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German Pages X, 242 [248] Year 2020
Nadine Frei
Deutungen des Geldes Zwischen praktischer Notwendigkeit und abstrakter Möglichkeit
Deutungen des Geldes
Nadine Frei
Deutungen des Geldes Zwischen praktischer Notwendigkeit und abstrakter Möglichkeit
Nadine Frei Leipzig, Deutschland Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät I der MartinLuther-Universität Halle Wittenberg. Gutachter und Gutachterin: Prof. Dr. Christian Papilloud, Prof. Dr. Andrea Glauser. Verteidigung: 2. März 2020.
ISBN 978-3-658-31960-1 ISBN 978-3-658-31961-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31961-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Für meine Großeltern Teresa und Tadeusz Zmorski-Romanowski
Danksagung
Diverse Personen und Institutionen haben zur Durchführung meiner Doktorarbeit beigetragen. Ich bedanke mich herzlich bei Christian Papilloud und Andrea Glauser für ihre instruktive Betreuung während des Promotionsprozesses. Die soziologischen Institute in Bern und Halle bildeten eine unverzichtbare Basis für mein wissenschaftliches Nachdenken über Geld und den fachlichen Austausch mit Kolleg*innen. Großen Einfluss auf mein soziologisches Denken hat die Berner Schule genommen, insbesondere sei hier Claudia Honegger und Charlotte Müller gedankt. Dieses Buch verdankt seine Existenz nicht zuletzt dem lieben Geld: Finanziell wird diese Publikation von der Professur für Allgemeine Soziologie an der Universität Bern unterstützt. Weitere Förderung habe ich durch das Graduiertenstipendium des Landes Sachsen-Anhalt erfahren. Das Schreiben dieser Arbeit fand aber nicht ausschließlich im akademischinstitutionellen Bereich statt. Kritische und erhellende Anmerkungen habe ich im Speziellen von Ulrike Nack, Ewgenia Baraboj, Masha Maier, Markus Flück, Sebastian Jürss, Steffen Wittig und Christoph Kiem erhalten. Neben freundschaftlichem, intellektuellem und emotionalem Zuspruch beinhaltete dies vor allem die Korrektur und das Lektorat dieser Publikation. Eine besondere Rolle im Austausch über meine Studie hat Robert Schäfer eingenommen. Er hat das Projekt von Anbeginn mit leidenschaftlichem und rationalem Engagement unterstützt, mit soziologischen und alltagsweltlichen Fragen weitergebracht und mit herzlicher und konsequenter Hartnäckigkeit über die Ziellinie mitgetragen. Schließlich möchte ich mich bei allen bedanken, die mir motivierend, inspirierend, wertschätzend und in kritischen Momenten auch ablenkend zur Seite standen. Dazu gehören Tanja Walliser, Karina Isenbeck, Martina Zahno, Désirée Waibel, Nahla Küsel, Katrin Weber, Frauke Beyer, Julia Röhrbein, Tim Sonnberger und meine Familie. Eine Bereicherung in vielen Hinsichten und Augenblicken
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Danksagung
ist Lee Hopperdietzel, dem ich an dieser Stelle meinen liebevollen Dank und meine Verbundenheit aussprechen möchte.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Geld in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Einführung in den Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Georg Simmel: Philosophie des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Analytischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Synthetischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Geld als neutrales Tauschmedium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Geld als neutrales Tauschmittel: ökonomische Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Geld als neutrales Kommunikationsmittel: soziologische Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Geld als Selbstzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Dynamische Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Ambivalente Wirkungen des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 »Neubewertung« des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zentrale Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne . . . . . . . . . . . . 3.1 Verhältnis zwischen Rationalismus und Romantik . . . . . . . . . . . . . 3.2 Rationalisierung und Berechenbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Ideengeschichtliche Legitimation rationalen Geldinteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Romantisierung und Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Theorien romantischer Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
3.3.2 Gegenwartsgesellschaftliche Relevanz romantischer Ideale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Moderne Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Erosion der protestantischen Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Der neue Geist des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Rationalistisches und romantisches Weltverhältnis . . . . . . . . . . . . .
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4 Empirische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zur empirischen Herangehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Vorgehen und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Auswahl der Befragten und Interviewsituation . . . . . . . . . . 4.1.3 Auswertung und Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Aufbau und Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sieben Geschichten über Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Geschichte 1: Alltägliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Geschichte 2: Rechnerische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Geschichte 3: Verdiente Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Geschichte 4: Selbstverordnete Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Geschichte 5: Paradoxale Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Geschichte 6: Verhängnisvolle Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7 Geschichte 7: Glücksversprechende Ordnung . . . . . . . . . . . 4.2.8 Zusammenfassung der Geldgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Geltungsbereich des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Auflösung des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Leistungsethische Rechtfertigungen des Geldes . . . . . . . . . 4.3.4 Deutung der Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Zur gesellschaftlichen Legitimität des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Verknüpfung von Theorie und Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Soziologische Diagnosen des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Alltagsweltliche Vorstellungen von Geld . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207 207 207 210 219 224
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Der Klang des klimpernden Goldes erinnert an schöne Naturmomente, an Genüsse, an das Verhalten-Menschliche. Es spricht eben zu den Herzen und zu den Einbildungskräften. Robert Walser
Geld: Wenige Phänomene geben auf eine ähnliche Weise Anlass zu vehementem Streit, zu Moralisierungen, zum Schweigen, aber auch zu Verklärungen, Verharmlosungen und Identifikationen. Es gibt viele unterschiedliche Ansichten darüber, was die Bedeutung von Geld ist. Wird im Alltag über das »liebe Geld« oder den »schnöden Mammon« diskutiert und verhandelt, bleibt häufig ein diffusbitterer Geschmack zurück. Die poetische Beschreibung Robert Walsers steht im Gegensatz zu einem wirkmächtigen Deutungsmuster des Geldes, nach dem dieses widernatürlich, un-authentisch, korrumpierend und schädlich für zwischenmenschliche Beziehungen ist. Bezugnehmend auf dieses Narrativ erfolgt häufig eine distanzierte Positionierung zu Geld, und wenn man doch, wenigstens ganz heimlich, ein Interesse an Geld hegt, wird das Sprechen darüber tabuisiert. In der Soziologie findet sich die Auffassung, dass Geld in alle Sphären des Lebens eindringt und alles zum Schlechteren verändert (vgl. Haesler 2011). Kontrastiv dazu gibt es jedoch Theorien, die besagen, dass dem Geld durch seine Funktion als Kommunikationsmedium Grenzen gesetzt sind (vgl. Parsons 1964). Oder aber, es wird gerade eine dem Geld innewohnende Ambivalenz betont, zum Beispiel die bindender und auflösender Wirkungen des Geldes, um es eng mit der Gesellschaftstheorie zu verknüpfen und so Krisen der Moderne zu erklären (vgl. Paul 2012). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Frei, Deutungen des Geldes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31961-8_1
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Einleitung
Untersuchungsgegenstand und Fragestellungen Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Geld und Moderne. Georg Simmels Philosophie des Geldes (GSG 6) leistete einen fundamentalen Beitrag dazu, die Entwicklung des Geldes und die Herausbildung der modernen Gesellschaft, im Sinne der sozialen Differenzierung, zusammenzudenken. Es handelt sich um eine kritische „Untersuchung der kulturellen Bedeutung der Geldwirtschaft“ (Köhnke 1993: 148). Meine Arbeit knüpft an Simmels Anspruch an, die kulturelle Bedeutungsdimension des Geldes zu untersuchen. Die Frage ist, welche Bedeutung Geld neben seiner Funktion als Medium des Tausches einnimmt. Ich nähere mich den Bedeutungen des Geldes über drei Zugänge an. Erstens: Zunächst gilt mein Interesse soziologischen Diagnosen des Geldes mit einem besonderen Fokus auf Simmels Geldtheorie und ihre soziologischen Weiterentwicklungen. Simmels Anliegen ist es, Geld als Mittel und als Selbstzweck zu theoretisieren. Dafür untersucht er die Entwicklung des Geldes und spürt Veränderungen im Wesen des Geldes und der Gesellschaft auf. Zwar werde Geld zu einer immer wichtigeren Vergesellschaftungsinstanz – denn es festige das Band zwischen Individuum und einer sozialen Gesamtheit auf eine neue Weise –, gleichzeitig jedoch befördere es die Individualisierung und einen Schutz des Persönlichen inmitten der Gesellschaft. Anders formuliert ermöglicht eine zunehmende Monetarisierung auch Freiräume. Geld bringt eine spezifische Dynamik in der Moderne hervor. Um diese zu erfassen, arbeitet Simmel eine Theorie des Geldes heraus, welche materialistische und idealistische Ansätze verknüpft. Idealistisch ist diese in dem Sinne, dass die „Verwendung des Geldes […] Handlungsorientierungen und Bewusstseinsformen notwendig“ (Heinemann 1987: 337) macht. Damit ist Geld Teil eines geistigen Prozesses, denn die „Projizierung bloßer Verhältnisse auf Sondergebilde ist eine der großen Leistungen des Geldes“ (GSG 6: 137). Es leistet einen wesentlichen Beitrag zur Abstraktheit in der Moderne, worunter eine Zunahme der Wirkmächtigkeit von Symbolen gezählt werden kann. Es bedarf einer enormen Abstraktionsleistung, das Quantitative aus Gütern herauszukristallisieren und in einem Symbol erkennbar zu machen. Gleichzeitig entmaterialisiert sich Geld kontinuierlich. Seine Erscheinungsform ist im Wandel begriffen, es wird immer abstrakter. Damit sind wichtige Rationalisierungsprozesse erwähnt, die mit Geld in Verbindung stehen. Geld einseitig nur als Mittel der Rationalisierung zu begreifen, vernachlässigt wichtige Erkenntnisse Simmels. Simmel rekonstruiert in seinem Werk die Ambivalenz des Geldes auf vielfache Weise. Zwar trägt Geld einen maßgeblichen Teil zur „Berechenbarkeit“ (GSG 6: 614) des praktischen Lebens bei, jedoch folgt daraus nicht notwendigerweise, dass dieses nur noch als dumpf, trist und leer empfunden wird. Laut
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Einleitung
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Simmel kann Geld, im Gegensatz zu einem anderen begehrten Objekt, weder überraschen noch enttäuschen. Wünsche können sich in Geld kristallisieren, ohne umgesetzt werden zu müssen. Geld bietet eine Verfügung über einen immensen Raum der Möglichkeiten. Simmel folgert daraus, es sei der „inadäquateste, aber auch der adäquateste Gegenstand unseres Begehrens“ (ebd.: 316). Er erklärt damit unter anderem, wie Geld zum Selbstzweck wird. Bestärken und weiterentwickeln möchte ich in dieser Arbeit die These, dass Geld zwar ein Mittel der Rationalisierung bildet, das einen zweckrationalen Zugang zur Welt verschafft, es zugleich aber auch ein Mittel der Romantisierung ist. Die Besonderheit des Geldes ist es, dass es Potentialität symbolisiert, indem es eine Möglichkeit auf Möglichkeiten darstellt. Geld enthält eine sinnlich-ästhetische Komponente. Es ist ein Mittel der Romantisierung, insofern es Imagination auslöst und einen Abstand zur gesellschaftlichen Realität erlaubt. Damit sind bereits wichtige Ebenen umrissen, um die Bedeutung des Geldes als zentrale Vergesellschaftungsinstanz in der Moderne zu beleuchten. Die Aufarbeitung des Forschungsstandes orientiert sich an folgender Frage: Welche Bedeutung nimmt Geld aus soziologischer Perspektive ein? Zweitens: Der zweite Zugang zur Thematik erfolgt über alltagsweltliche Vorstellungen von Geld. Geld ist nicht losgelöst von gesellschaftlichen Veränderungen und kulturellen Deutungsmustern1 zu verstehen. Angestrebt wird eine Verknüpfung soziologischer Theorien und alltagsweltlicher Vorstellungen von Geld. Diese sind nicht unabhängig voneinander, auch wenn zwischen ihnen grundlegende Diskrepanzen bestehen. Ich gehe davon aus, dass Geld als Regulationsprinzip der modernen Gesellschaft akzeptiert und legitimiert werden muss. Jede und jeder kann „Geld als Geld gebrauchen, ohne zu wissen, was Geld ist“ (MEW 26.3: 163). Bewusst und unbewusst schreibt man Geld Bedeutung zu. Auf den Punkt gebracht: In wichtigen Bereichen unseres Alltags handeln, beeinflussen, begehren wir mit dem Geld und durch das Geld: jeder, der »besser« leben will, muss intensiver mit dem Geld leben und sich auf jene Welt und Gesellschaft einstellen, die den Geldgebrauch ermöglichen und erzwingen. (Heinemann 1987: 322) 1 Die
Relevanz kultureller Deutungsmuster zeigt sich darin, dass sich anhand dieser das Verhältnis der Individuen zur Gesellschaft und zu sich selbst begreifen lässt. Deutungsmuster als normative Orientierungsschemata strukturieren die Wahrnehmung und wirken handlungsanleitend, ohne dass sie den Subjekten bewusst sein müssen (vgl. Oevermann 1973: 19). Dazu Honegger: „Ihre nomisch-stabilisierende Funktion besteht demnach zunächst in der intersubjektiv verbindlichen Zuweisung von kognitiven und normativen Verhaltens- und Einstellungsorientierungen, die die Menschen ihrer sozialen Identität versichern und vor Identitätsverlust schützen“ (Honegger 2015: 25).
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Einleitung
Um die Bedeutungen des Geldes in der modernen Gesellschaft ergänzend zu soziologischen Theorien zu beleuchten, eignet sich eine empirische Fokussierung auf das Alltagsverständnis des Geldes. Daher orientiere ich mich am Ansatz der verstehenden Soziologie (vgl. Weber 2010: 1ff.). Der Gegenstand Geld ist im Alltagsverständnis häufig tabuisiert oder wird zum Anlass für Kritik. Es ist zum Beispiel ein verbreitetes Klischee im Alltagsverständnis, dass Begehren nach Geld Gier, Irrationalität oder menschliche Schwäche darstellt.2 Es besteht eine Art Rechtfertigungsdruck hinsichtlich des Geldes oder eines »richtigen« Umgangs damit. Dies hängt eng mit der Frage zusammen, wie viel Geld einem bedeuten darf: Geld sei wichtig, aber allzu wichtig dürfe man es auch nicht nehmen. Geld als „moralisches Skandalon“ (Bornscheuer 2006: 4) oder zumindest ein Phänomen, das auch laienperspektivisch moralisch verhandelt wird, wirft Fragen nach seinen Grenzen und seinen Möglichkeiten auf. Alltagsweltliche Vorstellungen von Laien, rekonstruiert durch qualitative Interviews, bilden dafür den empirischen Ausgangspunkt. Für die empirische Analyse ist folgende Frage forschungsleitend: Welche Bedeutung wird Geld alltags- und laienperspektivisch zugeschrieben? Drittens: Schließlich erfolgt die Verbindung zwischen soziologischen Diagnosen und alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld durch eine Auseinandersetzung mit dem Rationalismus und der Romantik, um zu untersuchen, auf welche Weise Geld kritisiert und wie es gesellschaftlich legitimiert wird. Ging es Simmel um „dem Geld an sich anhaftende Bedeutungen“ und weniger um Bedeutungen, die aus „sozialen Relationen und Prozessen“ (Degens/Sahr 2019: 20) hervorgehen, ergänzt die Frage nach der gesellschaftlichen Legitimierung des Geldes Simmels Theorie. Max Weber sieht die moderne Gesellschaft von einem spezifischen Rationalismus durchzogen, wobei er eine „Vorherrschaft des Rationalen über das Leben“ (Weber 2013: 3) konstatiert. Geld sei ein wichtiges Mittel zur Etablierung von Rationalisierung in allen Lebensbereichen. Ihren Ursprung habe die Rationalisierung in der religiösen Sphäre, konkret in protestantischen Sekten. Weber rekonstruiert, was es bedeutet, wenn diese moralischen Ansprüche und Tugenden für alle Gläubigen zur Pflicht werden. In der protestantischen Ethik gelte unter anderem die Maxime, Gottgefälligkeit im Berufsethos und in einem streng rationalen Umgang mit Geld zu demonstrieren. Aber auch in anderen Bereichen des Lebens werde eine systematisch-methodische Lebensführung gefordert und gefördert. Die Relevanz des Geldes liege nun darin, dass es zum „Träger der Systematisierung der religiösen Ethik“ (Thiel 2011: 49) wird, wodurch Geld zugleich 2 Kuhn
arbeitet in seiner Studie über die Finanzkrise 2008 heraus, dass Gier im Alltagsverständnis eine zentrale Rolle als Ursache für die Krise zugewiesen wird (vgl. Kuhn 2014: 147ff.; vgl. auch Neckel 2018: 260; Paul 2012: 11).
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Einleitung
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selbst legitimiert werde. Eine zunehmende Rationalisierung befördere letztlich die „Entzauberung der Welt“ (Weber 1991: 367). Gegen diese richtet sich vornehmlich die der Romantik, hier verstanden als geistesgeschichtliche Bewegung, entspringende Kritik. Die romantische Bewegung hatte zwischen 1750 und 1850 einen großen Einfluss in Westeuropa, insbesondere auf Frankreich, Deutschland und England. Zeitlich korrelierte sie mit der industriellen Revolution. Folgt man der Auffassung von Colin Campbell, zeichnet sich die romantische Geistesepoche im Kern aus durch a distinct set of value biases, for feeling over cognition […], imagination over intellect, or as a more elaborate syndrome, as a preference for the dynamic rather than the static, disorder to order, continuity to discreteness, soft-focus to sharpfocus, the inner to the outer and the other world to this one. (Campbell 1983: 285f.)
Isaiah Berlin versteht die Romantik als Protest gegen das zu der Zeit vorherrschende, zentrale aufklärerische Prinzip der Universalität. Die Romantik bringt veränderte Werte und Normen sowie Formen des Denkens und Erlebens mit sich (vgl. Berlin 1999). Romantik richtet sich zwar in einigen ihrer Prinzipien und Ideen gegen Aufklärung, Rationalisierung, Industrialisierung oder, abstrakter gesprochen, die Moderne, sie ist aber weder eine „geistige Gegenbewegung“ (Mannheim 1984: 231f), noch enthält sie ausschließlich restaurative Elemente (vgl. Klinger 1993: 226). Am Beispiel des Geldes, auf das sich romantische Literatur zentral bezog (vgl. Bornscheuer 2006: 5), greife ich die These von Karl Mannheim auf, Rationalisierung und Romantisierung stünden sich gerade nicht oppositionell gegenüber, sondern seien komplementär zu verstehen und zu theoretisieren. Dabei soll nicht behauptet werden, dass alles, was nicht rationalistisch ist, logischerweise romantisch sein muss. Es gibt eine spezifische Kritik an Geld, die romantische Motive birgt, und die sich insbesondere gegen die Rationalisierung aller Lebensbereiche richtet. »Berechenbarkeit der Welt« heißt aber nicht, dass alles von Rationalisierung durchzogen sein muss; Rationalisierung kann sogar die Romantisierung bestimmter Bereiche ermöglichen. Um das Verhältnis zwischen Rationalisierung und Romantisierung zu beleuchten, richte ich meinen Fokus auf rationalistische und romantische Bezugspunkte in den alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld. Dabei zeige ich, dass rationalistische Rechtfertigungen und romantische Motive zur Stabilität der Geldordnung führen. Folgende Frage bietet damit die Grundlage für die Synthese zwischen soziologischen und alltagsweltlichen Theorien des Geldes im Fokus meines Interesses: Wie artikulieren sich in den alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld rationalistische und romantische Motive?
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Einleitung
Aufbau der Arbeit Zunächst wird in Kapitel 2 dieser Arbeit der soziologische Forschungsstand zu Geld in der Moderne aufgearbeitet.3 Geld ist Geld, wenn es vier grundlegende Funktionen gleichzeitig erfüllt: Tausch- sowie Zahlungsmittel, Wertaufbewahrungsmedium und Wertmaßstab. Damit wird eine Differenzierung zu sogenannten „Paleogeldern“ (Servet, zitiert in Paul 2012: 77), wie Schmuckstücken, Edelsteinen oder Fetischen, vollzogen. Diese geldähnlichen Objekte und Zeichen vereinten nicht die vier Funktionen des modernen Geldes und konnten nicht dessen Bedeutung herausbilden. Nicht einmal Tausch- und Zahlungsmittel fielen historisch immer in eins, wenn zum Beispiel für die Mitgift ein anderes Zahlungsmittel eingesetzt wurde, als das im Umlauf befindliche Tauschmittel (vgl. Weber 2010: 55; Paul 2017: 59ff.). Geld allein durch seine vier Gebrauchsfunktionen erklären zu wollen, bleibt jedoch unterkomplex. Da sich die hier vorliegende Studie vorrangig für die kulturelle Bedeutung des Geldes, für seine „geschichtliche Erscheinung“ (GSG 6: 10) in der Moderne, interessiert, muss die Erklärung des Geldes um die grundlegenden Veränderungen des Geldes und der Gesellschaft in der Moderne erweitert werden. Seit Beginn der Industrialisierung hat sich Geld fundamental verändert, in qualitativer wie quantitativer Hinsicht. In vorkapitalistischen Zeiten lebte der Großteil der Menschheit von Subsistenzwirtschaft und Naturaltausch, und das Geldgeschäft betraf sie höchstens am Rande. Demgegenüber stand eine relativ kleine Elite, die ins Geldwesen involviert war (vgl. Deutschmann 2009: 242). Im 18. Jahrhundert verbreiteten und verfestigten sich die Ware-Geld-Beziehungen in der Gesellschaft (vgl. GSG 6: 221ff.; MEW 23: 778ff.; Deutschmann 2009: 248f.; Le Goff 2011: 240 ff. sowie Paul 2017: 101), womit die Funktionen und die Bedeutung des Geldes einem grundsätzlichen Wandel unterworfen waren. Erst dann lässt sich auch von Geld als zentraler Vergesellschaftungsinstanz sprechen. Um die Entwicklung des Geldes und seine gesellschaftliche Bedeutung in den Blick zu bekommen, lasse ich Simmels Philosophie des Geldes eine wichtige Stellung im Theoriegebäude meiner Untersuchung einnehmen. Anhand verschiedener Stellen in seinem Werk gehe ich auf die Ambivalenz des Geldes ein, um meine eigene Akzentuierung zu entwickeln. Es besteht, wie ich aufzeigen werde, eine Ambivalenz zwischen Geld als Mittel der Rationalisierung und Mittel der Romantisierung. Geld ist rationalisierend, enthält allerdings auch ein romantisierendes Potential. Die Rekonstruktion
3 Allerdings
erfolgt keine Definition des Begriffs »Moderne«, und damit einseitige Auflösung der „Mehrdeutigkeit der Moderne“ (Wagner 1995: 10), sondern eine Orientierung an Simmels Ansatz, der insbesondere mit Marx und Weber ergänzt wird.
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Einleitung
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dieser Ambivalenz fördert das Verständnis dafür, wie Geld gesellschaftlich legitim bleibt. Geld verbindet uns stärker mit der Gesellschaft, erlaubt uns aber gleichermaßen Abstand zu ihr. Aufbauend auf dem Kapitel über Simmels Geldtheorie werden im theoretischen Teil dieser Untersuchung Ansätze kritisch beleuchtet, die Geld nicht als gesellschaftliches Verhältnis analysieren, es bloß im ökonomischen Bereich ansiedeln und zu einem neutralen Tauschmedium verkürzen. Insbesondere in der neoklassischen ökonomischen Lehre, die eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Wirkmächtigkeit innehat, findet sich die Bewertung des Geldes als neutrales und harmloses Tauschmedium wieder. Eine ähnliche Auffassung wird auch in der soziologischen Theorie vertreten, wogegen sich Kritik innerhalb der Soziologie richtet. Simmel figuriert als wichtiger Referenzpunkt für soziologische Ansätze, die Geld als Basis für gesellschaftstheoretische Überlegungen nehmen. Sie beschreiben eine mit Geld grundlegend verbundene Dynamik in der Moderne und damit einhergehende Krisen (vgl. Paul 2012; Haesler 2011; Ganßmann 2011; Deutschmann 2008). Geld wird damit verstärkt unter der Perspektive der Rationalisierung interpretiert. Dahingegen können Untersuchungen, die auf einer Mikroebene zu verstehen versuchen, welche Bedeutungen Geld zugeschrieben werden, vielfältige Effekte des Geldes auf lebensweltliche Sphären aufzeigen (vgl. u. a. Zelizer 1994). Kontrastierend zu diesen Geldanalysen erfolgt eine Einbettung meiner Akzentuierung der Ambivalenz des Geldes, um ihre Bedeutung für die gegenwärtige Forschung zu verdeutlichen. Anknüpfend an den Forschungsstand zu Geld werden im Kapitel 3 Rationalismus und Romantik soziologisch erörtert, um gesellschaftliche Deutungen und Narrative des Geldes zu erfassen. Dafür zeichne ich zunächst die Rationalisierungsthese von Weber nach. Die Durchsetzung des kapitalistischen Geistes, und damit auch des Geldes, war kein friedlicher Prozess – dies wird von Simmel unterschätzt. Es ist erklärungsbedürftig, wie sich dieser gegen die damaligen hegemonialen moralischen, religiösen und philosophischen Strukturen und Prinzipien durchzusetzen vermochte. Der Umbruch von der feudalistischen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist materialistisch wie geistesgeschichtlich fundamental (vgl. Weber 2013: 332). Während Simmel dieser Frage vom Standpunkt des Geldes nachgeht, untersucht Weber religiöse „Wahlverwandtschaften“ (ebd.: 106) zwischen der protestantischen Ethik und der modernen kapitalistischen Kultur. Ergänzend dazu argumentiert Hirschman, dass in der Moralphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts die Idee aufkam, rationales Geldinteresse könne eine Art Temperierung destruktiver menschlicher Leidenschaften bewirken. Dagegen habe sich aber die romantische Kritik gewendet, die sich an der „leeren, kalten, engstirnigen, »materialistischen« bürgerlichen Ordnung
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Einleitung
[reibt], der es ja gerade an Leidenschaftlichkeit fehle“ (Boltanski/Chiapello 2013: 606). In der Romantik findet dabei eine Suche nach Authentizität, Autonomie, Selbstverwirklichung und originellem Dasein statt, sowie ein Bestreben „for the kind of pleasure which could be experienced in imagination“ (Campbell 2005: 176). Wichtige Motive, Erklärungsmuster und Narrative werden in Kapitel 3 rekonstruiert, um das Prinzip der Romantisierung mit der Rationalisierung in Beziehung zu setzen. Was das konkret für Geld bedeutet, wird schließlich empirisch ausgelotet. Im Zentrum der Untersuchung steht nicht „irgendein objektiv »richtiger« oder ein metaphysisch ergründeter »wahrer« Sinn“ (Weber 2010: 1) des Geldes, vielmehr werden die kulturelle Bedeutung von Geld und die Bezugnahme auf rationalistische und romantische Motive empirisch beleuchtet. In Kapitel 4 wird daher zunächst die empirische Herangehensweise erläutert und aufgezeigt, inwiefern es sich um ein exploratives Forschungsunterfangen handelt. Ich habe qualitative Interviews mit Laien geführt und ihre alltagsweltlichen Vorstellungen zu sieben Geschichten über Geld verdichtet. Für die Auswertung der Interviews und um einen sinnvollen Bezug auf das Theoriegebäude der Arbeit herzustellen, bin ich der Frage nachgegangen, wie die Befragten Geld kritisieren respektive legitimieren und dadurch eine denk- und handlungsorientierende Ordnung aufbauen. Damit können unterschiedliche Herangehensweisen an die Thematik aufgezeigt werden. Zum Beispiel wird Geld zur Wurzel des Übels – „Geld ist ein Schandfleck“ – oder zum Glücksbringer schlechthin erklärt, denn „die ganze Entwicklung der Menschheit wäre ohne so ein Mittel gar nicht möglich“.4 So lässt sich aufzeigen, dass der »richtige« Umgang mit Geld für die Befragten einen wichtigen Bezugspunkt darstellt: „Man hat seinen Kontostand schon immer relativ klar irgendwie im Gewissen“. Dieser Bezugspunkt dient ihnen dazu, eine Ordnung zu entwerfen, die eine Orientierung für das eigene Handeln sowie zur Beurteilung anderer dient: Weder dürfe man mehr Geld ausgeben als man einnehme, noch dürfe man distinktionslogisch zeigen, dass man „geil“ auf Geld sei. Im ersten Teil der empirischen Analyse zeichnet sich deutlich ab, dass Geld ein Symbol ist, das über seine funktionale Bedeutung als Tauschmittel Bedeutung einnimmt. Daran anschließend geht es im zweiten empirischen Teil darum, wie die Befragten eine mit Geld verbundene gesellschaftliche Ordnung interpretieren. Dafür wird herausgearbeitet, welche Möglichkeiten und Grenzen Geld zugeschrieben werden. Die Befragten nennen Bereiche, wie zum Beispiel Liebe,
4 Zitate
geben.
aus dem empirischen Material werden kursiv und in Anführungszeichen wiederge-
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Einleitung
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Freundschaft oder Glück, die nicht von Geld betroffen seien, wobei Geld als Ausdruck von Entfremdung und Inauthentizität beschrieben wird. Hintergrund dieser Zuschreibung ist die Vorstellung, dass Geld einen destruktiven Charakter innehat. Auch wenn in den Geschichten über Geld Kritik an Geld formuliert wird, wird es freilich nicht nur als illegitim und schädlich begriffen. Es wird auch zum Anlass dafür genommen, die gesellschaftliche Ordnung zu rechtfertigen und Geld sowie den eigenen Umgang damit gegen Kritik zu immunisieren. Dieses Kapitel verdeutlicht, wie die Befragten Bezug auf rationalistische und romantische Ideale nehmen. Alle Befragten verbinden Momente des Rationalismus und der Romantik in ihren Deutungen des Geldes und des Gesellschaftlichen, wobei diese Verbindungen unterschiedlich aussehen. Es wird darum gehen, wie sie diese Verknüpfungen vornehmen, um von einer legitimen Ordnung des Geldes und der Gesellschaft im Allgemeinen ausgehen zu können. In der Schlussbetrachtung fundiere ich die These, dass Geld als Regulationsprinzip der Moderne legitim bleibt. Zum einen, weil es ein Mittel zur Rationalisierung und ein Mittel der Romantisierung darstellt. Diese Erkenntnis ergibt sich aus der theoretischen Analyse. Mit der Empirie lässt sich zum anderen zeigen, dass sich die Legitimität des Geldes über Kritik erhält. Kritik an Geld kann sich in Rechtfertigungen auflösen, insofern dem Geld Grenzen gesetzt würden. Hintergrund dieser Vorstellung ist, dass es ein Bedürfnis nach einer Form der gesellschaftlichen Kontrolle des Geldes gibt. Dieses Bedürfnis enthält Ideen und Motive, die ihren Ursprung im romantischen Denken haben. Allerdings beinhalten alltagsweltliche Vorstellungen von Geld Rechtfertigungsmuster, die sich direkt auf den Rationalismus beziehen und im Spannungsverhältnis zu romantischen Motiven stehen. Eine Verknüpfung rationalistischer und romantischer Narrative erlaubt den Befragten, Geld als Alltäglichkeit sowie als Selbstverständlichkeit aufzufassen, womit es auf eine Art begreifbar bleibt. Ein komplementäres Verhältnis zwischen Rationalisierung und Romantisierung trägt dazu bei, sich mit dem Geld und der Welt zu arrangieren. Darin zeigt sich auch ein Arrangement mit Rationalisierung allgemein. Meine Herangehensweise erlaubt nachzuvollziehen, wie romantische Motive den Befragten ermöglichen, eine Kritik an Geld zu üben, ohne dass dieses in toto abgelehnt und in der Konsequenz ein asketisches Dasein der Entsagung gelebt werden muss. Romantisierung setzt nicht voraus, dass das Idealisierte auch tatsächlich erreicht werden muss. Das ist eben eine zentrale Erkenntnis soziologischer Analysen der Romantisierung: Wichtig ist vielmehr die Möglichkeit des Anderen, die man sich bewahren möchte. Im empirischen Material werden Geld und ein damit verbundenes System nicht als alternativloses Zwangssystem interpretiert, solange Möglichkeiten der Freiheit und Verweigerung imaginiert werden können.
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Geld in der Moderne
Geld [...] ist die Verbrüderung der Unmöglichkeiten, es zwingt das sich Widersprechende zum Kuss. Karl Marx
2.1
Einführung in den Forschungsstand
Georg Simmels Philosophie des Geldes ist 1900 erschienen und lässt sich in den Anfängen der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin verorten. Seine Analyse ist eine der modernen Gesellschaft vom Standpunkt des Geldes aus. Lange Zeit wurde das Werk kaum als Beitrag zur Theorie der Moderne gesehen, dabei befasst er sich mit Fragen, die für die Entstehungszeit der Soziologie prägend waren, beispielsweise jene nach der „diskontinuierlichen Erfahrung der Zeit, des Raumes und der Kausalität als vergänglich, flüchtig und willkürlich oder beliebig“ (Frisby 1989: 12). Mit anderen Worten wird die Vorstellung behandelt, „dass die Wirklichkeit als im Flusse erfahren wird“ (Frisby 1988: 592) und eine vergängliche Dimension beinhaltet. Simmels erkenntnistheoretisches Anliegen ist es, „Geschichte als ein Wechselspiel zwischen den materiellen und den ideellen Faktoren zu begreifen“ (GSG 6: 719).1 Aus diesem Grund kündigt er in der Vorrede der Philosophie des Geldes an, „dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen“ (ebd.: 13). Damit finden sich bei Simmel Rückgriffe auf Karl Marx: Beide verstehen Geld als gesellschaftliches Verhältnis (bei Marx insbesondere das Kapital), betonen seine Ambivalenz und argumentieren 1 Laut
Dahme ist Simmel gerade kein „Marxtöter“ (Dahme 1993: 55). Eine ähnliche Vorgehensweise sehe ich bei Weber, der keinen einseitigen Gegenentwurf zu einer materialistischen Analyse beabsichtigte (vgl. Weber 1991: 190; ebd. 2013: 74). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Frei, Deutungen des Geldes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31961-8_2
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Geld in der Moderne
dafür, den Selbstzweck des Geldes bzw. des Kapitals in eine Gesellschaftstheorie einzubauen.2 Analog zu Marx beginnt Simmel die Analyse der modernen Gesellschaft mit einer Werttheorie. Den Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass die Ordnung der Dinge keine natürliche sei, auch wenn sie bisweilen als solche erscheinen mag, sondern gesellschaftlich begriffen werden soll (vgl. ebd.: 23). Im Gegensatz zu Marx, der den Zusammenhang zwischen Wert und Arbeit herzustellen versucht (vgl. MEW 23), also Wert in Bezug auf etwas Konkretes sieht, ist Wert bei Simmel etwas Relationales (vgl. Paul 2012: 93; Fitzi 2003: 228). Simmel beruft sich auf Marx, doch nimmt er einen anderen Blickwinkel auf die Moderne ein (vgl. Rammstedt 1993: 37), worin die Stärke für das Erkenntnisinteresse und die Fragestellungen meiner Arbeit liegt. Es wird kein systematischer Vergleich zwischen Simmel und Marx angestrebt, auch wenn an der einen oder anderen Stelle Marx’ Perspektive ergänzend herangezogen wird. Die nachfolgende ausführliche Rekonstruktion des Werks Simmels dient dazu, Geld soziologisch zu analysieren und diese Erkenntnisse theoretisch fundiert darzulegen. Zum einen ist für die Aufarbeitung des Forschungsstandes besonders relevant, dass Simmel Geld als Mittel und Geld als Selbstzweck theoretisiert. Zum anderen verweist Simmel auf die Ambivalenz des Geldes, Nähe und Ferne zur Gesellschaft und zu anderen Akteuren zu ermöglichen. Diese beiden Aspekte sind für die Strukturierung und Selektion des Forschungsstandes wichtig, insofern ich eine eigene Lesart der Ambivalenz des Geldes entwickle, die den Selbstzweck des Geldes berücksichtigt. Geld ist ein Mittel der Rationalisierung: Geld wird zu einer immer wichtigeren Vergesellschaftungsinstanz und festigt das Band zwischen Individuum und sozialer Gesamtheit. Gleichzeitig ist Geld ein Mittel der Romantisierung: Es fördert und erlaubt eine Distanzierung zur gesellschaftlichen Realität. Um meine These theoretisch zu unterfüttern und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Forschung herauszustreichen, erfolgt im zweiten Teil des Forschungsstandes eine Kritik an Ansätzen, die Geld auf den ökonomischen Bereich beschränken und als neutrales Tauschmedium verkürzen. Diese Lesart findet man in der Ökonomie wie in der Soziologie. Ich werde aufzeigen, welche Defizite
2 Simmel
beschreibt die Ambivalenz des Geldes, seine „auflösende und vereinigende Wirkung“ (GSG 6: 468), auf eine ähnliche Weise wie Marx, bei dem es heißt: „Wenn das Geld das Band ist, das mich an das menschliche Leben, das mir die Gesellschaft, das mich mit der Natur und den Menschen verbindet, ist das Geld nicht das Band aller Bande? Kann es nicht alle Bande lösen und binden? Ist es darum nicht auch das allgemeine Scheidungsmittel? Es ist die wahre Scheidemünze, wie das wahre Bindungsmittel, die galvanochemische Kraft der Gesellschaft“(MEW 40: 565; Hervorh. im Orig.).
