einem dicken Stift, um die genannten Nummern darauf abzuhaken. Der Raum war brechend voll. Der so genannte BingozahlenAnsager hatte Mühe, die Zahlen laut und deutlich durch das Stimmengewirr und schallendes Gelächter verständlich zu machen. Enkel halfen ihren Großeltern dabei, die Zahlen auf der Bingokarte schnell genug abzustempeln. Während sich die meisten im Spielzimmer des Kindergartens heiße Bingoschlachten lieferten, hatten sich andere in die Küche zurückgezogen und labten sich an den Köstlichkeiten, die auf großen Tischen zum Zugreifen einluden. Sie unterhielten sich angeregt. Einige Kinder saßen auf dem Boden und malten mit dicken Filzstiften auf große Papierplakate. Edward310, der Älteste der Gemeinde, begrüßte mich freundlich. Ich setzte mich zu ihm und begann seinen Geschichten zu lauschen. Er trug eine Baseballkappe und einen wunderschönen, schwarzen Parka, der mit großen, roten Blumen verziert war. Eigentlich ungewöhnliche Motive für einen Mann. Später erzählte er mir, seine Frau nähe alle zwei Jahre für ihn einen Parka – immer anders, immer schön. Der Alte war schwer zu verstehen, er sprach nur sehr leise und war wohl auch seines Gebisses verlustig gegangen. Nachdem ich erzählt hatte, dass ich ursprünglich aus Deutschland käme, fragte er mich unvermittelt, ob ich schon einmal in Rom gewesen sei. Er fuhr fort, dass dies ein großes Abenteuer gewesen sein müsste, denn die Häuser seien so alt, groß und schwer  die würden sicher leicht umfallen. Seinen Universitätsabschluss, so erklärte er mit verschmitztem Lächeln im zerfurchten Gesicht, habe er auf dem Land erhalten. Die Jugend heute dürfte man nicht mehr aufs Land schicken, sie würden dort nicht überleben.

309 Beim Lebensmittel-Bingo wurde nicht um Geld, sondern um Pakete mit Nudeln, Kartoffelpulver, Zucker, Mehl und Schokolade gespielt, die wir vorher zusammengestellt hatten. 310 „Edward was born to his parents An’ngik Ruben and Sadie Ruben (Sukkayaaluk) on May 1, 1917. Edward’s dad came from Alaska. His mom, Sukkayaaluk from Tuktoyaktuk. Edward comes from a big family, of 12 brothers and sisters. As a young boy, Edward liked to keep pups [junge Hunde] for company and for play. He takes pride in his dog training skills, and used to train all of his dogs. In 1940 he married his first wife, with whom he had six children. In 1959, Edward married a second time, his present wife, Mable. Mable and Edward had ten children, adding to their large family. Edward has placed great value in his family over the years, a turning point in his life being the time he chose his family-life over the vice of alcohol, something he is proud of today.“ (Parks Canada 2004, 151)

280 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS Nachdem alle Lebensmittelkisten nebst diversen Rezepten, die wir dazugelegt hatten, vergeben waren, machten sich die Menschen auf den Heimweg. Ich hatte bemerkt, dass Pat und die anderen Organisatoren einige der Preise zurückgehalten hatten. Als ich sie nach dem Grund dafür fragte, erfuhr ich, dass immer darauf geachtet wurde, dass die Elders, die leer ausgingen, auf jeden Fall auch ein Essenspaket mit nach Hause nehmen konnten. Dabei ging es nicht nur darum, Elders den nötigen Respekt zu zollen, sondern vor allem darum, dass nicht selten die Großeltern die Hauptversorger der Familie waren.

Gemeinsame Spielabende wie dieser werden in der Gemeinde gerne angenommen. Ziel dabei ist nicht nur, die Menschen für eine Zeitlang den Fängen der Langeweile und der Frustbewältigung durch Alkohol zu entreißen, sondern darüberhinaus ein Bewusstsein zu schaffen für gesunde Ernährung und sinnvolle Freizeitbeschäftigungen. Beides war traditionell gegeben, schien jedoch dem rasanten Wandel in eine neue Zeit zum Opfer gefallen zu sein. Fernseher, Chips und Cola hielten Einzug und verdrängten vor allem für viele Jugendliche den Appetit auf rohes Fleisch, Muktuk und lange Wanderungen über Land. Schon zwei Tage später war wieder ein Spaß- und Spielabend im Kindergarten geplant. Ich hatte versprochen, einen meiner Fische aus Ulukhaktok dafür zu stiften und bayerische Brezen zu backen. Während ich mit Pat und den Angestellten der Initiative mit den Vorbereitungen für den Abend beschäftig war, lud mich Marie, eine freundliche ältere Dame ein, bei den Proben der Paulatuk Trommelgruppe (Paulatuk Moonlight Drum Dancers) zuzusehen. Ein Filmteam aus Inuvik wollte die Gruppe für eine Fernsehdokumentation aufnehmen. Auf dem Weg erzählte mir die ältere Frau stolz, ihr Enkel habe diese Gruppe ins Leben gerufen, als er gerade einmal 13 Jahre alt war. Mentor des Jungen sei ein Elder aus Tuktoyaktuk gewesen. Er habe die Tracht selbst genäht, und die Gruppe sei bereits nach kurzer Zeit so erfolgreich gewesen, dass sie nicht nur nach Alaska zu Auftritten reiste, sondern über die Inuvialuit Regional Corporation vor einigen Jahren sogar nach Deutschland (Hannover) zur Expo eingeladen worden war.311 Außer mir, Marie und dem zweiköpfigen Filmteam war auch 311 „Members of the Paulatuk Drummers and Dancers went on the trip of a lifetime when they were invited to participate in Expo 2000 in Hannover, Germany. Five members of the group – Nolan Green, Esther Wolki, Tracey Wolki, Savanna Green and Warren Ruben – spent 10 days performing for visitors to the Canada Pavilion at Expo 2000. During their stay in Hannover, the group performed three times a day. […] The group from Paulatuk also had the chance to visit other parts of Germany, including a four-day visit to Pfarrkirchen, a village in the southern part of the country. While there, the group visited with Anna Ovlugiak Kikoak, her mother Simone Wagener, and Nanuq Charlotte Wagener. Thanks to Simone, the group from Paulatuk stayed at a former monastery, visited a farm with ducks and horses, toured a castle, climbed apple trees, and per-

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noch Mary Evik, eine liebenswerte Elder im Rollstuhl, in den geräumigen Versammlungsraum des Hotels gekommen. Lautes Trommeln erfüllte den Raum, und Jugendliche hüpften in traditioneller Tracht (mit Baseballkappe!) im Takt dazu. Konzentriert mimten sie behäbige Eisbären, den Bau eines Iglus und das Schaben von Fellen. Die beiden älteren Damen saßen nebeneinander und schienen die Gesänge und Tänze der Jugendlichen ganz besonders zu genießen. Immer wieder tuschelten sie sich etwas zu und lachten laut. Die zwei vom Filmteam hatten alle Hände voll zu tun, die Gruppe zu filmen und zu fotografieren. Eine besondere Herausforderung bestand darin, alle auf ein Foto zu bekommen, das die Titelseite der nächsten Ausgabe eines Magazins zieren sollte. Denn die Tradition erlaubte nur eine gewisse Sitzordnung, die es unmöglich machte, den ganzen Trommeltrupp auf ein Bild zu bringen. Wieder zurück im Kindergarten empfing mich lautes Gelächter und Getöse. Die Gemeinschaftsspiele waren in vollem Gange. Es hatte den Anschein, als sei fast die gesamte Gemeinde gekommen. Indian Bingo verwickelte alle in heiße Gefechte um kleine Geschenke, die hektisch aufgerissen wurden, bevor der Nächste in der Runde einen Pasch würfelte und das mühsam erkämpfte Paket wieder entrissen wurde. Die Freude, die alle Anwesenden am Spiel hatten, und das ausgelassene Gelächter waren ansteckend. Mitten unter den Menschen saß auch einer der beiden Polizisten des Ortes, ein junger Mann, der es sich in seiner RCMP Uniform nicht nehmen ließ, auch sein Glück mit den Würfeln zu versuchen. Er nahm mich später am Abend zur Seite und warnte mich vorsichtig vor der Frau, in deren Haus ich in der nächsten Zeit wohnen sollte. IRC hatte das Haus der Inuk (eines von vier Reihenhäuser des old folks home (Altenheim)) für mich angemietet, während diese aufgrund eines Arztbesuches in Edmonton verweilen sollte. Die Organisation würde damit das Geld für das Hotel sparen und zugleich der Frau ein zusätzliches Einkommen ermöglichen. Der junge Polizist erzählte mir, er sei mehr als einmal mit besagter Frau aneinander geraten, als sie stark betrunken war. Sie wäre dann handgreiflich-aggressiv und unzugänglich geworden.

Wohnen im „old folks home“ Schon früh morgens klopfte besagte Frau im Hotel ungeduldig an meine Tür. Dabei hatte ich mit ihr am Vortag ausgemacht, um 10.00 ihr Haus zu besichtigen und den Schlüssel in Empfang zu nehmen. Ich hatte den Eindruck, sie wollte unbedingt sicherstellen, dass ich auch wirklich bei ihr einzöge, um das Geld von IRC dafür zu erhalten. Eifrig erklärte sie mir, sie wäre mindestens eine Woche unterwegs und auch nach ihrer Rückkunft habe sie eine andere Bleibe für sich arrangiert, so dass ich ihr Haus für die restliche Zeit meines Aufenthalts in Paulatuk bewohnen könnte. Meine Nachbarin zur Linken war Mary Evik und zur Rechten wohnten die Elders Edward und Mabel Ruben.

formed at schools and at a special evening performance for the entire community.“ (Lockard, Barry 2000)

282 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS Die Einrichtung des Häuschens spiegelte etwas von der Seele seiner Bewohnerin. Unruhig und fahrig zeigte diese mir alle Zimmer. Eines davon war bis auf eine alte Reisetasche völlig leer. Ein weiteres Zimmer enthielt nichts außer einer schäbigen Schaumstoffmatte, abgedeckt mit einem bunten Laken und einer dünnen Überdecke als Zudecke: mein Bett. Ein offener Wandschrank enthielt einige Kleidungsstücke und eine Wäschekiste mit achtlos hineingeworfenen T-Shirts und Unterwäsche. Die Wände des Wohnzimmers waren bunt tapeziert und geschmückt mit allen möglichen Stofffetzen, Heiligenbildern, einer grünen Plastikplane und kleinen, kitschig-grellen Bilderrahmen mit diversen Fotos von Familienmitgliedern. Über einem alten Bettgestell aus Holz prangte ein großer Wandteppich, auf dem Jesus kitschig inmitten einer Schafherde abgebildet war. Zahlreiche Bilder von der Mutter Gottes standen überall in der Küche, die offen in das Wohnzimmer überging. In den Regalen befanden sich allerhand Figürchen, Deckchen und weitere Sammlerstücke. An der Tür vor der Garderobe hing vor dem Hintergrund einer knallbunten Plastikfolie ein Bild des ehemaligen Priesters von Paulatuk, der im Ort fast wie ein Heiliger verehrt wurde, nebst einem eingerahmten Zeitungsartikel über den Mann. Ein Rosenkranz zierte das Bild. Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen befand sich in der Raummitte. Den Fußboden bedeckte eine reichhaltige Steinsammlung, die mir detailliert erklärt wurde. In einer Ecke lag ein Puzzle, das mit einer großen Flasche beschwert wurde. Überall hatte die Frau kleine Kerzen aufgestellt. Doch als ich abends bemerkt hatte, dass in meinem Schlafzimmer das Licht defekt war und ich verzweifelt nach Streichhölzern oder einem Feuerzeug suchte, musste ich nach einiger Zeit erfolglos aufgeben. Die Küchenausstattung enthielt einen großen Topf und eine Miniaturpfanne, an der ich mir später aufgrund der defekten Isolierung schmerzhaft einen Finger verbrannte. Nur widerwillig verstaute ich meinen übrig gebliebenen Arctic Char im Gefrierfach, das überquoll mit riesigen Fleischstücken (ich nehmen an, es handelte sich um Karibu) und unappetitlich blutig verschmiert war. Das Fleisch war wohl das Lebensmittelangebot, das die Frau mir in den glühendsten Farben geschildert hatte. Sonst fand ich außer einem Rest Kartoffelbreipulver und einer kleiner Tüte Reis nichts weiter in ihren Schränken und Regalen. Stolz hatte mir meine Vermieterin erzählt, sie besäße einen Fernseher, erwähnte jedoch nicht, dass dieser nur Videokassetten und manchmal, wenn der billige DVD Rekorder sich gerade dazu bereit erklärte, auch DVDs abspielen konnte. Die Batterien sämtlicher Fernbedienungen waren leer. Es gab ein Telefon. Je nachdem, wo man das Kabel am Gerät einsteckte, klingelte es entweder, so dass man Gespräche annehmen konnte oder dass man sprechen konnte – beides gleichzeitig war nicht möglich. Auf dem Bett, das im Wohnzimmer als Sofa diente, konnte man sich nur mit Vorsicht bewegen. Einige Male befürchtete ich, durch die dünne Spanholzplatte durchzubrechen. Das Badezimmer war sauber, jedoch lief das Wasser in Dusche und Waschbecken kaum ab.

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Niemand hatte mich darauf hingewiesen, dass das kleine Haus zeitweise auch die Enke312

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der Bewohnerin beherbergte und deren Zimmer nun mein Schlafzimmer war. Somit war

ich völlig überrascht, als es am ersten Abend in meiner neuen Bleibe an der Tür klopfte und zwei junge Mädchen in der Dunkelheit vor mir standen. Es ängstige mich, als sie wie selbstverständlich das Haus betraten. Tausend Geschichten von betrunkenen Jugendlichen rasten durch meinen Kopf. Ich versuchte, sie zunächst davon abzuhalten, einfach in meine Privatheit einzudringen. Aggressiv betrat eine der beiden trotz meines Widerstandes den Raum und erklärte knapp, sie wohne hier und wolle nur einige Sachen holen. Mir war der Vorfall unangenehm, und ich versuchte entschuldigend zu erklären, dass mich niemand über die Zusammenhänge aufgeklärt hatte. Ich vergewisserte mich, dass die Sechzehnjährige eine andere Bleibe habe. Ohne weitere Worte packten die beiden Mädchen einige Tüten und verschwanden wieder. Ich schlief unruhig in der ersten Nacht. Ein starker Wind kam auf und ließ die Hintertür auf und zu schlagen. Ich stellte fest, dass sich die Tür nicht nur nicht absperren, sondern nicht einmal mehr schließen ließ. Es wurde kalt im Haus. Nach einiger Zeit bildeten sich riesige Schneeberge im Wohnzimmer. Ich klemmte einen Stuhl unter dem Türknauf fest und beschwerte ihn. Das funktionierte, aber sicher fühlte ich mich nicht. Jeder hätte ohne Probleme das Haus durch die Hintertür betreten können.

Im Ort erzählten mir immer wieder die Menschen, es sei eine besondere Ehre, „zwischen“ den Ältesten der Gemeinde zu wohnen, machten aber zugleich deutlich, dass meine Vermieterin nicht zu diesen zähle, darüber hinaus dem Alkohol regelmäßig zuspräche. Man habe nur nicht gewusst, wo man die Frau hätte unterbringen können. Nachdem gerade eine Wohneinheit des Altenheims frei gewesen sei, habe man sie dort einquartiert. Eines Morgens klingelte mein Telefon. Ich staunte, als eine ältere, leise Frauenstimme mir erklärte, sie sei meine Nachbarin, ihr sei langweilig und ich solle sie besuchen kommen. Kurze Zeit später saß ich in Eviks Wohnzimmer und lauschte ihren Geschichten über Paulatuk und aus ihrem Leben. 313 Die kleine Frau saß gern

312 Später erfuhr ich, dass die Mutter der Jugendlichen Hals über Kopf nach Inuvik gezogen war, um dort ein neues Leben anzufangen. Ihr Vater sei starker Alkoholiker und um sich vor dessen Übergriffen zu schützen, sei sie bei ihrer Großmutter untergekommen. Das Mädchen selbst habe große Probleme, ginge kaum noch in die Schule und habe ständig wechselnde Partner. 313 Mary Evik Ruben ist im Jahr 1925 in der Nähe von Tuktoyaktuk geboren worden. Sie hat 12 Geschwister und „has learned many skills from her mother, including trapping, living on the land, scarping caribou hide and making traditional clothing of all types. Mary especially takes pride in her traditional sewing techniques and is skilled at crafting a variety of traditional clothing. Mary recalls her time of travelling extensively

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am Fenster ihres Häuschens und beobachtete das Geschehen auf der Straße. Sie entschuldigte sich, dass sie gar nichts zu essen hätte, denn ihre Enkelin, die bei ihr wohne, sei gerade nicht da, und die bräuchte sie als Hilfe, seit sie auf den Rollstuhl angewiesen sei. Morgen würde sie jedoch frisches Bannock backen und dann sollte ich sie wieder besuchen. Die Wohnung war karg eingerichtet. Außer einem Tisch, einem Stuhl, einem Bett und zwei Schränken gab es nichts. Die alte Dame war jedoch sehr stolz auf ihre bunte Lichterkette, die bereits rund um ihr Fenster als Weihnachtsdekoration blinkte. Evik lächelte freundlich und ihre großen braunen Augen strahlten, wenn sie Geschichten vergangener Zeiten erzählte. Ihr Blick verdüsterte sich jedoch, als sie hinaus auf die Straße deutete und erklärte: Heute sei nichts los. Gestern hätten die Menschen wieder viel getrunken und die ganze Nacht durchgemacht, es sei laut auf der Straße und in den Häusern gewesen. Jetzt würden alle schlafen. Früher sei das anders gewesen, da habe sie am Wochenende immer viel Besuch bekommen. Überhaupt habe man vor nicht allzu langer Zeit mehr Wert darauf gelegt zu erzählen, gemeinsam zu nähen oder gemütlich Tee zu trinken. Mit dem Vormarsch der Fernseher und Computer habe sich so viel verändert. Jetzt sei sie oft allein. Sie blickte an sich herunter und entschuldigend lächelte sie mich an, weil sie noch ihr Nachthemd trug. Ohne den Besuch ihrer jüngeren Familienmitglieder sei sie ziemlich hilflos. Evik begann, in einer kleinen Kiste zu wühlen und zog einige Stoffstücke, zu Tierfiguren ausgeschnitten, hervor. Liebevoll stellte sie die Tiere auf dem Tisch so zusammen, wie sie diese auf einen Wandteppich nähen wollte: Die Wölfe und Füchse schleichen um die Karibus und der Eisbär schnappt sich die Robben. Ich erwähnte, ich würde gern eine kleine Wanderung machen und fragte Evik, ob sie eine Route empfehlen könne. Sie warnte mich vor den vielen Füchsen, die nahe an den Ort herankämen und nicht ungefährlich seien. 314 Außerdem gäbe es Eisbären. Die alte Frau überlegte kurz und erklärte frustriert, heute ginge keiner mehr zum Fallenstellen. Für die meisten sei das wohl zu viel Arbeit. Der Fernseher würde die Leute ans Sofa schweißen und dann müsste ja ständig der Rausch ausgeschlafen werden. Überhaupt würden die Menschen hier kaum noch zu Fuß gehen, nur noch mit ihren Schneemobilen zum

throughout the region, trapping and gathering food wherever she has lived.“ (Parks Canada 2004, 207) 314 Ich konnte nicht verstehen, warum die Frauen im Ort immer über Pelzmangel für ihre Handarbeiten jammerten, da doch die Füchse bis fast vor die Haustüre kamen. Anscheinend will heute keiner mehr aktiv auf die Jagd gehen oder eine Trapline legen. Die schönen Felle der weißen Füchse werden teuer gehandelt und nicht selten aus Inuvik, manchmal sogar aus Winnipeg einge-flogen – für mich schwer nachvollziehbar. Noch dazu hörte ich von einigen Elders, sie würden gern ihr Wissen um Traplines an die jüngere Generation weitergeben.

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Northern (der örtliche Einkaufsladen) fahren und sich ihre Lebensmittel kaufen – obwohl die so teuer und kaum nahrhaft seien.315 Ich erkundigte mich, wann sonntags Gottesdienst sei. Sie sagte, die Kirche würde in der Regel um 11.00 Uhr aufgesperrt – außer der Zuständige hätte am Abend zuvor zu viel getrunken. Dann wäre erst um 17.00 für Gebet, Gesang und Rosenkranz geöffnet. Einen Pfarrer, seufzte Evik, hatten sie allerdings schon seit Jahren nicht mehr. Das sei früher anders gewesen. Zwei Pfarrer und zwei Mönche hätten in Paulatuk gelebt (einer sei sogar aus Deutschland gewesen). Sehr zu ihrem Missfallen hätten Kinder in der Schule keinen Religionsunterricht mehr. Eltern kümmerten sich nicht weiter um die religiöse Erziehung der Jugend. Gebet und Glaube seien nicht mehr wichtig. Übernächste Woche würde der Bischof aus Yellowknife anreisen. Darauf freue sie sich schon seit langem sehr, erklärte mir Evik. Während längerer Gesprächspausen blickten wir aus dem Fenster. Immer noch regte sich kaum etwas auf der Hauptstraße der Ortschaft. Mehrfach betonte die alte Frau während unseres Gespräches, Paulatuk sei eigentlich ein angenehmer Ort zu leben, aber der Alkohol habe die Menschen „verdreht“.316 Evik erzählte mir, sie sei nur zwei Jahre lang auf die Schule in Aklavik gegangen. Ihr Vater habe immer gesagt, es reiche, wenn sie Lesen und Schreiben lerne. Sie erinnere sich noch an die ewige Reise bis in den kleinen Ort im Mackenzie Delta. Oftmals habe es Wochen gebraucht, bis sie mit dem Schiff dort ankam. Manchmal, während der Winterschneestürme, seien sie festgesessen und nicht mehr weiter gekommen.

315 In Paulatuk Oral History Project erzählt Evik (Originalton), wie sie zum ersten Mal frisches Obst und Gemüse sah. Diese frischen Lebensmittel seien mit dem Bau der DEW Line in die Gegend gekommen und hätten für Verwirrung gesorgt, denn die Menschen wüssten nicht, wie man beispielsweise eine Banane oder Wassermelone essen sollte: „Really, especially bananas and watermelon and them things, we thought we will never eat it because when you see them first, how they gonna eat it? Boil it or something! Joe said he see the cook up there in the kitchen and he cut it and he put them on the table and we eat it, [...] Boy! Is good! Joe told us [...] ,You don’t have to boil it, just cut it like that, eat it.‘ Well, first time we see things, real funny to see things, eh? When you see them first time.“ (Parks Canada 2004, 253) 316 In oben genanntem Werk führt Evik aus: „Yeah, it nice place. I tell the RCMP, this is the best place if it wasn’t for no drinks. I was right, eh? When there’s no problem with drinking, this place is really nice, lots to hunt: wolverines, wolves, caribous, all kinds of things to hunt…foxes, seals, polar bears…all kinds of thing you could hunt here. They got no problem with drinking, there’s nothing…boy, it’s nice place. Once we get sched [Flugzeugladung mit Alkohol]…every Tuesday, Wednesday and Friday, start building this place rough. You know the sched, eh? It’s rough.“ (ebd., 236)

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Bayerische Brezen und Inuvialuit Karibu Während einer meiner zahlreichen Besuche im Kindergarten hatten mich die Damen um mein Brezenrezept gebeten. Dass eine schriftliche Anleitung jedoch nicht genügte und die vielen Computerausdrucke des Rezeptes, die ich erstellt hatte, achtlos herumlagen, hätte ich mir gleich denken können, denn in der Kultur der Inuit lernt man durch gemeinsames Tun und nicht durch abstrakte Anleitungen. Somit entsprach ich der Bitte, einen „Backkurs“ für Interessierte im Ort anzubieten. Ich war völlig überrascht, wie viele Frauen gekommen waren, um in die „Geheimnisse der bayerischen Brezenbackkunst“ eingeweiht zu werden. Bevor wir loslegten, Unmengen von Teig zu kneten, wurde zunächst einmal eine Dreiviertelstunde geratscht, Kaffee getrunken und „gesnackt“. Eine der Ältesten, die sich den backeifrigen Frauen anschloss, packte ihr Frühstück der traditionellen Art aus einer Einkauftüte aus: einen großen Knochen, an dem noch allerhand rohes Fleisch hing. Genüsslich streute sie etwas Salz über ihr Mahl und begann mit dem Ulu mundgerechte Stücke davon abzusäbeln, um diese zu verspeisen. Anschließend begann sie emsig mit einem dünnen Messerchen das Mark aus dem Knochen zu kratzen.317 Mit lautem Gelächter machten sich die Damen schließlich daran, den Teig nach meiner Anleitung zu kneten. Einige der Frauen hatten ihre eigenen Teigschüsseln mitgebracht und achteten peinlich genau darauf, wo sie den fertig gekneteten Teigball zum Aufgehen abstellten, dass er ja nicht vertauscht wurde. Das Brezenlegen stellte eine große Herausforderung dar, und ein regelrechter Wettbewerb um die schönsten Formen begann. Nachdem die Teiglinge ihre Zeit in der Lauge verbracht hatten und in den heißen Backofen geschoben worden waren, warteten alle gespannt auf die Resultate. Die meisten Bäckerinnen verspeisten sofort genüsslich eine der frischen Brezen, der Rest jedoch wurde vorsichtig in Papier gehüllt, um sie ihren Familien nach Hause zu bringen. Ich erntete Lob für meine Brezen, und die Damen erklärten mir, mein Rezept sei eine ernsthafte Konkurrenz für ihr Bannock.

317 Ein anderes Mal, als ich den Damen im Kindergarten einen Besuch abstattete, saßen drei Frauen gerade über einen weißen Eimer gebeugt auf dem Küchenboden und bearbeiteten einige Fisch- und Fleischstücke mit ihren Ulus auf einem großen Stück Pappe, das als Unterlage diente. Nachdem ich durch genaueres Hinsehen erkannte, um was es sich in dem Eimer handelte, versuchte ich so unauffällig wie möglich dem Geschehen zu folgen, denn ich befürchtete, mir würde ein Stück aus diesem ominösen Eimer angeboten werden und ich wollte dann nicht unhöflich ablehnen müssen. Eine der Frauen hatte den anderen wohl eine Überraschung bereiten wollen und brachte diese InuitKöstlichkeit zum Mittagessen vorbei. Es handelte sich um verschiedene rohe und gekochte Fisch-, Wal- und Fleischstücke, eingelegt in Fett. Die Frauen schnitten die einzelnen Stücke aus der festen Masse, legten sie auf den Karton und säbelten sie in mundgerechte Stücke, bevor sie sie mit großem Genuss verspeisten.

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Eine der Brezenbäckerinnen hatte während der Backaktion erzählt, sie müsse gleich anschließend nach Hause, denn ihre Söhne hätten zwei Karibus erlegt. Ihre Aufgabe bestände nun darin, die Tiere auseinanderzunehmen und in Tüten verpackt, einzufrieren. Ich fragte sie, ob ich ihr dabei zusehen dürfte und stand wenig später vor einem großen blutig-roten Wildbret, den die Inuk gekonnt mitten in ihrer Küche auf einem großen Stück Pappe zerlegte. Ihre Tochter verfolgte ebenfalls interessiert das Geschehen. Dieser war die ganze Aktion aber sichtlich eklig und unangenehm. Jedenfalls half sie ihrer Mutter nur widerwillig, Tüten für die Fleischstücke aufzuhalten oder die Beine der Tiere zu den abgetrennten Köpfen nach draußen zu tragen. Natürlich war die Aktion blutig, aber die Frau hatte alles gut im Griff. Ich war erstaunt, wie schnell und routiniert sie vorging. Für die gesamte Arbeit benützte sie nichts weiter als ein Ulu. Sie erklärte mir, die Tiere würden anscheinend gerade ihr Fell verlieren, denn überall auf dem rohen Fleisch befanden sich Haare, die sie versuchte, durch gleichmäßige Streichbewegungen mit ihren Händen, so gut wie möglich zu entfernen. Ich staunte über ihre Geschicklichkeit, doch sie erklärte, dass sei Teil ihres Lebens und eigentlich wirklich nichts Besonderes. Mehrfach entschuldigte sie sich für die vielen Blutflecken um ihren Arbeitsplatz am Boden und erwähnte, ihre beiden Jungs seien nicht gerade zimperlich vorgegangen, als sie den Tieren das Fell abzogen und sie häuteten. Nachdem ihr Mann vor einigen Jahren gestorben war, sei sie sehr froh, dass ihre zwei Söhne die Familie mit Fleisch versorgten. Vorsichtig erkundigte ich mich, ob ich ein Stück des Tieres bekommen könnte. Unversehens hielt ich das Filetstück und einen großen Teil des Oberschenkels, in einer Plastiktüte verpackt, in der Hand.

Während ich fasziniert in der Küche dem Zerteilen der Karibus folgte, erinnerte ich mich an eine Geschichte von Anita aus Inuvik. Sie hatte mir erzählt, eines Tages bei einem wichtigen Fest befreundeter Inuvialuit eingeladen gewesen zu sein. Als Ehrengast wurde ihr dabei, nachdem ein Karibu im Wohnzimmer zerlegt worden war, das Auge des Tieres angeboten. Blitzartig versuchte sie eine Ausrede zu finden, diese Inuit-Delikatesse möglichst geschickt abzulehnen und erklärte, dass doch eigentlich nur den Elders diese Ehre zu Teil werden sollte. Die Erleichterung war groß, so erzählte sie, dass die Anwesenden auf diese Aussage hin nickten und ihren Elders die Augen reichten. Schwerpunkt Jugendarbeit, Schwerpunkt Zukunft Anne, die Koordinatorin der Aboriginal Healing Foundation war die ersten Tage meiner Anwesenheit in Paulatuk noch im Urlaub gewesen und nach ihrer Rückkunft zunächst damit beschäftigt, Berge von Papier auf ihrem Schreibtisch zu bewältigen. Vor einigen Monaten hatte ihr die Inuvialuit Regional Corporation zur Unterstützung eine junge Inuk aus dem Ort zur Hilfe ange-stellt. Beide hatten eine

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florierende Jugendarbeit aufgebaut.318 Jeden Abend versammelten sich in dem engen Jugendtreff im ersten Stock des Hotels viele Jugendliche, um Themen zu diskutieren, die für junge Menschen in der Gemeinde relevant waren, um kunstvolle Handarbeiten zu fertigen, Filme zu sehen oder um gemeinsam zu kochen. Während Anne noch damit beschäftigt war, einige Telefonate zu führen, versuchte ich, mit ihrer Kollegin ins Gespräch zu kommen. Dies stellte sich zunächst als schweres Unterfangen heraus: Die junge Inuk war sehr schüchtern, blickte mich kaum an und vermittelte mir den Eindruck eines geschlagenen Hundes, der mit gesenktem Kopf durch die Gegend schlich. Später erfuhr ich, dass sie eine Wolki sei und fragte mich, ob ihr Verhalten vielleicht daher rührte, dass sie der in der Hierarchie der Familien im Ort ganz unten stehenden Familie angehörte. Sie war dabei, den kleinen Nebenraum des AHF Büros aufzuräumen, der hauptsächlich als Jugendtreff genutzt wurde, aber in so mancher Nacht auch als Zufluchtsort für Jugendliche des Ortes diente. Neben einigen gemütlichen Sofas, einem Fernseher und Kisten mit Bastel- und Nähmaterialien fanden sich in einem Regal diverse Brettspiele. Bunte Poster hingen an den Wänden. Ich versuchte vorsichtig, ein Gespräch mit der jungen Frau anzufangen. Mit leiser Stimme und sehr langsam antwortete sie höflich. Nach einiger Zeit legte sie den Staubwedel auf die Seite und setzte sich zu mir auf eines der Sofas. Sie erzählte mir, sie wollte eigentlich aus der Gemeinde weg, doch dann bot sich ihr durch die Zusammenarbeit mit Anne die Gelegenheit, den Ort für Jugendliche zu verbessern – und das sei im Moment eine ihrer wichtigsten Prioritäten und Hauptmotivation zu bleiben. Leider schien dies für andere Gemeindemitglieder nicht der Fall zu sein, denn in der letzten Zeit seien sie häufig mit den Angestellten der Büros im Erdgeschoss in Konflikt geraten, wenn die Jugendlichen zu laut oder zu unordentlich gewesen wären. Sie habe manchmal das Gefühl, die Menschen seien gegen ihr Programm und das würde ihre Arbeit schwer machen. Die Kinder und Jugendlichen selbst hätten schon befürchtet, dass sie und Anne gezwungen werden würden, das Programm aufzuhören. Ein Junge habe sie gefragt, ob er eine Unterschriftensammlung bei IRC einreichen solle, um zum Ausdruck zu bringen, wie wichtig für

318 Nebenbei organisierten die beiden Frauen zahlreiche Angebote für die Gemeinde wie Ernährungsberatung und Kochkurse für junge Erwachsene, ein wöchentlicher Handarbeits- und Bastelabend für Frauen und es bestand das Angebot für therapeutische Gespräche. Mehrfach schon hatte Anne versucht, auch Männer zu motivieren, ein spezifisches Programm für Männer aufzubauen – dass sie als Frau (noch dazu non-Inuit) den Zugang zu Männern schwer fand, um Gespräche über Missbrauchserfahrungen und andere sensible Themen zu besprechen, scheint offensichtlich. Diese „Lücke“ in ihrem Programmangebot wurde ihr aber häufig zum Vorwurf gemacht, denn es wurde argumentiert, dass vor allem auch Männer eine wichtige Zielgruppe der AHF Regierungsgelder seien.

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sie der Jugendtreff sei. Das, so erklärte mir die junge Frau, sei für sie die wichtigste Bestätigung, dass die Jugendlichen gern kämen. Es sei auch sehr schön zu sehen, dass die Kids ihren Teil dazu beitragen wollen, das Programm aufrecht zu erhalten. So würden sie beispielsweise darauf achten, leise durch die Flure zu laufen und ihre Schuhe im Eingangsbereich des Hotels ordentlich aufreihen, dass sich kein Erwachsener über sie beschweren könne. Auch der Umgang miteinander habe sich sehr geändert. Überhaupt, so fuhr sie fort, sähe sie, seit sie hier angefangen habe zu arbeiten, große Veränderungen im Verhalten der Jugendlichen. Sie müsse sie kaum noch auf einen höflichen Umgang miteinander hinweisen, denn die Jugendlichen selbst würden einander auf Schimpfwörter oder unfreundliches Benehmen aufmerksam machen. Paulatuk habe einen sehr schlechten Ruf und viele der Jugendlichen schämten sich von hier zu sein. Vor allem in der Schule in Inuvik oder während großer Sportereignisse wie der Northern Games versuchten sie zu vermeiden, ihre Herkunft zu erwähnen. Paulatuk würde meist mit Gewalt, Drogen und Alkohol in Verbindung gebracht. In der letzten Zeit haben sie verstärkt angefangen, mit den Jugendlichen offen über Alkohol- und Drogenkonsum und dessen schlimme Folgen in der Gemeinde zu sprechen. Nach einer längeren Redepause fuhr die junge Frau fort, nur wenn man über die Dinge spräche, könne man sie verändern. Die Jugendlichen seien offen und wollten etwas dafür tun, die Situation ihrer Gemeinde zu verbessern. In einer großen Kiste wühlend erklärte sie mir, es gäbe auch viel Schönes in Paulatuk und hielt mir einige kunstvoll gefertigte Handarbeiten der Jugendlichen unter die Nase. Sie erzählte mir, sie habe einen fünfjährigen Sohn und sie wünsche sich, dass er in einem gesunden Umfeld aufwächst – sie wolle mit daran teilhaben, positive Veränderung zu bewirken. Ich war zutiefst beeindruckt von der Stärke und Zuversicht der jungen Frau. Während sie sprach, machte sie oftmals sehr lange Pause und überlegte intensiv. Man musste Geduld haben beim Zuhören. Ich fragte sie, ob sie irgendwelche Fortbildungen besucht habe, die ihr dabei helfen würden, mit den Problemen der Gemeinde effektiv umgehen zu können. Sie erwähnte einen Kurs zum Umgang mit Selbstmordgefährdung und erklärte, sie würde gern noch mehr lernen.

Schwerpunkt der Arbeit der beiden Frauen war vor allem die Jugendarbeit. Beide verbanden mit den zahlreichen Angeboten für die nächste Generation Erwachsener die Hoffnung, die Situation in der Gemeinde zu verbessern. Auch wollten sie damit den Kreislauf von Missbrauch, Gewalt und Abhängigkeit durchbrechen und Türen in eine freundlichere Zukunft öffnen. Während meiner Zeit in Paulatuk bot ich Workshops zum Thema Identität, Selbstwert und gewaltfreie Kommunikation an und nahm teil an zahlreichen Angeboten für die Jugend. Dadurch erhielt ich Einblicke in die Arbeit der beiden jungen Frauen und war begeistert zu erleben, was durch ihr Engagement möglich war. Ich hatte das Gefühl, die jungen Menschen in Paulatuk hatten gemeinschaftlich beschlossen, die Gemeinde für sie zu einer Heimat zu machen, auf die sie wieder stolz sein können.

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Lernen, Eltern zu sein Eine der schwerwiegendsten Verletzungen der residential school-Erfahrung für die indigenen Völker Kanadas zeichnet sich ab in der problematischen Beziehung der Generationen miteinander und resultiert in einer tiefen intergenerativen Kluft. Es hat fast den Anschein, als sei mit der Entfremdung der Kinder von der Tradition der Strom der Geschichte der First Nations und Inuit abgerissen oder zumindest rapide unterbrochen worden. Kinder wuchsen ohne ihre Eltern auf, verloren den Kontakt zu ihren Großeltern, ihrer Sprache, den Wurzeln und Werten ihrer Kultur. 319 Sie wurden gemeinsam mit vielen anderen fremden Kindern von Priestern, Nonnen und Regierungsbeauftragten erzogen. Dabei haben sie nie gelernt, was es heißt, Eltern zu sein und waren folglich mir ihrer eigenen Rolle als Mutter oder Vater hoffnungslos überfordert. Zudem fußte die Erziehung in den Internatsschulen, wie bereits mehrfach erwähnt, auf eurozentrisch-rassistischen Weltbildern, welche die Herkunft ihrer Schützlinge und deren Eltern als primitiv abtat. Kinder schämten sich für ihre Eltern und lernten, traditionelle Werte zu verabscheuen, ohne sich in neuen zurechtfinden und zuhause fühlen zu können. Physischer, psychischer und sexueller Missbrauch nahmen darüber hinaus jeglichen Stolz und das Gefühl von Macht und Selbstwert. Das Produkt der residential schools waren Menschen, die ihre Wege verloren hatten und irgendwie nichts mehr waren: weder Kabloonaq noch Inuit. Diese Generation der „verlorenen Kinder“ ist heute Elterngeneration. Deren Kinder (mittlerweile meist Jugendliche und junge Erwachsene) wachsen in eben dieser Zerrissenheit und Haltlosigkeit auf  mit Eltern, die unsicher sind, ihnen bedeutungsvoll begegnen zu können, weil sie den Kontakt zu sich selbst verloren haben. In diesem Zusammenhang schreiben Tester und McNicoll: „Manifest in the physical, sexual and emotional abuse of Inuit, these attitudes contributed to anger, low self-esteem, poor and destructive parenting practices, failed relationships, alcoholism and other forms of self-destructive behaviour. These experiences have often produced anger, shame and self-effacement, all of which impact upon family and interpersonal relations and contribute to many of the difficulties experienced by the current generation of Inuit youth.“320

319 In mehreren Aufsätzen erläutert Briggs (1979, 1994, 2000), wie Eltern traditionell ihre Kinder zu friedfertigem Umgang mit anderen erzogen. Unter anderem erklärt sie, wie im Prozess der Sozialisation Werte von einer Generation in die nächste weitergegeben wurden – und zwar dies nicht nur kognitiv-rational, sondern vor allem unbewusstemotional. Mit dem Verlust von Werten, die tief in der kulturellen Identiät der Menschen wurzelten, reißt das Band, das eine Generation an die nächste bindet und einstmals Orientierung und Sicherheit auf beiden Seiten bot. 320 Tester, McNicoll 2004, 2633

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Dazu kommt, so betont Ross, dass sich die Lebensumstände in modernen Inuitsiedlungen dramatisch änderten und traditionelle Formen der Erziehung, die bei einem nomadischen Leben auf dem Land noch Sinn machten, nicht mehr passen: „Quite apart from the fact that the generation of parents who spent their youth in our residential schools came out of them with no experience whatever of family life to draw upon, today’s multi-family, year-round [...] communities are a new phenomenon. They present fundamental challenges to traditional childrearing approaches which many communities agree can only be met by the development of new approaches.“321

Anne hatte mich gebeten, mit ihr am Abend anzufangen, das schon lange geplante Trainingsprogramm für Eltern auszuarbeiten. Zu diesem Zweck hatte sie Mütter und Väter gemeinsam mit den Angestellten der Aboriginal Head Start Initiative zu einer Brainstormingsession im Kindergarten eingeladen. Ziel dabei war, für die Menschen relevante Inhalte eines mehrwöchigen Elternschaftskurses (Paulatuk Parenting Group) zu erarbeiten. Ich empfand meinen Auftrag extrem schwierig, gemeinsam mit den Menschen, die Annes Einladung folgten (neben den Angestellten des Kindergartens war nur die Elder Mary Evik und eine Mutter gekommen), Workshops in Sachen „Elternschaft“ zu entwickeln. Nicht nur, dass ich selbst keine Kinder habe und somit auf keine möglichen gemeinsamen Erfahrungen zurückgreifen kann, repräsentierte ich doch auch wieder die Kolonialmacht – alles, was ich den Menschen anbieten konnte, waren Konzepte aus Erziehungswissenschaft und Familientherapie, die geprägt sind von westlichen Philosophien, Werten und Normen. Ich war dankbar, die Elder Evik beteiligt zu wissen. Ich hoffte, ihr Wissen um traditionelle Erziehungsvorstellungen für alle Beteiligten aufdecken zu können, um diese so gut wie möglich in ein Konzept für das Elternschaftsprogramm zu integrieren. Darüber hinaus war sie mir durch ihre nonverbalen Zeichen gern gesehene Kontrollinstanz, ob ich mit meinen Vorschlägen richtig lag oder nicht. Wir diskutierten Themen wie Selbstbewusstsein, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Rollenverständnis von Vater, Mutter und Elders, die Rolle der Kultur, Spiritualität, Religion und traditioneller Werte, Schulerziehung, Gesundheit, Ernährung, Kommunikation zwischen Eltern und Kind und wie man Bedürfnisse gewaltfrei zum Ausdruck bringt. Zentraler Diskussionspunkt war die Traumabewältigung hinsichtlich eigener Erfahrungen mit Erziehung. In diesem Zusammenhang ging es vor allem um eine Neuorientierung von Disziplinierungsmethoden und wie man als Elternteil am besten die Mitte finden kann zwischen überzogenen Strafmaßnahmen auf der einen und Laisserfaire Methoden, beziehungsweise der traditionellen ethic of non-interferenace, auf der anderen Seite. Erstere lernten die Menschen in den residential 321 Ross 2006, 21

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schools kennen, zweitere sind nach Ross elementarer Teil des traditionellen Selbstverständnisses der First Nations und Inuit. Er führt die ethische Grundregel, sich nicht einzumischen, selbst Kindern keine Vorschriften zu machen, wie folgt aus: „In essence, traditional rules required parents to permit their children to make their own choices in virtually every aspect of life.“322 Die heutige Elterngeneration hat das Problem, dass für sie keine der beiden Vorstellungen mehr stimmig ist, es aber noch keine neue, kulturell adäquate Form der Kindererziehung gibt. Die Tage des traditionellen Nomadendaseins sind vorbei, und die Erfahrungen der residential school zeigten, dass rigide Erziehungsmaßnahmen ebenfalls wenig zielführend sind. Ich hatte während unserer Zusammenkunft bemerkt, dass die einzige junge Mutter, die zu unserem Treffen erschien, sich am Gespräch kaum beteiligte und einen eher desinteressierten Eindruck machte. Anne erzählte mir später, dass die Leiterin des Kindergartens und Mitinitiatorin der Runde die Schwiegermutter der jungen Frau war. Der Mann der jungen Frau und Vater des gemeinsamen Kindes sei aufgrund gewalttätiger Übergriffe in Trunkenheit mehrfach angeklagt und verbüße gerade seine Strafe im Gefängnis. Dessen Mutter würde, um ihre Schwiegertochter zu entlasten, häufig auf den Zweijährigen aufpassen. Sie vertrat dabei wesentlich andere Erziehungsprinzipien als ihre Schwiegertochter und würde sich stark einmischen, wie ihr Enkel aufwachsen solle. Die Mutter des Jungen, so Anne, habe ihr gegenüber geäußert, sie habe das Gefühl, alle würden ihr vorschreiben, wie sie ihren Sohn zu erziehen habe. Oftmals würde sie gar nicht mehr wissen, was richtig sei. Ihre Schwiegermutter sei jahrelang auf der residential school gewesen und habe dort als Kind sehr negative Erfahrungen von Strenge, Autorität und Gewalt machen müssen,323 zugleich glorifiziere sie traditionelle Formen der Kindererziehung. In der Folge davon hielt sie nichts von Regeln, Disziplin und Autorität. Sie, wie auch ihre eigene Mutter (die ähnliche Erfahrungen in der residential school gemacht hatte und eine gute Freundin ihrer Schwiegermutter sei), würden dem Jungen keine Grenzen setzen. Dies sei aber, so Anne, für die junge Mutter, die moderne Erziehungs322 Ross 2006, 18. Nicht selten hat diese Vorstellung von Kindererziehung zur Folge, dass westlich trainierte Sozialarbeiter Ureinwohnerfamilien vorwerfen, sich nicht ausreichend um ihre Kinder zu kümmern, diese aus den Familien nehmen und in Pflegeheime geben. 323 Ich hatte einmal erwähnt, dass ich gern die Kunst der Perlenstickereien lernen würde. Daraufhin klopften an einem Wochenende die drei Damen des Aboriginal Head Starts an meine Tür und fragten, ob ich Lust hätte auf einen gemütlichen Handarbeitsnachmittag. Gern sagte ich zu. Während wir gemeinsam an unseren Stickereien arbeiteten, erzählte besagte Kindergartenleiterin etwas von ihren Erfahrungen in der residential school. Sie hätte keine warme Kleidung gehabt und permanent gefroren. Manchmal wurden sie stundenlang im Winter ohne Handschuhe nach draußen geschickt. Sie erinnert sich noch so gut, wie sehr ihre Hände schmerzten.

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methoden für gut hieß, ebenfalls wichtig, sie würde sich aber nicht trauen, den beiden älteren Frauen gegenüber ihre Ansicht in Sachen Elternschaft und Erziehungsmethoden zu vertreten. Deshalb, so erklärte mir Anne, habe die junge Frau sich in Anwesenheit ihrer Schwiegermutter nicht an den Diskussionen beteiligt.

Hinsichtlich meiner eigenen Rolle während des Treffens musste ich trotz all der vorsichtigen Vorüberlegungen bei meiner Analyse zum Prozess am nächsten Tag feststellen: Ich war am Abend des Treffens mit dessen Verlauf und Ausgang noch sehr zufrieden, begann aber am nächsten Tag, als ich die Inhalte der Diskussion, die ich auf einem großen Flipchart gesammelt hatte, für alle Beteiligten zusammenfasste, meine eigene Rolle kritisch zu hinterfragen. Ich hatte im Nachhinein das Gefühl, zu dominant mit eigenen Gedanken und Ideen das Zepter in die Hand genommen zu haben. Ich hatte viele leise Stimmen der Menschen in meiner Begeisterung und in voller Fahrt überhört, beziehungsweise ihnen nicht den Raum gegeben, der ihnen zustand. Einige der Anwesenden hatten bedeutsame Worte in die Runde geworfen, die es wert gewesen wären, näher darauf einzugehen. Sie hatten nicht viel gesagt, aber vielleicht viel mit mächtigen Ausdrücken wie Respekt, Treue, Teilen und Sicherheit gemeint. Ich hätte innehalten und nachfragen sollen, was sie konkret darunter verständen und was diese Begriffe für sie mit Elternschaft zu tun hätten. Ich überlegte mir, mich zu entschuldigen, aber ich befürchtete, sie würden mich vielleicht nicht verstehen. Andererseits erklärte mir die Kindergartenleiterin später, sie seien mir dankbar, dass ich eine Idee, die sie schon lange bewegte, endlich zu Papier brachte.

National Addictions Awareness Week „It takes a healthy community to raise a child“ war diesjähriges Motto der National Addictions Awareness Week (NAAW). Ziel der nationenweiten Kampagne gegen Sucht und Abhängigkeit, die seit 1981 jedes Jahr im November stattfindet, war ein Bewusstsein zu schaffen, für die Folgenschwere von Alkohol- und Drogenmissbrauch in Ureinwohnergemeinden.324 Anne erzählte mir, sie wurde zur „Freiwilligen“ erklärt, im Rahmen der NAAW Gemeindeereignisse zu planen und durchzu-

324 „NAAW >National Addictions Awareness Week@ has become an avenue for effectively mobilizing communities in working together towards a common goal, as well as, strengthening a partnership of First Nations, Inuit, Métis, and Non-Aboriginal professionals working in the area of addictions. [...] National Addictions Awareness Week is a time to celebrate the joy of an addictions-free lifestyle. It is a time to honour each other. You can take part by organizing a community activity [...]. Hold a sober dance, honour outstanding community members or have a feast. Join hands and form a circle – Keep the Circle Strong!“ (National Addictions Awareness Week 2006)

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führen. Wir stellten schon nach kurzer Zeit fest, dass von einer Zusammenarbeit von unterschiedlichen sozialen Institutionen in Paulatuk nicht die Rede sein konnte. Ich hatte das Gefühl, man wolle sich damit brüsten, auch teilzunehmen an der wichtigen Kampagne, lud die Verantwortung hierfür auf die Koordinatorin der Aboriginal Healing Foundation ab, aber ansonsten schien niemand wirklich Interesse an einer Mitwirkung für die effektive Bekämpfung von Alkohol und Drogen in der Gemeinde zu zeigen. Neben der Organisation eines Spielabends für Kinder und Jugendliche und einem Kochkurs für Familien hatten wir vor, in der Schule das Thema Abhängigkeit und Sucht mit den Schülern aller Klassen zu diskutieren. Wir baten die Lehrer um ein Treffen, in der Hoffnung, diese für etwaige Kooperationen zu gewinnen. Ich erlebte das Gespräch mit den sechs Lehrern als sehr frustrierend. Keiner von ihnen schien sonderlich motiviert, mit uns zusammenzuarbeiten oder durch Ideen etwas beisteuern zu wollen. Somit war unser Gespräch nach zehn Minuten beendet. Fazit: Wir können die Zeit während des Unterrichts mit den Kindern haben, aber es bleibt an uns hängen, etwas zu organisieren. Ich hatte den Eindruck, die Lehrer waren nicht wirklich besorgt um die Kinder und die Zukunft der Gemeinde. Die Mehrarbeit war ihnen lästig. Das war verletzend und sehr traurig, denn die Verantwortung, die ihnen übertragen worden war ist riesig und die Möglichkeit, die sie hätten, positiv Einfluss zu nehmen, gewaltig. Einige der Lehrer fragten uns sogar, ob sie dabei sein müssten oder die Zeit anderweitig nutzen könnten. Andere äußerten Bedenken, uns zu viel Zeit einzuräumen, um mit den Kindern über Sucht in Paulatuk zu sprechen, denn, so das Argument, die würden keine Stunde ruhig sitzen und zuhören können. Bei dieser Aussage hatte ich das Gefühl, als würden die Lehrer das „nicht ruhig sitzen können“ oder die Tatsache, dass in der Highschool kaum Schüler zum Unterricht erschienen, einseitig auf ein Versagen der Kinder und Jugendlichen zurückführen und nicht weiter nach Gründen fragten, die vielleicht auch in der Art des Unterrichts oder im Schulkurrikulum wurzeln könnten.

An mehreren Tagen während der Kampagne verbrachten wir Zeit in der Schule und planten für jede Jahrgangsstufe unterschiedliche Programme zur Aufklärung über die Gründe und Folgen von Abhängigkeit. Dabei war schon nach kurzer Zeit offensichtlich, dass ich es war, die über die Suchtproblematik im Ort aufgeklärt wurde, denn die Kinder und Jugendlichen wussten genau, was der Alkohol mit ihren Eltern und anderen Familienangehörigen machte. Sie hatten in der Regel nur Schwierigkeiten zu artikulieren, was deren Trunkenheit für sie bedeutete. Strategische Überlebenspläne waren dabei kein Problem, die Formulierung von Gefühlen jedoch schien außerordentlich schwer. Es war schockierend zu erfahren, wie sehr Sucht und Gewalt zum Alltag der Kinder und Jugendlichen dazugehörte. Vor allem die Kleinsten (Kindergarten bis 2. Klasse) schienen das Verhalten ihrer Eltern in Trunkenheit detailliert beschreiben zu können. Sie konnten Aussagen darüber machen, was sie in ihrer Umwelt wahrnehmen würden und was genau alles

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passieren würde – und wie sie sich am besten verhalten, wo sie sich verstecken könnten. Ich hatte verschiedene Gefühlsregungen in Form von Gesichtsausdrücken auf große Bögen Papier gemalt und versuchte, mit den Kindern zu erarbeiten, wer wie aussah wenn jemand in der Familie stark betrunken war. Sie konnten auf entsprechende Ausdrücke deuten, hatten aber keine Wörter dafür – sie waren regelrecht sprachlos, ich hatte auch den Eindruck, emotionslos. Der beschränkte Zugang zu Gefühlen und das mangelnde Vokabular für innerste Regungen schienen weitere Formen unbewusster Überlebensstrategien zu sein. Die volle Bandbreite der Erlebniswelt in Familien mit Suchtproblematiken überfordert offensichtlich die kleinen Menschen völlig. Ähnliches erlebten wir mit den Kindern der nächstälteren Jahrgangsstufe (2. bis 5. Klasse): Wir hatten für die Kinder ein Programm geplant, beließen es aber schließlich bei Gesprächen rund um Sucht und Alkohol im Ort. Die Sechs- bis Zehnjährigen sprachen wie selbstverständlich von Trunkenheit, Aggression und Missbrauch in ihren Familien. Jeder schien etwas zu dem Thema aus dem eigenen Leben beitragen zu können und zu wollen. Viele erzählten allerdings auch Geschichten, die gar nichts mit dem von uns angekündigten Thema zu tun hatten. Sie schweiften ab und konnten sich nicht konzentrieren. Ein Mädchen schien völlig abwesend, erzählte wirre Geschichten und konnte sich nicht auf die Lenkungsversuche von Anne einlassen. Die erzählte mir später, das siebenjährige Kind hätte vor zwei Jahren ihren Vater gefunden, der sich erschossen hatte. Sie sei seither ziemlich „durch den Wind“. Ein weiteres Mädchen konnte anscheinend unmöglich die 20 Minuten, in welchen wir versuchten, mit den Kindern ein Gespräch zu führen, auf ihrem Stuhl sitzen bleiben. Sie robbte durch den Raum, verkroch sich mitsamt ihren Beinen in ihrem Pulli und verbreitete große Unruhe. Die Kinder konnten einander allesamt kaum zuhören oder aufeinander eingehen. Wenn sie nicht versuchten, ihre eigenen Geschichten anzubringen, spielten sie mit Radiergummis, Stiften oder Federmäppchen. Es war, als hätte jeder seinen eigenen Kokon gewoben, in den er sich zurückzog und als würde er dann nichts mehr um sich herum wahrnehmen. Es gab zwar Wege nach außen, aber keine nach innen.

Die Kinder der Klassen 5 bis 8 teilten wir auf in zwei Gruppen: Anne erarbeitete mit den jüngeren kreativ die Folgeerscheinungen von Alkohol- und Drogenmissbrauch für Körper, Geist und Seele, während ich mit den älteren kurze Präsentationen zum Thema Alkohol und Gewalt ausarbeitete, die wir anschließend der ganzen Gruppe vortrugen. Mit den ältesten Schülern (8. Klasse bis Highschool) wagten wir uns an ein heißes Eisen: Wir hatten eine Debatte mit zwei Konfliktparteien geplant. Vorgegebenes Streitthema für die Jugendlichen war, ob Alkoholbesitz und -konsum in Paulatuk verboten werden sollte, oder

296 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS nicht.325 Die Tatsache, dass alle der Jugendlichen von diesem Thema auf irgendeine Weise betroffen waren, machte die Diskussion hoch brisant. Es gab Jugendliche, deren Eltern mit dem Handel von Alkohol (bootlegging) viel Geld verdienten und andere, deren Eltern in Trunkenheit so ausfällig wurden, dass sie sich regelmäßig um ihre jüngeren Geschwister kümmern oder zusehen mussten, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Als wir die Klasse(n) in zwei Konfliktparteien aufteilten, weigerten sich die meisten oder stimmten nur sehr ungern zu, für den weiterhin freizügigen Umgang mit Alkohol in Paulatuk zu argumentieren. Einer der Highschoollehrer blieb in der Klasse und wurde mit drei seiner Schüler eingeteilt, das Team von Richtern zu sein, die nach Abschluss der Diskussion entscheiden sollten, welche Gruppe die besseren Argumente vorgebracht hätte und wer das Streitgespräch letztendlich gewinnen sollte. Während ich mit meiner Gruppe (für die Errichtung der dry community) und Anne mit ihrer Streitpartei (gegen die dry community) stichhaltige Argumente ausformulierte, sollten die Richter einen kurzen Vortrag zum Thema Alcohol and Family Violence vorbereiten. Das Material dafür hatten sie von uns bekommen. Nachdem wir uns mit einigen guten Argumenten für die Diskussion vorbereitet hatten, ging es los. So sehr ich auch versuchte, meine Mitstreiter zu motivieren, hielt sich die Beteiligung in Grenzen. Anne hatte es noch viel schwerer, die Jugendlichen in ihrer Gruppe zu engagierten Streitgesprächen zu ermutigen. Letztlich waren es nur wir beide, die heftig diskutierten. Für die Jugendlichen schien die Debatte emotional belastend zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass alle sprachlos waren angesichts der Ausweglosigkeit der Situation im Ort, die im Gespräch zwischen mir und Anne so offensichtlich ihren Ausdruck fand. In der anschließenden Reflektion über die Debatte erklärten einige Schüler, dass es für sie aufgrund der emotionalen Verstrickungen mit dem Thema Alkohol, das beladen sei mit Angst und Scham, sehr schwer war, offen darüber zu debattieren. Einige betonten jedoch auch, wie 325 Im Rahmen der Selbstverwaltung obliegt es der Gemeindeverwaltung, Alkoholimport, -besitz und -konsum zu beschränken oder zu verbieten. Einige der sechs Gemeinden im Beaufort Delta sind so genannte „trockene“ Gemeinden. Wie bereits erwähnt ist in Paulatuk der Alkoholkonsum nach wie vor uneingeschränkt erlaubt. „A number of communities have passed bylaws restricting alcohol access. Some are completely dry – no alcohol is permitted to be brought into the community under any circumstances and charges can be laid if someone is caught importing alcohol. Other communities are restricted in various ways. Examples of restrictions include: No alcohol is sold in the community, but individuals can apply to community alcohol committees for permission to import a certain amount of alcohol at certain times. If their alcohol use creates problems, the hamlet can refuse their next application. Alcohol can be served in licensed locations like restaurants or bars, but no alcohol is sold in the community. Groups and individuals must get permits to buy/import. Alcohol is served only in hotels to hotel guests. Groups and individuals must get permits to buy/import. Smuggling alcohol and bootlegging are common in dry and restricted communities and intoxication and alcohol-related problems continue to be problems.“ (Korhonen 2004, 35-36)

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wichtig es sei, darüber zu reden – vor allem als die Generation Paulatuks, die etwas verändern könnte.

Böse Fratze Alkohol: eine ganzheitliche Analyse Wie brisant das Thema „Alkohol“ tatsächlich war, und wie furchteinflößend die böse Fratze des Rauschmittels sein konnte, erlebte ich selbst eines Nachts, als meine „Vermieterin“ völlig betrunken von einigen Jugendlichen bei mir abgeladen wurde: Die Frau erkannte mich nicht wieder, lallte etwas von „Who is this in my house?“ bevor sie auf mich losging und versuchte, mich aus ihrem Haus zu werfen. Nachdem ich mich erfolgreich gewehrt hatte (die Frau war zwar in ihrer Trunkenheit sehr stark, aber wesentlich kleiner als ich) und meine Angreiferin überzeugen konnte, sich hinzulegen, um den Rausch auszuschlafen (was sie auch tat: mit Mütze, Stiefel und Parka), versuchte ich, die Polizei zu erreichen. Beide Polizisten waren in dieser Nacht jedoch völlig überfordert, und somit konnte ich keinen von ihnen erreichen. Anne hatte kurz vorher noch angerufen und mich gewarnt, dass tagsüber eine große Ladung Alkohol in die Gemeinde gekommen sei und die Nacht gefährlich werden könnte. Sie erwähnte noch, sie hätte bereits zwei Jugendliche bei sich in der kleinen Wohnung aufgenommen. Als die Frau mit lautem Schnarchen kund tat zu schlafen, nutzte ich die Gunst des Augenblicks und packte in Windeseile meine Sachen – wusste allerdings nicht so recht wohin und fand mich wenig später in eisiger Kälte, lange nach Mitternacht, auf den Straßen Paulatuks wieder. Aus den Häusern ertönte lautes Stimmengewirr und Musik. So wie ich in diesem Moment mussten sich viele der Kinder und Jugendlichen fühlen – nur hatten die mehr „Übung“ und waren besser erprobt, mit dieser Situation umzugehen. Die einzige Person, die ich antraf und um Hilfe bat, war nicht mehr ansprechbar – zumindest hatte ich nicht den Eindruck, sie würde mich verstehen. Ich hatte schließlich großes Glück, dass ausgerechnet in dieser Nacht der Hotelmanager vergessen hatte, die Eingangstür des Hotels (wie sonst üblich um 21.00 Uhr) abzusperren. Nachdem ich diesen erfolgreich geweckt hatte, bezog ich dort ein Zimmer.

Dass Alkohol- und Drogenmissbrauch aktuell die größten Herausforderungen darstellen, mit welchen sich viele Ureinwohnergemeinden konfrontiert sehen, ist in der zahlreichen Literatur zu diesem Thema ersichtlich und wird in diversen sozialpolitischen Diskussionen326 problematisiert.327 Der Zusammenhang von Trunken-

326 Lucy Kuptana (Executive Director der Comunity Development Division von IRC) erklärte mir, die drei Bereiche, die derzeit Hauptaugenmerk der Gemeindentwicklung seitens IRC seien, wären Bildung, Weiterbildung, die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und der Alkoholproblematik in den Gemeinden. Dies spiegelt sich auch in der geplanten Nutzung des von der Regierung zugesicherten social impact funds (im Falle des Baus

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heit, Kriminalität und Gewalt (gegen sich selbst und andere, häufig gegen Familienmitglieder) wurde bereits kurz erwähnt. Korhonen stellt heraus: „Alcohol misuse has been identified by Inuit as a primary health and social concern in their communities because of the devastating consequences. Binge drinking [exzessives Trinken „bis zum Umfallen“, Saufgelage] is the most prevalent pattern among those who drink, and as is true with binge drinking around the world, this leads to violence and various kinds of abuse, accidents, self-inflicted injury and death, involvement in the justice system, neglect of children, employment problems, personal behaviours that are a later source of distress – we know the list.“328

Vor allem im Zuge der Debatte mit den Jugendlichen im Ort fragte ich mich, warum Paulatuk nicht, wie andere Gemeinden auch, den Alkoholkonsum gesetzlich stärker einschränkt und durch gemeindliche Verordnungen der Polizei die Überprüfung von eingeführten Alkoholmengen ermöglicht, wie dies beispielsweise in Ulukhaktok der Fall ist. Dass sich das Thema Sucht wesentlich komplexer darstellt der Pipeline) wider. Gesundheit und die Bekämpfung von Sucht sollen neben Bildung und Arbeitsmöglichkeiten vor allem gefördert werden, um die Gemeinden vorzubereiten auf eine neue Ära des Wandels, sollte das große Projekt der Mackenzie Pipeline in die Tat umgesetzt werden. (Vgl. Kuptana, Simpson 2007) 327 Zudem sprechen die Zahlen für sich. Im Januar 2006 veröffentlichte Northwest Territories Health and Social Services die Ergebnisse einer Untersuchung zur Alkohol- und Drogenabhängigkeit in den Nordwest Territorien Kanadas. 77,9 % der Bewohner der NWT, älter als 15 Jahre, tranken im Jahr der Studie Alkohol, 19,7% davon mindestens einmal die Woche. Dabei gaben die Menschen an, dass mehr als fünf alkoholische Getränke die Regel seien. 32% der Bevölkerung tranken in der Regel erhebliche Mengen von Alkohol. Davon wurden 41,3 % als „high risk drinkers“ eingestuft. „Hazardous drinking habits“ kamen im Jahr der Studie in den Nordwest Territorien doppelt so häufig vor, wie in den Provinzen Kanadas. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung berichtete von gewalttätigen Übergriffen, Suizid und anderen Verletzungen aufgrund maßlosen Alkoholkonsums. (Northwest Territories Health and Social Services 2006) 328 Korhonen 2005, 2. Korhonen erklärt zum Phänomen des binge drinking in Inuitgemeinden: „Unlike groups in more temperate areas where even accidental fermentation of fruit or grain made knowledge of alcoholic beverages possible, Inuit had no such experience. Whereas other Aboriginal groups in the Americas had thus had the time and experience to develop rules and rituals that tightly structured their own use of alcohol, Inuit were simply and suddenly introduced to it by the arrival of whalers and traders. The majority of these visitors were from those parts of Europe that tended to have a temperance/binge drinking culture and may thus have been a major influence in the development of drinking patterns among Inuit.“ (ebd.)