2.1 Einführung in den Forschungsstand
13
damit einhergehen, beziehungsweise warum meine Fragestellung Geld umfassender zu begreifen versucht.3 Die Diskussion ökonomischer Geldtheorien erfolgt aus einer soziologischen Perspektive, um aufzuzeigen, weshalb Geld nicht ausschließlich im Kontext des wirtschaftlichen Austausches bedeutsam ist. Deutschmann attestiert soziologischen Theorien aber eine „oft unkritische Übernahme ökonomischen Lehrbuchwissens“ (Deutschmann 2008: 41). Folgt man seinem Argument, dann ist die Ausdifferenzierung der Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie Grund dafür, dass Geld lange Zeit kein theoretisch zu begründender Gegenstand beider Disziplinen mehr darstellte (vgl. ebd. 2002: 10).4 Weder bei Durkheim sei es Thema gewesen, noch nehme Parsons die Vorarbeiten von Marx, Simmel, Tönnies, Veblen oder Weber zum Anlass, Geld nicht bloß als Tausch- und Zahlungsmittel zu betrachten, womit eine grundlegende Analogie zur verkürzten wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweise bestehe. Soziologisch ist dies problematisch, denn die „durch das Kapital repräsentierten Sinnhorizonte lassen sich nicht auf eine wie auch immer »gegebene« Güterwelt eingrenzen, sondern umfassen potentiell die Gesamtheit des in der Gesellschaft sinnhaft Zugänglichen“ (ebd. 1999: 100). Eine Einschränkung ökonomischer und soziologischer Konzeptionen des Geldes als neutrales Tauschmedium besteht unter anderem darin, dass man dadurch eine durch Geld mitverursachte Dynamik und Krisenerscheinungen in der Gesellschaft kaum erfassen kann (vgl. Paul 2012: 64). Im dritten Teil des Forschungsstandes gehe ich deshalb auf Theorien ein, die den Selbstzweck des Geldes in eine Gesellschaftstheorie miteinbeziehen, womit sie ganz andere Bedeutungen des Geldes zu reflektieren imstande sind (vgl. Paul 2012; Haesler 3 Es
wird in dieser Arbeit keine Auseinandersetzung mit wirtschaftssoziologischen Analysen vorgenommen, die auf die kulturelle beziehungsweise soziale Einbettung von Geld, Märkten oder, allgemeiner gesprochen, Wirtschaft hinweisen (vgl. Pahl/Meyer 2010: 9; Diaz-Bone 2012). Der Grund dafür liegt in der theoretischen Grundlage durch Simmel, für den sich die Frage der kulturellen Einbettung der Wirtschaft gar nicht gestellt hat, insofern eine Trennung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft in diesem Sinne nicht angedacht ist. Laut Deutschmann fördert eine Wirtschaftssoziologie, die sich derart auf Polanyi beruft, sogar die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Ökonomie (vgl. Deutschmann 1999: 133; vgl. auch Paul 2012: 59). 4 Ganßmann führt die Unterscheidung auf Franz Oppenheimer zurück. Er bezeichnet die Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Ökonomie respektive die Folgen davon als „Oppenheimers Fluch“ (Ganßmann 1996: 21). Laut Ingham haben zwei Konzepte grundsätzlich dazu beigetragen, dass die adäquate Entwicklung einer Geldtheorie nicht vorangetrieben wurde: „The first is the retention of the model of an essentially barter exchange economy in »real« analysis in which money is essentially a commodity […] and the second, the methodological individualism of the rational utility maximization model. Within this paradigm, an acceptable theory of money has come to be one which does not violate the above canons“ (Ingham 2000: 17).
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2
Geld in der Moderne
2011; Ganßmann 2011; Deutschmann 2008). Gleichzeitig haben diese Ansätze ihre Grenzen, insofern religionsanaloge Erklärungen, eine Verkürzung auf die kapitalistische Dynamik oder die Einseitigkeit der rationalisierenden Wirkungen des Geldes kritisch zu betrachten sind. Soziologische Untersuchungen, die den Bedeutungszuschreibungen des Geldes auf der Mikroebene nachgehen, können dahingegen ambivalente Wirkungen des Geldes aufzeigen (vgl. Zelizer 1994). Der gewählte Fokus auf den Forschungsstand verdeutlicht schließlich, inwiefern meine Perspektive auf die Ambivalenz des Geldes eine Ergänzung für die soziologische Theorie des Geldes darstellt.
2.2
Georg Simmel: Philosophie des Geldes
Simmels Anliegen besteht darin, eine auf Geld basierende Gesellschaft historisch und theoretisch zu verstehen, sowie die gesellschaftlichen und individuellen Konsequenzen einer solchen Geldwirtschaft aufzuzeigen. Er geht davon aus, dass Geld soziologisch verstanden werden muss. Es kann nicht allein dem Bereich der Ökonomie zugerechnet werden, wenn davon gesellschaftliche Relationen betroffen sind.5 Bereits in der Vorrede zur Philosophie des Geldes wird das Verständnis seiner Untersuchung dargelegt: weder sei diese nationalökonomisch noch handle es sich dabei um eine Entstehungsgeschichte des Geldes (vgl. GSG 6: 10f.). Gleichwohl sich Simmel damit gegen mögliche Kritik immunisiert, bleibt die unterbelichtete kulturell beeinflusste Genese des Geldes ein Defizit seiner Theorie, mit welchem zum Beispiel eine unklare Trennung zwischen Geld und Kapitalismus einhergeht (vgl. Weber 1988: 4f.).6
5 Es
gibt aber auch Debatten darüber, inwiefern die Philosophie des Geldes von Simmel selbst überhaupt soziologisch intendiert war (vgl. u. a. Dahme 1993; Paul 2018: 598). Rammstedt betont das „Philosophische in bezug auf Geld in der Wertfrage“ und führt aus: „Diese Frage nach dem Wert des Geldes erfolge nun aber nicht im Rahmen der ökonomischen Wertdiskussion, die gerade im Ausgang des 19. Jahrhunderts heftig geführt wurde, sondern Simmel hält dem entgegen, dass der Wert des Geldes wie der ökonomische Wertbegriff nur im Rahmen einer generellen Wertdiskussion besprochen werden könne, die ökonomische Diskussion daher nicht in Absehung von der philosophischen geführt werden dürfe und könne“ (Rammstedt 2003a: 7). 6 Eine ähnliche Schwierigkeit sehe ich bei Paul, der die Triebkraft des Geldes für Entwicklungen der Gesellschaft betont: „Ja, die Geschichte des Geldes und der Geldsubstitute ist nichts anderes als die Geschichte der Entdeckung, Erfindung und permanenten Mobilmachung von Werten, so wie die Geschichte überhaupt vielleicht zwar eine der Klassenkämpfe ist, nur dass sich nicht die Bourgeoisie und das Proletariat, sondern Gläubiger
2.2 Georg Simmel: Philosophie des Geldes
15
Analog zum Aufbau der Philosophie des Geldes gehe ich in diesem Kapitel zunächst auf den analytischen und anschließend auf den synthetischen Teil ein. Der erste Teil „soll das Wesen des Geldes aus den Bedingungen und Verhältnissen des allgemeinen Lebens verstehen lassen, der andere umgekehrt Wesen und Gestaltung der letzteren aus der Wirksamkeit des Geldes“ (GSG 6: 11). Bereits im ersten Teil seiner Untersuchung, welche in der Soziologie größtenteils „stiefmütterlich“ (Paul 2012: 74) behandelt wird, entwickelt Simmel zentrale Begriffe seines Gesellschaftskonzepts. Unter »Gesellschaft« versteht Simmel die „Summe spezielle[r] Wechselbeziehungen“ (GSG 6: 210). Gesellschaft sei eine „versachlichte Resultante einer kontinuierlichen Wechselbeziehung der Individuen in unterschiedlichen Formen der Vergesellschaftung“ (Fitzi 2009: 41). Gesellschaft entstehe dadurch, dass Individuen ständig aufeinander einwirken und sich wechselseitig beeinflussen7 , wodurch sie im stetigen Wandel begriffen ist. »Vergesellschaftung« kann als Prozess von Wechselwirkungen verstanden werden, und diese Wechselwirkungen führen zu sozialen Formen, welche nicht Gesellschaft bewirken, sondern diese sind (vgl. Hübner-Funk 1976: 57; Tyrell 2011: 31f.). Vergesellschaftung meint die Erfahrung der sozialen Formen, wozu auch Geld gehört. Simmel entfaltet die These, dass Geld eine „Anweisung auf die Gesellschaft ist“ (GSG 6: 213) und zu den „substanzgewordene[n] Sozialfunktionen“ (ebd.: 209) gehört. Das in der Soziologie mittlerweile bekannte Diktum, dass Geld nicht allein „Relation ist, sondern Relation hat“ (ebd.: 131, Hervorh. im Orig.), ist letztlich der Kern seiner Geld- und Gesellschaftsanalyse. Mit anderen Worten ist damit gemeint, dass Geld nicht ausschließlich ein Zahlungsmittel ist (vgl. analytischer Teil), sondern fundamentale Auswirkungen auf die Gesellschaft ausübt (vgl. synthetischer Teil). Um seiner Bedeutung auf den Grund zu gehen, werden die Ambivalenzen des Geldes im Theoriegebäude Simmels rekonstruiert. Im synthetischen Teil führt Simmel aufbauend auf dem analytischen die Auswirkungen des Geldes aus – Geld hat Relation. Dabei geht es auch um negative Effekte des Geldes auf die Gesellschaft. Man könnte meinen, dass Simmel eingehend die »dunkle Seite des Geldes« beleuchtet, das heißt die Konsequenzen der Rationalisierung, welche in der Tragödie der Kultur kulminiert. Nur ist Simmel nicht so eindeutig, und Schuldner bekriegen“ (Paul 2012: 237). Ingham versteht Geld ebenfalls als Kreditverhältnis und damit als soziales Verhältnis (vgl. Ingham 2004). Durch diese Perspektive wird Besitz in kapitalistischen Produktionsverhältnissen zweitrangig. Gleiches passiert mit dem antagonistischen Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital sowie der Bedeutung von Konkurrenz (vgl. MEW 23). 7 Paul setzt Wechselwirkung und Interaktion bei Simmel gleich (vgl. Paul 2012: 61). Wechselwirkung umfasst jedoch mehr als Interaktion. Wechselwirkung meint, dass es schon ein soziales Verhältnis gibt, das nicht Interaktion bedeuten muss.
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Geld in der Moderne
wie dies bisweilen erscheinen mag. Gleichzeitig schreibt er der Geldentwicklung eine „Steigerung der sachlichen Kultur, eine Herstellung von Produkten, Genießbarkeiten und Lebensformen“ (ebd.: 370) zu. Geld wirke sich konstitutiv auf „Entwicklungschancen unserer Innerlichkeit“ und auf eine „Reserve des Subjektiven, eine Heimlichkeit und Abgeschlossenheit des persönlichsten Seins“ aus, weil „Geld uns in immer steigendem Maße die unmittelbaren Berührungen mit den Dingen erspart, während es uns doch zugleich ihre Beherrschung und die Auswahl des uns Zusagenden unendlich erleichtert“ (ebd.: 652). Simmel weist daher nicht ausschließlich auf negative oder irgendwie schädliche Folgen des Geldes hin. Er untersucht die Auswirkungen der Geldwirtschaft auf das gesellschaftliche Zusammenleben und das Individuum. Dabei geht es insbesondere um die Möglichkeit individueller Freiheit und Persönlichkeitsentwicklung unter dem Vorzeichen einer sozialen Differenzierung der Gesellschaft. Simmel entwickelt somit keine Rationalisierungstheorie (vgl. Ganßmann 2018: 230), sondern stellt die Ambivalenz des Geldes in den Mittelpunkt seiner Analyse. Diese Perspektive bestärke ich durch eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem analytischen Teil. Ist es sogar möglich, dass aus einer Vernachlässigung des analytischen Teils in der soziologischen Forschung die Lesart dominant wurde, dass es Simmel primär um den nivellierenden und schädlichen Charakter des Geldes ginge? Diese Frage muss hier offen bleiben; derweil möchte ich zeigen, dass die Ambivalenz des Geldes nicht erst im zweiten Teil seiner Studie beschrieben wird, wenn es um den befreienden Aspekt des Geldes in gesellschaftstheoretischer Hinsicht geht. Basierend auf Simmel entwickle ich eine eigene Lesart der Ambivalenz des Geldes. Geld ist ein Mittel der Rationalisierung, das mir vor allem einen zweckrationalen Zugang zur Welt verschafft und mich dadurch an die Gesellschaft bindet. Dazu ergänzend stellt Geld eine Möglichkeit auf Möglichkeiten dar. Es ist daher ein Mittel der Romantisierung in dem Sinne, dass es eine Distanzierung und Zurückhaltung gegenüber der gesellschaftlichen Realität ermöglicht.
2.2.1
Analytischer Teil
Wert und Begehren Simmel beginnt die Untersuchung mit dem Wert: Wert an sich sei ein „Urphänomen“ (GSG 6: 27), wohingegen sich der konkrete Wert eines Gegenstandes relational ergebe.8 Damit ist gemeint, dass ein konkreter Wert einem Gegenstand 8 Dass
es Werte überhaupt gebe, impliziert der Begriff des Urphänomens, wobei Simmel diesen nicht weiter erläutert. Wert gehöre zu den „unreduzierbare[n] und grundlegende[n] Kategorien“ (Papilloud 2003: 168), genauso wie Sein. Paul rechnet Simmel aus folgendem
2.2 Georg Simmel: Philosophie des Geldes
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zugeschrieben wird und ihm dieser nicht aus natürlichen Umständen eigen ist (vgl. ebd.: 23), da er auf ein gesellschaftliches Verhältnis verweist. Die Basis der Wertzuschreibung stellt für Simmel ein Begehren nach einem Objekt dar, worin ein subjektives Urteil liegt. Gleichzeitig ist dieser Wert von Eigenschaften wie Temperatur oder Farbe, welche in direkter Abhängigkeit zum Gegenstand stehen, zu unterscheiden. Wert hafte nicht in dem Sinne am Gegenstand, aber er verlange dennoch, anerkannt zu werden; er bildet damit eine „je eigene Kategorie“ (Rammstedt 2003b: 31). Die Grundlage für das subjektive Werturteil stelle das Begehren dar.9 Im frühkindlichen Sozialisierungsprozess muss ein Zustand der Indifferenz überwunden werden, das heißt, es bedarf einer prozesshaften Trennung zwischen Subjekt und Objekt. In der Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt, mit anderen Worten in der Bewusstwerdung eines Ich durch die Einsicht, dass es außerhalb dieses Ich seiende Objekte gibt, werde das Verhältnis des Menschen zur Welt verwirklicht. Genauer meint dies, dass die „Entstehung der Werte […] uns Zugangsmöglichkeiten zur Wirklichkeit“ (Papilloud 2003: 169) eröffnet. Dieser Prozess der Subjektwerdung impliziert dementsprechend eine Trennung: auf der einen Seite das Subjekt, welches begehrt und damit wertet, auf der anderen das mit einem Wert versehene Objekt. »Begehren« meint infolgedessen einen Zustand oder eine Erfahrung von „nicht haben und genießen“ (GSG 6: 33, Hervorh. im Orig.).10 Das menschliche Begehren sei im „Seinsmangel“ (ebd.: 99) des Subjekts begründet und daher unerschöpflich. Weiter führt Simmel aus, dass ein Objekt jedoch nur begehrt werden kann, wenn es keinen unmittelbaren Zugriff auf es gibt. Eine weitere wichtige Komponente des Begehrens sei somit, dass ein Grund zum Neukantianismus: „Insofern Werte nicht Teil des natürlichen Seins sind – der Kosmos ist »wert-los« oder besser sinnentleert –, kommen als Quelle von Wert(ung)en allein Subjekte in Frage“ (Paul 2018: 599). Türcke führt aus, dass sich Simmel an den „verehrten Goethe an[lehnt], der in der Natur die Urphänomene, hinter die niemand zurückkann – etwa Licht, Magnetismus, Schwerkraft –, von ihren Folgeerscheinungen sorgsam zu unterscheiden trachtete“ (Türcke 2015: 13). 9 An dieser Stelle zeigen sich laut Paul Parallelen zur später entwickelten Psychoanalyse etwa von Freud oder Lacan. Subjekte werden zu Subjekten „erst im Maße ihrer ontogenetisch wachsenden Fähigkeit, den unmittelbaren Genuss eines Objekts aufzuschieben und so eine Wertbeziehung zu einem begehrten Objekt aufzubauen“ (Paul 2018: 599). 10 Etwas ausführlicher: „Der Mensch beginne erst, sich als Ich zu begreifen, sofern die Dinge ihm nicht ohne weiteres verfügbar sind, sobald er merkt, dass diese ihm nicht beliebig zu Gebote stehen. An die Stelle des Genießens tritt nun ein Begehren, eine Mangelerfahrung, die, in dem Maße, in dem das Bedürfnis sich spezifiziert, den Abstand zwischen dem Ich und den Dingen nur vergrößert und jenem so erst ein Bewusstsein verschafft. Das Begehren ist also die Erfahrung eines Nicht-Habens oder Noch-nichtGenießens und zugleich Kern der Identität“ (Paul 2012: 92f.).
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Geld in der Moderne
Hemmnis vorhanden sein müsse. Darüber hinaus müsse sich das Subjekt vom rohen, ungehemmten Trieb ablösen, damit ein Objekt überhaupt begehrt werden kann (vgl. ebd.: 33, 43, 72). Der Wert umfasst dementsprechend die Distanz zwischen Subjekt und dem begehrten Objekt.11 Aus einem ungehinderten Begehren entstehe kein Wert. Das Objekt könne nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen, dürfe zugleich aber nicht unerreichbar sein. Weder Nützlichkeit (vgl. ebd.: 47) noch Knappheit (vgl. ebd.: 44) würden einem Objekt einen höheren Wert zuschreiben. Hier wendet sich Simmel gegen die klassische Ökonomie, denn nicht jedes begehrte und in diesem Sinne wertvolle Objekt ist auch tatsächlich nützlich (vgl. ebd.: 90).12 Damit ein Objekt einen Wert erlangen könne, müsse es sich von anderen abheben, irgendwie selten sein und doch auch wieder nicht zu selten. Da Wert eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt darstellt, verabschiedet sich Simmel von der Vorstellung, dass zum Beispiel nur Nützlichkeit eines Gegenstandes seinen Wert bestimmt. Der Wert entspringt viel eher „der Wechselwirkung eines Subjekts mit der Welt der Objekte“ (Paul 2012: 93). Die hier beschriebene Distanz zwischen Subjekt und Objekt birgt eine „Doppelbedeutung des Begehrens“ (GSG 6: 49) in sich: Es muss eine Idee davon geben, dass es sich überhaupt lohnt, dieses Objekt zu begehren. Aber wie geht das? An diesem Punkt führt Simmel den Begriff des Opfers ein, das uns mit der Erfahrung zurücklässt, dass sich ein Begehren auch gelohnt hat. In bestimmten Fällen zeigt erst ein Verlust eine Wertigkeit auf. Die hier genannten Aspekte reichen noch nicht aus, um Werte zu verstehen. Wichtig sei es, dass Werte erst im Tausch greifbar werden: „Als etwas Selbständiges, vom wertenden Subjekt Gelöstes erscheinen sie nur dann, wenn
11 Wie durch ein Hemmnis Begehren erst ausgelöst wird, findet sich, literarisch und durchaus anschaulich ausgedrückt, in einer Beschreibung im Leben von Felix Krull: „Wenn aber so träumerische Experimente und Spekulationen geeignet waren, mich von meinen Alters- und Schulgenossen im Städtchen, die sich auf herkömmlichere Weise beschäftigen, innerlich abzusondern, so kam hinzu, dass diese Burschen, Weingutsbesitzer- und Beamtensöhne, von seiten ihrer Eltern, wie ich bald gewahr werden musste, vor mir gewarnt und von mir ferngehalten wurden, ja, einer von ihnen, den ich versuchsweise einlud, sagte mir mit kühlen Worten ins Gesicht, dass man ihm den Verkehr mit mir und den Besuch unseres Hauses verboten habe, weil es nicht ehrbar bei uns zugehe. Das schmerzte mich und ließ mir einen Umgang begehrenswert erscheinen, an dem mir sonst nichts gelegen gewesen wäre“ (Mann 1974: 15f.). 12 In der ökonomischen Theorie wird außerdem die Knappheit der Güter als anthropologische Konstante gesetzt und als Begründung für die „Universalität des »Wirtschaftens«“ (Hahn 1987: 119) betrachtet. Hahn plädiert indessen dafür, Knappheit historisch aufzufassen und sie als Systemeigenschaft zu behandeln, das heißt, „Knappheit ist eine Relation von Relationen“ (ebd.: 123).
2.2 Georg Simmel: Philosophie des Geldes
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sie füreinander hergegeben werden. Vorher sind sie gleichsam noch im Inneren der Subjekte versteckt“ (Paul 2012: 93). Wirtschaftlicher Tausch Das subjektive Werturteil sei eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung von Werten. Es braucht zusätzlich das Begehren eines anderen Subjekts: „Den praktisch wirksamen Wert verleiht dem Gegenstand nicht sein Begehrtwerden allein, sondern das Begehrtwerden eines anderen“ (GSG 6: 56). Wert ist relational, besteht demgemäß in Abhängigkeit zu anderen Subjekten, was insbesondere im Tausch deutlich wird. Um etwas zu gewinnen, ist etwas anderes zu verlieren. Nur – die Logik des Opfers verändert sich für den modernen Menschen. Die Distanz zwischen Ich und Objekt werde in der Moderne größer, Hemmnisse nehmen zu – dafür wächst das „Quantum dessen, was er sich ideell, durch sein Begehren, und real durch seine Arbeitsopfer nahe bringt“ (ebd.: 50). Im Tausch werde das eine subjektive Werturteil mit einem anderen in Verbindung gebracht: Es entstehe etwas Drittes, das weder objektiv noch subjektiv sei. Wert werde „übersubjektiv“ (ebd.: 53).13 Im Tausch bedeutet ein Opfer, dass ein begehrtes Objekt gegen ein anderes getauscht wird. Dafür bedarf es zunächst eines Verzichts auf einen Besitz oder Genuss, welcher das Begehren eines Anderen auslöst, um diesen schließlich zum Verzicht auf seinen Besitz zu bewegen. Voraussetzung für das Entstehen eines Wertes sei damit die Vergleichbarkeit von zwei Objekten. Erst im „Tausch wird der Wert objektiviert, d.h. er wird gültig für das Subjekt“ (Papilloud 2003: 171). Simmel erklärt: Es verschlingen sich also zwei Wertbildungen ineinander, es muss ein Wert eingesetzt werden, um einen Wert zu gewinnen. Dadurch verläuft die Erscheinung so, als ob die Dinge sich ihren Wert gegenseitig bestimmten. (GSG 6: 52, Hervorh. im Orig.)
Wert wirkt als etwas Objektives, von den Subjekten Unabhängiges und Äußerliches, oder – mit Marx ausgedrückt – quasi als „ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen“ (MEW 23: 86). Im Tausch vollzieht sich die gegenseitige Bestimmung des Wertes der Objekte. Es erscheine als sachliches Verhältnis und nicht als Konsequenz des Opferns, zumal es „mehr oder weniger vollständig von seinem subjektiv-personalen Unterbau“ (GSG 6: 55) losgelöst sei. Mit anderen Worten erscheint Wert als sachliches Verhältnis, obwohl er eine Folge menschlicher subjektiver Begehrensurteile darstellt. Wert ist dem 13 „Im oder besser durch den Tausch wird der Wert überindividuell und damit sachlich, ohne selbst ein Ding zu sein“ (Paul 2012: 94).
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Geld in der Moderne
Tausch auf eine Art vorgelagert, allerdings nicht als Apriori zu verstehen, denn er entsteht erst im Tausch.14 Festhalten lässt sich, dass Tausch ein „soziologisches Gebilde sui generis“ darstellt, das heißt eine originäre Form und Funktion des interindividuellen Lebens, die sich keineswegs aus jener qualitativen und quantitativen Beschaffenheit der Dinge, die man als Brauchbarkeit und Seltenheit bezeichnet, durch logische Konsequenz ergibt. Umgekehrt vielmehr entwickeln beide ihre wertbildende Bedeutung erst unter der Voraussetzung des Tausches. (ebd.: 89f.)
Das subjektive Werturteil scheint dahingehend zu verschwinden, dass Gegenstände erworben werden, die nicht mehr als die eigenen erkannt werden. Das hieße dann aber auch, dass Produktion und Tausch produktiv sind: „Der Tausch konstituiert also die Werte und damit die Wirtschaft; er ist – und zwar gerade als Äquivalententausch – wertproduktiv“ (Paul 2012: 94). Aber, die „Vielzahl »interindividueller« oder dualer Wertbestimmungen erlaubt noch keinen Vergleich dieser Wertbestimmungen untereinander. Diesen ermöglicht das Geld als drittes“ (ebd. 2018: 600).15 Geld ist damit notwendig für die Vollendung des Tausches: Es gehört zu den Funktionen des Geldes, die ökonomische Bedeutung der Dinge in der ihm eigenen Sprache nicht nur überhaupt darzustellen, sondern zu kondensieren. In der Einheit der Geldsumme, mit der ein Gegenstand bezahlt wird, verdichten sich […] die Werte aller vorbereitenden und in ihm mündenden Kräften und Substanzen. Ein Geldpreis, aus wie vielen Münzeinheiten er auch bestehe, wirkt doch als eine Einheit; dank der völligen Ununterscheidbarkeit seiner Teile, die seinen Sinn ausschließlich in seiner quantitativen Höhe bestehen lässt, bilden diese Teile eine so völlige Einheit, wie sie auf praktischem Gebiet sonst kaum besteht. (GSG 6: 242) 14 Hierin verorte ich Simmels Verzweiflung über seine Werttheorie, die er in einem Brief an Rickert äußert (vgl. GSG 6: 727). 15 Oder mit Marx gesprochen: „In ihrer Verlegenheit denken unsre Warenbesitzer wie Faust. Im Anfang war die Tat. Sie haben daher schon gehandelt, bevor sie gedacht haben. Die Gesetze der Warennatur betätigten sich im Naturinstinkt der Warenbesitzer. Sie können ihre Waren nur als Werte und darum nur als Waren aufeinander beziehn [sic], indem sie dieselben gegensätzlich auf irgendeine andre Ware als allgemeines Äquivalent beziehn [sic]. Das ergab die Analyse der Ware. Aber nur die gesellschaftliche Tat kann eine bestimmte Ware zum allgemeinen Äquivalent machen. Die gesellschaftliche Aktion aller andren Waren schließt daher eine bestimmte Ware aus, worin sie allseitig ihre Werte darstellen. Dadurch wird die Naturalform dieser Ware gesellschaftlich gültige Äquivalentform. Allgemeines Äquivalent zu sein wird durch den gesellschaftlichen Prozess zur spezifisch gesellschaftlichen Funktion der ausgeschlossenen Ware. So wird sie – Geld“ (MEW 23: 101).
2.2 Georg Simmel: Philosophie des Geldes
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Der Ursprung gesellschaftlicher Werte basiert für Simmel auf gegenseitiger Wechselwirkung. Infolgedessen kann davon gesprochen werden, dass Wert einen relationalen Charakter hat. Der eigene Beitrag zur Wertschaffung wird nicht mehr erkannt. Werte treten den Tauschenden als etwas Autonomes mit Zwangscharakter entgegen. Schließlich wird der „Prozess der subjektiven Bewertung durch den objektiven Prozess der Preissetzung ersetzt“ (Papilloud 2003: 174). Geld erscheint den Subjekten als „externe Realität“ (Aglietta 1993: 189). Die Folge davon ist nicht, dass Werte absolut werden, denn diese hängen nach wie vor von den Wechselwirkungen ab und können sich dadurch je nach gesellschaftlichen Verhältnissen wieder verändern (vgl. Papilloud 2003: 169), auch wenn sie als objektiv erscheinen. Geld wird also nicht von den Akteuren unabhängig. Mit Simmel gesprochen gibt es eine „tiefe Beziehung der Relativität zur Vergesellschaftung“ (GSG 6: 91). Wert wird zwar als überindividuelles Faktum wahrgenommen, objektiviert sich, und auch Geld scheint jenseits der Güter zu stehen; wenngleich sie es nicht sind (vgl. ebd.: 211). Tausch ist damit ebenso wertschöpfend wie vergesellschaftend. Doppelte Rolle des Geldes Im wirtschaftlichen Tausch ist Geld Medium und Wertmaß, darüber hinaus findet im Geld der Wert „seinen reinsten Ausdruck und Gipfel“ (ebd.: 121). Geld ist für Simmel ein Symbol für die Relativität des Wertes, weil es den Wert darstellt, von dem andere Werte abhängen (vgl. Papilloud 2003: 175). Es wird nicht als extern bestehendes Element in die Wirtschaft eingeführt (vgl. GSG 6: 121), da es sich aus vorher existierenden Werten, welche sich aus dem Tausch heraus ergeben, bildet. Geld ist damit ein abstrakter und zugleich sichtbarer Körper des Wertes. Als „substanzgewordene Relativität“ (ebd.: 134) drückt der Geldpreis einer Ware „das Maß an Tauschbarkeit, das zwischen ihr und der Gesamtheit der übrigen Waren besteht“ (ebd.: 123) aus. Wert ist daher weder eine Substanz, die sich durch die investierte Arbeitskraft ergibt,16 noch ein rein „subjektiv-psychisches Schätzen“, denn objektive
16 Marx definiert den Fetischcharakter der Ware folgendermaßen: „Das Geheimnisvolle der Waren besteht darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, es ist das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt“ (MEW 23: 86). Auch wenn die Argumentationsstrukturen von Marx und Simmel Ähnlichkeiten aufweisen, spricht Simmel nicht von einem Fetisch. Selbst wenn man nicht alles verstehe, verstehe man dennoch etwas durch die subjektive Komponente im wirtschaftlichen Austausch.
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Werte ergeben sich vielmehr aus der gegenseitigen Anerkennung der Gleichwertigkeit auszutauschender Gegenstände durch die auf dem Markt zusammenkommenden Tauschpartner. Der objektive Tauschwert und in seiner fortentwickelten Form das Geld charakterisieren sich daher in erster Linie als soziale Beziehungen. (Fitzi 2003: 228)
Die Crux liegt nun darin, dass Geld gleichzeitig die Relativität von Werten symbolisiert und selbst ein Wert ist. Geld ist deswegen einzigartig, weil es nicht wegen eines Inhaltes Geltung beanspruchen kann, sondern durch sein Gelten; es ist das „zur Substanz erstarrte Gelten, das Gelten der Dinge ohne die Dinge selbst“ (GSG 6: 124). Genau damit nehme Geld eine einzigartige Sonderposition ein, denn es unterliege nicht den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie anderer Werte. Es sei innerhalb und außerhalb „der Reihen der konkreten Werte“ (ebd.: 125). Voraussetzung für diese doppelte Rolle des Geldes, nicht allein Tauschmedium zu sein, sondern einen eigenständigen Wert darzustellen, ist, dass es selber qualitätslos und indifferent ist; andernfalls würde Geld nicht hergegeben werden. Als Folge dieser doppelten Rolle bemisst sich Geld an sich selbst und tritt mit sich selbst in Austausch (vgl. ebd.: 126ff.). Nur weil Geld charakterlos und inhaltlich gleichgültig ist – was es erst im Verlauf seiner Geschichte wird – kann es die unterschiedlichen Merkmale des Wertes nivellieren. Erst dadurch kann es Äquivalenz zwischen Dingen, Menschen und Beziehungen herstellen, wodurch gleichzeitig eine „gesteigerte Verletzbarkeit der praktischen Wechselwirkungen und Vergesellschaftungsmöglichkeiten“ (Papilloud 2003: 175) ausgelöst wird. Simmel geht also davon aus, dass sich Geld in seiner historischen Entwicklung stark verändert: Die Entwicklungen des Geldstoffes bringen seinen soziologischen Charakter zu immer vollkommenerem Ausdruck. Die primitiven Tauschmittel, wie Salz, Vieh, Tabak, Getreide, sind ihrer Verwendung nach von dem reinen Individualinteresse bestimmt, solipsistisch, d.h. sie werden schließlich von einem Einzelnen konsumiert, ohne dass in diesem Augenblick andere noch ein Interesse daran hätten. Das Edelmetall dagegen weist durch seine Bedeutung als Schmuck auf die Beziehung zwischen den Individuen hin; man schmückt sich für Andere. (GSG 6: 212, Hervorh. im Orig.)
Simmel wirft die Frage auf, ob Geld selbst wertvoll sein müsse, damit es Werte messen und darstellen könne oder ob es als „bloßes Zeichen und Symbol“ (ebd.: 139) genüge. Seine Antwort lautet, dass zu Beginn der Geldwirtschaft der Träger des Geldes wertvoll gewesen ist, dies aber nicht bedingt durch die Funktion des Geldes, Werte zu messen, notwendig wäre. Simmel konstatiert, dass der Funktionswert des Geldes zunehmend den Substanzwert übersteigt (vgl. ebd.: 155ff.,
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229f.)17 , ja diesen gar übersteigen muss, um seine doppelte Rolle überhaupt einnehmen zu können. In seiner historischen Genese bedarf Geld als Ausdruck eines Verhältnisses, als „Greifbarkeit des Abstraktesten“ (ebd.: 137), eines geistigen Prozesses, welcher letztlich im Geld seinen Höhepunkt erlange.18 Für Simmel zeichnet sich die Moderne durch eine zunehmende Abstraktion aus. Sie werde vollzogen, indem sie „zu einem konkreten Gebilde kristallisiert“ (ebd.: 212). Im Verlauf der Geldentwicklung trete der Substanzwert stärker zurück und sein Funktionswert nehme zu. Ganz so einfach gestaltet sich der Weg dahin nicht. Historisch betrachtet waren erste Gelder Vieh, Tabak, Felle, Salz oder auch Sklaven, bei denen die Bedeutung unmittelbar ersichtlich war. Die Bereitschaft, dieses »Naturalgeld« für bedrucktes Papier herzugeben, womit eine spezifische Abstraktionsfähigkeit notwendig wird, bedurfte nach Simmel einer umfassenden „Ausdehnung und Zuverlässigkeit der Zweckreihen“ (ebd.: 156). Dafür muss es eine Gewährleistung geben, dass etwas an sich Wertloses zu weiteren Werten führen kann. Es sei also die wiederholte Erfahrung notwendig gewesen, dass mit einem Mittel ein Zweck erreicht werden kann. Erst in der Moderne werde Geld zu einer „Anweisung auf die Gesellschaft“ (ebd.: 213) – gleichzeitig ist Geld ohne Gesellschaft bedeutungslos (vgl. ebd.: 189). Wenn Tausch kein privater Vorgang mehr ist, also zwischen „beiden Parteien eine dritte Instanz: die soziale Gesamtheit“ (ebd.: 213) tritt, weite sich die Verbindlichkeit auf diese Gesamtheit aus.19 Nicht nur der Tausch ist vergesellschaftend, sondern nun auch das Geld. Im Gegensatz zur feudalen Gesellschaft ist das Individuum nicht mehr primär Mitglied eines sozialen Kreises. Die Tauschenden gehen der Gesellschaft gegenüber eine Verpflichtung ein und es bedarf eines Vertrauens in die soziale Gesamtheit. Laut Simmel trägt Geld wesentlich dazu bei, dass Gesellschaft zuallererst entsteht, womit sowohl eine zunehmende Unabhängigkeit von persönlichen Bindungen einhergeht, als auch eine andere Form der Abhängigkeit, die von der Gesellschaft, zutage tritt (vgl. ebd.: 396). Ein ehemals direktes Verhältnis wird 17 Geld wird, mit Marx’ Worten, zu einem ideellen Gebrauchswert (vgl. MEW 23: 123). Nur die Form ist noch nützlich, nicht mehr der Inhalt (vgl. Degens/Sahr 2019: 16). 18 Simmel nimmt hier vorweg, was später von Sohn-Rethel (1990) zentral behandelt wird. Bezugnehmend auf Sohn-Rethel äußert sich Adorno folgendermaßen: „Der Fetischcharakter der Ware ist keine Tatsache des Bewusstseins sondern dialektisch in dem eminenten Sinne, dass er Bewusstsein produziert“ (Adorno zitiert in Hörisch 2013: 242). 19 Paul erklärt sich die Prägung von Münzen im 6. Jahrhundert im klassischen Griechenland damit, dass diese Prägung einerseits gegen Fälschung sicherte, und andererseits eine Bürgschaft symbolisierte. Die Münzen mussten aus der wirtschaftlichen „Privatexistenz“ herausgehoben werden, um zum „sozial und […] politisch und religiös akzeptierten Medium“ (Paul 2012: 175) zu werden.
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auf diese Weise zu einem vermittelten, und dies wird von Simmel als befreiendes Moment gedeutet. Aus einer subjektiv-personalen Abhängigkeit wird zunehmend eine technisch-funktionale. Dieser Aspekt wird im synthetischen Teil nochmals aufgegriffen. Offen bleibt bei Simmel, ob Geld die moderne Gesellschaft hervorbringen soll oder vice versa. Das Neue und gleichzeitig Anspruchsvolle in Simmels Analyse liegt darin, auf die Relevanz geistiger (Abstraktions-)Prozesse für die moderne Gesellschaft hinzuweisen. Geld vergegenwärtige Verhältnisse in einer materialen Form und sei dennoch das „absolute Abstraktum über allen konkreten Gütern“ (ebd.: 232). Die moderne Gesellschaft setze eine zunehmende Organisierung einer Gruppe und eine gewachsene Intellektualität des Individuums voraus.20 Die geistige Leistung, im Sinne der gewachsenen Intellektualität, besteht darin, Wertverhältnisse von Objekten zum Ausdruck zu bringen, die weder gleich noch ähnlich sind (vgl. ebd.: 164). Geld macht Unvergleichbares vergleichbar und setzt „Disparatestes in Beziehung“ (Paul 2012: 205). Darum ist es „ein universal fungibles Mittel, das uns ermöglicht, Austauschbarkeit zum Charakteristikum jedes nur denkbaren Objekts anzusehen“ (Haesler 2011: 61). Simmel argumentiert, dass dafür eine kulturelle Entwicklung notwendig sei, die eine Zunahme der Wirkmächtigkeit von Symbolen beinhalte. Dafür müsse eine steigende Abstrahierung stattfinden, die das Quantitative aus Gütern zu lösen und in Geld zu symbolisieren fähig ist. Diese Fähigkeit sei nicht als bewusster, rationaler (Willens-)Akt zu begreifen. Diese Mechanismen griffen vielmehr unbewusst (vgl. GSG 6: 169, 172, 184). Bei Simmel bleibt jedoch diffus, wie es zu dieser Intellektualisierung überhaupt kommen mag. Ihm reicht die Erklärung aus, dass die Erweiterung der Handelsbeziehungen eine Entsubstantialisierung des Geldes verlangt. Je weiter sich die Handelsbeziehungen ausweiten, umso stärker erhält der internationale Kreis in dieser Hinsicht die Züge […], die ursprünglich nur geschlossene Gruppen charakterisieren: die wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen überwinden die räumliche Trennung immer gründlicher und wirken ebenso sicher, exakt und berechenbar in die Ferne, wie früher nur in die Nähe. (ebd.: 220f.)
Dadurch könne der Substanzwert des Geldes abnehmen. Die Ausdehnung sowie Verfestigung wirtschaftlicher Beziehungen erlauben, dass der Funktionswert kontinuierlich den Substanzwert ersetzt, wodurch Geld letztlich zu einer öffentlichen Institution werde. Simmel führt, durchaus tautologisch, aus, dass der Wert des Geldes auf seiner Sicherheit ruht. Die unmittelbare Bedeutung des Geldträgers 20 Simmel legt dar, dass der „Übergang zur Moderne“ sich „in Form einer fortschreitenden Komplexitätssteigerung der sozialen Gruppe sowie der Persönlichkeit der daran beteiligten Individuen“ (Fitzi 2009: 40) erklärt.
2.2 Georg Simmel: Philosophie des Geldes
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werde durch die politische Zentralgewalt abgelöst, stelle aber nicht seine alleinige Deckung dar (vgl. ebd.: 224f.). Die Beziehungen zwischen der Zentralgewalt und ihren Mitgliedern werden verfestigt, weil die Beziehungen unter den Mitgliedern verstärkt über Geld vermittelt funktionieren. Die Zentralgewalt erfahre als geldemittierende Institution eine Stärkung. Geld übernehme dadurch einen fundamentalen bindenden Charakter in der modernen Gesellschaft. Diese sei für die Ablösung des Substanzwerts durch den Funktionswert notwendig, und erst damit werde Geld „wirklich Geld, d. h. wird es zu jenem wirklichen Ineinander und Einheitspunkte wechselwirkender Wertelemente, der nur die Tat des Geistes sein kann“ (ebd.: 246). Anders ausgedrückt entspringt der Wert des Geldes nicht länger seiner Substanz, sondern seiner Funktion, und diese kann es erst in der modernen Gesellschaft zu seiner Vollkommenheit ausüben. Glaube und Geld Damit Geld in seiner modernen Verfasstheit funktionieren kann, muss eine spezielle Beziehung zur sozialen Gesamtheit bestehen. Neben dem Vertrauen in die geldemittierende Regierung sei ein Glauben notwendig: eine „Hingabe des Ich an diese Vorstellung, die wohl auf angebbare Gründe hin entsteht, aber nicht aus ihnen besteht“ (ebd.: 216). Simmel versucht diesen Glauben folgendermaßen zu charakterisieren: Wenn der Landwirt nicht glaubte, dass das Feld in diesem Jahre so gut wie in früheren Früchte tragen wird, so würde er nicht säen; wenn der Händler nicht glaubte, dass das Publikum seine Waren begehren wird, so würde er sie nicht anschaffen usw. Diese Art des Glaubens ist nichts als induktives Wissen. Allein in dem Fall des Kredites, des Vertrauens auf jemanden, kommt zu diesem noch ein weiteres, schwer zu beschreibendes Moment hinzu, das am reinsten in dem religiösen Glauben verkörpert ist. Wenn man sagt, man glaube an Gott, so ist das nicht nur eine unvollkommene Stufe des Wissens von ihm, sondern ein überhaupt nicht in der Richtung des Wissens liegender Gemütszustand, einerseits freilich weniger, andrerseits aber mehr als dieses. (ebd.)
Dieser Glaube sei stärker als „verstandesmäßige Beweise“ (ebd.: 215). Es bedürfe eines Glaubens daran, dass das Geld, welches man einnimmt, zu einem späteren Zeitpunkt zum gleichbleibenden Wert ausgegeben werden kann, sowie eines Glaubens an die soziale Gesamtheit. Simmel rückt den „übertheoretischen Glauben“ (ebd.: 216) an Geld in die Nähe des religiösen, ohne diese gleichzusetzen. Ich schlage vor, diese Aspekte zu einem Glauben an Geld zusammenzufassen. Der Glaube an Geld ist ein „eigenartiges, aus Wissen, Instinkt und Gefühl zusammengewachsenes Gebilde“ (GSG 5b: 275). Er weist eine Nähe zum „praktischen Glauben“ (ebd.: 274) auf. Folgt man Simmel, dann stellt der praktische Glaube ein
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Geld in der Moderne
Verhältnis der Menschen untereinander dar. Er unterscheidet sich vom religiösen Glauben insbesondere darin, dass er als Referenzrahmen das gesellschaftliche Leben hat. Ohne diesen praktischen Glauben bricht die Gesellschaft auseinander – analog dazu bricht ohne den pekuniären Glauben der Geldverkehr zusammen (vgl. GSG 6: 215; vgl. Douglas 1988: 94). Wenn Simmel dem praktischen Glauben einen „religiösen Charakter“ (GSG 6: 215) zuschreibt, meint er damit nicht, dass es sich um eine Religion handelt – gleiches gilt für den Glauben an Geld. Die religiöse Komponente entstammt nicht einer Religion. Es besteht aber dennoch ein Konkurrenzverhältnis zwischen pekuniärem und religiösem Interessen. Das führt nach Simmel zur christlichen Verwerfung des Zinses, da der Zins das Geldgeschäft in „seiner abstrakten Reinheit“ (ebd.: 306) ausmacht. Den Gedanken, dass Geld mit Gott gleichzusetzen sei, führt er darauf zurück, dass es vom „absoluten Mittel“ zum „absoluten Zweck“ (ebd.: 307) aufsteigt. Der Unterschied zur Religion liegt darin, dass im religiösen Glauben die „relativen Inhalte“, das heißt die praktischen Motive und Interessen, mit dem praktischen gesellschaftlichen Leben verbunden sind, „in absoluter Gestalt“ (GSG 5b: 284), wie im Glauben an einen Gott zum Beispiel. Der Glaube an Geld umfasst keine ethisch-sozialen Verhaltensweisen. Gemeinsam ist ihm mit dem religiösen Glauben aber, dass er erstens nicht bewiesen werden muss, und zweitens es in beiden eine Suche nach einer Einheit gibt: „Indem alles soziale Leben Wechselwirkung ist, ist es eben damit Einheit; denn was anderes heißt Einheit, als dass das Viele gegenseitig verbunden sei und das Schicksal jedes Elementes kein anderes unberührt lasse“ (ebd.: 277). Geglaubt wird an eine Einheit der Gesellschaft trotz zunehmender Individualität21 , denn unter Vergesellschaftung ist eine „Einheit aus Vielen“(GSG 11: 60) zu verstehen, in der Individualität in der Allgemeinheit Platz findet.
21 Individualität ist ein wichtiger Bezugspunkt der Simmelschen Theorie der sozialen Differenzierung (vgl. GSG 2b; GSG 6; GSG 11). Hier zeigt sich eine Analogie zur Frage Durkheims, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Moderne vor sich geht und welche Bedrohungen dafür bestehen. Der Hintergrund ist die Überlegung, dass obwohl das Individuum auf der einen Seite immer autonomer werde, es auf der anderen umso mehr von dieser Gesellschaft abhängig sei (vgl. Durkheim 1992). Durkheim hat aber im Gegensatz zu Simmel keine Theorie sozialer Differenzierung entwickelt. Simmel macht in diesem Punkt sogar eine Gesetzmäßigkeit aus: „Zu den wenigen Regeln nämlich, die man mit annähernder Allgemeinheit für die Form der sozialen Entwicklung aufstellen kann, gehört wohl diese: dass die Erweiterung einer Gruppe Hand in Hand geht mit der Individualisierung und Verselbständigung ihrer einzelnen Mitglieder. Die Evolution der Gesellschaft pflegt mit einer relativ kleinen Gruppe zu beginnen, welche ihre Elemente in strenger Bindung und Gleichartigkeit hält, und zu einer relativ großen vorzuschreiten, die ihren Elementen Freiheit, Fürsichsein, gegenseitige Differenzierung gewährt“ (GSG 6: 469).
2.2 Georg Simmel: Philosophie des Geldes
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Geld als absolutes Mittel Die „widerspruchsvolle Doppelforderung an jeden Lebensmoment, ein schlechthin definitiver und ein schlechthin nicht definitiver zu sein“ (GSG 6: 299), findet in Geld eine wunderlich-ironische Entsprechung, indem es als absolutes Mittel zum Selbstzweck wird. Eine zunächst scheinbar seltsame Orientierung an Geld lässt sich mit Simmel dekonstruieren und erklären. Denn die dem Geld innewohnende Absolutheit birgt ein beispielloses Potential gegenüber allen anderen Mitteln. Simmel argumentiert in diesem Zusammenhang dialektisch, denn zu betrachten seien die Entwicklungen des Geldes auch unter materialistischen Voraussetzungen (vgl. ebd.: 299f.). Durch steigende Arbeitsteilung und Wettbewerb werden Zwecke für das Individuum einerseits schwerer erreichbar, andererseits nehmen diese in der Moderne quantitativ zu. In einer Gesellschaft, in der praktisch alles über Geld zu haben ist, sei es nahezu unvermeidlich, dass sich die MittelZweck-Reihe umdreht. Das Handeln richtet sich infolgedessen verstärkt an Geld aus, Geld durchdringt allmählich alle Lebensbereiche. Geld ist selbst aber indifferent den Zwecken gegenüber, weil es nicht an einen bestimmten Zweck gebunden ist. Es vermittelt den „Austausch der Objekte untereinander“ (ebd.: 264). Mit anderen Worten besteht keine Beziehung zu einem bestimmten Zweck, sondern zu allen Zwecken.22 Deshalb wird es zum „Mittel schlechthin“, wodurch es eine einmalig-fundamentale Bedeutung für die „praktische Stellung des Menschen […] zu seinen Willensinhalten“ (ebd.: 265) einnimmt und das Verhältnis der Akteure zur Welt maßgeblich beeinflusst. Ist jedoch der Selbstzweck des Geldes allein durch sein „generalisierte[s] Machtpotential“ (Deutschmann 1999: 21) zu erklären, wie beispielsweise Deutschmann nahelegt? Simmel weist zwar auf spezifische Vorteile des Geldes und den damit zusammenhängenden Machtcharakter hin (vgl. GSG 6: 317). Wenn man jedoch seine Werttheorie ernst nimmt, findet sich eine ergänzende Erklärung für den Selbstzweck des Geldes beziehungsweise für eine Orientierung an Geld: Die Grundlage des Wertes ist für ihn ein Begehren. Diesem wohnt stets die Gefahr inne, dass das begehrte Objekt dieses doch nicht befriedigen kann. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem „Gewonnenen“ und dem „Ersehnten“ (ebd.: 316). Geld hingegen, so argumentiert Simmel, könne nicht enttäuschen, weil es so abstrakt sei und Potentialität, nicht Wirklichkeit, repräsentiere. Es ist nicht die Verwirklichung eines Bedürfnisses, aber die Möglichkeit zur Verwirklichung von fast jedem Bedürfnis – das ist ein wichtiger Grundstein, um pekuniäre Vergesellschaftung verstehen zu können. Geld impliziert ein Vermögen, es ist „als Können, das 22 Mit Marx lässt sich hinzufügen, dass kein Zweck Geld Grenzen setzen kann (vgl. MEW 23: 167).
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Geld in der Moderne
Imstandesein schlechthin“ (ebd.: 276). Es symbolisiert „bloße Möglichkeit“ (ebd.: 267, Hervorh. im Orig.), für Simmel ist es „reine Potentialität“ (ebd.: 276). Ich schlage daher vor, Geld als Möglichkeit auf Möglichkeiten zu theoretisieren. Der Reiz des Geldes liegt damit auch in einem nicht-rationalen, sinnlich-ästhetischen Moment. Mit Geld lässt sich begehren. Es ist eine Projektionsfläche sondergleichen, wodurch es sich von anderen Objekten absetzt. Es ist nicht ausschließlich rationalisierend, denn in diesem Möglichkeitsraum enthält Geld ein Ästhetisierungspotential. Es erlaubt eine Distanz zur Realität und damit eine Haltung zur Welt, die nicht zweckrational bestimmt ist. Wichtig ist dies, weil „angesichts der durch die moderne Vergesellschaftung verursachten Fragmentierung von Erfahrungen […] eine ästhetische Haltung zur Gesellschaft nötig“ (Junge 2018: 251) werde. Damit sind die wesentlichen Argumentationen von Simmel zusammengetragen, inwiefern Geld Relation ist, aber auch zur Relation wird. Im synthetischen Teil der Philosophie des Geldes geht es, wie oben erläutert, um die Auswirkungen des Geldes auf die moderne Gesellschaft. Wichtige Analyseelemente stellen für Simmel Tempo, Rhythmus und Distanz dar, die er unter dem Blickwinkel der Ambivalenz betrachtet, um die Moderne beziehungsweise den modernen Lebensstil zu erfassen: Die Verhältnisse des modernen Menschen zu seinen Umgebungen entwickeln sich im ganzen so, dass er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den ferneren mehr zu nähern. Die wachsende Lockerung des Familienzusammenhangs, das Gefühl unerträglicher Enge im Gebundensein an den nächsten Kreis, dem gegenüber Hingebung oft ebenso tragisch verläuft wie Befreiung, die steigende Betonung der Individualität, die sich gerade von der unmittelbaren Umgebung am schärfsten abhebt – diese ganze Distanzierung geht Hand in Hand mit der Knüpfung von Beziehungen zu dem Fernsten, mit dem Interessiert-sein für weit Entlegenes, mit der Gedankengemeinschaft mit Kreisen, deren Verbindung alle räumliche Nähe ersetzen. Das Gesamtbild aus alledem bedeutet doch ein Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen, ein Distanzverringern in den mehr äußerlichen. (GSG 6: 663)
Dieser Vorgriff auf den synthetischen Teil ist bereits an dieser Stelle von Bedeutung, insofern meine These lautet, dass die romantisierende Komponente des Geldes dazu dient, trotz zunehmender Vergesellschaftung durch Geld eine Distanz zur Gesellschaft wiederum über Geld zu bewahren. Um diese These weiter unten ausführlicher zu erläutern, wird mit Simmel der Zusammenhang zwischen Geldentwicklung und der Entstehung der modernen Gesellschaft beleuchtet.
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Synthetischer Teil
Soziale Differenzierung Im Übergang zur modernen Gesellschaft entfaltet sich eine für die Geldwirtschaft spezifische soziale Differenzierung. Simmel betont die Bedeutung des Geldes für die soziale Differenzierung der Gesellschaft, allerdings nicht in dem Sinne, dass diese erst durch und mit Geld angestoßen worden sei. Zugleich ist soziale Differenzierung in der Moderne aber nicht ohne Geld denkbar. Soziale Differenzierung sei verknüpft mit einer „Entwicklung der Tendenz auf Vermehrung der Freiheit“ (GSG 11: 458). Wenn Simmel von »Freiheit« spricht, meint er eine Freiheit von etwas und nicht Freiheit zu etwas (vgl. GSG 6: 550). Die Empfindung von Freiheit ist seinem Verständnis nach „tatsächlich oft nur ein Wechsel der Verpflichtungen“ (ebd.: 375). Bereits in vormodernen Verhältnissen, auch wenn diese von der Geldwirtschaft nur am Rande betroffen waren, zeigen sich Beispiele, wie sich eine Lösung von alten Banden und damit Freiheitsgewinn durch Geldzahlungen gestalten konnten. Im Feudalwesen bestand ein sehr enges Verhältnis zwischen dem Grundherrn und dem Bauern. Das Ersetzen der Naturalabgaben durch eine Geldzahlung beinhaltete einen befreienden Aspekt, weil es nun in der Hand des Bauern lag, auf welche Art und Weise er diesen Geldbetrag erwirtschaftete. Dadurch vergrößerte sich sein Möglichkeitsraum. Die bloß zahlende Verpflichtung ist aber nach wie vor Teil eines Unterwerfungsverhältnisses, wenn auch ein entpersonalisierteres, da es ein durch Geld bestimmtes ist (vgl. ebd.: 378ff.). Eine Zuspitzung dieser Entwicklung macht Simmel in der Moderne aus.23 Geld schiebe sich einerseits zwischen das (begehrende) Subjekt und das (begehrte) Objekt, andererseits trete es zwischen die Beziehungen von Subjekten. Im Zuge der Industrialisierung und der zunehmenden Arbeitsteilung wird das Individuum von einer größeren Anzahl von Menschen abhängig, doch ist diese Form der Abhängigkeit qualitativ anders ausgestaltet als noch zu Feudalzeiten. Gleichzeitig bietet sich erst in der modernen Gesellschaft die Möglichkeit, ein individuelles Dasein zu entfalten, die es in vormodernen Zeiten aufgrund des geringen Handlungsspielraumes nicht gab: Der Einzelne sieht sich zunächst in einer Umgebung, die, gegen seine Individualität relativ gleichgültig, ihn an ihr Schicksal fesselt und ihm ein enges Zusammensein mit denjenigen auferlegt, neben die der Zufall der Geburt ihn gestellt hat […]. Mit fortschreitender Entwicklung aber spinnt jeder Einzelne ein Band zu Persönlichkeiten, welche außerhalb dieses ursprünglichen Assoziationskreises liegen und statt 23 Paul
weist darauf hin, dass es sich jedoch um „abstrakte Möglichkeiten und nicht notwendige Folgen des Geldgebrauchs“ (Paul 2012: 76) handelt.
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Geld in der Moderne
dessen durch sachliche Gleichheit der Anlagen, Neigungen, Tätigkeiten usw. eine Beziehung zu ihm besitzen; die Assoziation durch äußerliches Zusammensein wird mehr und mehr durch eine solche nach inhaltlichen Beziehungen ersetzt. (GSG 11: 456)24
Simmel betont damit das „individualisierende Potential“ (Paul 2012: 83) des Geldes.25 Mit der Entwicklung der modernen Wirtschaftsweise nimmt die quantitative Abhängigkeit zu. Dies wiederum erlaubt es, die persönliche zu minimieren: Von je mehr sachlichen Bedingungen vermöge der komplizierteren Technik das Tun und Sein der Menschen abhängig wird, von desto mehr Personen muss es notwendig abhängig werden. Allein diese Personen erhalten ihre Bedeutung für das Subjekt ausschließlich als Träger jener Funktionen, Besitzer jener Kapitalien, Vermittler jener Arbeitsbedingungen; was sie außerdem als Personen sind, steht in dieser Hinsicht garnicht [sic] in Frage. (GSG 6: 392)
Für das Erfüllen einer funktionalen Rolle in einer sozial differenzierten Gesellschaft ist die Persönlichkeit von keiner großen Bedeutung. Schon gar nicht dafür, dass ein Tausch überhaupt zustande kommt. Man muss nicht wissen, ob das Gegenüber im Tausch ein „wagendes oder zagendes Temperament“ (GSG 11: 395) hat, weil das Verhältnis ein unpersönliches, durch Geld vermitteltes darstellt. Dies ermöglicht beiden Seiten, das Persönlich-Individuelle als Geheimnis zu bewahren (vgl. ebd.: 394) und seine eigene Persönlichkeit vor dem Tauschgeschäft zu schützen. Das ist eine wesentliche Pointe des synthetischen Teils. Die Bedeutung dieses Geheimnisses beschreibt Simmel an anderer Stelle:
24 Weber beschreibt eine ähnliche Entwicklung: „Die inneren und äußeren Motive, welche das Schrumpfen der straffen Hausgewalt bedingen, steigern sich im Verlauf der Kulturentwicklung. Von innen her wirkt die Entfaltung und Differenzierung der Fähigkeiten und Bedürfnisse in Verbindung mit der quantitativen Zunahme der ökonomischen Mittel. Denn mit Vervielfältigung der Lebensmöglichkeiten erträgt schon an sich der Einzelne die Bindung an feste undifferenzierte Lebensformen, welche die Gemeinschaft vorschreibt, immer schwerer und begehrt zunehmend, sein Leben individuell zu gestalten. Von außen her wird die Zersetzung gefördert durch Eingriffe konkurrierender sozialer Gebilde: z. B. auch rein fiskalischer Interessen an intensiverer Ausnutzung der individuellen Steuerkraft“ (Weber 2010: 293). 25 Doch: es „handelt sich wohlgemerkt um ein Potential und keine notwendige Eigenschaft; oder präziser: um die »Eigenschaft« des Geldes, im Prinzip jedem Wunsch zu dienen“ (Paul 2012: 83).
2.2 Georg Simmel: Philosophie des Geldes
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Gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil viele seiner Inhalte bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen könnten. (GSG 8: 317)
Im Zuge der geldbedingten Ausdifferenzierung der Hauswirtschaft vom Markt konstituieren sich eine private und eine öffentliche Sphäre (vgl. GSG 6: 512, 528). Das Tauschverhältnis sei damit viel weniger von persönlichen Befindlichkeiten und Gefälligkeiten abhängig (vgl. ebd.: 381), womit sich auch Herrschaftsund Machtverhältnisse verschieben sowie, daran anknüpfend, Verpflichtungen und Freiheitsempfinden. Zunehmende Arbeitsteilung, verstanden auch als Spezialisierung von Fähigkeiten, führt zu einer stärkeren Abhängigkeit von anderen spezialisierten Fähigkeiten. Simmel verweist darauf, dass zwanghafte Abhängigkeiten in personalen Beziehungen zurückgehen, ohne dass von einer generellen Bindungslosigkeit zu sprechen wäre.26 Die Spezialisierung einer bestimmten Fähigkeit, die Ausübung einer funktionsspezifischen Rolle und das dadurch provozierte Zurücktreten der ganzen Person würden eine Auswechselbarkeit des Individuums bedeuten. Gleichzeitig gewährleistet es eine Anonymität in der Gesellschaft. Mehrfachmitgliedschaften in Organisationen und Assoziationen bringen verschiedene Vergesellschaftungsmöglichkeiten mit sich. Die Sachlichkeit in den Beziehungen spitze sich schließlich zu in ein „in Geld restlos ausdrückbare[s] Interesse“ (ebd.: 396). Geld sei aber auch der Ausgangspunkt dafür, dass ein „Gefühl individuellen Fürsichseins“ (ebd.: 397) entstehen könne. Die abnehmende persönlich geprägte beziehungsweise die ganze Person umfassende Abhängigkeit bringt einen individuellen Freiheitsgewinn mit sich. Bestehen bleiben allerdings partielle Abhängigkeiten. Zudem könne das Schrumpfen dieser Abhängigkeiten als Voraussetzung dafür angesehen werden, dass man überhaupt eine Individualität im modernen Sinne entwickeln kann.27 Individualisierung und persönliche Unabhängigkeit sowie die Ausdehnung von Handlungsmöglichkeiten
26 Seine Einsicht, dass im Wechsel von persönlichen zu technischen Abhängigkeiten ein positives Moment liegt, überträgt Simmel nicht auf die Geschlechterverhältnisse. Mit der Trennung von Privatem und Öffentlichem sowie der ökonomischen Abhängigkeit der Frau vom Mann thematisiert er biologistisch den positiven Charakter eines komplementären Geschlechterverhältnisses (vgl. Simmel 1985: 179). Er schweigt derweil darüber, welche Konsequenz diese eben nicht-technische, sondern persönliche Abhängigkeit mit sich bringt. 27 Bloß legt Simmel mit seiner These zum Freiheitsgewinn durch soziale Differenzierung nahe, dass keiner der Teilbereiche „Macht über das Individuum haben könnte – sondern lediglich über je spezifische »funktional distanzierte« und begrenzte Rollen“ (Henning
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sind an eine Gesamtheit gebunden, die von einer zunehmenden Vergesellschaftung (durch Geld) geprägt wird. So entstehen aber auch „neue Zwänge einer Einordnung, Koordinierung und Anpassung“ (Heinemann 1987: 333). Ausbeutung oder Entfremdung? Insgesamt bleibt bei Simmel die für Marx relevante Differenz zwischen Geld und Kapital unpräzise (vgl. Deutschmann 2015: 124). Damit geht eine sehr unterschiedliche Bewertung der Geldentwicklung bei Simmel und Marx einher. Simmel sieht Geld als substantielle Triebkraft der Lösung von traditionellen, persönlichen sowie feudalen Abhängigkeits- und Eigentumsverhältnissen. An unterschiedlichen Stellen betont er darauf aufbauend ein Freiheitsmoment der Moderne und des Geldes. Die Geldwirtschaft stifte, und hier scheint Marx durch, eine Reihe sonst ungekannter Bindungen. Seit in den Boden, um ihm das erforderliche Früchtequantum abzugewinnen, ein erhebliches Betriebskapital versenkt werden muss, das meistens nur durch hypothekarische Beleihung aufkommt; seit die Geräte nicht mehr unmittelbar aus den Rohstoffen, sondern auf dem Wege über so und so viele Vorbearbeitungen hergestellt werden; seit der Arbeiter im wesentlichen mit Produktionsmitteln arbeitet, die ihm selbst nicht gehören – hat die Abhängigkeit von dritten Personen ganz neue Gebiete ergriffen. (GSG 6: 392)
Für Simmel kommt es insgesamt zu einer „Abflachung des Gefühlslebens“ (ebd.: 595). Gemeint ist damit auch eine Überwindung des Triebhaften: Gefühle, Gemüt und Affekte würden nicht die gleiche Versöhnlichkeit in sich tragen wie eine zunehmende Intellektualität durch die Geldwirtschaft (vgl. ebd.: 598). Der Bezug auf etwas Drittes, auf das gesellschaftliche Ganze, habe einen bindenden Charakter, auch wenn Konkurrenz bestehe, und das wird mit dem friedfertigen Charakter des Geldes von Simmel impliziert. Der „historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel“ (MEW 23: 742) ist jedoch alles andere als idyllisch.28 Marx wendet sich gegen die bürgerlich-kapitalistische Erzählung, die sich in ihrem Fortschrittsenthusiasmus darauf konzentriert, dass doch erst der Arbeiter oder die Arbeiterin über sich als Person verfügen mag. Damit ArbeiterInnen überhaupt zu VerkäuferInnen ihrer Arbeitskraft werden konnten, wurden ihnen ihre Produktionsmittel und existentiellen Garantien entrissen. Geld, Ware, Produktionsmittel und Lebensmittel bedürfen erst einer Umwandlung in Kapital, 2015: 139). Es ist schlüssig, dass man als „»ganze Person« […] keinem einzigen Teilsystem“ (Paul 2017: 212) gehört, dennoch verweist Paul auf die Möglichkeit, dass es ein „Verhältnis der Über- und Unterordnung“ (ebd.: 213) gibt. 28 Vgl. zur gewaltvollen Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse im Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Federici (2015).