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und mit einer solchen Maßnahme das Problem noch längst nicht behoben ist, lernte ich schnell durch diverse Geschichten und Berichte von Polizeibeamten und einigen der sozial Beauftragten im Ort. Zunächst ist festzustellen, dass Alkohol nicht das Problem ist (wenn auch ständig vom „Alkoholproblem“ gesprochen wird), sondern vielmehr alarmierendes Symptom, d.h. ein Zeichen, das auf einen Missstand hinweist, darstellt. Der offene Schmuggel und geheime Verkauf von Alkohol zu horrenden Preisen scheint Teil eines größeren Systems zu sein, das sich in ein gefährliches Gleichgewicht eingependelt hat. Zweimal bereits (in den Jahren 2000 und 2002) fiel ein Volksentscheid in Paulatuk zum Nachteil der Beschränkung des Alkoholbesitzes und -konsums aus.329 Zu viele wollten offensichtlich dem Alkohol nicht absagen – dies aus den unterschiedlichsten Gründen. Einige wenige, meist privilegierte Gemeindemitglieder, die sich regelmäßig Flüge in die größeren Städte leisten können, beziehungsweise als politische Gemeindevorsteher diese finanziert bekommen, verdienen sich ein nicht zu verachtendes Zubrot durch den illegalen Verkauf von Alkohol in der Gemeinde (bootlegging). Sie bringen ihn von ihren Geschäftsreisen, politischen Gremien, Verwandtschaftsbesuchen, Krankenhausaufenthalten oder Fortbildungsmaßnahmen mit. Philippe Morin erläutert in einem Zeitungsartikel dazu: „The word ,bootlegging‘ often brings to mind home-brewed moonshine, made in a bathtub. But in most NWT communities, it usually means someone smuggling legally-purchased bottles in a car or their airline luggage, looking to make a profit. While bootlegging is illegal, many cannot resist the pursuit of easy money. Paulatuk RCMP Const. Travis Gallant said a 40 ounce bottle of whisky can fetch $200 in that community, since it has no liquor store and is accessible only by airplane and shipping barge. In Inuvik, which has the Beaufort’s only liquor store, the same bottle would cost about $40. ,It’s all right for someone to go to Inuvik and buy a bottle for their own personal use, but selling the liquor is against the law‘, Gallant said.“330 329 Im Dezember 2007 wurde der dritte Versuch in Paulatuk gestartet, die Gemeinde „trockenzulegen“, bzw. die Grundlage zu schaffen, den Import von Alkohol und damit den exzessiven Alkoholkonsum einzuschränken: „Residents of Paulatuk will be asked to vote on alcohol restrictions in early December. The community’s mayor, Ray Ruben, said he would like to see restrictions on how much alcohol residents can bring into the community.[...] ,This time around I feel really positive it will pass‘, Ruben said. ,Those times, maybe it appeared we were trying to shove something down people’s throats. This time there will be more education and consultation.‘“ (Morin 2007a) Ab 2008 wurde tatsächlich die Einfuhr von Alkohol in Paulatuk beschränkt, ein komplettes Alkoholverbot besteht jedoch nicht. (Government of the Northwest Territories 2007, 26) 330 Morin 2007b

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Den Zahlen aktueller Studien folgend331 stellen traurigerweise die Mehrheit der Menschen fleißige Abnehmer der Alkohollieferungen dar. Diese favorisieren folglich auch nicht unbedingt die Einrichtung einer „trockenen“ Gemeinde. Paradoxerweise finanzieren viele ihren teuren Alkoholrausch mit den Sozialleistungen der Regierung – ein Rückkopplungsprozess, der sich im Laufe der Entwicklung der Sucht hochschaukelt: Umso mehr ein Mensch dem Alkohol verfällt, umso weniger kann dieser für sich selbst sorgen und benötigt entsprechend intensivere Sozialhilfe. Diese wird, anstatt der Alkoholsucht durch adäquate Programme in den Gemeinden nachhaltig Herr zu werden,332 in barer Münze ausbezahlt. Dass dieses Geld meist wieder in Alkohol umgesetzt wird, liegt auf der Hand. Die Schleife der Abhängigkeit und des Missbrauchs zieht sich nicht nur durch einzelne Leben, sondern durch Generationen. Der Schmerz, Opfer und/oder Täter zu sein, muss betäubt werden. Darüber hinaus scheinen Trinkorgien, ein Gefühl des sozialen Zusammenhalts zu vermitteln. Dass exzessives Trinken nicht das eigentliche Problem darstellt, sondern Symptom davon, wird nicht nur dadurch offensichtlich, dass selbst in „trockenen Gemeinden“ der Schmuggel von Alkohol gang und gäbe ist, das Problem also nach wie vor besteht333 (obwohl es offiziell abgeschafft wurde), sondern vor allem dann, wenn man nach den Gründen der Alkoholabhängigkeit fragt. Mögliche Ursachen für den exzessiven Alkoholkonsum in Ureinwohnergemeinden kamen bereits an mehreren Stellen indirekt zum Anklang. In diesem Zusammenhang scheinen lineare Erklärungsversuche wenig zielführend, da sie nicht zu einer Lösung des Problems beitragen und zudem Einzelne, beziehungsweise eine ganze Kultur einseitig stigmatisieren. Es soll hier deshalb einer ganzheitlich-strukturellen Analyse das Wort geredet werden. Tester bezieht sich in seinem Artikel über das Problem des Selbstmords (ebenfalls eher ein Symptom für ähnliche, wenn nicht gleiche, systemisch-strukturelle Probleme wie die des Alkohol- und Drogenmissbrauchs) auf den Begriff des „kolonialen Stresses“ von O’Neil, den er zu seiner Analyse heranzieht. Er grenzt sich damit von ethnozentrischen Theorien und einer kolonialistischen Anthropologie ab, 331 Northwest Territories Health and Social Services 2006 332 Immer wieder hörte ich, wie Menschen zum Entzug in Kliniken im Süden geschickt wurden und kaum zurück in der Gemeinde, wieder zu trinken begannen. Es gibt kaum Formen der Nachbehandlung oder Programme, welche die Menschen dabei unterstützen, auch gegen den Druck und die Verführungen der Heimatgemeinde, nicht wieder zur Flasche zu greifen. 333 Im oben genannten Zeitungsartikel berichtet Morin (2007b) von Alkoholproblemen in „trockenen Gemeinden“. Der Schmuggel von Alkohol kann zwar strikter überprüft und geahndet werden, ist aber nach wie vor gegeben – genauso wie Trinkorgien und Fälle von Gewalt und Missbrauch in Trunkenheit.

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welche jahrelang Vorreiterrolle bei der Untersuchung von „Problemen“ in Ureinwohnergemeinden spielten. Anstatt einseitig auf biologische, psychologische oder soziale Deviationen zu rekurrieren, stünde eine prozessorientierte, interaktionistische Vorgehensweise im Vordergrund, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die tatsächlich helfen könnten, traurige Selbstzerstörungsszenarien von Selbstmord, Gewalt, Alkoholmissbrauch und Drogenabhängigkeit einzudämmen. „Having abandoned an empirical and positivistic approach [...], O’Neil reverts to a [...] narrative approach to detail elements of the colonial stress he associates with the problem [Selbstmord beziehungsweise Alkoholabhängigkeit]. These elements he labels as: (1) the stress of definition, (2) the stress of isolation, (3) the stress of transition, (4) the stress of timing (timing the transition from one phase of life and personal development to another) and (5) the stress of consolidation (strengthening the identities and coping styles adapted to deal with the stresses of transition). These are useful categories, suggesting a relationship between stress experienced by individuals and both the social contexts and historical moments in which individuals are located.“334

Ähnlich argumentiert Richard Thatcher (2004), dass binge drinking und der hohe Alkoholkonsum von Ureinwohnergruppen nichts damit zu tun hat, dass indigene Völker biologisch prädestiniert sind, schneller abhängig zu werden (Thatcher nennt dies den „firewater complex“, ein ideologisches Konstrukt der westlichen Zivilisation), es handelt sich eher um erlerntes Verhalten angesichts der Trostlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Langeweile in indigenen Gemeinden. Auch Condon erwähnt neue Formen post-kolonialen Stresses im Zusammenhang von Konflikt, Gewalt und Alkoholmissbrauch: „While many traditional sources of interpersonal conflict persist to the present day [...] recent and dramatic changes in Inuit life have resulted in the introduction of new stress agents which were absent or insignificant in the pre-contact era. These include alcohol use, extreme isolation relative to changing social expectations, and seasonal and permanent constraints upon physical mobility. [...] The most obvious of these new social stressors is the use and abuse of alcohol.“335

Rupert Ross führt aus, dass das exzessive Trinkverhalten, welches in Ureinwohnergemeinden beinahe schon, wie er es nennt, „epidemische“ Formen annimmt, damit zu tun hat, dass die Inuit und First Nations im Zuge der Modernisierung und Assimilierung ihrer traditionellen Bewältigungsstrategien von psycho-sozialen Problemen und schmerzhaften, stressreichen Erfahrungen verlustig gingen und der Alko334 Tester, McNicoll 2004, 2633 335 Condon 1982, 156

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hol diese Lücke mehr und mehr füllte. Das Argument der Arbeitslosigkeit, Langeweile und Perspektivlosigkeit als Grund für den Griff zur Flasche geht seiner Meinung nach nicht weit genug. Er betont: „The incidence of alcohol abuse and alcohol-induced violence often escalates dramatically despite relative affluence and job-filled lives. When that still happens we move to a fall-back position, assuming that the hight rates of alcohol abuse are due to a combination of cultural influences and perhaps a physiological inability to metabolize alcohol, or to use the substance in moderation. My conjecture, however, is that the answer is far simpler than that. I suspect that Native people use alcohol in exactly the same way that many of us do: to blow off steam. Unfortunately, two unique factors come into play where Natives are concerned. The first is the obvious fact that their ,steam‘ has reached a point of pressure that is hard for us to imagine, given all of the losses and confusions [...]. The second factor, however, may be the most critical, for it involves the fact that Native people may have been left with no other culturally sanctioned way to vent that steam. Quite clearly their sources of anger and personal desperation regularly exceed anything the rest of us are ever likely to experience. When, at the same time, traditional ethics forbid even expressing those sentiments and traditional methods of spiritual healing have all but eradicated, the bottle remains almost the only avenue available to pursue release.“336 >Hervorhebung im Original@

In Paulatuk schien sich ein ganzes System um den Alkoholkonsum entwickelt zu haben, das sich in ein gefährliches Gleichgewicht eingependelt hat: Die machthabenden Gemeindevorsteher (und alle anderen, die die Chance bekamen, in nächstgrößere Städte zu fliegen) brachten den Alkohol, meist durch IRC finanzierte Flüge, in die Gemeinde und verkauften ihn an die zahlreichen Abnehmer im Ort. Diese teilten auf traditionelle Art das kostbare Gut mit anderen, denn sie wussten, dass sie im Gegenzug erwarten konnten, eingeladen zu werden, wenn diese entsprechende Lieferungen bekamen. Die Schwester des bedeutendsten bootleggers im Ort arbeitete für Social- und Victim-Services und deckte die alkoholbedingten Übergriffe auf Frauen und Kinder, um nicht das „Familiengeschäft“ zu gefährden. Jeder war mit jedem verwandt und irgendwie jedem verpflichtet. Kinder wurden bei ihren Aussagen der Polizei gegenüber entsprechend beeinflusst, damit Familienangehörige nicht in Schwierigkeiten kamen. Es hatte fast schon den Anschein, als seien Alkoholorgien, Gewalt und Missbrauch Teil des „normalen“ Lebens in Paulatuk, als hätten sich die Menschen eingerichtet, wären in das Netzwerk des Alkohols hoffnungslos verstrickt, würden, nachdem ihr kulturelles System weigehend zerstört ist, in dessen Gleichgewicht ankern. Viele der Kinder und Jugendlichen kennen gar nichts anderes als das ständige Versteckspielen. Sie haben sich daran gewöhnt, nachts kaum zu schlafen und 336 Ross 2006, 170-171

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sich vorsichtig am Morgen nach Hause zu wagen – kein Wunder, dass die Schule so schlecht besucht wird. Elders lassen nachts die Türen ihrer Häuser offen. Sie wissen, dass sie sich um die Jüngeren kümmern müssen, wenn deren Eltern den Rausch ausschlafen. In diesem Licht erklärt sich auch das Ressentiment gegen die erfolgreiche Jugendarbeit von Anne: Themen wie Alkohol, Gewalt, Erziehung, Sexualität, Identität und Zukunftsvisionen wurden offen diskutiert. Damit raubte sie zahlreichen Gesprächstabus ihre geheimnisvolle Macht, und Jugendliche bekamen Raum für neue Möglichkeiten. Erfolgreich schienen sie den Kreislauf von geringem Selbstbewusstsein, Sinnverlust, Schuldgefühlen und Abhängigkeit durchbrechen zu können und den Mut zu haben, ihr Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Die junge Frau drehte bei ihrem Tun an entscheidenden Rädern des Systems und brachte es damit in Momente der Instabilität. Einem Mobile gleich bekam sie meist postwendend einen ganzen Schwung Gegenbewegung in Form offener Anfeindungen zurück, denn das Gemeindesystem versuchte das Gleichgewicht mit aller Macht beizubehalten – auch wenn, oder gerade weil, dies nur wenigen Mächtigen der Gemeinde tatsächlich diente und in sich selbst krankte. Dies erinnert an die Diskussion um Helden, Täter und Opfer. Harper betont treffend: „A villain is a misunderstood hero; a hero is a self-righteous villain.“337 Ich erlebte die Gemeindeführung in Paulatuk, teilweise auch einige leitende Mitarbeiter der Inuvialuit Regional Corporation, als „Helden“, die nicht zuerst das Gemeinwohl der Menschen an der Basis im Sinn hatten, sondern in erster Linie das eigene Fortkommen (und ihre besondere Stellung dafür instrumentalisierten). Um ihre Sonderstellung zu sichern, mussten die Menschen, die meines Erachtens tatsächlich dazu beitrugen, positive Veränderung in den Gemeinden zu erwirken, zu Störenfrieden oder Bösewichten gestempelt, aus dem Weg geräumt werden.338 In der Rede von Symptomen als bezeichnendes Merkmal, als Hinweis auf tieferliegendes Leiden und Verletzungen oder Ursachen für das Auftreten diverser Missstände stellt sich natürlich die Frage, was denn das eigentliche Problem ist, welches diese Symptome hervorbringt. Um diese Frage soll es in der abschließenden Analyse der dichten Beschreibungen gehen. Es wird argumentiert werden, dass der rapide Wandel (vielmehr die soziokulturelle Revolution) der letzten Jahrzehnte das kulturelle Netz der Inuit (und First Nations) zerstörte und den Menschen ihre Identität und damit den Sinn des Lebens 337 Harper 2004, 1 338 Nur wenige Wochen nach meinem Aufenthalt in Paulatuk kündigte IRC auf Drängen der Gemeindeverwaltung Anne. Pat, die sich gemeinsam mit mir in einer langen Sitzung mit Führungspersönlichkeiten von IRC in Inuvik für die Arbeit von Anne einsetzte, aber nichts gegen die Kündigung ausrichten konnte, kündigte ihrerseits frustriert ihre Stellung bei IRC.

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nahm. Diese Identitätsdiffusion (auf persönlicher, wie auf sozio-kultureller Ebene) und der Sinnverlust kommen in dysfunktionalen Verhaltensweisen von Machtmissbrauch und Korruption auf den höheren Ebenen der Gemeindeleitung, über bootlegging, bis hin zu Trinkorgien mit Gewalthandlungen gegen sich selbst und andere zum Ausdruck. Symptomatische Verhaltensweisen wie Alkoholabhängigkeit, Selbstmord, Gewalt, Missbrauch und Korruption befördern und intensivieren das Problem, denn sie erschweren die Produktion eines gesunden Netzes, auf dem Menschen wieder zu neuem Selbstbewusstsein gelangen könnten. Der bekannte Teufelskreislauf von Angst, Scham, Unsicherheit über zerstörerische Verhaltensweisen, die zu mehr Angst und Scham führen, welche wiederum in einer Welle von Drogen und Missbrauch münden, war während meiner Feldforschung in den Gemeinden spürbar und beobachtbar. In der Zukunft wird es darum gehen müssen, nicht nur die Symptome zu bekämpfen, sondern deren Wurzeln offen anzusprechen, um nachhaltig die Verletzungen der Kolonialpolitik heilen zu können. In einer Rede an die Elders der Gemeinden in Nunavut gewandt betonte Jack Anawak: „There are many indicators that the social fabric in our communities is crumbling – that the problems people are facing as individuals, families and groups are becoming too large and are beginning to overwhelm them. Many people now feel these values and beliefs that kept us in harmony with one another are not being communicated regularly, clearly and loud enough to be heard by youth. We must promote Inuit pride. We must win (young people) back and demonstrate in our words, in our stories, in our art, our songs and our daily discussions with them how we are capable, caring people they should be proud to be part of.“339

339 In: Tester, McNicoll 2004, 2635

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2.2.5 Abschließende Analyse: Eine Kultur vor der Frage nach dem Sinn Im Gegensatz zum faktischen Ich ist das Selbst ein fakultatives. Es repräsentiert den Inbegriff der Möglichkeiten des Ich. Diese Möglichkeiten sind solche der Sinnerfüllung. Wer einen Menschen um diese Möglichkeiten betrügt, beraubt ihn des Selbst als des Spielraums, in dem das Ich atmet.340 VIKTOR E. FRANKL

Die Erkenntnisse aus meinen dichten Beschreibungen der Kultur der Inuit im Wandel von Tradition zu Moderne kumulierten zu einem immer dichteren Verstehenshorizont im Laufe der Zeit. Dieses Verstehen erfolgte vor allem durch Beobachten, Nachfragen, Mitleben, aber auch durch das Lesen von Berichten anderer Forscher, die ähnlichen Fragen nachgingen. Dennoch vermute ich, wie Geertz schreibt, meine „eindrucksvollsten Erklärungen stehen auf dem unsichersten Grund“ und „der Versuch mit dem vorhandenen Material weiter zu gelangen, führt nur dazu, dass der – eigene und fremde – Verdacht, man habe es nicht recht im Griff, immer stärker wird.“341 Ich meine doch auch mit Geertz, dass es nicht darauf ankommt, abgehoben, abstrakt und jenseits der Menschen über diese zu schreiben, sondern mit ihnen zu verstehen, beziehungsweise den „Sprung mitten hinein in die Probleme“342 zu wagen. Denn es geht nicht darum, „unsere tiefsten Fragen zu beantworten >die muss letztlich doch jeder für sich selbst finden@, sondern uns mit anderen Antworten vertraut zu machen, die andere Menschen gefunden haben.“ 343 Das bedeutet in erster Linie zuzuhören und zu versuchen, den anderen in seiner Andersartigkeit zu

340 Frankl 2005, 211 341 Geertz 1983, 41. Clifford Geertz (1987, 36) betont, Verstehen erfolge „ruckartig“. In diesem Zusammenhang ist es aus Forscherperspektive interessant zu beobachten, dass gerade wenn man meint, genug zu verstehen, um gute Erklärungen abgeben zu können, überrascht feststellen muss, dass vieles von dem, was man zu Wissen gemeint hat, sich in Wirklichkeit (der Wirklichkeit der Einheimischen) völlig anders darstellt. Diese Erfahrung immer wieder machend, hatte ich den Eindruck, als würde ich umso besser verstehen, umso mehr ich die psycho-soziale Aktualität einzelner Menschen in dichteren Begegnungen kennenlernte und eine Art inneres Verstehen stattfand. Interessanterweise hatte ich dabei das Gefühl, dieses Verstehen kognitiv-begrifflich nicht adäquat beschreiben zu können, es schien sich mir zu entziehen. 342 Ebd., 43 343 Ebd.

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verstehen, seine Antwort gelten zu lassen, „in das jedermann zugängliche Archiv menschlicher Äußerungen aufzunehmen“344, Unterschiede zu begrüßen und darin Identität zu fördern.345 Viele der beobachteten Handlungen und Verhaltensweisen der Inuit spiegelten Versuche wider, Symbole der traditionellen Kultur mit Symbolen der Moderne zu vereinen. Dabei eine stimmige Mischung zu finden, schien für viele eine Überforderung zu sein. Denn ein fester Halt ist auf keiner der beiden Seiten vorhanden: Die einstige Kultur der Inuit, als Nomadenvolk und Überlebenskünstler in Eis und Schnee zu leben, ist wohl für immer verloren, und zugleich sind die Mensch in der modernen Welt noch lange nicht zu Hause. Sie leben in einer Zerrissenheit zwischen dem „Nicht-mehr“ und dem „Noch-nicht“. In den Worten von Geertz gesprochen, verloren die Inuit mit dem Verlust der Kultur ihr Orientierungssystem. Menschen brauchen Kultur als Orientierungssystem, um sinnhaft miteinander umgehen, sich symbolhaft verständigen zu können. Sie können sich nicht auf Instinkte verlassen wie die Tiere. Im Zuge der Assimilierung und Modernisierung wurden die Inuit ihrer „extrinsischen Informationsquellen“346 verlustig, die ihnen eine Vorstellung dessen vermittelten, wie sinnvolle Lebensgestaltung innerhalb eines sozio-kulturellen Zusammenhangs aussieht. Bildlich ausgedrückt spinnen Menschen gemeinsam ein Netz, beziehungsweise ein Bedeutungsgewebe,347 auf dem sie nicht nur sicheren Halt finden, sondern sinnvoll miteinander Leben gestalten können – und dies über Generationen hinweg. Das kulturelle Netzwerk Inuit hat in rapiden Umbruchszeiten große Löcher bekommen, an manchen Stellen scheint es sogar völlig zerstört. Robert Tookoome beschreibt den großen Wandel der letzten fünfzig Jahre mit dem unerwarteten Aufprall eines Autounfalls, der von den Insassen nur knapp überlebt wird: „It’s like you’re driving in a car and get hit. All of a sudden the car keeps moving but you don’t. All of a sudden these changes are happening and you’re not grasping what’s happening. When you are in an accident and all of a sudden you are just like spinning out of control. You have no time to think and to understand what’s really happening. I think that’s where we’re right now. It’s that we don’t really understand what’s happening.“348 344 Ebd. 345 Dies findet auch Robert Schreiter (1992, 69) der erklärt, Hinhören sei die Voraussetzung jeder gelungenen Kulturanalyse: „Wir befürworten dieses Prinzip, einer Kultur zunächst einmal zuzuhören, bevor man selber das Wort an sie richtet, ganz entschieden, auch wenn diejenigen, die es schon versucht haben, wissen, wie schwierig sich dies gestalten kann.“ 346 Geertz 1983a, 51 347 Ebd., 9 348 In: Stern, Stevenson 2006, 174

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In dieser Halt- und Orientierungslosigkeit scheinen die Menschen außer Stande zu sein, mitzuwirken an „Reparaturarbeiten“ oder daran, ein kohärentes Netz zu weben. Deshalb haben viele, vor allem die Elders, große Angst davor, traditionelle Symbolsysteme für immer zu verlieren. Viele Aspekte der Kultur sind bereits Geschichte. Auf einem (Schein-)Netzwerk der bloßen Romantisierung und Idealisierung kann man jedoch kaum sinnvoll Leben gestalten. Im Gesagten offenbart sich ein Dilemma: Einzelne Menschen brauchen die Sicherheit des kulturellen Bedeutungsgewebes, um eigenes Sein gelungen zu realisieren, d.h. Identität auszubilden. Zugleich braucht es Menschen, die in der Lage sind, selbstbestimmt dieses Netzwerk gemeinsam mit anderen zu schaffen. Infolgedessen stellt sich auf der einen Seite die Frage, wie die Inuit individuellen Sinn erleben können, wenn der gesellschaftlich-kulturelle Bedeutungshintergrund größtenteils dem rapiden Wandel zum Opfer gefallen ist. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie neue Bedeutungszusammenhänge auf kollektiver Ebene geschaffen werden können, auch wenn Einzelne ihres persönlichen Sinns verlustig wurden. Viktor Frankls Werke zur Bedeutung des Sinns für den Menschen bieten wertvolle Erklärungsansätze, um die Situation der Inuit (und auch die der First Nations) verstehen zu können und vielleicht auch Ansätze zu finden, erwähntem Dilemma begegnen zu können. Frankl definiert den Menschen als Wesen auf der ständigen Suche nach Sinn, als Wesen, die auf Sinnerfüllung angewiesen sind, um gesund und glücklich Leben gestalten zu können: „Man’s search for meaning is a primary force in his life and not a ‚secondary rationalisation’ of instinctual drives.“349 Nur in der Erfüllung dieses Sinns findet der Mensch Glückseligkeit. Wird dem Menschen der Sinn genommen, beziehungsweise lässt sich der Mensch den Sinn nehmen (denn Frankl, der selbst das Konzentrationslager überlebte, argumentiert, nur der Mensch selbst kann seinem Sinn verlustig werden), versucht er unweigerlich auf Umwegen Erfüllung zu erfahren. Frankl schreibt, die Sinnerfüllung, wie auch die zwischenmenschliche Begegnung „gibt dem Menschen einen Grund zum Glück und zur Lust.“350 Fehlt einem Menschen dieser Grund, wird „dieses primäre Streben gleichsam abgebogen in ein direktes Streben nach Glück, in den Willen zur Lust“351, beziehungsweise den Willen zur Macht: „Anstatt daß die Lust das bleibt, was sie sein muß, wenn sie überhaupt zustande kommen soll, nämlich eine Wirkung (die Nebenwirkung erfüllten Sinns und begegnenden Seins), wird sie nunmehr zum Ziel einer forcierten Intention, einer Hyperintention. Mit der Hyperintention

349 Frankl 1975, 154. In diesem Ansatz zeigt sich eine Parallele zu Geertz, der den Menschen als „meaning-making animal“ versteht. 350 Frankl 2005, 101 (Hervorhebung im Original) 351 Ebd.

308 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS einher geht aber auch eine Hyperreflexion. Die Lust wird zum alleinigen Inhalt und Gegenstand der Aufmerksamkeit.“352

Frankl führt aus, dass die unbegründete (nicht im Sinn verankerte), haltlose Fixierung auf die Lust in Gefahr steht, zur Last zu werden. Denn der Mensch sieht sich bald gefangen in der Abhängigkeit von der Lust und wird dieser im selben Moment nie habhaft. „Je mehr es einem um die Lust geht“, so Frankl, „um so mehr vergeht sie einem auch schon.“353 Ähnliches scheint für die Macht zu gelten. Menschen haben das Bedürfnis, sich mächtig zu fühlen, beziehungsweise sinnvoll in einem Gesamtzusammenhang handeln zu können und darin Anerkennung zu erfahren. Ist dies nicht der Fall, oder erleben Menschen all ihrer Macht beraubt zu werden, nicht mehr sein zu dürfen, wie dies in den Internatsschulen für Ureinwohnerkinder der Fall war, besteht der Drang, sich mit aller Macht zu ermächtigen. Oder, wie Frankl schreibt, das bloße Mittel „Macht“ zur Selbsterfüllung wird zum Zweck an sich. Der Mensch beschränkt sich auf das Mittel und erlebt nie den Zweck. 354 Diese Ausführungen zu Sinn und Sein scheinen schlüssige Ansätze zu liefern, um die Phänomene des Selbstmords, der Gewalt und den Teufelskreislauf der Sucht und des Machtmissbrauchs erklären zu können – dies gilt sicher nicht nur für die Inuit. Es hat den Anschein, als würden sich Menschen, die ihrem Orientierungssystem verlustig gehen, in ein „Ersatznetz“ verstricken, das ihnen ein Gefühl von Gleichgewicht und Halt vorgaukelt, sie aber letztlich gefangennimmt und lähmt. Die Formen der Ersatzbefriedigung sind deshalb so vernichtend, da sie Menschen die Metaperspektive rauben. Krampfhaft halten sie fest an Lust und Macht, die sie verblenden, in Abhängigkeiten verwickeln und den Blick für den tatsächlichen Sinn verstellen. An anderer Stelle schreibt Frankl von einem „existentiellen Vakuum“355, dem Gefühl einer inneren Leere, in welches Menschen fallen können. Ähnlich wie Geertz argumentiert er, der Mensch könne nicht auf Instinkte zurückgreifen, um Hand352 Ebd. 353 Ebd. 354 Dies erinnert an oben geführte Diskussion hinsichtlich der Unterscheidung von Problem und Symptom und der Tatsache, dass das Symptom oft als Problem verkannt und dabei die Ursache dysfunktionalen Verhaltens bzw. das tatsächliche Problem übersehen wird. So wird meist Machtmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit als primäres Problem verkannt, anstatt es als Verbiegung wahrzunehmen, die auf das eigentliche Problem hinweist. Dies beinhaltet auch eine wichtige ethische Komponente: es ist nämlich nicht der Mensch „falsch“, „unnormal“ oder „schlecht“ und somit als solcher zu behandeln. Es geht vielmehr darum, diesen Menschen als Teil eines größeren Ganzen in Raum und Zeit zu verstehen und ihm dort zu begegnen. 355 Frankl 1975, 167-171

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lungssicherheit zu erlangen. Zudem verlöre er in Zeiten der Moderne traditionelle Werte und Normen, die einstmals richtungweisend für Handeln und Verhalten waren. Damit ist der Mensch haltlos und seiner Macht beraubt, selbstbestimmt Leben gestalten zu können: „Soll ich kurz auf die Ursachen eingehen, die dem existentiellen Vakuum zugrunde liegen mögen, dann dürfte es auf zweierlei zurückzuführen sein: auf den Instinktverlust und auf den Traditionsverlust. Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er tun muss; und dem Menschen von heute sagen keine Traditionen mehr, was er tun soll; und oft scheint er nicht mehr zu wissen, was er eigentlich will. Nur umso mehr ist er entweder darauf aus, entweder nur das zu wollen, was die anderen tun, oder nur das zu tun, was die anderen wollen.“356 >Hervorhebungen im Original@

Der Verlust der Tradition gilt offensichtlich in besonderem Maße für die Inuit. In der Haltlosigkeit des existentiellen Vakuums sind sie hin und her gerissen zwischen den Anforderungen, das zu wollen, was andere tun, beziehungsweise das zu tun, was andere wollen. Damit, um den Bogen zu Eingangs erwähntem Zitat zu ziehen, reduziert sich der Möglichkeitsraum, der auf der Sinnerfüllung, auf der Selbstverwirklichung, gründet. Durch die Beraubung des kulturellen Grundes wurde den Inuit der Spielraum genommen, sich selbst zu gestalten. Dennoch zeigt sich vor allem anhand der Diskussionen um Selbstverwaltung, dass der Wille zum Sinn unter den Inuit nach wie vor stark ist. Sie wissen um ihre Haltlosigkeit, um die Probleme von Sucht und Gewalt. Verstärkt versuchen die Menschen, Inuitsein in der heutigen Zeit neu zu verorten, neu in Sinn zu gründen, um darin neue Möglichkeitsräume aufzutun. Von diesen Suchbewegungen und möglichen Richtungen auf diesem Weg soll im letzten Abschnitt die Rede sein.

356 Frankl 2005, 19

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2.3 S IVUNITTINI – U NSERE Z UKUNFT : H ERAUSFORDERUNGEN UND C HANCEN Will the Inuit disappear from the face of the earth? Will we become extinct? Will our culture, language and our attachment to nature be remembered only in history books? If we are to survive as a race, we must have the understanding and patience of the dominant cultures of the country. We must teach our children their mother tongues. We must teach them the values which have guided [us] for over thousands of years. It is this spirit we must keep alive so that it will guide us again in a new life in a changed world.357 JOHN AMAGOALIK

Basierend auf der Annahme, dass der Mensch nur selbstbestimmt leben kann, wenn sein Leben in einem sinnvollen sozio-kulturellen Zusammenhang gegründet ist, wird es in der Zukunft darum gehen müssen, eine Plattform zu schaffen, welche es den Inuit trotz des Wandels in eine neue Zeit ermöglicht, ihren Sinn finden und leben zu können. Dabei ist die Erkenntnis entscheidend, dass Sinn nie von außen diktiert werden kann, sondern immer von den Menschen selbst gefunden werden muss. Insofern stellt die Anerkennung des Nationenstatus, inklusive der Selbstverwaltung indigener Gruppen in Kanada, wichtiger Pfeiler erwähnter Plattform dar. Die Umsetzung der Selbstverwaltung ist jedoch in den meisten Fällen noch eine große Herausforderung, und es wird wohl noch einige Zeit brauchen, bis die Menschen wieder ein tragfähiges kulturelles Netzwerk geschaffen haben, das individuelle Sinn- und Selbstverwirklichung ermöglicht. Die Ressourcen sind jedoch da, und ich möchte abschließend vorschlagen, diese durch Empowerment-Strategien von innen heraus, durch Gemeindeentwicklung (community development) im Sinne der Gemeinwesenökonomie aufzudecken und nutzbar zu machen. Dann erst ist die Selbstverwaltung nicht nur politische Philosophie, sondern Grundlage für die Menschen, ihrem Leben neuen Sinn zu geben, ihre Identität in modernen Zeiten festigen zu können.

357 In: Stern, Stevenson 2006, 168

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2.3.1 Vom Unsinn des Diktats fremden Sinns und der Notwendigkeit, auf eigenen Sinn zu gründen Im Prozess der Zivilisierung wurde die Lebensform, welche die Regierung, Sozialarbeiter, Finanzexperten, Missionare und andere Vertreter der Kolonialmacht für die Inuit als sinnvoll erachteten, diesen aufgezwungen. Dabei, so betont Frankl ausdrücklich, kann Sinn weder erzeugt noch gegeben werden, „sondern er muss gefunden werden.“358 Und weiter schreibt er: „Bei der Sinn-Wahrnehmung handelt es sich um die Entdeckung einer Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit.“359 >Hervorhebung im Original@ Gerade diese Entdeckungen von Möglichkeiten sind es, die Raum geben können für neue Handlungsweisen, die stimmig der Kultur entsprechend beziehungsweise neu Kultur fördernd, einzelnen Individuen Sinn und damit positive Macht und Lebenslust im Sinne von Frankl vermitteln. Erzeugter Sinn dagegen, so Frankl, sei entweder subjektiv erwirkter Sinn, ein bloßes Sinngefühl, oder schlichtweg Unsinn. In der Geschichte der Assimilierung kanadischer Ureinwohner gibt es zahlreiche Beispiele dieses Unsinns: Die bereits erwähnte, in den 30er Jahren groß angelegte Aktion, Rentiere von Alaska in die Arktis zu bringen, barg seitens der kanadischen Regierung vor allem die Hoffnung, den Inuit eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Unter einem wahnsinnigen Aufwand wurde eine 2370-köpfige Herde in über fünf Jahren ins Mackenzie Delta getrieben. „The purchase and drive [auch als „The Canadian Drive“ bekannt] of this heard of reindeer were made, not as repeatedly stated in the Press, to alleviate starvation amongst the Mackenzie Eskimo, but as the first step towards building up what it is hoped will become an important industry for the native population of Northern Canada.“360

Doch schon nach kurzer Zeit entpuppte sich eine gut gemeinte Idee als Flop. Man hätte sich eigentlich denken können, dass die Inuit in der Aufzucht und Pflege von Rentieren keinen Sinn sahen und infolgedessen keinen großen Tatendrang an den Tag legten, hatte doch schon die Hudson Bay Company 1921 vergeblich versucht, den Inuit die Domestizierung und Herdenhaltung näher zu bringen.361

358 Frankl 2005, 155 359 Ebd. 360 Porsild 1936, 1 361 „The Hudsons Bay Company bought a herd of reindeer from Norway in 1921, and Lapp herders took them ashore at Amadjuak on the sough coast of Baffin Island. The Company hoped that Inuit would learn to herd and use reindeer as the Lapps did, but the reindeer herd was not well cared for and gradually wandered away to mix with wild

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Weiteres Beispiel der Unsinnigkeit von außen diktierter Vorstellungen sinnvollen Lebens stellt die Wohnungsbau- und Siedlungspolitik der kanadischen Regierung in der Arktis dar. In Ulukhaktok wie in vielen Siedlungen, die entstanden, um die Inuit sesshaft zu machen, waren die ersten Häuser, welche die Regierung baute, einfache Einfamilienhäuser nach euro-kanadischem Modell. Über Form, Größe oder Standort der Häuser wurde nie mit den Menschen selbst gesprochen, denn es bestand die feste Überzeugung, dass man wisse, was richtig für die Inuit sei: „With permanent settlement in the community, and especially with the assignment of the government-supplied houses, the autonomy of nuclear families was taken for granted by northern administrators. [...] Policy documents from the first years of the settlement also reflect a belief on the part of northern administrators that Inuit had a cultural preference for nuclear family households.“362

Zuständige Beamte wunderten sich schließlich, warum Familien den größten Raum, das Wohnzimmer, als Garage für ihr Skidoo nutzten oder darin Karibus zerlegten. 363 Nicht nur, dass die Konstruktion der Häuser nach westlichem Standard völlig impraktikabel für die Lebensart der Inuit, die Bedingungen und das Klima der Arktis war,364 darüber hinaus hatte dies ungeahnte Folgen für das gesamte Sozialsystem caribou. In 1931 a much bigger herd was brought by the government from Alaska, and Andrew Bahr, a Laplander, was in charge of driving the 2.370 animals over 2.000 miles to Tuktoyaktuk near the Mackenzie Delta. Some Inuit helped to drive the herd [...] and it arrived in 1935. The reindeer herd is still being looked after by the government, and has not become important to the Inuit.“ (Crowe 1974, 116-117) 362 Stern 2005, 70 363 Derartige Verhaltensweisen wurden später gezielt versucht zu verhindern: „According to Don Jossa, a Design Development Technical Officer with the Northwest Territories Housing Corporation, doorways were purposely narrowed to prevent Inuit from engaging in activities such as snowmobile repair inside their houses.“ (Ebd., 75) Tester schreibt vom Paradoxon, dass auf der einen Seite der Stolz der Inuit gefördert werden sollte, ein eigenes Heim zu besitzen (ebenfalls ein westliches Konzept) und auf der anderen Seite restriktive Maßnahmen ergriffen wurden, wenn sie ihr Haus entsprechend den eigenen Vorstellungen einrichteten: „Inuit control and participation were recognised only when these were no longer a threat to the ,right way‘ of doing things.“ (in: Stern, Stevenson 2006, 239) 364 Die Hütten waren zu feucht im Sommer und kaum zu heizen im Winter. Abgezogene Tierfelle, Essensreste und andere Rückstände, die einstmals einfach im Iglu zurückgelassen wurden, stapelten sich in Schlafzimmern. Schimmel setzte sich in die dünnen Holzplatten. Nicht selten kam es zu Epidemien (Tuberkulose) und ganze Ortschaften mussten evakuiert werden. Wie wenig sich die Beamten des Südens über die Lebens-

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der Menschen. Der traditionelle Sinnhorizont wurde erschüttert und auf vielseitige Weise ersetzt durch westlich geprägte Vorstellungen. Das Haus beziehungsweise das Iglu, stellen mehr als nur verschiedene Wohnformen dar: Sie sind Sinnsysteme, bedeutungsvolle kulturelle Symbole, die entscheidenden Einfluss darauf haben, wie soziales Zusammenleben geregelt wird. Ein Beispiel soll die Relevanz des Gesagten unterstreichen: Die ersten Hütten, die für die Inuit gebaut wurden, waren ärmliche Sozialwohnungen, die sich stark abhoben von den größeren, solide gebauten Häusern der Regierungsangestellten, Polizisten oder der Hudson Bay Manager. Das Konzept von Armut, den Inuit bis dato fremd, denn traditionelle Teilgemeinschaften sicherten das gegenseitige Wohlergehen und Überleben aller, fand Einzug: „Suddenly a social phenomenon largely missing from traditional camp life became a defining feature of northern settlements. [...] Poverty was created by a new series of new social relations imposed on people who had previously defined difference in other ways. The house was more than symbolic. Inuit were defined as poor by housing policy.“365

Zudem stand die Nuklearisierung der Haushalte366, die Errichtung ökonomisch unabhängiger Wohneinheiten, traditionellen Werten von Gemeinschaft, Teilen und Geschichtenerzählen entgegen und sorgte für ein Gefühl der Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins und der Isolation. Anstatt sich gemeinschaftlich selbst zu versorgen, musste vermehrt der Staat eingreifen, um das Überleben zu sichern. Es ist eigentlich kein Wunder, dass sich die Menschen in einer Welt, die für sie künstlich errichtet wurde und die mit ihren traditionellen Sinnbezügen nichts mehr zu tun hatte, nicht zurechtfinden – und darüber hinaus oft auch nicht zurechtfinden wollen. Die Motivation fehlt, denn die Möglichkeit, sich frei zu entfalten, ist genommen. Mit dem Diktat fremden Sinns wurden die Menschen eingeengt auf eine Weltsicht und vor dem Hintergrund dieser bewertet. Anstatt nach den Beweggründen menschlichen Handelns, nach Sinn und Werten der Kultur der Inuit zu fragen, wurden wirkursächliche Erklärungen abgegeben, um soziale Probleme zu analysieren. Dies lähmte die Menschen und nahm ihnen die Freiheit, die Werte und den Sinn zu leben, die sie letztlich ausmachten. Die Menschen wurden auf „faktisches

verhältnisse der Inuit auskannten, belegte die Tatsache, dass sie Badewannen in die Häuser einbauen ließen, obwohl die Inuit niemals genug heißes Wasser hätten produzieren können – und wenn, wäre das viel zu wertvoll gewesen, um eine Wanne damit zu füllen. 365 Ebd., 241 366 Interessante Ausführungen hierzu finden sich in Stern 2005.

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Ich“ reduziert, und die Möglichkeiten, neue Formen der sinnhaften Lebensgestaltung zu finden („fakultatives Ich“ zu leben), wurden von vorneherein vereitelt. 367 Bei der Analyse der psycho-sozialen Schwierigkeiten der Inuit in einer modernen Welt, Leben zu gestalten, kann das Hauptaugenmerk folglich nicht mehr auf der einseitigen Ursachensuche in der so genannten primitiven Kultur oder den einzelnen Menschen stehen bleiben. Es muss vielmehr darum gehen, Symptome als Symptome zu benennen (anstatt Menschen bestimmte Seinsweisen zuzuschreiben, sie zu stigmatisieren) und nach Gründen für Handeln und Verhalten zu fragen. Der Antwort muss dabei ein höherer Stellenwert eingeräumt werden, als der Hypothese, die der Forscher in seiner eigenen kulturellen Situiertheit immer schon hat. Es muss Abstand genommen werden von singulären Interpretationen, basierend auf der reduktionistischen Vorstellung, der Mensch sei ein geschlossenes System, d.h. von außen restlos verstehbar und definierbar. Frankl betont: „Sobald wir uns anthropologisch dem Modell eines geschlossenen Systems verschreiben, sind wir motivationstheoretisch blind für das, was den Menschen von außen anzieht, und bemerken nur noch, was ihn von innen treibt, also seine Triebkräfte und Triebregungen.“ 368

Menschen brauchen mehr als nur ein Dach über dem Kopf, sie müssen ihrem Leben Sinn geben können, um tatsächlich ein Gefühl von Sicherheit zu erleben. In unserer Triebhaftigkeit mögen wir uns über die unterschiedlichen Kulturen hinweg gleichen (in Anlehnung an Maslow), Sinn und Bedeutung findet jeder Mensch gemäß seines spezifischen „In-der-Welt-seins“ anders. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Inuit nur dann in der Lage sein werden, sinnvoll ihre Zukunft zu gestalten, wenn ihnen der sozio-kulturelle Raum dazu gegeben wird. Unter solchen Voraussetzungen ist die Chance groß, dass die Menschen intrinsisch neue Motivation bekommen, ihr Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. In diesem Sinne schreibt Richard Shaull im Vorwort zu Freires Pedagogy of the Oppressed: „They are no longer willing to be mere objects, responding to changes occurring around them; they are more likely to decide to take upon themselves the struggle to change the structures of society.“369

367 Vgl. Frankl 2005, 211 368 Ebd., 58 369 In: Freire 2007, 33

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2.3.2 Herausforderungen und Chancen des Aboriginal Self-Government Seit dem in 1995 vorgestellten Federal Policy Guide on Aboriginal Self-Government versucht die kanadische Regierung offiziell ihren Ureinwohnern ganz bewusst wieder die Möglichkeit einzuräumen, selbstbestimmt ihre jeweiligen kulturellen Sinnbezüge leben zu können. In der öffentlichen Diskussion in Kanada ist in diesem Zusammenhang immer wieder von der „Rückgabe“ der Selbstverwaltung die Rede. Dies ist faktisch jedoch nicht ganz richtig, denn der in der Royal Proclamation von 1763 zugestandene Nationenstatus der Ureinwohner wurde diesen eigentlich nie aberkannt. In gewissem Sinne stimmt „Rückgabe“ jedoch auch wieder, denn dieses Zugeständnis der britischen Krone wurde im Lauf der Assimilation völlig ignoriert, mit dem Indian Act wurden Aboriginals unter „Bundessache“ subsumiert. Die Implementierung einer eigenständigen Regierungsebene für die indigenen Völker Kanadas stellt sich alles andere als einfach dar. Nach wie vor bestimmen Vorurteile auf beiden Seiten die Verhandlungen um Länderrechte beziehungsweise entsprechende Formen der Selbstverwaltung und führen zu zahlreichen Missverständnissen. Zudem besteht zwar berechtigte Hoffnung, dass First Nations, Métis und Inuit wieder die Möglichkeit bekommen, eigenverantwortlich gemäß ihrer kulturellen Präferenzen Leben gestalten können, doch im Moment straucheln noch so viele Aboriginals, kämpfen gegen die Sucht und sind infolge der Verletzungen von Gewalt und Missbrauch nicht fähig, ihren Alltag meistern zu können. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Menschen überhaupt schon wieder in der Lage sind, nach so vielen Jahren der Entmündigung und Fremdbestimmung unabhängig und selbständig das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Auch vor diesem Hintergrund kann kaum von einer „Rückgabe“ der Selbstverwaltung gesprochen werden. Denn die ursprüngliche, eigenständige und selbstbestimmte Kultur der Inuit und der First Nations ist dem rapiden Wandel in eine moderne Welt zum Opfer gefallen. Die einstigen Überlebenskünstler in Eis und Schnee haben Schwierigkeiten, sich in einem Leben zwischen Supermarkt und Lohnarbeit zurechtzufinden. Neue Formen der Verwaltung und politischen Führung, die Aspekte beider Seiten mit einbeziehen, müssen gefunden werden. Seitens der kanadischen Regierung scheint sich hier ein schwieriger Balanceakt aufzutun: ein Balanceakt zwischen der tatsächlichen Anerkennung des Rechts zur Selbstverwaltung, inklusive aller Konsequenzen und der Gefahr, ein Volk sich selbst zu überlassen, das unter Umständen noch nicht in der Lage ist, eigenständig in der neuen Welt zu bestehen. Kriterien, ab wann ein selbständiger Weg gangbar ist, sind schwer zu finden.

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Dies gilt vor allem auch angesichts der Diversität der Ureinwohnergruppen Kanadas. Mit jeder Nation, jedem Stamm und jedem Volk müssen eigene Verhandlungen geführt werden: „Given the vastly different circumstances of Aboriginal peoples throughout Canada, implementation of the inherent right >of self-government@ cannot be uniform across the country or result in a ‚one-size-fits-all‘ form of self-government. The Government proposes to negotiate self-government arrangements that are tailored to meet the unique needs of Aboriginal groups and are responsive to their particular political, economic, legal, historical, cultural and social circumstances.“370

In den Diskussionen um die Rückgabe der Selbstverwaltung stößt man nicht selten auf Extrempositionen hinsichtlich der Befähigung der Ureinwohner, eigenverantwortlich ihre Belange zu verwalten. Neben der Auffassung, dass traditionelle Regierungsformen in der neuen Welt rückständig, chaotisch und wenig zielführend sind, bestehen idealisierte, romantische Vorstellungen traditioneller Regierungskonzepte der Ureinwohner. Beide Positionen ignorieren die offensichtliche Ambivalenz, die jede Kultur aufweist. Im Zusammenhang mit der Romantisierung betont Johannes Müller, es dürfe nicht übersehen werden, dass ein Volk „oft apathisch, traditionell, voreingenommen und unwissend ist und dass es auch unter den Armen Gruppenegoismus, Missbrauch von Macht und Korruption gibt.“ 371 Er fährt fort: „Ebenso wenig sind die Meinung und das Urteil der Armen von vorneherein richtig und ethisch vertretbar, denn dann wären Selbstjustiz [...], die Todesstrafe oder Praktiken ‚schwarzer Magie‘ mit ihren oft verheerenden Folgen durchaus legitim. Auch wissen Arme häufig keine gangbaren Wege und Lösungen für ihre Probleme, besonders wenn sie auf der Makroebene liegen.“372

Nicht selten kommt es vor, dass traditionelle Prinzipien und Prozesse nicht ausreichend reflektiert und kritisch auf die Umstände der neuen Zeit hin geprüft werden. So sind beispielsweise traditionelle Formen des Gerichtswesens im Bereich des Jugendstrafrechts außerordentlich erfolgreich373, scheinen jedoch dem neuen Phä370 Indian and Northern Affairs 2008a 371 Müller 1997, 161 372 Ebd. 373 Im Gegensatz zu den herkömmlichen retributive justice Konzepten, die Vergeltung (Strafe) und Abschreckung in den Mittelpunkt rücken, zielen traditionelle restorative justice Praktiken auf Heilung, Wiedergutmachung und Versöhnung. Klassische Formen von restorative justice Prozessen sind: Family Group Conferencing, Victim-Offender Mediation, Sentencing Circles, Community Accountability Panels. Von elementarer Be-

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nomen von Alkoholmissbrauch und damit zusammenhängender massiver Gewalt nicht immer gerecht werden zu können. Immer wieder dringen Geschichten von undurchschaubaren Gerichtsprozessen in die Öffentlichkeit, die schwere Gewaltverbrechen nur milde bestrafen. Täter werden innerhalb kürzester Zeit wieder in die Gemeinden integriert, wo sie in ihre alten Verhaltensmuster zurückfallen und neue Straftaten begehen. Häufig mangelt es an professionellen Einrichtungen in den Gemeinden, die den Tätern helfen könnten, dem Teufelskreislauf von Sucht, Gewalt und Missbrauch zu entkommen. Anne erzählte mir beispielsweise von einem Mann, der sich ihr eines Tages in Paulatuk als der „Pädophile der Gemeinde“ vorstellte. Es stellt sich die Frage, inwieweit traditionelle Tugenden tatsächlich noch Stützpfeiler für eine eigene Regierungsform sein können. Denn diese stehen in Gefahr, von wenigen Privilegierten vor allem in Zeiten des Umbruchs, wenn die Masse der Menschen noch versucht, festen Boden unter den Füßen zu finden, für eigene Zwecke missbraucht zu werden. Ein Beispiel aus meinen Feldnotizen soll diese Befürchtung unterstreichen: Vor einiger Zeit erhielten alle sozialen Einrichtungen, Programme und Community Boards in Paulatuk eine Anfrage, Vorschläge zu unterbreiten, wie eine halbe Million Dollar der kanadischen Regierung zur Capacity building bestmöglich ausgegeben werden sollte und welche Bedürfnisse bestünden. Annes Vorschlag, ein Safe-House zu bauen, das Kindern, Frauen und Jugendlichen, die der Gewalt und des Missbrauchs in den eigenen vier Wänden entfliehen müssen, offen steht, wurde von der mächtigen Gemeindeleitung völlig „platt“ gemacht. Sie durfte zwar ihren Vorschlag einreichen, wurde aber zur Abstimmung über die tatsächliche Entscheidung nicht involviert. Ein Safe-House, so die kurze Bemerkung einiger Vorsitzender der Gemeindeverwaltung, brauche Paulatuk nicht. Eine Aussage, die ich als Außenstehende nicht nachvollziehen kann. Wie kann es sein, dass ein Angestellter, der im Ort für Parks Canada arbeitete, mir erzählte, er habe regelmäßig sein Haus voller Kinder gehabt, die nachts verzweifelt vor ihren betrunkenen Eltern geflohen wären. Anne beherbergte nicht selten in ihrer kleinen Wohnung Jugendliche, und oftmals dienten die Räumlichkeiten des Jugendtreffs als Notunterkünfte. Dennoch behaupteten einige, ein Safe-House entspräche nicht den Bedürfnissen der Menschen in Paulatuk. Keiner weiß, was mit dem vielen Geld der Regierung letztendlich passierte. Ich zweifle manchmal an meinem eigenen Blick. Ist nicht vieles offensichtlich, was falsch läuft? Oder habe ich einfach nicht den richtigen Einblick in die Kultur und die Bedürfdeutsamkeit in allen diesen Formen ist der Dialog zwischen Täter und Opfer, die Einbezugnahme aller, die durch das Vergehen oder Verbrechen in irgendeiner Weise betroffen waren. Die Gemeinde (oftmals ein Gremium von Elders) wird miteinbezogen, das Strafmaß zu bestimmen. Dabei stehen die Bedürfnisse des Opfers und die Verantwortungsübernahme des Täters im Mittelpunkt der Prozesse.

318 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS nisse der Menschen? Und dann beschleicht mich auch die leise Ahnung, dass man nicht unbedingt immer auf die „Weisheit“ der Inuit bauen kann. Skrupellosigkeit, Korruption, Macht und Gier scheinen auch vor dem hohen Norden nicht Halt gemacht zu haben. Ich befinde mich auf einer gefährlichen Gratwanderung zwischen dem Vertrauen auf mein Gefühl, meinem eigenen Verständnis von den Zusammenhängen, und der unbedingten Achtung kultureller Selbstbestimmung. So viel liegt schon im Argen – was sind noch reine traditionelle Werte, die Identität vermitteln? Was ist bereits verdorben?

Ebenfalls erschwerend im Prozess der Implementierung der Selbstverwaltung kommt hinzu, dass es kaum ausgebildete Sozialarbeiter, Polizisten und Lehrer aus den eigenen Reihen der Inuit und First Nations gibt, die Funktionen wahrnehmen könnten, die zwar euro-kanadischen Ursprungs sind, aber aus den Siedlungen heute kaum noch wegzudenken sind. Immer sind es westlich ausgebildete Experten, die diese Aufgaben in den kleinen Gemeinden für kurze Zeit wahrnehmen. Meist haben diese dabei kaum die notwendige Einsicht in die Lebenswirklichkeit der Menschen, um diese tatsächlich von innen heraus bestärken zu können. Im euro-kanadischen Kontext entwickelte und erlernte Konzepte und Modelle werden häufig angewandt, ohne auf kulturspezifische Besonderheiten, Bedürfnisse und Werte achtzugeben. Wenn entsprechende Maßnahmen dann nicht funktionieren, wird die Schuld meist auf die Ureinwohner abgeschoben, die „einfach noch nicht so weit sind“. Auch hinsichtlich des Schulkurrikulums gibt es Anlass zum Kopfzerbrechen, denn auf der einen Seite sollen natürlich kulturelle Aspekte der Inuit elementarer Bestandteil des Unterrichts sein, auf der anderen Seite müssen Wege geebnet werden, die Kindern und Jugendlichen reale Chancen in einer sich wandelnden Welt einräumen. Die Inuit und First Nations stehen vor der schweren Aufgabe herauszufinden, welche Teile ihrer neuen Regierungsformen auf traditionellen Werten beruhen sollen, welche Ansätze sie übernehmen, die euro-kanadischen Ursprungs sind, und welche möglichen Mischformen es geben könnte: „To date education, housing, and other infrastructure, as well as labor practices and recreation have been, for the most part, replicas of Eurocanadian forms and practices. Significantly, these alien institutions, possibly appropriate to Eurocanadian values of private accumulation, involve new forms of consumption that require more and more cash and encourage households to see themselves and act as self-contained units. Inuit self-government might mean government as usual by Inuit or it might mean government in accordance with Inuit values.“374

Werte müssen auf Sinn gründen, wenn sie Identitätsentwicklung und selbstbestimmtes Leben fördern sollen. Nicht umsonst nennt Frankl Werte „Sinn-Univer374 Stern 2005, 78

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salien“375. Wie im vorhergehenden Abschnitt erläutert, kann dieser Sinn nicht kollektiv künstlich produziert werden. Kultur und Praktiken der Selbstverwaltung müssen im Sinn der ihr angehörigen Individuen gründen. Prinzipien der Selbstverwaltung sind dann stimmig, wenn die Menschen Raum bekommen, ihrem Sinn durch die Formulierung von Werten Ausdruck zu verleihen. Inuit und First Nations werden dann adäquate Formen der Selbstverwaltung finden, wenn nach Beweggründen und Bedürfnissen gefragt wird und nicht nach rein funktionalen, äußerlichen Notwendigkeiten. Vor diesem Hintergrund ist zu bedenken, ob das Programm der Regierung von Nunavut (die ja bereits seit 1999 eigene Belange selbst verwaltet), strikt traditionelle, klar definierte Werte in allen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft, Bildung, Justiz und Politik unbedingt umzusetzen, sinnvoll ist. Um die Umsetzung traditioneller Werte zu gewährleisten, stellte die Regierung eine Wertesammlung, die einen gewissen Verhaltenskodex mit sich bringt, zusammen: das so genannte Inuit Qaujimajatuqangit376. Inuit Qaujimajatuqangit (kurz auch IQ genannt) ist Inuktitut und bedeutet so viel wie traditionelles Wissen oder Weisheit der Inuit. IQ repräsentiert sowohl Lebensart wie Informationsquelle, praktische wie epistemologische Aspekte der Kultur der Inuit. Auch Jaypetee Arnakak, der für das Nunavut Social Development Council arbeitet, steht der künstlichen Implementierung von Inuit Qaujimajatuqangit kritisch gegenüber und bringt erwähnte Bedenken wie folgt treffend zur Sprache: „What is IQ? The question itself is like asking how many grains of sand there are on Baffin Island. We can never hope to count each and every single grain of sand, but we can describe what a grain of sand generally looks like. To many people, the ,traditional knowledge‘ aspect of IQ is often the only side that is seen, but that describes only one half of it. IQ is really about ,healthy, sustainable communities‘ regaining their rights to a say in the governance of their lives using principles and values they regard as integral to who and what they are. [I] deliberately tried to keep IQ from becoming an official policy, knowing that separating IQ

375 Frankl 2005, 237 376 Das Nunavut Department of human resources betont beispielsweise (stellvertretend für alle Ministerien in Nunavut): „It is the department’s mandate to incorporate IQ in the delivery of our programs and services. Our policies and practices must be consistent with the beliefs, customs, values and the language of Inuit. Inuit as a people have a long-standing code of behaviour based on time-honored values and practices. Today this system and the past methods for communicating these values have been interrupted by outside influences and new institutions. We must find ways to build these beliefs into what we do today so that once again these beliefs become the value system for Nunavut.“ (Government of Nunavut 2005)

320 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS from the contemporary realities renders something that is profound, enriching and alive into something that is meaningless, sterile, and awkwardly exclusionary.“377

Mit der rigiden Umsetzung von IQ besteht die Gefahr, dass die Menschen, die vor wenigen Jahren noch in die westliche Zivilisation eingepasst werden sollten, nun vor dem Problem stehen, konkreten Vorstellungen, was richtiges Inuitsein kennzeichnet, gerecht werden zu müssen. Zudem scheint die Institutionalisierung von Welt- und Wertvorstellungen der ursprünglichen Kultur der Inuit fremd gewesen zu sein. Briggs betont: „Inuit recreate their values through experiencing them.“378 Und auch der Elder Emile Immaroituk erklärt: „We didn’t talk about traditions in the past. There were no other cultures here with us and we didn’t think about preserving anything because we were living it. It was all we had. We were living it.“379 Die Festlegung, wie Inuitsein auszusehen hat, eine Identitätsdefinition von außen, die über die Institutionalisierung IQs hinaus, auch durch gesamtgesellschaftliche Erwartungen an die Menschen herangetragen wird, scheint vor allem für die jüngere Generation problematisch. Nicht nur, dass viele junge Menschen daran gehindert werden, ihr eigenes Sein in einer modernen Welt zu entfalten, darüberhinaus wird das Bild vom „echten Inuk“ meist glorifiziert und mystifiziert. Es hat mit der realen Lebenswirklichkeit der meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht das Geringste zu tun.380 Lisa Stevenson berichtet diesbezüglich: „Inuit youth today are often perceived to be lacking the right kind of experiences or memories – memories associated with being on the land, hunting, and living in camps as their ancestors did in previous generations. As one young man complained to me, ,You don’t even know how many times I’ve been accused on not being a real Inuk!‘“381

Die Kluft zwischen der Möglichkeit, tatsächlich noch traditionellen Lebensformen nachzugehen und der Forderung, dies zu tun, ist groß. Das Überleben auf dem Land inklusive Jagd ist nur noch durch Subventionen möglich. Ausreichend Benzin für Schneemobile beispielsweise, um weite Strecken zurücklegen zu können, ist für die meisten kaum, wenn überhaupt, bezahlbar. Die Menschen sehen sich zunehmend gefangen in einem Widerspruch: 377 Arnakak 2001 378 Briggs 1987, 15 379 In: Stern, Stevenson 2006, 122 380 Garburn schreibt dazu: „The nature of Inuit Qaujimajatuqangit is being challenged by younger Inuit, who may have different notions of what makes a real Inuk. For them a real Inuk must neither be judged by the standards of an earlier area nor be held up as a mythical and misleading model unobtainable today.“ (in: Stern, Stevenson 2006, 154) 381 Stern, Stevenson 2006, 178

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„The paradox [...] is that while people are increasingly promoting themselves as traditional hunters in the modern world system, it is nevertheless the case that without the added income from those projects >Subventionen@, many Inglulingmiut >Inuit aus Igloolik, Nunavut@ would be unable to afford to buy snowmobiles, guns, and gasoline in order to hunt on the land (or to own or rent homes, pay taxes, travel, or purchase heating oil, electricity, municipal services, food, clothing, etc.).“382

Die Glorifizierung traditioneller Lebensweisen kommt nicht von ungefähr: Seit Jahrhunderten bestaunten Entdecker und Anthropologen die Überlebenskünste der Inuit und stellten sie entsprechend dar383 – dies paradoxer Weise bei gleichzeitigen Versuchen, sie zu assimilieren und in die euro-kanadische Gesellschaft einzugliedern. Diese Schizophrenie spiegelt sich wider in der Herausforderung, passende Regierungsformen zu finden, die weder traditionellen Aspekten der Kultur eine Absage erteilen, noch diese überzogen starr propagieren. Es scheint schwer zu sein zu entscheiden, welche kulturellen Symbole inhärent wichtig sind für die Identität der Inuit und welche eher extrinsischen Wert besitzen, beziehungsweise der Institutionalisierung von Tradition dienen – und inwiefern beide Aspekte ineinander greifen. Ein wichtiges Phänomen in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass gewisse Symbole, die zwar immer schon eine Rolle spielten, aber nie explizit ausformuliert wurden, auf einmal in den Mittelpunkt der Darstellung der Kultur rücken. Briggs erläutert dazu, kulturelle Charakteristika (traits) werden in Zeiten des Umbruchs, in der Angst vor sozio-kultureller Orientierungslosigkeit, emotional aufgeladen. Die wichtigste Bedeutung dieser „Kulturmarker“ (emblems) scheint dabei die Abgrenzung und Selbstversicherung zu sein: Sie sind „emotionally charged markers which we can use as mirrors to show ourselves that our house is real, or as building blocks to construct boundaries and barriers in self-defence.“384 Früher, als die Kultur noch nicht in dem Maße in Gefahr stand, ihrer bedeutsamsten Symbole verlustig zu gehen, haben sich Inuit nicht weniger als Inuit verstanden, als sie begannen, westliche Kleidung zu tragen und Gewehre zur Jagd zu benützen. Heute hingegen werden die Inuit, die einem westlichen Lebensstil zusprechen, nicht selten unter Ihresgleichen als Verräter der Kultur (cultural traitors) stigmatisiert.385 Im Prozess der Umsetzung der Selbstverwaltung besteht die Gefahr, dass die Angst um den 382 in: Stern, Stevenson 2006, 135 383 David Thomas Murphy (2002) erläutert in „First among Savages“: The German Romance of the Eskimo from the Enlightenment to National Socialism, wie vor allem Deutsche (allen voran Franz Boas) die Lebensform der Inuit fasziniert bewunderten, begeistert studierten und als außergewöhnlich propagierten. 384 Linton, in: Briggs 1997, 228 385 Ebd.

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Verlust der kulturellen Symbole, die Menschen dazu bringt, Vorschriften zu machen, wie das Leben als wahrer Inuk vollzogen werden muss und folglich beinahe eine umgekehrte Assimilationspolitik betrieben wird. Es hat fast schon den Anschein, so Stevenson, als würde für junge Inuit die ethische Verpflichtung bestehen, das kulturelle Überleben durch permanente Erinnerungsleistungen zu sichern: „Memory [...] has become an ethical injunction; [...] a certain kind of remembering is not just something that as a young Inuk you are encouraged to make happen, that you are called upon by others to produce in yourself. It is a warning, a command, an injunction: ,Remember!‘Of course this ethical challenge is not always explicitly expressed, but it is felt nonetheless. Remembering the past is understood to be the key to cultural survival. [...] it is possible to say that memory and ethics have become indistinguishable.“386

Die Implementierung der Selbstverwaltung birgt wichtige Chancen für die Kultur der Inuit, stellt die Menschen aber zugleich vor zahlreiche Herausforderungen. Es bleibt abzuwarten, ob die Inuit und First Nations es schaffen werden, traditionelle Symbole in ein starkes Netzwerk einzuweben, das die Menschen für ein Leben in der neuen Zeit freisetzt und nicht gefangen nimmt. Letztlich soll Kultur den Menschen dienen und nicht der Mensch seiner Kultur dienen müssen. Mit Frankl besteht die Hoffnung, dass zwar mit dem Verlust der Tradition einstige Werte an Bedeutung verloren haben, der Sinn jedoch immer schon gegeben ist und gefunden werden kann. In dieser Sinnfindung lassen sich auch neue Werte entdecken, die motivieren, Leben sinnvoll zu gestalten und damit neue Bedeutungsgewebe zu schaffen. „Muß nicht mit den Traditionen auch der Sinn dahinschwinden, den sie vermitteln? Aus dem einfachen Grunde nicht, weil das Dahinschwinden nur die Werte affiziert. Der Sinn bleibt vom Zusammenbrechen der Traditionen verschont. Der Sinn ist nämlich jeweils etwas Einmaliges und Einzigartiges, jeweils erst zu Entdeckendes, während die Werte Sinn-Universalien sind, wie sie nicht einmalig-einzigartigen Situationen, sondern typischen, sich wiederholenden Situationen innewohnen, also die menschliche Kondition auszeichnen.“ 387

2.3.3 Gemeinwesenökonomie als Nährboden der Sinnfindung In einem nächsten Schritt stellt sich die Frage, wie diese Sinnfindung konkret aussehen könnte. Ohne hier detailliert auf die Einzelheiten eingehen zu können, soll doch ein Gedanke dazu aufgegriffen werden. Basierend auf Überlegungen, wie die Inuit traditionell ihre Gemeinschaft strukturierten, sich darin als Individuen defi-

386 Stern, Stevenson 2006, 182 387 Frankl 1979, 237

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nierten und welche internen Netzwerke zur Existenzsicherung heute noch bestehen, könnte eine Form von Gemeinwesenökonomie beziehungsweise Sozialökonomie mögliche Antwort auf aktuelle sozio-kulturelle, ökonomische, wie auch psychosoziale Schwierigkeiten sein. Gemeinwesenökonomie bezieht sich auf das Wirtschaften im sogenannten „Dritten Sektor“, der durch ein „Neben- und Miteinander von Marktmechanismus, staatlicher Steuerung und Leistung und gemeinschaftlicher bzw. familiärer Arbeit geprägt ist, in dem jedoch keiner dieser Mechanismen eindeutig vorherrscht.“388 Hauptaugenmerk der Gemeinwesenökonomie ist nicht, als Einzelperson möglichst viel Geld zu verdienen, sondern die Lebensqualität aller zu verbessern, lebenspraktische Probleme kollektiv zu bewältigen. Kapital ist dabei nicht Selbstzweck, sondern lediglich Mittel zur Bedürfnisbefriedigung; es geht weniger um die Profit- und mehr um die Gemeinwesenorientierung. Die Gemeinwesenökonomie widersetzt sich der Kapitallogik und folgt einer sozio-kulturellen Logik. Sie sieht solidarisches Handeln als soziales Kapital der (Zivil-)Gesellschaft, als lebensweltliche Ressource; Kapital im marktwirtschaftlichen Sinne hat rein dienende Funktion. Insofern wird nicht für einen anonymen Markt gearbeitet, sondern für das gemeinsame Wohlergehen. Ein eigener Wirtschaftskreislauf steht im Mittelpunkt. Der Sinn des Handelns verliert sich infolgedessen nicht in übermächtigen kapitalistischpatriarchalen Wirtschaftssystemen, sondern wird direkt sichtbar und erlebbar. Diese Umverteilung gesellschaftlicher Macht setzt enormes Motivationspotential unter den im Prozess Beteiligten frei. Dies erinnert natürlich an Paulo Freire, der sich mit der Frage auseinandersetzt, „wie Menschen, die durch die Erfahrungen der Machtlosigkeit geprägt sind, wieder beginnen, schrittweise die Kontrolle über ihre Lebenszusammenhänge zu bekommen“389. Beim Wirtschaften im Dritten Sektor steht Kooperation im Vordergrund, Konkurrenzdenken ist weniger wichtig. Es geht darum, jedem Menschen die Chance zu geben, seine Potentiale zu entwickeln, seine Nische zu finden und aufgrund der Vielseitigkeit von Fertigkeiten und Fähigkeiten Synergie zu erwirken. „Gemeinwesenökonomie folgt einem menschenzentrierten Entwicklungsmodell, welches sich an den Bedürfnissen und Kapazitäten der Menschen orientiert. Dieses Entwicklungsmodell ,bedeutet eine Annäherung an eine wirtschaftliche Entwicklung, die Menschen befähigt, sich selbst zu entwickeln – und zwar in einer Weise, die gleichzeitig die Kapazitäten anderer Menschen vorzugsweise vergrößert und sicherlich nicht verringert.‘ Menschenzentrierte Entwicklung ist nicht als anthropozentrisches Modell des Handelns in der Welt zu sehen, sondern impliziert aus der Erkenntnis des ‚Teil-Seins‘ die Verantwortung für die zukünftigen Genera-

388 Schubert, Klein 2006 389 Elsen 2007, 330

324 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS tionen und geht von der Endlichkeit natürlicher Ressourcen aus.“390 [Hervorhebungen im Original]

Nicht nur, dass sich das Gedankengut Viktor Frankls in den Bestrebungen der Gemeinwesenökonomie widerspiegelt, darüber hinaus scheinen die Parallelen zu traditionellen Wirtschaftsweisen, der sozialen Organisation der Inuit und deren Annahme von der Einheit mit der Natur und der Abhängigkeit von dieser, offensichtlich. Die Bedeutsamkeit der Zusammenarbeit von Jung und Alt, von Männern und Frauen je nach Begabung und Fähigkeit und die unabdingbare Einbindung in den Rhythmus der Natur, das Wissen um die Abhängigkeit voneinander und von der Umwelt kommen in der Tradition und Kultur der Inuit in vielfältiger Weise zum Ausdruck.391 Nach wie vor spielen so genannte „Food Sharing Networks“392 in Inuitgemeinden eine wichtige Rolle – nicht nur hinsichtlich der Versorgung von kulturell wichtigen Gütern, darüber hinaus stellt das kooperative Jagen, Verteilen der Beute und gemeinsames Essen wichtiges Symbol für die Identität der Inuit dar: „Traditional foods are clearly essential to Inuit identity. This importance lies not only in their consumption, but also in their distribution throughout the community – so much so that the act of sharing may be said to literally and figuratively define indigenous food as different from Qablunaat food.“ 393

Solidarität und Kooperation sind notwendige Bedingungen für Erfolg (für das Überleben) und konstituieren das Selbstverständnis der Menschen. Der Norden, so zitiert Arlene Stairs Betsy Annahatak, kann unmöglich von einer Person allein gelebt werden. Bei ihrer Argumentation, das Identitätskonzept der Inuit basiere auf

390 Elsen 1998, 75 (im kursiv Geschriebenen zitiert Elsen: James Robertson) 391 Dies zeigt sich besonders deutlich auch in den sechs leitenden Prinzipien des Inuit Qaujimajatuqangit: „1. Pijitsirniq (or the concept of serving), 2. Aajiiqatigiingniq (or the concept of consensus decision-making), 3. Pilimmaksarniq (or the concept of skills and knowledge acquisition), 4. Piliriqatigiingniq (or the concept of collaborative relationships or working together for a common purpose), 5. Avatimik Kamattiarniq (or the concept of environmental stewardship), 6. Qanuqtuurunnarniq (or the concept of being resourceful to solve problems).“ (Arnakak 2001) [Hervorhebungen B.S.] 392 Collings, Wenzel, Condon 1998 393 Ebd., 303. Auch Stern (2005, 68) stellt heraus: „Although sharing is affected by economic factors and has economic implications, sharing is not an economic practice in the narrow sense. Rather, it is a form of Inuit social interaction that both binds people together and acts as a powerful symbol of those ties.“

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einem world-image (im Vergleich zum self-image westlicher Kulturen) fährt sie fort: „Inuit identity is not individualistic in the Western sense, nor can it be divorced from the full ecological, social, and cognitive-linguistic processes of ,living the North‘. [...] Inuit find their identity in a richly detailed and all-encompassing ground and that the process of becoming a mature person is directed toward grounding rather than toward autonomy.“394

Wie konkret gemeinwesenökonomische Prinzipien in Inuitgemeinden umgesetzt werden könnten, stellt ein interessantes Forschungsprojekt für die Zukunft dar. Es muss dabei auf jeden Fall davon ausgegangen werden, dass die Menschen selbst Experten ihrer Lebenslagen sind, und bei ihnen die Suche nach Ressourcen beginnen muss, um erfolgreich (im Sinne Viktor Frankls und der Gemeinwesenökonomie) deren Lebensbedingungen zu verbessern. Nur die Menschen selbst wissen, welche Bedürfnisse sie haben, worin sie Sinn finden.395 Einige Ideen möglicher Nischen einer Lokalökonomie, die in Gesprächen mit den Menschen Gestalt annahmen, hielt ich in meinen Feldnotizen fest: Die Ressourcen unter den Menschen hier sind enorm: es gibt Künstler, Sportler, Musiker, Filmemacher, Handwerker, Erzieherinnen, Näherinnen, Taxifahrer, Köchinnen, Geschichtenerzähler, Mechaniker, Tänzer, Jäger und Fallensteller von faszinierender Vielfalt und Güte. Ich glaube, dass die wirtschaftlichen Möglichkeiten in Paulatuk und anderen Gemeinden des Nordens lange nicht so hoffnungslos sind, wie sie erscheinen. Angefangen von dem erneuten Aufleben der Jagd und dem Fallenstellen, einer anschließenden entsprechenden Verarbeitung der Beute und der Vermarktung von Fellen und Fleisch, bis hin zur Eröffnung diverser Kunsthandwerksstätten und Restaurants, besteht eine gewaltige Bandbreite an weiteren Betätigungsfeldern. Es bleibt der Kreativität der Menschen überlassen, wie diese aussehen mögen. Viele Frauen hier sind begnadete Näherinnen, Stickerinnen und Künstlerinnen. So oft höre ich, sie würden gern lernen, Felle selbst zu gerben, um nicht mehr auf importierte Ware angewiesen zu sein. Welch ein Unding, dass sich die Versandkataloge für Felle und Leder sta394 Stairs 1992, 116 395 Freire (2007, 94) betont ausdrücklich: Man könne nicht einfach zu den Menschen gehen, „to give them ‚knowledge‘ or to impose upon them the model of the ‚good man‘ contained in a program whose content we have ourselves organized. Many political and educational plans have failed because their authors designed them according to their own personal views of reality, never once taking into account [...] the men-in-asituation to whom their program was ostensibly directed“. Er spricht sich für ein dialogisches Vorgehen aus, das die Menschen bestärkt und ermutigt, eigene Vorstellungen umzusetzen, um die eigene Situation zu verbessern: „The correct method lies in dialogue.“ (Ebd., 67)

326 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS peln, die Frauen sich aber keine Bestellung leisten können und zugleich die Füchse bis in die Stadt kommen. Zahlreiche wunderschöne Steinschnitzereien von Künstlern aus der Gemeinde sind Potential für eine Galerie im Ort, vielleicht sogar für den online-Versand in die ganze Welt. Kunstworkshops und Kurse könnten angeboten werden, um noch mehr Menschen für dieses Handwerk zu begeistern. Einige Jugendliche hier sind hervorragende Athleten und reisen in verschiedenste Orte in der Arktis, um an traditionellen Sportereignissen wie den Northern Games teilzunehmen. Die Drumgroup ist weit über Paulatuk hinaus bekannt. Sicherlich ist Paulatuk mit seinem Nationalpark auch in der Lage, sich noch mehr dem Tourismus zu öffnen und attraktiver für Reisende in den Norden zu sein. Die Jagd- und Fischereimöglichkeiten sind zahlreich. Schlittenhunde- und Schneemobilrennen könnten angeboten werden. Die Outdoormöglichkeiten sind unerschöpflich. Camping im Freien und Leben auf „Inuitart“ würde sicherlich viele Abenteurer aus Europa anziehen (mögliche Kurse: Überleben auf dem Land; Kunstworkshops für Touristen, Spiritualität und Philosophie, Teambuilding für Manager, „Adventure Tours“, etc.). Ein kleines Restaurant mit traditionellen Speisen und Getränken scheint in diesem Zusammenhang Erfolg versprechend. Vielleicht könnte man daran sogar eine Suppenküche für Kinder, Alte und Arme anschließen. Ein Kulturzentrum mit Geschichtenerzählrunden der Elders (in Inuinnaqtun und Englisch), einer Sammlung archäologischer Funde (zahlreich im Nationalpark vorhanden!), traditionelle Kunst usw. würden ebenfalls Besucher anlocken.

Lösungsorientierte, dialogische Coachingmethoden könnten helfen, dass die Menschen in den Gemeinden ihre Kapazitäten entdecken und darüber hinaus den Mut finden, als Gestalter der eigenen Lebenssituation von ihrer Opferrolle Abstand zu nehmen und Sinn zu verwirklichen. Meine Workshops in Paulatuk zum Thema Identität und Kommunikation waren zahlreich besucht. Die Sehnsucht, Einfluss nehmen zu können, über Identität, Sinn und Selbstwert nachzudenken, kam in vielen intensiven Gesprächen über die kulturelle Unterschiedlichkeit hinweg zum Ausdruck. Gutes Beispiel für den Wunsch, aktiv teilzuhaben, wie sich die Zukunft für die Inuit in Zukunft darstellen wird, stellt Sheila Watt-Cloutier dar. Die bekannte Inuit Umweltaktivistin, die neben Al Gore zum Nobelpreis 2007 nominiert wurde, schrieb im Zusammenhang ihrer Tätigkeiten: „Allowing ourselves to remain paralyzed by anger [...] only keeps us stuck as victims. It shifts our energy from a partnership building process to one of ,us and them‘ and closes doors to the potential of creating further understanding where differences exist. For the sake of the next generation we need to move beyond our wounding as, perhaps without realizing it, we are modeling perpetual powerlessness and victim hood to our youth.“ 396

396 Watt-Cloutier 2007

A NWENDUNG

DER

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In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass Selbstverwaltung, sollte sie wirklich auch die Lebenssituation der Menschen in den Gemeinden verbessern, nicht nur auf politischer Ebene verstanden werden kann. Sie muss vielmehr im Sinne der Gemeinwesenökonomie „von unten“ umgesetzt werden und muss beim Einzelnen anfangen. Dass eine Politik „von oben“, welche die sozio-kulturelle Ebene an der Basis vernachlässigt, nicht zukunftsweisend sein kann, hat die Geschichte der Ureinwohnerpolitik Kanadas eindrücklich gezeigt. Den leisen Stimmen der Menschen in den Gemeinden muss Gehör geschenkt werden und nicht nur den indigenen politischen Führern, die meinen, sie wüssten, was für „ihre“ Völker richtig sei. Nicht selten hielt sich nämlich, wie Robert Schreiter 397 treffend formuliert, die paternalistische Einstellung kolonialer Strukturen in der einheimischen Elite, die mit den Regierungsgeschäften betraut wurde: „So kam es zur Entfremdung der ‚Eliten‘ von den Wurzeln ihrer eigenen Kultur; sie wurden durch die eindringende Kultur dermaßen stark sozialisiert, dass die Situation noch schlimmer wurde als unter der Kolonialherrschaft.“398 2.3.4 Vom Aussterben bedroht? Wenn ich abschließend die im Eingangszitat gestellte Frage beantworten sollte, ob Inuit vom Aussterben bedroht sind, würde ich sagen, dass es auf die Betrachtungsweise ankommt. Treffendste Metapher für den Wechsel von Tradition zu Moderne und die mögliche Zukunft einer Kultur, die, wie sie sich einst zeigte, wohl wirklich nur noch in Geschichtsbüchern zu finden ist, offenbarte sich mir angesichts eines einzigartigen Phänomens der Natur. Am 16. April 2006 erlegte ein amerikanischer Sportjäger im Beisein seines Inuit Jagdführers auf Banks Island einen „Grizzlor“. Wie Wissenschaftler später bestätigten, handelte sich dabei um einen Mischling von Eisbär und Grizzlybär. Das Tier hatte schwarze Ringe um die Augen, das Gesicht insgesamt erinnerte an einen Grizzlybären, wohingegen der Körper, inklusive des hellen, fast weißen Felles eher einem Eisbär glich. Einer der untersuchenden Gentechniker erklärte: „,It’s interesting from an evolutionary perspective. We tend to simplify evolution‘, he said. The question one is left to ponder is whether the mating of two species is the consequence of

397 Schreiter 1992 398 Schreiter 1992, 68. Freire (2007, 62) argumentiert sogar, die schlechter gestellte Gesellschaft, marginalisierte Randgruppen, Unterdrückte entwickeln starke Faszination für die Unterdrücker, die Vertreter der kolonialen Macht und wollen so sein, wie diese: „The oppressed feel an irresistible attraction towards the oppressors and their way of life. Sharing this way of life becomes an overpowering aspiration.“

328 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS global warming. ,Perhaps this is part of an ongoing phenomenon or an incident we were lucky to observe.‘“399

Mit dem Klimawandel ist nicht nur das Überleben der Eisbären in Frage gestellt, viele kulturelle Praktiken der Inuit werden mit dem Schwinden von Eis und Schnee schlichtweg nicht mehr möglich sein400 – und neue Anpassungsleistungen sind gefragt. Die heutige Generation der Teenager scheint in der Lage zu sein, den Spagat zwischen einst und jetzt besser aushalten zu können als ihre Eltern. Sie trommeln stolz die Lieder ihrer Großeltern und hören mit bunten iPods schrille Töne, während sie an warmen Fellhandschuhen nähen. Inuit werden in „Grizzlor-Formen“ überleben können.401 Ob sie glücklich sein werden, hängt meines Erachtens davon ab, ob sie die Chance bekommen, ihren jeweils eigenen Sinn zwischen den Ansprüchen traditioneller und moderner Vorstellungen finden und leben zu können. Eine gelungene Lebensart in der Versöhnung von Tradition und Moderne beschreibt Briggs anhand des Beispiels eines Inuks namens Samuel: „Looked from the outside, it would be easy to separate some of Samuel’s behaviour into categories labelled ‚Inuit‘ and ‚Quallunaaq‘. Other behaviour would be harder to classify; the threads are too tangled. I have in mind Samuel’s running for office (the office and the mode of achieving it are Quallunaaq, but the reasons for seeking election is Inuit); sculpting (it was 399 Westerman 2006 400 Die Auswirkungen der Erderwärmung sind im Norden deutlich spürbar und derzeit wichtiger Diskussionspunkt. Leider würde eine intensivere Diskussion zu diesem wichtigen Thema den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ich möchte jedoch nicht versäumen, auf die Schwere der Folgen der Klimaveränderung für Mensch und Tier in der Arktis hinzuweisen. Ausführliche Berichte und Analysen finden sich im Arctic Climate Impact Assessment. Hier (2004, 7) findet sich auch folgende Aussage: „For Inuit [...] warming is likely to disrupt or even destroy their hunting and food-sharing culture as reduced sea ice causes the animals on which they depend on to decline, become less accessible, and possibly become extinct.“ 401 Dabei sehe ich vier Hauptrichtungen: 1. Verfechter der Tradition, die auf bunten Baseballkappen die Aufschrift „Proud Native“ tragen, Erinnerung hoch halten, als Aktivisten tätig werden und versuchen, alte Praktiken so gut wie möglich aufrechterzuerhalten. 2. Menschen, die einen Mittelweg finden wollen, eine Ausbildung im Süden anstreben und sich als Sozialarbeiter, Polizist, Lehrer oder Krankenschwester in ihrer Heimatgemeinde bewähren möchten. 3. Es wird zu befürchten sein, dass einige ihrer kulturellen Identität verlustig gehen und sich in keiner der Welten zu Hause fühlen werden. 4. Die Gruppe der Inuit, die in den Süden abwandern und dort westlichen Vorstellungen folgend ihr Leben meistern.

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a Quallunaaq who introduced sculpting to Canadian Inuit, and Quallunaaq ideas of what is saleable have influenced style, yet the products are recognizable Inuit); and writing songs about one’s life (an old Inuit practice, but Samuel uses western music). However as far as I know, Samuel does not doubt his Inuit identity. [...] He can move flexibly from trait thinking to emblematic thinking and back again, as appropriate to his circumstances and goals; he sees equally well through both pairs of glasses. And he does what he does, not because he is in an Inuk and needs to prove it, but because this is the way he wants to live.“402

Mit Johannes Müller möchte ich somit abschließend behaupten, dass die Inuit in einer gelungen „kulturellen Synthese“, welche sie auf individueller, sozialer und kultureller Ebene zu ihrer eigenen machen, ihr traditionelles Erbe dauerhaft bewahren können403. Oder, metaphorisch gesprochen, ist im Grizzlor immer noch ein Stück des Eisbären vorhanden, und die Gewürzgurke ist immer noch eine Gurke. In der gelungenen Synthese können Geschichten der Jungen gleichberechtigt neben den Geschichten der Alten stehen, denn beide sind Ausdruck von Sinn und Identität. „It is as important that elders share their experience of places where no one ever goes any more, passing on stories and toponyms, as it is that younger people share their experience of being in Edmonton’s arena watching the hockey game and cheering for the Oilers. These tales are both part of today’s world, which is understood through both genuine Inuinnait knowledge and western knowledge.“404

Inuit sind Meister des Anpassens und zeichnen sich aus als Überlebenskünstler unter den widrigsten Umständen. Ich bin hoffnungsvoll, dass sie in der Lage sein werden, den Integrationsakt von traditionellen und modernen Elementen für sie sinnvoll zu vollziehen. Viktor Frankl schreibt, dass das Leben durch die Veränderung und das Leiden hindurch nicht seinen Sinn verliert, sondern einen tieferen bekommt, denn „das Leiden hat nämlich dann einen Sinn, [...], wenn du selbst ein anderer wirst“.405 Sheila Watt-Cloutier betont in einer Radiosendung: „I believe that how we deal with the losses in our lives can help us realize our potential as human beings. Everything that happens to us is interconnected – with other people, with nature and with each stage of our journey through life.“406

402 Briggs 1997, 233 403 Müller 1997, 142 404 Stern, Stevenson 2006, 204 405 Frankl 1979, 49 406 Canadian Broadcasting Corporation 2007b

3 Diskussion des kulturanthropologischen Ansatzes von Clifford Geertz und seiner Methode zur Erforschung von Kultur

Die kritische Diskussion des kulturanthropologischen Ansatzes von Geertz soll seinen Anfang in der Herausarbeitung einiger besonders hilfreicher Aspekte seines Kulturbegriffs finden. Anschließend stehen die Geertz’schen Überlegungen zu einer Methode innerhalb des interpretativen Theorems zur Debatte, die auch in der Fachwelt bis weit über die Grenzen der Anthropologie hinweg seit ihrer Einführung heftig umstritten sind. In einem dritten Schritt wird ergänzend zur Geertz’schen Herangehensweise in der Forschung ein dialogisches Vorgehen vorgeschlagen und weiter ausgeführt.

3.1 S TÄRKEN DES G EERTZ ’ SCHEN K ULTURBEGRIFFS VOR DEM H INTERGRUND SEINER ANWENDUNG Die Diskussion um den Geertz’schen Kulturbegriff soll in der Folge nicht nur theoretisch, sondern vor allem entlang praktischer Erfahrungen mit diesem unter den Inuit verlaufen, beziehungsweise sollen Einsichten aus der Feldforschung herangezogen werden, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Dabei werden drei Aspekte des Kulturbegriffs von Clifford Geertz herausgegriffen, die sich als besonders hilfreich erwiesen: Zunächst soll die Bedeutsamkeit der Auffassung, Kultur diene als extrinsische Informationsquelle oder auch als sinnstiftender Orientierungsrahmen menschlichen Lebens, herausgearbeitet werden. Im Anschluss daran wird das Geertz’sche Verständnis der Kultur als geschichtlich übermitteltes System gemeinsamer Symbole untersucht. Als dritter Aspekt wird die Frage, inwieweit das Geertz’sche Konzept von Kultur sozio-kulturellen Wandel erklären kann, erörtert (mit diesem sollte sich die Studie unter den Inuit laut des Titels dieser Arbeit schließlich hauptsächlich beschäftigen).

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3.1.1 Orientierung, Handlungssicherheit, Identität und Sinn im Netz der Kultur Wer sein eigenes Leben als sinnlos empfindet, der ist nicht nur unglücklich, sondern auch kaum lebensfähig.1 ALBERT EINSTEIN

Robert Schreiter betont, ein vernünftiger Zugang zu Kultur muss in der Lage sein, Kräfte zu benennen, die Identität innerhalb der Kultur schaffen. 2 Das Geertz’sche Verständnis von Kultur als Orientierungssystem, als „set of control mechanisms“3, auf die der Mensch als instinktreduziertes Mängelwesen angewiesen ist, bietet sich hervorragend an, um gerade diese Kräfte um die Entwicklung kultureller und individueller Identität zu erklären. In The Impact of the concept of culture on the concept of man betont Geertz, Kultur sei als die akkumulierte Gesamtheit von Mustern signifikanter Symbole nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern eine notwendige Bedingung menschlichen Daseins:4 „Without men, no culture, certainly; but equally, and more significantly, without culture, no men.“5 Menschliche Identität – die Vorstellung, das Verständnis und das Gefühl von sich selbst in der Welt – ist zutiefst kulturell geprägt. Ideen, Werte, Normen, Handlungsweisen, Verhaltensdispositionen sind laut Geertz Kulturprodukte. Um Menschsein erklären zu können, reicht es nicht, so argumentiert er basierend auf diesem Verständnis, gemeinsame Prinzipien zu erkennen, den kleinsten gemeinsamen Nenner herauszuarbeiten. Man müsse vielmehr verstehen, wie die Menschen sich selbst verstehen, welche Bedeutung sie ihrem Leben beimessen und worin sie Sinn finden. Um herauszufinden, was den Menschen ausmacht, müsse man verstehen, wie menschliches Sein zum Ausdruck kommt: „what men are, above all other things, is various“6.

1

In: Riemeyer 2002, 176

2

Schreiter 1985, 75. Außerdem erwähnt er, müsse jeder Zugang zu Kultur ganzheitlich, nicht-reduktionistisch sein und er müsse sich mit dem Problem des gesellschaftlichen Wandels auseinandersetzen können. Alle drei Aspekte (Ganzheitlichkeit, Identität, Wandel) sind dem Geertz’schen Kulturbegriff inhärent und kommen in den drei hier herausgestellten und diskutierten Punkten zum Ausdruck.

3

Geertz 1973, 44, 1983a, 51

4

Geertz 1973, 46

5

Ebd., 49

6

Ebd., 52

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„Chartres is made of stone and glass. But it is not just stone and glass; it is a cathedral, and not only a cathedral, but a particular cathedral built at a particular time by certain members of a particular society. To understand what it means, to perceive it for what it is, you need to know rather more than the generic pro-perties of stone and glass and rather more than what is common to all cathedrals. You need to understand also – and, in my opinion, most critically – the specific concepts of the relations among God, man, and architecture that, since they have governed its creation, it consequently embodies. It is no different with men: they, too, every last one of them, are cultural artifacts.“7

Kultur, so Geertz, sei die Vermittlerin zwischen dem, was potentiell aus jedem Menschen werden könnte und dem, was tatsächlich aus ihm wird. Mensch zu werden, heißt, Individuum zu werden: „To be human here is thus not to be Everyman; it is to be a particular kind of man.“8 Individuum zu werden, eine einzigartige Identität zu entwickeln, bedeutet mehr als nur funktionsfähig zu werden. Im Prozess des sich Einfügens in ein sozio-kulturelles System erfahren Menschen Sinn. Umgekehrt, so erklärt Schlippe, definiert ein soziales System über die Mitgliedschaft stets auch, was den Kern seiner Identität, seine Sinngebung, ausmacht.9 Das Kulturgewebe definiert sich durch die Menschen, die es weben. Max Weber, auf den sich Geertz bei seiner Kulturdefinition bezieht,10 betont, Handeln sei menschliches Verhalten, mit dem der Handelnde einen bestimmten subjektiven Sinn verbindet. Soziales Handeln richtet seinen Sinn auf das Verhalten anderer und erfährt dadurch individuellen Sinn und Orientierung für eigenes Handeln.11 Menschen reagieren nicht nur, sie agieren sinngeleitet durch die Verankerung in einem sozio-kulturellen System. Durch diese Eingebundenheit in einen sozio-kulturellen Kontext, versteht der Mensch seine Wirklichkeit (Weltbild) und lernt, wie er in dieser handeln soll (Ethos). Ein Mensch, der ohne die Hilfe von Kulturmustern leben müsste, so Geertz, wäre nicht nur so etwas wie ein begabter Affe, der gewisse funktionale Verhaltensweisen an den Tag legen könnte, sondern „eine Art formloses Monster ohne Richtungssinn und ohne Befähigung zur Selbstkontrolle, ein Chaos sprunghafter Impulse und unbestimmter Emotionen.“12 Die Arbeit Viktor Frankls belegt diese Aussage. Frankl argumentiert im Zuge der Entwicklung seiner Logotherapie, dass Sinnverlust Menschen die Handlungsfähigkeit raubt und sie krank macht.13 Ähnlich wie Geertz betont er, dass Menschen 7

Ebd., 50-51

8

Ebd., 53

9

Schlippe, Schweitzer, 59

10 Vgl. 1.2.3 11 Weber 1984, 19 ff 12 Geertz 1983a, 60 13 Frankl 1975, 2005, vgl. auch 2.2.5

334 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

nicht wie Tiere durch Instinkte geleitet werden. Menschsein zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sich der Mensch permanent auf der Suche nach dem Sinn befindet. Dieser kann nur im Sein mit anderen Menschen, im Netz der Kultur gefunden werden. Personaler Sinn ist jeweils gerichtet und bezogen auf Gemeinschaft. Denn Menschen brauchen Sicherheit und Halt in dem Bedeutungsgewebe, in das sie hineinwachsen und aktiv mitgestalten können, in dem sie konform geltender Wertvorstellungen und Normen handeln und zugleich den Spielraum haben, sich entfalten zu können.14 Geertz betont: „Meaning is not a subjective matter, private, personal, ‚in the head‘. It is a public and social one, something constructed in the flow of life. We must, [...] ,mean what we say‘, because it is only by saying (or otherwise behaving, acting proceeding, conducting ourselves, in an intelligible manner) that we can ,mean‘ at all.“15

Die Auswirkungen des Verlusts kultureller und persönlicher Identität, damit des Verlusts von Sinn, die Erfahrung eines „formlosen Monsters“ gleich, dem über Generationen hinweg gewebten Netz beraubt worden zu sein, zeigen sich erschreckend drastisch in vielen Ureinwohnergemeinden Kanadas. Wie bereits in 2.2.5 erwähnt, beschreibt Frankl den Zustand der „Netzlosigkeit“ als ein „existentielles Vakuum“16 und bemerkt, dieser sei ein weit verbreitetes Phänomen des 20. Jahrhunderts. Er begründet dies wie folgt: „It may be due to a twofold loss that man had to undergo since he became a truly human being. At the beginning of human history, man lost some of the basic animal instincts in which an animal’s behaviour is embedded and by which it is secured. Such security, like Paradise, is closed for man forever; man has to make choices. In addition to this, however, man has suffered another loss in his more recent development: the tradition that has buttressed his behaviour are now rapidly diminishing.“17

Wohl schwerwiegendster Eingriff der kanadischen Regierung, welcher seinen Ureinwohnergruppen den kulturellen Boden unter den Füßen wegriss, war die Einführung der residential schools, die bereits im zweiten Teil an mehreren Stellen problematisiert wurde. Mit dem Herausnehmen der Kinder aus den familiären Zusammenhängen und dem Verbot zentraler Rituale, elementarer sinnstiftender Symbolhandlungen, wurde die kulturelle Übermittlung von Bedeutungen und Vorstellun14 Ähnlich stellt auch der Systemtheoretiker Niklas Luhmann heraus, „dass der Sinnbegriff die Ordnungsform menschlichen Erlebens bezeichnet.“ (Habermas, Luhmann 1971, 31) 15 Geertz 2005, 6 16 Frankl 1975, 167, 2005, 141ff 17 Frankl 1975, 168

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gen unterbunden. Die Menschen konnten ihren Erfahrungen keine Form und keine Bedeutung mehr geben.18 Kinder wurden unter Androhung von Strafen dazu angehalten, sich den Gepflogenheiten der Missionsschule anzupassen und für sie zunächst sinnentleerte Handlungen durchführen: Mechanisch lernten sie Gebete auswendig, wurden gezwungen, eine Sprache zu sprechen, deren Worte sie nicht verstanden, sollten in den Pausen im Schulhof in Reih und Glied spazieren gehen, Uniformen tragen, Boden schrubben und andere Arbeiten verrichten, etc. Der bedeutungsvolle Name, der ihnen von einem Weisen am Tage ihrer Geburt gegeben wurde, musste einer Nummer oder bestenfalls einem christlichen Namen weichen. Geistliche und Lehrer in den Residential Schools erklärten nicht selten alte Glaubenssysteme, den spirituellen Bezug zu „Mutter Erde“, das Verständnis von Ganzheitlichkeit und Abhängigkeit von der Natur als primitiv. An deren Stelle trat der christliche Glaube, der manchmal, ausgeschmückt mit bildlichen Beschreibungen der Hölle, Furcht einflößte, die Kinder gefügig machte und eine tiefe Kluft zwischen die Generationen riss. Elders berichten, sie könnten ihren Kindern und Jugendlichen die Geschichten nicht mehr erzählen, die von Generation zu Generation weitergetragen wurden, denn die Jungen würden nur nur Englisch sprechen und könnten sie nicht mehr verstehen. Viele der Geschichten, so berichten die Ältesten, würden ihren Sinngehalt verlieren, wenn man sie ins Englische übersetzte, beziehungsweise gäbe es für viele Dinge gar keine englischen Begriffe. Inuktitut, so mutmaßen einige, werde bald völlig verschwinden. Denn Jugendliche und junge Erwachsene würden sich schämen oder hätten Angst vor Strafen, wenn sie ihre traditionelle Sprache sprechen würden. Dass dieser intergenerative Bruch vor allem für eine orale Tradition, welche über Jahrhunderte hinweg Weisheiten, moralische Prinzipien und Wissen um Überlebenskünste in Geschichten verpackt von einer Generation zur nächsten weitergab, verheerende Folgen hat, ist offensichtlich: Das kulturelle Netz bekommt Löcher, die nicht mehr zu stopfen sind. Die Folgen der Assimilationspolitik, des Verlusts des selbstgesponnenen Bedeutungsgewebes, treten beinahe so bildlich auf, wie sie Geertz beschreibt: Die Menschen in den Reservaten, in Siedlungen des Nordens oder den Innenstadtzentren großer Ballungsräume scheinen ohne Richtungssinn und ohne Befähigung zur Selbstkontrolle. Sie scheinen verloren zu sein im Chaos sprunghafter Impulse und unbestimmter Emotionen, was sich in Alkoholmissbrauch, Gewaltausbrüchen, Suizid und Verstrickungen in kriminelle Handlungen niederschlägt. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene stehen in Gefahr, in ein existentielles Vakuum abzugleiten. Sie versuchen verzweifelt, sich anzupassen, „weiß“ zu werden, zu tun, was von ihnen erwartet wird, sich loszusagen von ihren ursprünglichen kulturellen Wurzeln. Sie merken jedoch häufig nach kurzer Zeit, dass sie ihre alten Bezüge 18 Vgl. Geertz 1983a, 2

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verlieren und zugleich nie völlig in dem fremden kulturellen System verwurzelt sein werden. Ein Bedeutungssystem kann nicht einfach gegen ein anderes ausgetauscht werden, so wie ein Baum nicht einfach ohne Wurzeln an anderer Stelle mit der Erwartung aufgestellt werden kann, er könnte dort genauso gut wachsen. Werte können nicht diktiert, von außen auferlegt oder unterrichtet werden. Sie müssen sozial ausgehandelt und gelebt, geschichtlich tradiert und subjektiv erlebt werden. 19 Nur durch die Verwobenheit in ein System gemeinsamer Symbole, die sowohl Modell von Wirklichkeit, als auch Modell für Wirklichkeit darstellen, gelingt dem Menschen die Erfüllung seines Sinns, die aktive Verwirklichung seiner Werte. Anders formuliert, muss sich der Mensch durch die Teilnahme am kulturellen Leben selbst verorten, seine Vorstellung des „wirklich Wirklichen“ leben und erleben und durch soziales Handeln, durch die Erfüllung von konkreten Aufgaben, die eigene Identität entwickeln können. Frankl betont, der Mensch sei nicht in erster Linie darauf aus, „Triebe oder Bedürfnisse zu befriedigen, um sein seelisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten beziehungsweise wiederherzustellen, sondern eigentlich oder zumindest ursprünglich geht es ihm um die Erfüllung eines Sinns und die Verwirklichung von Werten, und nur im Maße solcher Sinnerfüllung und Wertverwirklichung erfüllt und verwirklicht der Mensch auch sich selbst.“20

Dies alles macht deutlich, dass der Kulturbegriff nicht rein auf seine äußerliche Funktion, auf Artefakte oder äußerlich beobachtbare Symbole reduziert werden kann. Eine derartig dünne Analyse kann die tatsächliche Bedeutung von Kultur für den Menschen nicht erklären. Die Geertz’sche Fokussierung auf Sinn und Bedeutung, welche in symbolhaften Handlungen zu Tage tritt, macht die Untersuchung von Kultur schwieriger und in ihrem interpretativen Theorem vielleicht auch subjektiver. Deshalb ist vor allem das Hinhören auf eine andere Kultur so wichtig, bevor man die eigene Vorstellung von einem sinnvollen Leben auf andere überträgt.21 Es geht darum, so Geertz, „zu verstehen, dass das Sprechen mit anderen auch Zuhören bedeutet“22. 19 Frankl 1979, 22 20 Frankl 1979, 81 21 Vgl. Schreiter 1992, 69 ff. Auch Heinz Kimmerle stellt bei seinem Versuch, eine interkulturelle Philosophie zu begründen, die Bedeutsamkeit einer „Methodologie des Hörens“ heraus: „Ich habe von Anfang an häufig und mit Nachdruck auf die Bedeutung der ‚Methodologie des Hörens‘ hingewiesen. Die Andersheit des anderen macht es erforderlich, dass wir lernen zu hören und weiterhin hören, auch wenn ein Verstehen nicht direkt oder vielleicht überhaupt nicht erreichbar zu sein scheint.“ (1997, 107) 22 Geertz 1996, 89

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„Die Hörer müssen sich nach den Sprechern richten, sich immer tiefer in deren Wirklichkeit hineinversetzen und zudem sich jener Strukturen bewusst sein, die ihrem Hörvorgang zugrunde liegen, um erkennen zu können, wenn diese Strukturen dem Gehörten keine angemessene Form mehr geben. Ein besseres Verständnis von Kultur zu entwickeln bedeutet also, die Askese des Hörens zu erlernen und sich den Veränderungen zu öffnen, die davon ausgehen können.“23

Das Geertz’sche Ansinnen, bei seiner semiotischen Analyse von Kultursystemen Sinn- und Bedeutungsgehalte aufzudecken, hat insofern nicht nur erkenntnistheoretische Relevanz, sondern es macht gerade auf diese Notwendigkeit des Zuhörens aufmerksam, um beispielsweise den Inuit in ihrer prekären Situation neue Hoffnung für die Zukunft, neuen Willen zum Sinn, geben zu können. Es genügt nicht, sich um das leibliche Wohl der Inuit zu kümmern, sie vor Hungersnöten und Epidemien zu schützen, Häuser zu bauen, Schulen, Kranken- und Polizeistationen einzurichten. Ein Haus nach westlichem Vorbild macht für eine Inuitfamilie keinen Sinn. Anstatt für jedes Kind ein Zimmer zu haben, bräuchten sie einen Raum, um Tiere zu häuten, einen, um das Schneemobil zu parken und einen, in dem Platz für die ganze Familie ist. Die Jagd, soziale Zusammenkünfte mit der Großfamilie, das Teilen von Nahrungsmitteln hat für die Inuit einen viel tieferen Sinn, als nur zu überleben. Die Regierung müsste längst anfangen, tatsächlich nachzu-fragen, worin die Bedürfnisse der Menschen bestehen, die nicht nur ein Überleben sichern, sondern sinnvolles Leben ermöglichen. Genauso muss ein Forscher, der den Geertz’schen Kulturbegriff ernst nimmt, sich in der Askese des Hörens üben, versuchen selbstreflexiv so gut wie möglich präsent zu sein, um den Sinn und die Bedeutung des fremden symbolhaften Handelns erahnen und im Dialog mit den Menschen verstehen zu können. Erst dann scheint das Wagnis der dichten Beschreibung Sinn zu machen – nicht nur für den Forscher und sein eigenes wissenschaftliches Fortkommen, sondern vielleicht sogar auch für die Menschen, die es zu verstehen gilt. 24

23 Schreiter 1992, 77. Die „Askese des Zuhörenes“ zu lernen bedeutet, sich der eigenen Werteperspektive bewusst zu werden. Diese lässt die Nachricht des anderen immer schon in ihrem Licht erscheinen und färbt die Bedeutung der ursprünglichen Aussage. 24 Paulo Freire (2007) weist darüberhinaus auf den Dialog als zentrales Mittel hin, um Menschen zu ermächtigen, das eigene Leben selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen.

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3.1.2 Kultur als System gemeinsam geteilter Symbole In einem nächsten Schritt soll der Frage nachgegangen werden, welchem Verständnis die Geertz’sche Definition von Kultur als „System“ folgt, denn ein systemtheoretischer Ansatz kann wertvolle Erklärungen komplexer sozio-kultureller Phänomene bieten. Die Geertz’sche Auffassung von Systemen ist dabei nicht ganz einfach nachzuvollziehen, denn er bezeichnet Kultur einerseits als Orientierungssystem, auf das der Mensch als instinktreduziertes Mängelwesen angewiesen ist 25, und Religion, Common Sense, Kunst und Ideologie als kulturelle Systeme26, bemerkt aber andererseits ausdrücklich: „I don’t do systems“ 27. Als Arun Micheelsen Geertz auf diese Widersprüchlichkeit hin anspricht, erklärt er: „The terms were just titles. When you read my analysis of art, religion, etc., it is not that systematic. I just said that there is some kind of internal coherence, and one should look at them in a contextual way. That is as far as I went with system analysis, and I do not use that title anymore. However, it is Parsons’ influence  who ended up viewing culture as a pure system (Parsons 1937: 762-763)  that can be seen here. But I do not view culture like that. The title is just an attempt to realize Parsons’ program of cultural systems, which I still would do, i.e., try to show systematic relationships (Parsons 1951). However, the systematic relationships are to be found in that which one is studying, not formulated before the analysis via a general philosophy or a general theory.“28

Mit seiner Bezeichnung von Kultur als System möchte Geertz vor allem auf die komplexe Struktur ineinandergreifender Bedeutungssysteme hinweisen. 29 Er distanziert sich dabei zugleich ausdrücklich von oberflächlichen, rein funktionalen Strukturanalysen, welche „die Erforschung von Kultur von ihrem eigentlichen Gegenstand, der informellen Logik des tatsächlichen Lebens,“30 abschneidet. Im Mittelpunkt des Ansatzes von Kultur als Orientierungssystem steht die Annahme, dass Menschen durch ein dichtes Netz geteilter Interpretationen der Wirklichkeit diese in eine für sie sinnvolle Ordnung bringen. Eine einfache Analyse sozialer Strukturen ist nicht in der Lage, diese inneren Sinnbezüge, den Kern der Kultur, herauszuarbei-

25 Geertz 1983a, 51, 1973, 33-54 26 Geertz 1983a, 1983b 27 Geertz 2000a, x 28 Micheelsen 2002, 5 29 Vgl. Geertz 1983a, 100 30 Ebd., 25

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ten.31 Anders ausgedrückt, entzieht sich die Bedeutung, die Menschen symbolhaftem Handeln beimessen, einer funktionalistischen Strukturanalyse, die dementsprechend „dünn“ ausfällt. Ein kulturelles System erstreckt sich nämlich nicht auf die Summe seiner Elemente, sondern auf deren wechselseitige Bezogenheit. Gerade diese interdependente, dichte Verwobenheit verschiedener Symbole und Symbolsysteme macht die Bedeutung des kulturellen Systems aus. Sie ist es, die Sinn erzeugt. Das System entwickelt seine eigene Dynamik, die zwar gewisse wiederkehrende Muster aufweist (kulturelle Trägheit) und dicht beschrieben werden kann, sie verweigert sich aber einer abschließenden theoretischen Erklärung. Eine solche steht ohnehin immer in Gefahr, normativ Urteile zu fällen, anstatt sich in dichten Beschreibungen interpretativ-deskriptiv Bedeutungsgehalten zu nähern. In diesem Sinne bemerkt Geertz: „Any sentence that begins, ‚All societies have…‘ Is either baseless or banal.“32 Es genügt also nicht, einzelne Elemente isoliert zu betrachten, um etwa ein kulturelles System in Stücke zerlegt, in ein Kategoriensystem einzupassen, das den Reichtum menschlicher Ausdrucksformen auf klischeehafte Erklärungen verkürzt. Geertz erwähnt, bei der Kulturanalyse ginge es nicht um ein Entziffern feststehender Codes, sondern vielmehr darum, sich komplexen Bedeutungssystemen, eines Literaturkritikers gleich, hermeneutisch-interpretierend zu nähern.33 Deutlich wird das Geertz’sche Verständnis von Kultur als System vor allem auch unter Bezugnahme des von Max Weber geprägten Bildes von Kultur als ein Gewebe, in das sich der Mensch selbst verstrickt. In der Verwendung gemeinsamer Symbole „weben“ sich Menschen über Generationen hinweg ein relativ stabiles, komplexes Netz, auf dem sie Halt und Orientierung finden und von welchem aus sie ihre Welt erklären. Diese Erklärung der Wirklichkeit von der jeweiligen Situiertheit, bzw. Ort der Verwobenheit aus, weckt bestimmte Dispositionen, d.h. es besteht die Neigung, bestimmte Verhaltensweisen an den Tag zu legen und damit zugleich spezifische Muster in das Netz einzuweben. Basierend auf dem gemeinsam geteilten Verständnis der Wirklichkeit entwickeln die Mitglieder eines Systems implizite und explizite Regeln, welches Verhalten sie als „möglich“ und welches sie als „unmöglich“ ansehen.34 Anders formuliert, drücken symbolhafte Handlungen das jeweilige Leben aus und prägen es zugleich. 35 Zudem machen sie Teile des 31 Frankl spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „anderen Dimension“ in der Analyse: „Dass nämlich der Sinn einer Struktur über die Elemente hinausgeht, aus denen sie sich zusammensetzt, bedeutet letzten Endes, dass der Sinn in einer höheren Dimension lokalisiert ist, als es die Elemente sind.“ (2005, 21) 32 Geertz 2000a, 135 33 Geertz 1983a, 15, 25 34 Vgl. Schlippe, Schweitzer 1999, 60 35 Geertz 1983a, 55

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Gewebes öffentlich sichtbar und damit das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen möglich. Es scheint jedoch für die Menschen, die auf dem Netz beheimatet sind, beziehungsweise Teil des Systems sind, schwerer zu sein, einen ganzheitlichen Blick zu Analysezwecken einzunehmen.36 Sie sind zwar den Gefühlen und Erklärungen ihrer Wirklichkeit näher (Interpretation 1. Ordnung), handeln aber meist aufgrund erwähnter Dispositionen (ähnlich instinkthaft wie Tiere), ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie sind in die eigenen Bedeutungszusammenhänge verstrickt. Der Anthropologe, der das jeweilige Bedeutungsgewebe einer semiotischen Analyse von außen unterzieht, kann dagegen durch sorgfältige Beobachtungen zu ganzheitlicheren Interpretationen (2. Ordnung) der in beobachtbare Symbole „verpackten“ Sinn und Bedeutungsbezüge gelangen. Dabei ist allerdings wichtig herauszustellen, dass der Forscher im Feld nicht nur selbst in das eigene Bedeutungsgewebe seines Herkunftssystems verstrickt ist und die Wirklichkeit von dieser Warte aus erlebt, interpretiert, erklärt und beschreibt, sondern darüber hinaus in einem gewissen Sinn unweigerlich immer auch Teil des zu erforschenden Systems wird und somit eine objektive Analyse nur bedingt möglich ist. Hinsichtlich einer systemtheoretischen Vorgehensweise schlägt Geertz diesbezüglich vor: „One must in the first place render oneself capable of sorting out its >the system’s@ elements, determining what they are (which usually involves determining where they come from and what they amounted to when they were there) and how, practically, they relate to one another, without at the same time blurring one’s own sense of one’s own location and one’s own identity within it.“37

Erschwerend für eine sozio-kulturelle Analyse kommt hinzu, dass es sich bei einer Kultur oder beispielsweise einer Religion als kulturelles System, nie um ein klar eingegrenztes, in sich geschlossenes System handelt. Schlippe vergleicht die Grenze eines sozialen Systems mit der Membrane der Zelle 38: Sie ist mehr oder weniger durchlässig, mehr oder weniger offen, um so einerseits Abgrenzung zu gewährleisten und andererseits stets anschlussbereit zu sein. Vor allem aufgrund der Modernisierungs- und Globalisierungstendenzen, inklusive der Einführung modernster Kommunikationstechnologien in den letzen Jahrzehnten, berühren und überlappen sich verschiedene kulturelle Systeme und lassen hybride kulturelle Strukturen

36 Vgl. Schreiter 1992, 71 37 Geertz 2000a, 87 38 Schlippe, Schweitzer 1999, 59

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wachsen.39 Dieter Senghaas stellt in diesem Zusammenhang hinsichtlich traditioneller Kulturen heraus: „Alle traditionellen Kulturen sehen sich der Schwierigkeit gegenüber, sich mit einer pluralistisch werdenden Welt auseinandersetzen zu müssen. Der Eigensinn gerät dabei in Konflikt mit einer sich ausbreitenden Pluralität von Lebensstilen und Werteorientierungen. Der genannte Konflikt lässt sich abwehrend oder innovativ bearbeiten: Im ersten Fall verstärkt sich der Eigensinn der jeweiligen Kultur; Traditionalismus und Orthodoxie obsiegen. Im zweiten Fall kommt es ohne kulturelle Selbstaufgabe zu einer Erneuerung, also zu einer Fortschreibung von Identität angesichts zeit- und umständebedingten Wandels.“40

Insofern ist zu berücksichtigen, dass nichttriviale, dynamische Systeme 41 einerseits in ständigem Wandel begriffen sind, sich nicht nicht verändern können und andererseits zugleich immer auch nach Stabilität und Ausgeglichenheit streben, damit Handeln innerhalb eines sicheren Rahmens, beziehungsweise definierter Grenzen vorhersehbar und verlässlich ist. Beides, Stillstand und Entwicklung, Gleichgewicht und Bewegung, Stabilität und Wachstum stellen menschliche Grundbedürfnisse dar, die in ihrer Gegensätzlichkeit Spannungen erzeugen. Dementsprechend können sich kulturelle Systeme höchst ambivalent zeigen: Sie können Entwicklung fördern oder einschränken, sie können Stabilität bieten oder starre Hierarchien auferlegen, beziehungsweise altbewährte Strukturen rigide beibehalten. Die Kraft und die Macht zur Veränderung liegen in der wechselseitigen, interdependenten Bezogenheit der Mitglieder des Systems. Gleichzeitig strebt das Gesamtsystem durch die Beibehaltung altbewährter Strukturen immer nach Gleichgewicht, verhält sich träge. Anders formuliert, kann ein System Prozesse entwickeln, welche die Möglichkeiten Einzelner auf die Funktionsbedingungen des Systems einschränken und reduzieren. Es kann aber auch die Plattform bieten, von der aus Menschen den Zugang zu ihrer potentiellen Vielseitigkeit finden. Probleme entstehen dann, wenn Wandel und Balance einseitig bewertet und dementsprechend gefördert oder gebremst werden.42 Müller stellt in diesem Zusammenhang insbe39 Geertz schreibt ausführlich darüber, wie sich Kultur und Politik im 20. Jahrhundert darstellen, wie Kulturen, Nationen und Gesellschaften mit der wachsenden Globalisierung umgeben, in World in Pieces (2000a) bzw. in Welt in Stücken (1996). 40 Senghaas 1998, 71 41 Die Begrifflichkeit trivialer und nichttrivialer Systeme geht zurück auf Heinz von Förster, der erstere als für den Beobachter potentiell durchschaubar und steuerbar erklärte und letztere als Systeme mit komplexer Eigendynamik, die in ständigem Wandel begriffen, sich der vollständigen Analyse und Beeinflussung von außen entziehen. 42 Schreiter (1992) weist beispielsweise darauf hin: „Wandel nämlich ist nicht bloß ein Abweichen vom Mittelweg, sondern bringt bisweilen auch Weiterentwicklung und Ver-

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sondere die inhärente Ambivalenz traditioneller Kulturen heraus, denn man könne sowohl Argumente für, wie gegen ihr Fortbestehen finden. Er argumentiert, Kultur als Orientierungsrahmen verleihe dem Leben und dem Handeln der Menschen Sinn; ein Wegbrechen der Tradition führe in ein „kulturelles Vakuum mit gefährlichen sozialen Folgen“43. Zugleich warnt er davor, nicht einer „naiven Kulturromantik“ zu verfallen, die „leicht in einen rigiden, unmenschlichen Traditionalismus mündet.“44 3.1.2.1 Zum systemischen Verständnis von Kausalität Ein systemisches Verständnis von Kausalität, wie es Geertz vertritt, distanziert sich von linearen Ursache-Wirkungs-Erklärungen (Gesetzen).45 Es muss einem interpretativen Verständnis „zirkulärer Kausalität“46 weichen, welches innere Bedeutungsgehalte und Sinnbezüge verstehen und erläutern möchte und sich nicht mit einer oberflächlichen (dünnen) Analyse ursächlicher Wirkungszusammenhänge zufriedengibt. Jedes Teil des Systems, so Geertz, ist Teil eines komplexen, vielschichtigen kausalen Gewebes, „ist ein Element in einem rückgekoppelten kausalen Ring, der ‚das System in Gang hält‘.“47 Eine Kultur wird dabei nicht als rein mechanischfunktional verstanden, sondern als komplexes kulturelles System, das sich um Sinn und Bedeutung dreht, beziehungsweise darum, wie Menschen ihrem Ethos und ihrem Weltbild Ausdruck verleihen. Im Gespräch mit Gerring unterscheidet Geertz zwischen cause und causal law. Er betont dabei, dass natürlich alles Verhalten auf besserung. Wenn man so [...] auf die Kultur hört, soll man empfänglich werden für die Unstimmigkeiten, die das Herankommen oder den Fortgang der Veränderung notwendigerweise begleiten. Sie können nicht einfach willkürlich oder der Stabilität einer Gemeinschaft zuliebe ausgeblendet werden. Hinter diesem Streben nach Stabilität könnten ja auch andere, weniger hohe Ziele stehen, zum Beispiel die Stärkung der Position eines einzelnen in der Gemeinschaft.“ (76-77) 43 Müller 1997, 100 44 Ebd. 45 Geertz 1983a, 9, 25 46 Der Begriff der „zirkulären Kausalität“ wurde unter anderen von Norbert Wiener, dem Begründer der Kybernetik, einem wissenschaftlichen Programm zur Beschreibung der Regelung und Steuerung komplexer Systeme, geprägt. In den Sozialwissenschaften ist im Zusammenhang mit zirkulärer, sich selbst verstärkender (kumulativer) Kausalität Gunnar Myrdal zu nennen, der in American Dilemma – The Negro Problem and Modern Democracy (1944) versuchte, die komplexe Wechselwirkung zwischen Vorurteilen, Institutionen und Armut zu klären. Damit widersetzte sich Myrdal rein mechanistischen Erklärungen von der Ausgewogenheit sozialer und ökonomischer Systeme und der Annahme einer eindeutigen Erklärung (Ursache) für soziale bzw. ökonomische Phänomene. 47 Geertz 1983a, 100

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gewisse Ursachen zurückzuführen sei. Es wäre jedoch nicht vorrangig, wirkursächliche Gesetzmässigkeiten zu finden, sondern „>t@he point is, you need to have the story of what happened“48: „One is trying to get a story, a meaning frame to provide an understanding of what is going on. You want to understand what it is that’s motivating people [...] to do these (unaccountable) things. So we look for a motive and feelings and emotions and ideas and concepts.“49 Dem zirkulären Kausalitätsverständnis zufolge beeinflusst die Bewegung einzelner Teile wie in einem Mobile das Gesamtsystem. Die Bewegung des gesamten Systems hat wiederum die Bewegung dieser Einzelteile zur Folge. In diesem Zusammenhang wird auch von Rückbezüglichkeit oder Selbstreferenz gesprochen, denn jede Einwirkung von A auf B oder auf alle anderen Elemente, wirkt früher oder später auf A zurück. Die Komplexität dieser Rückkoppelungsprozesse, in welchen in erster Linie um Sinn und Bedeutung gerungen wird, macht die Besonderheit lebender (nicht mechanischer) Systeme aus: „Dass Systeme über hyperzyklische, metabolische und schließlich sinnkonstituierende Prozesse Ordnung, ‚unwahrscheinliche‘ Zustände und organisierte Komplexität produzieren, und dass diese organisierte Komplexität Gesetzmäßigkeiten aufweist, welche sich nicht auf die Gesetze der Physik reduzieren lassen, gibt der Theorie lebender Systeme ihre besondere Bedeutung.“50

Das System gerät durch die Einführung einzelner, neuer Elemente oder durch das Wegbrechen alter Teile aus der Balance und muss wieder Gleichgewicht finden. Anders ausgedrückt, müssen die Mitglieder eines Systems zu neuen Sinnbezügen finden, beziehungsweise alte modifizieren oder eindringende abwehren. Die Bewegung des Gesamtsystems, Veränderungsprozesse, aber auch Gleichgewichtszustände können dabei von den einzelnen Mitgliedern eines Systems von deren jeweiliger Situiertheit aus völlig unterschiedlich bewertet werden und zu den verschieden-sten Gegenreaktionen führen, welche natürlich wiederum Auswirkungen auf das Gesamtsystem haben: „Eine Änderung ist nicht etwas, das objektiv passiert, sondern das von vielen unterschiedlichen Personen unterschiedlich wahrgenommen und als Änderung bezeichnet wird  und so bei den jeweiligen Beobachtern etwas verändert, verstört , die sich daraufhin anders verhalten, was wiederum als Änderung von anderen wahrgenommen wird und so weiter.“ 51

48 Gerring 2003 49 Ebd. 50 Willke in Schlippe, Schweitzer 1999, 62 51 Schlippe, Schweitzer 1999, 90

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Mit diesem dynamischen Verständnis zirkulärer Kausalität lässt sich soziokultureller Wandel noch einmal von einer anderen Warte aus erklären. Schönes Beispiel hierfür ist die Geertz’sche Geschichte des Begräbnisses eines Jungen in Zentraljava.52 Das über Jahre hinweg tradierte, kulturelle Gleichgewicht des Systems wird durch neue Formen gesellschaftlicher Interaktion erschüttert, eingeführt durch den raschen Wandel der Gesellschaft von ländlichem Milieu zu städtischem Kontext. Die Bewohner sind, so schreibt Geertz, regelrecht hin- und her gerissen zwischen höchsten Ideen und unmittelbarsten Interessen,53 was zu Brüchen und Unstimmigkeiten der Rituale um das Begräbnis führt. Ein lineares Kausalverständnis kann die treibenden Kräfte des sozialen Wandels im Spannungsverhältnis von Stabilität und Wachstum, die Aushandlungsprozesse um neues Gleichgewicht zu finden, nicht, oder nur unzureichend, erklären. Um in den Worten Geertz’ zu sprechen, ist ein statischer Funktionalismus nicht in der Lage, Inkongruenzen komplexer, kultureller Systeme herauszuarbeiten.54 Deshalb tritt bei der Analyse komplexer Systeme an Stelle der einseitigen Suche nach Ursachen die Beschreibung von Mustern beziehungsweise symbolhaften Handlungen, welche das Ethos eines Volkes (seine Vorstellung, wie etwas sein soll) mit seiner Weltauffassung (der Vorstellung, wie etwas ist) interpretativ zu verbinden sucht.55 3.1.2.2 Zum systemischen Verständnis von „Problemen“ Mit beschriebenem Verständnis zirkulärer Kausalität geht ein spezifisch systemisches Problemverständnis einher. In diesem Sinne erweist sich der Geertz’sche Kulturbegriff, vor allem in Anbetracht der schwierigen Gemengelage der Inuit in ihrer Transformationszeit von Tradition zu Moderne, als hilfreich. Denn er ist in der Lage, „Probleme“ umzudeuten, von verschiedenen Perspektiven zu betrachten und infolgedessen zu kongruenten Lösungsansätzen zu gelangen, die nachhaltig positive Entwicklungen erwirken. Einem systemischen Verständnis zufolge lassen sich Probleme nicht verkürzt auf kausale Ursache-Wirkung-Zusammenhänge oder gar inhärente Dysfunktionen oder Pathologien reduzieren. Es ist in den meisten Fällen überhaupt davon abzuraten, in komplexen Systemen von „Problem“ zu sprechen. Es scheint vielmehr angebracht, den Problembegriff durch den Begriff des „Symptoms“ 56 zu ersetzen. Denn

52 Geertz 1983a, 101-132 53 Ebd., 129 54 Ebd., 131 55 Ebd., 47 56 Ein Symptom weist auf einen tiefer liegenden Missstand hin. Es kann von den Angehörigen eines Systems durchaus als Problem aufgefasst werden. Wenn man jedoch die Unterscheidung zwischen Symptom und Problem nicht trifft, kann es passieren, dass man den