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wohinter ein jahrhundertelanger Prozess steht: „Wenn das Geld […] »mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt«, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ (ebd.: 788). Simmel räumt derweil ein, dass für die ArbeiterInnen der Freiheitsgewinn tatsächlich nicht so groß sei, scheint es ihm doch angesichts der „Härte und Erzwungenheit der Arbeit“, als „wären die Lohnarbeiter nur umgekleidete Sklaven“ (GSG 6: 399).29 Dennoch macht er darin ein mögliches Befreiungsmoment aus. Verleitet dies Simmel dazu, zum Beispiel die „Möglichkeit und […] Wahl des Wechsels“ (ebd.: 399) des Unternehmers zu positiv zu zeichnen? Im gleichen Zuge schränkt er aber sein Argument wieder ein, indem er ausführt: „Diese beginnende Freiheit anzuerkennen, darf uns ihre häufige Einflusslosigkeit auf die materielle Lage des Arbeiters nicht verhindern“ (ebd.). Zumal auf Seiten der Unternehmer nicht nur ein Freiheitsgewinn dadurch hinzukomme, dass keine personal-gebundene Fürsorge für das Überleben des Fronbauern mehr bestehe. Vor diesem Hintergrund ist zu begreifen, was Simmel damit meint, Freiheit stelle ein „Verhältnis zwischen Menschen“ (ebd.: 400) dar. Auch für Marx ist Geld konstitutiv für die moderne Gesellschaft; dieses ist aber für ihn nicht nur Geld, sondern auch Kapital und damit „privates Eigentumsrecht über Lohnarbeit“ (Deutschmann 2015: 120). Damit fällt die Marxsche Kritik ungleich schärfer aus, wobei sie sich jedoch stärker auf Ausbeutung denn auf Entfremdung richtet.30 Die Einflüsse von Marx auf den Entfremdungsaspekt bei Simmel sind nicht zu übersehen (vgl. exemplarisch GSG 6: 617ff.). Simmels Besorgnis über eine mögliche Entfremdung führt letztlich zur These einer Tragödie der Kultur. Laut Deutschmann folgt er „in erster Linie dem Duktus einer seinerzeit speziell in Deutschland verbreiteten bildungsbürgerlichen Technik- und Zivilisationskritik“ (Deutschmann 2015: 128). Rammstedt hingegen würde dem widersprechen, denn Simmel habe sich vom Pessimismus und Skeptizismus der 1880er Jahre distanziert und betone die Ambivalenz in seinem Werk (vgl. Rammstedt 2003a: 14). Doch wie kommt es zur Einschätzung, dass Simmel kulturpessimistisch zu verstehen ist? Tragödie der Kultur Simmel versteht unter Kultur „die Verfeinerungen, die vergeistigten Formen des Lebens, die Ergebnisse der inneren und äußeren Arbeit an ihm“ (GSG 6: 617). Kultur sei „der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit 29 Vgl.
zum Formwechsel Marx (MEW 23: 789). es Marx in seinen Frühschriften auch um Entfremdung, plädiert er seit der Schrift Die deutsche Ideologie für die Untersuchung der „wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen Menschen leben und arbeiten“ (Heinrich 2005: 20). 30 Geht
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Geld in der Moderne
zur entfalteten Einheit“ (GSG 12: 196). Dabei bedient er sich eines zirkulären Schlusses: Die menschliche Entfaltung vollziehe sich über den Weg der Kultur, indem kulturelle Objekte geschaffen und vom Subjekt wieder angeeignet werden, um zu seiner Kultivierung beizutragen. Dies bedeute, dass sich der Mensch durch die Kultivierung von Objekten selbst kultiviere. Vollzogen werde ein „Werterhöhungsprozess, der die Natur außer uns oder die Natur in uns ergreift“ (GSG 6: 618). Problematisch an diesem Prozess sei nicht die Entäußerung31 , sondern dass sich die Kulturobjekte nicht mehr aneignen ließen (vgl. Gerhardt 2003: 154; Henning 2015: 134). Simmel konstatiert eine Zunahme der Kultivierung der Dinge im Laufe des 19. Jahrhunderts, die beispielsweise in der Technik, Wissenschaft oder Kunst zu beobachten ist, wohingegen die Kultur des Menschen damit nicht Schritt halten könne oder gar zurückfalle, was zu einem Übergewicht der objektiven über die subjektive Kultur und schließlich zur unüberwindbaren Spaltung zwischen Subjekt und Objekt führe. Wie kommt es aber, dass die objektive Kultur, die eigentlich eine Kultur des Menschen sei, eine Eigendynamik entwickelt und was hat das zur Konsequenz? Hintergrund dieser Spaltung sei die Entwicklung der Geldwirtschaft und der Arbeitsteilung. Eine Problematik der Arbeitsteilung ergebe sich dadurch, dass ein Produkt nicht mehr als Ganzes von einer Person hergestellt werde, wodurch sich eine Bezugnahme des Herstellenden darauf erschwere. Im Gegensatz zum Kunstwerk, das als „Ganzes“ (GSG 6: 630) hervorgebracht werde, löse sich das Produkt im Zuge der Spezialisierung von den ArbeiterInnen ab. Es wohne ihm dadurch eine Eigendynamik inne – anders formuliert erhält es eine „objektive Selbständigkeit“ (ebd.: 633). Dadurch fehle eine innere Bindung, wie sie der schaffende Künstler zum von ihm geschaffenen Kunstwerk habe.32 Nicht nur die ArbeiterInnen werden von ihren Arbeitsmitteln getrennt, sondern die Arbeit an sich trenne sich von den ArbeiterInnen. Arbeit werde zu etwas Objektivem, zur Ware, zu etwas, was der Arbeiter oder die Arbeiterin „nicht nur nicht mehr ist, sondern eigentlich auch nicht mehr hat“ (ebd.: 632, Hervorh. im Orig.). Das Produkt stehe den ArbeiterInnen als „etwas Autonomes“ (ebd.: 634) gegenüber und sie müssten letztlich ihre Arbeitskraft verkaufen, um das von ihnen hergestellte Produkt wieder kaufen zu können. Besonders ausgeprägt zeige sich die Verselbständigung des Objekts in der Maschine, welche den ArbeiterInnen 31 Paul sieht in diesem Aspekt eine Nähe zwischen Hegel und Simmel, insofern „Kultur die Entäußerung des Menschen an die Welt, also ihre Beseelung oder praktische Gestaltung, sowie die geistige Rücknahme oder Aneignung dieser Produkte bedeutet“ (Paul 2012: 81). 32 Hier zeigt sich eine Nähe zu Entfremdungstheorien, in denen Kunst als idealtypisch nicht-entfremdete Sphäre gilt (vgl. Schäfer 2015b: 10).
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als „autonome Macht“ (ebd.: 637) entgegentrete und sie ihrem Rhythmus unterwerfe. Gleichzeitig, und das ist für Simmel wichtig, stehen die ArbeiterInnen der Maschine nur als funktionale RollenträgerInnen gegenüber und nicht in ihrer ganzen Persönlichkeit. Es sei dennoch eine „wachsende Fremdheit“ (ebd.) zwischen Subjekt und Objekt, die schließlich in einer Ohnmacht münde. Das führe zum „Gefühl, von den Äußerlichkeiten erdrückt zu werden“ (ebd.: 638). Diese Äußerlichkeiten, die sich letztlich als „feindliche Macht“ (ebd.) gegen den Menschen wenden, seien doch eigentlich von ihm entworfen worden und würden nun mit einer Eigendynamik gegen ihn antreten: Das ist die Tragödie der Kultur, die darin bestehe, dass die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; dass sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat. (GSG 12: 219)
Das Problem liegt damit laut Simmel nicht in einer Verflachung der Kultur, sondern darin, dass die vom Mensch geschaffenen Objekte, die seiner Kultivierung dienen sollten, nicht mehr angeeignet werden können und sich letztlich gegen ihn richten. Auch wenn die Moderne mehr Freiheit zu bieten habe als jegliche Zeit davor, bestehe die Problematik darin, dass man ob „dieser Freiheit doch so wenig froh wird“ (GSG 6: 723).33 Die entscheidende Mitwirkung des Geldes an der Tragödie der Kultur könnte dazu verleiten, Simmels Werk allein als kulturpessimistische Schrift wahrzunehmen sowie im Geld die Ursache allen Übels zu sehen. Diese Lesart versperrt aber den Blick auf anderweitige Betrachtungen bei Simmel. Es ist ein wichtiges, aber unterbelichtetes Erbe für die Soziologie, dass Simmel sinnlich-ästhetische Merkmale des Geldes mit seiner Bedeutung als absolutes, indifferentes, qualitätsloses Mittel verknüpft. Geld behält sehr wohl eine Qualität. Die Welt sei gerade nicht weggegeben worden, führt er gegen die Romantik an (vgl. ebd.: 385). Geld sei die „eigentümliche Verdichtung, Abstraktion, Antizipation des Sachbesitzes“, es sei das „In-Sich-Einziehen aller Möglichkeiten“ und wie die Schönheit eine „promesse de bonheur“ (ebd.: 442).
33 Zwar konnte sich das Individuum in vielen Hinsichten befreien, dennoch ist diese neugewonnene Freiheit ambivalent zu verstehen: „Weil die Freiheit, die das Geld gibt, nur eine potenzielle, formal negative ist, so bedeutet sein Eintausch gegen positive Lebensinhalte – wenn sich nicht sogleich andere von anderen Seiten her an die leergewordene Stelle schieben – den Verkauf von Persönlichkeitswerten“ (GSG 6: 553).
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Geld in der Moderne
Simmel mag zwar einen Beitrag zu Entfremdungstheorien geleistet haben (vgl. Dahme 1993: 62), aber davon zu sprechen, dass er während seiner ganzen Schaffensperiode an einer „weiteren Ausformulierung seiner Theorie gesellschaftlicher und kultureller Entfremdung“ (ebd.: 64) gearbeitet hat, unterschätzt das dialektische Angebot in der Philosophie des Geldes. Nedelmann wirft einigen EntfremdungstheoretikerInnen vor, die Ambivalenz in ihre Auseinandersetzung mit Simmel zu übergehen (vgl. Nedelmann 1993: 412). Auch Rammstedt macht sich für eine Lesart der Ambivalenz stark, wenn es um die Zerstörung alter Verhältnisse durch Geld geht: „Mit Akzeptierung dieser durch Geld bedingten Distanz ergeben sich jedoch sodann neue soziale Werte; neue soziale Werte, die auf andere distanzierte Verhältnisse übertragen werden können“ (Rammstedt 1993: 31). Auf sachlicher Ebene sei dies Ästhetik, auf sozialer Unabhängigkeit und auf temporaler Ebene Freiheit (vgl. ebd.: 31f.). Das heißt, auch wenn Geld zur Entfremdung der Persönlichkeit beitrage, „produziert es gleichzeitig eine Differenzierung der Lebensstile“ (Papilloud/Rol 2003: 179). Die Pluralisierung der Lebensstile mache die „»Buntheit« der Welt“ (ebd.: 181) aus. Ambivalenz als Resümee Simmel will nicht zu vormodernen Zuständen zurückkehren, denn er sieht die Geldwirtschaft als Voraussetzung für die Befreiung des Individuums an, wofür erst Gesellschaft entstehen muss (vgl. GSG 6: 470). Gleichzeitig erweckt er mit seinen Schilderungen der Tragödie der Kultur den Eindruck, dass die Entwicklung des Geldes nur negativ zu lesen ist. Seine Gegenüberstellung von Liebe und Geld (vgl. ebd.: 513) weist in eine ähnliche Richtung. Geld sei zwar eine der Bedingungen dafür, dass sich die öffentliche und die private Sphäre ausdifferenzieren, doch betrachtet er die Wirkungen des Geldes im Privaten kritisch. Geld habe eine destruktive Wirkung auf private menschliche Beziehungen: Geldwirtschaft aber und Verstandesherrschaft stehen im tiefsten Zusammenhange. Ihnen ist gemeinsam die reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen, in der sich eine formale Gerechtigkeit oft mit rücksichtsloser Härte paart. (GSG 10: 118)
Ähnlich äußert sich Simmel, wenn er davon spricht, dass sich eine „Herzlosigkeit des Geldes“ (GSG 6: 468) in der sozialen Kultur widerspiegle, was aber auch bedeuten mag, dass weniger Gefühle, Gemüt und persönliche Befindlichkeiten vergesellschaftend wirken. Die äußerliche Unfreiheit, die er der Vormoderne bescheinigt, setze sich häufig in das „Innere fort; sie verleiht einer psychischen Provinz oder Energie eine überwuchernde Betonung, so dass diese sich in die
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Entwicklung anderer gleichsam hineinmischt und das freie Sich-Selbst-Gehören derselben stört“ (ebd.: 418). Obwohl im synthetischen Teil der Philosophie des Geldes an manchen Stellen eine einseitige Aufhebung der Ambivalenz des Geldes aufscheint, verdeutlicht die obige ausführliche Auseinandersetzung mit dem analytischen Teil die Relevanz, die Ambivalenz des Geldes unter dem Aspekt der Rationalisierung und der Romantisierung weiterzudenken. Romantisierend in dem Sinne, dass Geld als Möglichkeit auf Möglichkeiten eng verknüpft mit Imagination ist. Es erlaubt eine Distanzierung von der Realität und einen Zugang zur Welt, der nicht zweckrational gefärbt ist. Diese Interpretation hebt sich von Simmel ab, der auf eine andere Weise Nähe und Distanz zur Gesellschaft thematisiert. Simmel versteht Freiheit als Unabhängigkeit von äußeren Zwängen, aber auch eine Ausdifferenzierung der eigenen Fähigkeiten, Interessen und Triebe. Freiheit ist für Simmel die ungehinderte Verwirklichung des Willens. Geld als Besitz von Besitzmöglichkeiten spiegelt dieses Freiheitsgefühl wider. Der Gebrauchswert einer Ware mindere genau dieses Freiheitsgefühl. Mit Geld, im Gegensatz zur Ware, kann gemacht werden, was man will, weil es die zusätzliche Qualität der Inhaltslosigkeit in sich trägt (vgl. GSG 6: 435, 461). Freiheit bedeute, „Schranken der Bewegung und Beziehungen [werden] nach außen, der Selbständigkeit und Differenzierung nach innen hin“ (GSG 10: 124) gelockert. In der Kleinstadt – diese sei paradigmatisch für die vormoderne Gemeinschaft – könne der moderne Mensch kaum atmen, denn er brauche die großstädtische Reserviertheit, um sich unabhängig zu fühlen (vgl. ebd.: 126). Die Rekonstruktion der Philosophie des Geldes mit der Fragestellung, welche Bedeutung Geld aus soziologischer Perspektive einnimmt, wird im Folgenden durch weitere soziologische Forschungen ergänzt. Simmels Erkenntnisse fungieren dabei als Instrument, den Forschungsstand zu Geld zu diskutieren und Forschungslücken deutlich zu machen. Der Forschungsstand wird unterteilt in Theorien, die Geld ausschließlich als Tauschmittel denken und Theorien, die den Selbstzweck in die Gesellschaftstheorie mit einbinden. Im Kontrast zu Theorien, die die Entwicklung des Geldes zum „absoluten Mittel“, zum „Wert schlechthin“ (GSG 6: 298), das heißt zum Selbstzweck analysieren, wird der Beitrag meiner Arbeit veranschaulicht. So zum Beispiel nimmt Deutschmann den Gedanken von Simmel auf, dass die „Vermögenseigenschaft“ (Deutschmann 2000: 302) für eine soziologische Analyse des Geldes wesentlich ist. Er argumentiert dafür, Geldinteresse in der kapitalistischen Gesellschaft als rational aufzufassen. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts ist ein Vorrücken der Ware-Geld-Beziehungen auf immer mehr Güter und Dienstleistungen festzustellen, worin sich eine wichtige Zäsur zeigt.
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Geld in der Moderne
Die (formell) freien ArbeiterInnen verkaufen ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt, sodass ein direkter Nexus zwischen Geld und menschlicher Arbeitskraft entsteht. Durch die Inklusion der Arbeitskraft in den Markt können bis dahin unvorstellbare produktive Potentiale erschlossen werden. Das Potential des Geldes liegt, wie Deutschmann mit Simmel und Marx herausarbeitet, in seinem direkten Zugriff auf das menschliche Arbeitsvermögen. Dieses Potential wirkt in einer kapitalistischen Gesellschaft umso stärker auf die Internalisierung der Denkweise über Geld. Mit der Kontrolle über die menschliche Arbeitskraft und ihre kreativen Potentiale erlangt Geld eine ganz andere Bedeutung als in der Vormoderne. Der Verweis von Deutschmann, ein Begehren des Geldes sei rational, stößt aber auch an Grenzen. So schlage ich vor, dieses Begehren stärker unter seinen romantisierenden Wirkungen zu beleuchten. Geld als Mittel der Rationalisierung und als Mittel der Romantisierung betont eine bislang wenig beachtete Ambivalenz des Geldes.
2.3
Geld als neutrales Tauschmedium
In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, welche theoretischen Annahmen und Konsequenzen damit verbunden sein können, Geld ausschließlich als Tauschmittel zu behandeln. Allgemein lässt sich festhalten, dass man sich in den Theorien des Geldes zwar uneinig über seinen Ursprung ist, jedoch die Ursprungserzählung eine wichtige Rolle in der Theoriebildung spielt. Grob lassen sich die genealogischen Perspektiven in drei Richtungen einteilen: erstens jene, die Geld als logische Folge aus dem wirtschaftlichen Tausch begreifen. Hierzu gehören insbesondere ökonomische Theorien des Geldes. Diesem Tauschmythos gegenüber stehen jene Ansätze, die den Ursprung des Geldes im außerökonomischen Bereich, d. h. in der religiösen Sphäre, verorten. Im zweiten Ansatz wird nicht davon ausgegangen, dass Geld eingeführt wurde, um den Warentausch zu erleichtern, sondern dass es als Substitut für Menschenopfer eingesetzt worden sei (vgl. Dodd 2014: 17). Als dritte Perspektive kann jene von Mauss (1990; 2015) genannt werden, der Geld im Kontext des Gabentausches theoretisiert. Eine wichtige Weiterführung dieser These findet sich bei Paul (2012). Ökonomische und soziologische Tauschmitteltheorien werden in diesem Kapitel insbesondere mit Simmels Geldanalyse und daran anknüpfenden Ansätzen diskutiert und ergänzt. Analytisch gehe ich folgendermaßen vor: In einem ersten Schritt skizziere ich ökonomische Grundannahmen in Bezug auf Geld aus einer soziologischen Perspektive, die zu einem konventionellen Narrativ über Geld zusammengefasst werden. In ökonomischen Lehrbüchern heißt es, Geld sei
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
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ein „Medium, das allgemein beim Tausch akzeptiert wird“ (Dornbusch/Fischer 1995: 447). Die Tauschmittelfunktion sei sein „begriffsbestimmendes Merkmal“ (Gabler Wirtschaftslexikon 201334 ). Darin hält sich die „Tauschfabel“ (Haesler 2011: 59) beharrlich. Bleibt es bei dieser funktionalen Auffassung des Geldes, eignet sich dann die Ökonomie dafür, Geld und seine Bedeutungen zu begreifen?35 Diesbezüglich fragt bereits Weber etwas spöttisch: „Wenn wir heute Geld ausgeben, so wette ich, dass, sogar wenn nationalökonomische Fachkollegen im Saale sind, fast jeder eine andere Antwort bereit halten wird auf die Frage: Wie macht das Geld es, dass man dafür etwas […] kaufen kann?“ (Weber 2002: 488). Geld wirft ein fundamentales Rätsel auf, dem nicht beizukommen ist, indem seine Zuständigkeit auf den ökonomischen Bereich beschränkt wird. Bereits Simmel wendet sich gegen das damalige Geldverständnis der klassischen Ökonomie (vgl. GSG 6: 52, 90, 121 und 267ff.): Geld als absolutes Mittel wird zum Selbstzweck und damit läuft es dem (ökonomischen) Anspruch, nur neutrales Tauschmedium zu sein, entgegen. Die Rolle des Geldes auf seine Funktionen im ökonomischen Bereich zu verkürzen, ist für eine gesellschaftstheoretische Perspektive wenig sinnvoll. Dennoch stellt sich die Frage, warum diese Kritik an der ökonomischen Auffassung überhaupt notwendig ist. Wray bezeichnet (ökonomische) Ansätze, die auf dem Tauschmythos beruhen, als „conventional theory“ (Wray 2000: 43).36 Diese Theorie habe eine hohe Wirkmächtigkeit, unter anderem weil politische Programme sich darauf stützen (vgl. ebd.: 59; Graeber 2014: 40). Diese Figur von Wray greife ich auf, wobei ich sie als konventionelles Narrativ über Geld
34 https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/geld-32540/version-167462
[29.10.2017]. Paul für eine ausführliche soziologische Kritik am (neo-)klassischen Verständnis des Geldes (Paul 2012: 107ff.; ebd. 2017: 14ff.). Oder, wie Aglietta festhält: „Möchte der Mann auf der Straße der Bedeutung des Geldes, allgegenwärtig und Anlass für Kummer und Sorge, auf den Grund gehen, sollte er ohne jeden Zweifel annehmen dürfen, in der Person des Wirtschaftswissenschaftlers den richtigen Ansprechpartner zu finden – doch weit gefehlt!“ (Aglietta 1993: 175). Eine an Marx angelehnte Kritik findet sich bei Müller im Verweis auf den Fetischcharakter, denn Geld „drückt eine besondere Form der Vergesellschaftung, der Organisation der gesellschaftlichen Lebenserhaltung aus; und zwar so, dass es diesen eigentlichen Zusammenhang in seiner Erscheinung verhüllt“ (Müller 1977: 28). 36 Maurer interessiert sich für ein ähnliches Themengebiet. In seinem Überblicksartikel zu anthropologischen Geldtheorien The Anthropology of Money verweist er auf die Wirkmächtigkeit der „Western folk theory“ (Maurer 2006: 17), um gleichzeitig ihre Defizite vorzustellen. 35 Vgl.
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Geld in der Moderne
bezeichne.37 Folgende Kernpunkte erkenne ich als allgemeines Narrativ der ökonomischen Geldtheorie, die im Anschluss genauer erläutert werden: Geld ist allein Tauschmedium und stellt keinen Selbstzweck dar. Demzufolge ist es harmlos und neutral. Die Durchsetzung des Geldes erfolgte zum Wohl aller und hatte zur Folge, dass Gewalt überwunden werden konnte. Geld liegt eine wirtschaftliche Leistung zugrunde. Vertrauen in Geld wird durch staatliche Institutionen gewährleistet. In diesem Kapitel steht zunächst die Diskussion dieses Narrativs im Vordergrund. Diese Fokussierung bedeutet zum einen, dass ökonomische Theorien des Geldes in der Aufarbeitung des Forschungsstandes unvollständig bleiben. Zum anderen werden diese Theorien primär aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive besprochen. Um den Hintergrund des konventionellen Narrativs über Geld zu erfassen, ziehe ich ergänzend anthropologisch-historische Ansätze heran.38 Im Mittelpunkt steht allerdings nicht eine Vertiefung und Aufarbeitung anthropologischer Geldtheorien, sondern eine Korrektur des konventionellen Narrativs über Geld. Ich möchte aufzeigen, dass dieses Narrativ auf spezifischen Bildern beruht, welche Geld als vernünftig und friedfertig konstruieren, was wiederum mit der Ursprungserzählung über Geld verknüpft wird. Kontrastiv dazu gehe ich auf Paul ein, der davor warnt, vormoderne Zeiten zu idealisieren und den Gabentausch gegenüber dem Geldtausch zu überhöhen (vgl. Paul 2012). Geldtheorien, die den Ursprung des Geldes nicht im wirtschaftlichen Tausch sehen, bringen den Vorteil mit sich, die Bedeutung des Geldes außerökonomisch zu denken. Als zweiten Schritt diskutiere ich soziologische Theorien, die ebenfalls Geld als neutrales Tauschmedium postulieren, es jedoch primär als Kommunikationsmedium analysieren. Das hat zur Konsequenz, dass der Eigenwert des Geldes außen vor gelassen oder als irrational verworfen wird. In der Auseinandersetzung mit system- und handlungstheoretischen Ansätzen wird exemplarisch gezeigt, 37 Damit wird jenen Ansätzen Rechnung getragen, welche die Bedeutung von Narrativen und Geschichten für die Ökonomie hervorheben. Zum Beispiel beschäftigt sich Beckert mit dem Zusammenhang von Fiktionen, Narrativen, Mythen und der kapitalistischen Dynamik (vgl. Beckert 2011; 2018). Daran anschlussfähig ist Leins’ Studie über FinanzmarktanalystInnen, deren Aufgabe es mitunter sei, überzeugend Geschichten zu erzählen (vgl. Leins 2018). Alexander hebt ebenfalls hervor, dass ökonomische Akteure auf Geschichten und Mythen angewiesen sind (vgl. Alexander 2011). 38 Laut Baker und Jimerson bestehe ein zentraler Unterschied zwischen soziologischen und anthropologischen Geldtheorien darin, dass soziologische Analysen primär »modernes Geld« in den Blick nehmen, wohingegen sich anthropologische Untersuchungen auf »primitives Geld« konzentrieren (Vgl. Baker/Jimerson 1992: 678f.). Mit Blick auf das Erscheinungsdatum des Artikels lässt sich die Frage aufwerfen, inwiefern dies überhaupt noch zutrifft.
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
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welche Einseitigkeit mit diesen Gelderklärungen verbunden ist. Um die gesellschaftstheoretische Bedeutung des Geldes zu fassen, gehe ich demgegenüber davon aus, dass der Selbstzweck in eine Geldtheorie miteinbezogen werden muss, wofür Simmel ein wichtiges theoretisches Fundament gelegt hat. Der Reiz des Geldes, als Mittel der Romantisierung, liegt in seinem Begehren, bei dem es sich gerade nicht um eine Irrationalität handelt.
2.3.1
Geld als neutrales Tauschmittel: ökonomische Deutungen
Funktionale Perspektive Die (zeitgenössische) ökonomische Theorie neigt dazu, Geld nur mittels seiner Funktionen, folglich als Tausch- bzw. Zahlungsmittel, Wertspeicher sowie Wertmaßstab (Recheneinheit), zu konzeptualisieren (vgl. exemplarisch Mishkin 2008 und Mankiw 2017).39 Eine Gelddefinition bleibt laut dem Ökonomen Woll „kontrovers“ (Woll 2000: 487). In der ökonomischen Theorie wird ein möglicher Selbstzweck des Geldes nicht mitgedacht, da Geld etwas sei, „nach dem Menschen letztlich nicht verlangen“ (ebd.). Es liegt nicht nur eine Verharmlosung des Geldes in dieser funktionalen Perspektive, auffallend ist auch ein tautologischer Charakter: „Geld ist, was gilt“ (Siebert 1992: 248). Oder anders ausgedrückt: Geld ist, was als Geld funktioniert.40 Der Ökonom Brodbeck konstatiert, dass die ökonomische Theorie Geld nicht zureichend erklären kann, weshalb der „Umgang mit Geld und die Geldgier ein ungelöstes Rätsel geblieben sind“ (Brodbeck 2009: 209).41 Vernachlässigt wird mit einer Fokussierung auf den Tauschmittelcharakter, dass gerade dem „materiell wertlose[n]“ Geld ein weiterer Funktionswert zukommt, wenn es „seine Dienste als Tauschmittel und Recheneinheit bestens erledigt“ (Paul 2012: 127). Diese Erkenntnis aus Simmels Geldsoziologie ist ein Beispiel dafür, inwiefern seine Theorie für eine Ökonomie des Geldes fruchtbar 39 Eine andere Perspektive bietet zum Beispiel Thalers Forschung zur mentalen Buchführung (vgl. Thaler 1999). 40 Zum Beispiel heißt es bei Beck ähnlich tautologisch: „Geld ist, was als Geld akzeptiert wird. Geld kommt von gelten. Seinen Wert bezieht es einzig aus einer gesellschaftlichen Übereinkunft“ (Beck 2006: 24, Hervorh. im Orig.). 41 Der Selbstzweck des Geldes, wie ihn Simmel theoretisch herausgearbeitet hat, sollte meines Erachtens nicht als Geldgier bezeichnet werden, da in dieser moralischen Wertung ein irrationales Moment kritisiert wird. Geld an sich zu begehren, lässt sich auch auf sein romantisierendes Element zurückführen.
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Geld in der Moderne
gemacht werden sollte.42 Nach Simmel wird gerade wertloses Geld umso wertvoller, womit der Funktionswert des Geldes seinen Substanzwert übersteigt (vgl. GSG 6: 158f., 229f.). Gegen die ökonomische Theorie kann mit Simmel eingewendet werden, dass keinen Wert zu tragen nicht damit verwechselt werden sollte, keinen Wert zu haben. Damit ist jedoch ein sehr komplexes Arrangement in Simmels Theorie berührt. Welche weiteren Annahmen bestehen in den ökonomischen Theorien des Geldes, die aus soziologischer Perspektive kritisiert werden? Hierfür gehe ich auf soziologische Diskussionen über ökonomische Geldtheorien und ihre Narrative ein, womit gleichzeitig ein bedeutender Forschungsstrang innerhalb der Geldsoziologie abgebildet wird. Diese Auseinandersetzung dient der Skizzierung und Dekonstruktion des konventionellen Narrativs über Geld. Eine dominante Perspektive in der ökonomischen Lehre ist, dass „Geld den Markt so funktionieren lässt, als ob Güter direkt gegen Güter getauscht werden“ (Deutschmann 2009: 242, Hervorh. im Orig.), womit die Annahme verbunden ist, dass sich das Interesse nur auf Güter richtet und nicht auf Geld. Geld habe, so rekonstruiert Ingham eine ökonomische Auffassung, keinen „inhaltlichen Einfluss auf die Tauschoperationen, sondern sorgt nur für deren effizientere Abwicklung“ (ebd. 2002: 7). Es stelle keine autonome ökonomische Kraft dar (vgl. Ingham 2000: 17). Mit anderen Worten gilt in der neoklassischen Orthodoxie die Prämisse, dass Geld Werte spiegelt und selbst keinen Wert hat (vgl. Paul 2012: 112). Die orthodoxe ökonomische Theorie tendiert damit dazu, die Relevanz des Geldes zu unterschätzen. Dies lässt sich auf Smith, Ricardo und Mill zurückführen (vgl. Smithin 2000: 2). Es findet sich häufig eine Reproduktion der Vorstellung Adam Smiths über den „natürlichen Hang des Menschen zum Austausch und dessen Erleichterung durch die Erfindung des Geldes“ (Deutschmann 2008: 42; vgl. weiter ebd. 2015: 115) wieder. Damit wird impliziert, dass Geld einen Vorgang erleichtere, der im Grunde auch ohne Geld möglich sei (vgl. Ingham 2000: 17; Esposito 2011: 49). Gleichzeitig wird in Bezug auf die Klassiker Smith, Ricardo und Mill eine quasinatürliche Logik des Geldtausches nahegelegt. Die Einführung des Geldes wird als vernünftiger Akt dargestellt, der zum Wohl der Einzelnen und der Allgemeinheit dient.43 Es ist für die ökonomische Theorie, und darüber 42 Ansätze in diese Richtung finden sich unter anderem bei Heinsohn/Steiger (1996) und Riese (2002). 43 In den Worten von Marx: „Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen der 18. JahrhundertRobinsonaden […]. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw. die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten begrenzten menschlichen Konglomerats machen. Den Propheten
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
43
hinaus für eine Soziologie des Geldes, problematisch, wenn der Gebrauchswert des Geldes rein „güterwirtschaftlich-ökonomisch“ und nicht „gesellschaftstheoretisch“ (Deutschmann 1998: 6) erfasst wird. Denn damit fließen weder zentrale Erkenntnisse zum Fetischcharakter des Geldes (MEW 23), noch zum Selbstzweck des Geldes (GSG 6) in die (neo-)klassische Ökonomie ein. Marx wie Simmel nehmen die ökonomische Analyse des Geldes als neutrales Tauschmedium zum Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit der ökonomischen Lehre, um darüber hinaus Geld als gesellschaftliches Verhältnis zu denken, das gerade nicht natürlicherweise entstanden ist. Gemäß Paul ist Geld eine „Institution, das heißt aus einem besonderen Typ von sozialen Beziehungen und ihrer (Ver-)Regelung erwachsenes verdinglichtes Symbol und nicht für ein von individuellen Akteuren zur Optimierung ihrer Tauschchancen erdachtes Werkzeug“ (Paul 2017: 9f.). Ähnlich sieht es auch Ingham (vgl. Ingham 2000: 20). In der ökonomischen Lehre wird jedoch der Tauschmittelfunktion das Primat zugewiesen, zusätzlich spielen Geldfunktionen wie Wertmaßstab und Wertaufbewahrungsmöglichkeit eine Rolle. Ökonomische Definitionen des Geldes, welche um diese drei Funktionen kreisen, beinhalten die Vorstellung seiner „eigentlichen Bestimmung, Tauschmittel zu sein“ (Paul 2017: 15). Bereits Aristoteles, dessen Ausführungen langanhaltende Wirkung erzielten (vgl. Meikle 2000: 157), sieht den Ursprung des Geldes im ökonomischen Bereich, das heißt, Geld sei eingeführt worden, um den Tauschhandel zu erleichtern.44 Der Selbstzweck des Geldes sei hingegen eine Widernatürlichkeit, und in diesem Zusammenhang spricht er von einer „Erwerbskunst, die man vorzugsweise und mit Recht als die Kunst des Gelderwerbs oder der Bereicherung bezeichnet“ (Aristoteles 1948: 17). Wichtiger als Aristoteles für die ökonomische Theorie ist jedoch das bekannte Werk Wohlstand der Nationen von Adam Smith. Darin erklärt dieser, dass zu Beginn der Warentausch langsam und mit Komplikationen vor sich ging: Nehmen wir an, jemand habe von einer Ware mehr als er selbst braucht, ein anderer dagegen zu wenig davon. Dann würde der erste froh sein, wenn er von dem des 18. Jahrhunderts, auf deren Schultern Smith und Ricardo noch ganz stehn, schwebt dieses Individuum des 18. Jahrhunderts – das Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andererseits der seit dem 16. Jahrhundert neu entwickelten Produktivkräfte – als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangne sei. Nicht als ein historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Geschichte. Weil als das naturgemäße Individuum, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich entstehendes, sondern von der Natur gesetztes“ (MEW 13: 615f.). 44 Laut Simmel sehen Aristoteles und Plato in Geld ein „notwendiges Übel“ (GSG 6: 300).
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Geld in der Moderne
Überschüssigen etwas abgeben, der zweite etwas davon kaufen könnte. Hat dieser aber gerade nichts zur Hand, was der erste braucht, kann kein Tausch unter ihnen zustande kommen. (Smith zitiert in Paul 2017: 16)
Jeder „vernünftige Mensch“ würde einen Vorrat anlegen, um einen möglichen Tauschakt einzugehen – aber nicht jede Ware lässt sich „ohne Verlust“ aufbewahren, weshalb aus „vernünftigen Gründen“ (ebd.) Geld entstehe. Der Vorteil des Geldes liege zudem darin, dass es geteilt werden kann. In Smiths Argumentation kommt in der weiteren Geldentwicklung die „Standardisierung von Metallstücken und schließlich deren Prägung zu Münzen“ (ebd.: 17) hinzu. Diese „Urgeschichte des Geldes“ (ebd.) findet sich in einem Großteil volkswirtschaftlicher Einführungsbücher, bloß hat es sie so gar nie gegeben (vgl. Wray 2000: 43; Graeber 2014: 33). Paul verweist in diesem Zusammenhang auf den normativen Charakter, wenn Wirtschaft und Gesellschaft „als an der Natur der Dinge oder vielmehr des Menschen orientiert“ (Paul 2017: 17) ausgegeben werden: „Tatsächlich nämlich geht die »orthodoxe«, das heißt wirtschaftsliberale Ökonomik […] davon aus, dass (Aus-)Tauschbeziehungen zwischen vereinzelten, nutzenorientierten Individuen so etwas wie den sozialen Naturzustand beziehungsweise die natürliche Gesellschaft bilden“ (ebd.). Demzufolge habe es so etwas wie Markt schon immer gegeben. Geld wird aus vernünftigen Gründen erfunden und eingeführt. Ähnliches findet sich bei Menger wieder, der einen prägenden Einfluss auf die neoklassische ökonomische Theorie nahm (vgl. Ingham 2000: 20; Dodd 2014: 20).45 Doch warum hält sich die Erzählung, dass Geld ein neutrales Tauschmedium sei? Paul macht dafür drei Gründe aus (vgl. Paul 2017: 21ff.). Erstens stützt diese Erzählung die bestehende Wirtschaftsordnung und trägt zur Verklärung des Bestehenden – Privateigentum, Markt und egoistische Individuen – bei. Zweitens gibt es wissenschaftliche Pfadabhängigkeiten in der Theoriebildung: „Einmal getroffene Entscheidungen oder Grundannahmen lassen sich nicht mehr ohne Weiteres revidieren, wenn ein ganzes, wie im Falle der heutigen Ökonomik weitgehend kanonisiertes Theoriegebäude auf diesen aufruht“ (ebd.: 23). Drittens hält sich diese Vorstellung durch den „gewöhnlichen Umgang mit und Verständnis von Geld selber“ (ebd.: 24). Damit weist Paul dem alltäglichen Umgang mit Geld und den Vorstellungen darüber eine Stützfunktion zu, wenn es um das Narrativ geht,
45 Laut Ganßmann folgt Simmel im Übergang vom Tausch zu Geld der Theorie Mengers (vgl. Ganßmann 2018: 226).
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
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Geld sei neutral und harmlos.46 Das heißt, es gibt ein stabilisierendes Ineinanderwirken des konventionellen Narrativs über Geld und des Alltagsverständnisses von Geld. Deckung des Geldes Im konventionellen Narrativ über Geld zeigen sich Brüche und Irritationen, wenn es um die Frage nach der Deckung des Geldes geht. Diese Frage scheint mit seiner Entmaterialisierung sowie zunehmenden (virtuellen) Konkurrenzprodukten virulenter zu werden. Laut Hörisch gehört es zu den unangenehmsten Fragen für die ökonomische Lehre, welche Deckung Geld hat. Die gegenwärtig gängigste Antwort, dass Geld durch das Bruttoinlandsprodukt gedeckt sei, verliert mehr und mehr an Überzeugungskraft (vgl. Hörisch 2009: 97; Paul 2012: 211; Maurer 2006: 18). Die alte und weitverbreitete Vorstellung, dass Geld durch Gold gedeckt wird, bringt ebenso Unstimmigkeiten mit sich.47 Denn sie täuscht darüber hinweg, dass der Goldstandard ein „politisches System“ (Paul 2012: 117, Hervorh. im Orig.) darstellte und Geld nicht durch faktisch vorhandenes Gold gedeckt war. Selbst im internationalen Bretton-Woods-System galt die Golddeckung nur eingeschränkt (vgl. ebd.: 211).48 Zudem könnte man mit Marx sagen, dass Gold als allgemeines
46 Bei Hörisch heißt es ähnlich: „Und der gesunde Menschenverstand hat denn ja auch umfassend die Einverständnis heischende Suggestion ausgebildet, danach etwa Geld, Macht, Technik und Medien an sich theologisch, ethisch und politisch unschuldig seien und alles von der rechten Verwendung dieser Mittel und Instrumente abhinge, die im übrigen an das Eigentliche des Menschen und des Seins eh nicht heranreichten“ (Hörisch 2013: 59). 47 Interessant wäre sicherlich eine kultursoziologische Analyse der Frage, inwiefern Gold eine andere Bedeutung als Geld beigemessen wird. Möglicherweise steht Gold stärker mit einer alten Sehnsucht nach ewiger Sicherheit in Verbindung und wäre damit nicht der gleichen Kritik wie Geld unterworfen. 48 Im Jahr 1944 wurde im amerikanischen Ort Bretton Woods ein Abkommen zu einem internationalen Währungssystem ausgearbeitet. Der US-Dollar fungierte als Leitwährung und war wiederum an Gold gebunden, aber nicht vollständig dadurch gedeckt (vgl. Dodd 2014: 45). Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems zu Beginn der 1970er Jahre sind weitreichende Veränderungen im internationalen Währungssystem eingetreten (vgl. ebd. 2011; Maurer 2006: 18). Haesler sieht in der Aufkündigung der Bretton-WoodsErklärung den Anfang der Autonomisierung des dynamischen Geldes und somit den Bruch der modernen Welt (vgl. Haesler 1995: 297).
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Geld in der Moderne
Äquivalent die gleiche „Verrücktheit“ (MEW 23: 90) wie Geld in sich trägt.49 Damit weisen all diese Erklärungsversuche grundlegende Defizite auf. Wenn aber weder Gold noch die wirtschaftliche Leistung, etwa repräsentiert im BIP, die Deckung des Geldes darstellen, dann übernehmen vielleicht Zentralbanken eine zumindest politische Deckung des Geldes? Paul führt aus, dass mit dem Aufkommen von Nationalbanken eine enge Verbindung zu den Regierungen bestand: Dafür, dass diese jenen vormals hoheitliche Privilegien wie das nun zum Druckrecht »staatlicher« Banknoten mutierte Münzregal und andere Vergünstigungen einräumten, konnten diese sich nicht nur günstiger finanzieren, als es ihnen »am Markt« möglich gewesen wäre, sondern jene darüber hinaus zumindest informell zur wenigstens indirekten (Mit-)Verfolgung staatlicher Absichten anhalten. (Paul 2017: 178)
Dadurch ergab sich eine privilegierte Position der Nationalbanken. Infolgedessen werden sie zu den „kapitalstärksten Banken eines Landes“, gleichzeitig zu den „Geldgebern anderer, kleinerer Banken“ und letztlich zur „Verrechnungsstelle des gesamten Bankensystems“ (ebd.). Zentralbanken haben sicherlich eine wichtige Stabilisierungsfunktion, unter anderem durch die Vermittlung geldpolitischer Ziele und als „lender of last resort“ (ebd.: 179). Daneben legitimieren sie Geld, da sie dieses naturalisieren „im Sinne einer »Selbstverständlichkeit« eines Mediums, eben des Zentralbankgeldes, als Repräsentant von Reichtum an sich“ (ebd. 2010: 260, Hervorh. im Orig.). Die „Stellung der Zentralbank als Hüterin des Heiligen Grals“ (Deutschmann 1998: 8) mag beruhigend wirken, doch ist der Einfluss dieser, auch im Zuge der Entmaterialisierung des Geldes, stark umstritten. Einerseits sei hier kurz erwähnt, dass nicht nur Zentralbanken Geld schöpfen. Zum anderen gibt es Finanzmarktprodukte, die wie Geld behandelt werden und nicht der Hoheit der Zentralbanken unterliegen (vgl. Paul 2017: 147; Degens/Sahr 2019: 45). Dazu lassen sich virtuelle Währungen wie der Bitcoin zählen. Damit geht der libertäre
49 Etwas ausführlicher: „Es ist aber ebendiese fertige Form – die Geldform – der Warenwelt, welche den gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen Verhältnisse der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren. Wenn ich sage, Rock, Stiefel usw. beziehen sich auf Leinwand als die allgemeine Verkörperung abstrakter menschlicher Arbeit, so springt die Verrücktheit dieses Ausdrucks ins Auge. Aber wenn die Produzenten von Rock, Stiefel usw. diese Waren auf Leinwand – oder auf Gold und Silber, was nichts an der Sache ändert – als allgemeines Äquivalent beziehen, erscheint ihnen die Beziehung ihrer Privatarbeiten zu der gesellschaftlichen Gesamtarbeit genau in dieser verrückten Form“ (MEW 23: 90).
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
47
„Traum von einem entstaatlichten Geld“ in Erfüllung (Paul 2017: 151)50 ; dies löst aber auch Beunruhigung, nicht allein aufgrund seines anonymen Gebrauchs, aus. Paul argumentiert, dass der Bitcoin mit staatlichem Geld nicht wirklich konkurrieren kann (vgl. ebd.: 154ff.).51 Angegriffen wird die Hoheit der Zentralbanken dennoch, denn das konventionelle Narrativ über Geld bekommt damit Risse. Für die ökonomische Theorie sehr ungewöhnlich, wäre aber weiterzudenken, ist die Perspektive Simmels, dass Geld in der Moderne eines Glaubens bedarf. Damit ist nicht nur ein Vertrauen in die Marktakteure und bestenfalls in die geldemittierende Institution gemeint, sondern ein Glaube in die Gesellschaft als Ganzes (vgl. GSG 6: 215ff.). Hörisch schließt sich dieser Perspektive an: Weil beziehungsweise in kritischer Perspektive wenn und nur wenn »alle« glauben, dass alle glauben, dass Geld beglaubigungswürdig ist, funktioniert Geld. Geld ist nicht nur ein Medium, das Kredite zu vergeben erlaubt; Geld ist selbst essenziell und existenziell auf Kreditierung angewiesen. Es muss beglaubigt werden, um Geltung zu haben. (Hörisch 2009: 100)
Es hat sich also gezeigt, dass eine Sphärentrennung der Gesellschaft und die Zuweisung des Geldes zu bloß einer Sphäre, der ökonomischen, nicht nur die Sicht auf die kapitalistische Dynamik und ihre Krisenerscheinungen versperrt. Wachstum ist der Geldwirtschaft immanent. Treibender Motor ist eine Verschuldungsdynamik, wodurch der Geldwirtschaft eine Instabilität und Krisenanfälligkeit inhärent ist (vgl. Paul 2012: 187; Deutschmann 2009: 255). In diesem Sinne argumentiert Paul: Das Geld ist das Dritte […], [das] zu den am Tausch beteiligten Akteuren hinzutritt und diesen in ein Geschehen, eine Form oder ein System eigenen Rechts verwandelt. Es ist kein Mittler, auf dessen Dienst man im Prinzip auch verzichten könnte, sondern Ausdruck und Mitte eines ménage à trois. Geld ist […] im Kern eine Form von Kredit. (Paul 2012: 64)
Die soziologische Kritik an ökonomischen Theorien des Geldes richtet sich gegen die Setzung, dass es als neutrales Tauschmedium eingeführt wurde und als dieses auch weiterhin fungiert. Im Weiteren ist mit Simmel die Vorstellung, die Deckung des Geldes sei allein materiell über das BIP oder allenfalls Gold zu denken, zu 50 Vgl.
– allerdings zum sozialen Charakter von Bitcoins – Dodd (2019). ist in diesem Zusammenhang das aktuelle DFG-Forschungsprojekt „Die Blockchain-Technologie als Bedrohung des Bankensystems“ unter Leitung von Barbara Brandl: https://www.fb03.uni-frankfurt.de/74911875/Prof_Dr_Barbara_Brandl_Forschung [22.04.2020]. 51 Interessant
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problematisieren. Es macht wenig Sinn, die Deckung des Geldes nur durch seine Repräsentation durch Dinge erklären zu wollen. Es wird auch durch seine Dienste, die es erfüllt, gedeckt. Geld ist und hat Wert; dieser doppelte Charakter des Geldes (vgl. GSG 6: 126ff.) hat weitreichende Folge für den „Wert der Dinge“ (Paul 2012: 239) und, damit verbunden, für eine Gesellschaft, die auf Geld basiert.52 Anthropologische Dekonstruktionen des konventionellen Narrativs Um das konventionelle Narrativ über Geld zu unterstützen, welches besagt, dass Geld zur Erleichterung des Tauschhandels eingeführt wurde, werden häufig anthropologische Erklärungen herangezogen (vgl. Wray 2000: 43). Ein flüchtiger Blick auf anthropologische Perspektiven genügt indes, weiteren Defiziten des konventionellen Narrativs über Geld aufzuspüren. Zum Beispiel wird in zahlreichen Analysen des Geldes argumentiert, dass sein Ursprung im religiösen Bereich zu suchen sei (vgl. u. a. Laum 2006; Aglietta/Orléan 1998; Haesler 2011; Paul 2012/2017 oder Türcke 2015). Damit wird eine andere Perspektive als im Tauschmythos eingenommen. Eine Erklärung, die den Ursprung im Religiösen ausmacht, ist folgende: Jede Ordnung legitimierte sich in Ritualen der Unterordnung unter die jeweiligen Götter, und der Kern des Rituals war ein Schlachtopfer, das den Göttern geschuldet war. Geld beginnt als Betrug an den Göttern, denen statt Menschen allmählich Tiere, dann symbolische Gaben und Handlungen, schließlich Symbole zweiter Ordnung: Geld, das die Opfergaben abstrakt beinhaltet, dargebracht werden. (Kitzmüller 2007: 108)
Auch die weitere Entwicklung des Geldes, wie dies oben mit Smith dargelegt wurde, lässt sich mit anthropologischen Ansätzen differenzierter betrachten. Eine weitere Vorstellung des konventionellen Narrativs über Geld ist etwa, dass durch die Erfindung der Münze Transaktionskosten gesenkt werden konnten. Darin liege ein Vorteil gegenüber der Bezahlung mit Tieren. Allerdings gibt es dazu einen gewichtigen Einwand von Wray: The textbook story relies on choice of a particular precious metal precisely to reduce the transaction costs of barter. However, in reality the consumer was faced with a tremendous number of coins of varying weight, denomination, alloy, and fineness. It is difficult to believe that the typical member of these societies would 52 Zum Beispiel interessiert sich Haesler für die Folgen der Entmaterialisierung und wie diese mit seiner kapitalisierenden Funktion zusammenhängt. Er zieht den Schluss, dass je „mehr das Geld sich »entsubstantialisiert«, abstrakt wird, um so konkreter […] es im Sinne seiner Kapitalisierung“ (Haesler 1993: 236f.) wird.
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
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have been more able to assess the value of a coin than the value of, say, a cow. Rather than reducing transaction costs by using precious metals, it would likely have reduced transactions costs to use cows! It is not a real counter-argument that cows are less divisible, because the coins were far too valuable to have been used in daily transactions in any event. (Wray 2000: 45)
Darüber hinaus hält sich die Vorstellung, dass Geld deshalb als vernünftig zu betrachten sei, weil es Raub und Totschlag ablöse, wodurch sich der gesellschaftliche Wohlstand erst vermehren ließe (vgl. Hörisch 2013: 58). Diese Ansätze gehen im Gegensatz zum konventionellen Narrativ über Geld aber nicht davon aus, dass die Genese des Geldes natürlich beziehungsweise quasi-logisch vonstattenging. In diesem Sinne spricht auch Hörisch von Erfindungen, welche eine fulminante Wirkung auf das Geld und das Sozialwesen ausgeübt haben: Erst die »Erfindung« des Münzgeldes um 700 v. Chr. formiert »kalte« Rationalität, intersubjektiv verbindliche Kategorien (wie u. a. Identität, Differenz, Quantität, Qualität, Modalität) und selbstbewusste Transzendentalsubjekte – formiert Kopf und Zahl. Mit der Erfindung von Münzen können Gesellschaften vom heißen Prinzip der Vergeltung auf das nüchtern-kalte Medium Geld umstellen. (ebd.: 234)
Es lässt sich gegen das konventionelle Narrativ über Geld festhalten, dass die Entwicklung des Geldes kontingente Momente enthält: weder ist es natürlich, noch unbedingt vernünftig. Wie ist aber der Aspekt der Friedfertigkeit des Geldes in seiner historischen Entwicklung zu beurteilen? Auch bei Simmel findet sich eine positive Zeichnung des friedfertigen Charakters des Geldes, worin er sich deutlich von Marx unterscheidet. In der Schrift Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation beschreibt Marx eindrücklich den gewaltsamen Übergang von der Feudalordnung zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (MEW 23: 741ff.). Die Freisetzung der feudalen Abhängigkeitsverhältnisse ist nicht friedliche Folge des Geldes, sondern eine durch Gewalt hervorgebrachte Voraussetzung für die bürgerlich-kapitalistische Ordnung und die Geldwirtschaft. Zwar kann Simmel nicht vorgeworfen werden, dass er eine reine Positiverzählung des Geldes vornimmt und materielle Verhältnisse vernachlässigen würde. Doch wie kommt es, dass er die Friedfertigkeit des Geldes hervorhebt? Oder ist Simmel in diesem Punkt nicht auch uneindeutig, wenn er beschreibt, dass die „bloße Gerechtigkeit, die der Tausch bewirkt, […] doch nur etwas Formales und Relatives“ (GSG 6: 387) ist? Dieser Frage wird hier nicht weiter nachgegangen, doch zeigt sich, dass sich Simmels Perspektive dennoch auch in diesem Punkt vom konventionellen Narrativ über Geld abhebt. Eine quasi-natürliche Entwicklung des Geldes aus dem Tausch heraus ist nicht sein Anliegen. Er begreift bereits den Tausch
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als „Entdeckung oder Erfindung“ (Paul 2012: 85). Simmel geht nicht davon aus, dass es sich um eine kontinuierliche gesellschaftliche Evolution handelte, sondern sprunghaft und schlagartig neue soziale Formen entstehen können, welche die alten und dauerhaften Probleme der Menschheit wie zum Beispiel die Aneignung fremden Besitzes so erfolgreich lösen, dass sie die alten Formen zwar nicht völlig verdrängen, aber doch nicht wieder vergessen und aufgegeben werden. Der Tausch ist kein natürliches oder unvordenkliches, sondern ein emergentes Sozialphänomen, dessen Erfolg oder Leistung sich mit seiner friedenstiftenden Macht erklären lässt. (ebd., Hervorh. im Orig.)
Trotzdem ist die Genesis des Geldes, wie Simmel sie nachzeichnet, laut Paul kritikwürdig. Simmel würde allzu schnell vom Begehren zum Tausch und schließlich zu Geld gelangen. Pauls Kritikpunkt dreht sich um das Argument, dass bereits Tausch gar nicht so wahrscheinlich sei (vgl. ebd.: 97), weil ihm eine Gefahr im „Kampf um Anerkennung“ (ebd.: 98) zukomme: Der Tausch, in dem Ego und Alter einander geben, was sie besitzen, ist, anders als die liberale Fabel meint, keine naheliegende Lösung, weil die Bereitschaft Egos (Alters), sich von seinem Besitz zu trennen, Alter (Ego) signalisiert, dass dieser seinem Besitzer offenbar nur wenig bedeutet und deshalb nicht als Surrogat für den Seinsmangel taugen kann. (ebd.: 100)
Diese Kritik an Simmel – dass die Bereitschaft zum Warentausch an dem Zweck der Ware als Mittel der Mängelbeseitigung doch zweifeln lassen könne – kann auch als Einwand gegen das konventionelle Narrativ über Geld vorgebracht werden, weil Geld so gesehen eher Zwietracht denn Frieden säe. Basierend auf Aglietta und Orléan führt Paul weiter aus, dass der Tausch Gewalt „generiert und universalisiert“ (ebd.). Erst durch ein gemeinsames, nicht individuell aneigbares Opfer erfolge eine Befriedigung, indem Gewalt kanalisiert und rituell eingehegt werde. In der Moderne übernehme „Geld die Rolle dieses Gesellschaft konstituierenden Opfers“ (ebd.: 101). Krisen seien der Geldgesellschaft aber deshalb inhärent, weil Geld als Opfer eigentlich nicht privat angeeignet werden dürfe: „Inflation und Deflation sind deshalb nicht nur Probleme der Notenbanktechnik, sondern die Pole, zwischen denen der kollektive Traum von Geld oszilliert“ (ebd.: 103). Das heißt aber auch, dass der religiöse Ursprung „Geld auch nach Jahrhunderten der Säkularisierung, Ent-Ontologisierung und Abstraktion weiter an[haftet]: Geld ist untrennbar verbunden mit Schuldverhältnissen, und die Schuldtilgung hat den Charakter des Opfers“ (Kitzmüller 2007: 109; vgl. auch Türcke 2015: 12ff.).
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
51
Geld im Kontext des Gabentausches Marcel Mauss sieht den Ursprung des Geldes im Gabentausch. In seinem bekannten Werk Die Gabe heißt es in einer Fußnote zum Ursprung des Geldes: Unserer Meinung nach hat die Menschheit lange herumgetastet. Zuerst hat sie entdeckt, dass bestimmte, fast immer magische und kostbare Dinge durch den Gebrauch nicht zerstört wurden, und sie hat diese Dinge mit Kaufkraft ausgestattet […]. In der zweiten Phase, nachdem es der Menschheit gelungen war, diese Dinge innerhalb und außerhalb des Stammes in Umlauf zu bringen, hat sie entdeckt, dass diese Kaufmittel als Medien für die Bezifferung und den Umlauf von Reichtümern dienen konnten. […] Die dritte Phase begann in sehr alter Zeit bei den semitischen Gesellschaft […], wo man die Mittel erfand, diese Wertgegenstände von den Gruppen und Individuen zu lösen und sie zu dauerhaften Instrumenten der universellen, wenn auch nicht ganz rationalen Wertmessung zu machen – in Ermangelung eines besseren Systems. Es hat also, wie wir meinen, eine Form des Geldes gegeben, die der unseren vorausging. (Mauss 1990: 58)
Axel Paul setzt sich in Anlehnung an Mauss ausführlich mit Gabe, Geschenk und Geld auseinander, um Simmels Perspektive zu bewerten. Dabei dekonstruiert er die Vorstellung, dass Gabentausch etwas Friedliches sei, wobei sich seine Sichtweise gegen eine kulturpessimistische Verfallsrhetorik richtet. Um diese Argumentation nachvollziehen zu können, ist die Unterscheidung zwischen Gabentausch und Warentausch wichtig. Im Unterschied zum Geschenk muss eine Gabe erwidert werden. Sie ist durchzogen von Kalkül, damit der Gabentausch im stetigen Fluss gehalten wird. Das Interesse ist daher dem Gabentausch „äußerlich oder transzendent“ (Paul 2012: 87). Der Warentausch hebt sich insofern davon ab, als das „Interesse der Kontrahenten im Warentausch zugleich artikuliert und ausgelöscht wird“ (ebd., Hervorh. im Orig.) – ohne zu erhalten, was man begehre, tausche man nicht. Die „Vorstellung der Äquivalenz, der Wertgleichheit zweier Objekte“ (ebd.) setzt sich über den Gabentausch hinweg: „Nun, da man seine Schuld messen oder sogar in Zahlen ausdrücken konnte, war es möglich, sie buchstäblich restlos zu begleichen“ (ebd.). Schulden anstatt Schuld. Paul entfaltet damit sein zentrales Argument, dass Geld in seinem Ursprung (und darüber hinaus) eine soziale Praktik darstellt, der ein Schuldverhältnis vorausgeht. Hervorgehoben wird damit die Funktion als Zahlungsmittel statt als Tauschmittel, insofern Geld ein Mittel zur Schuldentilgung ist (vgl. ebd. 2017: 61). Bei Simmel heißt es, dass Geld in seiner „Darstellung des Wertes anderer Objekte“ eine Gerechtigkeit suggeriere. Es biete „die technische Möglichkeit für genaue Gleichheit der Tauschwerte“ (GSG 6: 388). Da Simmel davon ausgeht, dass Raub dem Tausch als „Art des Besitzwechsels“ (ebd.: 89) voranging, halte Tausch
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Geld in der Moderne
„vom Griff zur Waffe“ (Paul 2012: 91) ab. Tausch stelle einen „Friedensvertrag“ (GSG 6: 89) dar. In der Ausbreitung der Geldgesellschaft, genauer in der Charakterlosigkeit des Geldes, wird von Simmel eine positive Wirkung mit der „Tendenz zur Versöhnlichkeit“ und der „Idee des Weltfriedens“ (ebd.: 596) entdeckt. Doch entwickelt sich, mit Marx gefragt, die Gewaltförmigkeit im Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht zu einer systeminhärenten Kontinuität der modernen Gesellschaft? Gewalt verschwindet nicht, sondern verändert sich.53 In diesem Sinne ist es verniedlichend, vom „doux commerce“ (MEW 23: 780) zu sprechen, wenngleich sich diese Erzählung bis in die Gegenwart hält. Trotz aller negativen Folgen der Geldwirtschaft warnt Paul davor, Gabentausch als unschuldige Sozialform wieder etablieren zu wollen. Er sieht darin eine „barbarische Gemeinschaftsphantasie“ (Paul 2012: 89). Diese Kritik beraubt der Vormoderne ihrer Unschuld. Paul hebt derweil ein dialektisches Verständnis der Geldentwicklung hervor: „Eine Ethik der Gabe ist nur möglich vor dem Hintergrund oder besser inmitten einer bürgerlichen Gesellschaft, deren kaltes Gewinnstreben erst den Raum schafft für warme Gesten“ (ebd.). Mit diesem kurzen Überblick über Theorien, die den Ursprung im Religiösen beziehungsweise im Gabentausch verorten, können Defizite des konventionellen Narrativs über Geld beleuchtet werden. Die Bedeutung des Geldes erschließt sich damit außerökonomisch, wenn zum Beispiel die Einführung des Geldes der Überwindung von Gewalt gedient haben soll (vgl. Hart 2007)54 ; Verallgemeinerungen dieser Perspektiven sind, wie sich mit Paul zeigen lässt, indessen auch mit Vorsicht zu genießen. Anthropologisch-historische Ansätze sind dennoch soziologisch fruchtbar, um gängige Konventionen des Geldes zu analysieren.55
2.3.2
Geld als neutrales Kommunikationsmittel: soziologische Deutungen
In der Soziologie findet sich ebenso eine einseitige Auffassung, dass Geld keinen Eigenwert besitze, also keinen Selbstzweck darstelle. Talcott Parsons übernimmt 53 Weder Simmel noch Marx sehnen sich vergangene Zeiten herbei, so unterschiedlich ihre Kritik an der modernen Gesellschaft auch ausfällt. 54 Die historische Relevanz von sogenanntem Wergeld, „die Gewalt im Idealfall unterbindenden Zahlungen“, sieht Paul darin, dass „verschiedenste Delikte, mit ein und demselben Maßstab“ gemessen werden um „damit der Idee der Gleichwertigkeit von vorderhand Unvergleichlichem auf die Sprünge zu helfen“ (Paul 2017: 71). 55 Zum Beispiel wendet sich Maurer gegen einen anderen westlichen Mythos, der besagt, dass Geld nur unmoralische Wirkungen mit sich bringe (vgl. Maurer 2006: 19).
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
53
die Beschränkung des Geldes auf den ökonomischen Bereich. Seine Deutung des Geldes als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium war in der Soziologie lange Zeit richtungsweisend (vgl. Deutschmann 2008: 42). Die Negierung eines Selbstzwecks des Geldes bringt aber eine Verharmlosung mit sich – daher wird im Folgenden diskutiert, ob das Macht- und Herrschaftspotential des Geldes soziologisch berücksichtig werden kann, wenn der Selbstzweck des Geldes nicht in die Gesellschaftsanalyse miteinbezogen wird. In der Soziologie wird zudem die Vorstellung vertreten, dass eine Orientierung an Geld irrational oder pathologisch sei, weil Geld nicht unmittelbar Bedürfnisse befriedigen könne. Exemplarisch für diese Perspektive wird in diesem Kapitel auf den handlungstheoretischen Ansatz von Kellermann eingegangen und herausgearbeitet, dass damit der Möglichkeitsraum erschaffende Aspekt von Geld, nach dem sich sehr wohl rational streben lässt, nicht berücksichtigt wird. Wie meine These zur Ambivalenz des Geldes zu bedenken gibt, kann zwar Geld nicht unmittelbar ein Bedürfnis befriedigen, aber ein Begehren erfüllen. Der Selbstzweck des Geldes stellt keine Irrationalität, Pathologie oder Gier dar. Vielmehr werde ich aufzeigen, inwiefern die Ambivalenz des Geldes als Mittel der Rationalisierung und als Mittel der Romantisierung ein zusätzliches Exklusionsmoment denkbar werden lässt und damit auch einen Beitrag zu Debatten leistet, die das Macht- und Herrschaftspotential des Geldes thematisieren. Geld kann damit nicht nur vom Standpunkt seiner integrativen Funktionen verstanden werden, sondern ebenfalls aus der Perspektive der gesellschaftlichen Exklusion. Systemtheoretischer Ansatz Geld ist für Parsons als prioritäres Medium des Wirtschaftssystems ein Medium der Mobilisierung und dennoch ein neutrales symbolisches Medium (vgl. Parsons 1964: 347ff.). Er geht davon aus, dass Geld den Tausch vereinfacht. Es sei „significant for what it can buy, as well as in the role of a direct symbol of recognition“ (ebd. 1939: 464; vgl. ebd. 1937: 509). Geld komme kein Wert an sich zu, es verkörpere ein reines Wertmaß und sei Tauschmittel – seine Funktionen seien Regulation und Handlungsorientierung. In der Auseinandersetzung mit Simmel wurde oben nachgezeichnet, dass Geld als absolutes Mittel zum Zweck an sich wird. Oder in Marx’ Worten: „Ohne die Annahme der Warenform wird das Geld nicht Kapital. Das Geld tritt hier also nicht polemisch gegen die Ware auf, wie in der Schatzbildung“ (MEW 23: 169). Diese Ebene können weder Parsons
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Geld in der Moderne
noch Luhmann systematisch miteinbeziehen, wenn sie Geld als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium theoretisieren.56 Geld als Selbstzweck kann nicht ein einfaches Steuerungsmittel sein. Niklas Luhmanns Geldtheorie greift weiter als jene Parsons, doch bleibt bei beiden die Funktion des Geldes abseits seiner Mittlerfunktion unterbelichtet (vgl. Ganßmann 2002: 21; Bammé 2005: 12f.; Deutschmann 2012: 138; Paul 2012: 231). Universelle Relevanz erlangt Geld, folgt man Luhmann, erst in der modernen Gesellschaft. Erst durch Geld hat sich die Wirtschaft wie nie zuvor ausdehnen können. Weil es den „Prozess der Selektionsübertragung“ (Luhmann 1972: 197) steuere, gleiche es zudem die Erlebnisräume der Akteure an. Luhmann denkt zwar den Selbstzweck des Geldes an, insofern es als generalisiertes Medium „die Verschiedenheit des Verschiedenen überbrücken [kann], und zwar ohne dies Verschiedene als etwas anderes, Medienfremdes auszuschließen“ (ebd. 1989: 233). Einschränkend fügt er aber hinzu, dass Geld keinen Eigenwert besitze. Es wäre verkürzt, ökonomische Analysen des Geldes mit den Theorien von Parsons und Luhmann gleichzusetzen. Aber dennoch legen ihre Theorien des Geldes als Kommunikationsmedium eine gewisse Harmlosigkeit nahe. Dies relativiert eine Machtperspektive des Geldes, worauf im Folgenden der Fokus gelegt wird. Neben der Vernachlässigung der Vermögenseigenschaft des Geldes liegt die Problematik dieser soziologischen Herangehensweise darin, dass die „Versachlichung sozialer Beziehungen, die Dynamisierung sozialer Zeitordnungen, die »Entkörperlichung« der sozialen Wahrnehmung“ (Deutschmann 2008: 43), nicht erfasst werden können. Simmel hat erläutert, dass Geld nicht an einen konkreten Zweck gebunden ist, sondern sich vielmehr auf alle Zwecke überhaupt bezieht (vgl. GSG 6: 264). Geld ist anderen Waren gegenüber überlegen, es ist nicht nur ein „Verweis auf Dinge“ (Degens/Sahr 2019: 17). Die Vermögenseigenschaft des Geldes wirkt sich auf sachliche, soziale, zeitliche und räumliche Dimensionen aus: Ab einem gewissen Vermögen steht es mir frei, was ich wie, wann und wo kaufe. Die implizite Wahlfreiheit des Geldes gilt nicht für alle: Das Potential des Geldes wirkt zwar gesellschaftlich, aber individuell unterliegt es Beschränkungen, wenn zu wenig davon vorhanden ist. Machtkritisch merkt Simmel damit an, dass dieser Vorteil nur den Wohlhabenden gereicht; in diesem Sinne spricht er vom „Superadditum des Reichtums“ (GSG 6: 276). Reiche sind Armen nicht nur in quantitativer Hinsicht überlegen, sondern auch qualitativ, hinsichtlich dieser Wahlfreiheit. Damit kommt Geld eine zusätzliche Macht- und Herrschaftsebene zu: 56 Diese Kritik richtet sich auch gegen den in der gleichen Theorietradition stehenden Dirk Baecker (vgl. Baecker 2006).
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
55
Die Vorteile der Geldhaltung lassen sich nur realisieren, wenn nicht alle dies tun. Damit ich mich als Käufer darauf verlassen kann, zwischen verschiedenen Waren und zwischen verschiedenen Anbietern entscheiden zu können respektive aktuell noch gar nicht kaufen oder entscheiden zu müssen, muss es eine hinreichend große Anzahl von Marktakteuren geben, die ihre Waren hier und jetzt zu verkaufen gezwungen sind oder es wenigstens wollen. (Paul 2017: 114)
Anders formuliert liegt die soziale Macht des Geldes in seiner Dialektik zwischen unendlichem Potential und endlicher Grenze (vgl. Hart 2007: 15). Die Freiheitsdimensionen in sachlicher, sozialer, zeitlicher und räumlicher Beziehung nimmt Deutschmann zur Grundlage, Geld stärker unter einer Machtperspektive zu denken (vgl. Deutschmann 2008: 45ff.). Er verbindet in seiner Theorie Ansätze von Simmel und Marx, um die Machtdimension des Geldes sowie seine religiöse Funktion hervorzuheben. Weil Geld zur Ware wird, kann es zum Privateigentum jeder Person werden, womit gesellschaftliche Macht „Privatmacht der Privatperson“ (MEW 23: 246) wird. Geld ist konstitutiv für die moderne Gesellschaft: Mit dem Geld als Privateigentum entsteht ein „historisch neuartiger sozialer Zusammenhang globaler Reichweite“ (Deutschmann 2015: 120). Geld ist keine Vermittlung zwischen friedlich-konkurrierenden Wirtschaftssubjekten, weil es eine „gesellschaftlich nicht beherrschbare Eigenlogik“ (ebd.) mit sich bringt. Dazu Marx: Als das übergreifende Subjekt eines solchen Prozesses, worin er Geldform und Warenform bald annimmt, bald abstreift, sich aber in diesem Wechsel erhält und ausreckt, bedarf der Wert vor allem einer selbständigen Form, wodurch seine Identität mit sich selbst konstatiert wird. Und diese Form besitzt er nur im Gelde. Dies bildet daher Ausgangspunkt und Schlusspunkt jedes Verwertungsprozesses. (MEW 23: 169)
Weniger dramatisch sieht es Simmel, der nicht vom Privateigentum über die Arbeitskraft spricht. Vielmehr sei diese gemietet, und damit gebe es keine Verfügungsgewalt über die Person an sich (vgl. GSG 6: 452). Wichtig ist dies darum, weil das reine Zwangsverhältnis, wie Deutschmann es annimmt, nicht erklären kann, warum man sich innerhalb seines Arbeitsverhältnisses überhaupt engagieren soll. Einschränkend gegenüber Simmel drängt sich dagegen der Einwand auf, dass vielleicht keine Verfügungsgewalt über die Person an sich besteht, dennoch die Persönlichkeit der ArbeiterInnen von ihrer gesellschaftlichen Positionierung geprägt ist.