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„nicht ein System >oder ein Mensch, oder ein Volk@ ‚hat‘ das Problem als sozusagen zu ihm gehörendes Strukturmerkmal“57, es ist vielmehr Resultat einer Verkettung von Umständen und weist auf eben diese hin. Diese Sichtweise hat zur Folge, dass Menschen nicht auf ihre Probleme reduziert werden, nicht dysfunktional oder falsch sind, sondern in der Lage sind, den als ungut erlebten Zustand zu ändern. Menschen sind ihrem Schicksal somit nicht hoffnungslos ausgeliefert, sie können es vielmehr selbst in die Hand nehmen. Mit der Absage an lineare UrsacheWirkungserklärungen für Probleme laufen zudem einseitige Schuldzuweisungen ins Leere. Ähnlich weist Quentin Skinner darauf hin: „To perceive human behaviour in law-like, casual terms [...] presupposes that the question to ask about abnormal behaviour must always be what malfunction is prompting it. But this is to overlook the possibility that the behaviour in question may be strategic, a way of trying to cope with [the pain of being in] the world. And this oversight has the effect of reducing the agents involved to objects of manipulation when they deserve to be treated as subjects of consciousness.“58

Arist von Schlippe definiert „Problem“ aus systemischer Sicht als etwas, „das von jemandem einerseits als veränderungsbedürftiger Zustand angesehen wird, andererseits aber auch [...] prinzipiell veränderbar >ist@.“59 Die Mitglieder eines Systems beginnen einen unerwünschten Zustand als Problem zu definieren und fangen an, sich entsprechend zu verhalten: Sie erklären sich das Phänomen (denn Menschen sind laut Geertz nicht bereit, Ereignisse einfach auf sich beruhen zu lassen, sie suchen immer nach Erklärungen60), „tanzen“ einen Tanz mit bestimmten Mustern um das „Problem“ und kreieren so ein neues System um das identifizierte Problem, ein eigenes Problemsystem: „Um ein wie auch immer, möglicherweise sogar zufällig entstandenes Verhalten oder Thema herum entwickelt sich ein durch die Kommunikation über das Problem charakterisiertes Sozialsystem. Ein Problem erschafft ein System.“61

tatsächlichen Grund für Probleme (bzw. Symptome) nicht adäquat erfasst. Treffendes Beispiel ist das Alkoholverbot in Inuitgemeinden: Der Alkoholkonsum in den Gemeinden kann durch ein Verbot nicht wirklich nachhaltig eingedämmt werden, da sich der Grund des Alkoholkonsums, das eigentliche Problem, einseitigen Ursache-Wirkungserklärungen entzieht, vielmehr auf der Ebene von Sinn und Bedeutung angesiedelt ist. 57 Schlippe, Schweitzer 1999, 102 58 Skinner 1985, 9 59 Schlippe, Schweitzer 1999, 102 60 Geertz 1983a, 61 ff 61 Schlippe, Schweitzer 1999, 102

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Der problematische Zustand wird von den Mitgliedern des Systems teils unterschiedlich bewertet, teils wird eine gemeinsame Erklärung für das „Problem“ „gesucht, gefunden und ausgehandelt, die einerseits so plausibel ist, dass sie überlebt, die andererseits auch keinen gangbaren Ausweg aus der misslichen Lage, keine Lösungswege anbietet.“62 Das Problem wird chronifiziert, ein krankmachendes Gleichgewicht pendelt sich ein. Es entstehen spezifische Verhaltensmuster um das Problem. Nicht selten profitieren einige vom symptomatischen Verhalten anderer, haben somit nur bedingte Motivation, etwas zu ändern, beziehungsweise das „Problem“ zu beheben. Deshalb wohl wird auch die „Lösung“ des Problems von den Problem-Beteiligten meist unterschiedlich bewertet: „Manchmal halten einige das Problem für gelöst, andere für verschlimmert, Dritte sehen keine Veränderung.“ 63 Von Schlippe und Schweitzer erwähnen drei Arten von Problem-Erklärungen mit „Ausweglosigkeitscharakter“: Schuldzuweisungen, die komplexe zwischenmenschliche Schwierigkeiten auf Charakteristiken Einzelner zurückführen, Hilflosigkeitserklärungen und Zurschaustellung der eigenen Schwäche angesichts übermächtiger Strukturen und „Erklärungen, welche irreversiblen Ereignissen in der Vergangenheit [...] einen determinierenden, nicht mehr korrigierbaren Einfluss auf das aktuelle Problem zuschreiben.“64 Nachdem entsprechend einschlägige Erklärungen für den problematischen Zustand gefunden wurden, beginnt das System sich dauerhaft so zu verhalten, als gäbe es keinen Ausweg oder als sei die Lösung nur durch die Hilfe von außen zu finden. „Hier zeigt sich besonders deutlich die Kraft der Beschreibungen. Denn da, wo Sprache dazu verleitet, keine Lösungen – oder nur eine einzige – zu sehen, lassen sich auch keine neuen kreativen Wege finden. In problemstabilisierenden Dauerbeziehungen werden darüber hinaus oft besonders stark symmetrische und komplementäre Beziehungsformen eingenommen, die sich wechselseitig verstärken und stabilisieren.“ 65

Ähnliches findet sich in der Geertz’sche Aussage, kulturelle Systeme würden darauf zielen, durch symbolhaftes Handeln (und Sprache ist das zentrale Symbol jeder Kultur) dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu wecken, welche die Wirklichkeit in nur einem gewissen Licht erscheinen lassen.66 Diese Interpretation der Wirklichkeit beziehungsweise problematischer Zustände ruft natürlich wieder bestimmte kulturelle Symbole auf die Bühne sozialen Handelns, die diese spezifische Problemauffassung intensivieren. Die Diskussion um Prob62 Ebd., 106 63 Ebd., 104 64 Ebd., 106 65 Ebd. 66 Geertz 1983a, 48 ff

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lemsysteme ermöglicht es, „die gesamte Organisation um ein Problem herum, die gesellschaftliche Organisierung psychischen Leidens als einen Teil des Problemzusammenhangs wahrzunehmen und zu hinterfragen.“67 Eindrückliches Beispiel für die Chronifizierung eines zunächst als unerwünscht angesehenen Zustandes ist die schleichende „Einübung“ der Opferrolle der First Nations und Inuit in Kanada. Ohne die rigide Assimilationspolitik in Abrede stellen zu wollen, schien sich gerade durch die Vereinigungen verschiedenster Ureinwohnerstämme Kanadas, die gegen Assimilation und Fremdbestimmung protestierten, deren Rolle als hilflose Opfer zu verstärken, denn der Schuldlosigkeit aller Beteiligten entspricht auch eine weitgehende Einflusslosigkeit. Zu Recht stellten die verschiedensten indigenen Organisationen geschichtliche Ereignisse der Kolonialisierung und deren irreversible Folgen für ihre Kultur heraus, doch zugleich nahmen sie sich häufig selbst dabei die Macht, korrigierend auf aktuelle Probleme Einfluss zu nehmen und überließen der Regierung die Verantwortung für ihre Zukunft. Hilflosigkeit und die Betonung der eigenen Schwäche auf der einen und Schuldzuweisungen auf der anderen Seite, bestimmten über viele Jahre hinweg den Tenor, der eingeschlagen wurde, um Entschädigungsleistungen und Sozialhilfe in teilweise hohen Summen zu erhalten. Paradoxerweise wurde damit ein paternalistisches Verhältnis, das von den Ureinwohnergruppen strikt bekämpft wurde, noch verstärkt. Die Abhängigkeiten wuchsen. Vielschichtige komplementäre Beziehungen zwischen der Regierung und ihren einzelnen Ureinwohnergruppen verstärkten sich dabei wechselseitig und stabilisierten das (Problem-)System: „Schließlich sorgen sozialrechtliche Bestimmungen dafür, dass es gerade für die wirtschaftlich gefährdete Person ein Überlebensmuster werden kann, einmal vorhandene Probleme zu konservieren oder gar zu eskalieren. [...] Wer nichts hat, bekommt wenigstens ein Existenzminimum an Leistungen [...], wenn er ein hinreichend schweres und hinreichend chronifiziertes Problem vorweisen kann.“68

Erst in den letzten Jahren scheint das Gleichgewicht des Systems, das sich um den Zustand des Verlusts der kulturellen Identität gebildet hatte, in Bewegung zu geraten. Immer mehr Ureinwohnergruppen ringen um Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung. Die Prozesse um die Rückgabe von Länderrechten und Selbstverwaltung laufen jedoch zäh und mühsam. Zu sehr scheint das alte Gleichgewicht, die Identifikation mit der Opferrolle, die Menschen noch zu lähmen. Selbst aktiv das Leben in die Hand zu nehmen, erfordert Mut, Arbeit und eine gefestigte Identität. Darüberhinaus haben einige Führungspersönlichkeiten von Hilflosigkeitserklä-

67 Schlippe, Schweitzer 1999, 111 68 Ebd.

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rungen profitiert und müssen jetzt um ihre Sonderstellung bangen. Sie haben nicht selten Interesse da-ran, alte Muster beizubehalten. Überdies kann das System einzelner Ureinwohnergruppen nicht isoliert gesehen werden. Die euro-kanadische Bevölkerung hat über Jahrzehnte hinweg ihr eigenes Bild von Menschen der First Nations bzw. Inuit entwickelt, welches ebenfalls das bestehende Gleichgewicht aufrechterhält. Das Vorurteil, „Indianer seien faul“, führt beispielsweise dazu, dass die Einstellungschancen für Ureinwohner nicht selten geringer sind, als für Menschen euro-kanadischer Herkunft.69 Viele jugendliche Inuit erklärten mir resigniert, sie hätten im Süden sowieso keine Chance und wollten sich gar nicht weiter bemühen, um der Schande und der Scham zu entgehen, als zurückgeblieben und primitiv abgestempelt zu werden (eine Haltung, die unter Umständen auch nicht völlig gerechtfertigt ist, sich aber als Muster ebenfalls stabil festgesetzt hat). Die Folge davon ist ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Arbeitslosen aus den Bevölkerungsgruppen der First Nations und Inuit, was wiederum das Vorurteil des „arbeitsscheuen Ureinwohners“ erhärtet. Das Verständnis von Kultur als Symbolsystem, beziehungsweise Bedeutungsgewebe, erweist sich jedoch nicht nur zu Analysezwecken, sondern vor allem auch auf der Suche nach möglichen Lösungen unerwünschter Zustände als hilfreich. Denn es wird davon ausgegangen, dass jedes Verhalten, auch ein als problematisch identifiziertes, den Betreffenden zunächst einmal nützt. Festgefahrene symptomatische Verhaltensmuster sind in dieser Sicht nicht einseitig problematisch, nicht nur ein „plattes Beharren auf dem alten Status quo. Sie demonstrieren zugleich, dass es ‚so wie bisher nicht mehr geht‘, dass aber Neues noch nicht möglich ist.“70 Symptome können darüberhinaus Schutzfunktionen übernehmen, denn sie können von anderen, noch unbequemeren Tatsachen ablenken oder ein bestehendes Gleichgewicht, das Sicherheit vermittelt, aufrechterhalten. Sie können auf ineffektive Lösungen eines Problems hindeuten. Zudem können sie den Symptomträgern gewisse Machtpositionen einräumen, denn diese können ihre Umwelt durch entsprechendes Verhalten beeinflussen, häufig ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Symptome weisen damit vielfach einen Doppelcharakter auf: Sie werden einerseits als unangenehm und veränderungsbedürftig empfunden, deuten aber zugleich schon auf mögliche Lösungswege hin, beziehungsweise machen auf einen tiefer liegenden Missstand, meist auf die Nichterfüllung menschlicher Bedürfnisse, aufmerksam. 69 Aufgrund dieser Tatsache führten viele Institutionen in Kanada Quotenregelungen für Ureinwohner ein. Benachteiligten Gruppen werden somit bessere Einstellungschancen eingeräumt. Grundlage für diese Regelungen ist die in den Charter of Rights and Freedoms festgelegte Bestimmung (Artikel 15.2), von dem Gleichheitsgrundsatz (Artikel 15.1) abzuweichen und beispielsweise im Falle von zwei gleichstarken Bewerbern für eine Stelle, der First Nations Person den Vorrang einzuräumen. 70 Ebd., 108

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Noch einmal soll das Beispiel des exzessiven Alkoholkonsums in Inuitgemeinden herangezogen werden, um das Gesagte zu verdeutlichen: Zahlreiche Maßnahmen, die eingeleitet wurden, um dem „Alkoholproblem“ Herr zu werden, verliefen im Sand oder zeigten nicht den gewünschten Erfolg. Verbote oder strikte Überwachung von Alkoholkonsum konnten es nicht eindämmen. Ein systemischer Ansatz, der nach Sinn und Bedeutungszusammenhängen fragt, kann nicht bei verkürzten kausalursächlichen Erklärungen des Problems und daraus resultierenden einseitigen Lösungsansätzen stehenbleiben. Er muss vielmehr weiterfragen, tiefer in die Problemzusammenhänge eindringen, nach Gründen fragen. Dem systemischen Denken zufolge ist der Alkoholkonsum nicht das Problem, sondern ein Symptom, das auf tiefer liegendere Missstände hinweist. Anstatt also zu versuchen, das Problem „Alkohol“ zu bekämpfen, muss gefragt werden, inwiefern der Alkoholkonsum den Menschen „nutzt“, beziehungsweise welches Bedürfnis die Menschen durch Alkoholexzesse zu befriedigen versuchen. Statt dem Alkohol zentralen Stellenwert in der Diskussion einzuräumen, den „Tanz“ um das Problem durch Verbote und strikte Überwachung noch zu verstärken, wird durch ein Erfragen der Bedürfnisse, durch eine neue Sicht des „Problems“, der Möglichkeitsraum für Lösungen vergrößert, denn die Menschen könnten beginnen, andere Formen der Bedürfnisbefriedigung zu eruieren, um damit dem Alkohol nachhaltig eine Absage erteilen zu können. 71 Wichtig dabei ist zu verstehen, wie die Menschen „sich überhaupt selber verstehen“72 und nicht den eigenen Verstehenshorizont heranzuziehen. Nur die Menschen selbst sind Experten ihres Lebens, sie allein haben Lösungen, die für sie tatsächlich nachhaltig Besserung versprechen.73 Durch den offenen, wertschätzenden Blick von außen auf das System, welcher sich auf Sinn und Bedeutung richtet und nicht vor der Komplexität innerer Bezogenheiten in verkürzte Ursache-Wirkung-Erklärungen flüchtet, kann ein Dialog über Bedürfnisse und sinnvolle Lösungen stattfinden. Häufig ist gerade dieser Dialog von Nöten, um den Menschen durch den Blick von außen auf das System ein neues Bewusstsein für ihre Situation zu ermöglichen. Ähnlich stellt Paulo Freire heraus:

71 Es kann argumentiert werden, dass bei einer Suche nach Lösungen zum „Alkoholproblem“ mit einer einseitigen Problemfokussierung auf die Eindämmung des Alkohols das Problem individuell und kollektiv noch bestärkt wird. Ein lösungsorientierter Ansatz dagegen fragt nach Gründen für den Alkoholkonsum. Der Möglichkeitsraum, um zu adäquaten Lösungen zu kommen, wird dadurch wesentlich vergrößert, denn anstatt entweder für oder gegen eine „trockene Gemeinde“ zu stimmen, könnten unzählige andere Möglichkeiten eruiert werden. 72 Geertz 1983a, 292 73 Schreiter 1985, 77

350 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „We must never merely discourse on the present situation, must never provide the people with programs which have little or nothing to do with their own preoccupations, doubts, hopes, and fears [...]. It is not our role to speak to the people about our own view of the world, nor to attempt to impose that view on them, but rather to dialogue with the people about their view and ours.“74

3.1.3 Der dynamische Kulturbegriff zur Erklärung von sozio-kulturellem Wandel Wie bereits unter 1.3.2.4 ausführlich erläutert, erklärt Geertz den Wandel von Kultur,75 indem er analytisch zwischen Kulturstruktur, einem dichten System geschichtlich übermittelter Bedeutungen und Vorstellungen (Ethos und Weltbild) und der Sozialstruktur, dem Interaktionssystem, in welchem diese Bedeutungen übermittelt werden, unterscheidet. Diese beiden Einheiten dürften, so Geertz, nicht einfach aufeinander reduziert werden. Sie müssten vielmehr in ihrer je eigenen Funktion für ein konkretes System sozialen Handelns analysiert werden: 76 Die Kulturstruktur zeichnet sich aus durch ihre logisch-sinnstiftende Integration und die Sozialstruktur durch ihre kausal-funktionale Integration. Beide Aspekte menschlichen Zusammenlebens, kulturell-sinnstiftende auf der einen, wie gesellschaftlich-funktionale auf der anderen Seite, befinden sich in ständiger Wechselwirkung. In ihrer Interdependenz bilden sie zwei Seiten desselben sozio-kulturellen Phänomens. Die Dynamik des sozio-kulturellen Wandels ließe sich, so Geertz, durch diese innere Bezogenheit beider Elemente mit ihren je unterschiedlichen Formen der Integration erklären. Innerhalb einer Gesellschaft kommt es nämlich immer wieder zu Brüchen und Diskontinuitäten zwischen diesen. Keine Gesellschaft, so argumentiert Geertz, ruhe in einem ständigen Zustand des totalen Gleichgewichts, in welchem sich Kultur und Sozialstruktur völlig angeglichen haben beziehungsweise passungsgleich sind. Kultur und soziale Struktur befinden sich vielmehr permanent in einer Art Reibungszustand, streben aber insgesamt zu innerer Ausgewogenheit. 77 Denn der Mensch braucht ein annähernd solides und verlässliches sozio-kulturelles Netzwerk, um handlungsfähig zu sein, um ein Gefühl von Sicherheit und Sinn zu erfahren. In diesen dynamischen Aushandlungsprozessen um einen einigermaßen homöostatischen Zustand, vollzieht sich der Wandel. Dabei sei noch bemerkt, dass sich kulturelle Aspekte träger verhalten als soziale Strukturen. Weltbild und Ethos als Elemente der Kulturstruktur prägen des Selbst-

74 Freire 2007, 96 75 Vgl. vor allem Geertz 1983a, 96-101 76 Ebd., 98 77 Vgl. auch Müller 1997, 130ff

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verständnis der Menschen, verleihen den Handlungen ihre Bedeutung, gehen tiefer und sind nicht so einfach zu verändern oder austauschbar wie äußerliche Formen sozialer Organisation. Dies scheint auch der Grund dafür zu sein, dass komplexe soziale Systeme, obwohl sie über eine unendlich große Bandbreite von Verhaltensmöglichkeiten verfügen, dennoch relativ stabile Verhaltensmuster aufweisen. 78 Dieser Unterschied zwischen Kultur und Sozialstruktur hinsichtlich der Flexibilität beziehungsweise der Anpassungsfähigkeit, scheint mit ein Hauptgrund für Spannungen und Dissonanzen innerhalb des sozio-kulturellen Systems zu sein: Wandel, der sich äußerlich auf der kausal-funktionalen Ebene der Sozialstruktur vollzieht, kann auf der kulturellen Ebene, der Ebene der Bedeutung, nicht in derselben Geschwindigkeit mit vollzogen werden. Diesem Spannungsverhältnis zwischen logisch-sinnstiftenden und kausal-funktionalen Elementen der Integration kommt auf individueller Ebene noch eine weitere Größe hinzu, die Geertz ein „System der motivationalen Integration im Individuum >Persönlichkeitsstruktur@“79 nennt. Auf dieser Ebene kommen kulturelle Dispositionen in Einstellungen, Handlungserwartungen, Rollenvorstellungen und Verhaltensmustern zum Ausdruck. Die Summe des sozialen Handelns Einzelner, das zum Funktionieren des Systems beiträgt, ergibt auf kollektiver Ebene die Sozialstruktur der Gesellschaft. Diese Erklärung von Geertz zu den Triebkräften sozio-kultureller Entwicklung erscheint hinsichtlich des rapiden Wandels der Kultur der Inuit in den letzten Jahrzehnten nicht nur plausibel; sie bietet darüberhinaus ein wertvolles Analyseinstrument und eine Erklärungshilfe. Möglicherweise ist sie sogar richtungsweisend, um adäquate Ansätze zu finden, wie die Inuit (und andere Ureinwohnergruppen Kanadas) in Zukunft wieder zu mehr sozio-kultureller Stabilität und innerem Gleichgewicht gelangen könnten. Jahrhundertelang lebten die Inuit in beinahe völliger Isolation. Sie entwickelten eine Kultur, deren System gemeinsam geteilter Symbole und Formen sozialer Interaktion sich um die Kunst des Überlebens in Eis und Schnee drehte. Die Abhängigkeit vom Land, von den Tieren, vom Wetter und von über Generationen hinweg tradierten Fertigkeiten und überliefertem Wissen prägte das Zusammenleben. Zugleich gab sie den Menschen konkrete Vorstellungen davon, wie dieses Zusammenleben auszusehen hatte. Wie in 2.1.3.2 dargelegt, brach im 19. Jahrhundert mit der Ankunft der ersten großen Walfangschiffe, Expeditionen und Entdeckungsfahrten, Fellhandelsstationen und Missionaren aus Europa und Amerika eine erste Welle westlicher Moderne in die Kultur der Inuit ein. Damit einher gingen rege Handels78 Schlippe, Schweitzer 1999, 56. Geertz (1973, 45) erklärt in diesem Zusammenhang: „One of the most significant facts about us may finally be that we all begin with the natural equipment to live a thousand kinds of life but end in the end having lived only one.“ 79 Geertz 1983a, 100

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beziehungen, und materielle Produkte fremder Kulturen Europas fanden raschen Absatz, ohne dass die Entwicklungsgeschichte dieser fremden Güter intern mit vollzogen werden konnte. Feuerwaffen und Fallen in großer Zahl, nebst enormer Nachfrage an Fellen in Europa, hatten bald zur Folge, dass einige Tierarten nahezu vollständig ausgerottet waren und die Inuit an Hungersnöten litten. Anstatt autark über das Land zu ziehen, waren sie bald abhängig von der Bezahlung beziehungsweise dem Handel mit den Stationen europäischer Kaufleute. Erste Siedlungen um diese Handelsstationen entstanden, und viele Inuitfamilien wurden mehr oder weniger sesshaft. Mit dem Kalten Krieg und der Errichtung von Radarwarnstationen (DEW Line) und Flugplätzen (um 1940/50) in der westlichen Arktis gab es einen erneuten Schub exogener Modernisierung mit massiven Auswirkungen auf die Kultur und die Sozialstruktur der Inuit. Die Regierung sah sich schließlich gezwungen, sich um seine hungernden und von Epidemien überwältigten Ureinwohner des Nordens zu kümmern, und baute Häuser, Schulen, Krankenhäuser, Kirchen und Polizeistationen – ganze Städte nach westlichem Vorbild wuchsen aus dem Boden. Innerhalb kürzester Zeit wurde so eine unabhängige Kultur nomadischer Jäger und Sammler in ein Zeitalter der Moderne katapultiert, das sie entmündigte, Abhängigkeiten schuf und alte Lebensformen und Bedeutungsinhalte radikal in Frage stellte. Der von außen induzierte Entwicklungsprozess vollzog sich, ohne dass ein interner Wandel kultureller Sinn- und Bedeutungsbezüge Schritt halten konnte. Die Folge davon spiegelt sich in einer tiefen Kluft zwischen traditionellen Wertvorstellungen und materiellen Neuerungen einer hoch technisierten Moderne. Die Inuit scheinen sich in einer Zwischenzeit zu befinden, in einer Zeit sozialer und kultureller Konflikte, in einer Zeit der „Diskontinuität zwischen der Form der Integration im soziostrukturellen (‚kausal-funktionalen‘) Bereich und der Form der Integration im kulturellen (‚logisch-sinn-stiftenden‘) Bereich“80. Diese Zerrissenheit beziehungsweise Spannung in einer modernen Sozialstruktur Leben zu gestalten und der nach wie vor tiefen Verwurzelung in kulturellen Bedeutungssystemen kommt in Aussagen von Victor, einem Elder zum Ausdruck: „Mein Geist ist auf dem Land, mein Körper in der Stadt.“ 81 Victor wuchs noch auf dem Land auf, jagte mit seinem Großvater im Kanu aus Seehundleder (das sich mittlerweile im Museum befindet) Robben. Wenige Jahre später ging er einer gergelten Arbeit in der Stadt nach, um als junger Mann seine Familie zu versorgen. Ähnliches beobachtete Geertz in einem Ort in Java, wenn er vermutete, viele soziokulturelle Schwierigkeiten lägen darin, „dass die Menschen im kampong >javanisches Dorf/Siedlung@ sozial gesehen Städter sind, während sie in kultureller Hinsicht noch immer auf dem Land leben.“82 Die Menschen befinden sich in einer 80 Geertz 1983a, 124 81 Vgl. Allan 2005 82 Geertz 1973 zit. nach 1983, 125

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Übergangszeit zwischen dem Leben in modernen Siedlungen und traditionellen Gewohnheiten des Lebens auf dem Land. Auf sozialer Ebene zeigt sich der Bruch zwischen Sozialstruktur und Kultur in konfliktbeladenen intergenerativen Spannungen.83 Während die Angehörigen der älteren Generation, die noch im Iglu auf die Welt kamen, einen gewissen Stolz auf ihre Kultur an den Tag legen und sich noch tief verbunden mit der traditionellen Lebensweise fühlen, schämen sich die Jüngeren für ihre Herkunft, was sich nicht selten in geringem Selbstwert, Drogenmissbrauch und hohen Suizidzahlen widerspiegelt. Die Abgeschiedenheit der isolierten Gemeinden im hohen Norden macht es zudem schwer, den Vorbildern der Moderne zu entsprechen, die permanent über den Fernseher in die Wohnzimmer (in welchen zugleich Karibus zerlegt und Robben gehäutet werden) übertragen werden. Die Ältesten haben genaue Vorstellungen davon, wie Inuitsein auszusehen hat, die Jüngeren dagegen möchten sich am liebsten davon distanzieren, sind aber zugleich häufig nicht in der Lage, ohne den kulturellen Zusammenhalt in der Gemeinde weiter im Süden allein ihr Leben zu organisieren. Dennis, Victors Sohn, erzählte mir, wie er sich von seinen „primitiven“ Eltern bewusst distanzierte, völlig mit seiner Kultur brach und versuchte, als Arbeiter auf einer Ölplattform möglichst viel Geld zu erwirtschaften, um sich ein Leben in der Moderne leisten zu können. Bald überkam ihn ein Gefühl der Einsamkeit, das er mit Alkohol zu betäuben versuchte und bald abhängig wurde. Erst in der Rückbesinnung auf seine Wurzeln, auf ein Leben in der Gemeinschaft und auf dem Land spürte er sich selbst und seinen Sinn wieder.84 Während Menschen soziale Gepflogenheiten verhältnismäßig schnell abstreifen und gegen neue eintauschen können, scheint die kulturelle Herkunft Menschen tiefer zu gründen und einen raschen Wandel zu bremsen. Die äußerliche Übernahme neuer, fremder sozialer Strukturen und Verhaltensweisen reibt sich mit inneren Bedeutungsgehalten der eigenen Herkunft, welche die Identität des Einzelnen, aber auch einer Kultur als Ganze, formen und die Menschen verwurzeln. Geertz beschreibt diesen Zustand als „die Ikonographie des Traditionell-Modernen, des Modern-Traditionellen, die Bildersprache des Weder-noch, des Sowohl-als-auch, mit der man eine Vergangenheit, die halb fort ist, und eine Zukunft, die halb eingetroffen ist, beschwört.“ Diese Spannung zwischen den beiden Tendenzen, einer „indigenen Lebensweise“ und dem „Geist der Epoche“, durchdringt, so stellt Geertz heraus, „praktisch jeden Aspekt des öffentlichen Lebens“85.

83 Die Kluft zwischen den Generationen spiegelt sich besonders drastisch in der Tatsache, dass die Älteren oftmals nur Inuktitut sprechen, die Jüngeren nur noch Englisch und sie somit Schwierigkeiten haben, miteinander zu kommunizieren. 84 Vgl. auch Allan 2005 85 Geertz 1997, 161

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Weiteres Beispiel für diese spannungsgeladenen Mischformen zwischenmenschlicher Organisation ist das für Außenstehende schwer durchschaubare hybride politische System in Paulatuk, einer Siedlung, deren Bevölkerung sich maßgeblich aus nur vier Familien zusammensetzt.86 Es gibt zwar demokratische Wahlen, die über den Gemeinderat und den Bürgermeister entscheiden (aber auch ob beispielsweise ein generelles Alkoholverbot in der Gemeinde eingeführt werden soll). Doch bestimmen nach wie vor starre interne Hierarchien nebst einer langen Tradition von Familienfehden seit Jahrhunderten das soziale Leben der Familien und lassen nur Mitglieder aus den mächtigsten Familien wichtige politische Ämter bekleiden. Dass dies natürlich einem demokratischen Verständnis entgegensteht und zudem einige in der Gemeinde bevorteilt, ist offensichtlich. Nun ist jedoch interessant zu beobachten, dass vor allem die jüngere Generation beginnt, die zunächst von außen eingeführte, politische Institution demokratischer Wahlen ernst zu nehmen und sich vermehrt gegen die in ihren Augen nicht mehr zu rechtfertigende Besserstellung einiger ausspricht. Die äußere Struktur beginnt Einfluss zu nehmen auf innere Wertvorstellungen, und sozio-kultureller Wandel vollzieht sich. Ganz besonders deutlich zeigt sich dieser Wandel auch im Ringen um neue Formen der politischen, wie auch sozio-ökonomischen und juristischen Selbstverwaltung, die traditionelle Werte, ausgedrückt in spezifischen Lebensformen, mit modernen Nationalstaatsprinzipien zu verbinden suchen. Wie konkret sich die Selbstverwaltung einzelner Ureinwohnergruppen Kanadas schließlich gestalten wird, ist größtenteils noch offen. Es besteht jedoch die Hoffnung, wenn Modernisierungsprozesse nicht mehr nur von außen an die Menschen herangetragen werden, also nur auf sozial-struktureller Ebene, sondern den Menschen eingeräumt wird, den Weg in die Moderne so weit wie möglich selbst zu vollziehen, d.h. den Menschen die Möglichkeit gegeben wird, kultursensitiv auf eigene Bedürfnisse, Einstellungen und Wertvorstellungen zu reagieren, dass sie zu eigenständigen Lösungen aktueller Probleme kommen, die nachhaltig wirksam sind. Die analytisch wichtige Unterscheidung zwischen kulturellen und sozialen Aspekten einer Gesellschaft, die Geertz vornimmt, ist also insofern von Bedeutung, als dass sie Diskontinuitäten zwischen beiden aufzudecken vermag und man nicht hilflos vor einer undurchschaubaren Gemengelage mit ihren komplexen Dynamiken kapitulieren muss. Sie ermöglicht es zudem, auf innere kulturelle Präferenzen achtzugeben und positive Entwicklungspotentiale innerhalb einer Kultur für einen stimmigen Wandel zu nutzen, anstatt diesen nur von außen auf sozial-struktureller Ebene herbeiführen zu wollen und dabei die identitätsstiftenden Sinn- und Bedeutungszusammenhänge der Menschen zu ignorieren.

86 Vgl. 2.2.2.3

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3.2 D ISKUSSION DER G EERTZ ’ SCHEN M ETHODE DER E RKENNTNISGEWINNUNG Clifford Geertz hat kein eindeutiges Konzept, ein stringent methodisches Vorgehen vorgelegt, sondern eine Art Forschungsprogramm entwickelt, das vor allem beeinflusst war von philosophisch-literaturkritischen Ideen, aber auch seinen praktischen Erfahrungen im Feld. Infolgedessen wurde Geertz unter anderem vorgeworfen, schriftstellerisches Talent als Gütekriterium eines ethnografischen Textes gegen rigorose Beweisführung und die Wahrheit der Aussage einzutauschen. Andere Kritiker argumentierten, Geertz mache sich der Beliebigkeit schuldig, würde zwar qualitativ-hochwertige, spannende Geschichten erzählen, dabei aber den Menschen im Feld, deren Wahrheit und Lebenswirklichkeit sowie dem gesamtgesellschaftlichen Kontext nicht genug Rechnung tragen. In der Folge sollen einige Schwerpunkte aus der Masse der Kritik an der Geertz’schen Methode herausgegriffen und im Licht eigener Erfahrungen mit der Anwendung der dichten Beschreibung diskutiert werden. Zunächst wird argumentiert, dass die dichte Beschreibung zwar Fiktion, in gewissem Sinne literarisches Werk, etwas Gemachtes ist, aber deshalb trotzdem in der tatsächlichen ethnografischen Erfahrung des Dort-Seins im Feld gründen muss, um zu verstehen, welche Bedeutung der beobachteten Handlung zu Grunde liegt. Dabei ist nicht nur die Teilnahme am sozialen Leben notwendige Bedingung adäquater Erkenntnisgewinnung, sondern vor allem auch die ganzheitliche Erfahrung der natürlichen Umwelt, in welcher die zu studierenden Menschen im Feld beheimatet sind. Es reicht also weder, etwa nur wissenschaftliche Abhandlungen über die Inuit zu lesen (und hier wurde Geertz mit seiner Textmetapher oftmals missverstanden) oder sich mit seinen Informanten in bekannten Örtlichkeiten, im geschützten, eigenen Raum zu treffen, um dicht verstehen zu können. Der nicht zu vermeidende Einfluss der Fremderfahrung auf das eigene Sein und damit zusammenhängend auf die Erkenntnisse der Forschung wird in einem nächsten Schritt diskutiert. Schließlich soll auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit die persönliche Felderfahrung im Text zum Ausdruck kommen, beziehungsweise der Autor in diesem selbst vorkommen soll. Erkenntnistheoretische Implikationen der dichten Beschreibung, die weitreichende Kritik an der Wissenschaftlichkeit von Geertz, soll anschließend unter die Lupe genommen werden. Dabei wird herausgestellt, dass Geertz mit seinem eher philosophisch-literaturkritischen Ansatz vor allem seitens positivistischer Sozialwissenschaftler angegriffen und wohl auch häufig missverstanden, beziehungsweise nur halb verstanden wurde. Das essayistische Vorgehen der dichten Beschreibung und die spezifisch-ruckartige Weise der Erkenntnisgewinnung, die sich Geertz zu Nutzen macht, soll differenziert erörtert werden, um zur Klärung seines Vorgehens

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beizutragen. Dabei soll argumentiert werden, dass die wissenschaftliche Berechtigung dessen, zum einen gerade im Essay als Methode der Erkenntnisgewinnung, zum anderen in der Nutzbarmachung phänomenologisch-hermeneutischer Prämissen liegt, die im letzten Teil der Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der dichten Beschreibung zur Sprache kommen soll. 3.2.1 Zur Synergie von Theorie und Praxis im Geertz’schen Ansatz Critical reflection on practice is a requirement of the relationship between theory and practice. Otherwise theory becomes simply ,blah, blah, blah‘, and practice, pure activism.87 PAULO FREIRE

Die kritische Auseinandersetzung mit der Geertz’schen Methode vor dem Hintergrund einer Feldforschungsstudie unter den Inuit dürfte ganz im Sinne von Clifford Geertz sein, argumentiert er doch, eine fundierte Theorie könne nur der Praxis entspringen und muss sich im Laufe der Zeit immer wieder an dieser messen. 88 Anders ausgedrückt, kann eine sinnvolle Theoriebildung nur auf dem rauen Boden der Tatsachen, wie Geertz bezugnehmend auf Wittgenstein herausstellt89, von statten gehen. Um eine Wissenschaft zu verstehen, so fordert Geertz, soll man nicht „ihre Theorien oder Entdeckungen ansehen [...], sondern das, was ihre Praktiker tun“90. Geertz selbst entwickelte seine Methode der dichten Beschreibung aus der Praxis heraus. Er hat sie seiner Arbeit mit den Menschen angepasst und nicht umgekehrt die Menschen in methodische Formen zu pressen versucht. So erwähnt er beispielsweise: „My own attempt, as limited as it was, to take a phenomenological approach to self and identity questions was, of course, in the first instance stimulated by the Javanese themselves who, at least as I knew them, had a tremendous bent in that direction and could talk about feelings, consciousness, the inner life, and so on [...] till the water buffaloes came home.“91

87 Freire, Paulo 1998, 30 88 Geertz 1983a, 34 ff 89 Vgl. 1.2.2.2 90 Geertz 1983a, 9-10 91 Geertz in: Shweder, Good 2005, 119

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Die theoretische Reflexion der Felderfahrung, seine Abkehr von positivistischen Forschungsmethoden in der Anthropologie zu Gunsten eines hermeneutisch-phänomenologischen Programms, entspringt wohl seiner breiten theoretischen Grundlage in der Philosophie und der Literaturwissenschaft, die sich Geertz vornehmlich in den ersten Jahren seiner akademischen Karriere angeeignet hat.92 Anthropologie sei zu wichtig, um sie Anthropologen allein zu überlassen, schreibt Geertz. Die theoretische Durchdringung dessen, was man im Feld beobachtet und zu verstehen glaubt ist erforderlich, um methodisch sinnvoll handeln zu können.93 Geertz schien spezifische theoretische Schwerpunkte in seiner Forschung selten fest zu planen. In einem seiner letzten öffentlichen Vorträge im Frühjahr 2004 erklärte Geertz beispielsweise, es sei ihm nicht so ganz klar, warum er Zeit seines Lebens so viel Gewicht auf die Frage nach der Bedeutung von Religion für die Menschen gelegt habe. Er vermute jedoch, es läge an seinem geisteswissenschaftlichen Hintergrund in den Literaturwissenschaften und der Philosophie und daran, dass Religion generell fundamentaler Bestandteil jeder anthropologischen Studie sei. Als er mit einer Gruppe junger Studenten zu seinem ersten Feldforschungsaufenthalt nach Indonesien aufbrach, sei das Thema der Religion übriggeblieben, und er habe sich dessen angenommen. Seitdem sei er fasziniert davon, theoretisch zu ergründen, was er praktisch erlebte: „I jumped at the chance [...] and have been worrying over the complexities and puzzlements encountered – theoretical ones, empirical ones, philosophical ones, sectarian ones, perhaps, most important, practical ones – ever since.“94 Zufall und Muster, die Offenheit für die Absurditäten des Andersartigen und die Suche nach Bedeutungserklärungen durchdringen sich in der Geertz’schen Methode wechselseitig. Überrascht zu werden nicht nur von Geschehnissen im Feld, sondern auch von ruckartigen Erkenntnisschüben gehören ebenso zu seiner Methode, wie die Niederschrift komplexer theoretischer Erklärungen für Handlungsmuster und deren Bedeutung, die er zu erkennen meint. Sein Leben, so berichtet Geertz, habe ihn zu einem unentwegten Sucher nach Mustern gemacht, seien sie auch noch so bruchstückhaft und unabgeschlossen – manchmal auch inmitten völlig unberechenbarer Zufälle zu finden: „Pitched early into things, I assumed, and still assume, that what you are supposed to do is keep going with whatever you can find lying about to keep going with: to get from yesterday to today without foreclosing tomorrow.“95 Geertz gesteht, er könne seine Vorgehensweise in der Kombination von Zufall und Muster kaum selber erklären. Aber, so betont er, „this sort of seeing openness 92 Vgl. dazu 1.2, White 2007, 1195, Jones 1998, 33 ff 93 Geertz in: Shweder, Good 2005, 111, Vgl. auch Shweder 2007 94 Geertz 2005, 2 95 Geertz in: Shweder, Good 2005, 123

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and order in the same optic has some use, or so I think, as a guide for the perplexed.“96 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Geertz bei seinem Versuch, Theorie und Praxis synergetisch zu verbinden, sensibel sein wollte für die Menschen im Feld, aber auch eigene Präferenzen mit in die Forschung einbrachte. Die Theorie ist laut Geertz nicht ihr eigener Herr. Sie ist nicht von den unmittelbaren Momenten der dichten Beschreibung zu trennen.97 Sie muss offen und formbar bleiben. Um flexibel genug zu sein für ruckartige Erkenntnisse im Feld, bedarf es dennoch einer ausdifferenzierten, wenn auch nur vorläufigen Theorie, die handlungsleitend den Blick des Forschers auf bestimmte Phänomene richtet. Somit kann er zu bedeutungsvollen Aussagen in der Forschung gelangen und verliert sich nicht wahllos in der Vielzahl fremder Erscheinungen.98 3.2.2 Der schwierige Umgang mit einer Methode, die keine sein soll Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist unschwer zu erkennen, dass Geertz bei seinem, wie er es nennt, „ad-hocschen“99 Vorgehen keine eindeutige Methode im Sinne eines klar strukturierten Forschungsprogramms entwickelt hat – und dies auch nie vorhatte.100 Er sieht die interpretative Anthropologie vielmehr als eine Perspektive, weniger als eine Disziplin.101 Das, was Praktiker der Ethnologie tun, hat laut Geertz nichts mit starrer Einhaltung methodischer Prämissen zu tun. Ziegler, der Geertz diesbezüglich einen „methodologischen Nonkonformisten“102 nennt, schreibt:

96

Ebd.

97

Geertz 1983a, 35

98

Ebd., 38

99

Geertz 2005, 7

100 Die Ablehnung der Entwicklung einer dezidierten Forschungsmethode von Geertz wurde bereits unter 1.4 angesprochen. Siehe auch Boon in Shweder, Good 2005, 32; Gottowik 1997, 219 101 Pangourgiá 2002. An anderer Stelle erklärte Geertz: „I am always more concerned about arbitrarily simplified accounts that make it possible for me to show the exercising of some particular methodological skill. I think that doing something because you can do it or because there is a technique for it or a program for it – this strikes me as a very bad way to spend a life.“ (Gerring 2003) Vgl. auch 1.4 102 Ziegler in: Fröhlich, Mörth 1998, 51

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„Wenn das Lehrbuch mitteilte, daß Ethnographie die Herstellung einer Beziehung zu den Untersuchten, die Auswahl von Informanten, die Transkription von Texten, das Führen eines Tagebuchs sei, so treffe das zu; aber diese Techniken würden eine dichte Beschreibung nicht bestimmen.“103

Entscheidend sei, so betont Geertz, das „intellektuelle Wagnis der dichten Beschrei bung“ 104, eine besondere geistige Anstrengung, die hinter jeder anthropologischen Unternehmung stehen solle. An anderer Stelle schreibt er, es komme nicht auf die Festschreibung abstrakter Regelmäßigkeiten an, sondern auf die Ermöglichung der dichten Beschreibung.105 Anstatt mit Hilfe methodischer Instrumente zu allgemeinen Aussagen über eine andere Kultur zu gelangen, möchte Geertz verstehen, welche Bedeutung die Menschen ihrem Handeln und ihrem Verhalten beimessen und wie sie selber ihre Welt und sich selbst darin verstehen. Deshalb zeigt er sich wohl auch skeptisch, ob es überhaupt so etwas wie eine klare methodologische Anleitung zu unterscheidbaren Phasen bei der Erkenntnissuche (Beobachten, Sammeln von Daten, Führen von Gesprächen, Transkribieren, Interpretieren, Analysieren) gibt. „This enterprise, ,the understanding of understanding‘, is nowadays usually referred to as hermeneutics, and in that sense what I am doing fits well enough under such a rubric, particularly if the word ,cultural‘ is affixed. But one will not find very much in the way of ,the theory and methodology of interpretation‘“.106

Geertz möchte sich mit seinem hermeneutischen Programm absetzen von positivistischen Strömungen in den Sozialwissenschaften und damit auf die Komplexität menschlicher Ausdrucksformen hinweisen, die sich nicht in ein spezifisches Methodenkorsett pressen lassen.107 Anders ausgedrückt, zeichnet sich die interpretative Wende in der Anthropologie, die Geertz mit seinem Ansatz einleitete, dadurch aus, dass er herkömmliche, standardisierte Methoden der Erkenntnisgewinnung durch Anleihen aus der Philosophie und Linguistik ersetzte. Dass die Geertz’sche Herangehensweise in philosophischen Überlegungen und der Literaturwissenschaft fußt und zudem in gewisser Weise spezifisch auf seine Person und sein Leben zugeschnitten ist, macht es einem jedoch nicht leicht, sie zu benützen. 108 Stefan Wolff argumentiert sogar:

103 Ebd., 52 104 Geertz 1983a, 10 105 Ebd., 37 106 Geertz 1983b, 5 107 Vgl. Ziegler in: Fröhlich, Mörth 1998, 53; Gerring 2003 108 Vgl. Reyna 1994, 572

360 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Die wenigen Hinweise darauf, was Dichte Beschreibung ist, dürfte sich für eine im üblichen Sinne methodologisch angeleitete und ausgewiesene Gestaltung ethnografischer Praxis – sowohl im Feld wie am Schreibtisch – als ziemlich ungeeignet erweisen, ja sie sind gelegentlich dazu angetan, für diesbezügliche Interessenten ausgesprochen entmutigend zu wirken.“109

Ähnlich schreibt auch Elizabeth Colson in einer Buchbesprechung zu The interpretation of culture: „This volume of collected essays makes very clear, Geertz is developing as a philosopher, not as a methodologist. His anthropology is an art, not a science. To a very large extend therefore his work does not provide a model for other anthropologists or sociologists of lesser talent to follow since he proceeds from an intuitive grasp of what is important and reaches his conclusion with a flourish that conceals the tedium of the procedures.“110

Einziges Kriterium für die Güte beziehungsweise Dichte einer Beschreibung, das Geertz als Anhaltspunkt für Anthropologen bietet, die sein methodisches Vorgehen selbst erproben möchten, ist, dass die Beschreibung den Leser mitten hinein versetzen soll in das, was interpretiert wird.111 Die Triftigkeit der Erklärung soll danach beurteilt werden, „inwieweit ihre wissenschaftliche Imagination uns mit dem Leben von Fremden in Berührung zu bringen vermag“ 112. Geertz gibt darüber hinaus weder eine dezidierte Anleitung für das Vorgehen im Feld, noch für das Verfassen dichter Beschreibungen. Neben dieser Schwierigkeit, nicht genau zu wissen, wie man konkret im Feld zu seinen Erkenntnissen kommen soll (außer zu beobachten und Bedeutungssysteme, die man meinte, zu erkennen, dicht niederzuschreiben), stellte sich anfangs die Nutzung einer (Nicht-)Methode unter den Inuit noch in anderer Hinsicht als problematisch heraus. Um, wie bereits erwähnt113, in den Nordwest Territorien Forschung betreiben zu dürfen, muss man eine Forschungslizenz beantragen. Das Aurora Research Institute Ethical Review Committee schien offensichtlich mit der Geertz’schen Methode ebenfalls seine Schwierigkeiten gehabt zu haben. Denn mein Antrag auf die Lizenz wurde zunächst abgewiesen, beziehungsweise wurde ich aufgefordert, gründlicher meine Methode darzulegen und einen Fragenkatalog und eine Einverständniserklärung zu erstellen, die ich meinen „Forschungssubjekten“ zur Unterschrift vorlegen sollte. Die Erklärung hierfür war folgende:

109 Wolff 1992, 343 110 Colson 1975, 637-638 111 Geertz 1983a, 26 112 Ebd., 24 113 Vgl. 2.2.1 und 2.2.4

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„It is not clear, who and what is being observed. The committee would like a clearly stated purpose and methodology written on the consent form so that the participants can understand what they are consenting to be part of. The committee would like the consent to be clear, concise and plain language. Please clarify the purpose of the research on the consent form. Please explain exactly who and what are being observed. [...] The committee accepts that participatory observations are being made in this study; therefore, no formal questionnaire is required. However, the committee suggests that some leading questions should be formulated that will start and guide conversations with people in Inuvik. Please prepare some opening questions and statements that will be presented to participants.“ 114

Die Geertz’sche Vorgehensweise scheint für viele „Mainstream“-Forscher zu viele Fragen offen zu lassen. Zudem favorisierte das Komitee in Inuvik eine standardisierte Forschung. Dies stand jedoch der Geertz’schen (Nicht-)Methode entgegen, welche sich als non-standard115, als phänomenologisch-hermeneutisches Projekt versteht.116 Im Nachhinein bestätigte sich für mich jedoch der interpretative Ansatz von Geertz in meiner Forschung. Denn ein standardisiertes Vorgehen stellte sich als blind für wichtige kulturelle Bedeutungszusammenhänge heraus, welche gerade durch den Geertz’schen Ansatz deutlich wurden. Die First Nations und Inuit, Ziel114 Aurora College Research Institute 2005 115 Mit dem Begriff der „non-standard“ Forschung lehnt sich Geertz an die von Richard Rorty getroffene Unterscheidung von „normalen“ und „abnormalen“ Diskursen an; allerdings mit dem Unterschied, dass er dem pathologischen Unterton des Wortes „abnormal“ entgehen möchte, indem er vorschlägt, stattdessen von „standard“ und „nonstandard“ zu sprechen. Unter „standard“ Diskursen versteht er einen „discourse that proceeds under a set of rules, assumptions, conventions, criteria, beliefs [...] It is the sort of discourse scientists usually imagine themselves to have.“ (Geertz 1983b, 222-223) Gegenüber Olson (1991) erklärt Geertz sein Verständnis der Bedeutung von „nonstandard” Diskursen wie folgt: „Nonstandard discourse is something that reaches beyond the conventionalities of ongoing discourse, and in anthropology you almost always have to do that. We always have two problems when we write about others [...]. One is making them sound like Martians, like they are just wired so differently that we can’t understand them; the other is making them sound just like ourselves. If you use standard discourse, you end up making them sound just like ourselves or like Martians – because those are the only alternatives. So you need to develop some sort of mode of description or argument that mediates between the two extremes; and this is nonstandard. [...] My own writings in anthropology are certainly nonstandard.“ 116 Dass Geertz mit seinem Ansatz für Aufsehen sorgte und die Kritiker vor allem unter den Positivisten, beziehungsweise den Vertretern empirischer Standardforschung, zahlreich waren, wird unten noch ausführlicher erläutert.

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gruppe der Forschung, blicken auf eine jahrhundertlange, orale Tradition zurück und wollten weder Unterschriften leisten, noch Interviews führen und Fragen beantworten. Somit kam weder meine Einverständniserklärung, noch mein Fragenkatalog (beides erstellte ich schließlich, um die Lizenz zu bekommen) zum Einsatz. Ganz im Gegenteil – es war offensichtlich, dass die Menschen an Gesprächen mit mir nicht mehr interessiert waren, sobald ich ihnen entsprechende Formulare vorlegte. 3.2.2.1 Kritik zur Ethnografie als Kunst des Schreibens Folgt man auf der Suche nach Ansatzpunkten zu einer Geertz’schen Vorgehensweise dessen Ratschlag und sieht, wie er als Praktiker Ethnografie betrieb, kann man den Eindruck bekommen, die Qualität der Beschreibung hinge maßgeblich vom literarischen Talent des Verfassers ab. Ähnlich argumentiert auch Ben White, wenn er schreibt: „Arguing in [Works and Lives: The anthropologist as author] and other writings that anthropology is ultimately a literary and ,rhetorical‘ vocation, Geertz came perilously close to arguing that the best interpretations of culture and social life are simply the best written ones.“117

Demgegenüber betont Geertz aber ausdrücklich, die Schönheit, Eleganz und Stringenz eines ethnografischen Textes mag zwar reizvoll sein, sie führe aber letztlich ins Leere, wenn sie nicht in der Lage sei, soziale Diskurse und Bedeutungszusammenhänge stimmig nachzeichnen und erklären zu können.118 Dabei, so Geertz, gäbe es „keinen Grund, warum die begriffliche Struktur einer kulturellen Interpretation nicht ebenso formulierbar und damit ebensosehr expliziten Bewertungskriterien unterliegen sollte, wie die [...] eines physikalisches Experiments.“119 Geertz wird dann aber oftmals vorgeworfen, diese Bewertungskriterien, die er hinsichtlich der begrifflichen Struktur ethnografischer Interpretationen fordert, der vagen Behauptung zu opfern, man müsse sich diesbezüglich auf Andeutungen beschränken, weil sich eine eindeutige Theorie beim interpretativen Vorgehen in der Forschung nicht aufstellen ließe.120 Damit, so bemängeln seine Kritiker, mache er sich der Beliebigkeit schuldig. Zudem würde er die Überzeugungskraft der literarischen Aussage, beziehungsweise ob der Leser dem Autor seine Geschichte abnimmt oder nicht,

117 White 2007, 1200 118 Geertz 1983a, 26 119 Vgl. 1983a, 35 120 Vgl. hier Reyna 1994, 1997, 1999 White 2007, Yoshida 2007, Crapanzano 1992, Leach 1989

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über die tatsächlich faktischen Gegebenheiten vor Ort stellen.121 Todd Jones schreibt beispielsweise „Geertz’s interpretative analysis of the Balinese cockfights is fascinating and ingenious. It makes marvelous reading. It is also entirely arbitrary.“122 Und Edmund Leach mutmaßt, Geertz würde ihm zustimmen bei der Behauptung, dass Ethnografen, die sich als Autoren verstehen, in erster Linie durch ihr schriftstellerisches Talent überzeugen wollen und weniger darauf bedacht sind, Beweise für tatsächliche Gegebenheiten im Feld zu liefern. 123 Ähnlich wirft Stephen Reyna Geertz vor, er würde, Werbefachleuten ähnlich, mit Hilfe rhetorischer Kunstgriffe eine Wirklichkeit erzeugen wollen, welche die Leser von der Faktizität seiner Beschreibung überzeugen soll – ohne entsprechende Kriterien mitzuliefern, welche die Wahrheit seiner Aussagen belegen.124 Die Güte anthropologischer Schriften würde demnach daran gemessen, ob sie schriftstellerisch bei den Menschen „ankommen“, ob sie beeindrucken können, und nicht daran, ob sie tatsächlich wahre Aussagen über eine fremde Kultur treffen: „Anthropologists were to create impressions and these impressions, like advertising copy, were to be assessed in terms of whether or not they were ,listened to‘. As is the case in advertising, what gets listened to is that which is ,effective‘ in creating impressions.“125

Auch Vincent Crapanzano bemerkt, er bewundere zwar die literarische Größe von Clifford Geertz, es sei aber zum Beispiel hinsichtlich seiner Beschreibung des balinesischen Hahnenkampfes ebenso gut möglich, dass dieser nie einen Fuß auf balinesischen Boden setzte: „The writing was so good and the story so compelling that he could have, by implication, made the whole thing up. “126 Geertz wehrt sich ausdrücklich gegen derartige Auslegungen seines Werks, wenn er diesen entgegensetzt: „I do not believe [...] that ethnographies are novels, poems, dreams, or visions, that the reliability of anthropological knowledge is of secondary interest, or that the value of anthropological works inheres solely their persuasiveness.“127 Er scheint aber dennoch selbst der Frage nachgehen zu wollen, wann ein ethnografisches Werk überzeugend wirkt, wie es den Leser in das hineinversetzt, das interpretiert werden soll und diesen fremdartige Bedeutungssysteme 121 Weitere Kritik zur Geertz’schen Methode hinsichtlich deren „Wissenschaftlichkeit“ hinter dem Vorzeichen von Objektivität, Verlässlichkeit und Nachvollziehbarkeit siehe in Gottowik 1997, 277. 122 Jones 1998, 45 123 Leach 1989, 141 124 Reyna 1997, 330 125 Reyna 1999, 177 126 In: Goodall 2004, 764, vgl. auch Crapanzano 1992 127 Geertz in: Carrithers 1990, 274, vgl. auch Olson 1991

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verstehen lässt. Um das herauszufinden, analysiert er in Works and Lives: The anthropologist as author literaturkritisch Texte von Claude Lévi-Strauss, Edward Evans-Pritchard, Bronislaw Malinowski und Ruth Benedict – alles erfolgreiche und bekannte Anthropologen. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass ein ethnografischer Text nur dann überzeugend das Erlebte im Feld für die Menschen in der Heimat beschreibt, wenn der Anthropologe sich tatsächlich auf die fremde Kultur eingelassen hat und anschließend nicht einer bestimmten Methode folgt, sondern dem eigenen Stil treu bleibt128 – dabei aber versucht, das „beim Sprechen Gesagte“ festzuhalten und nicht nur das Sprachereignis an sich.129 Anders formuliert, besteht die Methode einer erfolgreichen dichten Beschreibung darin, „unter den Prämissen bewusster Autorenschaft Hier-Sein und Dort-Sein ethnografisch zusammenzubringen.“130 Ein wesentlicher Bestandteil der ethnografischen Arbeitsweise von Geertz sei, so Meinrad Ziegler, die eine Erfahrung (Dortsein) sinnvoll in die andere (Hiersein) zu übersetzen.131 Dabei, so betont Geertz selbst, sei nicht die Kohärenz der Beschreibung ausschlaggebend132 oder die Erstellung einwandfreier Abbildungen – eben gerade nicht die rhetorische Brillanz in der Distanz vom alltäglichen Leben der Einheimischen vor Ort, sondern die Fähigkeit, das tatsächlich Erlebte dicht beschrieben zu Papier zu bringen. Die eigene Interpretation der Bedeutungen symbolhafter Handlungen soll möglichst nah sein an den Interpretationen der Menschen im Feld. „This capacity to persuade readers [...] that what they are reading is an authentic account by someone personally acquainted with how life proceeds in some place, at some time, among some group, is the basis upon which anything else ethnography seeks to do – analyze, ex128 Zu seinem eigenen Stil erzählt Geertz im Interview mit Olson, er schreibe sehr langsam: „about a paragraph a day“. Dabei schreibe er gleich ins Reine, ohne Entwürfe zu fertigen: „I write from the beginning to the end, and when it’s finished it’s done [...]. I would not advise that other people write this way.“ (Olson 1991) Daher wohl, so spekuliert White (2007, 1202), komme der dichte, anspruchsvolle Stil, der typisch ist für Geertz: „erudite, meandering, deductive, often playful and self-deprecating“. – Geertz kommentiert die Kritik zu seinem Stil wie folgt: „Having toiled over [my style] for so many years, I am quite aware of its deficiencies.“ Er fährt fort, es sei der eigensinnigauthentische Stil, der den Inhalt überzeugend macht: „Cyrano without his nose is, after all, not Cyrano, but just another hapless fop orating to a balcony. It is his style, and the pain that inhabits it, that makes him into a great romantic figure.“ (in: Shweder, Good 2005, 110) 129 Geertz 1983a, 28 130 Wolff 1992, 340 131 In: Fröhlich, Mörth 1998, 59 132 Geertz 1983a, 26

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plain, amuse, disconcert, celebrate, edify, excuse, astonish, subvert – finally rests. The textual connection of the Being Here and Being There sides of anthropology, the imaginative construction of a common ground between the Written At and the Written About [...] is the fons et origo of whatever power anthropology has to convince anyone of anything – not theory, not method.“133

Die Ablehnung einer spezifischen Methode zu Gunsten eines eher literarisch-philosophischen Konzepts, welches den Blick auf Bedeutungszusammenhänge lenkt, und eine gewisse Offenheit für das sich Zeigende vor Ort fordert, scheint somit der einzige Anhaltspunkt zum Verfassen von dichten Beschreibungen zu sein. Das Wagnis dichter Beschreibungen besteht darin, auf sich selbst zurückgeworfen, in erster Line detailliert zu beobachten und nicht auf methodische Vorschriften fokussiert, diesen womöglich mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als dem Geschehen vor Ort.134 Geertz selbst beschreibt sein praktisches Vorgehen wie folgt: „You do two or two-and-a-half years in Java in which all you do is live with the people, write down everything, and try to figure out what the hell is going on; then you come back and write – out of the notes, out of your memories, and out of whatever is going on in the field. So for me at least, it’s a fairly divided life. I don’t write in the field; I write after I return. Mostly here I write and there research.“135 [Hervorhebungen im Original]

Schlussfolgernd lässt sich feststellen, dass sich Geertz mit seinem Fokus auf Kultur als komplexes Netz von Bedeutungen, die es hermeneutisch zu erschließen und in Form dichter Beschreibungen festzuhalten gilt, der Kritik ausgesetzt sah, Ethnografie auf eine Kunst des Schreibens zu reduzieren. Er sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht klar darzulegen, was die Dichte der Beschreibung ausmache und sich somit theoretisch wie praktisch der Beliebigkeit schuldig mache: Geertz sei Schriftsteller, aber kein seriöser Wissenschaftler. Er selbst ließ sich auf seinem Weg jedoch nicht beirren und reagierte selten direkt auf die vehemente Kritik. Den Menschen, so sein Argument, und der Faszination der Unterschiede, sei alle Aufmerksamkeit zu widmen. Die Vielseitigkeit menschlicher Ausdrucksformen und die zu 133 Geertz 1988, 143-144 134 Während meines Gesprächs mit Geertz, bei welchem ich ihn fragte, wie ich Dichte in meinen Beschreibungen produzieren könne, beziehungsweise woran ich merken würde, dass ich seine Methode benützen würde, betonte er mehrfach, ich solle nicht über ihn oder die Methode, sondern über die Menschen schreiben. Eine ähnliche Aussage findet sich auch in Works and Lives: „What we want to know about is the Tikopians and the Tallensi, not the narrative strategies of Raymond Firth or the rhetorical machinery of Meyer Fortes.“ (1988, 2) 135 Olson 1991

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interpretierenden Sinnbezüge davon dürften weder auf eine Methode reduziert, noch der Verteidigung von dieser untergeordnet werden. Gerade die Freiheit, die Geertz bei der Darlegung seiner methodischen Vorgehensweise lässt, ist es, die dem Ethnografen Raum gibt, Bedeutungszusammenhänge der Einheimischen, die er im Feld kennen und verstehen lernte, stimmig festzuhalten.136 3.2.3

Zur Bedeutsamkeit des „Dort-Seins“ Wenn man ins Land kommt [...] dann ist das eine Erfahrung, die so einprägsam ist, dass man sie auf der Haut spürt, und so durchdringend, dass man sie auch darunter fühlt. Die Schwierigkeit besteht darin, diese Erfahrung zu artikulieren, sie für die allgemeine Betrachtung zugänglich zu machen.137 CLIFFORD GEERTZ

Die Bedeutsamkeit der Felderfahrung, des Dort-Seins, scheint für Geertz darin zu liegen, Zugang zum Ethos und zum Weltbild der zu erforschenden Kultur zu finden, damit der ethnografischen Beschreibung die entsprechende Dichte verliehen werden kann. Nur wenn der Anthropologe eintaucht in das Leben an einem bestimmten Ort, erhält er Einblicke in den Gehalt der Sprachereignisse, die ein Reisender nur oberflächlich wahrnehmen kann.138 Wie der Ethnologe von den sozialen und natürlichen Gegebenheiten im Feld affiziert wird, beziehungsweise warum das Teilnehmen am sozialen Leben an einem bestimmten Ort methodisch einen zentralen Stellenwert in der anthropologischen Forschung einnimmt, hat Geertz allerdings kaum explizit zum Thema gemacht. Wie oben bereits erwähnt, erfährt man selten konkret, welchen Methoden sich Geertz bei seiner Arbeit im Feld bedient hat.139 Er präsentiert vornehmlich das Endprodukt seiner Feldforschung, der Weg der Erkenntnisgewinnung bleibt seinen Lesern vor-

136 Unter 3.2.3.1 wird noch ausführlicher auf weitere wissenschaftstheoretische Implikationen der Geertz’schen Methode und weitere Kritik neben der der hier dargelegten Ethnografie als Kunst des Schreibens eingegangen werden. 137 Geertz 1997, 32 138 Geertz 1983a, 28 139 Ziegler vermutet, Geertz habe sich im Feld hauptsächlich der Methode der teilnehmenden Beobachtung bedient. (in: Fröhlich, Mörth 1998, 57). In The Religion of Java bemerkt Geertz (1960, 384) selbst: „The bulk of the period of research was actually not spent in the formal interviewing of specialized informants however, but in more informal ‚participant observation‘ activities.“ Vgl. auch Geertz 1983a, 33

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enthalten: „The actual knowledge-constitutive process remains hidden in the narrative style of thick description. [...] We are presented with an end-product; the production process that mediates between the initial experience and the final product remains vague, even hidden.“140 Sehr kritisch diskutiert wird in diesem Zusammenhang die bekannte Aussage von Geertz, man könne eine Kultur wie einen Text über die Schulter derjenigen lesen, für die er gedacht sei. Kritiker der Textanalogie werfen Geertz vor, sich abgehoben und distanziert von den Menschen im Feld anzumaßen, deren Symbolsysteme stimmiger deuten zu können als sie selber:141 „Der Ansatz von Geertz verwandelt die Ethnologie in eine Textwissenschaft, die sich nur insoweit auf eine fremde Kultur einlässt, als sie diese zu einem Text umgedeutet hat. [...] Die Interpretation einer Kultur als Text erfolgt aus der Position des umfassend informierten Ethnografen, der keine Zweifel an seinem Deutungsmodell aufkommen lässt.“ 142

In der Folge sollen einige Überlegungen zur Bedeutsamkeit des Dort-Seins in der Geertz’schen Methode angestellt werden, welche über die wörtliche Bedeutung der Textanalogie hinausreichen und erwähnter Kritik somit entgegenstehen. Es ist davon auszugehen, so Ziegler, dass die Anwesenheit im Feld in den Aufsätzen von Clifford Geertz stets präsent ist und für ihn zentralen Stellenwert im Prozess der Erkenntnisgewinnung spielt.143 Es soll argumentiert werden, dass Sinngehalte kultureller Symbole nur dann richtig „gelesen“, beziehungsweise interpretiert werden können, wenn sie im Feld gemeinsam mit den Menschen erlebt wurden.