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Geld in der Moderne
Simmel zeigt, dass sich der nivellierende Charakter des Geldes in einer Entpersonalisierung und Objektivierung auswirkt, also einer „bloß verstandesmäßigen, auf die unbegründbaren Betonungen des Wollens und Fühlens verzichtende Vorstellung und Ordnung der menschlichen Verhältnisse“ (ebd.: 604). Entsprechend verschwinden zwar Unterschiede zwischen den Menschen, jedoch nicht die soziale Ungleichheit. Ein weiteres Freiheitsmoment für Reiche macht Simmel darin aus, dass sich durch das Erzielen von Renten und Gewinnen Geld von „selbst vermehrt, ohne durch verhältnismäßige Arbeit des Besitzers befruchtet zu werden“ (ebd.: 610). Geld nicht machtkritisch zu begreifen, lag damit nicht nur Marx fern; auch Simmel ist es ein Anliegen, am Gegenstand an sich zu rekonstruieren und theoretisch zu begründen, welche gesellschaftlichen Dimensionen von Geld betroffen sind. Diese Perspektiven bleiben in der Systemtheorie nach Parsons und Luhmann unterbeleuchtet, wohingegen Paul, in Anlehnung an Simmel und Marx, eine systemtheoretische Theorie des Geldes anbietet, welche Ungleichheitskomponenten nicht ausblendet und Geld im Vergleich zu anderen Medien eine andere Bedeutung zuweist. Geld sei nicht nur Medium des Wirtschaftssystems – es stelle eine Zugangsvoraussetzung für alle Teilsysteme dar: [W]er klagen will, muss die Finessen des Rechts kennen beziehungsweise sich einen Anwalt leisten können; wer politisch etwas werden möchte, muss wissen, wie Macht funktioniert, und wenigstens zu Beginn seiner Karriere finanziell unabhängig sein; wer wirtschaftlich Erfolg haben möchte, muss zu allererst in Gelddingen zu Hause sein; und selbst wer »nur« verführen will, muss nicht nur die Sprache der Liebe beherrschen, sondern – romance without finance is illusion – braucht auch den einen oder anderen Groschen, um das »Paarsystem« zu stabilisieren. (Paul 2012: 227)
Der Ausschluss aus dem einen Teilsystem führt leicht zur Exklusion aus einem anderen, womit eine „Art Exklusionsdynamik“ (ebd.) entsteht. Ergänzend dazu argumentiert Paul, dass man Geld im Gegensatz zu anderen Medien wie Liebe, Macht oder Wahrheit besitzen kann und es beliebig einsetzbar ist. Geld beinhaltet zudem eine zwingende Steigerungslogik im Sinne eines Wachstumszwanges. Diese Aspekte führt Paul gegen systemtheoretische Analysen des Geldes ein, die von einer Heterarchie der Teilsysteme ausgehen; sehr wohl würde es eine Überordnung des ökonomischen Systems über andere Teilsysteme geben (vgl. ebd. 2017: 221ff.). Ganßmann erläutert dazu ergänzend, dass Geld wie andere symbolisch generalisierte Medien zwar Handlungskoordination ermögliche. Der Unterschied zu Liebe, Recht oder Macht liege nun aber darin, dass Geld
2.3 Geld als neutrales Tauschmedium
57
gegenständlich vorhanden57 und in seiner Verwendung einmalig sei (vgl. Ganßmann 1996: 132). In diesem Zuge äußert er seine Kritik an systemtheoretischen Auffassungen, die eine Herrschaftsperspektive vernachlässigen. Der Selbstzweck des Geldes wird in der Systemtheorie damit weder bei Parsons, noch bei Luhmann oder Baecker zureichend berücksichtigt. Kontrastierend dazu wird im Folgenden auf Kellermann eingegangen, der handlungstheoretisch argumentiert, um den Selbstzweck des Geldes zwar nicht zu negieren, aber zu moralisieren. Handlungstheoretischer Ansatz Paul Kellermann erfasst die Orientierung an Geld zwar analytisch, deklariert sie jedoch als fehlerhafte Orientierung. Geld sei ein handlungsorientierendes Symbol, das die „Interdependenz von Versprechen und Anspruch“ (Kellermann 2005: 115) darstelle. Geld sei ein Kommunikationsmedium. Folglich wäre es als Störung zu interpretieren, wenn nicht Leistung, sondern Geld an sich begehrt werde (vgl. ebd. 2007: 124). Es gebe, folgt man Kellermann, dreierlei Handlungsorientierungen: Geld zu verwenden, Geld zu sparen und Geld zu verherrlichen. Die dritte Orientierung bezeichnet er als „Moneyismus“ (ebd. 2008: 338). Um die Irrationalität der Geldverherrlichung herauszuarbeiten, beruft sich Kellermann auf die Bibel, Aristoteles und Adam Smith. Damit werden eine christliche, eine philosophische und eine liberal-ökonomische Perspektive auf Geld vereint, um eine soziologische Kritik zu formulieren. Die moneyistische Ideologie sei zurückzuführen auf die „Orientierung aller Beteiligten bei ihrem interaktiven Handeln“ (ebd. 2007: 122). Dies impliziere, dass eine Orientierung an Geld irrational sei, weil es nicht unmittelbar Bedürfnisse befriedigen könne. Grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung könnten trotz des brachliegenden Arbeitsvermögens von Millionen Arbeitslosen nicht hergestellt werden, weil eine irrtümliche Orientierung an Geld vorliege (vgl. ebd. 2008: 336). Damit fällt Kellermann hinter Simmel und Marx zurück: Laut Marx ist „Überproduktion“ bei gleichzeitiger „Hungersnot“ (MEW 4: 468) kein systemimmanenter Widerspruch, denn das Ziel der kapitalistischen Produktionsweise ist Kapitalakkumulation und nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Mit Simmel und Marx gesprochen ist die Orientierung an Geld weder irrational, noch ist es überhaupt eine bewusste Entscheidung von Akteuren, ob sie Geld zum letzten Zweck ihres Handelns machen oder nicht.
57 Auch wenn es „bloß noch ideal existiert, wie die Zahlen auf Computerbildschirmen, die heute den möglichen Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum signalisieren“ (Ganßmann 1996: 132).
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Geld in der Moderne
Vielmehr nimmt Geld auf nicht immer bewusste Weise eine Rolle ein, die über den Tauschmittelcharakter hinausgeht. Geld als „Objekt der Begierde“ (Deutschmann 2007: 163) hängt indes, wie bereits argumentiert wurde, nicht nur mit seinem Machtpotential zusammen. Gabriel spricht dem Begehren nach Geld allerdings die ästhetische Dimension insofern ab, als „Sinnlichkeit […] aus der Erotik der Potenz“ (Gabriel 2009: 269, Hervorh. im Orig.) erwachse. Geld erfülle kein ästhetisches Bedürfnis, sondern sei als Geldgier zu begreifen. Das Problem an dieser Perspektive ist, wie oben mit Brodbecks Argument festgehalten wurde, dass der Begriff Gier moralisch aufgeladen ist und Irrationalität nahelegt. Der Selbstzweck des Geldes und eine Orientierung an Geld muss nicht zwingend irrational oder unmoralisch sein. Geld ist ein Symbol und ein Mittel der Macht; darüber hinaus liegt sein Reiz darin, dass es die Phantasie beflügeln kann. Diese Perspektive möchte ich bestärken mit der Betonung einer imaginativen Komponente des Geldes. Geld erfüllt damit unmittelbar ein sehr wichtiges Bedürfnis: Wer von Geld ausgeschlossen ist, ist auch davon ausgeschlossen, eine Distanz zur Gesellschaft zu bewahren. Auf diese Weise hebe ich ein weiteres Exklusionsmoment hervor, das sich nur fassen lässt, wenn Geld auch als Selbstzweck gedacht wird. Damit sind nochmals wichtige Aspekte angesprochen, die Geld als Vergesellschaftungsinstanz beleuchten. Diese Erkenntnisse richten sich demzufolge auch gegen das konventionelle Narrativ über Geld. Im Folgenden diskutiere ich Theorien, die den Selbstzweck des Geldes in die Analyse einer Geldsoziologie einbeziehen, um meinen eigenen Ansatz schärfer zu konturieren.
2.4
Geld als Selbstzweck
Dieses Kapitel zeigt an ausgewählten Beispielen auf, wie der Selbstzweck des Geldes in soziologische Theoriebildungen aufgenommen wird.58 Unter dem Begriff Dynamische Moderne werden Ansätze vorgestellt, die Geld als gesellschaftliches Verhältnis begreifen und seine Bedeutungen über den Tauschmittelcharakter hinaus untersuchen. Diese Geldanalysen haben unterschiedliche Referenzpunkte und Schwerpunktsetzungen: Haesler und Paul beschäftigten sich mit der Moderne und ihrer Monetarisierung. Wie oben dargelegt, bestärkt Paul die Lesart, dass Geld in seinem Ursprung ein soziales Verhältnis darstelle, insofern es 58 Das Interesse richtet sich auf gesellschaftstheoretische Analysen des Geldes – wirtschafts- und finanzsoziologische Auseinandersetzungen des Geldes, wie etwa jene von Beckert (1997), Esposito (2011) oder Sahr (2017) sind zwar durchaus erhellend, aber für die Einordnung meines gesellschaftstheoretischen Ansatzes nicht essentiell.
2.4 Geld als Selbstzweck
59
ein Mittel zur Schuldentilgung sei. Geld erlaube eine Überwindung von Gewalt, allerdings mit weitreichenden Folgen (vgl. Paul 2017: 61). Haesler beschäftigt sich mit der Entmaterialisierung des Geldes. Er versteht die Moderne als ein „monetäres Phänomen“ (Haesler 2011: 9), das notwendig an die Geldbefreiung gebunden sei. Die Theorien von Ganßmann und Deutschmann stellen den Zusammenhang von Geld und kapitalistischer Dynamik in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Daran gekoppelt ist eine Macht- und Herrschaftskritik (vgl. Ganßmann 1996; Deutschmann 2008). Für Deutschmann kommt schließlich Religion als weiterer Referenzrahmen einer Geldtheorie hinzu. Diese gesellschaftstheoretischen Analysen des Geldes sind zudem Krisentheorien der Moderne: Auf dem Spiel stehe die Gesellschaft als Ganzes. Damit verknüpft ist die Auffassung, dass Geld in alle Lebensbereiche eindringe und diese dominiere. Hervorgehoben werden auf diese Weise krisenauslösende und -reproduzierende Wirkungen des Geldes. Im Rekurs auf diese Forschungsansätze dient Simmel mir weiterhin als theoretische Folie. Zwar verdinglicht, rationalisiert und nivelliert Geld; darüber hinaus enthält es aber auch eine sinnlich-ästhetische, imaginative Komponente. Mit Simmel werden die ambivalenten Wirkungen des Geldes im Anschluss an diese Geldtheorien fokussiert. Dabei werde ich ein soziologisches Deutungsmuster rekonstruieren, welches die schädlichen Wirkungen des Geldes hervorhebt, eine Gegenüberstellung von Geld und Liebe pointiert sowie eine Form der Einschränkung des Geldes verlangt. Daran anknüpfend erlauben mikrosoziologische Studien einen anders nuancierten Blick auf Geld und seine Wirkungen. Das Interesse dieser Arbeiten richtet sich auf den unterschiedlichen Gebrauch des Geldes und die damit verbundenen Bedeutungszuschreibungen. Vorgestellt werden in diesem Rahmen Studien, die sich mit einer »Neubewertung« des Geldes befassen. Zelizer zum Beispiel untersucht den praktisch-rituellen Umgang mit Geld, um gegen eine allgemeine Rationalisierungsthese des Geldes zu argumentieren. Das moderne Geld sei sozial eingebettet und werde mit zweckgebundenen Bedeutungen aufgeladen. Geld könne nicht als nivellierend beschrieben werden, wenn auf Mikroebene eine Vielfalt der Gelder hergestellt werde (vgl. Zelizer 1996: 483). Den Hintergrund einer »Neubewertung« des Geldes bildet unter anderem die Vorstellung, es bedürfe einer „Zähmung des Geldes im Privaten“ (Schneider et al. 2005: 205) und die Kritik daran, dass Geld außerhalb der Sphäre des wirtschaftlichen Austausches an Bedeutung gewinne. Damit wird aber, wie ich zeigen werde, Simmels Theorie einseitig interpretiert und die Bedeutungszuschreibung auf der Mikroebene überbewertet.
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2.4.1
2
Geld in der Moderne
Dynamische Moderne
Referenzrahmen I: Moderne Aldo Haesler befasst sich mit der Konzipierung der modernen Gesellschaft als Geldgesellschaft. Von besonderem Interesse für ihn ist die Entmaterialisierung des Geldes. Die Moderne sei ein „langfristige[r] Prozess der Geldbefreiung“ nicht nur entsprechend einer „Befreiung durchs Geld“, sondern auch als „Befreiung des Geldes“ (Haesler 2011: 9). Diese sei maßgeblich für die Entstehung der modernen Gesellschaft (vgl. ebd.: 10). Damit richtet er sich zum Beispiel gegen die Theorie von Weber, die in der protestantischen Ethik ein zentrales Moment für die Etablierung des kapitalistischen Geistes und des universalhistorischen Rationalisierungsprozesses sieht (vgl. Weber 2013). Haesler erläutert, dass Geld im Gegensatz zu anderen Interaktionsmedien einen interpenetrierenden Charakter habe. Im Vergleich zu diesen kann es zum Beispiel Macht leichter ersetzen als umgekehrt. Das Spezifische des Geldes sieht Haesler in der Emanzipation des Geldes „aus seiner medialen Eigenschaft“. Es werde „ökonomisch zum Produktionsfaktor, soziologisch zur Vergesellschaftungsinstanz, philosophisch gar zur Entelechie“ (Haesler 2002: 183). Geld würde sich emanzipieren, weil es im Verlauf seiner Entmaterialisierung zum absoluten Mittel werde.59 Es tendiere dazu, über die wirtschaftlichen Tauschtransaktionen hinauszugehen und in sämtliche Interaktionsbereiche der Lebenswelt einzudringen. Geld aber befreie sich nicht nur von seiner Materialität. In Zuge dieser Entmaterialisierung veränderten
59 Haesler kann indessen nicht überzeugend aufzeigen, warum die Entmaterialisierung vor allem seit den 1970er Jahren zum Problem werden sollte und nicht schon vorher. Entmaterialisiertes Geld ist weder ein neuzeitliches Phänomen noch war die Materialität des Geldes immer vorhanden. Das Prinzip des Geldes bleibt aber bestehen – Geld kann auch nicht einfach »verschwinden«. Dazu ein wichtiger Einwand: „Diese Entmaterialisierung des Geldes hat gar dazu Anlass gegeben, in Analogie zu dem panfiktionalistischen Gerede vom »Verschwinden der Wirklichkeit« vom »Verschwinden des Geldes« zu sprechen. Das ist mehr als eine Übertreibung. Eine leere Geldbörse mag mir fehlendes Geld sinnlich evidenter machen als eine Karte mit Überziehungskredit, die böse Überraschung der Überziehungszinsen ist dafür aber umso realer. Die Realität des Geldes ist gerade dort besonders manifest, wo dessen materiale Realisierung am wenigsten »greifbar« ist, wie dies die derzeitige Bankenkrise nachdrücklich belegt. Die Wirklichkeit scheint denjenigen, die diese Krise verursacht haben, in der Tat abhanden gekommen zu sein, aber deshalb ist doch nicht die Wirklichkeit selbst verschwunden. Das Gerede vom Verschwinden der Wirklichkeit führt oder verführt eben dazu, die Börse als Börsenspiel ohne Referenz anzusehen“ (Gabriel 2009: 266).
2.4 Geld als Selbstzweck
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sich auch gesellschaftliche Normen und Zwänge.60 Eine „Geldlogik“ (ebd. 2011: 201) setze sich seit dem 17. Jahrhundert zunehmend durch. Geld würde „nun endlich zum Mittel der Lösung einer maßgeblich durch es selbst geschaffenen Krise“ (ebd.: 10). Die Moderne taumle sogar auf den Abgrund zu. Damit aber die Menschen weiterhin Geld nicht in der Krise sehen und es weiterhin funktioniere, argumentiert Haesler weiter, müssen seine Gefahren und Paradoxien verschleiert werden. Paul stimmt an dieser Stelle Haesler zum Teil zu. Der krisenhafte Prozess des Geldes werde von seiner Entmaterialisierung angetrieben (vgl. Paul 2012: 225). Die Geldgesellschaft beinhalte Gefahren, die verschleiert und legitimiert werden müssen. Wie oben bereits besprochen, begreift Paul weder Geld als neutral noch Tausch als selbstverständlich. Zwar erleichtere Geld den Tausch, es habe jedoch auch einen Eigenwert. Die Geldwirtschaft sei „inhärent stabil“ (ebd.: 189) und die Ursache dafür macht er in Geld aus. Zwar betont Paul Verdienste des Geldes, gleichzeitig problematisiert er das Spannungsverhältnis zwischen Tauschmittel und Wertspeicher, wodurch Geld einen „Störfaktor“ (ebd.: 190) für das gesamte System darstelle. Die „Wertspeicher- und Tauschmittelfunktion“ würden sich gegenseitig „potentiell behindern“ (ebd.: 234). Zudem bringe Geld eine „Akkumulationsdynamik“ mit sich, was die „Grundlage stets wiederkehrender Entwertungskrisen“ (ebd.: 190) darstelle. Ergänzend dazu macht Paul auf eine Grundproblematik der Moderne aufmerksam: Je mehr eine Gesellschaft wächst und sich differenziert, je unüberschaubarer sie wird, desto größer wird ihr Bedarf an fertigen […] Formen, um die Millionen und Abermillionen von Kontakten sei es zu koordinieren, sei es voreinander abzuschirmen. […] [W]üsste man um die Probleme technischer und sachlicher Natur, Entscheidungen und Handlungen zu koordinieren oder nur nicht verlaufen zu lassen, würden die vielen, oft vergeblichen Anstrengungen, Anschluss zu finden, unter Umständen gar nicht erst unternommen. Das System schliefe ein – freilich mit für die Betroffenen wenig harmlosen Folgen. Denn soziale Entdifferenzierung ist ein angstbesetzter und gewaltförmiger Prozess. (ebd.: 217)
Weder geht es Paul darum, vormoderne Gesellschaftsformen zu idealisieren, noch betont er einseitig die positiven Folgen des Geldes. Vielmehr hebt er eine Ambivalenz des Geldes hervor, um letztlich eine politische Einschränkung des Geldes zu fordern, im Sinne einer „Demokratisierung der Zentralbanken“ (Paul 2017: 191). Damit stellt sich Paul die Frage nach der Legitimität des Geldes (vgl. ebd. 60 Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Legitimität des Geldes gar nicht erst. Ich gehe demgegenüber davon aus, dass Geld und sein Funktionieren weiterhin von gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen beeinflusst werden.
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Geld in der Moderne
2002), die weiterzudenken wäre, weil sich Pauls Vorschlag auf eine Rückbindung des Geldes an wirtschaftspolitische Instanzen beschränkt. Referenzrahmen II: Kapitalismus Heiner Ganßmann fokussiert in seinen Arbeiten die Verbindung zwischen Arbeit, Geld und Kapital. Ausgehend von der systemtheoretischen Setzung des Geldes als Kommunikationsmedium entfaltet er eine Konzeption des Geldes als Herrschaftsmittel. Geld übernehme die „Rolle eines eigentümlich anonymen und weitreichenden Disziplinierungsmittel […], die auf letztlich sehr einfache Weise an seinen dinglichen Charakter gebunden ist“ (Ganßmann 2002: 21).61 Geld löse zwar ein Koordinationsproblem, allerdings stelle sich die Frage, warum überhaupt eine an sich »wertvolle« Ware gegen ein an sich »wertloses« Geld getauscht werde. Um „Mengers Rätsel“ (ebd.: 22) zu lösen, wendet er sich dem Symbolcharakter des Geldes zu. Unter Geld als Symbol versteht er folgendes: Hier wird ein bestimmtes »Spiel« gespielt. Mitspielen darf, wer über Geld verfügt. Mit dem Geld darf man bestimmte »Züge« in diesem Spiel machen. Dabei verdankt das Geld seine Bedeutung nicht den Eigenschaften des Objekts, das Träger der Geldfunktionen ist, sondern rein dem System von Regeln, die seinen Gebrauch ermöglichen und vorschreiben. (ebd. 1996: 232)
Für jeden Akteur besteht eine Abhängigkeit vom Geldspiel.62 Allerdings verschärft sich diese Abhängigkeit für Lohnabhängige auf besondere Weise: Um ihre eigene Existenz zu reproduzieren, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen.63 Es gebe einen „Arbeit-Geld-Konsum-Zyklus“ 61 Vgl. Zelizer zu einem etwas anders nuancierten Disziplinierungsaspekt: „The forms of monetary transfers mark the equality or inequality of the parties just as they mark their degree of intimacy and the durability of their relationship. But the histories of these currencies also demonstrate that people, however powerless, find ways to contest dominant systems of earmarking, redirecting the uses of their limited funds in ways that define, maintain, and sometimes transform their social lives“ (Zelizer 1994: 210). 62 Es handelt sich aber um ein Spiel, bei „dem nicht jeder jede Rolle spielt. Vielmehr informiert es [das Geld, N.F.] uns, wer welche Rolle spielt und wie er sie ausfüllt“ (Wahl 2011: 11). 63 Damit behandelt Ganßmann eine Thematik, die auch Simmel im Zuge der Entfremdung angesprochen hat. Simmel geht von einer Trennung der Arbeit vom Arbeiter/der Arbeiterin aus: „Dass sie nun Charakter, Bewertungsweise, Entwicklungsschicksale mit allen Waren überhaupt teilt, das bedeutet eben, dass sie dem Arbeiter selbst gegenüber etwas Objektives geworden ist, etwas, das er nicht nur nicht mehr ist, sondern eigentlich auch nicht mehr hat. Denn sobald seine potenzielle Arbeitsmenge sich in wirkliches Arbeiten umsetzt, gehört nicht mehr sie, sondern ihr Geldäquivalent ihm, während sie selbst einem Anderen,
2.4 Geld als Selbstzweck
63
(Thiel 2010: 65), der notwendig mit dem Geldspiel verbunden sei. Im Weiteren beschreibt Ganßmann eine durch Geld krisenanfällige Gesellschaft: Einerseits absorbiert Geld Unsicherheit, die angesichts der Kontingenz der Handlungen anderer, von denen der eigene Handlungserfolg abhängig ist, immer besteht. Aber andererseits bleibt jeder Geldgebrauch spekulativ: Man muss auf die Zukunft wetten, wenn man Geld benutzt, auf Stabilität, darauf, dass soziale Tatsachen so unerschütterlich sind wie Naturtatsachen. Erfahrungsgemäß geht das für eine Weile gut, aber dann verstärkt sich die spekulative Seite des Geldgebrauchs durch positive Rückkopplung. Erfolgreiche Spekulation verleitet zu mehr Spekulation, die zur Krise führt, so dass Perioden der Stabilität immer wieder von Perioden der Instabilität unterbrochen werden. (Ganßmann 2011: 23)
Die Diagnose von Ganßmann ist anschlussfähig an die Arbeiten von Christoph Deutschmann. Ganßmann wendet sich insofern gegen systemtheoretische Auffassungen des Geldes, die seine Harmlosigkeit betonen, als Geld mit kapitalistischer Herrschaft zusammen gedacht werden müsse (vgl. ebd. 1996: 129). Deutschmann entwickelt in seiner Fokussierung auf Geld eine Theorie kapitalistischer Dynamik. Die Begriffswahl impliziert bei Deutschmann, dass es sich beim Kapitalismus nicht nur um ein wirtschaftliches System handle. In Abgrenzung zu Weber verdeutlicht sich Deutschmanns erweiterte Perspektive: Hier dagegen soll eine Interpretation kapitalistischer Entwicklung versucht werden, die neben der Rationalisierung die nichtrationalen, kreativen, sogar »romantischen« Momente kapitalistischer Dynamik ebenso einbezieht wie ihre zerstörerischen Seiten. (Deutschmann 2008: 9)
Er verbindet die Erkenntnisse von Simmel und Marx dahingehend, dass die Vermögenseigenschaft des Geldes, das ihm innewohnende Potential, vor dem Hintergrund der „großen Transformation“ (Polanyi 1978) zu denken sei.64 Folgt man Marx, dann handelt es sich um ein Spezifikum des Kapitalismus, dass Geld, oder genauer: einer objektiven Arbeitsorganisation zugehört. Das Ware-Werden der Arbeit ist also auch nur eine Seite des weitausgreifenden Differenzierungsprozesses, der aus der Persönlichkeit ihre einzelnen Inhalte herauslöst, um sie ihr als Objekte, mit selbständiger Bestimmtheit und Bewegung, gegenüberzustellen. […] Dass das Arbeitsprodukt der kapitalistischen Epoche ein Objekt mit entschiedenem Fürsichsein, eigenen Bewegungsgesetzen, dem herstellenden Subjekt ja selbst fremdem Charakter ist, wird da zur eindringlichsten Vorstellung werden, wo der Arbeiter genötigt ist, sein eigenes Arbeitsprodukt, wenn er es haben will, zu kaufen“ (GSG 6: 632, Hervorh. im Orig.). 64 Im Weiteren geht Deutschmann bezogen auf die Vermögenseigenschaft des Geldes davon aus, dass dieses der Besitzerin oder dem Besitzer zu einem „»Können«, zu einer universalen Fähigkeit“ (Deutschmann 2009: 241) verhelfe. Diesem Fehlschluss unterliegt bereits
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Geld in der Moderne
Ware, Produktions- und Lebensmittel zu Kapital werden. Durch die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ (MEW 23: 741; vgl. auch ebd.: 181ff.) entstehen auf der einen Seite die doppelt freien ArbeiterInnen, die ihre (formell) freie Arbeitskraft auf einem freien Arbeitsmarkt verkaufen. Doppelt frei sind sie, bei Marx durchaus ironisch gemeint, da sie zum einen zwar nicht mehr zu den Produktionsmitteln, ihnen andererseits aber auch die Produktionsmittel nicht mehr gehören: Sie sind nicht, wie einst, an die „Scholle gefesselt und einer anderen Person leibeigen“ (ebd.: 743). Auf der anderen Seite bedarf es „Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, die von ihnen geeignete Wertsumme zu verwerten durch Ankauf fremder Arbeitskraft“ (ebd.: 742). In diesem Verhältnis entsteht ein direkter Zugriff des Geldes auf die menschliche Arbeitskraft.65 Geld wird Kapital, denn nur dadurch kann Mehrwert entstehen. Menschliche Arbeitskraft als Quelle des Reichtums ist derweil alleinige Quelle von Kreativität und Innovation. Damit entfaltet sich die Mobilisierungs- und Vergesellschaftungskraft von Arbeit und Geld ungemein. Geld ist dann die „wahrhaft schöpferische Kraft“, denn es verwandelt meine Wünsche aus Wesen der Vorstellung, es übersetzt sie aus ihrem gedachten, vorgestellten, gewollten Dasein in ihr sinnliches, wirkliches Dasein, aus der Vorstellung in das Leben, aus dem vorgestellten Sein in das wirkliche Sein. (MEW 40: 565, Hervorh. im Orig.)
Es ist demzufolge Mittel und Vermögen.66 Wenn die menschliche Arbeitskraft und ihre kreativen Potentiale unter die Kontrolle des Geldes geraten, bedeutet dies eine enorme Aufwertung des Geldes (vgl. Deutschmann 2009: 253; Haubl Marx, wenn er neben der schöpferischen Kraft des Geldes, die er sehr überzeugend schildert, seine verkehrende beschreibt. So heißt es bei Marx: „Es [Geld, N.F.] verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Hass, den Hass in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn“ (MEW 40: 566). Weiter folgert Marx, dass was „das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst“ (ebd., Hervorh. im Orig.). 65 Marx präzisiert: „Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert“ (MEW 23: 181). 66 Oder in den Worten Müllers: „Das Geld ist weit mehr als ein Mittel, das man nach seinen empirisch vorfindlichen Diensten definieren kann; in ihm erscheint etwas direkt nicht Sichtbares, die Tendenz zur Verwandlung der direkt gesellschaftlichen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder in eine sachliche Macht, die nicht mehr primär auf die lebenserhaltende Produktion von Gebrauchsgütern, sondern auf die Erzeugung des abstrakten Wertreichtums gerichtet ist“ (Müller 1977: 28).
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2011: 20). Einschränkend fügt Deutschmann hinzu, dass es sich um eine Verheißung oder ein Versprechen handle. Die Allmacht des Geldes, das unendliche Potential, wird beschränkt durch seine unvermeidliche Knappheit. Die Erlösung wird im Diesseits versprochen in der paradoxen Form einer nie einzulösenden Schuld. Das, was es verspricht, nämlich die Kontrolle über die Totalität menschlicher Möglichkeiten, kann Geld unmittelbar nie einlösen. Als existierendes Geld hat es den Makel, immer nur in einer bestimmten Summe vorzuliegen, und deshalb kann es sich auch nur in einer endlichen Menge von Gütern materialisieren. […] Um die Verwertung des Kapitals zu sichern, müssen immer neue Schulden aufgenommen werden. Erst die Bewegung, das Wachstum, die Verwertung des Geldes als Kapital eröffnet den Zugriff auf den absoluten Reichtum – nicht als Ziel, sondern als unendlicher Prozess. (Deutschmann 2009: 255, Hervorh. im Orig.)67
Eine Einlösung des Versprechens bedeutet jedoch auch das jähe Ende desselben, weil dann das Potential konkret wird und es so seine unbegrenzte Möglichkeit verliert. In den mit Geld erwerbbaren Gütern und Dienstleistungen liegt ein Enttäuschungspotential, welches, so argumentiert Deutschmann, eine Grundlage kapitalistischer Dynamik sei: „Sehnsucht – Kauf – Desillusionierung – neue Sehnsucht: Das ist der Zyklus, nach dem sich der moderne, geldgesteuerte Konsum entwickelt“ (ebd.: 243f.).68 Ein vorläufiges Ende findet das Begehren im Geld, insofern es als „Seele und Bestimmung der wirtschaftlichen Bewegungen“ (GSG 6: 714) wirkt. Das mit Geld verbundene unendliche Potential, diese immense Verlockung, darf nach Deutschmann aber nicht zur realen Erfahrung werden, weil dies ArbeiterInnen wie UnternehmerInnen aufgrund einer Überforderung sondergleichen lähmen würde. Aus diesem Grund bedürfe es Bilder und Mythen, die zum unbeschwerten Konsum anregen (vgl. Deutschmann 2007: 170f.). Ähnliches argumentiert Haesler: die Gefahr des Geldes werde durch Geschichten gebannt. 67 Siehe hierzu Marx: „Der Trieb der Schatzbildung ist von Natur maßlos. Qualitativ oder seiner Form nach ist das Geld schrankenlos, d.h. allgemeiner Repräsentant des stofflichen Reichtums, weil in jede Ware unmittelbar umsetzbar. Aber zugleich ist jede wirkliche Geldsumme quantitativ beschränkt, daher auch nur Kaufmittel von beschränkter Wirkung. Dieser Widerspruch zwischen der quantitativen Schranke und der qualitativen Schrankenlosigkeit des Geldes treibt den Schatzbildner stets zurück zur Sisyphusarbeit der Akkumulation. Es geht ihm wie dem Welteroberer, der mit jedem neuen Land nur eine neue Grenze erobert“ (MEW 23: 146f.). 68 Campbell entwickelt eine Theorie zur romantischen Ethik des Konsums und beobachtet ebenfalls einen nie enden wollenden Kreislauf des Begehrens und Konsumierens. Er weist dies als kulturell bedingt und in eine Ethik eingebettet und nicht als natürlich oder psychologisch aus (vgl. Campbell 1983: 282).
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Der „dümmste Schleier des Geldes ist das Alltagsverständnis“ (Haesler 2011: 24). Er führt dazu aus: Gefährliche Begriffe wie das Geld haben es in sich: Um ihre Gefahr zu bannen, erzählt man sich Geldgeschichten. Dabei geht es eigentlich um ganz anders als ums Geld. Es geht um die Verdeckung seines Geheimnisses, um die Illusion seiner Wirklichkeit. (ebd.: 39)
Die Gefahr bestehe darin, dass der Traum einer nie enden wollenden Prosperität die Moderne in den Abgrund reiße. Geld sei das letzte Band, das die Menschen zusammenhalte, weil es unsere Erwartungen nicht enttäuschen würde. An dieser Stelle wird Haesler sehr pessimistisch, wenn er ausführt, dass Geld die Welt doch nicht im Innersten zusammenhalten würde, „aus dem einfachen Grunde, da es kein Inneres (mehr) gibt“ (ebd.: 202). Referenzrahmen III: Religion Die Erschließung der gesellschaftstheoretischen Bedeutung des Geldes, über die kapitalistische Dynamik hinaus, führt vereinzelt zu religionssoziologischen Erklärungsansätzen. Für Deutschmann ist Geld ein „Medium mit religiösen Qualitäten“ (Deutschmann 1998: 7). Der sakrale Ursprung des Geldes ziehe sich bis in die Gegenwart, wenn zwar nicht länger an „Götter als Lieferanten des Reichtums“ geglaubt werde, dafür aber an die „Wunderkräfte der den ganzen Erdball durchpflügenden, durch das Kapital kommandierten gesellschaftlichen Arbeit“ (ebd.). Beim Kapitalismus würde es sich um eine „heimliche Religion“ (ebd. 2009: 260) handeln.69 Deutschmann nennt sie „heimlich“, weil sie nicht als Religion erkennbar sei. Sie verstecke sich hinter ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Anders wäre nicht auszuhalten, auf welchen Grundlagen das im Grunde hehre und harmlose Ziel des Wohlstandswachstums beruhe. Laut Deutschmann übernimmt Geld die Funktion der Religion, welche diese in der Vormoderne innehatte. Es ist nun das „Medium sinnhafter Bewältigung des Unbestimmbaren“ (ebd. 1999: 7).70 Dazu sei zu beachten, dass Geld nur im „metaphysisch-religiösen, nicht im allokationsund verteilungsbezogenen Sinn, wo es viel mehr Unruhe schafft“, beruhige 69 Siehe auch Walter Benjamin: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. […] Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. […] Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen“ (Benjamin 1991: 100f.). 70 Hier rekurriert Deutschmann auf Luhmanns Religionsverständnis (vgl. Luhmann 1992).
2.4 Geld als Selbstzweck
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(ebd.: 110). Dieser Fokus auf Geld in der kapitalistischen Dynamik berührt den Aspekt, dass Geld zugleich beruhigt und beunruhigt. Damit ist dem Geld eine dynamische Ambivalenz eingeschrieben. Diffus bleibt der Standpunkt Deutschmanns, wie eine Religion heimlich bleiben und gleichwohl als Religion fungieren kann. Ebenso fragwürdig ist seine Bewertung von Simmels Geldtheorie. Deutschmann behauptet, dass die Wahlverwandtschaft von Geld und Religion „das große Thema“ (ebd.: 7) in der Philosophie des Geldes darstelle. Dagegen spricht, wie ich oben rekonstruiert habe, Simmels Abgrenzung des Glaubens an Geld vom religiösen Glauben. Eine Analogiesetzung kann den Glauben an Geld nicht umfassend greifen. Sie verkürzt dementsprechend unzulässigerweise die Geldanalyse. Anders nuanciert Hörisch gleiches Argument. Er beschreibt ein Konkurrenzverhältnis zwischen Geld und Religion. Geld übernehme die frühere Stellung der Religion als „ontosemiologisches Leitmedium“, weil es „nicht nur Äquivalenzen zwischen nichtgleichen Dingen, sondern auch funktionale Korrespondenzen zwischen Abstraktem und Sachen, Denk- und Realabstraktion […] bzw. Sinn und Sein“ (Hörisch 2013: 314) herstelle. Es sei dafür zwar ein Glaube an Geld notwendig (vgl. ebd. 2009: 119), dieser ist aber nicht mit einem Gottesglauben gleichzusetzen. Eines ähnliches Argument vertritt Paul, der Deutschmanns Perspektive durchaus etwas abgewinnen kann, jedoch auf die Grenzen einer religionssoziologischen Analyse hinweist. Das Anbeten des Geldes legitimiere nicht die Interpretation, dass der Kapitalismus „ein im Kern religiöses Unterfangen wäre, sondern nur, dass es möglich geworden ist, Geld als Gott zu verehren“ (Paul 2012: 208f., Hervorh. im Orig.). Der Glaube an Geld sichere die Existenz des Geldes. Der Gottesglaube genüge hingegen noch lang nicht, um die Existenz Gottes zu sichern (vgl. Gabriel 2009: 267). Die von Simmel aufgeworfene These, dass es eines Glaubens an Geld bedarf, wird von Paul befürwortet, aber umgedeutet. Er versteht die Geldwirtschaft als „vertrauensbasiert und nicht als durch religiösen Glauben zusammengeschweißt“ (Paul 2012: 216). In diesem Sinne von Vertrauen zu sprechen berücksichtigt jedoch den einheitsstiftenden sowie den sinnlichästhetischen Charakter des Geldes zu wenig. Gleichzeitig hebt Paul die Rolle des Vertrauens in andere Akteure beziehungsweise in die geldgesellschaftliche Ordnung zu stark hervor: So können Akteure selbst dann erwarten, dass Geldzahlungen von anderen akzeptiert werden, wenn sie kein Vertrauen in die Stabilität einer Geldordnung haben. Vielfältige Ausprägungen von Vertrauen und Misstrauen sind denkbar, wenn Geld zu allen denkbaren Anlässen und für alle möglichen Zwecke verwendet wird. (Kraemer 2019: 66)
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2
Geld in der Moderne
Kraemer entwickelt eine Kritik an der Vertrauensthese des Geldes und schlägt vor, die „alltagspraktische Gewissheit über die multiple und ubiquitäre Verwendbarkeit von Geld“ (ebd.) zu theoretisieren. Diese kurzen Erläuterungen zeigen exemplarisch auf, dass in der soziologischen Forschung eine Analogie zwischen Geld und Religion angedacht wird, dabei aber einige Fehlschlüsse vorliegen. Vielversprechender wäre es, die aufgeworfene Kritik für eine präzisierende Charakterisierung des Glaubens an Geld zu nutzen.