3.2.3.1 Einflussfaktoren der natürlichen Umwelt und die phänomenologische Einsicht Dass die natürliche Umwelt Einfluss hat auf die menschliche Lebensgestaltung, Befindlichkeit und Identitätsentwicklung scheint offensichtlich. So gibt es beispielsweise in Kanada unzählige Ureinwohnergruppen, die sich in Tradition, kulturellen Praktiken und Spiritualität gerade dadurch unterscheiden, dass sie sich entsprechend den Gegebenheiten und Bedingungen ihrer jeweiligen Umwelt entwickelten. Waldenfels argumentiert, dass es das Fremde an sich nicht gibt. Fremdes

140 Scholte 1986, 12 141 Zur Kritik der Textanalogie vgl. Gottowik 1997, Berg, Fuchs 1999, Crapanzano 1992, Clifford, Marcus 1986, Boskovic 2002, Ellrich 1999 (v.a. Der entgrenzte Text) 142 Gottowik 1997, 245-247, vgl. auch Jones 1998, 51 143 Fröhlich, Mörth 1998, 59

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bestimme sich vielmehr durch Ort und Zeit, welche verschiedene Fremdheitsstile hervorrufen: „Fremdheit bestimmt sich, wie Husserl sagen würde, okkasionell, bezogen auf das jeweilige Hier und Jetzt, von dem aus jemand spricht, handelt und denkt. Ein standortloses ‚Fremdes überhaupt‘ gliche einem ‚Links überhaupt‘ – ein monströser Gedanke, der Ortsangaben mit begrifflichen Bestimmungen vermengt. Im Falle des Eigenen und Fremden handelt es sich also nicht um zwei bloße Terme, sondern um zwei Topoi.“ 144

Béatrice Collignon berichtet im Zuge ihrer Forschung über die Praxis der Namensgebung traditionell wichtiger Orte ausführlich über die enge Verbundenheit der Inuit mit ihrem Lebensraum. Geschichten und spezifische Ortsnamen bieten im Geertz’schen Sinne symbolhaft Modell von einem Verständnis der Realität des Lebens in Eis und Schnee sowie auch Modell für dieses: „As a narrative about the land, place names act like witnesses telling us about the relationship Inuit build with their environment. They express the Inuinait view of the landscape and their own understanding of their land – that is, their geosophy or geographical wisdom. Geosophy goes beyond a practical an efficient geographical knowledge. It encompasses feelings, dreams, hopes, values, and beliefs.“145

Dramatisch zeigt sich diese unmittelbare Verbindung von Lebensraum und Kultur in der Arktis im Wandel der letzten Jahre. Seit Jahrhunderten leben die Inuit völlig abgeschieden in den unwirklichsten Gegenden der Erde und entwickelten Techniken und Weisheiten, um ihr Überleben zu sichern. Im Zuge der fatalen Auswirkungen des Klimawandels werden sie unweigerlich in den nächsten Jahrzehnten nicht nur ihrer Lebensgrundlage, sondern darüber hinaus wichtiger kultureller, identitätsstiftender Symbole wie das (mittlerweile nur noch zeitweise) Leben auf dem Land, die Jagd auf zugefrorenen Eisflächen und die Verarbeitung der Beute, beraubt. Es soll hier argumentiert werden, dass eine Anthropologin, die eine fremde Kultur dicht beschreiben möchte, sich der Lebenswirklichkeit der Menschen im Feld aussetzen muss, um die Bedeutung und den Sinn symbolhafter Handlungen ganzheitlich erfassen zu können. Sie muss sozusagen am eigenen Leib erfahren, was es beispielsweise heißt, in eisigen Temperaturen fischen zu gehen, stundenlang in einem Schlitten durch die endlos scheinende Schneewüste zu fahren oder das großartige Schauspiel der Nordlichter zu verfolgen, um zu verstehen, welche Bedeutung beispielsweise gewisse, zunächst seltsam anmutende, Jagdpraktiken haben. Geertz betont, ethnografische Forschung, ein manchmal entmutigendes Unterfangen, sich 144 Waldenfels 1997, 23 145 Stern, Stevenson 2006, 203

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in die Menschen einer fremden Kultur zu finden, besteht letztlich aus der persönlichen Erfahrung.146 Ähnlich argumentieren Gieske und Rappe-Gieske: „Wir können aus der Selbstbeobachtung, der Erkundung unserer Reaktionen auf die Umwelt, unserer Modelle über die Umwelt und unserer Programme, die sich als Konsequenz unserer Interaktion mit der Umwelt herausgebildet haben, auf die Welt außer uns schließen. Umwelterkenntnis ist über den Weg der Selbsterfahrung möglich. Selbsterfahrung gibt uns Informationen über die Umwelt.“147

Husserls philosophische Methode der Phänomenologie, die sich Geertz in etwas abgewandelter Form für seine eigene Methode zu eigen macht 148, setzt am unmittelbaren Bewusstseinserleben an. Es wird argumentiert, dass wir im Erleben eines Phänomens, wie es sich dem Bewusstsein zeigt, direkten Zugang zu den Sachverhalten, so wie sie sich geben, erhalten. Das Phänomen ist dabei das in der Welt an sich Seiende, aber rein so, wie es sich im Erlebensmoment für mich zeigt. Umso öfter Menschen gleiche, beziehungsweise ähnliche, sozio-kulturelle und natürlich gegebene Phänomene erleben, umso größer wird der gemeinsame Erlebenshorizont und umso mehr schrumpft der Grad der Fremdheit. Ähnliches hat Helmut Dworschak wohl im Sinn, wenn er bezugnehmend auf die verstehende Soziologie von Alfred Schütz149, schreibt, dass das Kriterium für Vertrautheit oder Fremdheit die Gemeinsamkeit beziehungsweise Unterschiedlichkeit der Erfahrungen darstellt.150 Dworschak spekuliert basierend auf Husserls Lebensweltbegriff gäbe es jedoch eine grundsätzliche Verstehbarkeit aller menschlicher Ausdrucksformen, somit die Möglichkeit einer interkultureller Hermeneutik, „die sich auf ein gemeinsames Vorverständnis ‚existentieller transkultureller Erfahrungen‘ beruft.“151 Denn die Lebenswelt weist eine allgemeine Struktur auf, die zwar von jedem anders 146 Geertz 1983a, 20 147 Gieske, Rappe-Gieske 2001, 226 148 Micheelsen 2002, 10; Ausführlich dazu später unter 3.2.5.2 149 Alfred Schütz (1899-1959) gilt als Begründer der phänomenologischen Soziologie und war ebenfalls einflussreich im Geertz’schen Denken – vor allem hinsichtlich phänomenologischer Prämissen. Siehe dazu auch Shweder, Good 2005, 100. Geertz selbst schreibt über den Einfluss Schütz’ hinsichtlich einer wissenschaftlichen Kulturphänomenologie, die er, wie er ausdrücklich betont, anstrebt: „Zu den für uns interessanten Vorstößen gehören jene des verstorbenen Philosophen und Soziologen Alfred Schütz“, der versuchte, „die Bedeutungsstrukturen dessen aufzudecken, was er als die ‚ausgezeichnete Wirklichkeit ‘ der menschlichen Erfahrung ansah: die alltägliche Lebenswelt, wie sie der Mensch vorfindet, tätig erlebt und durchlebt.“ (Geertz 1983a, 138-139) 150 Fröhlich, Mörth 1998, 68 151 Dwortschak in: Fröhlich, Mörth 1998, 70-71

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erlebt, interpretiert und gelebt wird – aber unwiderlegbar tatsächlich von jedem erlebt, interpretiert und gelebt wird. Auch Geertz betont, die Beschreibung einer Lebensform stünde zwar je nachdem, wer sie beschreibt, in einem anderen Licht, doch „die Dinge sind ohne Zweifel das, was sie sind: was könnten sie anderes sein?“152 In der Reflexion über den eigenen Sinnbezug auf die gemeinsam erlebte Welt können wir dieser, uns selbst und dem Fremden näher kommen. „Eine so verstandene Lebenswelt besitzt universale Grundlegungsfunktion, ist Fundament für jegliche Sinnbildung, da sie für alle gleich zugänglich ist. Davon ausgehend konstituieren die Menschen verschiedene kulturelle Umwelten als konkrete Lebenswelten.“153

Im gemeinsamen Sein an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit öffnet sich, nicht zuletzt basierend auf der phänomenologischen Einsicht, zudem eine wichtige Tür für den Dialog. Denn der Forscher kann mitreden, kann sich austauschen über die gemeinsamen Erlebnisse. Ähnliches scheint Geertz im Sinn zu haben, wenn er schreibt, sein Ziel sei, mit den Einheimischen „ins Gespräch kommen [...], mit ihnen austauschen, und zwar in jenem weiteren Sinn des Wortes, der mehr als Reden meint.“154 Oftmals geht mit geteilten Erlebnissen auch ein gewisser Vertrauenszuwachs einher. So berichtet Geertz beispielsweise davon, wie er und seine Frau erst nachdem sie gemeinsam mit einigen Balinesen in eine Razzia verwickelt wurden, nicht mehr „länger unsichtbar“ waren, sondern „im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit“ standen. Das gemeinsame Erlebnis, so berichtet er, ließ ihn Zugang zu den Einheimischen finden, es „war der Wendepunkt unserer Beziehung zur Gemeinschaft und wir waren im wahrsten Sinne des Wortes ‚in‘.“155 3.2.3.2 Die Erfahrung des Dort-Seins als elementarer Teil der Methode Dort-Sein im Sinne der dichten Beschreibung bedeutet nicht, so erschließt sich aus den Geertz’schen Ausführungen zu seiner Methode, in einer entlegenen Gemeinde von Tür zu Tür zu gehen und mit Hilfe vorformulierter Fragen Daten zu sammeln, um diese, wie Geertz kritisch bemerkt, „wie eine Maske oder eine Schnitzerei nach Hause zu tragen“156. Es geht über ein rein kognitives Analysieren der gesammelten Fakten hinaus.157 Dort-Sein bedeutet, möglichst einzutauchen in sozio-kulturelle

152 Geertz 1997, 75 153 Mörth in: Fröhlich, Mörth 1998, 71 154 Geertz 1983a, 20 155 Geertz 1983a, 206-207 156 Geertz 1983a, 24 157 Bei seinem Versuch, eine interkulturelle Philosophie zu begründen, betont Kimmerle (2002, 139), dass diese sich „nicht ausschließlich am Schreibtisch oder vor dem PC

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Zusammenhänge innerhalb einer physisch-materiellen Umwelt, um erhellen zu können, „was sich an derartigen Orten ereignet“ und die Rätsel zu lösen, was das für Leute sind, „die befremdliche Handlungen in unbegriffenen Zusammenhängen zwangsläufig hervorrufen.“158 Geertz betont: „Maybe sociology can pass out questionnaires and go hide behind the screen, but anthropologists do not do that. Most of my work has been done by talking to people, living with families, going to the market, walking around, and to make you believe that I got all of this from some information production machine just does not make any sense.“159

Ziegler bemerkt, in der dichten Beschreibung bestehen Forschungsprozesse „nicht als getrennte Phasen, in denen man einmal faktische Daten erhebt und andererseits diese Daten nach methodischen Regeln interpretiert.“ Er fährt fort: „Die beiden Ebenen durchdringen sich gegenseitig. In dieser Hinsicht gibt es eine grundsätzliche methodologische Differenz zu den hermeneutischen Verfahren, die sich auf die Auslegung von Texten stützen. Interpretation im Sinne einer dichten Beschreibung korrigiert nicht, stellt nicht richtig und trennt nicht manifeste von latenten Sinngehalten. Dichte Beschreibungen sind Interpretationen von Interpretationen. Sie erzeugen Sinn von etwas, das Sinn erzeugt.“160

Ziel der Felderfahrung ist, „die Dinge aus der Perspektive des Eingeborenen zu betrachten“161 – ohne dabei den Anspruch erheben zu wollen, wie die Eingeborenen zu werden, oder wie diese zu fühlen. Es geht um das eigene Erleben der Lebenswirklichkeit (naturell-physisch und sozio-kulturell) derer, die es zu erforschen gilt. Um dichte Beschreibungen verfassen zu können, interpretieren Ethnografen Interpretationen der Einheimischen.162 „Wir nehmen nicht wahr, was die Informanten sind oder was sie wahrnehmen, sondern wir nehmen die Bedeutungen wahr, die die Informanten ihrer Seinsweise

entwickeln lässt.“ Er fährt fort, aus diesem Grunde habe er von einer „Methodologie der Tat“ gesprochen: „Westliche Philosophen müssen sich der anderen Kultur aussetzen, mit deren Philosophie sie in einen Dialog kommen wollen, indem sie längere Zeit am Ort und in der Umgebung der dortigen Kollegen am Prozess der Forschung und Lehre teilnehmen.“ 158 Geertz 1983a, 24 159 Pangourgiá 2002, 429 160 Ziegler in: Fröhlich, Mörth 1998, 60 161 Geertz 1983a, 290 162 Ebd., 22-23

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geben.“163 Bedeutung, so Geertz, tritt öffentlich in Form von Symbolen zu Tage 164, deshalb sind sie beobachtbar und interpretierbar. Es scheint jedoch einen grundlegenden Unterschied für das Verstehen der Kultur zu machen, ob man sich beispielsweise einen Film über die Inuit ansieht und darin symbolhaftes Handeln interpretiert oder ob man sich tatsächlich den Lebensbedingungen in Eis und Schnee aussetzt. Man kann zwar von außen beobachten, dass die Inuit (für uns) ungewöhnlich viele Worte für Schnee haben und all diese inklusive deren Bedeutungen detailliert festhalten, aber erst wenn man erlebt wie wichtig, sogar lebenswichtig, das Wissen um die Schnee- und Eisbeschaffenheit bei längeren Ausfahrten auf dem Land ist, versteht man auf einer Ebene, die dichte Beschreibung ermöglicht. Die gewinnbringende phänomenologische Betrachtung im Sinne der dichten Beschreibung, lässt es nicht bewenden beim „Sezieren eines Organismus“, dem „Diagnostizieren eines Symptoms“ oder der „Dechiffrierung eines Codes“ 165. Es kommt nicht auf die Zeichen an, sondern darauf, was diese bedeuten. „Es lohnt sich nicht“, schreibt Geertz, „um die ganze Welt zu reisen, bloß um die Katzen auf Sansibar zu zählen.“166 An anderer Stelle bemerkt er, erschöpfe sich ein Geigenspiel nicht in den Fähigkeiten des Musikers, der Freude am Spiel oder dem Instrument und ließe sich auch nicht darauf reduzieren: „>Das Beethoven-Quartett@ würde [...] niemand mit seiner Partitur gleichsetzen, ebensowenig mit den Fähigkeiten und dem Wissen, die nötig sind, um es zu spielen, oder mit dem Verständnis, das Aufführende und Hörer von ihm haben, noch auch mit einer bestimmten Aufführung oder mit irgendeiner mystischen Entität, die materiell nicht existiert. Daß jedoch das Beethoven-Quartett ein zeitlich verlaufendes, tonales Gebilde, eine kohärente Abfolge geformter Laute, mit einem Wort Musik ist [...], ist eine Aussage, der die meisten Leute [...] zustimmen werden.“167

Ein Musikstück ist mehr als die Aneinanderreihung von Noten und die Analyse einer Kultur mehr als die Auslegung eines Textes. Ein klassisches Stück erschließt sich dem Hörer wohl nur, wenn dieser gerade nicht versucht, Noten, Tonart und Partitur zu studieren, sondern sich öffnet, es zu erleben. Ähnliches gilt für die Bedeutungsstrukturen einer fremdartigen Kultur. Die Offenheit für neue Erfahrungen mit dem Fremden und die Absage an klar detaillierte Forschungsschritte, die eine gewisse Distanz zwischen Forscher und Forschungssubjekten errichten, bedeutet für den Forscher allerdings zugleich ver163 Ziegler in: Fröhlich, Mörth 1998, 60 164 Geertz 1983a, 16ff 165 Ebd., 253 166 Geertz 1983a, 24 167 Ebd., 17-18

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letzlich zu werden. Denn dieser wird seiner privilegierten Stellung der professionellen Überhöhung verlustig. Er wird abhängig von den Menschen im Feld. Diese nämlich sind die Experten ihrer Lebenslage und können ihm Einblicke in die Kultur gewähren, oder nicht. Meinrad betont, häufig schützen sich Forscher vor dem Prozess der Erschütterung des eigenen Welt- und Selbstbildes durch die Anwendung elaborierter Theorien, abstrakter Begriffe, theoretischer Modelle und methodologischer Regeln. Die Folge davon sei jedoch eine verkürzte Erkenntnisgewinnung: „Der Prozeß der Wahrnehmung wird so unterbrochen, und der wissenschaftliche Diskurs zerstört die reiche ethnologische Erfahrung. Die fremde Lebensform, der lebendige Sinn der fremden Kultur wird im Rahmen abstrakter Theorien und Modelle uminterpretiert und erscheint dann plötzlich dürr und trocken.“ 168

Ähnliche Erfahrungen scheint auch Lisa Stevenson bei ihrer Forschung mit Studenten unter Inuit gemacht zu haben, wenn sie schreibt: „Students beginning field research are often told that they must have well-defined research questions, carefully specified variables and precise methods for obtaining data. These are essential, if only to make it possible to begin. One of the unspoken secrets is that some of the most useful insights about what is going on come when the methods fall apart, or from places where no one is looking for data, of even from topics researchers did not expect to investigate.“169

Auch Geertz schien sich zum einen der Gefahr bewusst gewesen zu sein, womöglich der akribischen Sammlung von Daten mehr Beachtung zu schenken, als den Geschehnissen vor Ort, und dadurch wichtige Informationen gar nicht mitzubekommen. Zum anderen fürchtete er durch das das Aufstellen eines Tonbandgerätes während eines Gespräches oder durch das eilige Mitschreiben der Informationen diese zu verfälschen.170 Hinsichtlich seiner Herangehensweise im Feld erklärt er, er 168 Ziegler in: Fröhlich, Mörth, 59 169 Stern, Stevenson 2007, 11 170 Ich selbst habe mich oftmals zerrissen gefühlt, bei der Frage, ob ich dem Sein mit den Menschen mehr Beachtung schenken soll, oder der Datenerfassung. Ich hatte das Gefühl, das Diktiergerät, mein Notizblock und schlimmer noch, meine Befürchtung, nicht alle Informationen während eines Gesprächs, oder dem Lauschen von Geschichten, schnell genug horten zu können, standen zwischen mir und den Menschen – vor allem in persönlichen Kontakten. Auf der anderen Seite wollte ich aber auch nicht nur „MitSein“, sondern dicht beschreiben, welche Bedeutungen ich hinter den Handlungen und dem Selbstverständnis der Menschen vermutete – und dafür brauchte ich die Daten. Erst als ich mir selbst erlaubte, mit den Menschen sein zu dürfen, ohne alles vor Ort mitzu-

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würde zwar während formalen Interviews gleich an Ort und Stelle Notizen machen, aber, so fährt er fort: „When, especially in certain kinds of informal contexts and certain kinds of meetings, etc., note-taking would alter the social situation, I wrote notes only afterwards, usually within an hour or so. [...] As a result of this method of work there is perhaps less verbatim material in the notes than in those cases where the anthropologist works with an interpreter and records, electrically or by hand, the text and its translation, or demands a literal account from the interpreter. Much of my material is thus a paraphrase, or at least a somewhat catch-as-catchcan translation, of what the informant said rather than his exact words. My own opinion is that whatever loss of accuracy is involved in non-verbatim translation it is more than compensated for in the increased quantity and variety of material one gets and the greater degree of naturalness and free-flow quality of the interview situation.“171

Um also, so lässt sich abschließend feststellen, den Leser eines ethnografischen Textes davon zu überzeugen, tatsächlich dort gewesen zu sein und damit die Güte der Beschreibung zu gewährleisten, muss der Autor selbst die Erfahrung gemacht haben, berührt worden zu sein von den Gegebenheiten im Feld. Die Geertz’sche Textanalogie nebst dem literarischen Verständnis von Hermeneutik muss also wesentlich weiter gefasst werden, als dies einige Kritiker tun. Geertz selbst betont: „The ability of anthropologists to get us to take what they say seriously has less to do with either a factual look or an air of conceptual elegance than it has with their capacity to convince us that what they say is a result of their having actually penetrated (or, if you prefer, been penetrated by) another form of life, of having, one way or another, truly ‚been there.‘“172

3.2.3.3 Auswirkungen der Felderfahrung auf das eigene Sein Ein ethnologisches Vorgehen, welches Bedeutungsstrukturen basierend auf der Erfahrung mit dem Fremden in dessen Umwelt interpretieren möchte, unterscheidet sich noch in anderer Hinsicht von der reinen Textauslegung. Während der Text festgeschrieben, immer wieder in der gleichen Form zur Interpretationszwecken herangezogen werden kann, verändert sich Kultur als lebendes System ständig. Zudem beeinflusst die Untersuchung von Kultur diese unmittelbar im Auslegungsprozess. Dessen scheint sich Geertz bewusst zu sein, wenn er betont, dass die Un-

schreiben, trotz der Gefahr, dass mir die eine oder andere Information so „durchrutschte“, und ich ein System erfand, die ersten Stunden morgens nur dem Schreiben zu widmen, fühlte ich Sicherheit im Gleichgewicht zwischen Mit-Sein und Analysetätigkeit. 171 Geertz 1960, 385-386 172 Geertz 1988, 4

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tersuchung von Kultur „ihrem Wesen nach unvollständig >ist@“173, und zudem die Analyse den Gegenstand selbst prägt. Zugleich kann der Forscher nie völlig isoliert und unberührt über die Schultern der Einheimischen blicken, wenn er deren symbolhafte Handlungen auslegen will. Das Erleben des Dort-Seins, die Begegnung mit dem Fremden, ist nicht nur notwendige Bedingung der Erkenntnisgewinnung, sie beeinflusst darüber hinaus das Bewusstsein des Forschers. Geertz selbst schreibt über seine eigenen Erfahrungen des Berührtwerdens durch die Felderfahrung: „Die Arbeit eines Ethnologen ist [...] häufig nur Ausdruck der Erfahrungen, die er während seiner Forschungen gesammelt hat, oder genauer gesagt: dessen, was diese Erfahrungen bei ihm bewirkt haben. Ganz bestimmt gilt dies in meinem Fall. Die Feldforschung hat mich intellektuell (aber nicht nur intellektuell) geformt. Sie hat mich nicht nur zu bestimmten Hypothesen geführt, sondern mir auch zu Deutungsmustern ganzer Gesellschaften verholfen.“174

Der Ethnograf versucht sich im Feld nicht nur ganz bewusst Fremdes anzueignen, vielmehr scheint das Fremde zugleich den Forscher unbewusst zu erfassen und zu verändern. In welchem Maße dies geschieht, bleibt diesem jedoch weitgehend verborgen.175 Vincent Crapanzano beschreibt diesen Prozess als Selbstauflösung und Neugestaltung, als innerer Veränderungsprozess: „Indeed the movement of fieldwork can be seen as a movement of self-dissolution and reconstitution. The ethnographer, in learning the ways of the other – the alien other – learns to take on their standpoint; and this leads inevitably to a new view on, if not a new sense of, self.“176

Schleichend gewöhnt sich der Forscher ein und wird dem fremden Verstehenshorizont doch nie völlig habhaft. Erkenntnisse wachsen dabei ruckartig, sind unberechenbar. Manchmal muss man sich auch eingestehen, dass der eine oder andere „kühne Vorstoß“ einer für sicher geglaubten Erkenntnis nicht mehr als ein unbeholfenes Umhertappen, ein erstes Vorverständnis, war. 177 Diesbezüglich bemerkt Johannes Müller, dass man, gerade wenn man meint, sich in fremder Kultur zurechtfinden zu können, „plötzlich ziemlich überrascht feststellt, die Menschen und ihr 173 Geertz 1983a, 41 174 Geertz 1991, 11 175 Geertz (2006) empfahl mir diesbezüglich, gleich zu Beginn eines Feldaufenthaltes möglichst viele Notizen zu machen, meine anfängliche Naivität im Feld auszunützen, denn vieles, so meinte er, würde mir nach einiger Zeit nicht mehr auffallen. 176 Crapanzano 1977, 70 177 Geertz 1983a, 36

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Verhalten überhaupt nicht mehr zu begreifen. Damit kann eine zweite Phase des (keineswegs immer gelingenden) inneren Verstehens einer fremden Kultur beginnen.“178 Wie sehr einen Fremderfahrung beeinflusst, zeigt sich meist völlig unerwartet bei der Rückkehr in eigene kulturelle Zusammenhänge. Forscher, die nach längeren Feldaufenthalten (welche, um tatsächlich in sozio-kulturelle und natürliche Umwelten verstehend eindringen zu können, anzuraten sind) heimkehren, berichten nicht selten von einem umgekehrten Kulturschock. Vor allem die Menschen, die sich in der Heimat um einen scharen und neugierig nachfragen, welche Abenteuer man in der Fremde erlebt hat, scheinen die Veränderung zu merken. Nicht nur, dass man sich schwer tut, die rechten Worte zu finden, um dem Erlebten adäquat Ausdruck zu verleihen, sondern es hat fast den Anschein, als würden einen die Menschen nicht mehr verstehen.179 „In many ways the shock of return is more difficult than the initial encounter. The fieldworker has been led to expect the stress and strain of the ethnographic confrontation; he does not really expect such stress and strain, such anxiety upon his return. [...] At home he must be his old self again, must adopt the standpoint of those significant within his ,own‘ socio-historical horizon. He requires re-affirmation – reconstitution – and this he tries to accomplish in many ways, including, most notably, the writing of ethnography, which will also ,free‘ him to be a professional again.“180 >Hervorhebung im Original@

3.2.3.4 Dort-Sein im Text Die Erfahrung des Dort-Seins in den Text der dichten Beschreibung einzuarbeiten, sei, so betont Geertz, eine ebenso große Herausforderung, wie das tatsächliche Dort-Sein im Feld: „,Being there‘ authorially, palpably on the page, is in any case as difficult a trick to bring off as ,being there‘ personally.“181 Die strikte Trennung von Autor und Text, um möglichst objektiv und abgehoben zu beschreiben, scheint für Geertz genauso irreführend zu sein, wie die bewusste Distanzierung von den Menschen im Feld. Der isolierte Blick von nirgendwo wie in einem sterilen Labor ist in der ethnologischen Praxis ohnehin nicht möglich. Der Forscher wird durch seine Forschungstätigkeit im Feld Teil des zu erforschenden

178 Müller 1997, 121 179 Wie bereits in Teil 1 erwähnt, erzählte mir Geertz (2006), ein Grund für das Verfassen dichter Beschreibungen sei gewesen, dass er nach Möglichkeiten gesucht hatte, wie er seine Erfahrungen im Feld für die Menschen in der Heimat „übersetzen“ konnte. 180 Crapanzano 1977, 71 181 Geertz 1988, 23

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Systems. Ist er sich dessen nicht bewusst, verliert er die Chance, im Wissen um Subjektivität und Beeinflussung einen Blick von außen einnehmen zu können. So bemerkt Geertz: „To my limited mind, direct and open acknowledgement of limits – this observer, in this time, at that place – is one of the things that most recommends this whole style of doing research. Recognition of the fact that we are all [...] ,positioned (or situated) observers‘ is one of its most attractive, most empowering features. The renunciation of the authority that comes from ,view of nowhere‘ [...] is not a loss, it’s a gain, and the stance of, well, I, a middle-class, midtwentieth-century American, more or less standard, male, went out to this place, talked to some people I could get to talk to me, and think things are sort of rather this way with them there‘ is not a retreat, it’s an advance.“182

Die Verantwortung der Autorenschaft eines ethnografischen Texts kann zudem nicht unreflektiert bleiben, und der Ethnograf kann sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Geertz betont: „Books are authored, they are signed and it is not by our subjects – we have done enough harm to them, we should not make them co-author our books. We write them and we should acknowledge that we write them.“ 183 >Hervorherbung im Original@

Der eigene Stil, die individuelle Handschrift des Autors, lasse sich zudem nicht von der Hand weisen.184 Nur im kongruenten Schreiben, das authentisch zu erklären versucht, was man im Feld, oder vielleicht später mehr oder weniger überraschend verstanden zu haben meint, besteht die Möglichkeit, das Fremde dem Leser tatsächlich näher zu bringen. „We need to find ways of bringing ourselves in >the text@. [...] I really did live among these people; I did talk to them. They did react to me; I did react to them. [...] You are somebody: you come out of a certain class; you come out of a certain place; you go into a certain country; you then go home; you do all of these things. To represent it as though it were a laboratory study of some sort, in the traditional sense, seems to me to misrepresent it. So the expecta-

182 Geertz 2000a, 137 183 Pangourgiá 2002, 429 184 Im Gespräch mit Olson betont Geertz: „We are part of what we study, in a way; we are there. And it seems to me almost in a kind of positivist sense false not to represent ourselves as being so-false, or at least an imperfect representation.“ (Olson 1991) Obwohl er, so bemerkt Geertz, viele ethnografische Texte von der Position des außenstehenden Betrachters geschrieben habe, sei er doch durch seinen Stil als Autor präsent.

378 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS tions that have been formed, [...] that the anthropologist is not involved in what’s going on, are false.“185

Bei der Darstellung intentionaler Veräußerlichungen einer fremden Kultur ist die Kunst des Verstehens untrennbar mit der Kunst der Präsentation verbunden. Die Interpretation des Erlebten schlägt sich in der ethnografischen Schrift nieder. Aus dem „Lesen“ der Kultur, um in der Geertz’schen „Kultur-als-Montage-von-TextenMetapher“186 zu bleiben, entspringt ein neuer Text. Dabei kann Dort-Sein im Text nur überzeugend auf dem Hintergrund der persönlichen Erfahrung des Dort-Seins im Feld vermittelt werden, nicht durch den Versuch, einer bestimmten Methodologie zu folgen, oder durch die außergewöhnliche schriftstellerische Leistung des Autors. „Like poetry, authoritative ethnographies are authoritative not because the ethnographer is a seer or a devotee of the methods of science, but because those texts bind us to a reality by presenting themselves as examples of the reality they describe.“187 3.2.4

Wissenschaftliche und erkenntnistheoretische Implikationen der dichten Beschreibung

3.2.4.1 Kritik an der Wissenschaftlichkeit von Geertz Clifford Geertz geriet mit seiner Methode der dichten Beschreibung immer wieder ins Kreuzfeuer wissenschaftlicher Diskurse, was darauf hindeutet, dass er Erkenntnisse darlegte, über die nicht so einfach hinweggesehen werden konnte. Er selbst schien es geradezu zu genießen, sich alten Paradigmen, starren Dichotomien und Typologien zu widersetzen und in höchst widersprüchlichen, unabgeschlossenen Argumenten und unbequemen Spannungsverhältnissen polarisierender Ansichten seine stete Suche nach dem Menschsein in der Vielfalt voranzutreiben. Shweder schreibt über Geertz diesbezüglich: „Throughout his career he has put his vast intellectual and literary skills to work ,ferreting out the singularities of other people’s ways of life‘ cultivating a provocative variety of philosophical pluralism and promoting the idea that there is no fixed kernel to human nature. No ,mind for all cultures.‘ No ,deep down homo.‘ ,If anthropology is obsessed with anything,‘ he writes, ,it is with how much difference difference makes.‘ [...] He is a master of distinctions who recoils at typologies, grand theories, and universal generalizations and rejects abstractions and reductionism as methods for the social sciences. [...] Cliff Geertz’s critics are many.

185 Olson 1991 186 Geertz 1983a, 253 187 Shweder 1988

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Almost everyone initially gets sidetracked by the visibility and distinctiveness of his writing style. Among Geertz’s critics the lumpers in the social sciences feel frustrated by him because he is a splitter who is not so easy to dismiss. He argues that knowledge is ,local‘ and most social science generalisations restricted in scope, for which he has no regrets. [...] The universalizers mistakenly think he is a radical relativist. The positivists mistakenly think he is antiscience. And the sceptical postmodernists (by which I mean those scholars who really are subjectivists, nihilists, and radical relativists, which Clifford Geertz is not), think he is an oldfashioned American anthropologist who still believes there is some good work to be done with the idea of ,culture.‘“188

Auch Volker Gottowik erwähnt, das Geertz’sche Programm der interpretativen Anthropologie stelle für die ethnologische Fachgemeinschaft eine Provokation dar. Indiz dafür sei „das krasse Mißverhältnis zwischen den wenigen Texten, in denen Geertz dieses Programm skizziert hat, und der Vielzahl seiner Kritiker“189. Wiederkehrende Kritikpunkte resultieren vor allem aus der Geertz’schen Ablehnung positivistischer Vorgehensweisen in der Anthropologie und der Hinwendung zu literarischen, sowie phänomenologisch-hermeneutischen Prämissen bei der Entwicklung seiner dichten Beschreibung.190 So schreibt Jones, Hauptgrund für den Aufschwung interpretativer Perspektiven in der anthropologischen Forschung sei der Verlust des Glaubens an herkömmliche „standard social scientific approaches – approaches to studying human behaviour that tried to emulate the methods and techniques of natural science“191 gewesen. Dreh- und Angelpunkt des interpretativen Ansatzes von Geertz besteht eben gerade darin, dass er keine experimentelle Wissenschaft betreiben will, die nach Gesetzen sucht, sondern gesellschaftliche Ausdrucksformen interpretieren bzw. deuten möchte.192 Mit dem Versuch des Brückenschlags zwischen den Sozial- und den Geisteswissenschaften193 verschaffte Geertz der Anthropologie, so Ortner, einen völlig neuen Stellenwert in der akademischen Landschaft, was zu Aufruhr in den verschiedensten Disziplinen führte: „Clifford Geertz is one of the foremost figures in the reconfiguration of the boundary between to social sciences and the humanities [...]. As a result of all this – making visible the shared ways of thinking between anthropology and the humanities, on the one hand, and offering the social sciences a powerful alternative to the seemingly irresistible juggernaut of [...] science 188 Shweder, Good 2005, 1-2, Shweder 2007, 200 189 Gottowik 1997, 311, vgl. auch Sewell in: Ortner 1999, 35 190 Vgl. Geertz 1973, 3-33, 1983, 3-5; 2000, 136, Handler 1991, 607 191 Jones 1998, 33 192 Geertz 1983a, 9 193 Zentralen Stellenwert hat dabei wohl der Aufsatz Blurred Genres: The Refiguration of Social Thought in Geertz 1983b.

380 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS on the other – Geertz’s work in turn had the effect of radically repositioning the field of anthropology itself, moving it from a rather exotic and specialised corner of intellectual life to a much more central location. At the same time, and unsurprisingly in the case of work as ambitious and important as Geertz’s, his theoretical position has drawn a great deal of criticism almost from the outset.“194

Stephen Reyna bemerkt bezugnehmend auf ein Interview von Geertz mit Richard Handler kritisch: „>Geertz@ did not believe the ‚science thing‘ and so he rejected it“195. Ein wissenschaftliches Vorgehen196, so argumentiert er, sei von Geertz ohne ausreichend plausible Gründe vorschnell abgelehnt worden. Er habe die Anthropologie damit in ein hermeneutisches Mysterium verwandelt, kümmere sich nicht um Objektivität oder Gültigkeitsnachweise, und die Wahrheit einer Aussage müsse – eine Kritik, die oben bereits erwähnt wurde – hinter rhetorischem Geschick zurückstehen, beziehungsweise wird Wahrheit durch literarische Tricks künstlich erzeugt. Ähnlich beanstandet Jones hinsichtlich des interpretativen Vorgehens in der Anthropologie: „The relaxing of traditional standards of claim justification associated with science has led interpretivists to often make bold assertions on the basis of very scant evidence. [...] the interpretative methods of Geertz and others yield arbitrary and uninformative descriptions and are unable to separate truth from falsity.“197

An keiner Stelle, so Reyna, würde Geertz konkret erläutern, was er unter dem Lesen des Manuskripts „Kultur“ verstehe und wie konkret er fremde Vorstellungsstrukturen interpretieren möchte. Dichte Beschreibungen wären nichts weiter als Ratespiele, Vermutungen über Vermutungen, ohne dass Kriterien bereitgestellt würden, um diese überprüfen zu können.198 Letztlich sei das Projekt deutender Anthropologie „indifferent to truth“ und „intolerant of those seeking it“. Es sei in seiner eindeutigen Ablehnung jeglicher Theorie somit nichts weiter als „impression management“199. Desweiteren bestünde der Geertz’sche Ansatz aus einer Art kultureller Hermeneutik, die sich nur auf höchst unverlässliche Mutmaßungen stütze:200 194 Ortner 1999, 1 195 Reyna 1994, 558 196 Wissenschaftlichkeit hier im Sinne von science, ausgehend von Prämissen positivistischer Strömungen (Objektivität, intersubjektive Nachprüfbarkeit, Verlässlichkeit der Aussagen). 197 Jones 1998, 40 198 Reyna 1994, 572; 1999, 176 199 Reyna 1997, 328 ff 200 Reyna 1999, 175

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„Geertz is interested in creating impressions. He is not interested in ,Truth‘. He has no procedures for validating the truth of his interpretations: one either understands it or misunderstands it. Lacking such procedures, he simply asserts that things are the way they are without reason.“201

Dadurch, dass Geertz über seine methodische Vorgehensweise im Feld so gut wie keine Aussage trifft und eine Unterscheidung zwischen seinen Interpretationen und den Interpretationen der Einheimischen kaum auszumachen ist, so bemerkt Rudolph kritisch, sei eine objektive Überprüfung der dichten Beschreibungen von Geertz nicht möglich. Der Leser sei somit den Ausführungen des Autors mehr oder weniger auf Treu und Glauben ausgeliefert.202 Zudem, so bemerkt Boskovic, ist eine ethnografische Interpretation so gut wie die andere. 203 Auch Jones gibt kritisch zu bedenken: „The central problem with interpretative analyses like Geertz’s is that the interpretations ultimately arrived at are seldom more well grounded than numerous alternative descriptions that are also compatible with what’s been observed in that society.“204 Geertz ginge natürlich davon aus, so beanstandet Jones, dass seine Interpretation die richtige sei, d.h. seine Erklärung der Bedeutungszusammenhänge tatsächlich die Perspektive der Eingeborenen adäquat widerspiegeln würde. Wenn Anthropologen diese ursprüngliche Perspektive aufdecken und erklären wollten, reiche es nicht, so fährt er fort, dass unterschiedlichste Sinnbezüge und Bedeutungsgehalte hinter symbolhaftem Handeln vermutet werden könnten: „Uncovering the native’s view of a symbol set requires that we show certain associations not only can be, but actually are made by natives. Showing this, however, requires far more evidence than can be gained using impressionistic humanistic-style techniques.“205 >Hervorhebungen im Original@

Anthropologen, die eine interpretative Vorgehensweise in der Forschung wählen, behaupten in vagen, wenig informativen Beschreibungen mehr oder weniger wahllos, wer „die anderen“ (zumeist auch noch in generalisierter Form) sind und was diese denken, so das vernichtende Fazit von Jones. Dabei erfahre der Leser nicht wirklich etwas über eine andere Kultur, sondern mehr davon, wer der Autor sei und was dieser über die Einheimischen denke.

201 Ebd., 178, vgl. auch Crapanzano 1992, 67 202 Rudolph 1992, 51, vgl. auch Gottowik 1997, 275 203 Boskovic 2002, 51 204 Jones 1998, 45 205 Jones 1998, 49

382 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

Einer der einflussreicheren Kritiker, Paul Shankman, löste mit seinem Aufsatz The Thick and the Thin: On the Interpretative Theoretical Program of Clifford Geertz 1984 wohl die bekannteste Debatte zur Wissenschaftlichkeit des Geertz ’VFKHQ Ansatzes aus.206 Shankman spricht darin der Geertz’schen Erkenntnisgewinnung die Wissenschaftlichkeit restlos ab. Er resümiert, dass die theoretisch-methodologische Fundierung im interpretativen Theorem letztlich einer verfeinerten, detaillierten Beschreibung kultureller Phänomene zum Opfer fallen muss. Genau dies scheint Geertz jedoch selbst antizipiert zu haben, wenn er betont, die Allgemeinheit der Theorie in seinem deutenden Ansatz resultiere nicht aus abgehobener Abstraktion, 207 sondern vielmehr aus der Genauigkeit von Einzelbeschreibungen: „Theory, which is also both possible and necessary, grows out of particular circumstances and, however abstract, is validated by its power to order them in their full particularity, not by stripping that particularity away.“ 208 Ähnlich scheint Scholte zu argumentieren, der Shankmans einseitigen Ansatz vor allem angesichts der Kuhnschen Ausführungen zu wissenschaftlichem Fortschritt und Paradigmenwechsel209 als „antiquarisch“ und überholt abtut. Er schreibt: „I have the impression that >Geertz’s@ anthropological work is motivated by a central issue: the problem of the concrete universal. Whereas Shankman resolves this issue in a familiar fashion – ethnographic cases are particular instances of ethnological generalities – Geertz’s position is infinitely more subtle. He wishes, as it were, to tease the universal out of the specific without reducing the latter to a mere illustration of the former.“210

Die Kritik einer stark szientistisch argumentierenden Fraktion, so betont auch Gottowik, laufe letztlich ins Leere, denn Geertz möchte die „Wissenschaftlichkeit ethnografischer Aussagen anders als im Rekurs auf ein den Naturwissenschaften geschuldetes Objektivitätsideal begründet wissen.“211

206 Geertz selbst nahm dazu nie direkt Stellung. (White 2007, 1199) Shankman selbst schrieb über dieses Schweigen: „The enigmatic silence of Clifford Geertz hovers over this commentary like a cloud.“ (Shankman 1984, 276) Und Geertz erläutert daraufhin: „I do not agree with >his@ critique. If I did, I would change what I am doing. Shankman has a very superficial understanding of what interpretation is. He talks about Wilhelm Dilthey, but he does not really know what went on in that tradition. [...] Therefore, I must admit that I have not given much attention to his critique.“ (Micheelsen 2002, 8) 207 Geertz 1973 zit. nach 1983, 35 208 Geertz 2000a, 138 209 Vgl. Kuhn 1962 210 In: Renner, Scholte 1984, 541 211 Gottowik 1997, 311

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„One of the most irritating things in my field“ so Geertz, „is people who say you’re not doing ,real science‘ if you don’t come up with laws, thereby suggesting that they themselves have done so, without actually telling you what these laws are.“212 „Operationalismus als methodisches Dogma“, so betont er an anderer Stelle, „war in den Sozialwissenschaften nie sonderlich sinnvoll.“ Stattdessen ist es gerade die „komplexe Besonderheit und ihre Umständlichkeit“ ethnologischer Ergebnisse, die den „gigantischen Begriffen, mit denen es die heutige Sozialwissenschaft zu tun hat, jene Feinfühligkeit und Aktualität verleihen kann.“213 Geertz scheint auch gar nicht bestreiten zu wollen, dass seine ethnologischen Schriften Interpretationen zweiter oder dritter Ordnung, letztendlich Fiktionen, also etwas Gemachtes oder Hergestelltes, sind. Im Gespräch mit Olson erklärt Geertz: „All texts in the social sciences are in one way or another ‚fictions‘, constructions, and we need to treat them as such, not as inviolable, unassailable statements of scientific truth. Treating research reports and the like as ,texts‘, be they in anthropology or in rhetoric and composition, does not diminish their usefulness or even their ,truthfulness‘; rather, it opens these texts up to a richer, more significant interpretation that leads to broader understanding of the subject at hand.“214

Die Behauptung, so bemerkt Geertz, eine ethnografische Erklärung im Sinne der dichten Beschreibung sei deshalb bedroht, ihren objektiven Status zu verlieren, weil sie den Anschein erweckt, dass sie nicht der Wirklichkeit, sondern gelehrter Kunstfertigkeit entspringt, sei verkürzt und oberflächlich.215 Denn eine solche Beschreibung habe ihren Wert gerade darin, Einblicke zu ermöglichen, was für Menschen an einem entlegenen Ort leben, deren Sinn- und Bedeutungszusammenhänge zu beleuchten und nicht Unmengen an Daten und Fakten zu sammeln, die letztlich inhaltsleer sind.216 Methodische Kunstgriffe, wie Fußnoten, die wörtliche Wiedergabe von Texten oder am besten empirisch ermittelte Zahlen, welche die Stimmigkeit einer ethnografischen Beschreibung unterstreichen sollen, sind, so Geertz, nützlich

212 Geertz 2000a, 136 213 Geertz 1983a, 33-34 214 Olson 1991 215 Das Präsentieren zuverlässiger Funde basierend auf harten Fakten scheint, so Geertz, für die meisten Wissenschaftler einfacher und geradliniger zu sein, „es beruhigt und liefert Erkenntnis, wie sie aussehen soll.“ Er zeigt sich jedoch auch skeptisch, ob diese Funde von Aussagen über Menschen tatsächlich so allgemeingültig und objektiv sind, wie deren Finder es behaupten, wenn er schreibt, dass diese Erkenntnisse letztlich auch etwas Fiktives sind – sogar etwas von einem Märchen an sich haben. (Geertz 1997, 76) 216 Geertz 1983a, 23-24

384 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

und notwendig. Sie spielen jedoch eine untergeordnete Rolle, denn sie sind nicht in der Lage, Sinn und Bedeutung adäquat ausdrücken zu können. 217 An anderer Stelle fragt sich Geertz: „Warum eigentlich dieser Gedanke, daß kulturelle Beschreibung zurechtgemachte Erkenntnis ist, die aus zweiter Hand stammt, manche Leute so sehr beunruhigt, ist mir nicht ganz klar. Vielleicht hat es etwas mit der Notwendigkeit [...] zu tun, persönliche Verantwortung für die Schlüssigkeit dessen zu übernehmen, was man sagt oder schreibt, weil man es schließlich gesagt oder geschrieben hat, anstatt diese Verantwortung auf die ‚Realität‘, die ‚Natur‘, ‚die Welt‘ oder ein anderes geräumiges und vages Resultat einer Befürchtung, daß man, wenn man zugibt, daß man etwas zusammengesetzt und nicht glitzernd am Strand gefunden hat, dessen Anspruch auf wahres Sein und Tatsächlichkeit untergräbt.“218

Diese Tatsache, dass man eine ethnografische Beschreibung zusammengesetzt und gedeutet hat, bedeutet noch lange nicht, dass sie deshalb falsch oder ungültig wäre.219 Denn, so Geertz, „die Dinge sind ohne Zweifel das, was sie sind“220: Ein Stuhl ist zwar kulturell (historisch, sozial…) konstruiert, ein Produkt von Personen, die ihre je eigenen Vorstellungen von diesem verwirklichen wollten, aber „man kann auf ihm sitzen, er kann gut oder schlecht gemacht sein, und er kann, zumindest beim gegenwärtigen Stand der Technik, nicht aus Wasser gemacht, oder [...] nicht durch Denken zum Existieren gebracht werden.“221 Natürlich sind dichte Beschreibungen nicht nur beliebig, nicht „bloße Als-ob-Gedankenexperimente“222, denn die phänomenale Wirklichkeit draußen im Feld ist ja tatsächlich real. Es gibt diesen Ort und diese Menschen: „Alles ist das, was es ist, und nicht etwas anderes.“ 223 Die Art und Weise wie Anthropologen über ihre Eindrücke im Feld schreiben, kommt von dem, was sie dort „mit weitgeöffneten Augen, hintangesetztem Interesse und entfalteten Methoden vorfinden.“224 Die wesentliche Aufgabe, so Geertz, besteht darin, es zu sagen, wie es ist. In diesem Zusammenhang gesteht sich Geertz aber auch ein:

217 Geertz 1997, 26 218 Geertz 1997, 76, vgl. auch Scholte 1986, 8 219 Die Unterschiedlichkeit in der Auslegung scheint unter Berücksichtigung eines semiotischen Kulturbegriffs sogar erwünscht zu sein, denn so kann lebendiger Diskurs stattfinden. Dies ist laut Geertz erklärtes Ziel der Ethnologie. (vgl. Geertz 1983a, 20) 220 Geertz 1997, 75 221 Ebd., 76 222 Geertz 1983a, 23 223 Geertz 1997, 27 224 Ebd.

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„Every field anthropologist, I am sure, wakes up from time to time in a cold sweat fearing that someone has gone back to where he or she worked and found not only that the people had been glad to see the last of him but also that he had made up everything, misquoted everybody, was lied to continuously, and didn’t have clue about what was going on around him.“225

All dies heißt jedoch in keinster Weise, dass Geertz Wissenschaftlichkeit per se ablehnt; im Gegenteil fordert er begriffliche Präzision und warnt davor, dem Subjektivismus zu verfallen oder gar nur seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. 226 Er plädiert unmissverständlich dafür, Anthropologie als Wissenschaft gelten zu lassen:227 „I do not believe that anthropology is or cannot be a science [...]. On the second page of Works and Lives [...] I explicitly, and I thought forcefully, both denied that I hold such views and predicted that I would be accused by the easily frightened of holding them. [...] The notion that I have an absolute realist concept of science is sheer fantasy.“228

Die Furcht derer, die ihm unwissenschaftliches Vorgehen vorwerfen, entspringt wohl der Tatsache, dass Geertz bekennt, eine Theorie im interpretativen Sinne ließe sich nicht so einfach aufstellen, sie sei von den unmittelbaren Momenten der dichten Beschreibung nicht zu trennen und damit nicht ihr eigener Herr. Wie der Titel eines seiner Bücher, After the fact, bereits verrät, muss sich der Ethnograf eingestehen, mögliche Erklärungen immer erst nach entsprechender Beobachtung („vorwärts erlebten und rückwärts verstandenen Phänomenen“229) abgeben zu können. Zugleich ist er immer auf der Suche nach noch plausibleren Erklärungen. Dabei hat man weder das eigene Verstehen, noch die Geschehnisse im Feld selbst in der Hand. Der gerade errungene Durchblick und die Klarheit der Einsicht stehen immer in Gefahr, „durch augenblickliches Durcheinander verdunkelt zu werden“. Es ist nicht möglich, so Geertz, „den situationsgebundenen Unmittelbarkeiten des ethnologischen Erkennens, den Gedanken und Anlässen, in die man einzudringen versucht, zu entgehen.“230 „Das Gefühl, dass man ständig geordnete Bilder zusammensetzt und sie einem genau in dem Augenblick auseinanderfallen, in dem man es mehr oder weniger geschafft hat, sie zusam225 Geertz in: Shweder, Good 2005, 118 226 Geertz 1983a, 42 227 Vgl. ebd., 34 und Olson 1991 228 Geertz in: Carrithers 1990, 274 229 Geertz 1997, 190 230 Ebd., 25

386 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS menzusetzen [...] macht einen ebensosehr zu einem der Gegenstände des Wandels wie zu dessen Vermesser, Analytiker, Richter oder Chronisten.“ 231

Die Spannung zwischen der „Notwendigkeit, ein fremdes Universum symbolischen Handelns zu durchdringen, und den Erfordernissen eines technischen Fortschritts in der Kulturtheorie [...], ist notgedrungen groß und unaufhebbar.“ 232 Dieses spannungsgeladene Verhältnis zwischen „der Notwendigkeit zu Verstehen und der Notwendigkeit zu Analysieren“233, die Unsicherheit der methodischen Vorgehensweise und das Wagnis der dichten Beschreibung scheinen für viele Anthropologen beängstigend,234 denn sie können dem Menschen in seiner Vielheit nicht habhaft werden. Er lässt sich nicht in positivistische Kategorien einordnen, eine allgemeingültige, abschließende Theorie über Menschen einer anderen Kultur lässt sich nicht finden. „Es gibt nicht viel Zuversicht oder ein Gefühl der Abgeschlossenheit, noch nicht einmal viel von einem Gefühl, dass man weiß, worauf man wirklich aus ist, bei einer so unbestimmten Suche, unter so verschiedenartigen Menschen, über eine solche Vielzahl von Zeitabschnitten hinweg.“235 >Hervorhebung im Original@

Mit dieser Erkenntnis beginnt, so schreibt Geertz an anderer Stelle, eine unbehagliche Drift in bedrohliches Gewässer, denn unversehens lichtet man einige philosophische Anker, die bis dahin gut begraben im Meeresboden das Gefühl von Sicherheit gaben.236 Geertz selbst scheint sich relativ unbekümmert durch die Untiefen des Meeres zu manövrieren, fühlt er sich doch gerade in philosophischen Gewässern zu Hause.237 Auch mit der Tatsache, dass seine ethnografischen Erklärungen auf unsicherem Boden stehen und in hohem Maße anfechtbar sind, scheint Geertz keine Schwierigkeiten zu haben, sieht er den Fortschritt in der Wissenschaft deutender Ethnologie weniger in der einhelligen Proklamation einheitlicher Konzepte, sondern gerade in der kon-troversen Diskussion unterschiedlicher Ansätze. „Was sich 231 Ebd., 26 232 Geertz 1983a, 35 233 Ebd. 234 Ähnlich schreibt auch Adorno, über den Essay, welchen Geertz (ebd., 36) als das „natürliche Genre“ seiner dichten Beschreibungen sieht: „Just as learning remains exposed to error, so does the essay as form; it must pay for its affinity with open intellectual experience by the lack of security, a lack with the norm of established thought fears like death.“ (Adorno 1984, 161) 235 Geertz 1997, 190 236 Geertz 1973, 37 237 Geertz in: Shweder, Good 2005, 111, Geertz 2000a, x

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entwickelt“, schreibt er, „ist die Präzision, mit der wir einander ärgern.“ 238 Geertz reflektiert über seine Position zwischen den Fronten wie folgt: „So you end up with someone like me who is in between two things. On the right I am told that I am not ‚scientific‘ enough and on the other side >I am criticized@ for not being ,radical‘ enough. But that’s what makes an active field, there is something intrinsic about interpretative anthropology that makes consensus impossible. I mean if we had consensus we’d be dead.“239

In diesem Sinne wehrt sich Geertz gegen Grabenkämpfe der Disziplinen und argumentiert stattdessen für den fruchtbaren Austausch. Im Gespräch mit Olson erwähnt Geertz, die Missverständnisse hinsichtlich seines Verständnisses von Wissenschaft resultieren aus der falschen Annahme, es bestehe eine tiefe Kluft zwischen sciences und humanities: „Those who have that false perception tend to want to put me on one side or the other – usually on the humanities side, saying that I’m not a reasonable scientist. I resist that. I really don’t think that’s the way to think about it. The notion of what science is both varies from discipline to discipline and changes in time, and the attempt to make a simple distinction between what is legitimately rigorous and objective and what is soft and stupid is a dichotomy or dualism that could stand a little poststructural analysis. I really think we should deconstruct this dichotomy and be done with it. Much of the worst misunderstanding of my work comes from people who are trapped in that conceptual framework.“240

Obwohl Geertz offensichtlich den Alleinvertretungsanspruch objektivistischer Denker ablehnt, erhebt er keinen eigenen.241 Es komme nicht darauf an, so bemerkt er, eine Doktrin festzuschreiben und diese bis auf die Zähne zu verteidigen, sondern darauf, was man als Wissenschaftler mit seinem Tun erreichen will. Er betont, er fühle sich höchst unwohl, verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und Methoden gegeneinander abzugrenzen; die Frage sei doch vielmehr: „What do we want 238 Geertz 1973 zit. nach 1983, 42, siehe auch Olson 1991: „In my field I have always argued for the pluralistic approach to things rather than solidification into some particular line of work. But there is a great deal of anxiety. [...] I myself don’t think it’s that an atmosphere of debate and total disagreement and argument is such a bad thing. I think it’s a good thing; it makes for a vital and alive field. I think if you don’t like that kind of anxiety, you should go into organic chemistry. If you want that certainty, and if wobbling around in the water bothers you, then you should go into chemistry, not anthropology.“ 239 Panourgiá 2002, 425 240 Olson 1991 241 Fröhlich, Mörth 1998, 14

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from those ,sciences‘?“242 Wissenschaft mit ihrer Methodik und ihren Analysetechniken soll Handwerkszeug, Mittel, nicht Selbstzweck der Untersuchung sein. Zudem bestimmt das Bekenntnis zu dieser oder jener Richtung bereits den Ausgang der Untersuchung, und man könne nun nicht behaupten, dieser oder jener Wissenschaftler verstünde das Phänomen besser. Er versteht es vielmehr nur anders, findet andere Erklärungen. Deshalb müssen unterschiedliche Ergebnisse nicht unbedingt auf die Wahrheit beziehungsweise Falschheit einiger von diesen hinweisen. „Who knows the river better [...], the hydrologist or the swimmer? Put that way, it clearly depends on what you mean by ,knows‘ and [...] what it is you hope to accomplish. [...] It is not a matter of shape of our thought, but of its vocation.“243 Geertz scheint den von ihm entwickelten interpretativen Ansatz als notwendige Ergänzung zu quantitativen Methoden in der Sozialwissenschaft zu sehen. Mörth und Fröhlich betonen, es sei sicher kein Zufall, dass „Geertz sein Programm zwar als Beschreiben, Interpretieren und Verstehen, als hermeneutisches deklariert, doch des Öfteren von ethnologischen Erklärungen, von Erklärungskraft spricht.“244 Verstehen allein bleibt subjektiven Erkenntnissen verhaftet, Erklärungen allein scheinen zu abgehoben, um zu sinnvollen Aussagen über den Menschen zu gelangen. Geertz bemüht sich, ohne mit eigenen Präferenzen hinter den Berg zu halten, um einen Brückenschlag zwischen Verstehen und Erklären, zwischen humanities und natural sciences, zwischen rätselhaften Absonderlichkeiten und voraussehbaren Gesetzmäßigkeiten (bzw. besser „Mustern“), zwischen dem Partikulären und dem Universalen. „Der Versuch, seinen essayistischen Argumentationsstil“, so Gottowik, „gegen die Ernsthaftigkeit seiner erkenntnistheoretischen und methodologischen Bemühungen auszuspielen, macht allenfalls deutlich, dass zentrale Intentionen seines Programms seitens dieser Kritiker überhaupt nicht verstanden wurden.“245 In der Folge soll erwähnter essayistischer Argumentationsstil auf seine Wissenschaftlichkeit hin überprüft werden. Dabei besteht die Hoffnung, die Intention, die Relevanz und die Berechtigung des epistemologischen Vorgehens von Clifford Geertz verdeutlichen zu können. 3.2.4.2 Ruckartiges Erkennen, essayistisches Theoretisieren und der abduktive Schluss Dreh- und Angelpunkt der deutenden Ethnografie liegt darin, wie oben ausführlich dargelegt, in der Feldforschung einen Zugang zu der Gedankenwelt der untersuch-

242 Geertz 2000a, 138 243 Ebd. 244 Fröhlich, Mörth 1998, 15. Die Hervorhebung ist im Original. 245 Gottowik 1997, 311

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ten Subjekte zu erschließen246 und in der anschließenden Niederschrift der dichten Beschreibung. Deshalb lässt sich die Theoriebildung schwerlich rein durch begriffliche Abstraktion vorantreiben, ist sie doch immer abhängig von unabsehbaren Geschehnissen und Erfahrungen im Feld. Aufgrund dieser spezifischen Form des Theoretisierens aus höchst variablen Einzeldingen wachsen Kenntnisse über eine Kultur, so schreibt Geertz, ruckartig – nicht stetig oder in gleichförmigen Schritten.247 Plötzlich wird dem Forscher in der Beschreibung eines neuen Erlebnisses ein Zusammenhang klar, an dem er vielleicht schon lange grübelnd gesessen hat. Die Beschreibung gewinnt an Dichte. Durch die gewachsene Erkenntnis hat der Ethnologe eine neue Basis für noch detailliertere Beobachtungen und gezieltere Gespräche, um die Bedeutungsgehalte und Sinnzusammenhänge der Menschen einer fremden Kultur besser verstehen zu können als zuvor. Dieser sprunghafte Prozess der Erkenntnisgewinnung besteht aus „immer kühneren Vorstößen“248 und nicht aus der Kumulation planbarer Untersuchungen oder gesammelter Fakten. Anstatt den Fortschritt einer Kulturanalyse mit einer gleichförmig ansteigenden Kurve zu vergleichen, bei der eine Untersuchung gezielt auf der anderen aufbaut, scheint Geertz diesen Prozess als eine Art Mosaik zu sehen. Erkenntnis reiht sich an Erkenntnis (steht „Schulter an Schulter“ 249) und ergibt in der Gesamtheit ein Bild, das allerdings nie vollkommen fertig zu sehen ist, sondern ständig (sprunghaft) an Größe und Farbenpracht, bzw. Dichte oder Tiefe, gewinnt. Wolff betont in diesem Zusammenhang, Geertz bediene sich eines „additiven Verfahrens“, indem er verschiedene Bedeutungs- und Beobachtungsebenen in Beziehung setzt, „seinen (Be-) Funden in immer neuen Schichten weiteres Interpretationsmaterial anlagert und dabei unterschiedlichste, wissenschaftliche Perspektiven [...] hinsichtlich des betreffenden Gegenstand aufeinander abbildet“250, um Dichte zu produzieren. Dabei sei die Geertz’sche Darstellungsstrategie weniger auf logische oder kausale Folgebeziehungen ausgerichtet, sondern eher auf Zufälle, auf sprunghafte, plötzliche Erkenntnisse.251 In diesem Sinne schreibt Geertz, könne man fremden Symbolsystemen erst habhaft werden, wenn man sie anhand einzelner, konkreter Ereignisse untersucht und nicht „abstrahierte Entitäten zu einheitlichen Mustern“252 zusammenfügt. An anderer Stelle betont er, es ginge darum, eine Reihe

246 Vgl. Geertz 1983a, 35; Geertz 2000a, 93 247 Geertz 1983a, 36 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Wolff 1992, 350 251 Wolff 1992, 350-351 252 Geertz 1983a, 26

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mutmaßlicher Signifikanten in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen, nicht darum, sie einem beherrschenden Gesetz unterzuordnen.253 Infolgedessen „werden keine allgemeinen Aussagen angestrebt, die sich auf verschiedene Fälle beziehen, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalls“254. Anders ausgedrückt geht es darum, einzutauchen und mikroskopischdetaillierte Beobachtungen von sozialen Diskursen festzuhalten, um sie anschließend aus der Distanz heraus in einen Zusammenhang bringen zu können. 255 Vermuten, Verstehen und Erklären befördern sich dabei wechselseitig. Wolff betont, es ginge Geertz vor allem um das „Drin-sein“ in den sozio-kulturellen Zusammenhängen vor Ort, um die „interpretative Erreichbarkeit“ der Einheimischen. 256 Dieses „Drin-sein“ könne jedoch nicht geplant oder vorbereitet werden, es erfolge plötzlich und unerwartet. Wolff zieht als Beispiel dafür die ersten Szene des Balinesischen Hahnenkampfes257 heran, in welcher Geertz schildert, wie er, dadurch dass er mit den Einheimischen zusammen in eine Polizeirazzia verwickelt wurde, auf einmal von einer „Nicht-Person“ im Feld zu einem anwesenden Mitmenschen wechselte und damit Zugang zu den Menschen und deren Ethos und Weltbild fand. 258 „Geertz lernt nicht langsam und schrittweise, etwa durch Beobachtungen und Generalisierungen verschiedener Hahnenkämpfe und anderer, damit zusammenhängender Verhaltensweisen der Balinesen. Er wechselt schlagartig sowohl seinen sozialen Status [...] wie seinen WissensStatus. Er wird aus einem irritierten Ankömmling zu jemandem, der das komplexe Ethos der balinesischen Kultur zumindest intuitiv verstanden hat, so daß der Rest des Forschungsaufenthaltes – wie der Rest des Textes – nur mehr der Anreicherung und Ausformulierung dieser Erfahrungen dienen.“ 259 >Hervorhebungen im Original@

253 Ebd., 36 254 Ebd., 37 255 Siehe auch Müller 1997, 136 256 „Das Verstehen der Kultur eines Volkes“, so betont Geertz, „führt dazu, seine Normalität zu enthüllen, ohne daß dabei seine Besonderheit zu kurz käme. [...] Es macht sie erreichbar: in den Kontext ihrer eigenen Alltäglichkeit gestellt, schwindet ihre Unverständlichkeit.“ (Geertz 1983a, 21) 257 Ebd., 202-260 258 Interessant ist hierbei, dass Geertz sobald er „drin ist“ aus dem Text, als Subjekt verschwindet und nur noch über „die Balinesen“ schreibt. Man erfährt wenig über die direkte Beziehung von Geertz und seinen Forschungssubjekten. Das „Drin-Sein“ spielt nur noch indirekt eine Rolle, da Geertz nicht dieses als solches beschreibt, sondern nur das, was er dadurch sprunghaft zu verstehen glaubt. 259 Wolff 1992, 349

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Methodisch bietet sich für diese sprunghafte Art des Anwachsens der Kenntnisse über Kultur der Essay an. Dass Geertz diesen bei der Darstellung kultureller Interpretationen explizit favorisiert,260 kam bereits im Zusammenhang mit der Geertz’schen Methode zur Sprache (vgl. 1.3). Er betont: „For making detours and going by sideroads, nothing is more convenient than the essay form. One can take off in almost any direction, certain that if the thing does not work out one can turn back and start over [...] for progress is not expected to be relentlessly forward anyway, but winding and improvisational, coming out where it comes out.“261

Wichtig ist dabei, dass der Essay nicht nur Darstellungsfunktion (der Erkenntnisse) übernimmt, sondern auch eine Form der Erkenntnisproduktion ist. Erkenntnis wird im Essay nicht als Resultat präsentiert, sondern entfaltet sich im Prozess der Darstellung mehr oder weniger sprunghaft.262 Heinz Bude stellt das essayistische Theoretisieren als einen spezifischen Typus des soziologischen Denkens heraus, obgleich sich eine einheitliche Form oder Linie, wie genau ein Essay auszusehen hat, schwer finden lässt: „Der essayistischen Erkenntnis ist ein merkwürdiger erkenntnistheoretischer Status zu eigen: weder bestätigt noch falsifiziert sie eine vorhergehende Erkenntnis. Sie setzt vielmehr ganz anders an. Der Essay will etwas zur Sprache bringen, was den Prozeß der konsensuellen Validierung unserer Wirklichkeitskonstruktion zum Stocken bringt. Das sind die unbeachteten Ereignisse und unmerklichen Verschiebungen, die im Zuge der essayistischen Darstellung in ein ganzes Verweisungssystem hineinführen. Damit wird ein bestimmter kognitiver Effekt erzielt: am Schluss eines Essays scheint es notwendig, zu neuen Einigungen darüber zu kommen, was überhaupt der Fall ist.“263

Ähnlich betont auch Geertz, wenn man in einem Essay nach systematischen Abhandlungen suchen würde, wäre man bald enttäuscht, denn Theorie ließe sich nur aus spezifischen Untersuchungen ableiten und sei von diesen nicht zu abstrahieren. Theoretische Formulierungen, losgelöst von der Interpretation des konkreten Ein-

260 Geertz 1983a, 36 261 Geertz 1983b, 6 262 Deshalb wohl kann man aus einer essayistischen Erkenntnis keine Wahrheit machen, „die nach Hause getragen“ werden kann. (vgl. Bude 1989, 37; Geertz 1983a, 24) Oder, um in den Worten Adornos zu sprechen: „The essay becomes true in its progress, which drives beyond itself, and not in a hoarding obsession with fundamentals.“ (Adorno 1984, 161) 263 Bude 1989, 535

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zeldings, wirken leer und trivial.264 Anders ausgedrückt möchte der Essay die „intensive Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen“265 ermöglichen, bzw. Einblicke in lebendige Zusammenhänge gewähren, die in einer abstrakten Abhandlung verloren gingen. Ähnliches scheint auch Adorno im Sinn zu haben, wenn er schreibt: „The essay comes so close to the here and now of the object, up to the point where that object, instead of being simply an object, dissociates itself into those elements in which it has its life.“266 „Der Essayist“, so Bude, „erscheint als ‚beweglicher Beobachter‘, der scheinbar ziellos umherschweift.“267 Er ist dabei nicht auf der Suche nach abstrakten Begriffen, allgemeinen Aussagen oder stringenten Gesetzmäßigkeiten, sondern will sich vielmehr überraschen lassen. „Alles und jedes“ kann „zum signifikanten Datum werden. Es muss ihm nur zufallen“268. Bude spricht von einer Art „mobiler Betrachtung“, die nie abgeschlossen um diese konkreten, mehr oder weniger zugefallenen Einzeldinge kreist. Ähnlich möchte Geertz ausgewählte Brocken absichtsvoll arrangieren und zurechtschneiden.269 Dabei ermöglicht die Form des Essays trotz ihrer Variabilität und Anpassungsfähigkeit eine kohärente, in sich schlüssige Gedankenfolge.270 Geertz beschreibt die Analyse von Kultur als ein unbeholfenes Umhertappen oder Ausprobieren verschiedener Hypothesen, bei dem man sich erhofft, vorliegenden Einzeldingen näher zu kommen: „Jede ernsthafte Analyse einer Kultur fängt ganz von vorn an und kommt soweit voran, wie es ihr intellektueller Impuls eben erlaubt. Vorliegende Tatsachen werden dabei mobilisiert, bereits früher entwickelte Begriffe verwendet, ältere Hypothesen ausprobiert; aber die Bewegung führt nicht von einem bereits bewiesenen Theorem zu neuen, sondern von einem ersten unbeholfenen Umhertappen entsprechend einem ersten Vorverständnis zu dem begründeten Anspruch, dass man über dieses Stadium erfolgreich hinaus gelangt sei.“271

Folglich zeichnet sich der Essay als Erkenntnismethode dadurch aus, dass er keine allgemeine Theorie formulieren möchte. Er nimmt vielmehr konkrete Fälle von allen Seiten unter die Lupe, kombiniert, vergleicht oder grenzt sie ab, ohne dabei ein Ende zu finden – und finden zu wollen.

264 Geertz 1983a, 36-37 265 Ebd., 30 266 Adorno 1984, 162 267 Bude 1989, 530 268 Ebd. 269 Geertz 1997, 75 270 Geertz 1983b, 6-7 271 Geertz 1983a, 36

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„Man arbeitet ad hoc und ad interim, man kombiniert tausendjährige Geschichte mit einem Massaker von drei Wochen und internationaler Konflikte mit Stadtökologie. Die Wirtschaft von Reis oder Oliven, die Politik von Ethnizität oder Religion, das Funktionieren der Sprache oder Krieg muss in die endgültige Konstruktion hineingeschweißt werden. Das Resultat ist zwangsläufig unbefriedigend, schwerfällig, wackelig und schlecht geformt: eine imposante Apparatur. Der Anthropologe, oder zumindest einer, der seine Apparaturen komplizierter machen und nicht in sich abschließen möchte, ist ein manischer Bastler, der mit seiner Weisheit dahintreibt: Richard Wilburs Tom Swift, der Luftschiffe zusammensetzt, bei ruhigem Wetter, draußen hinter dem Haus.“272

Essayisten lieben, so Bude, das „Vage, Schiefe, Nervöse der Phänomene.“ Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf „die minimalen Krümmungen, die auf Dauer den strukturellen Wandel des Ganzen bewirken.“273 „Nur in der Konkretion eines Einzelfalls ist etwas Neues und Fremdes zu entdecken, das nicht ins Alte und Bekannte der bestehenden Formen rückzuübersetzen ist. [...] Es sind die ‚kleinen Krümel‘ [...]: zufällig aufgeschnappt und möglicherweise nur teilweise verstanden. So operiert eine Erkenntnismethode, die mit der Zufälligkeit der Beobachtung und mit der Unvollständigkeit ihrer Protokollierung nicht nur rechnet, sondern mehr noch: darauf setzt.“ 274

In Rosaldos Beschreibung der Geertz’schen Art zu schreiben kommt das Verspielte, Unabgeschlossene, Kunstvolle, Vage und Schiefe prägnant zum Ausdruck: „His essays were short excursions, often marked by artful tacking between larger certainties he would have us avoid. [...] he would encourage us to dance through the spaces in between, as his own writings do. They embody grace and beauty, and read like gifts to the reader. The movement of his essays never ceases, shifting from one vantage point to another, now with irony, now laughter, now trenchant critique, now a clear stand, turning issues over and over, inspecting them from diverse angles, making their complexity not simple but intelligible.“275

Die essayistische Darstellung verfährt nicht gliedernd, sondern häufend. Sie will Dichte produzieren, nicht Struktur. Der Essay denkt systemisch, nicht strukturalistisch. Adorno schreibt:

272 Geertz 1997, 29 273 Bude 1989, 538 274 Bude 1989, 530 275 Rosaldo 2007, 208

394 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „In the essay, concepts do not build a continuum of operations, thought does not advance in a single direction, rather the aspects of the argument interweave as in a carpet. The fruitfulness of the thoughts depends on the density of this texture.“276

Der Essay „sucht das Kraftfeld zu erfassen, durch das die Dinge mit Sinn beladen werden.“277 Dabei möchte dieser „nicht die notwendigen Bedingungen für das wahrscheinliche Auftreten eines Phänomens identifizieren, sondern die Art und Weise seiner Selbsterzeugung klären.“278 Dies erinnert an die Aussage von Geertz, das Kulturtheorie nichts voraussagen, nichts hinein, sondern heraus interpretieren möchte. Und er fügt erläuternd hinzu, der Diagnostiker würde ja auch nicht Masern voraussagen, sondern feststellen, dass jemand sie hat, oder bestenfalls antizipieren, dass jemand sie in Kürze bekommen wird. 279 In einem weiteren Schritt geht die kreisende Bewegung der mobilen Betrachtung unmerklich über in eine andere Sicht der Dinge. Aus dem „unbeholfenen Umhertappen“ entsteht der begründete Anspruch, über ein erstes Vorverständnis hinaus gelangt zu sein. Im Sinne der dichten Beschreibung ist damit eine neue Ebene des Verstehens von Bedeutungsgehalten sozialer Diskurse von Menschen einer anderen Kultur erreicht, von der aus weitere Beobachtungen unter die ethnografische Lupe genommen werden können.280 Damit lässt sich das essayistische Theoretisieren abgrenzen von Theorietypen positivistischer Strömungen in den Sozialwissenschaften. Adorno betont, „in the emphatic essay, thought gets rid of the traditional idea of truth“281. Er erläutert, der Essay würde zugleich traditionelle methodische Konzepte außer Kraft setzen, denn „thought acquires its depth from penetrating deeply into a matter not from referring it back to something else“ 282. Bude spricht von der Gelegenheitsvernunft auf der einen und der Grundsatzvernunft auf der anderen Seite. Beide unterscheiden sich aufgrund ihres unterschiedlichen Umgangs mit konkreten Einzeldingen: „Das essayistische Theoretisieren stellt offensichtlich einen Theorietyp eigener Art dar. Es handelt sich um das Werk einer Gelegenheitsvernunft, die aufgrund eines kontingenten Falls aufs Ganze geht. Das Gegenstück zur Gelegenheitsvernunft ist die Grundsatzvernunft, die jeden individuellen Fall allgemeinen und im voraus aufgestellten Regeln unterwirft. Es ist 276 Adorno 1984, 160 277 Bude 1989, 531, vgl. auch Adorno 1984, 161 278 Ebd., 530 279 Geertz 1983a, 37 280 Weitere Untersuchungen können, so Geertz, „mit besseren Kenntnissen und Begriffen ausgerüstet noch einmal tiefer [...] eintauchen.“ (Geertz 1983a, 36) 281 Adorno 1984, 159 282 Ebd.

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diese unterschiedliche Bezugnahme auf den individuellen Fall, die die beiden theoretischen Verfahren voneinander trennt: die Grundsatzvernunft sieht im Einzelfall das durchschnittlich sich Wiederholende und die Gelegenheitsvernunft das singulär sich Entfaltende.“283

Das Paradigma des Essays als Weg der Erkenntnisgewinnung bzw. das der „Gelegenheitsvernunft“, welche Theorien nur im Licht konkreter Einzeldinge aufstellen möchte, ist es wohl, das mit zur Diskreditierung der Geertz’schen Wissenschaftlichkeit beigetragen hat. Der Essay gilt gemeinhin vornehmlich als schriftstellerische Darstellungsform, nicht als wissenschaftliche Methode: „Wer einen Essay schreibt, der hat nichts erforscht und nichts erdacht; der liebt die flinken Einfälle und hübschen Sprünge; und für eine geschmäcklerische Formulierung verrät er bedenkenlos die Sache. Mit anderen Worten: der Essayist ist ein unverantwortlicher Spieler, kein ernster Wissenschaftler.“284

Es scheint jedoch gerade die Offenheit für völlig unerwartete Dinge jenseits abstrakter Theorien Raum zu geben für ruckartige Erkenntnisse – vor allem bei der Erforschung fremder Kulturen. Dabei geht es nicht um die Frage von wahr oder falsch. Für den Essayisten, so Bude, ist das Dritte durchaus denkbar – er forscht sogar gerade nach dieser dritten Position. Ethik und Ästhetik stellen für ihn deshalb keine Gegensätze oder gar sich gegenseitig ausschließende Alternativen, sondern vielmehr zwei Seiten einer Medaille dar.285 Ähnlich betont Gottowik: „Die Aufforderung, sich beim Verfassen ethnografischer Texte zwischen einer wissenschaftlichen und einer literarischen Darstellungsweise zu entscheiden, stellt den Ethnographen jedenfalls vor eine falsche Alternative, denn schließlich hat die Wirklichkeit – wie Geertz eher beiläufig bemerkt - keine Sprache, in der sie beschrieben werden möchte.“ 286

Das essayistische Theoretisieren hat gerade in der Offenheit für das sich Entfaltende seine epistemologische Berechtigung. Hinsichtlich der Frage nach der zugrundeliegenden Forschungslogik der essayistischen Form des Denkens weist Bude auf die Logik des abduktiven Schlusses hin, die vom amerikanischen Pragmatizisten Charles Sanders Peirce entwickelt wurde. Auf diese könne sich das essayistische Theoretisieren (damit auch die dichte Beschreibung von Geertz) hinsichtlich seines Erkenntnisweges berufen.287 „Das essayistische Theoretisieren [...] verfolgt eine 283 Bude 1989, 537 284 Bude 1989, 534 285 Bude 1989, 534-535 286 Gottowik 1997, 310, vgl. auch Adorno 1984, 156 287 Bude 1989, 536, vgl. auch Ziegler in: Fröhlich, Mörth 1998, 56

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okkasionalitische und minimalistische Erkenntnisstrategie. Zufällig gefundene, minimale Datenmengen bilden die Grundlage für ‚abduktive Schlüsse‘ auf größere Zusammenhänge.“288 Die Abduktion stellt eine zur Probe aufgestellte Hypothese dar. Diese vollzieht sich in einem sprunghaften Akt der Erkenntnis basierend auf alltäglich unbewusst vorgenommenen Wahrnehmungsurteilen. Intuitiv werden Zusammenhänge zwischen zunächst unvereinbar scheinenden Beobachtungen hergestellt, die auf einmal sinnvoll erscheinen. So fragt sich Geertz, wie es denn zuginge, dass man, „beginnend mit flüchtigen Erfahrungen und halb mitbekommenen Ereignissen, bei einem geformten, niedergeschriebenen, berichteten Faktum landet, wie man es manchmal tut“ 289. Er mutmaßt anschließend, eine Ansammlung einzelner Darstellungen würde während des Schreibens irgendwie zusammengesetzt auf einmal Sinn machen. Die Ähnlichkeit der Geertz’schen Beschreibung von ruckartigen Erkenntnisschüben zu Merkmalen des abduktiven Schließens ist offensichtlich: „Die abduktive Vermutung (Suggestion) kommt uns wie ein Blitz. Sie ist ein Akt der Einsicht, obwohl extrem fehlbarer Einsicht. Zwar waren die verschiedenen Elemente der Hypothese schon vorher in unserem Verstande, aber erst die Idee, das zusammenzubringen, welches zusammenbringen wir uns vorher nicht hätten träumen lassen, lässt die neu eingegebene Vermutung vor unserer Betrachtung aufblitzen.“290

Die Vorgehensweise der Abduktion in der Theoriebildung besteht zunächst aus der Einführung einer rein intuitiv vermuteten, zur Probe aufgestellten Hypothese oder allgemeinen Regel zu einem beobachteten Phänomen, die uns, wie oben geschildert, meist unerwartet und plötzlich klar wird. Diese Vermutung wird auf eine der Erklärung bedürftige Tatsache angewandt. Dabei wird geprüft, ob die Tatsache ein möglicher Fall der vermuteten Hypothese ist. Die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse sind zunächst ungesichert und mutmaßlich, somit fehlbar. Sie müssen weiterhin an empirischen Tatsachen überprüft werden. Dies geschieht sowohl durch induktive und deduktive, aber auch durch hermeneutische Verfahren. 291 Stets geht es 288 Bude 1989, 536 289 Geertz 1997, 26 290 Peirce in: Moser 1995, 80 291 Fröhlich, Mörth 1998, 56-57. Uwe Wirth (1995) mutmaßt hinsichtlich des Zusammenhangs von Hermeneutik und Abduktion: „Apels These der Komplementarität von Verstehen und Erklären innerhalb einer pragmatisch-hermeneutisch reformulierten Transzendentalphilosophie, deren Vermittlungsinstanz abduktives Schließen ist, impliziert bereits die Möglichkeit, den ‚hermeneutischen Zirkel‘ als Abduktion zu deuten.“ Es sei bemerkt, dass auch hinsichtlich der Geertz’schen „Kultur-als-Text-Metaphorik“ abduktives Folgern eine Schlüsselrolle einnimmt. Denn gerade in der Literaturwissenschaft

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um die Frage, ob die abduktiv gewonnene Hypothese (bzw. instinktive Vermutung) den empirischen Daten standhalten kann, d.h. ob sie ihre Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit auch während weiterer Untersuchungen bewahrt. Somit ist die Abduktion die erste Stufe auf dem Weg zu fundierter Erkenntnis – gefolgt von Deduktion und Induktion, welche die plötzlich intuitiv erschienene Erkenntnis bestätigen oder widerlegen.292 Ähnlich betont auch Geertz, die Analyse von Kultur ließe sich nicht nach Maßgabe einer inneren Logik formen, sondern begänne bei einem ersten vagen (ruckartig gewonnenen) Vorverständnis und würde erst nach und nach im Laufe des Analyseprozesses zu begründeten Aussagen gelangen.293 Peirce entwickelte seine Abduktion als Ergänzung zu den traditionell logischen Schlüssen von Induktion (Herleitung allgemeiner Regeln aus Einzelfällen) und Deduktion (Herleitung des Besonderen aus dem Allgemeinen). Diese beiden Formen der Erkenntnisgewinnung ziehen rational zielgerichtet Schlüsse, die abduktive Einsicht dagegen entzieht sich der bewussten Steuerung und Kontrolle des Verstandes294: „The mind, having less control over the workings of abductive ‚logic‘ than more willfully controlled deductive and inductive logic, is consequently privy to hardly more than the tip of the iceberg. Below the level of the mind’s conscious and wilful control, there is ,a vast complexus, which we may call the instinctive mind‘ (CP 5.212).“295

Heinz Moser erläutert zur Besonderheit des abduktiven Schließens im Prozess der Erkenntnisgewinnung, dass sich „die Abduktion als Versuch beschreiben [lässt], mit einem ‚Rate-Instinkt‘ Rätsel zu lösen und Schlussfolgerungen zu finden, die wird die Abduktionslogik (wieder die Parallele zur Hermeneutik) wichtiges Instrument zur Interpretation der Bedeutungsgehalte eines Textes. Die Lektüre eines Textes, so Wirth, ist ein Prozess des Aufstellens und Prüfens von Sinnhypothesen: „Der Leser nimmt dabei die Rolle eines Detektivs ein – Lesen bedeutet textuelle Spurensuche. Dergestalt verbindet der Modus des abduktiven Schlußfolgerns die Rollen des Detektivs, des Wissenschaftlers und des Lesers. Für alle drei geht es darum, die Zahl der möglichen Hypothesen zu verringern und zu plausiblen Interpretationen zu gelangen.“ (Ebd.) 292 Wirth 2005, 203 293 Geertz 1983a, 35-36 294 Wirth (1995) erwähnt, „daß abduktives Schlußfolgern überhaupt gelingen kann, ist Peirce zufolge das größte Wunder des Universums (CP 8.238). Er vermutet, der Mensch verfüge über einen instinktiven Spürsinn, der es ihm gestattet, die ‚geheimen Gesetze‘ seiner Lebenswelt zu erahnen. Dieser Instinkt basiert auf einer teils angeborenen, teils entwickelten ‚Affinität‘ zum natürlichen und kulturellen Kontext (CP 1.120)“. Die Abkürzung CP bezieht sich auf die Collected Papers von Charles Sanders Peirce (1931). 295 Queiroz, Merrell 2005, 4

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[...] ‚logisch illegitim‘ sind, aber, sofern sie stimmen, neue Informationen vermitteln, gerade weil sie nicht denknotwendig aus der theoretischen Vorgabe und der Beobachtung resultieren.“296 Peirce selbst erklärt dazu: „Abduction is the process of forming an explanatory hypothesis. It is the only logical operation which introduces any new idea; for induction does nothing but determine a value, and deduction merely evolves the necessary consequences of a pure hypothesis. Deduction proves that something must be; Induction shows that something actually is operative; Abduction merely suggests that something may be.“ 297 >Hervorhebungen im Original@

Das logische Schlussfolgern der Abduktion kann also als eine Art des intuitiven Ratens oder Vermutens verstanden werden. „Peirce ist“, so Moser, „ein Praktiker der Spurenrekonstruktion, der selbst die Kriminalisten [...] verblüffen könnte.“298 Ähnlich bemerkt Geertz, bei der Untersuchung von Kultur stellen symbolische Handlungen mutmaßlichen Signifikanten (Indizien) dar, welche beobachtet und festgehalten, herangezogen und geordnet werden können, um die nicht augenfälligen Bedeutungen sozialer Diskurse aufspüren zu können.299 An anderer Stelle schreibt Geertz, die Untersuchung von Kultur bestünde darin, „Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen; nicht aber darin, den Kontinent Bedeutung zu entdecken und seine unkörperliche Landschaft zu kartografieren.“ 300 Ähnliche Aussagen finden sich bei Uwe Wirth, wenn er erläutert, die Rolle des Semiotikers, der sich der Abduktion bedient, ist „nicht mehr nur die des regelanwendenden Richters, der die Erfahrung auf den kantischen ‚Zeugenstand der Vernunft‘ ruft, sondern die eines regelsuchenden Detektivs, der mit Hilfe seines ‚Spürsinns‘ den relevanten Aspekt einer Beobachtung findet, und sie in einen beweiskräftigen Begründungszusammenhang integriert.“ 301 Wirth fährt fort: „Die abduktive Wende ist durch die epistemologische Einsicht ausgezeichnet, daß der größte Teil unseres Wissens aus Mutmaßungen besteht, mithin hypothetisch und vorläufig ist, und daß unsere Hypothesen daher notwendigerweise zuerst einer experimentellen Prüfung unterzogen werden müssen, bevor sie mit Wahrheitsanspruch behauptet werden können. Bis dahin haben unsere Theorien ausschließlich operationellen und vorläufigen Charakter. Die Aufgabe

296 Moser 1995, 80, vgl. auch Wirth 2005, 203 297 Peirce 1931 298 Moser 1995, 80 299 Geertz 1983a, 37. Hervorhebung der Autorin. 300 Ebd., 30 301 Wirth 1995

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des Interpreten besteht darin, die Vorläufigkeit seiner Interpretation auszuhalten.“302 >Hervorhebungen im Original@

Abduktives Schließen steht damit in einem Spannungsverhältnis, da es „als Teil des logischen Prozesses zwar der rationalen Kontrolle zugänglich sein muß, sich andererseits jedoch gerade da der Kontrolle entzieht, wo sie ihre spezifische Leistung vollbringt: fruchtbare, wenn auch potentiell fallible Resultate hervorzubringen.“ 303 Dem würde sich Geertz wohl anschließen, denn auch er weist auf die notgedrungene und zugleich unaufhebbare „Spannung zwischen der Notwendigkeit, ein fremdes Universum symbolischen Handelns zu durchdringen, und den Erfordernissen eines technischen Fortschritts in der Kulturtheorie“ 304 zu entsprechen, hin. Darin, so Geertz, besteht gerade die besondere Schwierigkeit der Interpretation von Kultur, von Kulturtheorie.305 Ruckartiges Erkennen kann nicht erzwungen werden. Wenn es denn geschieht und der Ethnograf intuitiv Einsichten gewinnt, mögen diese zwar empirische Gültigkeit besitzen, sind aber zunächst nicht beweisbar. Sie sind keine „,wissenschaftlich überprüften und anerkannten‘ Hypothesen“ 306: „Sie sind Interpretationen oder Fehlinterpretationen wie alle anderen auch, auf die gleiche Weise entstanden und in sich ebensowenig schlüssig [...] und der Versuch, ihnen die Autorität physikalischer Experimente zu verleihen, ist nur ein methodologischer Taschenspielertrick.“307

Damit steht die unberechenbare Form der Erkenntnisgewinnung durch abduktives Schließen, sowie essayistisches Theoretisieren und die Entwicklung einer interpretativen Kulturtheorie im „Spannungsfeld zwischen dem ‚Kontext der Entdeckung‘ und dem ‚Kontext der Rechtfertigung‘“308. Genau in diesem Spannungsfeld scheinen sich wiederum die Kontroversen um die Wissenschaftlichkeit des Geertz’schen Ansatzes erklären zu lassen. Letztlich kann jedoch festgestellt werden, dass ein instinktives Vermuten im Sinne der Abduktionslogik in essayistischer Form wissenschaftliche Erkenntnismethode der dichten Beschreibung darstellt. Hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes der Anthropologie, des Menschen, der in seiner kulturellen und individuellen Vielfalt letztlich nie restlos erklärbar ist, hat diese offene Weise des Erkenntniswegs durchaus ihre Berechtigung. 302 Ebd. 303 Ebd. 304 Geertz 1983a, 35 305 Ebd. 306 Ebd., 33 307 Ebd. 308 Wirth 1995

400 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

3.2.5 Die Rolle der Hermeneutik und Phänomenologie in der dichten Beschreibung Es wurde bereits mehrfach auf die Rolle der Hermeneutik und der Phänomenologie bei der Entwicklung der dichten Beschreibung hingewiesen. In der Folge werden die Zusammenhänge konkretisiert. Zunächst wird die spezifisch Geertz’sche Nutzbarmachung hermeneutischer Prämissen, insbesondere die dialektische Dynamik zwischen Verstehen und Erklären zum Thema gemacht. Daran anschließend soll das phänomenologische Verständnis, das der dichten Beschreibung zu Grunde liegt, dargestellt und die Bedeutsamkeit einer diachronischen, sowohl auch synchronischen Analyse hervorgehoben werden. In einem dritten Schritt wird schließlich die innere Bezogenheit von Hermeneutik und Phänomenologie in deren Anwendung zur Erstellung dichter Beschreibungen dargelegt. Die Bedeutsamkeit der Verschränkung von erfahrungsnahen und erfahrungsfernen Begriffen in der ethnografischen Analyse soll abschließend behandelt werden. 3.2.5.1 Hermeneutik und die Dialektik von Verstehen und Erklären Die Hermeneutik (griech.: hermeneúein: auslegen, interpretieren‚ übersetzen, deuten) ist die Wissenschaft, die sich der Methode der Interpretation bedient, wenn das Verstehen des Sinns, d.h. der Bedeutung von Äußerungen und Handlungen nicht unmittelbar gelingen will. Dieses Nichtverstehen, beziehungsweise Unsicherheiten beim Deuten und Interpretieren der Beobachtungen und der Erlebnisse unter und mit den Menschen anderer Herkunft, ist bei der Erforschung fremder Kulturen unabdingbar immer wieder der Fall. Während sich die Hermeneutik im Mittelalter auf die Exegese meist biblischer Texte beschränkte, entwickelte sie sich in der Neuzeit zu einer erkenntnistheoretischen Lehre, welche die Voraussetzungen und die Methode möglichst adäquater Interpretationen sowohl von Texten als auch von sozialen Diskursen prüfte und zu entwickeln versuchte. Vor allem unter dem Einfluss Friedrich Schleiermachers (1768-1834) und Wilhelm Diltheys (1833-1911) galt die Hermeneutik im Laufe des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zu naturwissenschaftlichen Erkenntniswegen als besondere Methode der Geisteswissenschaften.309 Dem Begriff des „Verstehens“ fiel dabei zentrale Rolle zu. So beschrieb Wilhelm Dilthey Verstehen als einen Vorgang, in welchem aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkannt wird. 310 Mit

309 Die wichtigen Vertreter der hermeneutischen Tradition waren Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Dilthey, Hans-Georg Gadamer, Martin Heidegger, Paul Ricœur und Karl-Otto Apel. Sie setzten ihre eigenen Impulse in der Hermeneutik und entwickelten dabei entsprechend eigene Methoden, um zu sachgerechtem Verstehen zu gelangen. 310 Dilthey 1961, 318

D ISKUSSION DES KULTURANTHROPOLOGISCHEN A NSATZES VON CLIFFORD G EERTZ

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Hilfe der Beobachtung, des Erlebens von Zeichen (Symbolen), die äußerlich (öffentlich) zu Tage treten, versucht der Hermeneutiker den inneren Sinn dieser zu deuten, auszulegen und zu verstehen. Ziel des Verstehens ist der adäquate Rückschluss auf das Erleben (den Sinn, die Bedeutung), das hinter den beobachteten (symbolischen) Ausdrücken steht. Der Verstehensprozess gestaltet sich dabei nicht linear (im Sinne einfacher Kausalerklärungen), sondern zirkulär, denn Teile des Verstehens lassen Schlüsse auf ganzheitliche Zusammenhänge zu, welche anhand weiterer Beobachtungen, der Interpretation von weiteren Teilstücken, kritisch überprüft werden. Diese Schraubenbewegung von Teilverstehen, Verstehen ganzheitlicher Zusammenhänge und wieder Teilverstehen bei der Annäherung an den tatsächlichen Sinn beziehungsweise den Bedeutungsgehalt eines Textes oder eines sozialen Diskurses, kommt im hermeneutischen Zirkel zum Ausdruck. Dass Geertz’ interpretativer Verstehensansatz auf hermeneutischen Prämissen fußt, scheint offensichtlich. Er möchte es bei seinem Vorgehen jedoch nicht bei dem klassischen Dreischritt von Erleben bzw. Beobachten, Interpretation und Verstehen bewenden lassen, sondern zudem noch triftige Erklärungen mit allgemeingültigem Charakter abgeben können. Eine rein subjektive Interpretation ohne begriffliche Präzision sei, so Geertz, genauso wenig hilfreich wie eine völlig abgehoben abstrakte. Man würde ja auch nicht argumentieren, nur weil es eine völlig keimfreie Umgebung nicht gebe, könne man Operationen in einer Kloake vornehmen.311 Es geht Geertz um eine Dialektik von Verstehen und Erklären, die im hermeneutischen Zirkel eine eigene Dynamik entwickelt und zu sprunghaften, meist unerwarteten Erkenntnissen führt.312 Diesem Vorhaben liegt der Versuch zu Grunde, geisteswissenschaftliche Ansätze der Erkenntnisgewinnung, detaillierte Deutungs- und Verstehensvorgänge, mit empiristischen Prämissen zu verbinden, die in der Lage sind, zu allgemeineren Erklärungen für das beobachtete Phänomen zu gelangen. Ziel ist, ganzheitlich-synergetische Erkenntnisse zu erwirken, welche die Beschreibung des sozio-kulturellen Phänomens verdichten. Anders ausgedrückt, scheint Geertz zu versuchen, das eigentümlich Menschliche, die große Vielfalt menschlicher Seinsweisen, die sich nicht in (Natur-)Gesetze pressen lässt, nicht durch eine rein experimentelle Vorgehensweise in der Forschung zu verlieren und zugleich dennoch ein Begriffssystem zu finden, das sich expliziten Bewertungskriterien verpflichtet fühlt. Geertz erwähnt in diesem Zusammenhang, die Aufgabe der Theoriebildung in der Anthropologie sei eine doppelte:

311 Geertz 1983a, 42-43 312 Ebd., 36

402 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Sie besteht darin, Vorstellungsstrukturen, die die Handlungen unserer Subjekte bestimmen – das ‚Gesagte‘ des sozialen Diskurses –, aufzudecken und zum anderen ein analytisches Begriffssystem zu entwickeln, das geeignet ist, die typischen Eigenschaften dieser Strukturen (das was sie zu dem macht, was sie sind) gegenüber anderen Determinanten menschlichen Verhaltens herauszustellen.“313

Gottowik bemerkt in diesem Zusammenhang, das Geertz’sche Vorgehen könne als zweistufiger Prozess verstanden werden, wobei der erste Schritt aus der „Interpretation kulturspezifischer Bedeutungen ‚from the native’s point of view‘; der zweite aus der Übertragung dieser Interpretationen in ein wissenschaftliches Kategoriensystem“ besteht.314 Dieses Verständnis vom Ineinandergreifen deutenden Verstehens und analytischen Erklärens lässt sich auf Max Weber zurückführen, der, wie bereits unter 1.2.3 erwähnt, betont, Soziologie sei eine Wissenschaft, „welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“315. Auch Paul Ricœur hob, wie ausführlich in 1.2.5 erläutert, die Bedeutsamkeit beider Erkenntnisprozesse in ihrer Komplementarität und Reziprozität hervor, um ein ganzheitliches Bild des Menschenseins zu erhalten:316 „For Ricœur, the relationship between ‚understanding‘ and ‚explanation‘ is a kind of dialectic in which each ‚method‘ contributes to the full picture of human reality. They are not, or they should not be, in competition.“317 Beim spezifisch Geertz’schen Vorhaben vollzieht sich dieses dialektische Ineinandergreifen von Verstehen und Erklären im Hin-und-Her-Springen zwischen mikroskopischen Einzelheiten und deren Interpretationen, beziehungsweise in der akribischen Beobachtung und Deutung von Symbolhandlungen und einem vermuteten Gesamtbild, das darauf basiert. Die abstrakte Erklärung allgemeiner Zusammenhänge muss dabei dem konkreten Verstehen von Einzeldingen folgen. 318 Diese,

313 Ebd., 39 314 Gottowik 1997, 250 315 Weber 1984, 19 316 Vgl. Ricœur 2005, 86 317 Galis-Menendez 2004, 13 318 Es hat den Anschein, als würde Geertz detaillierten Beobachtungen und deren Deutung einen primären Stellenwert einräumen und abstrakten Erklärungen bzw. Theorien einen sekundären. Denn er betont (1983a, 38), es sei nicht falsch, theoretische Ideen aus verwandten Untersuchungen zu übernehmen – aber man müsse stets flexibel genug sein, diese wieder über Bord zu werfen, sollten sie beim Auftauchen neuer sozialer Phänomene untauglich sein. Man solle sich nicht von festgeschriebenen Theorien und einfachen Erklärungen verblenden zu lassen; sich eher offen und neugierig dem zuzuwen-

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auf den Einzelbeobachtungen beruhende Erklärung oder Theorie wird anhand wieterer empirischer Einzelerfahrungen im Feld überprüft und, wenn nötig, revidiert. Eine Theorie, so Geertz, muss nicht nur vergangenen Realitäten Rechnung tragen, „sie muss sich auch gegenüber kommenden Realitäten behaupten – d.h. als intellektuell tragfähig erweisen.“319 In der klassischen Bewegung des hermeneutischen Zirkels kommt der Forscher so grundlegenden Erklärungen immer näher. 3.2.5.2 Phänomenologie und die Dialektik von diachronischer und synchronischer Analyse Die Methode der Phänomenologie, wie sie Edmund Husserl begründete, ist die Nichtmethode, denn sie setzt am unmittelbaren Bewusstseinserleben an: Menschen erleben ihre Welt unmittelbar und brauchen dazu nicht erst eine bestimmte Methode. Im Bewusstsein haben Menschen einen direkten Zugang zu den Dingen, so wie sie sich zeigen, beziehungsweise wie sie dem jeweiligen Menschen erscheinen (griech. Phainomenon: das Erscheinende). Das Phänomen, das in der Welt „an sich“ Seiende, zeigt sich im Bewusstsein „für mich“. Die Frage nach Wahrheit oder Falschheit in der Erkenntnis des Phänomens „an sich“ wird dabei zunächst ausgeklammert, gültig ist die Erfahrung „für mich“.320 Die Wahrnehmung ist demnach ein aktives Vermögen des Bewusstseins. Die eigene Horizonthaftigkeit, sprich die eigene Situiertheit, beeinflusst die Wahrnehmung, sie wird gelenkt, ist intentional. Es besteht eine „bezügliche Intention“ 321 hinsichtlich dessen, was erkannt wird. Durch die so genannte Apperzeption wird dem Gehalt der Wahrnehmungsinformation Sinn (jeweils abhängig von der eigenen Horizonthaftigkeit) angeheftet. Waldenfels schreibt in diesem Zusammenhang vom Bewusstsein als die „Urstätte des Sinns“322. „Ich kann in keine andere Welt hineinleben, hineinerfahren, hineindenken, hineinwerten und -handeln, die nicht in mir und aus mir selbst Sinn und Geltung hat.“323 Husserls Phänomenologie wandte sich gezielt ab von naturwissenschaftlichen Prämissen der Objektivierung auf der einen und dem Psychologismus auf der anderen Seite. In der Rückbesinnung auf die Lebenswelt möchte sie Positivismus und Rationalismus verbinden. Anstatt ausgefeilte Hypothesen zu formulieren, engmaschige Experimente durchzuführen und distinkte Theorien aufzustellen, zielt das den, das man im Feld erlebt. Ganzheitliches Verstehen im Dort-Sein ist wichtiger, als Versuchsanordnungen, die Informationen immer schon kanalisieren. 319 Ebd. 320 Galis-Menendez (2004, 15) schreibt: „Husserl sought to look at the phenomena of consciousness and ‚bracket‘ them from any question of whether they are true or not.“ 321 Husserl in: Waldenfels 2001, 15 322 Ebd., 30 323 Husserl in: Eming 2004

404 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

Programm der Phänomenologie auf eine radikal vorurteilsfreie Erkenntnis resultierend aus dem Wie des Erscheinens der Dinge von sich aus. Mit seinem bekannten Motto: „Zu den Sachen selbst“ plädiert Husserl beim Versuch zu erkennen für eine zweckfreie Einstellung, für eine Haltung der Empfänglichkeit: Die Dinge sollen sich zeigen dürfen, wie sie sind beziehungsweise wie sie erscheinen. Die Erkenntnis entspringt dem sich Zeigenden. Anstatt also die Dinge in ein Methodenkorsett zu zwingen, besteht in der Offenheit und der Anerkennung für das sich Zeigende, in der interessensfreien Einstellung, die Chance auf wahrhafte Erkenntnis des Dinges, wie es sich eben dem Betrachter zeigt. Während die Naturwissenschaften die Wirklichkeit in ein „Ideenkleid“324 hüllen (und sich dessen häufig nicht bewusst sind, gehen sie doch von der Objektivität ihrer Erkenntnisse aus), möchte Husserl in seiner phänomenologischen Betrachtung die Lebenswelt vom Ballast der Objektivierung befreien. Ähnlich warnt Geertz davor, die Erforschung kultureller Symbolsysteme von ihrem eigentlichen Gegenstand, der „informellen Logik des tatsächlichen Lebens“, abzuscheiden und sie womöglich den Mängeln des Psychologismus oder des Schematismus zu unterwerfen, anstatt in akribischer Beschreibung wiederzugeben, wie sich lebensweltliche Symbole im Ablauf des sozialen Handelns offenbaren.325 Dabei geht es Geertz nicht um Festschreibungen, wie die Menschen einer Kultur sind, sondern vielmehr darum, wie sie sich selbst verstehen, welchen Sinn sie ihrem Handeln beimessen.326 Gottowik schreibt, die Einflüsse der Phänomenologie Husserls stärkten Strömungen in der Ethnografie, „die nach dem Selbstverständnis der untersuchten Gesellschaften fragen, und darin wichtige ethnografische Informationen sehen.“327 „Als so genannte ‚intentionale Daten‘ sollen sie die ‚funktionalen Daten‘ herkömmlicher Untersuchungen ergänzen und es darüber dem Forscher sogar erlauben, aus einer ‚ganzheitlicheren Betrachtung‘ heraus die Dichotomie von naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen zu überwinden.“328

Geertz bezieht sich bei seinem phänomenologischen Ansatz an mehreren Stellen vor allem auf Alfred Schütz329, der Husserls Lebensweltbegriff für soziologische Analysen nutzbar machte. Geertz stellt heraus, Schütz wollte die Bedeutungsstruk324 Husserl (1954, 52) erklärt dazu: „Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist.“ 325 Geertz 1983a, 25 326 Ebd., 292 327 Gottowik 1997, 42 328 Ebd. 329 Geertz 1983a, 75 ff, 139, 173; 1983b, 156; 1991, 136

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tur dessen aufdecken, „was er als die ‚ausgezeichnete Wirklichkeit‘ der menschlichen Entwicklung ansah: die alltägliche Lebenswelt, wie sie der Mensch vorfindet, tätig erlebt und durchlebt.“330 Die Kultur bzw. die Alltagswelt der Menschen, die in dieser leben, denken und handeln, gilt dabei als nicht hinterfragte, allgemeingültige Wirklichkeit. Diese wird kontinuierlich zwischenmenschlich symbolhaft ausgehandelt. Alle Tatsachen sind dabei interpretierte Tatsachen, die in symbolischer Form zu Tage treten und auf Sinn- und Bedeutungszusammenhänge verweisen. Geertz identifiziert mit Alfred Schütz die Common Sense Perspektive als den Wissensvorrat, der sozial tradiert der Lebenswelt zu eigen ist, als: „Weise des Sehens [...] die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Welt, deren Gegenstände und Prozesse einfach als das nimmt, was sie zu sein scheinen [...], sowie durch ein pragmatisches Motiv, nämlich den Wunsch, diese Welt entsprechend den eigenen praktischen Zielsetzungen zu gestalten, [...] oder, falls das nicht geht, sich ihr anzupassen.“331

Der einzelne Mensch wird in eine bestimmte sozio-kulturelle Lebenswelt (vgl. Bedeutungsgewebe) hineingeboren, die seit Generationen mit Sinn und Bedeutung gefüllt wurde: „Der festgelegte Schauplatz und vorgegebene Gegenstand unserer Handlungen ist die Alltagswelt, die ihrerseits natürlich Kulturprodukt ist, da sie sich im Rahmen symbolischer Vorstellungen von ‚unwandelbaren Tatsachen‘ formuliert, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie ist wie der Mount Everest einfach da.“ 332

Geschichte im phänomenologischen Theorem ist folglich „keine bloß äußere Tatsachengeschichte, sondern eine innere Sinngeschichte.“333 „Kultur“, so betont Geertz, „ist ein geschichtlich übermittelter Komplex von Bedeutungen und Vorstellungen, die in symbolischer Form zutage treten.“334 Eine dichte Beschreibung, die sich phänomenologischen Prämissen verpflichtet fühlt, darf, um zu stimmigen Ergebnissen zu kommen, Bedeutungsstrukturen somit nicht nur synchronisch, d.h. an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit analysieren, sondern muss auch deren Geschichtlichkeit mit in die Analyse einbeziehen. William Roseberry335 warf Geertz aber vor, sich zu einseitig dem Paradigma „Kultur als Text“ gewidmet und dabei die diachronisch-geschichtliche Perspektive in der Analyse vernachlässigt zu haben: 330 Geertz 1983a, 139 331 Ebd., 76 332 Ebd. 333 Waldenfels 1992, 38-39 334 Geertz 1983a, 2 335 Vgl. Roseberry 1982

406 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Roseberry argues that Geertz, by conceptualizing culture as a text, adopts an effectively idealist position, separating cultural products from their historical production and from the relations of power and domination in which they are necessarily enmeshed. He points out that Geertz fails to indicate how the contemporary Balinese cockfight has been shaped by gender relations, by politics of Balinese status formation – all of which are referred to, but never really taken up, in Geertz’s text. [...] Rather than conceptualizing culture as a text, Roseberry suggests, we should think of it as a ,material social process‘, as ,production‘ rather than as a ,product‘, constantly asking how, by whom, and for what ends it is being produced.“336

Ohne dass Geertz direkt auf die Kritik Roseberrys einging, schrieb er 1990 einen Artikel mit dem Titel History and Anthropology und setzte sich darin für eine dialektische Bezogenheit von diachronischer und synchronischer Analyse ein. Er betont unter Zuhilfenahme diverser Beispiele, wie Anthropologen und Historiker in der Zusammenarbeit voneinander profitieren könnten.337 Dabei müssten Historiker den Wert detaillierter Momentaufnahmen für die synchronische Analyse erkennen, sowie Anthropologen entwicklungsgeschichtliche Erklärungen für ihre diachronische Untersuchungen nutzbar machen – anstatt sich gegenseitig die unterschiedliche Schwerpunktsetzung als Mangel vorzuwerfen: „The penchant of historians for broad sweeps of thought and action, the Rise of Capitalism, The Decline of Rome, and of anthropologists for studies of small, well-bounded communities, the Tewa World (which?), The People of Alor (who?), leads to historians accusing anthropologists of nuancemanship, of wallowing in the details of the obscure and unimportant, and to anthropologists accusing historians of schematicism of being out of touch with the immediacies and intricacies, ,the feel‘, as they like to put it, considering themselves to have it, of actual life.“ 338

Nachfolgende Grafik soll die dynamische Balance beider Disziplinen, bzw. das positive Spannungsverhältnis von Zeitlichkeit und Andersheit als „Achsen der

336 Sewell in: Ortner 1991, 36 337 Robert Darnton unterrichtete 25 Jahre lang in Princeton immer wieder einmal Vorlesungen gemeinsam mit Geertz: er als Historiker, Geertz als Anthropologe. Darnton (2007) berichtet, er habe zunächst das Fach The History of Mentalities allein unterrichtet, als ihn Geertz eines Tages fragte, was denn Historiker unter „Mentalitäten“ verstünden. Er fährt fort: „After I stammered out some kind of reply, he said, ‚Sounds like anthropology‘. Weiter schreibt Darnton: „The two disciplines seemed to be made for each other: what historians studied at a far remove in time, anthropologists examined far away in space. The ,what‘ in question was the je-ne-sais-quoi called culture.“ 338 Geertz 1990, 321-322

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Differenz“339 zum Ausdruck bringen. Eine rein geschichtliche Analyse steht in der Gefahr, kulturelle Besonderheiten in der Zeit zu verlieren, eine Anthropologie, welche historisches Wachstum einer Kultur nicht mit berücksichtigt, wird statisch und unbeweglich. Sie steht in der Gefahr, in ihren Aussagen zu einer Kultur wichtige Aspekte zu übersehen. Um dicht beschreiben zu können, bedarf es folglich einer phänomenologischen Betrachtung die sowohl diachronische als auch synchronische Perspektiven einbezieht.340 Abbildung 1: Dialektik von diachronischer/synchronischer Analyse Diachron./Geschichte historische Analyse In der Zeit; Prozess

Spannungsverhältnis dynamische Balance

Synchron./Anthropologie systemische Analyse Im Raum; Produkt

Gefahr

Gefahr

Verloren in der Zeit

Statisch, unbeweglich

„schematicism; out of touch with the immediacies and intricacies […] of actual life“ (Geertz 1990, 231-322)

„nuancemanship, wallowing in details of the obscure and unimportant“ (Ebd.)

Unsaubere Analyse Überbewertung

Quelle: B.S.

Um beispielsweise adäquate Ausbildungssysteme in der kanadischen Arktis zu implementieren, damit die Inuit für ein Leben in der Moderne besser ausgerüstet sind, müssten sowohl die derzeitigen Gegebenheiten, als auch geschichtlich tradierte Formen der Wissensvermittlung analysiert werden. Eine einfache Bestandsaufnahme der aktuellen Situation greift zu kurz. Es reicht nicht festzustellen, dass Jugendliche (und oft auch deren Eltern) die Schule und deren Lerninhalte offensichtlich als überflüssig erachten und lieber auf die Jagd gehen oder „rumhängen“, die Regierung infolgedessen entsprechende Gesetze erlässt und Kinder mit Polizeigewalt in die Schulen gebracht werden. Eine detaillierte Forschung hinsichtlich dessen, welche Schwerpunkte traditionell in der Erziehung gesetzt und wie Kindern Wissen vermittelt wurde, ist nötig, um sensibel für die kulturellen Präferenzen ein Schulsystem einzuführen. Dies ist Erfolg versprechender als ein Schulkurrikulum, welches ursprünglich für Menschen mit völlig anderer kultureller Herkunft entwickelt wurde. Eine „looking backwards/looking sideways sort of study“ 341 der Gesell-

339 Garfield 2000, 48 340 Sewell in: Ortner 1991, 37 341 Geertz 1990, 325

408 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

schaftsstruktur könnte zudem wertvolle Hinweise liefern, welche Rolle beispielsweise Autoritätspersonen in der Gemeinschaft spielten und wie Polizisten oder Lehrer ausgebildet werden müssten, um dieser besser zu entsprechen. Der Historiker William Sewell weist auf die Attraktivität des Geertz’schen Ansatzes für seine Disziplin hin, wenn er betont, dass Historiker und Anthropologen letztlich denselben Gegenstand zur Untersuchung haben: die Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen. Historiker möchten diesen in der Zeit erklären, Anthropologen im Raum: „If historians have been particularly susceptible to Geertz’s charms, it is partly because history is built on an analogous seduction. [...] History, like anthropology, specializes in the discovery and display of human variety, but in time rather than in space.“342 Geertz würde dem wohl zustimmen, denn er betont: „The centrifugal movement – any time but now, any place but here – that still marks both enterprises >history and anthropology@, their concern with what has recently come to be called, with postmodern capital letters, and poststructuralist shudder quotes, ,The Other‘, assures a certain elective affinity between them. [...] Dealing with a world elsewhere comes to much the same thing when elsewhere is long ago as when it is far away.“343

Dennoch gibt es, so stellt Geertz heraus, distinkte Unterschiede, ohne die der synergetische Effekt in der wechselseitigen Bezogenheit beider Disziplinen nicht möglich wäre: „Anthropology gets the tableau, History gets the drama; Anthropology the forms, History the causes.“344 Die gelungene Kombination von historischer und sturktureller Analyse ist nicht eine Sache der Verschmelzung, „but of redefining them in terms of one another by managing their relations within the bounds of a particular study.“ 345 Das Unterfangen, den gleichen Gegenstand („The Other“) von unterschiedlichen Perspektiven, der zeitlichen und der räumlichen, zu betrachten, spiegelt den phänomenologischen Versuch, möglichst viele Horizonte beziehungsweise Perspektiven in die Forschung hineinzunehmen, um dem Gegenstand der Untersuchung so gut wie möglich gerecht werden zu können.346 So betont Sewell: „I would argue that no account of a historical transformation can be cogent unless it performs a dialectical oscillation between synchronic and diachronic thinking. We should, in my 342 Sewell in: Ortner 1991, 38 343 Geertz 1990, 323 344 Ebd., 326 345 Ebd., 329 346 Diese Dialektik findet sich bereits in den von Kant herausgearbeiteten Kategorien von Raum und Zeit hinsichtlich der Erkenntnisfähigkeit des Menschen als a priori Formen der Anschauung.

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opinion, pay more literal attention to the word ,transformation‘, whose two roots – ,trans‘ and ,form‘ – signal precisely the necessary joining of diachrony and synchrony.“347

3.2.5.3 Zur dialektischen Bezogenheit von Phänomenologie und Hermeneutik Beide Aspekte der Theoriebildung, phänomenologische Beobachtungen und hermeneutische Erklärungsversuche, ergänzen sich in der dichten Beschreibung wechselseitig. Die Besonderheit dabei ist, dass Geertz empirisch-angewandt vorgehen möchte, nicht rational-theoretisch348. Phänomenologie und Hermeneutik dienen als konzeptueller Rahmen, in welchem Geertz seine Forschung betreibt. Er möchte sich dabei auf keine bestimmte Theorie festlegen, bedient sich vielmehr pragmatischangewandt verschiedenster Konzepte, um nicht die „Verbindung zur harten Oberfläche des Lebens“349 zu verlieren. In diesem Sinne resümiert Micheelsen: „Geertz emphasizes his attempt to exercise an applied pragmatic phenomenological and hermeneutical method without any general theory of meaning, phenomenology, or culture. He maintains that he only has a conceptual framework inspired by different scholars, which nevertheless has consistent focus and perspective, i.e., meaning and symbol.“350

Philosophen suchen nach allgemeinen Möglichkeiten des Wissens und der Erkenntnis. Geertz dagegen ist als Anthropologe an Einzelaspekten tatsächlicher Erfahrungen interessiert, welche er mit Hilfe der Phänomenologie und der Hermeneutik zu verstehen und zu erklären versucht. Anders ausgedrückt, möchte Geertz nicht in erster Linie Dörfer untersuchen, sondern er möchte in Dörfern seine Untersuchungen anstellen.351 Geertz selbst beschreibt seine Herangehensweise wie folgt: „I work directly empirically. Therefore, whatever phenomenological developments occur in my thoughts, occur in the context of analyzing the material. Consequently it is not a prior notion or a prior philosophy of culture that I have. [...] I think that phenomenology of culture is what I have been doing in all my work. [...] Maybe I did not use those terms, but that is the general approach I have, i.e., to describe the life world in which people live. [...] As time goes, I have become more interested in how people see things and how they understand their life world. [...] Hermeneutics inevitably takes you into phenomenology, or at least a phenomenological descriptive approach. Again – I work empirically. Both Ricœur and Gadamer are interested in the general possibility of knowledge, which I have learned a lot from, but it is 347 Sewell in: Ortner 1991, 42 348 Micheelsen 2002, 4 349 Geertz 1983a, 43 350 Micheelsen 2002, 2 351 Geertz 1983a, 32

410 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS not what I am doing. I am trying to get some knowledge about some thing. I am trying to have an applied phenomenology, an applied hermeneutics, to really do a hermeneutic job on whatever it is that I am trying to understand. [...] So I see myself as belonging to the phenomenological tradition, although my work tends to be a little shy of a general philosophy of culture.“352 [Hervorhebungen im Original]

Angewandte Phänomenologie und Hermeneutik bedingen sich im interpretativen Theorem des Geertz’schen Ansatzes wechselseitig: Der Ethnologe beobachtet beispielsweise intensiv und akribisch ein Ritual, eingebettet in den gesamtkulturellen Kontext, und verfasst anschließend eine detaillierte Beschreibung davon (Phänomenologie). In dieser Niederschrift versucht der Anthropologe Rückschlüsse auf Sinn- und Bedeutungsgehalte der Lebenswirklichkeit der Menschen zu ziehen, indem er das Geschehnis interpretiert (Hermeneutik). Mit den gewonnen Erkenntnissen aus dieser dichten Beschreibung können weitere Einzelbeobachtungen angestellt, kulturelle Symbole interpretiert werden, welche die bestehende Erkenntnis vertieft bzw. verdichtet. Phänomenologie und Hermeneutik stehen in einem dialektischen Verhältnis, sie ergeben einen eigenen hermeneutischen Zirkel, der bei jeder Bewegung den Verstehenshorizont erweitert, die Erklärung tiefer gründet. „Practically, two approaches, two sorts of understanding, must converge if one is to interpret a culture: a description of particular symbolic forms (a ritual gesture, a hieratic statue) as defined expressions; and a contextualization of such forms within the whole structure of meaning of which they are part and in terms of which they get their definition. This is, of course, nothing but the by-now-familiar trajectory of the hermeneutic circle: a dialectical tacking between the parts which comprise the whole and the whole which motivates the parts, in such a way as to bring parts and whole simultaneously into view. [...] In order to follow a baseball game one must understand what a bat, a hit, an inning, a left fielder, a squeeze play, a hanging curve, or a tightened infield are, and what the game in which these ,things‘ are elements is all about. [...] The two sorts of understanding are inseparable dependent upon one another, and they emerge concurrently. You >can not@ know what a catcher’s mitt is without knowing what baseball is.“353

An anderer Stelle verweist Geertz noch einmal auf den hermeneutischen Zirkel und bemerkt, dass dieser ebenso zum Durchdringen der Denkweisen anderer Völker geeignet sei wie zum Interpretieren literarischer Darstellungen. Es handle sich dabei um ein „dialektisches Lavieren zwischen kleinsten lokalspezifischen Details und umfassenderen Strukturen:“354 „So springen wir ständig von einer Seite auf die an352 Micheelsen 2002, 4-5 353 Geertz 1980, 103-104 354 Geertz 1983a, 307

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dere, betrachten das Ganze aus der Perspektive seiner Teile, die ihm zu Lebendigkeit und Nähe verhelfen, und die Teile aus der Perspektive des Ganzen, aus dem sie verständlich werden.“355 Abbildung 2: Dialektisches Lavieren: Phänomenologie und Hermeneutik

Phänomenologie – Teile Akribische Beschreibung lokalspezifischer Details (einzelne Symbolhandlungen).

Kultur als Symbolsystem

Symbol

Symbol

Symbol

Symbol

Hermeneutik – Ganzes Verstehen und Interpretieren allgemeiner Sinn- und Bedeutungszusammenhänge von kulturellen Symbolen.

Hermeneutischer Zirkel

Quelle: B.S.

Geertz orientiert sich bei dieser Pendelbewegung an öffentlich beobachtbaren Symbolsystemen der Einheimischen und stellt sich abwechselnd die Frage: „Welche allgemeine Form weist ihr Leben auf?“ und „Welches sind die materiellen Träger dieser Form, in denen sie sich verkörpert?“356 Wohl bekanntestes Beispiel von Clifford Geertz für eine solch dialektische Bewegung auf dem Weg zur Erkenntnisgewinnung über die Vorstellungswelt und Denkweisen eines fremden Volkes ist seine Beschreibung des balinesischen Hahnenkampfes. Geertz erklärt dazu: „When I first observed the cockfight, I had no idea at all of what was going on. Hence, I tried to clarify what was going on because I didn’t understand it. A pure description might point toward gambling, but it was clearly more than that. What I wanted to do was to understand or to clarify the fight, to understand how the participators might understand it and, at the same time, try to show how such an analysis should be done. The cockfight analysis is thus a model or an example of how to do this kind of work. You try to understand how they make sense of their world. In that way, it is phenomenological and hermeneutic. It is an attempt to under-

355 Ebd. 356 Ebd., 308

412 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS stand things from the native’s point of view. Nevertheless, it is on our terms, i.e., the observer’s.“357

Geertz möchte kulturelle Symbole unter Zuhilfenahme der phänomenologischen Betrachtung möglichst aus der Perspektive der Einheimischen beschreiben – und nicht nur so, wie er als Ethnologe meint, sie verstanden zu haben. Es geht ihm um eine besondere Form der Übersetzung, um ein „catching of ‚their‘ views in ‚our‘ vocabulary“358, bei welcher die Absonderlichkeiten der zu untersuchenden Kultur gewahrt bleiben sollen. Um nicht nur dünn zu beschreiben, sondern dicht, bedarf es zusätzlich der Hermeneutik, die nach dem Sinn und der Bedeutung kultureller Handlungen fragt. „,Translation‘ here is not a simple recasting of others’ ways of putting thing in terms of our own ways of putting them [...] but displaying the logic of their ways of putting them in the locution of ours; a conception which again brings it rather closer to what a critic does to illumine a poem than what an astronomer does to account for a star.“359

Geertz möchte also nicht einfach ein kulturelles Symbolsystem analysieren, wie es sich ihm darbietet, sondern er möchte darüber hinaus möglichst nahe an der Perspektive der Einheimischen verstehen, welche Bedeutung diese in den jeweiligen Systemen finden; wie beispielsweise Ethos und Weltbild der Menschen von Religion beeinflusst und geprägt werden. Anders ausgedrückt, möchte Geertz nicht nur beschreiben, was sich ihm phänomenologisch darbietet, sondern darüber hinaus interpretieren, wie die Einheimischen ihre Welt interpretieren, welche Bedeutung sie ihren Handlungen beimessen. Er möchte Außensicht und Innensicht einander in Beziehung setzen. Micheelsen stellt in diesem Zusammenhang heraus, Geertz verbinde in seinem phänomenologisch-hermeneutischen Ansatz das besondere Was des Gegebenen mit dem allgemeinen Wie: „We seldom analyze (or interpret) religion as a phenomenon sui generis, but rather as a model for interpretation, i.e. we interpret interpretations. Geertz [...] has stressed the interpretative function of religion for the believer. Nevertheless this changes several things, for we now have to clarify what it is we wish to study. Is it our task to study what a religion means, or is it our task to study how religion generates and articulates meaning? It is my view that Geertz is concerned with both issues, which is why he applies and combines a phenomeno-

357 Micheelsen 2002, 10 358 Geertz 1983a, 10 359 Ebd.

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logical and hermeneutical perspective. If this is the case then the specific what and the general how is combined in Geertz’s method and therefore one cannot do without the other.“360

In dieser Verbindung gelingt es Geertz, das Relative absolut zu beschreiben und das Absolute relativ. Es gelingt ihm, das kulturell Eigentümliche in allgemeine Begriffe zu hüllen, ohne sie deren Eigentümlichkeit zu berauben. „Das Verstehen der Kultur eines Volkes“, so bemerkt er, „führt dazu, seine Normalität zu enthüllen, ohne dass dabei seine Besonderheit zu kurz käme.“ 361 3.2.5.4 Zur Dialektik von erfahrungsnahen und erfahrungsfernen Begriffen Um die Dialektik von Innen- und Außensicht, von Besonderheit und Normalität, von Eigentümlichkeit und Allgemeinheit, von spezifisch-detaillierter Beschreibung und abstrakter Erklärung bei der Untersuchung einer Kultur zu illustrieren, führt Geertz die Unterscheidung von erfahrungsnahen (emischen) und erfahrungsfernen (etischen) Begriffen ein.362 Erfahrungsnahe Begriffe sind, laut Geertz, solche, die Menschen innerhalb einer Kultur verwenden, um sich zu verständigen und über Bedeutungsgehalte auszutauschen. Dies geschieht meist unbewusst und unreflektiert. Erfahrungsferne Begriffe werden von Spezialisten benützt, die gewissermaßen von einer Außenperspektive Aussagen über gewisse Zusammenhänge machen wollen. Erfahrungsnahe und erfahrungsferne Begriffe stellen nach Geertz keine „polaren Gegensätze“ dar, sondern vielmehr „graduelle Abstufung“ 363. Geertz behauptet, dass keiner der beiden Sichtweisen bei der ethnografischen Forschung ein Vorzug einzuräumen wäre, vielmehr stehen sie in einem dialektischen Beziehungsverhältnis, da jede in der Analyse für sich allein genommen, spezifische Probleme mit sich bringt: „Wenn sich der Ethnograph auf erfahrungsnahe Begriffe beschränkt, verliert er sich in einer Flut von Unmittelbarkeit und bleibt dem örtlichen Dialekt verhaftet. Wenn er sich auf erfahrungsferne Begriffe beschränkt, scheitert er an Abstraktion und verfällt in Jargon.“ 364

In der dialektischen Bewegung von detaillierter, kontextueller Betrachtung und dem Versuch zu verstehen, wie sich die Einheimischen selbst verstehen, zeichnet sich eine synergetische Bezogenheit von phänomenologischer Distanz erfahrungsferner Begriffe und hermeneutischer Nähe erfahrungsnaher Begriffe ab. Beide Aspekte 360 Micheelsen 2002, 19 361 Geertz 1983a, 21 362 Ebd., 290 363 Ebd., 291 364 Ebd.