2.4.2
Ambivalente Wirkungen des Geldes
Die obigen Gesellschaftsentwürfe unterstreichen geldinduzierte Krisen. Der Vermögensaspekt des Geldes wird betont oder gar als gefährlich hervorgehoben. An diesem Punkt stellt sich aber die Frage, ob es nicht ein Verwischen der Grenzen zwischen Geld und Kapitalismus gibt. Wenn danach gefragt wird, welche Krisen und Bedrohungen sich in der Moderne ergeben, muss geklärt werden, welchen Anteil Geld daran hat: Ist es Ursprung der Krisen oder trägt es bloß einen, wenn auch wichtigen, Teil dazu bei? Für eine Soziologie des Geldes ist es fruchtbar, kapitalistische Dynamik vom Standpunkt des Geldes her zu beleuchten. Die Gefahr liegt allerdings in einer Gleichsetzung. Die negativen Entwicklungen und Wirkungen des Geldes, gerade auch im Zuge seiner Entmaterialisierung, werden in der Soziologie zum Anlass für Kritik genommen, wobei rationalisierende Wirkungen und damit die »dunkle Seite des Geldes« fokussiert wird – damit kommt es zur einseitigen Aufhebung der Ambivalenz des Geldes. Im Folgenden gehe ich nochmal explizit auf Simmel ein, um zu zeigen, an welchen Stellen er diesbezüglich die Ambivalenz des Geldes akzentuiert. Vielfältige Dynamik Simmel verfolgt keinen marxistischen Ansatz im Sinne eines Zugriffs auf die menschliche Arbeitskraft durch Geld, wie von Deutschmann postuliert. Vielmehr stellt er das Begehren nach Geld als konstitutive Grundbewegung einer kapitalistischen beziehungsweise, darüber hinausgehend, gesellschaftlichen Dynamik dar. Hierin liegt ein Vorteil von Simmels Perspektive gegenüber jener von Marx. Laut Marx wird Geld als Selbstzweck zur absoluten gesellschaftlichen Form des Reichtums: Alles wird verkäuflich oder kaufbar. Die Zirkulation wird die große gesellschaftliche Retorte, worin alles hineinfliegt, um als Geldkristall wieder herauszukommen. […] Wie im Geld aller qualitative Unterschied der Waren ausgelöscht ist, löscht
2.4 Geld als Selbstzweck
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es seinerseits als radikaler Leveller alle Unterschiede aus. Das Geld ist aber selbst Ware, ein äußerlich Ding, das Privateigentum eines jeden werden kann. (MEW 23: 156)
Für Simmel bedarf das Potential, welches Geld innehat, zwar nicht erst der Aktualisierung, doch müsse Geld in Bewegung sein, um Geld zu sein (vgl. Deutschmann 1999: 88). Damit betont er in Kontrast zu Marx die Vermögenseigenschaft des Geldes, wenn eine „Art Zwischenzustand zwischen interesseloser Anschauung und Haben [entsteht], der die Sinne beflügelt“ (ebd. 2009: 243). Der Unterschied des Geldes zu Waren besteht darin, dass Geld nichts anderes als die in einem „Sondergebilde verkörperte Relativität der wirtschaftlichen Gegenstände, die ihren Wert bedeutet“, sei (GSG 6: 716). Beim Begehren eines Objekts bestünde eine Diskrepanz zwischen dem „Gewonnene[n]“ und dem „Ersehnte[n]“ (ebd.: 316), die nicht zu umgehen ist. Allerdings kann dies durch das »vollkommene« Geld überwunden werden.71 Aufgrund seiner Inhalts- und Qualitätslosigkeit kann Geld weder überraschen noch enttäuschen. Geld hält aufgrund seiner Ambivalenz die Welt im Fluss. Als „unbewegter Beweger“ (ebd.: 204) findet es aber seine Bedeutung erst darin, dass es weggegeben wird – ergo sich im Umlauf befindet. Solange Geld ruht, liegt seine Wirkung in einer „Antizipation seiner Weiterbewegung“ (ebd. 714). Es „lebt in kontinuierlicher Selbstentäußerung aus jedem gegebenen Punkt heraus und bildet so den Gegenpol und die direkte Verneinung jedes Fürsichseins“ (ebd.). Deutschmann weist das Begehren nach Geld als rational aus, während sich bei Simmel ein Argument des Nicht-Rationalen des Geldbegehrens entfaltet. Im vorherigen Kapitel habe ich meine Lesart vorgestellt, diese Doppelbewegung als sinnlich-ästhetische Komponente zu begreifen. Der Reiz des Geldes liegt im Möglichkeitsraum, den es erschließt. Als Selbstzweck wird es zur höchsten Präferenz an sich. Es sind daher nicht nur rationale Bezugspunkte, die ein Begehren nach Geld erklären. Geld wird nicht aufgrund eines gesellschaftlichen Kontrollverlusts zum Selbstzweck oder, weil die Akteure im Kapitalismus von Geld abhängig sind, sondern, weil es ein Mittel der Rationalisierung und ein Mittel der Romantisierung darstellt. Als allgemeines Äquivalent, absolutes Mittel und schließlich Selbstzweck ist Geld ein einzigartiges Sondergebilde mit einem zusätzlichen ästhetischen Reiz:
71 Geld wird umso wertvoller, „je wertloser es ist – weil gerade seine substanzielle Wertlosigkeit es zu gewissen funktionellen Diensten geschickt macht, die seinen Wert nun fast unbegrenzt heben können“ (GSG 6: 231). Vgl. zum zunehmenden Funktionswert des Geldes am Beispiel elektronischen Geldes Papilloud und Haesler (2014).
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Geld in der Moderne
Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich zu dem Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips, uns dieses Einzelne und Niedrigere in jedem Augenblick zu gewähren, sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können. (ebd.: 305)
Durch ein imaginatives Moment kann Geld romantisierende Wirkungen entfalten. Es erlaubt ein Spielen mit den Möglichkeiten der Gesellschaft, wodurch eine Distanzierung zu dieser geschaffen wird. Demgegenüber steht der rechnerische Effekt auf den Lebensstil, geht es um eine „Reduktion qualitativer Bestimmungen auf quantitative“ (ebd.: 366). Geld ist „Beispiel, Ausdruck und Symbol der modernen Betonung des Quantitätsmomentes“ (ebd.: 369). Für Simmel ist Geld Vergesellschaftung und ein Verhältnis zur Welt, womit seine Theorie eine Komplexität erreicht, welche jene Ansätze, die Geld als simples Tauschmittel begreifen, nicht erreichen können. Entsprechend dieses Weltverhältnisses einerseits sowie andererseits angesichts des relationalen, gesellschaftlichen Verhältnisses kann daher nicht einfach von einer »gesunden«, »natürlichen« oder »ursprünglichen« Eigenschaft des Geldes gesprochen werden. Die Sonderstellung des Geldes zeigt indes auch eine Verletzlichkeit einer solcherlei geformten Gesellschaft auf. Geld ist dynamisch, und die Ambivalenz des Geldes liegt in der Dialektik zwischen Mittel und Zweck: Eine Gesellschaft, die nach Geld strebt, um sich ihre Wünsche erfüllen zu können, wird einerseits zur Langsicht neigen, planen und mögliche Fährnisse kalkulieren, und andererseits von der Stimmung geprägt sein, dass das Eigentliche erst noch kommt: Leben als endloses Vorspiel. (Paul 2012: 130)
Simmel sieht dies ähnlich. Die Moderne würde sich durch eine grundlegende Unruhe auszeichnen, und damit einher „geht ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen – als sollte die Hauptsache erst kommen, das Definitive, der eigentliche Sinn und Zentralpunkt des Lebens und der Dinge“ (GSG 6: 670). Dieses Moment treibe den Menschen immer mehr an und führe zu einer Entfremdung von sich selbst, denn dieser sei „aus sich selbst entfernt, zwischen ihn und sein Eigentlichstes, Wesentlichstes, hat sich eine Unübersteiglichkeit von Mittelbarkeiten, technischen Errungenschaften, Geniessbarkeiten geschoben“
2.4 Geld als Selbstzweck
71
(ebd.: 674).72 Worum es sich aber beim Wesen des Menschen handelt wird von Simmel nicht weiter erklärt und beleuchtet. Es scheint typisch für Entfremdungsargumente, dass häufig eine Verlegenheit betreffend der Frage, wovon man sich eigentlich entfremdet hat, zurückbleibt. Es gebe aber, folgt man Simmel, einen Beweis für eine Suche nach dem, von dem man sich entfernt hat, diesem Innersten, im dumpfen „Gefühl von Spannung und unorientierter Sehnsucht“ (ebd.: 675). Der Mensch bewege sich im „Widerstreit der Ansprüche“ (ebd.: 674) zwischen Mittel und Zweck, was das Menschsein im Grunde ausmache. Kritisch wird Simmel, wenn er ein pervertiertes Verhältnis zwischen Mittel und Zweck in der Moderne beobachtet. Der Sinn der Existenz rücke in weite Ferne, so „dass wir ihn garnicht [sic] lokalisieren können und so immer in Gefahr sind, uns von ihm fort, statt auf ihn hin zu bewegen“ (ebd.: 675). Es stelle sich eine „heimliche Unruhe“ ein, verstanden als unbewusstes, „ratlose[s] Drängen“ (ebd.). Diese Unruhe entspringe der Hast und Aufgeregtheit der Moderne und würde sich gleichsam in ihr entladen. Führt eine dezidierte Betonung des Geldes in der Entwicklung der Moderne dazu, dieses selbst als Gegenstand der Kritik zu nehmen? In diesem Zusammenhang würde eine undifferenzierte Gleichsetzung von Kapitalismus und Geld ein theoretisches Problem darstellen. Kapitalismuskritik ist nicht das gleiche wie Geldkritik und vice versa. Gleichzeitig wurde gezeigt, dass die grundlegende Ambivalenz des Geldes zentrales Thema bei Simmel ist. Er begreift die „Psyche der Gegenwart als Ausdruck der modernen geldwirtschaftlich vermittelten Verhältnisse“ (Köhnke 1996: 488). Freilich gibt es in der Ambivalenz eine Spannung, deren Problematik Simmel nicht unterschlägt, doch weist er in diesen Passagen darauf hin, dass sich das Menschsein durch stetige Weiterentwicklung ausmachen würde, wodurch die Moderne ein anderes Tempo, Rhythmus sowie Distanz besäße, und „so scheint die relativistische [Weltansicht] das augenblickliche Anpassungsverhältnis unseres Intellekts auszudrücken“ (GSG 6: 716). Die »helle Seite des Geldes« liegt in „all dem Neuen, dem Guten und Schönen, das uns als wertvoll gilt“ (Köhnke 1993: 149). Simmels „höchst ambivalente […] Zeitdiagnose, was den »Stil des modernen Lebens« angeht“, bringt ihm unter anderem Kritik von Bloch und Lukács ein und wird von ihnen als „bildungsbürgerliche[r] Modernitätsfatalismus empfunden“ (Müller 2018: 357), womit auch sie sein theoretisches Angebot zur Ambivalenz ausschlagen.
72 Siehe zum umgekehrten Zusammenhang Moses Hess’ romantisch inspirierte Geldtheorie: „Das Geld ist das Product [sic] der gegenseitig entfremdeten Menschen, der entäußerte Mensch“ (Hess 1961: 335, Hervorh. im Orig.).
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2
Geld in der Moderne
Einseitige Interpretation Es sei wiederholt, dass Simmel keine Rationalisierungstheorie des Geldes entwickelt hat, sondern vielfach die Ambivalenz des Geldes hervorgehoben hat. Gleichwohl stellt Dodd in diesem Zusammenhang eine einseitige Rezeption der Philosophie des Geldes fest: Simmel’s work, particularly its emphasis on historical connections between money and intellectualism, tends to be associated with (and criticized for) the view that money transforms social life by reducing qualitative relations to quantitative ones. (Dodd 2014: 30)
In diesem Sinne konstatieren auch Degens und Sahr, dass in kultursoziologischen Forschungen der Fokus auf die „Versachlichung der Beziehungen“ (Degens/Sahr 2019: 19) gelegt werde. Problematisch wird die einseitige Interpretation von Simmel dann, wenn Geld als „»contrarian« figure“ (Dodd 2014: 30) aufgerufen wird – zum Beispiel konträr zur Liebe. So wird etwa argumentiert, nicht alles sei käuflich: „money cannot buy everything“ (ebd.). Auch in der soziologischen Theorie findet sich diese Gegenüberstellung von Geld und Liebe (vgl. u.a. Hochschild 2006), die Wimbauer folgendermaßen beschreibt: Geld wird charakterisiert als zutiefst rationales, objektiviertes und objektivierendes Steuerungsmedium des Wirtschaftssystems, das die Menschen in unpersönliche Marktbeziehungen einbindet und sie so vergesellschaftet, bisweilen gar entfremdet. Liebe hingegen wird charakterisiert als emotional, höchstpersönlich und subjektivierend; sie verbindet zwei einzigartige Menschen innerhalb persönlicher Nahbeziehung miteinander und ist damit ein zentrales Medium der Vergemeinschaftung. (Wimbauer 2009: 122)73
Zwar habe ich an mehreren Stellen argumentiert, dass Simmels Denken durch Ambivalenz gekennzeichnet ist. Allerdings ist er nicht gerade unschuldig an der Gegenüberstellung von Geld und Liebe: Im synthetischen Teil der Philosophie des Geldes erläutert Simmel das Verhältnis von Geld und Liebe als grundsätzlich gegensätzlich. Er verweist diesbezüglich auf den schädlichen Charakter des Geldes. Für ein „Verhältnis zwischen Menschen, das seinem Wesen nach auf Dauer 73 Illouz dekonstruiert in ihrer Untersuchung der romantischen Liebe eine Gegenüberstellung von Kapitalismus und Liebe. Bis in die 1960er Jahre hätten die Fächer Soziologie, Anthropologie sowie Geschichtswissenschaft diese Gegenüberstellung implizit mitgetragen (vgl. Illouz 2014: 27). Illouz richtet ihr Interesse darauf, wie es „zum Zusammenstoß zwischen Liebe und Kapitalismus gekommen“ (ebd.: 25) sei. Wäre es aber theoretisch nicht adäquater, von einem Zusammenstoß zwischen Liebe und Geld zu sprechen?
2.4 Geld als Selbstzweck
73
und innere Wahrheit der verbindenden Kräfte angelegt ist – wie das wirkliche Liebesverhältnis, so schnell es auch abgebrochen werde – ist das Geld niemals der adäquate Mittler“ (GSG 6: 513). An anderer Stelle heißt es bei Simmel, Geld „schafft zwar Beziehungen zwischen den Menschen, aber er lässt die Menschen außerhalb derselben, es ist das genaue Äquivalent für sachliche Leistungen, aber ein sehr inadäquates für das Individuelle und Personale an ihm“ (ebd.: 404). Dementsprechend ist die Opposition zwischen Geld und Liebe, und damit eine tendenzielle Auflösung der Ambivalenz, bei Simmel selbst angelegt – jedenfalls im synthetischen Teil der Philosophie des Geldes. Dies bedeutet aber nicht, dass Geld nur rationalisierend wirkt. Man sollte sich gleichzeitig in Erinnerung rufen, dass laut Simmel Geld im Zuge der sozialen Differenzierung Bereiche des Persönlichen erst begünstigt. Eine einseitige Rezeption Simmels und eine damit verbundene Fokussierung auf zerstörerische Wirkungen des Geldes wirft die Frage auf, ob sich die Kritik an Geld, und zum Teil auch Kapitalismuskritik, in einem Deutungsmuster manifestiert, das nach einer kritischen Distanzierung von Geld verlangt. Basierend auf den obigen Ausführungen ließe sich dieses geldkritische Deutungsmuster folgendermaßen grob skizzieren: Geld hat gesellschafts- und gemeinschaftsdestruktive Wirkungen. Geld steht im Gegensatz zu Liebe. Geld bedarf Grenzen. Das sich aus der soziologischen Theorie heraus abzeichnende Deutungsmuster steht damit im Gegensatz zum konventionellen Narrativ über Geld, das sich aus ökonomischem Lehrbuchwissen speist. Was Meuser und Sackmann für Deutungsmuster ausmachen, nämlich „Wahrnehmungs- und Interpretationsform der sozialen Welt“ (Meuser/Sackmann 1991: 16) zu sein, lässt sich auf die Funktion des konventionellen Narrativs über Geld übertragen. Beide Narrative heben die Ambivalenz des Geldes auf, womit einem grundlegenden soziologischen Verständnis des Geldes nicht gedient ist. In Ergänzung zum soziologischen und zum ökonomischen Deutungsmuster werden im Folgenden die Bedeutungszuschreibungen des Geldes auf einer mikrologischen Ebene erschlossen. Kursorisch gehe ich dafür auf empirische Studien des Geldes ein. Die ausgewählten Untersuchungen legen den Schwerpunkt auf den Gebrauch des Geldes, wodurch Erkenntnisse über die Wirkungen des Geldes, zumindest auf einer Mikroebene, gewonnen werden können. Diese Ansätze tendieren dazu, die Komplexität des Geldes und seine vielfältigen Auswirkungen abzubilden, weisen in ihrem Bezugsrahmen allerdings auch Grenzen auf.
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2
2.4.3
Geld in der Moderne
»Neubewertung« des Geldes
Viviana Zelizers Studie The Social Meaning of Money untersucht die Bedeutungszuschreibungen des Geldes auf der Mikroebene. Ihr zentrales Anliegen ist die Widerlegung der Annahme, „money is a single, interchangeable, absolutely impersonal instrument“ (Zelizer 1994: 1). Die Bedeutung des Geldes erschließt sich, nach Zelizer, nicht ausschließlich durch die Untersuchung des wirtschaftlichen Austausches. Es gelte ebenso, die sozialen und kulturellen Einflüsse zu analysieren. Anders formuliert: Geld ist sozial und kulturell eingebettet. In ihrer Studie fokussiert sie auf den unterschiedlichen Gebrauch von Geld. Dieser wird durch die Herkunft des Geldes bestimmt: Geschenktes Geld wird für andere Dinge ausgegeben als verdientes oder gar gestohlenes. Zelizer unterscheidet zwischen (unpersönlichem) Marktgeld und spezifischem Geld. Ihre Hauptthese besagt, dass Geld je nach Kontext mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen wird: „[P]eople earmark different currencies for many or perhaps all types of social interactions, much as they create distinctive languages for different social contexts“ (ebd.: 18). Man könne nicht von dem einen generalisierten Geld sprechen; darum schlägt sie den Begriff „multiple monies“ (ebd.: 19) vor. Es gebe keine Nivellierung oder Homogenisierung des Geldes (vgl. ähnlich Dodd 2014: 288), wie in der soziologischen Theoriebildung im Anschluss an Simmel und Marx häufig argumentiert werde: Sociologists thus still accept with a remarkable lack of skepticism the notion that once money invades the realm of personal relations it inevitably bends those relations in the direction of instrumental rationality. (Zelizer 1994: 11)
Zelizer äußert mit ihrer Studie eine explizite Kritik an Simmel und versteht sie als Korrektur seiner Nivellierungsthese. Der nivellierende Charakter des Geldes sei nicht auf einer Mikroebene wiederzufinden, auf der kontextabhängig unterschiedliches, zweckgebundenes Geld entstehe. Geld bleibt nicht qualitätslos. Daraus zieht sie den Schluss, nicht von generalisiertem Geld zu sprechen. Zelizer weist zudem die wichtige Erkenntnis aus, dass die Privatsphäre gerade nicht vor Kommodifizierung gefeit ist, diese dadurch aber nicht unbedingt bedroht ist: „On the contrary, they readily absorbed monies, transforming them to fit a variety of values and social relations“ (ebd.: 204). Zelizers Untersuchung nimmt eine zentrale Stellung im soziologischen Forschungsstand zu Geld ein (vgl. Thiel 2010: 81). Fraglich ist allerdings ihre Kritik an Simmel, weil sie die Ambivalenz in seinem Werk zu wenig berücksichtigt und ihm unzulässig Einseitigkeit in Bezug auf die Wirkungen von Geld vorwirft.
2.4 Geld als Selbstzweck
75
Weiter ist kritisch anzumerken, dass Geld zwar kurzfristig durchaus eine Zweckgebundenheit und einmalige Bedeutung beigemessen werden kann – doch Geld sich von seinem Ursprung, und damit von seiner Zweckgebundenheit, lösen kann (vgl. GSG 6: 411, 414). Ich erinnere an Simmels Charakterisierung des Geldes als »geschichtslos«: [D]as Geld ist das absolut Objektive, an dem alles Persönliche endet. […]; die Vorstellung, dass an einem bestimmte Gelde »Blut klebt« oder »ein Fluch haftet«, ist eine sentimentale Projizierung ohne Berechtigung und mit wachsendem Geldverkehr notwendigerweise immer seltener werdend; im höchsten Maße gilt das non olet von ihm. (GSG 2a: 60)74
Man kann Geld nicht ansehen, woher es kommt (vgl. Kraemer/Nessel 2015: 18).75 Es ist auch nicht an einen bestimmten Zweck gebunden, sondern steht im Verhältnis zu Zwecken an sich. Wie Degens und Sahr argumentieren, verbleiben damit die Erkenntnisse von Zelizer auf einer Mikroebene: Schließlich lässt sich dem Geld seine Markierung nicht ansehen; es kann eben ganz anders verwendet werden als von der Schenkenden intendiert. Andersherum: Geld kann erst dann sozial markiert werden, wenn es zunächst eine einheitliche, fungible Form erhält. (Degens/Sahr 2019: 21)
Diesen Kritikpunkten zum Trotz hält sich weiterhin die Bewertung, Zelizer habe Simmels Nivellierungsthese empirisch überholt (vgl. exemplarisch Desan 2019: 104). Es finden sich weitere Untersuchungen über Bedeutungszuschreibungen und Wirkungen des Geldes im privaten Bereich, die Zelizers These der multiple monies stützen. Einige wenige werden im Folgenden kurz dargestellt, um exemplarisch aufzuzeigen, auf welche Weise die Komplexität des Geldes in empirischen Forschungen berücksichtigt wird. Ein Beispiel bietet Wimbauer, die in ihrer Studie die Bedeutung des Geldes in Paarbeziehungen untersucht. Sie stellt fest, dass Geld in Beziehungen nicht ausschließlich rationalisierend wirkt, insofern es mit unterschiedlichen Bedeutungen verbunden wird. Diese Bedeutungen
74 So heißt es bereits bei Marx: „Da die Ware in ihrer Geldwerdung verschwindet, sieht man dem Geld nicht an, wie es in die Hände seines Besitzers gelangt oder was in es verwandelt ist. Non olet, wessen Ursprungs auch immer“ (MEW 23: 124). 75 Vgl. auch Elena Esposito: „Money can operate »without memory«, leaving behind all the concrete elements of the transactions, the motives and the people involved“ (Esposito 2011: 55).
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2
Geld in der Moderne
sind Gegenstand von Aushandlungsprozessen in Beziehungen (vgl. Wimbauer 2009; auch Schneider et al. 2005). Geld sei in Beziehungen geprägt von komplexen wechselseitigen und die Beziehung insgesamt charakterisierenden Zuschreibungen – etwa von beziehungsrelevanten Persönlichkeitseigenschaften, von Rollen und Aufgaben innerhalb und außerhalb der Beziehung, von dem, was die Beziehung stiftet oder zusammenhält. (Wimbauer et al. 2002: 283)
An die Ergebnisse von Zelizer lässt sich mit der empirischen Untersuchung von Krisch anschließen, ohne dass die Autorin selber Bezug auf Zelizer nimmt. Ihr zentrales Thema sind monetäre Identitäten und die Herstellung dieser im Alltag. Eine interessante Erkenntnis in dieser empirischen Studie ist eine vorgefundene Trennung zwischen einer „praktischen, positiven Bedeutung des lebenszweckgebundenen Geldes“ und einer negativen Bedeutungszuschreibung, welche „das reine Geld manifestiert in nach außen sichtbaren Symbolen“ (Krisch 2010: 143). An die Herstellung unterschiedlicher Gelder knüpft auch Thiel an, der sich dafür interessiert, „wie sich eine spezielle Geldart, das Regiogeld, das eben nicht Marktgeld sein will, in der sozialen Praxis verhält“ (Thiel 2010: 82). Regiogeld, als eine Art »besseres« Geld, soll persönliche Bindungen schaffen und eine ethische Norm als Handlungsanleitung darstellen, um „unpersönliche, versachlichte Beziehungen“ sowie „rein zweckrationale Kalküle“ (ebd.: 50) zu überwinden. Regiogelderinitiativen verfolgen unterschiedliche Ziele. Es gibt eine, zum Teil, konfliktreiche Diversität: „Insgesamt ist das System des Regiogeldwissens durch viele und verschiedene Diskursfelder gekennzeichnet. Je nach Verortung ergeben sich unterschiedliche Zielsetzungen, auf die das »bessere« Geld hin programmiert werden soll“ (ebd.: 189), etwa der Förderung ökonomischer und sozialer regionaler Netzwerke. Damit verbunden wird das ökologische Ziel, Transportwege zu verkürzen und „durch erlebbare Transparenz der Produktion auch die Einhaltung von Umweltstandards“ (ebd.: 133) zu fördern. Thiel gelingt es herauszuarbeiten, dass es auf ideeller Ebene darum geht, ein „anderes Geld- und Wirtschaftssystem [zu] konstituieren, das dem Menschen dient und ihn nicht beherrscht“ (ebd.). Regiogelder stellen in ihrer Idee eine Währung mit begrenzten Umfang dar. Sie sind letztendlich durch den Euro gedeckt. Grundlegend wird die kritisierte Geldordnung also nicht verändert. In einem sehr überschaubaren Rahmen soll mit Geld »Besseres« erreicht werden. Die Etablierung von Regionalwährungen kann als Versuch betrachtet werden, die negativen moralischen Wirkungen, die Geld
2.5 Zentrale Schlussfolgerungen
77
zugesprochen werden, einzuhegen: „Damit reiht es sich in die Regionalisierungstendenz ein, die als Gegenströmung zu Individualisierung und Globalisierung auf die Bildung übersichtlicher, geschlossener Einheiten abzielt“ (Thiel 2010: 331).76 Auch wenn diese empirischen Untersuchungen nicht als Neuentwürfe einer Theorie des Geldes zu bewerten sind, tragen sie dazu bei, Geld in seiner Komplexität zu analysieren und die soziale und gesellschaftliche – jenseits seiner ökonomischen – Bedeutung des Geldes zu beleuchten. Gleichzeitig reproduzieren sie nicht den Gegensatz zwischen Geld und Liebe, wie er in der Soziologie, wie oben gezeigt, häufig anzutreffen ist. Festzuhalten ist, dass auf lebensweltlicher Ebene eine Unterscheidung zwischen spezifischem und generellem Geld vollzogen wird. Die Bedeutungszuschreibung des Geldes auf einer Mikroebene codiert Geld. Sie macht es zu einem spezifischem Geld, womit es eine positive Bedeutung erhält. Die Bedeutungszuschreibungen des Geldes auf einer Mikroebene ebenso wie die Etablierung von Regionalgeldern stellen Versuche dar, eine Kontrolle über Geld zu generieren, dieses einzuschränken oder wenigstens mit positiver Bedeutung zu versehen. Gleichzeitig weisen auch diese Ansätze Grenzen auf, wenn sie die „Möglichkeiten der kulturellen Domestizierung von Geld“ (Degens/Sahr 2019: 22) überzeichnen.
2.5
Zentrale Schlussfolgerungen
In diesem Kapitel wurde skizziert, welche verschiedenen Ansätze es gibt, Geld zu erklären und wie vielfältig die Versuche aussehen, die Bedeutung von Geld zu erfassen. Insbesondere die Analyse des Geldes als Tauschmedium und als Selbstzweck strukturierte die Aufarbeitung von Geldtheorien. Mit Simmel im Hintergrund wurden Forschungsansätze, die Geld nicht als gesellschaftliches Verhältnis begreifen, sondern auf die ökonomische Sphäre festsetzen, kritisch betrachtet. Das konventionelle Narrativ über Geld, das charakteristisch für eine ökonomische Perspektive ist, beruht auf dem Tauschmythos, worin eine Kontinuität des Geldes angelegt wird: es ist ein neutrales und harmloses Tauschmedium, nicht weniger und nicht mehr. Ebenfalls in der Soziologie findet sich eine Vernachlässigung des Selbstzwecks des Geldes, oder aber wird eine Orientierung an 76 Ähnliche Ansprüche finden sich in soziologischen Forschungen, die sich auf Globalisierungs- und Wachstumskritik beziehen und Alternativen zum bestehenden Geldbzw. Wirtschaftssystem fordern. So befasst sich zum Beispiel Degens mit lokalen Komplementärwährungen, wofür er Polanyi, Zelizer und Mauss theoretisch vereint (vgl. Degens 2019) – mit diesem theoretischen Rüstzeug fällt seine Analyse von Regiogeldern weniger kritisch aus als jene von Thiel.
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2
Geld in der Moderne
Geld als Irrationalität angesehen. Demgegenüber stehen Ansätze, die eine gesellschaftstheoretische Analyse des Geldes vornehmen. Dabei gehen diese Arbeiten von unterschiedlichen Referenzrahmen aus – sei es die Moderne, sei es der Kapitalismus, sei es Religion. Aufzeigen ließ sich bei diesen Untersuchungen, dass es sich um Krisentheorien der modernen Gesellschaft handelt, die die Ursache für die Krise auf Geld selbst zurückführen. Zum Beispiel zeichnet Haesler, besorgt um die Selbstreferenz des Geldes, ein pessimistisches Szenario: Es gebe einen fundamentalen Bruch zwischen der Welt der Sprache und jener der Objekte, obwohl die Zeichen der linguistischen Welt nicht (mehr) tun außer »gegenseitig zu deuten«, indem sie zur »wirklichen« Welt nur eine rein zufällige Beziehung aufrechterhalten, so ist es notwendig, sich zu fragen, ob das Geld nicht dieselbe Bestimmung erfährt, ob es nicht dabei ist, sich als »zweite Natur« oder »Wirklichkeit« zu konstituieren, die nicht nur völlig von der materiellen und physischen Realität abgeschnitten ist, sondern […] diese von jeder Beziehung möglicher Erfahrung ausschließt. (Haesler 1993: 251)
Einen etwas anderen Blickwinkel nimmt meine These ein, die besagt, dass Geld zwar immer abstrakter wird und zur Abstraktheit der Moderne beiträgt, sich jedoch auch mit romantisierenden Wirkungen verknüpft. Geld führt nicht zu einer vollkommenen Rationalisierung. Mit den Ausführungen zu Simmel habe ich den Gedanken entfaltet, dass der Selbstzweck mit einer sinnlich-ästhetischen, imaginativen Komponente des Geldes in Verbindung steht. Geld eignet sich als Projektionsfläche, es regt die Phantasie an, womit es rationalistische und romantisierende Wirkungen auslöst. Geld erlaubt daher ein Verhältnis zur Welt, das zweckrationalen und romantischen Prinzipien unterliegt. Simmels Philosophie des Geldes wird zwar in den letzten Jahrzehnten wieder vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, doch scheint dabei die Lesart zu dominieren, die rationalisierende Wirkung des Geldes ist die Quintessenz seiner Geldtheorie und diese unter dieser Perspektive weiterzuführen. In der Aufarbeitung soziologischer Theorien sowie empirischer Untersuchungen des Geldes auf Mikroebene hat sich ein Deutungsmuster abgezeichnet, das Geld einen gesellschafts- und gemeinschaftsdestruktive Wirkung zuschreibt, Geld im Gegensatz zu Liebe sieht und Grenzen des Geldes fordert. Wie ist Simmel hinsichtlich dieses Deutungsmusters zu verorten? Zum einen führt er eine Ablehnung des Geldes auf das Geld selbst zurück: „Je zentraler ein Gedanke oder ein Wert seine Provinz beherrscht, von umso gleichmäßigerer Stärke wird die Wichtigkeit sein, die er sowohl mit positivem wie mit negativem Vorzeichen entfaltet“ (GSG 6: 370). Eine andere Erklärung bietet er im synthetischen Teil an, insofern er feststellt, dass die Welt zum „große[n] Rechenexempel“ (ebd.: 612) wird.