414 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

„brauchen“ sich gegenseitig, um nicht in ihre Extreme zu fallen: Ersteres steht in Gefahr, in allzu abstrakten Begriffen abgehoben vom tatsächlichen Leben der Einheimischen, dieses nur dünn zu beschreiben, Letzteres dem Subjektivismus anheimzufallen, und in das jeweilige zu untersuchende kulturelle System verstrickt, dieses nicht mehr von außen betrachten zu können. Geertz betont, die Erforschung von Kultur dürfe nicht von der informellen Logik der Lebenswelt abgeschnitten werden und müsse sowohl von den Mängeln des Psychologismus, wie des Schematismus befreit werden.365 An anderer Stelle stellt er heraus, dass ihn die Behauptung, irgendeine fortgeschrittene, abstrakte Form des Denkens würde helfen, die Menschen zu verstehen, ohne sie zu kennen, genauso wenig überzeugt, wie die Forderung, jegliche Objektivität aufzugeben und nur noch seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.366 Erfahrungsferne und erfahrungsnahe Begriffe in der ethnografischen Analyse erzeugen in ihrer dialektischen Bezogenheit ein positives Spannungsverhältnis. Dies verhindert einerseits, dass die Beschreibung sich rein mit abstrakten Begriffen zufrieden gibt und damit oberflächlich und dünn ausfällt. Andererseits kann man davon absehen, behaupten zu müssen, den Einheimischen mit einer außerordentlichen Sensibilität begegnet zu sein. Abbildung 3: Dialektik von erfahrungsnahen und erfahrungsfernen Begriffen Erfahrungsfern/Etisch Analytisches Begriffssystem Verstand (sense)

Spannungsverhältnis dynamische Balance

Vorstellungen aufdecken Verstehen (sensibility)

Gefahr

Gefahr

Abgehobene Analyse Szientistischer Kabbalismus Schematismus

Erfahrungsnah/Emisch

Unsaubere Analyse Überbewertung

Subjektivismus Psychologismus

Quelle: B.S.

In diesem Ausjonglieren der beiden begrifflichen Ebenen besteht die schwere Aufgabe von Ethnografen, fremde Vorstellungsstrukturen, manifestiert in erfahrungsnahen Begriffen, mit analytisch-erfahrungsfernen Begriffen so zu kombinieren, dass Aussagen darüber getroffen werden können, welche Rolle kulturellen Systemen im menschlichen Leben allgemein zukommen. Oder anders formuliert, sucht Geertz im Hin-und-her zwischen erfahrungsnah und erfahrungsfern ein neues Vokabular, mit dem es möglich wird, allgemeine Aussagen zu treffen, ohne dabei den Boden der tatsächlichen Komplexität menschlichen Seins aus den Augen zu verlieren. 365 Ebd., 25 366 Ebd., 42-43

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„Das Ziel dabei ist es, aus einzelnen, aber sehr dichten Tatsachen weit reichende Schlussfolgerungen zu ziehen und vermöge einer präzisen Charakterisierung dieser Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext zu generellen Einschätzungen der Rolle von Kultur im Gefüge des kollektiven Lebens zu gelangen.“367

Diese Kombination von Erfahrungsnähe und Erfahrungsferne beginnt indirekt schon bei der Arbeit im Feld. Geertz bemerkt, als Ethnologe müsse man Freunde finden unter seinen Informanten und Informanten unter seinen Freunden: „one must see society as an object and experience it as a subject.“368 In diesem Zusammenhang plädiert Geertz für eine Haltung interessierter Distanz („scientific detachement“ 369), die sich weder einfühlen, noch abgehobene Erklärungen geben möchte. Sie zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie unter Zuhilfenahme erfahrungsnaher und erfahrungsferner Begriffe ein fremdes Symbolsystem von innen heraus verstehen und von außen analysierend erklären möchte. In diesem positiven, wenn auch anstrengenden Spannungsverhältnis ließe sich, so argumentiert Geertz, die Kluft zwischen rationaler, begrifflicher Festschreibung beobachteter Phänomene und einfühlendem Verstehen, von sense und sensibility, überwinden. Zugleich ließe sich verhindern, dass eine der beiden Seiten überbewertet würde, die Beschreibung abgehoben und abstrakt oder zu subjektiv-emotional würde: „Detachment comes not from a failure to care, but from a kind of caring resilient enough to withstand an enormous tension between moral reaction and scientific observation, a tension which only grows as moral perception deepens and scientific understanding advances. The flight into scientism, or, on the other side, into subjectivism, is but a sign that the tension cannot any longer be borne, that nerve has failed. [...] Values are indeed values, and facts, alas, indeed facts. But to engage in that style of thinking called social scientific is to attempt

367 Ebd., 40. Die Nähe zu Paul Ricœur ist hier offensichtlich: „Ricœur suggests that explanation provides a ‚critical moment‘ in the overall process of understanding. In his words, ‚understanding precedes, accompanies, closes and thus envelopes explanation. In return, explanation develops understanding‘. Using this model, we would first develop a preliminary understanding of a religious phenomenon based on initial descriptions, our preconceptions and intuitions. We would then use explanations and functions to analyse religion from a distance. And finally, educated by explanations, we would return to try to understand the world in which the religious participant lives. This last step of ,post critical‘ understanding will require us to utilize our own world horizon as a reference point.“ (Kepnes 1986 512) Inwiefern sich Geertz hier dennoch von Ricœur unterscheidet, wurde bereits ausführlich unter 1.2.5 diskutiert. 368 Geertz 2000a, 39 369 Ebd., 38

416 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS to transcend the logical gap that separates them by a pattern of conduct, which enfolding them into a unitary experience, rationally connects them.“370

Ein Beispiel soll das Gesagte verdeutlichen. Will man als Sozialarbeiterin in einer Inuitgemeinde adäquate Sozialprogramme anbieten, sollte man auf jeden Fall versuchen, sich nicht in die Dynamiken des sozio-kulturellen Systems verstricken zu lassen. Dies kann leicht geschehen. Denn gerade in Gemeinden, in welchen nur wenige Familien leben, die auf Jahrhunderte andauernde Fehden zurückblicken, versuchen die Menschen nicht selten, sich einen Machtzuwachs dadurch zu sichern, dass sie die Experten aus dem Süden „auf ihre Seite“ ziehen und sie gegen die Konkurrenten ausspielen. Zugleich ist es natürlich wichtig, sich den Menschen zu nähern, ihnen zuzuhören und sie auf eigene Ressourcen aufmerksam zu machen, damit sie ermutigt und befähigt werden, ihre persönliche Lebenssituation eigenverantwortlich zu verbessern. Vor allem hinsichtlich der Implementierung von Sozialprogrammen ist es immens wichtig, zunächst einmal den Menschen zuzuhören, sich auf Erfahrungsnähe einzulassen, um nicht ignorant an den Bedürfnissen der Menschen vorbei Programme einzuführen, die für diese keinen Sinn machen. Zugleich hilft der distanzierte Blick aus der Erfahrungsferne, Zusammenhänge zu verstehen, welche die Menschen in ihrer Verwobenheit in das sozio-kulturelle Netzwerk so nicht sehen können. Der Balanceakt zwischen der Öffnung für die Menschen, die auch damit etwas zu tun hat, eigene Vorstellungen hintenanzustellen, manchmal sogar aufgeben zu müssen, und der Bedeutsamkeit der Fremdperspektive, die den Menschen etwas bieten kann, das ihnen hilft, vor allem in Zeiten der Zerrissenheit neue Sichtweisen und Zukunftsvisionen zu entwickeln, ist schwierig – aber er ist nötig, um in der Nähe nicht den Überblick und in der Distanz nicht tiefere Einblicke zu verlieren.

370 Ebd., 41

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3.3 V ORSCHLAG DES DIALOGISCHEN V ORGEHENS E RGÄNZUNG ZUR DICHTEN B ESCHREIBUNG

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ALS

Das Ereignis des Antwortens definiert sich nicht durch das Ich des Sprechens, sondern das Ich bestimmt sich umgekehrt durch das Antworten als Antwortender. Wo neuartige Gedanken entstehen, gehören sie weder mir noch dem Anderen. Sie entstehen zwischen uns. Ohne dieses Zwischen gäbe es keine Intersubjektivität und Interkulturalität, die ihren Namen verdient. Es bliebe bei der bloßen Erweiterung oder Vervielfältigung des Eigenen, das Fremde wäre immer schon zum Schweigen gebracht.371 BERNHARD WALDENFELS

Die Fokussierung auf den Dialog in der ethnografischen Forschung ist nicht neu.372 Kevin Dwyer, Dennis Tedlock, Bruce Mannheim, Barbara Tedlock, Johannes Fabian, Ewald Terhart, Steven Webster, Bob Scholte, aber auch Vincent Crapanzano, James Clifford und George Marcus kritisierten scharf ein rein monologisches, beziehungsweise „analogisches“373 Vorgehen in der Anthropologie und die einseitig-autoritative Darstellung einer abstrahierten, textgewordenen Realität. Sie forderten ein diskursives Modell ethnografischer Praxis, dies sowohl bei Prozessen der Erkenntnisgewinnung als auch bei der Darstellung der Ergebnisse. Durch die dialogische Rückbindung interpretativ gewonnener Erkenntnisse an die Eigenperspektive der Menschen vor Ort könne zudem eine „kommunikative Validierung“ 374 statt-

371 Waldenfels 1997, 53 372 Vgl. Clifford 1983, 135-142, Tedlock B. 1991, 79 ff 373 Die Unterscheidung von analogischer und dialogischer Anthropologie stammt von Dennis Tedlock (1986, 485), der analogisches Vorgehen wie folgt definiert: „Analogical Anthropology [...] invovles the replacement of one discourse with another. It is claimed that this new discourse is, however far removed it may seem to be, is equivalent or proportionate, in a quasimathematical sense, to the previous discourse. Analogos in Greek, literally means ,talking above‘, ,talking beyond‘, or ,talking later‘, as contrasted with the talking back and forth of the dialogue. The dialogue is a continuing process and itself illustrates process and change; the analogue, on the other hand, is a product, a result.“ >Hervorhebung im Original@ 374 Terhart 1981, 772

418 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

finden und den Forschungsergebnissen damit größerer Wahrheitsgehalt zugesprochen werden. Nicht zuletzt ausschlaggebend für die Hinwendung zu dialogischen Ansätzen in der Ethnografie war der Wandel äußerer Bedingungen ethnologischer Forschung in den letzten Jahrzehnten. Globalisierung und Modernisierung verdrängten die Vorstellung des einsamen Forschers, der fernab der Heimat dem eigenen Forschungsinteresse folgt. Dieses Bild muss zunehmend dem Anspruch der zu studierenden Menschen weichen, in die Forschung aktiv involviert zu werden, mitreden zu wollen. Dies lässt sich an verschiedener Stelle festmachen. Angefangen von der Erhebung von Urheberrechten indigener Gruppierungen auf Mythen, Sagen und Geschichten, bis hin zu Forschungsprojekten, die von den Einheimischen selbst durchgeführt und in Auftrag gegeben werden, kann ethnologsiche Forschung nicht mehr einseitig durchgeführt werden. Sie muss sich mehr und mehr öffnen für partizipatorische Projekte von Forschergruppen und Teams zusammengesetzt aus Menschen unterschiedlicher Herkunft. In der Folge sollen einige gewinnbringende Gesichtspunkte des dialogischen Vorgehens in der ethnologischen Forschung diskutiert werden. Sowohl während der Phase der Erkenntnisgewinnung im Feld, als auch bei der Darstellung der Ergebnisse, bis hin zu Möglichkeiten der Verifizierung, soll hier die Strategie des Dialogs als wertvolle Ergänzung zum Geertz’schen Projekt vorgeschlagen werden. Aspekte partizipatorischer Forschungsprojekte werden dabei gesondert herausgearbeitet. Abschließend stehen noch Überlegungen zum Meta-Dialog zwischen Forscher und Methode zur Diskussion. 3.3.1 Kritik zum fehlenden Dialog bei Geertz Verfechter des dialogischen Paradigmas in der ethnologischen Forschung kritisieren, dass Geertz an kaum einer Stelle intensiver seine Beziehung zu einzelnen Menschen im Feld beschreibt. Hier und dort erwähnt er Informanten oder erzählt Geschichten, die diese ihm erzählten, meist berichtet er aber verallgemeinernd von den Balinesen oder den Marokkanern und verschwindet oftmals selbst völlig aus dem Text.375 Damit bleibt Geertz, so seine Kritiker, einer monologischen Tradition

375 Vgl. Rudolph 1992, 49; Wolff 1992, 348; Crapanzano 1992, 63. Geertz selbst scheint sich dessen bewusst zu sein, betont er doch im Gespräch mit Panourgiá (2002, 428): „There is a phrase by David Hoffman, the painter who said that ,Our big mistake was to describe the world as though we were not in it.‘ And anthropology did that, including me [...] But I spent two and a half years in Javanese society and to describe this Javanese town as though I were not there, I mean it is just false.“

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in der Ethnografie verhaftet.376 Er möchte mit seinem Paradigma des Lesens eine andere Kultur, ein Symbolsystem beziehungsweise die Bedeutung dessen für die Menschen, mit einer gewissen Distanz von außen wie einen Text interpretieren. Anstatt mit den Menschen im Feld in Beziehung zu treten, mit ihnen Gespräche zu führen, will Geertz diesen vornehmlich über die Schulter blicken, um das Ensemble der Texte, das von diesen geschaffen und für sie gedacht ist, zu interpretieren. 377 Vincent Crapanzano bemängelt diesbezüglich, Geertz marginalisiere damit einzelne Individuen, welchen letztlich zu Pappfiguren reduziert, vielerlei Erfahrungen, Dispositionen, Vorstellungen zugeschrieben werden: „There is never an I-you relationship, a dialogue, two people next to each other reading the same text and discussing it face-to-face, but only an I-they relationship.“378 Ähnlich beanstandet auch Dennis Tedlock: „Turning to Clifford Geertz’s fist-person account of a Balinese cockfight, we find once again that the natives have very little to say, and on the one occasion when they speak their own tongue, they do so collectively. That is when the authorities arrive and everybody shouts [...], pulisi, pulisi!“379

Interessant sei, so bemerkt Tedlock, dass Geertz sich zumindest theoretisch für ein dialogisches Vorgehen ausspricht,380 praktisch jedoch in seinen dichten Beschreibungen rein monologisch vorgeht und damit den einheimischen Diskurs zumindest seinen Lesern beinahe völlig vorenthält:381 „In theory, at last, Clifford Geertz comes close to advocating a turn to dialogue, but when he urges us ,to converse with them‘, he apparently means a purely metaphorical conversation with a collective ,them‘, and judging from the extreme paucity of quotations in his own work, the practice of what he calls ,thick description‘ amounts to a gag rule on native discourse.“382

An dieser Stelle ist es wichtig, zwischen dem Vorgehen von Geertz im Feld und der Darstellung seiner Ergebnisse zu unterscheiden. Im Feld scheint Geertz nämlich 376 Vgl. Gottowik, 292 ff 377 Geertz 1983a, 259 378 Crapanzano in: Clifford, Marcus 1986, 74 379 Tedlock D. 1986, 486 380 Vgl. Geertz 1983a, 20 381 Vgl. Scholte 1986, 11-12. Auch Rudolph (1992, 49-57) bemängelt am Geertz’schen Vorgehen die Differenz zwischen Anspruch und Umsetzung, das „schiefe Verhältnis von Programm und Praxis der dichten Beschreibung bei Geertz.“ 382 Tedlock D. 1986, 494

420 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS

sehr wohl mit den Menschen gelebt und den Dialog als wichtiges Instrument für die Erkenntnisgewinnung gesehen zu haben (eine Tatsache, die viele seiner Kritiker unterschlagen383). In The Religion of Java berichtet er beispielsweise, wie er mühsam Javanisch lernte, um mit den Menschen ohne Übersetzer direkt ins Gespräch kommen zu können. Er schien sich auch in keinster Weise von den Menschen im Feld distanzieren zu wollen, lebte er doch gemeinsam mit seiner damaligen Frau über ein Jahr in dem Haus eines javanischen Eisenbahnarbeiters und seiner Familie.384 Rosaldo stellt heraus, dass der Dialog sowohl metaphorisch, als auch buchstäblich für Geertz durchaus eine wichtige Rolle spielte. Er führt aus: „Geertz at times conceived of his comparisons [...] in terms of a dialogue. Typically, he meant dialogue both figuratively and literally, and slid easily from one meaning into the other. [...] Dialogue or intelligible discourse, whether fashioned in writing by an ethnographer or conducted orally between individuals with marked differences, is a matter of listening as well as of speaking. Geertz was a serious listener, for whom listening involved being open to the unnerving possibility of being convinced by one’s interlocutor and changing one’s own mind.“385 >Hervorhebung im Original@

Geertz selbst erwähnt, dass vor allem bei der Erforschung von Religion die phänomenologische Beobachtung an ihre Grenzen kommt: „Um überhaupt etwas verstehen zu können“, so betont er, müssen Ethnologen „mit Menschen über deren Religion sprechen“ – und dies „egal wieviel wir durch schlichte Beobachtung gewonnen haben mögen oder wie viele religiöse Abhandlungen wir gelesen haben.“386 In der textualistischen Verarbeitung seiner Einblicke in die Kultur scheint sich Geertz jedoch tatsächlich eher auf die distanzierte Beobachterposition begeben zu wollen. Sein hermeneutisches Vorgehen lehnt sich eher an das Auslegen eines Textes an, als an die Diltheysche Erkenntnismethode der Empathie. Grund dafür ist wohl, dass er sich höchst skeptisch zeigt, ob ein Einfühlen in seine Informanten

383 Zudem, so kann man den Eindruck bekommen, rekurrieren diese bei ihrer Kritik meist ausschließlich auf die Geertz’sche Beschreibung des balinesischen Hahnenkampfes (1983a, 202-260) und ignorieren den Rest des Geertz’schen Werks. 384 Geertz 1960, 383 ff. The Religion of Java ist darüberhinaus gespickt mit Auszügen aus Dialogen, die Geertz mit seinen „Informanten“ im Feld führte. Darunter befinden sich auch einige, die von tiefen Vertrauensverhältnissen zeugen. An einer Stelle (73) unterhält sich Geertz beispielsweise mit Mudjito, dessen Frau plötzlich verstarb. Sehr offen erzählt Mudjito von seinem Schmerz, seinen Zweifeln und der Schwierigkeit, mit seinen Gefühlen adäquat umzugehen. 385 Rosaldo 2007, 209 386 Geertz 1991, 155-156

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überhaupt möglich ist. Die Behauptung des Gegenteils, so betont er, sei die „mächtigste Quelle von Unaufrichtigkeit“ und letztlich nichts weiter als Heuchelei.387 Gottowik stellt sich die Frage, warum Geertz, nachdem er schon die Strategie des Einfühlens ablehnt, die Wende von einem empathischen zu einem dialogischen Vorgehen in der Hermeneutik, wie sie Hans Georg Gadamer388 einführte, nicht mitvollzog. Er kommt schließlich zum Schluss, dass an die Stelle der Empathie bei Geertz nicht der Dialog mit dem Anderen tritt, sondern die akribisch durchgeführte semiotische Analyse der Symbolsysteme zu erforschender Kultur. Grund dafür scheint zu sein, dass Geertz nicht nur hinsichtlich der empathischen Einfühlung, sondern auch der Möglichkeiten eines direkten Zugangs zu Gesprächen der Menschen im Feld seine Zweifel hatte. Er betont, dass der Ethnograf als „nebengeordnet Handelnder“389 am sozialen Diskurs nur sehr begrenzt teilnehmen kann und somit nur Einblick in jenen begrenzten Teil der Kultur bekommt, den ihm seine Informanten näherbringen können. Das sei aber nicht „so fatal wie es klingt“, denn, so Geertz, „es ist nicht nötig, alles zu wissen, um etwas zu verstehen“.390 Bei der semiotischen Untersuchung von Kultur, so erklärt Gottowik, konstituiert sich der hermeneutische Zirkel „nicht im Dialog mit dem Anderen bzw. aus einer Dialektik von Frage und Antwort, sondern aus stillen Fragen, die der Ethnograf an sich selbst richtet.“391 Obwohl Geertz bei seinen Interpretationen Sinn- und Bedeutungsgehalte aufdecken möchte, scheint er doch dem konstitutiven zwischenmenschlichen Prozess dieser nicht immer direkt Beachtung zu schenken. Wenngleich er mit Wittgenstein argumentiert, dass Bedeutung öffentlich zutage tritt, da Menschen miteinander interagieren und kommunizieren, dadurch Sinn und Bedeutung stiften, möchte er selbst nicht (zumindest nicht in erster Linie) mit den Menschen in Beziehung treten. Sein Hauptfokus liegt weniger im Prozess, sondern vielmehr im Produkt der Kommunikation. Er möchte beobachtete Symbolhandlungen hermeneutisch interpretieren. Scholte kritisiert diesbezüglich: „Symbolic anthropology is a sign theory of culture. It is a theory of representation, not of production; of exchange or ‚traffic‘, not of creation; of meaning, not of praxis. That is far too one-sided. [...] Just as Geertz fails to properly tie meaning to practice, so he fails to adequately relate interpretations to praxis. [...] In the dialectical relation between producer, production and product, Geertz reifies the product [...]; hides the producer [...]; and he fails to concretize the production process.“392 387 Geertz 1983a, 29, 292, 308 388 Vgl. Gadamer 1960 389 Geertz 1983a, 29 390 Ebd. 391 Gottowik 1997, 292; vgl. auch Geertz 1983a, 309 392 Scholte 1986, 11

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Wenngleich es nicht möglich ist, die eigene Situiertheit völlig abzulegen und am Diskurs unter Einheimischen teilzunehmen – so als wäre man einer von ihnen – besteht gemäß des dialogischen Paradigmas dennoch die Hoffnung, dass man im Diskurs mit den Menschen dichter verstehen kann, als wenn man nur mit sich selbst zu Rate ginge. Wie bereits erwähnt, soll jedoch ein dialogischer Ansatz, wie er hier vertreten wird, das Geertz’sche Vorgehen ergänzen, nicht ersetzen.393 D.h. es soll (gemäß des Paradigmas des Dialogs) nicht für die grundsätzliche Ablehnung der Geertz’schen Vorgehensweise argumentiert werden, wie dies einige der „zweiten Generation hermeneutisch orientierter Anthropologen“ tun.394 Der Dialog soll vielmehr als spezifischer Modus der Sozialwissenschaften, vornehmlich als Haltung und weniger als Methode, in den Vordergrund treten. 395 Dass dieser in der Feldforschung grundsätzlich immer schon gegeben und darüber hinaus unersetzlich ist, ist offensichtlich. Der Dialog im Feld erschließt Möglichkeiten des Verstehens, die über das reine Beobachten hinausreichen, er öffnet einen Raum des Zwischen, der für die Dialogpartner neue Erkenntnisse bereithält. In diesem Sinne schreibt Tedlock: „Now it is true that in the field we anthropologists do much more than engage in dialogues. We may watch when the people under study hunt, or gather, or herd sheep, or hoe their gardens, or shuck corn, and we are very likely to be present, all eyes and ears, when a ritual takes place, and to enter an elaborate description in our notebook afterward, even if we didn’t really understand a single word of the speeches, prayers, and songs that ran all through the ceremony. If sociocultural anthropology were founded upon nothing but silent observations there would be nothing to distinguish it from the natural sciences. But the moment we talk about this hunting or singing with the people who participated in it, we have entered the realm that is the special province of the social sciences. Alfred Schütz calls this realm ,human intersubjectivity‘, but we could also call it ,human interobjectivity‘. [...] The anthropological dialogue creates a world, or an understanding of the differences between two worlds, that exists between persons who were indeterminately far apart, in all sorts of different ways, when they started out on their conversation.“396 >Hervorhebung im Original@

Ohne einseitig der starken Gewichtung auf Empathie, wie sie von Dilthey als Methode des Verstehens entwickelt wurde, das Wort reden zu wollen, soll im Folgenden argumentiert werden, dass sich im Zwischen (in Martin Bubers Sinne zwischen 393 Vgl. auch Tedlock D. 1986, 493 394 Gottowik (1997) erwähnt in diesem Zusammenhang Crapanzano, Dwyer, Fischer, Marcus, Rainbow, Rosaldo, welche „die Textmetapher weitgehend als inadäquat verbannt und durch die Metapher des Dialogs ersetzt haben.“ (278) 395 Vgl. auch Tedlock D. 1986, 491 396 Tedlock D. 1986, 484; vgl. auch Tedlock B. 1991, 70-71

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Forscher und Personen im Feld) ein Verstehenshorizont offenbaren kann, der bei Geertz weitgehend unberücksichtigt bleibt – zumindest nicht explizit zum Thema gemacht wurde. Im Gegensatz zur Empathie, welche ein Gefühl von Über- und Unterordnung impliziert (denn der Forscher nähert sich dem Forschungssubjekt einseitig empathisch, um interpretierend zu verstehen) soll hier für eine wechselseitige Bezogenheit argumentiert werden, in welcher die ethische Verpflichtung für den Anderen die Begegnung begleitet und durchdringt. Diese Zusammenkunft ist getragen vom Bewusstsein, das sich eigenes Sein nie ohne fremdes Sein entwickeln kann.397 Das Ziel davon ist nicht nur die andere, sondern auch die eigene Perspektive in ihrer jeweiligen Situiertheit verorten und verstehen zu können, um damit zu kongruenten Erkenntnissen zu gelangen, in welchen sich beide Dialogpartner wiederfinden.398 Im Dialog können, im wahrsten Sinne der Bedeutung von dia-logos399 Sinngehalte symbolischer Formen aufgedeckt und Bedeutungszusammenhänge nicht nur rational verstanden, sondern auch ganzheitlich erfahren werden. Hierbei ist nicht gemeint, tagebuchartige Selbsterfahrungsberichte zu verfassen (die Geertz auch für wenig zielführend hält400). Es geht vielmehr darum, in der dialogischen Verschränkung von erfahrungsnahen und erfahrungsfernen Begriffen zu gesamtgesellschaftlich relevanten Erklärungen zu gelangen, die wiederum durch mikroskopische Beobachtungen und durch den Dialog mit den Einheimischen überprüft werden. Der Weg des Dialogs liegt demnach weder in Versuchen des empathischen Einfühlens, welche letztlich den Anderen auch wieder zum Objekt reduzieren, noch in der monologischen Selbstdarstellung. Er liegt weniger im Einfühlen in den Anderen als im Bewusstsein der eigenen Identität: Er liegt im kongruenten Mit-Sein mit den Menschen im Feld. Barbara Tedlock spricht in diesem Zusammenhang von einem „We-talk“401, der Interaktion zwischen Menschen, die sich in der Analyse weder dem Subjektivismus, rein erfahrungsnahen Begriffen, noch dem Objektivismus, erfahrungsfernen Begriffen, verpflichtet fühlt. Ähnlich betont Steven Webster: „Sub397 Dieser Zusammenhang wird sehr gut illustriert durch das allegorische Beispiel der Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie des Geistes. 398 Vgl. hierzu Maranhão 1990 399 Dialogos ist griechisch: διά = [hin-]durch und λόγος = Wort, Sinn, Bedeutung; dialogos meint damit das Fließen von Sinn. Tedlock (1986, 484) übersetzt dialogos mit „speaking across“. 400 Im Gespräch mit Olson (1991) erwähnte Geertz diesbezüglich: „I don’t like confessional anthropology. [...] I had a hard time convincing students that they were going to North Africa or someplace to understand the North Africans, not themselves. I’m in favour of people understanding themselves, and that’s in a certain way what anthropology is all about, but you really want to know what the Moroccans are like.“ 401 Tedlock B. 1991, 71

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ject and object are an irreducible dialectic, and knowledge must arise in the unforeclosed dialogue between the two, not the closure of some illusory resolution in behalf of one or the other.“402 3.3.2 Martin Bubers dialogisches Prinzip als „Methode“ der Erkenntnisgewinnung Hinsichtlich des Dialogs und seiner quasi-methodischen Nutzbarmachung zur Erkenntnisgewinnung soll an dieser Stelle das dialogische Prinzip von Martin Buber (1878-1965) herangezogen werden. Buber unterscheidet zwischen zwei Haltungen, in welchen der Mensch seiner sozio-kulturellen und natürlichen Welt begegnet: Ich-Du und Ich-Es.403 Der Mensch, so argumentiert er, steht in seiner Seinsweise in der Welt immer in Beziehung: „Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es.“404 Das Ich realisiert sich also entweder im Bezug zur gegenständlichen Eswelt oder in Bezug zur gegenwartenden Duwelt. Was Buber als den Gegenstandsbezug bezeichnet, scheint weithin als der offensichtliche, hauptsächlich beachtete Bezug zur Wirklichkeit zu sein. Buber kontrastiert diese Eswelt, welche der Gegenständlichkeit in Raum und Zeit verhaftet bleibt, mit der wesentlich schwerer greifbaren Duwelt, welche er in Gegenwartsmomenten jenseits von Raum und Zeit ansiedelt. Er schreibt: „Wesenheiten werden in der Gegenwart gelebt, Gegenständlichkeiten in der Vergangenheit.“405 Die Wirklichkeit, beziehungsweise die grundlegende Erkenntnis von dieser, liegt für Buber im Beziehungsereignis, im Zwischen: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, oder „im Anfang ist die Beziehung“406, bemerkt er. Die Wirklichkeit ist nicht als Substanz in der Welt immer schon gegeben, die zerlegt, erforscht und vollständig objektiv erklärt werden kann. Wirklichkeit erschließt sich als Prozess immer in Bezogenheit, in reflektiver Situiertheit. 407 Das Ich definiert sich (und damit seine Welt) nicht nur durch sich, sondern immer auch durch das Du, beziehungsweise durch das Ich in der Beziehung zum Du. Bernhard Casper schreibt im

402 Webster 1982, 111 403 Buber 1995, 3 404 Ebd., 4 405 Ebd., 13 406 Ebd., 18 407 Vgl. dazu auch Fabian 1971, 34

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Nachwort von Ich und Du408: „Für Buber [...] ist der Grundvorgang, in welchem Wirklichkeit überhaupt zugänglich wird, die geschehende Beziehung selbst.“409 Dass dieses Prinzip der Dialoghaftigkeit nicht nur ontologisch-philosophisches Verständnis menschlichen Seins darstellt, sondern erkenntnistheoretisch wichtig werden kann, belegt einerseits die Tatsache, dass sich Buber unter dem Einfluss Diltheys hermeneutischen Prämissen verpflichtet fühlte.410 Charmé erklärt dazu: „In some ways I-Thou is quite similar to the method of verstehen, and I-It may be associated with the explanatory method of the natural sciences.“411 Andererseits hatte er zugleich nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die hermeneutische Tradition. Allen voran lässt sich der Einfluss des dialogischen Prinzips in Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode nachverfolgen. Gadamer misst darin diesem bei der Entwicklung seiner Hermeneutik zentralen Stellenwert bei. Steven Kepnes erwähnt in diesem Zusammenhang: „In developing a notion of interpretation as a dialogue between the reader and work of art or text Buber anticipated one of the most important hermeneutical principles that Hans-Georg Gadamer developed in his groundbreaking work, Truth and Method [...]. Interpreting a text, for Gadamer, is not a matter of empathy [...]. Interpretation arises, rather, out of a process of ,conversation‘ between readers firmly planted in their cultural moment and a text which speaks in an alternative cultural mode.“412 [Hervorhebung im Original]

408 Dies erinnert an G.W.F. Hegel (2000, 149), der schreibt: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch daß es für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ >Hervorhebung im Original@ Das Verständnis der Wirklichkeit ist somit geprägt von beziehungsweise grundgelegt auf dem dialektischen Beziehungsereignis zwischen mir und dem Anderen beziehungsweise der Welt. 409 Casper in: Buber 1995, 137 410 Steven Kepnes (1988, 194 ff) erläutert explizit die enge Verbindung von Buber zum Werk von Wilhelm Dilthey, den er als einen seiner wichtigsten Lehrer bezeichnete. Auch Casper (in: Buber 1995, 133) betont: „Wenn Buber überhaupt einen philosophischen Lehrer hatte, dann ist dies Dilthey gewesen.“ Buber stand in den Jahren 1898/99 in direktem Kontakt mit Dilthey, als er in Berlin studierte. Später (1906-1911), so Kepnes, besuchte Buber weitere Vorlesungen Ditheys. Er mutmaßt diesbezüglich: „Dilthey seemed to have trusted Buber as his student, for he once asked him to edit one of his books. Given that Buber studied with Dilthey at the end of his career, we can assume he was acquainted with his mature writings, the writings that included his hermeneutical theory.“ (1988, 195) 411 Charmé 1977, 170 412 Kepnes 1988, 206

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Der Versuch, durch den Dialog, durch Mit-Sein, zu Erkenntnissen über Menschen einer anderen Kultur (bzw. über deren Wirklichkeitsauffassung) zu gelangen, ist vor allem seitens szientistischer und positivistischer Wissenschaftler anfällig für Kritik. Denn es wird argumentiert, dass wichtige Erkenntnisse über den Fremden durch das Eigene, beziehungsweise durch die Beziehung mit dem Anderen gemacht werden. Buber spricht vom „Innewerden“, vom „Vergegenwärtigen“ des Anderen und grenzt dieses ab von analytischen, reduktionistischen und ableitenden Methoden.413 Ein solcher Ansatz scheint subjektivistisch und nicht operationalisierbar. 414 Das Selbst wird in seiner Wahrnehmung des Zwischen zur Quelle der Erkenntnis. Eine Gruppe deutscher Soziologen führte in diesem Zusammenhang den Begriff der „kommunikativen Sozialforschung“415 ein. Damit wollten sie sich von Strömungen in der Sozialwissenschaft absetzen, welche vorrangig die distanzierte Beobachtung als Medium der Erkenntnisgewinnung akzeptiert. Es sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass der „Forschungsprozess als Kommunikation, als ein Gespräch mit Rückkopplungsmöglichkeiten und selbstreflexiven Phasen zu gestalten ist“ 416: „Während sich die klassische empirische Sozialforschung auf weite Strecken als eine Lehre darüber verstehen lässt, wie man es als Forscher verhindern kann, seine Untersuchungsobjekte zu beeinflussen, geht es in der kommunikativen Sozialforschung gerade darum, den interaktiven Grundzug der Forschung hervorzuheben. [...] Entsprechend versucht sie, die Datenerhebung als ein Geben und Nehmen zu gestalten und sie koppelt auch ihre Forschungsergebnisse an die untersuchten Systeme zurück. Da wir uns in Dialogen beständig am Gegenüber und an dem Prozess, wie er im Hier und Jetzt abläuft, orientieren, ist in der kommunikativ gestalteten Sozialforschung die Selbstbeobachtung des Kommunikationssystems eine beständige Aufgabe.“417

Johannes Fabian argumentiert ähnlich, wenn er sich gezielt von strukturalistischfunktionalistischen Theorien und deren Prämissen in der Anthropologie distanziert, und betont: „In anthropological investigations, objectivity lies neither in the logical

413 Buber 2007 414 Es ist gut möglich, dass es gerade der subjektive Moment ist, der Geertz abschrecken ließ, sich auf eine dialogische Form der Erkenntnisgewinnung einzulassen, schreibt er doch, er möchte dem Subjektivismus entgehen, indem er die „Erforschung der symbolischen Formen so eng wie möglich anhand konkreter sozialer Ereignisse und Vorfälle in der Öffentlichkeit des Alltagslebens durchzuführen“ versucht. (Vgl. Geertz 1983a, 42) 415 Giesecke s.d. 416 Giesecke, Rappe-Giesecke 2001, 230 417 Giesecke, Rappe-Giesecke 2001, 230-331

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consistency of a theory, nor in the giveness of data, but in the foundation (Begründung) of human intersubjectivity.“418 >Hervorhebungen im Original@ Dialogisches Vorgehen, das Prinzip des Mit-Seins in der ethnologischen Forschung, beinhaltet demzufolge mehr als anhand eines Interviewkatalogs spezifische Fragen zu stellen und Daten zu sammeln, die eine Hypothese entweder verifizieren oder falsifizieren. Es geht über das „Lesen“ einer Kultur analog eines Textes hinaus. Es geht weder darum, allein in der „Welt der Erfahrung“ 419 und empirischer Analyse distanziert eine Kultur zu untersuchen, noch ihr einseitig einfühlend begegnen zu wollen, um anschließend behaupten zu können, man hätte sie ausreichend verstanden. Mit-Sein bedeutet vielmehr, in den unmittelbaren Kontakt zu treten, Zwischen ohne Zweck, Begrifflichkeit oder Vorwissen zu (er)leben, in die Geschichte einzusteigen, in den Dialog mit dem Text, beziehungsweise der Kultur, zu treten. Oder, um dies mit den Worten Bubers zu formulieren, geht es darum, in die „Welt der Beziehung“420 zu treten: „Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie; und das Gedächtnis selber verwandelt sich, da es aus der Einzelung in die Ganzheit stürzt. Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme; und die Sehnsucht selbst verwandelt sich, da sie aus dem Traum in die Erscheinung stürzt.“421

Obwohl den Beschreibungen Bubers von Ich und Du unzweifelhaft ein Hauch des Mystischen anhängt, scheint er sich doch gegen eine undifferenzierte Vereinigung von Ich und Du zu wehren, denn damit gäbe es kein „Zwischen“ mehr 422: „When Buber insists that I-Thou is not a mystical relation, he is criticizing this doctrine of monism, since it eliminates relation.“423 Die Einsicht erkenntnistheoretischer Relevanz der unmittelbaren Beziehung ohne der notwendigen Annahme einer „mystische Kommunion“424 scheint sich Buber selbst bei seinen erkenntnistheoretischen, texthermeneutischen Bemühungen nutz418 Fabian 1971, 25 419 Buber 1995, 6 420 Ebd. 421 Ebd., 12 422 Buber betont, sogar die Beziehung zu Gott darf nicht rein mystisch in Form von einer Verschmelzung von Ich und Du gedacht werden, denn das göttliche Prinzip beruht auf Gegenseitigkeit, auf Beziehung. „The relation to God which it [the mysticism] thinks of is the absorption of the I, and the Single One ceases to exist if he cannot – even in devoting himself – say I.“ (1969, 43) 423 Charmé 1977, 163 424 Geertz 1983a, 309

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bar gemacht zu haben. So schreibt Kepnes, die Entwicklung des dialogischen Prinzips hatte Einfluss auf die Bubersche Auslegung wichtiger Texte des Chassidismus425, und zwar insofern als: „It resulted in an emphasis on the dialogue between interpreter and text instead of the empathic, mystical relationship between interpreter and imagined author.“426 Demzufolge geht es Buber wie Geertz nicht um eine Form mystischer Erkenntnis der anderen Person jenseits aller sinnlichen, phänomenologischen Erfahrung, sondern vielmehr um die Anerkennung des Anderen als einzigartig und unbegreiflich. Damit einher geht die ethische Verpflichtung, den Anderen als Zweck an sich selbst zu sehen und ihn nicht nur als „Informant“ nutzbar für eigene (Forschungs-) Zwecke zu machen. „The chief presupposition for the rise of genuine dialogue is that each should regard his partner as the very one he is. I become aware of him, aware that he is different, essentially different from myself, in the definite, unique way, which is peculiar to him, and I accept who I thus see, so that in full earnestness I can direct what I say to him as the person he is.“427

Es stellt sich nun natürlich die Frage, wie konkret man als Forscher im Feld unter Menschen, die eine fremde Sprache sprechen und seltsam anmutende Verhaltensweisen an den Tag legen, in diese „Welt der Beziehung“ eintreten kann, um im Dialog mit den Einheimischen zu Erkenntnissen zu gelangen, die man nicht hätte auch durch eine detaillierte Beobachtung und Interpretation kultureller Symbole haben können. Dabei lässt sich zunächst feststellen: Es gibt keine dezidierte Methode oder Anleitung und keine Richtlinie für die Herstellung des Dialogs. Dieser kann nicht erzwungen werden. Zum Mittel reduziert, um Daten zu sammeln, wird die Begegnung immer der „Welt des Es“ verhaftet bleiben und die Erkenntnis damit „dünn“

425 Der Chassidismus ist eine Form des Judentums, die sich durch strenge Regeln, ein besonders moralisches Verständnis und mystische Gottesnähe ausdrückt. Buber untersuchte zu Anfang des 20. Jahrhunderts diese Strömung des Judentums ausführlich, legte alte Schriften aus und schrieb mehrere Bücher darüber. Sein Hauptwerk dazu sind die Erzählungen der Chassidim, worin er überlieferte Weisheitsgeschichten sammelte und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte. Seine modernen Auslegungen waren jedoch nicht ohne Kritik geblieben. Kepnes berichtet: „Before his death, in responding to harsh criticism of his translations of the Hasidic tales [Erzählungen der Chassidim], Buber referred to his work as an attempt to convey to our own time the force of a former life of faith.“ (1988, 193) 426 Kepnes 1988, 201 427 Buber 1992, 73

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ausfallen.428 Außerdem steht die Antwort auf eine gezielte Frage (etwa im Rahmen eines Fragebogens) immer in Gefahr, durch Verhältnisse von Über- und Unterordnung, durch den Versuch, zu Gefallen zu sein, aus Protest oder aus anderen Gründen verfälscht zu werden. Die Frage bestimmt außerdem immer bereits die Richtung der Antwort. Crapanzano weist darauf hin, dass Macht und Wunschdenken einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Verlauf eines Gesprächs haben. Er betont, „dialogue not only reveals but also conceals“.429 Auch Jones merkt an, „what the people say about their world is often not a good indicator of what they think about it“.430 Somit muss Bubers dialogisches Prinzip abgegrenzt gesehen werden von empiristischen bzw. utilitaristischen Ansätzen, die sich den Dialog zu Nutzen machen wollen und ihn damit in seiner Bedeutsamkeit einengen. „Alles Mittel ist Hindernis“, schreibt Buber und fährt fort: „Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.“431 Er weist darauf hin, dass man den Menschen, zu dem man Du sagt, nicht in einem „Irgendwann und Irgendwo“ vorfinden 432 kann, die Ich-Du Bezogenheit kann nicht geplant oder vereinbart werden. Sie passiert unerwartet („ruckartig“,433 um mit Geertz zu sprechen) und überraschend, dafür aber ehrlich und von Wesen zu Wesen.434 Dennoch, und dies ist entscheidend, stellt der Eintritt in die Beziehung aktive Tat dar. Es bedarf einer Haltung der Offenheit, das Grundwort Ich-Du muss gesprochen werden:435

428 Um die Bedeutung der dialogischen Praxis verstehen zu können, so betont auch Paulo Freire (2007, 17), „we have to put aside the simplistic understanding of dialogue as a mere technique. Dialogue does not represent a somewhat false path that I attempt to elaborate on and realize in the sense of involving the ingenuity of the other. On the contrary, dialogue characterizes an epistemological relationship. Thus in this sense, dialogue is a sense of knowing and should never be viewed as a mere tactic.“ 429 Crapanzano in: Kavouras 2005 430 Jones 1998, 55 431 Buber 1995, 12 432 Ebd., 9 433 Geertz 1983a, 36 434 Buber 1995, 3, 10 435 Zudem, so stellt Fabian (1971, 34) heraus, muss der Anthropologe, der sich einem dialogischen Vorgehen bedient, aktiv über seinen Einfluss in der Untersuchung reflektieren. Die Forderung, als Forscher in ein dialogisches Verhältnis mit den Menschen der anderen Kultur einzutreten, sich zunächst eher passiv in den fremden Zusammenhang zu integrieren, und dafür zu öffnen, impliziert die Notwendigkeit der kritischen Reflexion darüber.

430 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden. Aber dass ich zu ihm das Grundwort spreche, ist Tat meines Wesens, meine Wesenstat. Das Du begegnet mir. Aber ich trete in die unmittelbare Beziehung zu ihm. So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem.“436

Johannes Fabian berichtet von der Schwierigkeit, bei seinem dialektischen Ansatz zur Erkenntnisgewinnung, spezifisch methodische Schritte bei seinem Vorgehen zu formulieren. Er macht sogar explizit deutlich, „,dialectics‘ is not and can never be, a ,method‘“437. Zugleich weist er aber ebenfalls darauf hin, dass sein dialogischer (bzw. dialektischer) Ansatz keineswegs empirische Methoden per se ablehnt, sondern diese durchaus auch nützen möchte: „In discussions in which I propose an alternative to a positivist-pragmatist approach I am, at this point, usually asked the obvious question, ,How do you do it? How do you ,operationalize‘ the dialectical principles of your approach?‘ To a great extent such a question is based on the very premise I am trying to reject: that objective study proceeds solely through the operationalization of theoretical concepts. If one who asks that question would be completely unable or unwilling to go in his intentions beyond these established premises, then my answer could only be, ,I don’t; I do not operationalize, nor do I verify‘. To which he would justifiably react by doubting my professional sanity [...]. Should he be willing to transcend the position of scientism then I could respond by pointing out that my procedure is based on the following [...]: My initial confrontation with the realities I propose to study occurs when I take them into the horizon of my attention and through this put myself into their context. In the realm of human action, taking hold of phenomena means entering a historically constituted context of communication. It is the rigor and depth on that inevitable involvement in a communicative context which distinguishes scientific procedure from common-sense reaction. Rigour and depth [...] depend among other things on the use of analytical methods of the kind now used by anthropology and its various subdisciplines. It is to be expected, on the level of methodology, a dialectical approach will not call for a radical departure from established procedures. The difference will be in the kind of questions asked and in the set-up for research strategies.“438

Es handelt sich beim dialogischen Vorgehen, wie oben bereits angemerkt, um eine andere Kategorie als die Kategorie der Methode beziehungsweise expliziter wissenschaftlicher Vorgehensweisen im Feld. Es geht nicht darum, eine ausbuchstabierte Handlungsanweisung zu entwickeln, sondern darum, sich als Forscher der Art und Weise der Bewegung im Feld bewusst zu werden. Es geht darum, wie Methoden 436 Buber 1995, 11 437 Ebd. 438 Fabian 1971, 33-34

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benützt werden und welche Haltung der Forscher dabei einnimmt. Oder, um Bubers Begriffe zu verwenden, handelt es sich um zwei unterschiedliche Seinsweisen in der Welt: Ich-Es als Nutzbarmachung einer Methode und Ich-Du als innere Haltung. Beide stehen sich nicht entgegen, sondern spielen in ihrem Zusammenwirken eine wichtige Rolle. Sie ergänzen sich dialektisch. Buber weist ausdrücklich darauf hin, dass sich das Innewerden eines anderen Menschen keineswegs gegen die analytisch-wissenschaftliche Methode wendet, sofern diese nicht die Besonderheit und Einzigartigkeit des Anderen, welche jede Methode transzendiert, beeinträchtigt. 439 Ein Beispiel aus meiner ethnografischen Praxis soll helfen, um das Gesagte zu verdeutlichen. Während meines ersten Aufenthaltes in Inuvik unternahm ich diverse Versuche, auf unterschiedlichste Weise an möglichst aussagekräftige, kongruente Daten zu gelangen – immer begleitet von der Frage, wie ich die Kultur der Inuit im Wandel möglichst dicht beschreiben könnte. Eines Tages erkundigte ich mich auf dem Great Northern Arts Festival bei einem der Künstler in Forschermanier, ob ich ihm einige Fragen stellen könnte. Die knappe Antwort, die ich erhielt, lautete: „Wie viel (Geld) springt dabei für mich heraus?“ Diese Reaktion stieß mich zunächst völlig vor den Kopf. Im Nachhinein erscheint sie jedoch durchaus stimmig. Ich begegnete dem Mann auf einer Ebene der Nutzbarmachung, in einer Haltung von Ich-Es, und er erwiderte diese. Enttäuscht zog ich mich nach dieser ernüchternden Begegnung zurück und setzte mich fern ab vom Trubel an einen Tisch, an dem einige Künstler malender-, nähender- und stickenderweise ihrer Kunst nachgingen, um darüber nachzudenken, wie ich mit den Menschen in Berührung kommen könnte, ohne nur die immer gleiche Geschichte zu hören, die sie jedem Forscher, der unbequeme Fragen stellt, erzählten. Während ich in Gedanken versunken einige Überlegungen in meinem Notizbuch festhielt, begann die Frau gegenüber, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, völlig unerwartet zu erzählen, was es mit den Seehunden, Eisbären und in dicke Parker gehüllten Inuit auf sich hat, die man auf ihren Kunstdrucken sehen kann. Sie erzählte mir von der Jagd mit ihrem Vater, von Atemlöchern für Seehunde, vor denen sie stundenlang geduldig lauerten, und davon, wie sehr sich ihr Leben in Ulukhaktok in den letzten Jahren verändert hatte. Sie brachte ihre Trauer, aber auch ihren Groll darüber offen zum Ausdruck. Völlig unerwartet erfuhr ich in dem Moment, als ich meiner eigenen Grenzen, meiner Verletzlichkeit und Abhängigkeit gewahr wurde, so viel mehr, als hätte ich gezielt Fragen gestellt. Ich hatte das Gefühl, in Beziehung zu treten oder, um mit Buber zu sprechen, in die Welt von Ich und Du einzutreten. Mein Sein in diesem Moment mit Susie war wichtiger, als schnell möglichst viel von dem, was sie mir erzählte, in meinem Notizblock festzuhalten. Ich glaube, gerade in diesem Loslas-

439 Buber 2007

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sen und sich Öffnen für das, was da zwischen uns entstand, erfasste und verstand ich besonders viel beziehungsweise dicht über ihre Herkunft und Kultur. Ähnliches berichtet Kevin Dwyer, der ebenfalls argumentiert, dass gerade die Offenheit für den Prozess, für das, was sich zwischen Eigenem und Fremden entfaltet und vor allem das Eingeständnis der Verletzlichkeit, die der ethnologischen Situation inne wohnt, ungeahnte Erkenntnisse des Anderen, aber auch des Eigenen bereithält.440 Peter Senge spricht in diesem Zusammenhang von einem Erkenntniszuwachs basierend auf einem „Seeing from the Whole“441: „An empowering awareness of the whole requires a fundamental shift in the relationship between ,seer‘ and ,seen‘. When the subject-object duality that is basic to our habitual awareness begins to dissolve, we shift from looking ,out at the world‘ from the viewpoint of a detached observer to looking from ,inside‘ what is being observed. Learning to see begins when we stop projecting our habitual assumptions and start to see reality freshly.“442

Dreh- und Angelpunkt der Erkenntnisgewinnung des Mit-Seins besteht jedoch darin, nicht in der dialogischen Situation steckenzubleiben, sondern wieder herauszutreten in die „Eswelt“. Denn nur diese kann verstanden, eingeordnet und erklärt werden. Ähnlich wie Geertz die „Funktion“ von Religion als extrinsische Informationsquelle, als Ordnungsrahmen für die Dinge, die wir uns nicht erklären können, für die wir nicht einmal eine Interpretationsmöglichkeit besitzen, beschreibt,443 argumentiert Buber, dass der Mensch ohne die Ordnung des Es nicht leben kann. 444 Denn wer Du spricht, hat nichts. Du lässt sich nicht eingrenzen, nicht eindeutig definieren oder in Begrifflichkeiten hüllen. Du ist grenzenlos. Es hingegen grenzt an anderes Es, es kann benannt und bestimmt werden. 445 Es kann erklären, was im Sein mit dem Du verstanden wurde: „Dies gehört zur Grundwahrheit der menschlichen Welt: Nur Es kann geordnet werden. Erst indem die Dinge aus unserem Du zu unserem Es werden, werden sie koordinierbar. Das Du kennt kein Koordinatensystem.“446 Buber weist dennoch nachdrücklich darauf hin, dass die geordnete Welt des Es nicht die Weltordnung darstellt (auch wenn sie häufig mit dieser verwechselt wird). Diese kann nur in Augenblicken des „verschwiegenen Grundes“447 geschaut wer440 Vgl. Dwyer 1979 441 Senge 2004, 41-42 442 Ebd., 41 443 Geertz 1983a, 60 444 Buber 1995, 34 445 Ebd., 4 446 Ebd., 30 447 Ebd., 31

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den. In der Bezogenheit zur geordneten, kausalursächlich erklärbaren Welt des Es werden wir handlungs- und funktionsfähig, in der Beziehung zum Du hingegen spüren wir Sinn: unseren eigenen, aber auch den der Menschen einer anderen Kultur448. „Es gibt Augenblicke des verschwiegenen Grundes, in denen Weltordnung geschaut wird, als Gegenwart. Da wird im Flug der Ton vernommen, dessen undeutbares Notenbild die geordnete Welt ist. Diese Augenblicke sind unsterblich, diese sind die vergänglichsten: kein Inhalt kann aus ihnen bewahrt werden, aber ihre Kraft geht in die Schöpfung und in die Erkenntnis des Menschen ein, Strahlen ihrer Kraft dringen in die geordnete Welt und schmelzen sie wieder und wieder auf.“449 >Hervorhebung B.S.@

Die Bezogenheit zur Eswelt, ist nicht von Übel – solange der Mensch sich nicht ausschließlich in ihr bewegt, denn „[i]ndem er sich mit einer Welt von Gegenständen, die ihm nicht mehr zur Gegenwart werden, abfindet, erliegt er ihr. Da steigert sich die geläufige Ursächlichkeit zum bedrückenden, erdrückenden Verhängnis.“ 450 Buber schreibt, ein Leben in der Eswelt ließe sich bequem einrichten, „aber wer mit [ihr] allein lebt, ist nicht der Mensch.“ 451 Um in der Terminologie von Geertz zu sprechen, fällt eine Beschreibung, die sich rein auf der Ebene des Ursächlichen bewegt, dünn aus: Man könne schlecht behaupten, die Menschen zu verstehen, ohne sie zu kennen.452 An anderer Stelle warnt Geertz davor, alle Erkenntnis klassifizieren und einordnen zu wollen. „Alle Sozialwissenschaften kranken an der Vorstellung“, so bemerkt er, „daß die Benennung einer Sache bedeutet, daß man sie verstanden hat“. Und er fährt fort: „Hier hat die Überbewertung des klassifikatorischen Denkens, die Manie, alles in Schubladen einordnen zu wollen, derart alarmierende Ausmaße angenommen, daß man fast vermuten möchte, es sei eine tiefgründige Leidenschaft am Werk, unbequemer Phänomene durch beruhigende Namen Herr zu werden.“453

448 Die Erfüllung des Sinns schreibt Buber, „wird von dem Menschen vereitelt, der sich mit der Eswelt als einer zu erfahrenden und zu gebrauchenden abgefunden hat und nun das in ihr Eingebundenen, statt es zu lösen, niederhält, statt ihm zuzublicken, beobachtet, statt es zu empfangen, verwertet.“ (Ebd., 38) 449 Ebd., 31 450 Ebd., 52 451 Ebd., 34 452 Geertz 1983a, 43 453 Geertz 1991, 44

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Ähnlich wie Buber betont Geertz aber auch, dass „die Benennung von Dingen [...] eine nützliche und notwendige Sache“ sei. Sie könne jedoch „kaum mehr als ein Vorspiel zu analytischem Denken“454 sein. Denn: „Je intensiver wir uns mit den Phänomenen befassen, auf die der Begriff sinnvoll angewendet werden kann, desto lebendiger, erhellender und [...] exakter wird er. Das Interesse an den Fakten liegt [...] in ihrer Verschiedenartigkeit, und die Stärke von Ideen bemißt sich nicht daran, in welchem Maße sie diese Verschiedenartigkeit auflösen, sondern in welchem Maße sie sie ordnen können.“455

Demzufolge speist sich die Dichte der ethnologischen Erfahrung gemäß des dialogischen Ansatzes aus unmittelbaren, unerwarteten und intensiven Begegnungen mit den Menschen im Feld, denn nur so kann der Forscher etwas von Sinn und Bedeutung symbolhafter Handlungen verstehen. Diese Erfahrungen der Ich-Du-Begegnung müssen jedoch benannt, geordnet, beschrieben und erklärt werden, sonst verliert sich der Inhalt der ethnologischen Erkenntnis in einer Flut von Unmittelbarkeiten.456 Somit zeichnet sich zwischen den zwei unterschiedlichen Seinsweisen (Haltungen) des Forschers im Feld, der intensiven Begegnung und der distanzierten Beobachtung, eine gewinnbringende Dialektik aus. Beide erweisen sich in ihrer wechselseitigen Bezogenheit als fundamental, um einerseits ganzheitlich verstehen und andererseits detailliert beschreiben zu können. Dadurch gelingt es dem Forscher nicht nur einseitig abgehoben Daten zu sammeln, die letztlich wenig über Sinn und Bedeutung der Menschen auszusagen vermögen. Er erhält zudem den nötigen Abstand, um nicht in der dialogischen Situation verhaftet, nicht mehr die Begriffe finden zu können, die für eine wissenschaftliche Analyse von Nöten sind. „What I-Thou adds to one’s knowledge about other people is a kind of intuition or inner understanding of the other’s point of view. Buber calls the process ‚imagining the real‘, which means the capacity to imagine what another person is wishing, feeling, perceiving, and thinking, not as an abstraction but as the other person lives it. This process, however, is not a substitute for experienced knowledge about the other, but a completion of it. Buber explains, ,The experiencing senses and the imagining of the real which completes the findings of the 454 Ebd. 455 Ebd., 46 456 Diese Zusammenhänge spiegeln sich auch in der Geertz’schen Definition von Kultur wider: Ich-Es kann als Rahmen, als Netz gesehen werden, um den komplexen Erfahrungen, die Menschen machen, einen Sinn geben zu können. Dieser kann jedoch nur in Ich-Du Momenten geschaut und verstanden werden. Die Beschreibung des Netzes allein muss immer dünn ausfallen, es braucht aber die Struktur dessen (Ich-Es), um das, was im Inneren (Ich-Du) verstanden wurde, ordnen zu können.

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senses work together to make the other present as a whole and as a unique being, as the person that he is.‘“457

Abbildung 4: Dialektik der zwei Weisen des Forschers im Feld: Ich-Du/Ich-Es Ich-Du (Sinn) Hinwendung/Vergegenwärtigung Gegenseitigkeit, (S)Einlassen

Spannungsverhältnis dynamische Balance

Ich-Es (Funktion) Erfahrung i.d. Vergangenheit Ursächlichkeit, Analyse

Gefahr

Gefahr

Verschmelzung/Wortlosigkeit

Distanz/Wertlosigkeit

„[O]hne Es kann der Mensch nicht leben.“ (Buber 1995, 34)

„[W]er mit [Es] allein lebt, ist nicht der Mensch.“ (ebd.)

Unsaubere Analyse Überbewertung

Quelle: B.S.

Obige Grafik veranschaulicht das positive Spannungsverhältnis in der dynamischen Balance von Ich-Du und Ich-Es, vom Verstehen des Sinns in der Begegnung und der detaillierten Beschreibung bzw. Nutzbarmachung spezifischer Methoden zur Erkenntnisgewinnung in der Feldforschung. Buber beschreibt diesen Prozess der Erkenntnisgewinnung im dialektischen Hin und Her, angefangen vom Verstehen des Gegenübers (Sinn aus Ich und Du) über die Analyse dessen, was erkannt wurde (Funktion aus Ich und Es), wie folgt: „Erkenntnis: Im Schauen eines Gegenüber erschließt sich dem Erkennenden das Wesen. Er wird, was er gegenwärtiglich geschaut hat, wohl als Gegenstand fassen, mit Gegenständen vergleichen, in Gegenstandsreihen einordnen, gegenständlich beschreiben und zergliedern müssen; nur als Es kann es in den Bestand der Erkenntnis eingehen. Aber im Schauen war es kein Ding unter Dingen, kein Vorgang unter Vorgängen, sondern ausschließlich gegenwärtig. Nicht in dem Gesetz, das danach aus der Erscheinung abgeleitet wurde, sondern in ihr selber teilt sich das Wesen mit. Dass das Allgemeine gedacht wird, ist nur eine Abwicklung des knäulhaften Ereignisses, da es im Besonderen, im Gegenüber geschaut wurde. Und nun ist dieses in der Esform der begrifflichen Erkenntnis eingeschlossen. Wer es daraus erschließt und wieder gegenwärtig schaut, erfüllt den Sinn des Erkenntnisaktes als eines zwischen den Menschen Wirklichen und Wirkenden.“458 457 Charmé 1977, 169-170 458 Buber 1995, 38. Die Nähe der Wortwahl in dieser Aussage von Buber zu Geertz scheint verblüffend. Wie Buber geht es Geertz nicht darum, in erster Linie allgemeingültige Gesetze zu formulieren, sondern im Besonderen (manchmal unerwartet ruckartig) zu

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Beides ist wichtig: sich mit der „Mechanik des Systems“ vertraut zu machen und sich zugleich bewegen zu lassen von demselben. Eine treffende Beschreibung dessen, was hier zum Ausdruck gebracht werden sollte, findet sich in Martin Bubers Betrachtung eines Baumes, die analog zur Erforschung von Menschen einer fremden Kultur gesehen werden kann: „Ich betrachte einen Baum. Ich kann ihn als Bild aufnehmen: starrender Pfeiler im Anprall des Lichts, oder das spritzende Grün von der Sanftmut des blauen Grundsilbers durchflossen. Ich kann ihn als Bewegung verspüren: das flutende Geäder am haftenden und strebenden Kern, Saugen der Wurzeln, Atmen der Blätter, unendlicher Verkehr mit Erde und Luft – und das dunkle Wachsen selber. Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten, auf Bau und Lebensweise. Ich kann seine Diesmaligkeit und Geformtheit so hart überwinden, daß ich ihn nur noch als Ausdruck des Gesetzes erkenne – der Gesetze, nach denen ein stetes Gegeneinander von Kräften sich stetig schlichtet, oder der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen. Ich kann zur Zahl, zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen und verewigen. In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und Beschaffenheit. Es kann aber auch geschehen, aus Wille und Gnade in einem, daß ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefaßt werde, und nun ist er kein Es mehr. Die Macht der Ausschließlichkeit hat mich ergriffen. Dazu tut nicht not, daß ich auf irgendeine der Weisen meiner Betrachtung verzichte. Es gibt nichts, wovon ich absehen müßte, um zu sehen, und kein Wissen, das ich zu vergessen hätte. Vielmehr ist alles, Bild und Bewegung, Gattung und Exemplar, Gesetz und Zahl, mit darin ununterscheidbar vereinigt. Alles, was dem Baum zugehört, ist mit darin, seine Form und seine Mechanik, seine Farben und seine Chemie, seine Unterredung mit den Elementen und seine Unterredung mit den Gestirnen, und alles in einer Ganzheit. Kein Eindruck ist der Baum, kein Spiel meiner Vorstellung, kein Stimmungswert, sondern er leibt mir gegenüber und hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders. Man suche den Sinn der Beziehung nicht zu entkräften: Beziehung ist Gegenseitigkeit. So hätte er denn ein Bewußtsein, der Baum, dem unseren ähnlich? Ich erfahre es nicht. Aber wollt ihr wieder, weil es euch an euch geglückt scheint, das Unzerlegbare zerlegen? Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade, sondern er selber.“459

verstehen und diese Erkenntnis in begrifflicher Esform festzuhalten – ohne dabei aber das eigentliche Wagnis, dichte Beschreibung zu ermöglichen, aus den Augen zu verlieren. Bei dieser geht es Geertz, wie Buber, zu allererst um Sinn und Bedeutung, dem Verständnis der Menschen von deren Wirklichkeit. Im Gegensatz zu Geertz jedoch, möchte Buber nicht nur über die Schultern der Menschen blicken, sondern tatsächlich mit ihnen Ich und Du leben. 459 Buber 1995, 7-8

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3.3.3 Der Dialog in der Darstellung der Ergebnisse In einem nächsten Schritt stellt sich nun natürlich die Frage, ob und wie der dialogische Charakter der Forschung auch in der Darstellung der Ergebnisse bewahrt werden kann.460 Dass dies möglich sei, wurde vor allem seitens der Kritiker des dialogischen Paradigmas bezweifelt: „Critics of Dwyer and Tedlock inevitably put their teeth into the most palpable part of what is really a complex epistemological argument, namely the dialogical form of ethnographic writing. [...] they have been quick to dismiss dialogical ethnography as well intended but utopian.“461

Mit einer dialogischen Darstellungsform, so Gottowik, verbinde sich das Versprechen, dass die Form, die der Andere wählt, um über sich selbst zu berichten, genauso wie inhaltliche Details mit in den Text einfließen.462 Ein ethnografischer Text, der sich dem dialogischen Paradigma verpflichtet fühlt, befördert die Entfaltung und Selbstdarstellung der zu erforschenden Kultur, ohne sie schon vorab auf ein bestimmtes Darstellungsmodell festzulegen. Es gibt keinen Grund, so betont Tedlock, den interkulturellen Dialog nicht fortführen zu können, wenn der Forscher wieder in der Heimat ist und dort seine Feldnotizen zum Text verarbeitet.463 Analoge Anthropologie nähert sich in der Regel einseitig dem Erkenntnisgegenstand, schreibt über die „Forschungssubjekte“ und tauscht den Diskurs im Feld mit dem der wissenschaftlichen Verarbeitung aus. Eine dialogische Herangehensweise dagegen möchte auch bei der Darstellung der Forschungsergebnisse Raum geben für einen Prozess der Selbstentfaltung, der sich im Diskurs mit den Menschen im Feld abzeichnete. Anstatt sich also zwischen dem Verfassen eines persönlichen Erlebnisberichts oder der objektiv-distanzierten, generalisierten Beschreibung der Menschen im Feld entscheiden zu müssen, berichtet der dialogische Text von den Begegnungen im Feld und übermittelt darin Erkenntnisse über eine andere Kultur. „In contrast with confessional memoirs in which the ethnographer becomes a superhero (with legendary linguistic and interactional skills) or else a slapstick antihero (stumbling through field research), narrative ethnographies focus not only on the ethnographer’s Self but also on

460 Vgl. Clifford 1983, Rabinow 1985 461 Fabian 1990, 764 462 Gottowik 1997, 294 463 Tedlock 1986, 484

438 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS ethnographic Others and the precise nature of the interaction between Self and Other. What follows then, is a multitude of voices and textures, each revealing human experience.“464

In klassischen ethnografischen Werken, so stellt Tedlock heraus (und bezieht sich dabei vor allem auch auf Geertz), ist höchst selten von Gesprächen zwischen Einheimischen und Forschern die Rede. Direkte Aussagen von Einheimischen kommen entweder in Form einzelner Worte, die direkt zitiert, für den Leser unverständlich sind und dem Gesagten den Hauch des Exotischen anhängen, oder in Geschichten, Sagen, Mythen und Gebeten zum Ausdruck. Die Funktion direkter Zitate besteht dabei nicht darin, die Einheimischen selbst zur Sprache kommen zu lassen, sondern vielmehr darin, „to give evidence, in just the way that souvenirs do, that the person who now occupies the armchair, was once in the field, talking to actual people in an actual far-off place.“465 Auch Clifford bemerkt kritisch, dass sich die Rolle des Forschers, der im Feld Gespräche führt, meist drastisch ändert, wenn er zu Hause am Schreibtisch aus komplexen Zusammenhängen klar nachvollziehbare Bedeutungsgehalte herauszieht und entsprechend darstellt: „The research process is separated from the texts it generates and from the fictive world they are made to call up. The actuality of discursive situations and individual interlocutors is filtered out. But informants – along with field notes – are crucial intermediaries, typically excluded from authoritative ethnographies. The dialogical, situational aspects of ethnographic interpretation tend to be banished from the final representative text.“466

Ethnografische Monologe liefern somit ein fertiges Erkenntnisprodukt, welches die Analyse des Geschehens über dieses erhebt, wohingegen dialogische Darstellungsformen den Prozess der Erkenntnisgewinnung in den Mittelpunkt rücken wollen. 467 Verschiedene Formen der dialogischen Darstellung sind denkbar, solange sie dazu beitragen, Andersartigkeit authentisch zu dokumentieren. James Clifford listet in On Ethnographic Authority einige Autoren auf, die sich auf unterschiedlichste Weise der dialogischen Vorgehensweise in ihrer ethnografischen Darstellung verpflichtet haben. Da gibt es einige Anthropologen, welche den Dialog zwischen zwei Menschen als Form nützen, um Information zu transportieren, andere, wie Kevin Dwyer oder Vincent Crapanzano geben mehr oder weniger wörtlich Auszüge aus den im Feld geführten Gesprächen wieder.468 Clifford weist allerdings kritisch

464 Tedlock B. 1992, xiii-xiv 465 Tedlock 1986, 485; Vgl. Clifford 1983, 139; Rudolph 1992, 50; Wolff 1987, 341 466 Clifford 1983, 132 467 Vgl. Scholte 1986, 12 468 Clifford 1983, 134 ff, Vgl. Gottowik 1997, 294

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darauf hin, dass die textualistische Form nicht unbedingt, die eines Dialogs haben sollte, und schlägt vor:469 „The fictional dialogue is, in fact, a condensation, a simplified representation of complex, multi-vocal processes. An alternative way of representing this discursive complexity is to understand the overall course of the research as an ongoing negotiation.“470

Er argumentiert damit, dass der gesamte Prozess um das Forschungsvorhaben, bevor es überhaupt zu direkten Dialogen kommen kann, und die anschließende Diskussion mit den Menschen im Feld darüber, in die Darstellung mit einbezogen werden müsse. Nur somit könne man wirklich der Komplexität der Begegnung und den Menschen vor Ort als Autoren ihrer eigenen Geschichte Rechnung tragen. 471 Weitere Alternative sei, so Clifford, das Wagnis der Multi-Autorenschaft einzugehen und gemeinsam mit den Einheimischen über deren Kultur zu schreiben. Eine solche mehrstimmige Darstellung sei, so mutmaßt er, die Zukunft ethnologischer Forschung:472 „Anthropologists will increasingly have to share their texts, and sometimes their title pages, with those indigenous collaborators for whom the term ,informants‘ is no longer adequate, if it ever was.“473 Auch die Zielleserschaft ethnografischer Texte wird in Zukunft nicht mehr nur eine gebildete Schicht interessierter Menschen westlicher Kulturen sein, sondern wird vor allem auch die Menschen umfassen, über die geschrieben wird. Diese werden den Dialog aufnehmen, sich ablehnend oder zustimmend äußern  und damit Einfluss darauf haben, wie ihre Kultur ausgelegt und was über sie geschrieben wird:474

469 Vgl. dazu auch Fabian (1990, 764): „Dialogue as a genre of ethnographic writing will not automatically preserve the dialogical nature of the knowledge process.“ 470 Clifford 1983, 135 471 Ebd. ff 472 Ähnlich argumentiert Barbara Tedlock, wenn sie schreibt: „There currently exists a new breed of ethnographer who is passionately interested in the coproduction of ethnographic knowledge, created and represented in the only way it can be, within an interactive Self/Other dialogue.“ (Tedlock 1991, 82), Vgl. auch Lassiter (2001) und Lawless (1992) 473 Clifford 1983, 140 474 Anders als Geertz (Micheelsen 2002) machte ich die Erfahrung, dass die Einheimischen sehr wohl an den Ergebnissen meiner Forschung interessiert waren. Es wurde mir im Zuge der Bewerbung um eine Forschungslizenz sogar zur Auflage gemacht, einen abschließenden Forschungsbericht in die Inuitgemeinden zu schicken. Ein Elder, mit dem ich lange Gespräche führte, sammelte Bücher, die über seine Kultur geschrieben wur-

440 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „In an age when the boundaries of ,culture‘ have become difficult to keep in place, when books travel [...], we have to anticipate the uncomfortable irony that our most enlightened endeavours might not be received as such be the subjects of our writings.“475

Luke Lassiter berichtet von einem Kiowa Elder aus Oklahoma, der ihm während eines Gesprächs ausdrücklich zu verstehen gab: „I’m always willing to give out information like this. But [...] I don’t want anything else said above this. Some people who write books, I’ve read their stories where they build things up that’s not there. When people don’t know >any better@, anytime they hear these things, they believe what you say or write.“476 >Hervorhebung im Original@

Damit, so Fabian, ist der Andere kein Untersuchungsgegenstand mehr, sondern gestaltet die Untersuchung, deren Ausgang und die Evaluation des Unterfangens mit. Die einseitige Repräsentation des Anderen muss der ständigen Präsenz dessen im Prozess der Forschung weichen. Dann erst könne stimmig interpretiert werden und kongruente Beschreibungen über eine Kultur zustande kommen: „In ethnography as we know it, the Other is displayed, and therefore contained, as an object of representation; the Other’s voice, demands, teachings are usually absent from our theorizing. Should this current search >for dialogical forms of research and representation@ attain its highest aims – to transform ethnography into a praxis capable of making the Other present (rather than making representations predicated on the Other’s absence) – then the work of interpretation can begin.“477

Treffendes Beispiel der dialogischen Darstellung eines Forschungsprojektes ist das Buch The Shaman’s Nephew, das bereits im zweiten Teil mehrfach erwähnt wurde. Ohne dass sich der jüdische Autor Sheldon Oberman mit dem Inuit Künstler Tookoome direkt verständigen konnte (Tookoome spricht kein Englisch), entstand aus einer zufälligen Begegnung über Jahre hinweg ein faszinierendes Buch voller Geschichten und Bilder, welche Aspekte der Kultur und der Spiritualität der Inuit wiedergibt. Obermann gelingt es darin, nah am Originalton von Tookoome die Geschichten des Inuitjägers und Neffen eines großen Schamanen festzuhalten. Und dieser untermalt das Geschriebene ausdrucksstark mit seinen Zeichnungen. Stolz präsentierte mir Tookoome während des Kunstfestivals in Inuvik sein Buch, um mir den, und amüsierte sich außerordentlich über den Unsinn, den er nicht selten darin vorfand. (Vgl. Allen 2005) 475 Abu-Lughod in: Lassiter 2005, 49 476 Lassiter 2001, 137 477 Fabian 1990, 771

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zu erklären, wer er sei. Das Besondere an diesem gemeinsamen Werk ist, dass die unterschiedlichen Formen der Darstellung, beziehungsweise der Interpretation von kulturellen Praktiken und spirituellen Ritualen nicht nur nebeneinander stehen, sondern sich zu einem stimmigen Gesamtbild ergänzen. „When Jewish author/storyteller Sheldon Oberman met Inuit artist/hunter Simon Tookoome, he knew the encounter was special. Still, he had no idea their meeting would result in an amazing collaboration that would span a decade. Through the use of many tape recordings and translations, Sheldon has painstakingly woven the threads of a remarkable man’s life into a book for all to treasure. With Tookoome’s drawings to enhance the text, Oberman has managed to express the cadence and voice of one of the last of the Inuit to live the traditional nomadic life in the Arctic.“478

Obwohl viele Anthropologen eine einseitige Auslegung beziehungsweise monologische Darstellung kritisieren, so stellt Lassiter fest, reduzieren sie häufig in ihrer endgültigen Fassung dennoch vor allem spirituelle und mystische Aspekte der erforschten Kultur auf psychologische oder sozio-kulturelle Erklärungen und bringen damit wieder die Annahme rationaler Überlegenheit zum Ausdruck. 479 Anders formuliert, stellen sie ihre eigene Wirklichkeitsauffassung über die Erklärungen der Menschen im Feld und sprechen diesen damit ihre Vorstellungen der Realität in Abrede. Dies geschieht, obwohl, und dies macht Geertz unmissverständlich deutlich, religiöse Praktiken nicht nur Modell von, sondern auch für die Wirklichkeit sind, somit nicht nur der Glaube eine bestimmte Weltsicht induziert, sondern auch umgekehrt die erlebte Wirklichkeit keinen Zweifel an dieser aufkommen lässt. 480 „Ethnographers still choose to explain such >spiritual@ encounters through psychological or metaphorical models, dismissing that they really exist as they do in the communities they study. We may suggest, for instance, that Spirit doesn’t exist as an empirical reality; it exists because Kiowas believe it exists. It is a product of culture. And because culture is very real, Spirit is very real. Yet for people like Kotay >one of Lassiter’s informants@, Spirit is not a concept. It is a very real and tangible thing. An encounter with daw informs belief; not vice versa. We, as academics take a leap of faith – that is one of disbelief [...] – when we argue otherwise. And when we argue from our position of disbelief, however constructed, we argue from a political position of power, privileging our own voice in our own literature.“481 >Hervorhebung im Original@

478 Tookoome, Oberman 1999, Umschlag 479 Vgl. auch Lawless 1992 480 Geertz 1983a, 48 ff 481 Lassiter 2001, 140

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Die kritische Diskussion um die Art und Weise der Darstellung von Andersheit ist spätestens seit der Ablehnung kolonialer Herrschaftsansprüche breitgefächert und intensiv. Letztlich muss trotz aller Bemühungen, den Menschen im Feld selbst Raum zur Mitsprache zu geben, mit Rabinow festgestellt werden: „>T@hose of us who produce texts must face up to the fact, that we can never avoid the author function.“482 Ähnlich schreibt auch Clifford James: „Once ,informants‘ begin to be considered as co-authors, and the ethnographer as scribe and archivist as well as interpreting observer, we can ask new, critical questions of all ethnographies. However monological, dialogical, or polyphonic their form, they are hierarchical arrangements of discourse.“483

Die Entstehung des ethnografischen Textes muss immer eingebunden gesehen werden in ein komplexes sozio-kulturelles, politisches und institutionelles Gesamtsystem. Er wird letztlich zusammengefügt von einer, oder möglicherweise mehreren Personen, die alle von ihrer jeweiligen Situiertheit aus die Welt interpretieren, für ein spezifisches Publikum schreiben und dabei möglicherweise unterschiedliche Ziele verfolgen.484 Sich dieser Faktoren bewusst zu machen und sich der ethischen Verantwortung im Sinne eines Antwortens und in-den-Dialog-tretens zu stellen, ist letztlich entscheidend, um den Menschen im Feld (aber auch sich selbst und der Leserschaft) gerecht werden zu können. 3.3.4 Dialog als Möglichkeit der „kommunikativen Validierung“ der Forschungsergebnisse Im Gespräch mit Arun Micheelsen spricht sich Geertz dagegen aus, Ergebnisse ethnografischer Studien zu den Einheimischen zurückzubringen, um sich zu versichern, dass die eigenen Interpretationen so gut wie möglich die Perspektive der Menschen im Feld wiedergeben.485 In diesem Zusammenhang nennt Gottowik

482 Rabinow 1985, 3; vgl. auch Lassiter 2001, 138 483 Clifford 1986, 17 484 Rabinow (1985, 10) findet in diesem Zusammenhang den Ansatz Pierre Bourdieus hilfreich: „Bourdieu has taught us to ask about any author: in what field, using what cultural strategies from among those historically available, does an author operate?“ 485 Micheelsen 2002, 10. Es ist jedoch auch keineswegs der Fall, dass es Geertz völlig egal war, wie die Menschen im Feld auf seine Beschreibungen über sie reagieren würden. Im Gespräch mit John Gerring (2003) erklärt Geertz: „It takes a long time to be able to tell a joke in Arabic, and if you get a laugh, well…And the same is true about working with cockfights. If you really can act so that you get intelligible responses from your inform-

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Geertz’ dichte Beschreibung des balinesischen Hahnenkampfes in ihrer kunstfertigen Geschlossenheit einen „monolithischen Block“. Die Transparenz dessen, was die Einheimischen über sich selbst sagen, und das, was der Ethnograf zu deuten meint, „wird der vermeintlichen Originalität der Argumentation und einer zweifellos gegebenen Virtuosität der Rhetorik geopfert; eine Auseinandersetzung mit einzelnen Argumenten oder bestimmten Auslegungsschritten ist damit jedoch praktisch unmöglich geworden, da die angebotene Interpretation sich wie aus einem Guß präsentiert.“486 Zudem sei mit der Vermischung von erfahrungsnahen und erfahrungsfernen Begriffen die Analyse beziehungsweise die Diagnose nicht mehr eindeutig aus der dichten Beschreibung herauszulösen. Der Leser könne nicht mehr zwischen Innen- und Außensicht, zwischen Interpretation erster, zweiter oder dritter Ordnung unterscheiden:487 „Ethnografie besteht hier nicht aus sauber voneinander zu trennenden Ebenen der Beobachtung, Beschreibung und Analyse, sondern aus der Interpretation vorgefundener Bedeutungszuschreibungen und der anschließenden Systematisierung dieser Interpretationen.“ 488

Geertz scheint genau dies jedoch antizipiert zu haben, wenn er herausstellt, dass die Unterscheidung zwischen Niederschrift (dichter Beschreibung) und Spezifizierung (Diagnose) eine relative, d.h. bezügliche sei. Es handle sich eben um die doppelte Aufgabe des Ethnografen, um zwei Seiten eines Forschungsganges, die sich wechselseitig durchdringen.489 In vielen dichten Beschreibungen von Geertz geht die Diagnose tatsächlich in die Beschreibung ein, in anderen jedoch scheint er die Analyse von der Beschreibung zu trennen, um einerseits das von ihm Verstandene mit erfahrungsfernen Begriffen zu erklären, oder einer Erklärung mit Hilfe konkreter, erfahrungsnaher Beschreibungen Nachdruck zu verleihen.490 Ähnlich wie Gottowik wirft auch Crapanzano Geertz vor, er ließe die Einheimischen in seinen dichten Beschreibungen kaum selbst zu Wort kommen. Somit sei stets unklar, was seine Interpretation ist und welche Aussagen tatsächlich auf Interpretationen der Einheimischen selbst fußen. Crapanzano behauptet darüber hinaus, Geertz würde sich mit seinem phänomenologisch-hermeneutischen Ansatz anmaants; if you say this about the cockfight or the market or the ritual that they regard as intelligent, then you are obviously beginning to get a hold of it.“ >Hervorhebung der Autorin@ Auch als ich Geertz direkt fragte, ob er generell etwas dagegen hätte, die Ergebnisse den Menschen im Feld vorzulegen, verneinte er dies. 486 Gottowik 1997, 275; vgl. auch Rudolph 1992, 51 487 Ebd., 264 488 Ebd., 250 489 Geertz 1983a, 39 490 Vgl. ebd., 96 ff

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ßen, die Einheimischen besser zu verstehen als sie sich selbst. Denn er würde mit rhetorischem Geschick unter Anwendung erfahrungsferner Begriffe behaupten, erfahrungsnah zu beschreiben. Dabei würde er der (seiner) Rolle des außenstehenden Beobachters in der Analyse einen größeren Stellenwert einräumen als den Menschen vor Ort: „He and his readers come out on top of the hierarchy of understanding.“491 Geertz belege die Richtigkeit seiner Aussage nicht durch nachvollziehbare Beweise, durch Aussagen der Einheimischen, oder dadurch, dass er sein Werk von den Einheimischen selbst überprüfen ließe, sondern er überzeuge in erster Linie durch sein schriftstellerisches Talent, das den Leser tatsächlich in eine fremde Welt zu versetzen vermag, wie dies Geertz selbst von einem guten ethnografischen Bericht fordert.492 Er kritisiert: „,Deep Play‘ offers no understanding of the native from the native’s point of view. There is only the constructed understanding of the constructed native’s constructed point of view. Geertz offers no specifiable evidence for his attributions of intention, his assertions of subjectivity, his declarations of experience. His constructions of constructions of constructions appear to be little more than projections or blurrings of his point of view with that of the native, or, more accurately, of the constructed native. The anthropologist >is@ behind and above the native, hidden but at the top of the hierarchy of understanding.“ 493

Gottowik beanstandet ebenfalls diese Privilegierung der Beobachterposition in den Interpretationen von Geertz, wenn er schreibt, es bedürfe ihm bei seinem Vorgehen nicht nur nicht der Frage an den Anderen, vielmehr reklamiere er für sich, exklusiv für den Anderen sprechen zu können, ja sogar an seiner statt. 494 Eine solche Argumentation laufe, so betont Tedlock, auf eine totale Entmündigung („Knebelung“), der ethnografischen Subjekte hinaus.495 Crapanzano bemängelt, dass man als Leser der Geertz’schen Beschreibungen nie wisse, wie er eigentlich zu seinen Erkenntnissen gelangte. Kritisch fragt er: „Who told Geertz?“496 Und auch Gottowik erwähnt:

491 Crapanzano 1992, 61 ff; vgl. auch Gottowik 1997, 264 492 Ebd., 69 und Geertz 1983a, 26, Vgl. 3.2.2.1 493 Crapanzano in: Clifford, Marcus 1986, 74 494 Gottowik 1997, 277-278 495 Tedlock 1986, 492. Zu diesen Aussagen sei noch einmal kritisch angemerkt, dass sich in Geertz’ The Religion of Java sehr wohl zahlreiche Dialoge finden und dass sich viele seiner Kritiker einseitig auf den Aufsatz Deep Play beziehen. Es fällt jedoch tatsächlich auf, dass Geertz in ethnografischen Schriften nach The Religion of Java von 1960 (z.B. 1963a, 1963b, 1980) kaum noch direkt Dialoge mit Einheimischen wiedergibt. 496 Crapanzano 1992, 67

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„Die Ausblendung der konkreten Erkenntnisbedingungen und insbesondere aller kommunikativen und interaktiven Momente aus dem ethnographischen Text provoziert geradezu zwangsläufig die Frage, aus welcher Quelle sich die Kenntnis des ‚native point of view‘ denn eigentlich speist.“497

Die Konsequenz der semiotisch-monologischen Interpretation von außen, die dem Geertz’schen Vorhaben zugrunde liegt, sei, so Scholte, dass die dichte Beschreibung epistemologisch eher dünn ausfällt. Denn Geertz würde nicht nur den Dialog mit den Menschen im Feld ausblenden, sondern darüber hinaus gesellschaftliche, politische und ökonomische Einflussfaktoren auf beiden Seiten: auf der des Ethnologen und auf der der Menschen im Feld. Anders ausgedrückt verkürze Geertz den Kontext zum Text und den Dialog zum Monolog.498 Dieser betont jedoch ausdrücklich, dass er „Erfahrungen anderer Leute im Kontext ihrer eigenen Ideen“ 499 darstellen möchte – ohne ihnen deshalb übertrieben empathisch begegnen zu wollen. Dabei will er „keiner unsensiblen Verhaltensweise das Wort reden“500, meine jedoch, das Verstehen einer Kultur gleiche eher „dem richtigen Erfassen eines Sprichworts [...] als einer mystischen Kommunion.“501 Zudem hält er es für eine Binsenweisheit, dass die Menschen selbst am besten wüssten, wie sie sich verstehen, denn erfahrungsnahe Begriffe würden unreflektiert spontan von den Menschen einer Kultur benützt, und es brauche erfahrungsferne Begriffe, um diese Erfahrungsnähe aufdecken und beschreiben zu können 502. Anders formuliert, bedienen sich Menschen, die fest in ihrem kulturellen Netzwerk verwoben sind, symbolhafter Handlungen, ohne sich deren Bedeutung immer direkt bewusst zu sein. Ein Gespräch darüber ist deshalb nicht immer möglich oder sinnvoll. Dies scheint ein Grund dafür zu sein, dass sich Geertz gegen Bestrebungen ausspricht, in der ethnologischen Praxis generell eine Rückführung der Daten in das untersuchte kulturelle System zu fordern:

497 Gottowik 1997, 278 498 Scholte in: Renner 1984, 540-541, vgl. auch Scholte 1986 und Keesing 1987, 166 499 Geertz 1983a, 294 500 Ebd., 308 501 Ebd., 292 502 Ebd. Im Gespräch mit Gerring (2003) erklärt Geertz, würde man Forschung unter seinesgleichen betreiben, müsse man sich bewusst distanzieren, um den nötigen Abstand zu gewinnen, damit man überhaupt zu gewinnbringenden Aussagen gelangen könnte: „You take so much for granted when you study your own kind. You have to defamiliarize yourself. You have to get the distance. You have to realize that you don’t understand.“ >Hervorhebungen im Original@

446 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „I tried to do that >to show the natives his results@, but the cockfight is based on an illusion, so they >the Balinese@ do not want to understand it. If they did, it would not work. Sometimes people have a natural resistance to understand what they are doing. On the other hand I did go back and talked with them about what they were doing, but they are not interested in social science or alternative understandings/interpretations of what they are doing. They are not interested in the hermeneutics of cockfights. They already know what it means to them.“503

Auch Robert Schreiter bezweifelt, dass die Überprüfung der Ergebnisse des Ethnologen durch die Menschen im Feld immer sinnvoll ist, beziehungsweise tatsächlich für die Richtigkeit der Aussage bürgt. Er fragt sich, ob „die Angehörigen einer Kultur überhaupt genug Perspektive >haben@, um ihre eigene Kultur objektiv und analytisch beschreiben zu können.“504 Die Beschreibung von innen, so resümiert er, stellt natürlich „wichtiger Teil des Hörens auf eine Kultur“ dar. In der Selbstbeschreibung werden aber unweigerlich Dinge übersehen. Er schlägt deshalb vor: „Um [...] zu ihrer vollen Entfaltung zu gelangen, braucht >die Kulturanalyse@ die dialektische Beziehung zu den Kategorien einer formalen Analyse innerhalb der eigenen Kultur sowie der anderen Kulturen. Nur mit deren Hilfe kann man die unbewußten Beziehungen zwischen empirischen Wirklichkeiten ans Licht bringen und ideologische Arrangements aufdecken, die authentische Bedeutungen in einer Kultur verschleiern.“505

Im Rahmen des dialogischen Theorems liegt es auf der Hand, dass Einsichten, die man im Feld gewonnen hat, dadurch auf ihre Richtigkeit überprüft werden, dass man sie mit den Einheimischen diskutiert, d.h. sie nicht nur im Sein mit den Menschen im Feld gewinnt, sondern auch „kommunikativ validiert“ 506. Durch die kommunikative Validierung, bei welcher der Forscher versucht, sich der Gültigkeit seiner Interpretation dadurch zu vergewissern, dass er diese den Beforschten sozusagen zur Kontrolle vorlegt, somit an deren Eigenperspektive zurückbindet, soll nicht nur die Aussagekraft der Daten erhöht werden. Zudem sollen mögliche Konsequenzen, die sich aus diesen Erkenntnissen ergeben, thematisiert werden. Eine wertschätzende Fremdperspektive kann nämlich beispielsweise den Einheimischen helfen, neue Lösungsansätze für soziale Problemzustände zu finden. Beim Vorgehen der kommunikativen Validierung ist jedoch kritisch anzumerken, dass selbst die Übereinstimmung von Eigen- und Fremdperspektive noch kein 503 Micheelsen 2002, 10 504 Schreiter 1992, 71 505 Schreiter 1992, 72 506 Die kommunikative Validierung gilt innerhalb der qualitativen Forschung als Methode zur Überprüfung gewonnener Erkenntnisse. Vgl. dazu: Moser 1995, 117, Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973; Heinze, Thiemann 1982

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Wahrheitsgarant ist, denn auch die Interpretation erster Ordnung stellt „nur“ eine Interpretation der Wirklichkeit dar.507 Auch übereinstimmende Befunde können falsch sein.508 „Nichts ist kohärenter“, so Geertz, „als die Wahnvorstellungen eines Paranoikers oder die Geschichte eines Schwindlers“509 und, so fährt er fort, die Stringenz sage noch nichts über die Gültigkeit der Interpretation aus. Die Einflussfaktoren im Beziehungssystem zwischen Forscher und Beforschten sind zahlreich. Subjektive Verpflichtungen, emotionale Verbindungen, Machtdifferenzen, Hoffnungen und Wünsche können dazu beitragen, dass Aussagen verfälscht werden. 510 Wie oben (3.2.5.4) ausführlich erläutert, liefern emische und etische Begriffe, die Innen-, wie auch die Außenperspektive, in ihrer dialektischen Bezogenheit wertvolle Erkenntnisse. Diese gingen verlustig, wenn sich beide Sichtweisen decken müssten oder die eine um der anderen Willen revidiert würde, um die Gültigkeit einer Aussage nachweisen zu können. Die Datenrückkopplung an das untersuchte System macht gerade dann am meisten Sinn, wenn nicht eine Interpretation über die andere gestellt oder krampfhaft nach der Bestätigung der eigenen Perspektive gesucht wird, sondern wenn im Dialog über die Erkenntnisse der Forschung ausgetauscht wird. Die Rückkopplung der Daten soll als „Gespräch zwischen Forscherteam und dem Untersuchungssystem“ 511 stattfinden. Neben dem Ziel dieses Vorgehens, Rückmeldung zu den erhobenen Daten zu bekommen, werden vorliegende Erkenntnisse zugleich noch einmal durch weitere, dichtere Einsichten erweitert. Somit kann dieser Prozess als weitere Datenerhebungsphase gesehen werden. Dieses Vorgehen ist in etwas abgewandelter Form in der Sozialforschung auch als das Prinzip der „Triangulation“, „als mehrperspektivischer Zugriff auf das Forschungsfeld“512, bekannt. In der Triangulation werden mehrere methodische Ansätze, beziehungsweise unterschiedliche Perspektiven in der Forschung miteinander kombiniert, denn es wird davon ausgegangen, „dass jede Methode einen besonderen Zugriff auf Realität impliziere, wobei diese perspektivisch gebrochen wird und wie in einem Kaleidoskop verschiedene Farben und Formen sichtbar werden – je nachdem wie man es hält.“513 Gleiches gilt für die dialogische Kombination von Eigen- und Fremdperspektive in Prozessen der kommunikativen Validierung erhobener Daten einer Feldstudie. Objektiv beobachtbare symbolhafte Handlungen können auf vielerlei Weise interpretiert werden, sie bergen möglicher507 Vgl. Geertz 1983a, 23, 26; Rabinow (1985, 7) hält ein einseitiges dialogisches Vorgehen deshalb für „empirically dubious“. 508 Moser 1995, 175 ff 509 Geertz 1983a, 26 510 Vgl. Kavouras 2005 511 Gieske, Rappe-Gieske 2001, 239 512 Moser 1995, 177 513 Ebd., 174-175

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weise unterschiedliche subjektive Sinn- und Bedeutungsgehalte. Im Dialog darüber, in der dialogischen Nebeneinanderstellung unterschiedlicher Wirklichkeitsauffassungen, scheint die Wahrscheinlichkeit am größten, nicht nur diesen verschiedenen Perspektiven Rechnung tragen zu können, sondern der Wirklichkeit als solcher. 514 Dementsprechend soll hier ergänzend zum Geertz’schen Vorgehen einer Haltung des Dialogs das Wort geredet werden, welche nicht zu monologischen Schlussfolgerungen kommen will, sondern vielmehr eigene Erkenntnisse der kritischen Überprüfung durch die Menschen im Feld aussetzen möchte. Die Haltung des Dialogs soll die gesamte Untersuchung begleiten, jedoch in keinster Weise die Bedeutsamkeit einer semiotischen Analyse oder empirischen Validierung unterminieren – ganz im Gegenteil ist diese von Nöten, um sich nicht dialogisch in das zu erforschende kulturelle System zu verstricken und dabei womöglich die wertvolle objektive Forscherperspektive zu verlieren. In diesem Sinne bemerkt Freire: „To negate theory for the sake of practice, as in the use of dialogue as conversation is to run the risk of losing oneself in the disconnectedness of practice. It is for this reason that I never advocate either a theoretic elitism or a practice ungrounded in theory, but the unity between theory and practice. In order to achieve this unity, one must have an epistemological curiosity that is often missing in dialogue as conversation.“515

Dementsprechend soll das dialogische Prinzip keinesfalls in ein methodisches Vorgehen münden,516 etwa in eine rigide Fragepraxis ausarten. Ein Gespräch kann gesucht, soll aber nie erzwungen werden. Es geht um eine Haltung der Empfänglichkeit und der Offenheit, sich dem Anspruch des Anderen verantwortlich zu zeigen, d.h. den Menschen stets das Recht einzuräumen, eigene Erkenntnisse über sie kritisch zu hinterfragen, ihnen in jedem Fall das letzte Wort zu geben. Dies, so soll hier argumentiert werden, verhilft einer ethnografischen Schrift zu einer glaubwürdigeren Validierung, als ein in sich geschlossenes Werk, rein aus der distanzierten Beobachterperspektive heraus verfasst.

514 Dies erinnert an Mikhail Bakhtin und sein polyphonisches (vielsprachiges) Konzept der Wahrheit. 515 Freire 2007, 19 516 Donaldo Macedo (in: Freire 2007, 17) erwähnt, dass dies leider häufig der Fall ist: „Unfortunately many educators […] transform >the@ notion of dialogue into a method, thus losing sight of the fact that the fundamental goal of dialogical teaching is to create a process of learning and knowing that invariably involves theorizing about the experiences shared in the dialogue process.“

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3.3.5 Sozialethische Reflexion: Partizipation, Empowernment und soziale Veränderung Wie oben erwähnt (vgl. 3.3), gab es in den letzten Jahren vermehrt Versuche, ein dialogisches Vorgehen in der Forschung von der Planungsphase bis zur Evaluation des Prozesses als Gemeinschaftsprojekt von Wissenschaftlern und Einheimischen durchzuführen.517 Luke Lassiter berichtet davon, wie zunehmend davon Abstand genommen wird, kulturelle Symbole „über die Schultern der Einheimischen“ hinweg zu interpretieren. Stattdessen werden vermehrt kooperative Forschungsprojekte durchgeführt, bei denen Forscher „Schulter an Schulter“ mit Einheimischen versuchen, gemeinsam zu Erkenntnissen und neuem Wissen zu gelangen – Wissen, das sowohl für die Wissenschaft von Bedeutung ist, als auch ganz konkret für die Menschen im Feld.518 Dieser Trend hin zu gemeinschaftlichen Forschungsprojekten (collaborative/ participatory ethnography) resultiert unter anderem aus der „Krise der Repräsentation in der Ethnografie“519, in welcher einerseits das (Unrechts-)Bewusstsein für koloniale Machtstrukturen wuchs, zum anderen das Eingeständnis der Unmöglichkeit objektiver, beobachter- und kontextunabhängiger Beschreibungen alte Forschungsmethoden in Frage stellte. Zudem wurden seitens indigener Völker Stimmen laut, in Forschungsprojekte involviert, nicht nur von außen erforscht und in gewissem Sinne durch die daraus resultierenden Erkenntnisse definiert zu werden.520 Donald Fixico schreibt beispielsweise, wie eurozentrisch, falsch und vorurteilsbehaftet die Geschichte und kulturelle Aspekte amerikanischer Ureinwohner an Schulen und Universitäten dargestellt und gelehrt wird. Er fordert die Aufgabe der einseitig „weißen Perspektive“ zugunsten einer Denkweise, die sich dem Dialog mit den First Nations verpflichtet fühlt.521 Willie Ermine (Cree First Nations) pflichtet ihm bei, wenn er schreibt:

517 Diese Entwicklung hin zu kooperativen Forschungsprojekten wird beispielweise in Critical Inuit Studies offensichtlich. Alle Aufsätze zu Forschungsunternehmen der letzten Jahre unter Inuit in dieser Sammlung bedienen sich dialogisch-partnerschaftlichen Methoden. Zudem verlangen führende Forschungseinrichtungen vermehrt den Nachweis von indigenen Kooperationspartnern, bevor sie Forschungsgelder bewilligen. 518 Lassiter 2001, 2005 519 Vgl. Berg, Fuchs 1993 520 Paulo Freire (2007) weist unmissverständlich darauf hin, wie die Forschung, Erziehung und Bildung monopolisiert durch die elitäre Bevölkerungsschicht zur Definition des Selbstverständnisses und der Unterdrückung marginalisierter Randgruppen beiträgt. 521 Fixico 1996. Vgl. Auch Kral, Idlout in Stern, Stevenson 2006, 56; Ermine, u.a. 2004

450 | „DICHTE B ESCHREIBUNG “ IN DER A RKTIS „The construction of western knowledge has constructed our image. The story of the west is what our children are getting. The danger is that there is a mono-cultural point of view about how humans are supposed to be, and this does not create an optimal condition.“522

Ähnlich diskutiert Lassiter die weitreichenden ethischen Implikationen des monographischen Schreibens über andere Kulturen. Er betont, es ginge nicht nur darum, der ethischen Verantwortung nachzukommen, die fremde Interpretation neben der eigenen stehen lassen zu können, sondern: „It is about the complete irrelevance of academically positioned interpretations to >the native@ community; and, most importantly, it is about that these interpretations have in defining >the native@ community to the outside (and to future generations).“523

Anstatt weiterhin passiv auf die Einflüsse zu reagieren, sich von außen definieren zu lassen, begannen die Menschen in den letzten Jahren verstärkt, sich selbst ihrer Identität zu vergewissern und ihr Schicksal selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.524 Der erste Schritt hierfür ist in der Regel eine intensive Forschung zur komplexen Gemengelage in der schwierigen Zeit des Übergangs von Tradition zur Moderne. Teilweise initiieren indigene Gruppen selbst Forschungsprojekte und ringen dabei um Methoden, die ihren eigenen kulturellen Präferenzen und Bedürfnissen entsprechen.525 Beispiel hierfür ist der Aufsatz A narrative of research with, by, and for Aboriginal Peoples über Richtlinien zu Forschungsprojekten mit Ureinwohnern in Saskatchewan, der 2006 veröffentlicht wurde. Er bietet eine Reflexion darüber, „how the First Nations principles of ownership, control, access, and possession are understood and enacted by a research team committed to community-based research and participatory action with Aboriginal Peoples.“526 Grundlegende Begriffe wie Besitz, Kontrolle oder Zugangsrecht unterscheiden sich so massiv von Vorstellungen westlicher Forscherteams, dass zunächst einmal diese geklärt werden müssen, um effektiv den Brückenschlag zwischen traditionellen Formen der Erkenntnisgewinnung und modernen Forschungsmethoden bewältigen zu können. Nur so können Erkenntnisse aus der Forschung tatsächlich für die Menschen vor Ort relevant sein und dienen nicht mehr nur dem Interesse westlicher Wissenschaftler. Hinsichtlich einer kultur-sensitiven Forschungsmethode heben die

522 Ermine in: Ford 2006 523 Lassiter 2001, 143 524 Die Prozesse um die Selbstverwaltung, welche in Teil II ausführlich dargelegt wurden, spielen hier natürlich eine große Rolle. 525 Ermine, u.a. 2004, 14 526 Baydala 2006, 48

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Autoren in oben genanntem Aufsatz beispielsweise auch die Bedeutsamkeit der Einbindung von Elders in der Forschung unter First Nations527 hervor: „Research participants are not only collaborators on the research but, also the community being researched sets the agenda and direction for research. [...] Elders are never selfappointed – they become elders by being recognized by a community and therefore have a very good understanding of community needs and priorities. [...] Instead of the academic community saying, ,this is what’s best for you‘, the community being researched was given space to say, ,This is what we need. This is what we think is missing and this is where we think we should direct our research.‘“528

Ziel kooperativer Forschungsunterfangen stellt häufig nicht in erster Linie eine Erkenntnis dar, die wissenschaftlich genutzt werden soll. Es geht vielmehr darum, die Kluft zwischen akademischer Überhöhung und lebensweltlichem Realitätsbezug, zwischen autoritären Darstellungen über eine Kultur, gespickt mit erfahrungsfernen Begriffen, und dem Verständnis der Menschen über sich selbst, deren traditionellem, erfahrungsnahem Wissen, dialogisch zu überwinden, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die sowohl für Wissenschaftler von außen, als auch für die Menschen vor Ort von Bedeutung sind.529 Die Alaska Native Science Commission macht es sich beispielsweise zur Aufgabe, wissenschaftliche Forschungsmethoden mit traditionellem Wissen der Inuit sinnvoll zu verbinden: „The goals of the Alaska Native Science Commission are to facilitate the inclusion of local and traditional knowledge into research and science, >to@ participate in and influence priorities for research, >to@ seek participation of Alaska Natives at all levels of science, >to@ provide a mechanism for community feedback on results and other scientific activities, >to@ promote science to Native youth, >to@ ensure that Native people share in economic benefits derived from their intellectual property.“530

Bei der Durchführung gemeinsamer Forschungsunternehmen besteht die Hoffnung, Menschen zu befähigen, selbst ihre Lebenslage zu analysieren, zu verstehen und Aussagen über sich selbst treffen zu können, um letztlich als Experten dieser Lebenslage, sinnvoll den Herausforderungen des Wandels begegnen zu können. Im Sinne des Empowerment soll durch den transparenten Prozess der Wissensgewin527 Auf der Website der Alaska Native Science Commission (s.d.) findet sich eine treffende Aussage zur Bedeutsamkeit der Elders in der Forschung: „When an elder dies, a library burns.“ Vgl. auch Jolles in: Stern & Stevenson 2006, 35-53 528 Baydala 2006, 54 529 Vgl. Lassiter 2001, 2000 530 Alaska Native Science Commission 2007

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nung von innen heraus (im Gegensatz zur Erforschung von außen) Kräfte freigesetzt werden, die kulturelle Identität fördern und stärken. Dies erinnert an Paulo Freire, der die „Kultur des Schweigens“ der Unterprivilegierten, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben, durch den wertschätzend komplementären Dialog, und ein daraus resultierendes neues Bewusstsein für Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme, aufbrechen will: „Every human being, no matter how ,ignorant‘ or submerged in the ,culture of silence‘ he or she may be, is capable of looking critically at the world in a dialogical encounter with others. Provided with the proper tools for such encounter, the individual can gradually perceive personal and social reality as well as contradictions in it, become conscious of his or her own perception of that reality, and deal critically with it.“531

Sandra Kirby und Kate McKenna plädieren in diesem Zusammenhang für eine Forschung „from the margins“ 532, welche sozio-kulturelle Entwicklung befördern soll. Sie betonen: „The method of researching from the margins involves two interrelated processes which connect the personal and political. First, research from the margins requires intersubjectivity: an authentic dialogue between all participants in the research process in which all are equally knowing subjects. And second, it requires critical reflection. Critical reflection involves an examination of people’s social reality, for as Freire has pointed out, this is ,the real, concrete context of facts‘. Research from the margins is not research on people from the margins, but research by, for and with them.“533 >Hervorhebungen im Original@

In diesem Sinne bekommt die oben diskutierte Rückbindung der Forschungsergebnisse ins Feld noch eine weitere Bedeutung neben der erwähnten kommunikativen Validierung. Elaine Lawless argumentiert für die unbedingte Offenheit des Forschers, sich den Interpretationen der Einheimischen zu den eigenen Interpretationen über deren Kultur auszusetzen. Diese Rückbindung über die Interpretation der Interpretation stellt Schlüsselfunktion in ihrem Ansatz einer „reziproken Ethnografie“534 dar. Es geht hier nicht in erster Linie um eine rein epistemologische Beweis531 Shaull in: Freire 2007 532 Kirby 1989 533 Ebd., 28 534 Lawless (1992, 310) erklärt ihre Methode der reciprocal ethnography wie folgt: „The scholar presents her interpretations; the native responds to that interpretation; the scholar, then, has to adjust her lens and determine why the interpretations are so different and in what ways they are and are not compatible. The scholar may still believe >something else@; yet >is@ morally obligated to listen and hear the words of >the@ subject.“

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führung für die Richtigkeit der Erkenntnisse, sondern darüber hinaus um zutiefst ethisch-moralische Verantwortlichkeiten.535 Die ethnografische Situation fordert, so Lawless, „that we subject our interpretations to the interpretations of our subjects.“536 Der Dialog über unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Interpretationen soll vor allem im Wissen darum aufrechterhalten werden, dass die Schlüsse, die im Rahmen eines Forschungsprojekts gezogen wurden, nie abschließend sein können. Dieser Dialog ist es, der letztlich in den Dialog mit der Leserschaft des ethnografischen Textes eingehen soll. In diesem Text sollen sich die Menschen, die in der Forschung involviert waren, wiederfinden können. Er soll nicht nur in einem akademischen Fachjargon verfasst, einer gebildeten Elite zugänglich sein.537 Vor allem auch im Licht der Ambivalenz von Kulturen 538 sieht die partnerschaftliche, reziproke Ethnografie davon ab, Interpretationen einseitig zu bewerten, beziehungsweise in hierarchische Ordnungen zu bringen. In diesem Sinne betont Lawless: „My argument [...] is not that I have to accept Sister Anna’s >her main informant and friend@ interpretations over my own; rather, the argument is that it is critically important that I allow her to respond to my interpretations with her own, and that I insist on the credibility of my interpretation even when they are different from hers. The point is that both should be presented, and that the dialogue between us should be part of the whole picture. No one gets ,the last word‘; we merely share the opportunity to speak directly with the reader.“ 539

Eine partizipatorische Vorgehensweise im Feld, so Lassiter, bedeute die Methode der „Participant Observation“ gegen die der „Observant Participation“540 auszutauschen. Erstere werfe ohnehin einige bedenkliche methodische und ethische Fragen auf. Zum einen bestünde permanent der offensichtliche Widerspruch zwischen teilnehmender Nähe und beobachtender Distanz, der im Feld ausgehalten

535 Ebd. 1992, 305-306, Lassiter 2001 536 Ebd. 1992, 313 537 Vgl. Lassiter 2000, 603 538 Es wird davon ausgegangen, dass traditionelle wie auch moderne Forschungsverfahren sowohl gewinnbringende als auch problematische Implikationen mit sich bringen. In Folge dessen ist davor zu warnen, einseitig nur die Innenperspektive der Menschen als die einzig gültige auszuweisen, oder auf der anderen Seite einer ideologischen Selbstgewissheit als professioneller Forscher zu verfallen und traditionellen Vorgehensweisen ihre Effizienz abzusprechen. 539 Lawless 1992, 313 540 Lassiter 2000, 605-607

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werden müsse.541 Zum anderen sei die Methode moralisch fragwürdig, denn der Forscher versuche das Vertrauen der Einheimischen zu gewinnen, verfolge dabei aber hauptsächlich sein eigenes Interesse, an möglichst aussagekräftige Daten zu gelangen. In der Methode der „beobachteten Teilnahme“ geht es nicht darum, einmal künstlich Nähe und dann wieder Distanz zu schaffen, beziehungsweise vornehmlich den Anderen zu beobachten, vielmehr steht die Beziehung, das „Zwischen“, wie es sich im Feld entfaltet, im Mittelpunkt der gemeinsamen Reflexion über Erkenntnisse: Beforschte werden zu Forscherkollegen, „they are also observing from beyond their traditional role as research subjects.“542 „Here, the ethnographer can no longer claim to be the ‚objective‘ and ‚observing‘ participant: ethnography is defined and shaped by human relationships; not an ‚objective‘ search for knowledge.“543 Der Forscher, der sich auf ein derartiges kooperatives Vorgehen in der Forschung einlässt, muss sich nicht nur loslassen können von der eigenen Kontrolle über den Prozess, sondern muss darüberhinaus offen sein für die vielen verschiedenen Richtungen, die das Projekt im Prozess seiner dialogischen Entfaltung einschlagen kann.544 So berichtet beispielsweise Molly Lee davon, wie die enge Freundschaft mit ihrer Inuit Kollegin im Feld nicht nur den Ausgang ihrer Forschung (ihre Daten) über die traditionelle Körbeflechtkunst der Inuit, sondern zudem die Methode, ihr Vorgehen im Feld, maßgeblich beeinflusste: „As the study shaped my friendship with Flora, Flora has likewise shaped my research, both positively and negatively. On the downside this friendship, like any other, requires selfcensorship, and this in turn means that when the times comes to write things up, I am prevented by loyalty from discussing topics such as social interactions in the depth that I otherwise might. And knowing this I experience pangs of conscience. On the positive side my friendship with Flora has benefited my research in more than the incidentals of travel. I set out to do a straightforward project that would reconstruct this history and generate a taxonomy of Yup’ik basketry. But experiences such as harvesting basked grass each fall have given me an appreciation of the importance of subsistence activities in the lives of Yup’ik women – and the hardship that denial of these activities would bring to them.“ 545

541 Vgl. dazu auch Geertz’ Aufsatz Thinking as a moral act, in dem er unter anderem problematisiert: „One must see society as an object and experience it as a subject.“ (2000a, 39) 542 Kral, Idlout in: Stern, Stevenson 2006, 57 543 Lassiter 2000, 608 544 Vgl. Lassiter 2001, 144; Lassiter 2000, 606; Jolles in: Stern, Stevenson 2006, 46; Kral, Idlout in: Stern, Stevenson 2006, 57 545 Lee in Stern & Stevenson 2006, 33

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Die Diskussion um Möglichkeiten der konkreten Umsetzung dialogischer Konzepte in partnerschaftlichen Forschungsprojekten macht deutlich, dass jede Forschungsmethode nicht nur epistemologische oder politische Fragen aufwirft, sondern immer auch ethische Implikationen in sich birgt.546 In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass selbst ein gut gemeintes, ethisches Vorgehen seitens des Forschers von den Menschen im Feld nicht unbedingt als solches aufgefasst werden muss, sind doch Vorstellungen zu Ethik und Moral, Begriffe wie Respekt, Achtung und Ehrlichkeit zutiefst kulturell geprägt.547 Von einer Episode zu unerwartet unterschiedlichen Auffassungen von Privatsphäre, Datenschutz und Wahrung der Anonymität weiß Clifford Geertz zu berichten: „When I went back to my town in Java after 25 years, the last of my books to be translated into Indonesian was a social history of this town that just came out when I was there. I had changed all the names (as you usually do) and one of my old informants had xeroxed the text and wrote in all of the proper names and had distributed them to the people there, and so when I went around to talk to them I had a lot of discussions about this. It was great fun, they would pull out the pages, it was great fun.“548

Die gegenseitige Verständigung darüber, wie konkret ein ethisches Vorgehen während eines gemeinsam durchgeführten Forschungsprojekts aussieht, damit grundlegende Bedürfnisse auf beiden Seiten befriedigt werden können, ist unbedingt notwendig, um dieses auf eine solide Grundlage zu fußen. Eine solche Verständigung stellt nicht selten erste große Herausforderung dar und kann viele Stunden in Anspruch nehmen. Kral und Idlout berichten hierzu: „The biggest challenge was understanding our different cultural and professional perspectives. We have found that when meeting to discuss research in a group of Inuit and qallunaat, we needed to explain our taken-for-granted concepts to each other. [...] Our worldviews and perspectives are different, and it takes time and effort to understand each other.“549

In diesem Zusammenhang sei ein Konzept erwähnt, das Willie Ermine heranzieht, um die Forschung, in welcher verschiedene Kulturen involviert sind, in einen ethischen Rahmen zu stellen, der für alle Beteiligten nicht nur akzeptabel, sondern ermutigend und ermächtigend wirkt. Hintergrund für seine Studien stellt die lange Geschichte einseitig euro-amerikanisch, kolonialistisch geprägter Forschungspro546 Vgl. Lassiter 2001, 143 547 Page (1988, 166) spricht in diesem Zusammenhang von einem „dialogic gap between two life-worlds.“ 548 Panourgiá 2002, 429 549 Kral, Idlout in: Stern, Stevenson 2006, 67

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jekte unter Ureinwohnern dar. Trotz vieler gut gemeinter Versuche in den letzten Jahren, so Ermine, sei es für viele Forscher schwer, die eigene geschichtliche und sozio-kulturelle Situiertheit zu überwinden und in erster Linie hörend in den Dialog zu treten. Hier helfe die Vorstellung eines neutralen Bereichs des Dialogs, eines „Ethical Space“550, zwischen den in der Forschung Beteiligten, welcher diese von eigenen Präferenzen Abstand nehmen lässt, ohne sich von ihnen verabschieden oder die eigene Herkunft verleugnen zu müssen. Im geschützten Raum des Ethical Space berühren sich zwei unterschiedliche Wissens- und Wertesysteme, die in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zur Entfaltung und neuem Wissen gelangen können. „There have been lots of good attempts by sincere people who have tried to build bridges, but these undercurrents >recurring viewpoints that portray one model of society, such as the western narrative@ are powerful and keep washing away good intentions. [...] When we have had breaches and ruptures in the past, it is because we have failed to look at the area in between our two worlds. It is in this ethical space that we can understand one another’s knowledge systems.“551 „The positioning of these two entities, divided by the void and flux of their cultural distance, [...] produces a significant and interesting notion that has relevance in research thought. The positioning of the two entities creates the urgent necessity for a neutral zone of dialogue. This neutral zone is the ethical space where a precarious and fragile window of opportunity exists. [...] The ethical space provides a paradigm for how [...] people from disparate cultures, worldviews, and knowledge systems can engage in an ethical/moral manner as we work toward giving substance to what the ethical space entails.“552

Gerade in der zu Bewusstsein und öffentlich zum Ausdruck gebrachten Akzeptanz kultureller Unterschiedlichkeit besteht Raum für gemeinsamen Erkenntniszuwachs.553 Die Kluft zwischen den Kulturen birgt paradoxerweise größte Chancen. Der Schutzraum des Ethical Space kann sich nur in der Bestätigung der Unter550 Dieser Begriff stammt ursprünglich von Roger Poole aus seinem Buch Towards deep subjectivity (1972). 551 Ermine in: Ford 2006 552 Ermine, u.a. 2004, 20 553 Deutlicher Ausdruck dieser Wertschätzung kultureller Unterschiedlichkeit ist die Universal Declaration on Cultural Diversity der UNESCO (2001), die deutlich macht, dass kulturelle Vielfalt gemeinsames Erbe und Reichtum der Menschheit darstellt. Artikel 3 der Erklärung lautet: „Cultural diversity widens the range of options open to everyone; it is one of the roots of development, understood not simply in terms of economic growth, but also as a means to achieve a more satisfactory intellectual, emotional, moral and spiritual existence.“

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schiedlichkeit auftun, da er die jeweilige Andersartigkeit nicht in Abrede stellt, sondern würdigt. In ihm kann der Dialog über Wünsche, Bedürfnisse, Hoffnungen, Vorstellungen, Werte und Normen stattfinden. Diese Wünsche, Bedürfnisse, Hoffnungen, etc. bilden einerseits starke, motivationale Kräfte für die kooperative Forschung, können aber, wenn beispielsweise Uneinigkeit darüber besteht, welchem Zweck die Forschung dient, genauso gut Anlass für deren Scheitern sein. Das Konzept des ethical space, so stellt Ermine heraus, muss für alle Beteiligten explizit gemacht und von allen anerkannt werden, damit es fruchtbar zum Einsatz kommen kann: „As a process, the fundamental requirements of the ethical space include an affirmation of its existence. The ethical space cannot exist without this affirmation. The affirmation of the space indicates that there is an acceptance of a cultural divide [...]. The ethical space also requires dialogue about intentions, values, and assumptions of the entities towards the research process.“554

Die hier diskutierten ethischen Überlegungen im Kontext ethnologischer Feldforschung sind in etwas anderer Weise in den Ethischen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsethnologie zusammengefasst. Die entwicklungsethnologische Arbeit findet „in Spannungsfeldern unterschiedlicher Wertesysteme und Interessen statt. Ethische Dilemmata sind dabei [...] unausweichlich“555. Die von Michael Schönhuth und Frank Bliss zusammengestellte Handreichung soll vor dem Hintergrund dieser Spannungen und Ungewissheiten für die in der entwicklungsethnologischen Praxis Tätigen einen Orientierungsrahmen für individuelle, ethisch bewusste und begründete Entscheidungen darstellen. Sie soll helfen, in schwer durchschaubaren, komplexen sozio-kulturellen Zusammenhängen auf eine ethische Grundrichtung zurückgreifen zu können. Trotzdem muss man sich immer auch bewusst sein, dass das Fremde in ungeahnter Weise auch sicher geglaubte ethische Vorstellungen in Frage stellen kann, von welchen man (vor dem Hintergrund der eigenen Herkunft) ausging, sie seien allgemein akzeptiert. Leitlinie 1 definiert Entwicklung „als die Verbesserung der Situation von Menschen gemäß ihrer eigenen Kriterien und Ziele vor dem Hintergrund einer gemeinsamen globalen Verantwortung“556. Ähnlich wie im Konzept des ethical space besagt die 2. Leitlinie „Respekt“, dass bei der Arbeit mit Ungleichheit, mit unterschiedlichen Wertesystemen die Schaffung von Freiräumen für den Dialog, die Empathie und Verständnisbereitschaft, sowie Fairness in Verhandlungen zentrale Voraussetzungen für den gewinnbringenden Dialog darstellen. Dabei, so betonen 554 Ebd., 21 555 Bliss, Schönhuth 2002 556 Ebd. Hervorhebung BS

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die Autoren, bedeutet Respekt „nicht kritiklose Akzeptanz aller fremden Werte“. Es geht vielmehr um eine „konstruktive Auseinandersetzung“557. Durch Modelle der Partizipation (Leitlinie 3), die nicht nur Methode, sondern vor allem Ziel entwicklungstheoretischer Arbeit darstellt, sollen Benachteilige ermächtigt und bestehende Machtverhältnisse in Frage gestellt werden. Die Menschen sollen „Entwicklungsziele selbst formulieren und an ihrer Realisierung maßgeblich beteiligt sein“ 558. Das Streben nach größtmöglicher Transparenz fordert die Offenlegung der Interessen, des Anlasses, der Ziele und der Methoden der Träger der Forschung (Leitlinie 4). Zudem sollen die Ergebnisse der Studie den Betroffenen vorgelegt werden, damit sie „die Möglichkeit einer abschließenden Beurteilung erhalten“559. Leitlinie 5 hebt die Ganzheitlichkeit des Ansatzes hervor, d.h. sie möchte den „wechselseitigen Zusammenhang der verschiedenen Lebensbereiche einer Bevölkerung, sowie das ökologische, politische, wirtschaftliche, soziale und weltanschauliche Umfeld der Region“560 berücksichtigen. Unbeabsichtigte Wirkungen (Leitlinie 6), die womöglich Teile der Gesellschaft schädigen, sollen auf jeden Fall thematisiert und verhindert werden. Die 7. Leitlinie „Datenschutz“ postuliert, dass Entwicklungsethnologen stets „den Menschen vor dem Wissen verpflichtet“ 561 sind. Dabei sind „die lokalen Regeln für Nichtöffentlichkeit zu respektieren“ 562. Dass es aber auch Grenzen der Schweigepflicht gibt, stellt die 8. Leitlinie heraus: Menschenrechtsverletzungen oder Fälle von Umweltzerstörung sollen in geeigneter Form öffentlich zum Thema gemacht werden. 3.3.6 Meta-Dialog: Forscher – Methode – Feldkontext Im Anschluss an die ausführliche Diskussion um die dichte Beschreibung und mögliche ergänzende Methoden in der ethnografischen Forschung soll hier noch ein letzter Gedanke Anklang finden: der Meta-Dialog zwischen Forscher, Methode und Feldkontext. Die eigene Identität, darin eingeschlossen das kulturell geprägte Wert- und Normsystem, die persönliche Lebensgeschichte und Philosophie, Ziele und Visionen, die an die Forschung geknüpft sind, die Einbindung in ein spezielles soziokulturelles System in einer bestimmten zeitlichen Epoche und an einem bestimmten geographischen Ort, prägen das methodische Vorgehen im Feld und die wissen-

557 Ebd. 558 Ebd. 559 Ebd. 560 Ebd. 561 Ebd. 562 Ebd.

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schaftliche Aufarbeitung der gewonnenen Daten erheblich. Zugleich beeinflusst die Anwendung einer speziellen Methode wechselwirkend die Wahrnehmung des Forschers, die Bewegung im Feld, die Darstellung der Ergebnisse und wie der Forscher sich selbst im Feld und in der Heimat definiert. Obwohl ich versuchte, so gut wie möglich die Geertz’sche Methode bei meiner Forschung unter den Inuit anzuwenden, konnte ich dies doch nur auf meine Weise tun. Im Gegensatz zu Geertz bin ich bin keine Schriftstellerin und nicht in erster Linie Anthropologin, sondern Sozialpädagogin und Philosophin. Ich wohne in Kanada, komme aus Europa und bin sozialisiert durch die Erziehung meiner Eltern und der Bildungseinrichtungen in Deutschland – Geertz dagegen war Amerikaner. Dies prägte natürlich die Art, wie ich mit den Menschen im Feld umging, auch wenn ich mich der Geertz’schen Definition von Kultur verpflichtet fühlte und die „Brille“ der dichten Beschreibung mit ihrem Fokus auf kulturelle Symbole und deren tiefere Bedeutung für die Menschen ganz bewusst trug. Eine Methode wird natürlich auch nie in einem kontextuellen Vakuum angewandt. Die Menschen im Feld, deren Form des Umgangs miteinander und mit Fremden, deren Einstellung Forschung gegenüber, deren Geschichte und der Grad der Akzeptanz, die dem Forscher zukommt, haben beträchtlichen Einfluss auf die Methode – und deren Effizienz. So betont Helan Page, dass die Verfolgung rigider Forschungsmethoden wenig zielführend ist, denn „regardless of what the situation was before we enter a field site, the encounter with the ethnographic other is the only predominating context there is.“563 Die Methode der Analyse, so Fabian, bestimmt sich je nach der Gegebenheit des zu beobachtenden Phänomens beziehungsweise nach der Reflexion über die Beziehung vom Forscher zu seinem Forschungskontext. Sie wird aus dem Beziehungsereignis erschlossen und stellt nicht schon im Vorhinein das zu erforschende Phänomen in einen klar umgrenzten Forschungsaufbau.564 Die Entscheidung, mich für die Inuvialuit Regional Corporation (IRC) zu engagieren und den Inuvialuit meine Fähigkeiten als Sozialarbeiterin zur Verfügung zu stellen, während ich zugleich meiner Forschung nachging, hatte erheblichen Einfluss darauf, wie mich die Menschen in den Gemeinden wahrnahmen und wie sie auf mich reagierten. Zudem verhalten sich Menschen, die vornehmlich auf dem Land aufwuchsen, also kaum Schulbildung nachweisen können, eher reserviert gegen Forscher aus entlegenen Universitäten, eine unbekannte Größe, die nicht selten furchteinflößend wirkt. Als die Verantwortlichen von IRC in der Zentrale in Inuvik erklärten, ich käme nicht nur mit meinem persönlichen Forschungsinteresse, sondern auch als Abgesandte von ihnen, um in der Gemeinde als Sozialarbeiterin und Beraterin zu arbeiten, wurde mein Forschungsvorhaben auch von den Men563 Page 1988, 165 564 Fabian 1971, 34

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schen in Paulatuk, die dieses zunächst ablehnten, bewilligt. Dies hatte natürlich zur Folge, dass ich der Schweigepflicht unterlag und viele der Informationen, die ich in meiner Eigenschaft als Sozialarbeiterin erfuhr, nicht für die Forschung verwenden konnte. Ähnlich erzählt auch Page, wie sie ihr Vorgehen im Feld völlig revidieren musste, als die Menschen ihr unmissverständlich zu verstehen gaben, dass sie ihr Auftreten nicht weiter dulden würden, wenn sie nicht bereit wäre, ihre Methode zu ändern: „Donna >informant/consultant@ made it clear, that the community was challenging my learning behaviour and demanding a restructuring of the ethnographic relationship I had imposed on them. If I disregarded this warning and doggedly persisted in sticking with my preferred learning behaviour, they would simply stop acting as information sources. [...] I tried hard to modify my behaviour in an acceptable way. For instance, as a matter of course, I stopped carrying my tape recorder and camera around.“565

Die starre Verfolgung einer speziellen Methode kann zudem in völlig falsche Aussagen münden. Die Ergebnisse der Forschung sind nur noch Zerrbilder, wenn sie der Methode angepasst werden  und nicht umgekehrt die Methode genug Freiraum lässt, den Begegnungen und Erfahrungen im Feld gemäß geformt zu werden. Lassiter und Ellis kritisieren beispielsweise wie Benjamin Kracht ein indianisches Ritual, den Gourd Dance, in ein theoretisches Methodenkorsett zwang und damit die Vielheit kultureller und individueller Ausdrucksformen derer, die dieses Ritual praktizieren, völlig unterschlug: „Such broad models do not always effectively elaborate culturally bound expressions of human emotion, and ought to be left to the purpose for which they were designed. [...] We believe that the Gourd Dance and the people for whom it has such a profound meaning deserve more than the continual and systematic reduction of deeply felt experiences.“566

Diese Überlegungen der wechselseitigen Bezogenheit, des Meta-Dialogs, von Forscher, Feldkontext und Methode scheinen auch mit ausschlaggebend gewesen zu sein, dass Geertz keine dezidierte Forschungsmethode entwickeln wollte.567 Menschliche Vielfalt gebietet, nicht eine Methode als die beste, richtige, effektivste darzustellen. Zudem scheint die Methode, die der Person des Forschers entspricht und die flexibel genug ist, auf die Bedürfnisse der Menschen im Feld einzugehen, diejenige zu sein, die den größten Erfolg verspricht – wie immer dieser definiert werden mag. So muss jeder für sich den stimmigsten Weg finden und sich die 565 Page 1998, 172 566 Lassiter, Ellis 1998, 490 567 Vgl. dazu 3.2.1 und 3.2.2

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eigene Methode erarbeiten. Letztlich, so betont Ermine, „one of the canons of good research is, that it should never hurt the people studied“. Und bestenfalls, so möchte ich noch hinzufügen, soll die Forschung den Menschen dienen, nicht der Mensch der Forschung. Denn: „>D@ie Es-Menschheit, die einer imaginiert, postuliert und propagiert, hat mit einer leibhaftigen Menschheit, zu der ein Mensch wahrhaft Du spricht, nichts gemein. Die edelste Fiktion ist ein Fetisch; [...] beklagenswert, wer das Grundwort ungesprochen läßt, aber erbärmlich, wer sie statt dessen mit einem Begriff oder einer Parole anredet, als wäre es ihr Name!“568

568 Buber 1995, 14

Literatur

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