2.5 Zentrale Schlussfolgerungen
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Dies begrenze sich nicht auf den Tauschhandel – Rechnen, Wägen, Messen und Planen würden darüber hinaus als Handlungsmaxime gelten und sich im praktischen Leben niederschlagen. Wird nun aber Geld selbst symbolhaft für negative Entwicklungen in der Moderne ausgemacht? Welche Bedeutung hätte dies für die Legitimität des Geldes? Diese Fragen möchte ich mit Blick auf Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne ergänzen, da sie mit Simmel allein nicht erschließbar sind. Wenn ich in diesem Kapitel die Ambivalenz des Geldes betone, geht es mir weder um eine geldapologetische Positionierung, noch erachte ich Geld als allein ursächlich für die kapitalistische Dynamik und ihre Krisenerscheinungen. Zu simpel und illusorisch ist letztlich aber, wenn aus soziologischer Sicht eine Beschränkung und damit Regulierung des Geldes zum Tauschmedium vorgeschlagen wird. Oder aber wenn eine Kritik am kapitalistischen System auf eine Kritik an Geld reduziert wird. Kurzum: Das moderne Geld, wie es Simmel beschrieben hat, ist an Kapitalismus gebunden. Kapitalismus, wie Marx erläutert hat, ist von Geld beziehungsweise Kapital abhängig. Die Forderung nach der Abschaffung des einen ohne das andere kann in diesem Sinne nicht funktionieren. Für Blumenberg suggeriert die oberflächliche Verächtlichkeit des Geldes […], dass die Humanität gewinnt, wenn das Geld an Wert verliert, weil man dann nicht mehr alles dafür haben kann. Der reelle Befund ist aber, dass in dem Augenblick, wo man für Geld nicht mehr alles haben kann, anstelle des Geldes das hergegeben werden muss, was als Humanes unveräußerlich bleiben sollte. (Blumenberg 1976: 128)
In eine ähnliche Richtung geht Simmel. Für ihn ist die Freiheit des Individuums notwendig an die moderne Gesellschaft gekoppelt. Er argumentiert, dass in der Aufklärung der Mensch den absoluten Wert darstellt, der jedem anderen gleich ist. Daraus resultieren die Bekenntnisse zu Menschenwürde und Menschenrechten. In der Romantik hingegen komme ein anderer Begriff des Individualismus auf, in dem es um ein differenziertes Selbst geht, um eine „qualitative Besonderung gegeneinander“ (GSG 6: 493). „[D]ie von den historischen Bindungen befreiten Individuen wollen sich nun auch voneinander unterscheiden“ (GSG 10: 131; vgl. auch Mannheim 1984: 116). Es handelt sich um einen „Individualismus der persönlichen Entwicklung“ (Watier 1993: 354). Der Mensch als funktionaler Rollenträger kann sich in Assoziationen zusammenschließen, ohne seine ganze Persönlichkeit einbringen zu müssen (vgl. GSG 6: 465), im Unterschied zu persönlichen Bindungen in feudalen Zünften.77 Im Feudalismus gab es 77 In diesem Zusammenhang spricht Fromm vom „Doppelgesicht der Freiheit“: „Der einzelne wird von wirtschaftlichen und politischen Fesseln frei. Er gewinnt auch etwas an
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2
Geld in der Moderne
keine Unterscheidung zwischen „Menschen als Menschen und dem Menschen als Mitglied einer Vereinigung“ (ebd.). In der Moderne wird daher ein neues Organisationsprinzip eingeführt. Aus diesem Grund sieht Simmel in der modernen Gesellschaft ein Freiheitsmoment und die Voraussetzung für die Überwindung sozialer Ungleichheiten, auf die er an unterschiedlichen Stellen unmissverständlich hinweist.78 Geld ermöglicht in der Moderne Vereinigung „unter absoluter Reserve alles Persönlichen und Spezifischen“ (ebd.: 721). Die Entwicklung der individuellen Freiheit ist an Geld gebunden, es erlaubt ein „Sich-Entgegensetzen und Isoliren [sic] des Individuums gegen das Allgemeine, gegen Das [sic], was für Alle gilt“, und darin „ruht großentheils [sic] die eigentlich romantische Schönheit“ (GSG 5a: 207). Weber sieht es ähnlich: Die Geldwirtschaft ergibt einerseits die objektive Berechenbarkeit der individuellen Erwerbsleistungen der Einzelnen und ihres Verbrauchs und eröffnet ihnen nach der anderen Seite – durch die Entfaltung des geldvermittelten »indirekten Tauschs« – überhaupt erst die Möglichkeit, individuelle Bedürfnisse frei zu befriedigen. (Weber 2010: 227)
Geld ist ambivalent aufzufassen und stellt ein hochkomplexes Phänomen der Moderne dar. Mit meiner Interpretation der Ambivalenz des Geldes lässt sich festhalten, dass Geld begünstigt, sich in der Welt der Möglichkeiten zu bewegen. Die Potentialität, die Geld verspricht, muss auch nicht erst verwirklicht werden, um ihre Wirkung entfalten zu können. Auf der Ebene der individuellen Akteure trägt damit Geld so nicht nur zu Rationalisierung oder Versachlichung bei, sondern es erlaubt ihnen, eine Distanz zur Realität aufrecht zu erhalten. Geld ermöglicht
positiver Freiheit durch die aktive, unabhängige Rolle, die er im neuen System spielen muss. Aber gleichzeitig wird er auch von all jenen Bindungen frei, die ihm zuvor Sicherheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit gaben. […] Dadurch, dass er seinen festen Platz in einer in sich geschlossenen Welt verliert, geht dem Menschen auch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens verloren“ (Fromm 2020: 51, Hervorh. im Orig.). Dabei zeigt sich bei Fromms entfremdungstheoretischem Argument eine verkürzt einseitige Interpretation des Geldes, wenn er von Geld als „großen Gleichmacher der Menschen“ (ebd.) spricht. 78 Auch wenn „Ungleichheitsfragen keine Schlüsselprobleme“ (Kraemer 2018: 261) für Simmel darstellen, äußert er sich hier vehement gegen „Unterdrückung, Leid, Entwürdigung“ (GSG 6: 454). Die Lösung liegt für ihn indessen nicht in einer anarchistischen „Perhorreszierung der Über- und Unterordnung“ (ebd.: 453), da damit eine der „fruchtbarsten Formen der gesellschaftlichen Produktion verschwände“ (ebd.: 454). Zu überwinden wäre die Ungleichheit, wenn die Über- und Unterordnung bloß technischer Natur wäre und das „innerste Lebensgefühl“ der Individualität „ganz unberührt“ (ebd.: 454) bliebe.
2.5 Zentrale Schlussfolgerungen
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daher gleichzeitig eine Kontrolle über die praktische Welt und ein Phantasieren mit ihren Möglichkeiten. Wie bleibt aber Geld vor den hier dargestellten soziologischen Diagnosen, gerade hinsichtlich seiner negativen Auswirkungen, gesellschaftlich legitim? Eine Antwort darauf sehe ich in der bislang nicht berücksichtigten Ambivalenz, trotz zunehmender Vergesellschaftung in der Moderne durch Geld, eine Zurückhaltung gegenüber dieser Realität über Geld aufrecht erhalten zu können. Geld ist Mittel der Rationalisierung und Mittel der Romantisierung. Allerdings ist diese Erkenntnis nicht losgelöst von kulturellen Bedeutungszuschreibungen von Geld, worauf eine ergänzende Perspektive insbesondere durch die empirische Analyse eingenommen wird. Um die Ebene der kulturellen Deutungen des Geldes besser greifen zu können und damit eine Brücke zwischen theoretisch und empirisch rekonstruierten Bedeutungen des Geldes zu schlagen, erfolgt im Folgenden eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Prozessen der Rationalisierung und der Romantisierung sowie den damit verbundenen geistesgeschichtlichen Prinzipien. Weber bietet eine Erklärung dafür an, wie die protestantische Ethik Rationalisierung, als wichtigen Bestandteil des Kapitalismus, begünstigte. Für Geld bedeutet dies zum einen eine Legitimierung durch die protestantische Ethik. Zum anderen nimmt Geld eine zentrale Rolle im Rationalisierungsprozess ein, insofern es ökonomische und nicht-ökonomische Bereiche verbindet und zur Etablierung der Rationalisierung in allen Sphären beiträgt. Gegen die Rationalisierung richtet sich aber scharfe Kritik, die der Romantik entspringt. Rationalisierung ist ein „konstitutiver Bestandteil […] der modernen Kultur“ (Kaesler 2003: 117, Hervorh. im Orig.) – dazu ergänzend möchte ich aufzeigen, dass Romantisierung analog verstanden werden muss. Insofern es ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Regulierung des Geldes gibt, das romantische Motive in sich trägt – Türcke spricht von einem „Wunsch nach einer vorbehaltlosen, umweglosen und das heißt auch immer geldlosen Mitmenschlichkeit“ (Türcke 2015: 21) –, lohnt sich eine vertiefende Auseinandersetzung mit Rationalisierung und Romantisierung.
3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung, Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander. Max Weber
3.1
Verhältnis zwischen Rationalismus und Romantik
Wie Simmel, Marx oder Durkheim stellt sich Weber die Frage, was die moderne gesellschaftliche Ordnung zusammenhält und welche Risiken und Unsicherheiten die Moderne mit sich bringt (vgl. Illouz 2011: 20; Frisby 1988: 589ff.; Müller 2018: 31). Entfremdung, Verunsicherung, Ausbeutung, Sinnverlust, unerträgliche Ungleichheiten. Marx, Durkheim, Weber und Simmel bauen alle ihre soziologischen Entwürfe auf solchen Erfahrungen und den damit verbundenen Krisen auf. Meist geht es dabei um die Frage, wie Gesellschaft überhaupt möglich sei (vgl. GSG 11: 42ff.). Wenn sie Gesellschaft analysieren, dann analysieren sie Modernisierung und ihre Folgen. Simmel und Weber waren miteinander befreundet, „atmeten dieselbe intellektuelle Luft der späten Wilhelminischen Zeit“ (Cavalli 2018: 585) und haben sich gegenseitig beeinflusst. Sie unterscheiden sich zwar in ihren Herangehensweisen, für beide wirft aber Geld eine grundlegende Frage in und für die Moderne auf. Wie wir bei Simmel gesehen haben, weist er u.a. das „rechnerische Wesen des Geldes“ (GSG 6: 615) als zentral für die Moderne aus. Diese Wirkung ist nicht etwa auf den Bereich der Wirtschaft zu reduzieren, wenn,
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Frei, Deutungen des Geldes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31961-8_3
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Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
wie Simmel sagt, durch das Geld „in das Verhältnis der Lebenselemente eine Präzision, eine Sicherheit in der Bestimmung von Gleichheiten und Ungleichheiten, eine Unzweideutigkeit in Verabredungen und Ausmachungen gekommen“ (ebd.) ist. Auch für Weber ist Geld ein wichtiges Mittel der Rationalisierung beziehungsweise sogar das „»vollkommenste« wirtschaftliche Rechnungsmittel, das heißt: das formal rationalste Mittel der Orientierung“ (Weber 2010: 61). Webers Annahme, dass Geld ein wichtiges Mittel zur Etablierung von Rationalisierung ist, geht über Theorien hinaus, die Geld ausschließlich als neutrales Tauschmedium begreifen.1 Obwohl er keine dezidierte Geldtheorie vorgelegt hat, unterschätzt er die Rolle des Geldes keineswegs. In der Beschreibung soziologischer Grundkategorien erklärt er, dass Geld als „chartales Zahlungsmittel“ zu begreifen sei, welches zugleich ein „Tauschmittel“ (ebd.: 53) darstelle. Geld könne als Zahlungsmittel rechtliche Geltung innerhalb eines bestimmten Raumes beanspruchen. Des Weiteren seien chartale Zahlungsmittel „gestückelt“, „so dass rein mechanische Rechnung mit ihnen möglich ist“ (ebd.). Geld habe grundlegend andere Funktionen als naturale Zahlungs- und Tauschmittel. Über diese formale Definition hinaus und wesentlicher für meine Herangehensweise versteht Weber Geld als wirtschaftliches Rationalisierungsmittel. Es erweist sich „als Vermittlungsinstanz zwischen wirtschaftlicher und nicht-wirtschaftlicher Rationalisierung“ (Deutschmann 1999: 32, Hervorh. im Orig.). Mit Webers Analyse der protestantischen Ethik lässt sich zudem nachvollziehen, gegen welche Widerstände sich Geld durchsetzen musste – ein Aspekt, der bei Simmel nicht behandelt wird. In diesem Kapitel wird Rationalisierung als „Charakteristikum der neuzeitlichen Entwicklung“ (Mannheim 1984: 79) beschrieben, wofür insbesondere Webers protestantische Ethik rezipiert wird (vgl. Weber 2013). Die Frage, wie sich Geld geistes- und kulturgeschichtlich durchsetzen konnte, wird mit Hirschmans Untersuchung zur Legitimation rationalen Geldinteresses vertieft. Hirschman versteht Romantik als Reaktion auf die bürgerlich-kapitalistische Welt (Vgl. Hirschman 1987). Im Kontext des universalhistorischen Rationalisierungsprozesses wird die Romantik als geistesgeschichtliche Epoche beleuchtet und als Phänomen der Moderne eruiert (vgl. Berlin 1999; Mannheim 1984; Campbell 2005). In Weberscher Tradition richtet sich mein Fokus auf „Figurationen von 1 Festgestellt „sei vorerst nur, dass »Geld« […] niemals nur eine harmlose »Anweisung« [ist] oder eine bloß nominale »Rechnungseinheit« sein wird und kann, solange es eben: Geld ist“ (ebd.: 56, Hervorh. im Orig.). Damit hat auch Weber eine Auffassung von Geld, die über seine Tauschmittelfunktion hinausgeht.
3.1 Verhältnis zwischen Rationalismus und Romantik
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Interessen und Ideen“ (Gerhards 1989: 350), um „die stabilisierenden und dynamischen Tendenzen einer Gesellschaft zu verstehen“ (Bendix 1963: 274) und die dem Geld zugeschriebene Rolle zu erfassen. Eine dezidierte soziologische Begriffsbestimmung der Romantik wurde bislang noch nicht geleistet, auch wenn die Romantik selbst Thema innerhalb mancher soziologischer Ansätze ist. Zum Beispiel hebt Mannheim die soziologische Relevanz der Romantik hervor, da sie als „erlebnismäßige Reaktion gegen das aufklärerische Denken“ auftritt, indem sie allmählich verschwindende Lebenshaltungen, Ideen und Motive gegen den „rationalistischen Denkstil“ (Mannheim 1984: 84) betont. Mannheim arbeitet zwei wichtige Faktoren der Romantik heraus, die zu unterscheiden seien, d.h. einen Faktor, durch den sie als geistige Gegenbewegung gegenüber der Aufklärung erscheint (in all diesen Punkten ist sie determiniert vom Gegner, den sie bekämpft) und zweitens ihre Funktion als Erbin eines Denk- und Lebensstils, den der Kapitalismus verdrängt hatte. (ebd.: 231f.)2
Romantisierung steht nicht in Opposition zu Rationalisierung, auch wenn sich romantische Kritik gegen Rationalisierung richtet. Richtet sich aber Romantik bzw. romantisches Denken ebenfalls gegen Geld, insofern dieses mit Rationalisierung assoziiert wird? Wird durch romantisches Denken die Auffassung vertreten, dass Geld zersetzende Auswirkungen hat, wovon bestimmte Sphären ausgenommen werden müssten? Diese Fragen werden am Ende der Arbeit wieder aufgegriffen, um anhand empirischer Beispiele zu skizzieren, wie sich in alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld rationalistische und romantische Motive artikulieren. Dabei lässt sich, vor dem Hintergrund der theoretischen Vorarbeit, eine Komplementarität zwischen Rationalisierung und Romantisierung aufzeigen, die zur Stabilisierung und Legitimierung der Geldordnung beiträgt.
2 Auf
die Frage, wie Rationalisierung beziehungsweise Aufklärung und Romantik in Beziehung stehen, deutet Mannheim sogar ein dialektisches Verhältnis an. Die Romantik würde eine zunehmende Rationalisierung, wenn auch unbeabsichtigt, begünstigen: „Die Gläubigkeit an die Vernunftsleistung, an die denkerische Leistung wird nicht aufgegeben. Nur ein Typus des Denkens, das unbewegliche, aus einem Prinzip deduzierende, starre Begriffselemente einfach kombinierende Aufklärungsdenken wird verworfen, und nur diesem gegenüber wird der Horizont des möglichen Denkens erweitert. Auch hier setzt das romantische Denken (eigentlich ungewollt) jene Linie, nur radikaler und mit neuen Mitteln, fort, die auf das aufklärerische Weltwollen bereits zu Ende führen sich vorgenommen hatte – die konsequente Durchrationalisierung der Welt“ (ebd.: 172, Hervorh. im Orig.).
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3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
3.2
Rationalisierung und Berechenbarkeit
3.2.1
Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
Max Weber interessiert sich für die Entfaltung der kapitalistischen Gesinnung in Westeuropa und Nordamerika. Nur im »Okzident« habe sich der moderne Kapitalismus entwickelt, der eine spezifische Form der Rationalisierung aufweist. Für Weber zeichnet sich der okzidentale Kapitalismus durch eine „rationalkapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit“ (ebd. 1991: 39), eine rationale, marktwirtschaftlich orientierte Betriebswirtschaft, eine rationale Buchführung und die Trennung von Haushalt und Betrieb aus. Zur Entstehung des bürgerlich-kapitalistischen Systems zählt er zudem die Entfaltung des abendländischen Bürgertums; aufsteigende KleinbürgerInnen gehören zur „eigentlichen sozialen Trägergruppe“ (Lichtblau/Weiß 2000: XVII). Rationalisierung ist dennoch kein Prozess, den Weber ausschließlich auf die „Geschichte des okzidentalen Christentums“ (ebd.: XXIV) beschränkt. Kapitalistische Strukturen haben sich bereits im Mittelalter oder in der Antike herausgebildet; diesen hätten jedoch „eben jenes eigentümliche Ethos“ und eine „ethisch gefärbte Maxime der Lebensführung“ (Weber 2013: 77, Hervorh. im Orig.) gefehlt. Damit sich der moderne Kapitalismus entfalten und verbreiten konnte, sei er daher erstens auf eine Gesinnung und zweitens auf eine besondere Art der Lebensführung angewiesen gewesen. Um diese These zu prüfen, richtet Weber seinen Fokus auf die Religion, genauer auf die protestantische Ethik. Diese stehe nur im vermeintlichen Gegensatz zur kapitalistischen Ethik; einige zentrale religiöse Elemente hätten sich begünstigend auf die kapitalistische Gesinnung ausgewirkt und zeitigten damit für den Protestantismus „unvorhergesehene und geradezu ungewollte Folgen“ (ebd.: 105, Hervorh. im Orig.). Webers Absicht besteht nicht darin, eine kausale Verbindung zwischen Protestantismus und Kapitalismus herzuleiten, obwohl er teilweise überspitzte Formulierungen wählt, was mit seinem idealtypischen Vorgehen zu erklären ist (vgl. Mommsen 1974: 222ff.; Kaesler 2003: 229ff.).3 Die Crux in seiner Argumentation liegt darin, dass am Ursprung der Moderne nicht „die Abschwächung der religiös motivierten Weltablehnung [steht], sondern ganz 3 Dafür
findet sich folgende Begründung bei Weber: „Dabei können wir freilich nur so verfahren, dass wir die religiösen Gedanken in einer »idealtypisch« kompilierten Konsequenz vorführen, wie sie in der historischen Realität nur selten anzutreffen war. Denn gerade wegen der Unmöglichkeit, in der historischen Wirklichkeit scharfe Grenzen zu ziehen, können wir nur bei Untersuchung ihrer konsequentesten Formen hoffen, auf ihre spezifischen Wirkungen zu stoßen“ (Weber 2013: 141, Hervorh. im Orig.).
3.2 Rationalisierung und Berechenbarkeit
87
im Gegenteil ihre Steigerung“ (Breuer 2006: 35). Galt zuvor eine streng methodische Lebensführung nur für einen kleinen Kreis, das heißt Mönche und religiöse Virtuosen, ersetzt die innerweltliche Askese, verstanden als Haltung zur Welt, die außerweltliche, so dass „nun jeder Christ ein Mönch sein müsse sein Leben lang“ (Weber 2013: 157, Hervorh. im Orig.). Es findet eine Orientierung auf das Diesseits anstelle der zuvor praktizierten Weltflucht statt. Zentral und vor allem neu sei die Berufsidee und die Verbindung mit der innerweltlichen Askese als systematisch-methodische Lebensführung, welche für den modernen Kapitalismus ein fundamentales Rationalisierungsmoment darstellt (vgl. ebd.: 340). Geld ist für diese Systematisierung ein wichtiges unterstützendes Mittel. Diesen Aspekten wird im Folgenden nachgegangen. Das »Neue« im Protestantismus Zu den konsequentesten Formen der protestantischen Ethik zählt Weber jene, in welchen Askese eine wegweisende Rolle spielt. Es handelt sich um historisch vier wichtige Richtungen des Protestantismus: Calvinismus, Pietismus, Methodismus und täuferische Sekten (vgl. Weber 2013: 139). Für Weber ist es eine spezifische Eigenart des asketischen Protestantismus, mit „der Magie, der Außerweltlichkeit der Heilssuche und der intellektualistischen kontemplativen »Erleuchtung«“ (ebd. 1991: 340) radikal zu brechen und die Heilssuche in der „methodisch rationalisierte[n] Berufserfüllung“ (ebd.: 340, Hervorh. im Orig.) zu verorten. Obwohl der Sinn des individuellen Schicksals unergründlich bleibe, müssen die Gläubigen die Maxime verfolgen, dass nicht Gott für die Menschen da sei, sondern die Menschen für Gott. Daraus folge ihr einziger Zweck: Gottes Ruhm zu ehren (vgl. ebd.: 212). Um sich zu bewähren, kommt dem Beruf eine zentrale Funktion zu. Dieser habe einen „eigentümlich sachlich-unpersönlichen Charakter […]: den eines Dienstes an der rationalen Gestaltung des uns umgebenden gesellschaftlichen Kosmos“ (vgl. ebd.: 148). Mit dem asketischen Protestantismus und seiner Bewährungsdoktrin durchdringt die religiöse Ethik das gesamte Alltagsleben, worin ein wichtiger Unterschied zum Katholizismus vorliegt. Die Reformation schafft die kirchliche Herrschaft nicht einfach ab (vgl. Kaesler 2003: 101), vielmehr ersetzt sie diese „durch eine im denkbar weitgehendsten Maße in alle Sphären des häuslichen und öffentlichen Lebens eindringende, unendlich lästige und ernstgemeinte Reglementierung der ganzen Lebensführung“ (Weber 2013: 66). Die Beziehung zu Gott wird damit unvermittelter, es gibt keine kirchliche Heilsvermittlung, und die Aufhebung der Trennung zwischen religiöser Virtuosen-Moral und LaienMoral macht Weber als wesentlich für die Bedeutung der protestantischen Ethik aus. Im Katholizismus ist eine streng rationale und methodische Lebensführung
88
3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
mit einer Jenseits-Ausrichtung stellvertretend einem elitären Zirkel vorbehalten: „Der eigentliche vollkommene Christ ist der Mönch“ (ebd. 1991: 369); für die Laien gelten zwar gewisse Tugenden, die im Alltagsleben verfolgt werden müssen, jedoch in stark abgeschwächter Form (vgl. ebd. 2013: 157). Das Buß- und Beichtsystem im Katholizismus stellt für die Laien eine zusätzliche Entlastung dar. Zwar suggeriert der Katholizismus ein Schuldbewusstsein und ein stetiges Gefühl der Sünde, die katholische Kirche erlaubt aber durch das Auferlegen von Strafen im Zuge der Beichte ein „Mittel zum periodischen »Abreagieren« des affektbetonten Schuldbewusstseins“ (ebd.: 147). Dagegen richtet sich die Reformation. Infolgedessen wird im Protestantismus eine Aufhebung der Virtuosenund Laien-Moral vorgenommen. Das bedeutet eine Durchdringung des Alltagslebens mit religiösen Maximen und eine erhöhte Eigenverantwortung: Es gilt ein religiöses Gesamtkonzept einzuhalten, wodurch einzelne Sünden nicht mehr durch Beichte vergolten werden können. Eine systematisch-methodische Lebensführung wird im Calvinismus eine zum „System gesteigerte Werkheiligkeit“ (ebd.: 155, Hervorh. im Orig.). Damit zeigt sich eine außerordentliche Wirkmächtigkeit des religiösen Lebens für die alltägliche Praxis und die gesamte Persönlichkeit des Gläubigen, denn im Gegensatz zum Katholizismus gilt nicht „eine Art Kontokorrekt mit Saldo-Abrechnung […], sondern für das ganze Leben gilt das schroffe Entweder-Oder: Gnadenstand oder Verwerfung“ (ebd.: 222, Hervorh. im Orig.). Wo diese Lebensführung durch magische und religiöse Mächte sowie ethische Pflichtvorstellungen wie zum Beispiel Traditionalismus gehemmt werde, könne sich auch der moderne Kapitalismus nicht entfalten. Magisch-religiöse Erklärungsmuster werden durch rationale ersetzt, die zu einer rational-bürokratischen Herrschaftsform führen. Magie, Religion oder Traditionalismus – an diesen Ausführungen wird nunmehr deutlich, gegen welch mächtigen Widersacher sich der moderne kapitalistische Geist durchzusetzen hatte. Aber auch der „Lebensstil des »natürlichen« Menschen“ (ebd.: 181), mit all seinen affektvollen Irrationalitäten, musste überwunden werden wenn angenommen wird, dass eine „selbstregulative Affektkontrolle“ (Gerhards 1989: 353) für die Ausbildung der Moderne notwendig gewesen sei.4 Sowohl der Überwindung traditionaler Herrschaft als auch individueller Irrationalität hat nach Weber der Protestantismus den Weg geebnet.
4 Lichtblau
und Weiß sehen in der protestantischen Ethik sogar eine „Theorie der »Triebverdrängung« bzw. der Affektkontrolle und der kulturellen »Sublimierung«“ (Lichtblau/Weiß 2000: XI).
3.2 Rationalisierung und Berechenbarkeit
89
Innerweltliche Askese und Berufung Der Puritanismus, welcher eine strikte Auffassung der asketischen Religiosität aufweist, „verwandelte jene »Rechenhaftigkeit«, die in der Tat für den Kapitalismus konstitutiv ist, aus einem Mittel der Wirtschaft in ein Prinzip der ganzen Lebensführung“ (Weber 1991: 248, Hervorh. im Orig.). Die These der Rationalisierung ist nicht allein für den Bereich der Wirtschaft von Bedeutung, vielmehr ist Rationalismus als generelle Haltung zur Welt zu verstehen.5 Entscheidend für die Entfaltung des modernen Kapitalismus sei die Prämierung der „asketisch bedingten, rationalen Antriebe“ (ebd. 1991: 246). Reichtum an sich ist aus puritanischer Perspektive nicht mehr unbedingt verwerflich. Allerdings stellt er eine Gefahr dar, wenn daraus die Konsequenzen folgen, sich darauf auszuruhen und Geld nicht rational zu investieren: Das sittlich wirklich Verwerfliche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz, der Genuss des Reichtums mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Fleischeslust, vor allem der Ablenkung von dem Streben nach »heiligem« Leben. […] Nicht Muße und Genuss, sondern nur Handeln dient nach dem unzweideutig geoffenbarten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhms. (ebd.: 167, Hervorh. im Orig.)
In der rationalen, d. h. systematisch-methodischen Tätigkeit zeigt sich das Fundament der innerweltlichen Askese, welche die Praxis der Lebensführung der puritanischen Ethik darstellt. Von den Gläubigen werden eine rationale Tatkraft und eine „aktive Selbstbeherrschung“ (ebd. 2013: 156, Hervorh. im Orig.) verlangt. Bereits an diesen wenigen Zitaten wird deutlich, dass unter »Askese« Aktivität und Handeln zu verstehen ist und daher nicht passives Verhalten oder „untätige Kontemplation“ (ebd. 1991: 168), gerade wenn sie auf Kosten der Berufsarbeit geht (vgl. Bendix 1963: 288). Arbeit, als von Gott geforderter Selbstzweck des Lebens, stellt dabei das wichtigste Mittel der innerweltlichen Askese dar. Damit könne sogar „Profitlichkeit“ (Weber 1991: 171) gottgefällig sein, solange sie Sittlichkeit und dem Allgemeinwohl nützlich ist. Hier kommt es zu einer wichtigen Zäsur: Geld steht damit nicht mehr in Opposition zur innerweltlichen Askese. Für Weber zeigen sich vielmehr wesentliche Analogien zum Utilitarismus, wenn es um die „zweckvolle Gestaltung und Einrichtung dieses Kosmos“ (ebd. 2013: 148f.) geht. Reichtum gelte nur noch dann als sündhaft, wenn er zur bloßen passiven Konsumption desselben führt. Dadurch wird unter anderem legitimiert, was in einer christlichen Ethik, wenngleich nicht in der 5 Diesbezüglich
trage ich die Kritik von Habermas nicht mit, der Weber eine Vernachlässigung der „Rationalisierung der Lebenswelt“ gegenüber der „Rationalisierung von Handlungssystemen wie Wirtschaft und Staat“ (Habermas 1981: 456) vorwirft.
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3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
(kirchlichen) Praxis (vgl. Honegger 2015: 35), lange Zeit verpönt war. Arbeit wird als Berufung verstanden und sie wird in der religiösen Ethik zum Selbstzweck. Ergänzend dazu rekonstruiert Weber die Auffassung, dass Besitz verpflichtet, womit die Verantwortung einhergeht, diesen durch Arbeit wiederum zu vermehren. Indem das Streben nach Gewinn als gottgewollt ausgewiesen wird, erfährt es eine Legitimierung. Ausgeschlossen ist aber eine „rein triebhafte Habgier“ (Weber 1991: 180, Hervorh. im Orig.). Solange das Streben nach Reichtum selbst rational ist und eine rationale Investition getätigt wird, ist es auch legitim. Die in der puritanischen Ethik verlangte Einschränkung des Konsums gibt dadurch der Kapitalakkumulation eine religiös-geistige Grundlage. Die innerweltliche Askese beschränkt sich indessen nicht nur auf Berufsarbeit. Darüber hinaus wird ein puritanisch begründetes Nützlichkeitsprinzip, zum Beispiel in den Bereichen Sport, Sexualität oder der Kultur, gefordert (vgl. ebd.: 84, 168, 175ff.; vgl. Bendix 1972: 54). Was sich absolut konträr zur verlangten innerweltlichen Askese verhalte, ist der „triebhafte Lebensgenuss“ (Weber 1991: 176, Hervorh. im Orig.). Festigung der gesellschaftlichen Ordnung Laut Weber vererbt die protestantische Ethik mit ihrer innerweltlichen Askese und der Berufspflicht dem Geist des Kapitalismus eine entscheidende Lebensweise und die rationale Betriebswirtschaft. Eine weitere Weise, in der die protestantische Ethik der kapitalistischen Produktivität zuspielt, besteht in der Legitimierung der gesellschaftlichen Ordnung. Zu diesem Zweck rekonstruiert Weber die protestantische Vorstellung, dass die beruflich-gesellschaftliche Stellung der Unternehmer wie der ArbeiterInnen der Vorsehung Gottes entspricht. Weber attestiert damit der protestantischen Ethik eine große Wirkmächtigkeit für den Geist des Kapitalismus und für die Festigung der gesellschaftlichen Ordnung. Seine Ausführungen bleiben allerdings vage, wenn es darum geht, warum die protestantische Ethik entbehrlich werde. Letztlich würde „die religiöse Wurzel“ (ebd. 1991: 183) absterben. Das Problem bestehe in der „säkularisierenden Wirkung des Besitzes“ (ebd.: 182); doch was ist damit gemeint? Es bleibt in Webers Argumentation unklar, wie es zum Absterben der religiösen Wurzel kommt und warum der Kapitalismus am Ende als Zwangssystem übrig bleibt (vgl. ebd. 2013: 79). In der Sekundärliteratur findet man das Argument, dass die Säkularisierung der calvinistischen Lehre inhärent sei, beziehungsweise gebe es einen „»selbstdefaitistischen« Effekt“ (Deutschmann 2008: 14). So erklärt Deutschmann, dass wenn „der Gläubige sich faktisch selbst zur Instanz seiner eigenen Erlösungsgewissheit macht, […] es bis zur völligen Eliminierung der transzendenten Dimension des Glaubens nur noch ein kleiner Schritt“ (ebd.; vgl. auch Kaesler 2003: 110) ist. Bei
3.2 Rationalisierung und Berechenbarkeit
91
Weber selbst bleibt lückenhaft, wie es zur Säkularisierung kommt und der Kapitalismus zum Zwangssystem wird. Der sich einmal durchgesetzte Kapitalismus bedürfe keiner religiösen „Stütze“ mehr, denn die „äußeren Güter dieser Welt [übernehmen] zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen“ (Weber 1991: 188). Heißt das aber auch, dass der etablierte Kapitalismus allgemein auf keinen Geist mehr angewiesen ist?6 Festhalten lässt sich, dass die protestantische Ethik einen „gewaltigen Vorgang der Säkularisierung“ (Bendix 1964: 57) ausgelöst hat. Übrig bleibt eine für die moderne Kultur grundlegende methodisch-rationale Lebensführung. Diese Form der Lebensführung wird nicht unbedingt als Zwang empfunden, sondern ist in der bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftung mit Sinn verbunden. Das ist eine zentrale Erkenntnis aus Webers Beschäftigung mit der protestantischen Ethik. Weber bietet eine Antwort darauf, warum „trotz der »antimammonistischen« Lehre doch der Geist dieser asketischen Religiosität […] den ökonomischen Rationalismus geboren hat“ (Weber 1991: 246), und zur Legitimität des Geldes beiträgt. Hirschman wird im Folgenden ergänzend hinzugezogen, um einen weiteren Fokus darauf zu legen, welche geistesgeschichtliche Legitimation vollbracht werden musste, damit „Handel, Bankwesen und ähnliche, dem Gelderwerb dienende Tätigkeiten
6 Das
ist zum Beispiel eine Frage, die Boltanski und Chiapello zu ihrem Werk Der neue Geist des Kapitalismus (2013) motiviert hat. Weber spricht nicht eindeutig davon, dass der Kapitalismus zukünftig keiner Ethik mehr bedürfe. Dafür möchte ich ein eher unbekanntes Zitat aus seinen Antikritiken anführen: „Dabei kann selbstredend der Kapitalismus recht bequem existieren, aber entweder, wie heute zunehmend, als eine fatalistisch hingenommene Unvermeidlichkeit, oder […] legitimiert als irgendwie relativ optimales Mittel, aus der […] relativ besten Welt das relativ Beste zu machen. Aber er erscheint gerade den ernsteren Menschen nicht leicht mehr als äußerer Ausdruck eines in einer letzten, geschlossenen und angebbaren, Einheit der Persönlichkeit fundamentierten Lebensstils. Und es wäre ein erheblicher Irrtum, zu glauben, dass dieser Umstand für die Stellung des Kapitalismus innerhalb der Gesamtkultur: seine Kulturwirkungen zunächst, ebenso aber: sein eigenes inneres Wesen und schließlich auch: sein Schicksal, gleichgültig bleiben müsse“ (ebd.: 387f., Hervorh. im Orig.). Welches Schicksal der Kapitalismus nehmen muss oder ob nicht doch ein neuer Geist dieses abwendet, bleibt für Weber eine offene Frage. Anschlussfähig daran ist die Auffassung von Schluchter, dass Weber durchaus auf eine Veränderbarkeit des okzidentalen Rationalismus hinweist: „Die Kontingenzerfahrung des moralischen Bewusstseins basiert nicht mehr, wie noch im Falle der Theodizee, auf der Unvollkommenheit dieser Welt, sondern auf der Unvollkommenheit der »Hinter«- bzw. der Überwelt. Dies ist der systematische Grund, weshalb Weber im modernen okzidentalen Rationalismus ein Bewusstsein formuliert sieht, das universelle Bedeutung und Gültigkeit hat, ohne dass doch sein Inhalt, die mit ihm verbundene besondere Auslegung des Kulturmenschentums, für alle Zeiten und für alle Menschen verbindlich sein könnte“ (Schluchter 1998: 121f., Hervorh. im Orig.).
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3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
ehrbar wurden, nachdem sie jahrhundertelang als Geiz, Gewinnsucht und Habgier verurteilt und verachtet worden sind“ (Hirschman 1987: 17).
3.2.2
Ideengeschichtliche Legitimation rationalen Geldinteresses
Alfred Hirschman untersucht in der Ideengeschichte von Hobbes über Locke zu Smith, wie Gesellschaftskonzepte und Menschenbilder entworfen werden, die einen Zusammenbruch der Gesellschaft zu verhindern beabsichtigen (vgl. Hirschman 1987: 138). Das 17. und 18. Jahrhundert waren instabile Zeiten, geprägt durch Kriege (z. B. Dreißigjähriger Krieg, Französische Revolution etc.). Die Ursache dafür wurde in sogenannten destruktiven Leidenschaften der Menschen gesehen. Dieser Zeit ist die »Erfindung« eines negativen Menschenbildes zuzurechnen, wofür insbesondere Thomas Hobbes Leviathan eine zentrale Rolle eingenommen hat. Ausgehend vom wirkmächtigen Bild des homo homini lupus kommt die Vorstellung auf, dass die dem Menschen zugrunde liegende Gefährlichkeit einer Eindämmung bedürfe. Dementsprechend wird nach wirksamen Methoden gesucht, die menschliches Verhalten kontrollieren und mäßigen. Eine der Erkenntnisse lautet, dass weder moralisierende Philosophien noch die Androhung der Verdammnis durch religiöse Instanzen die »natürlichen Destruktivkräfte« der Menschen hemmen können. Es erfolgt eine Suche nach Mitteln der Regulierung menschlicher Abgründe abseits von Religion und bis dahin gängiger moralisch-philosophischer Konzepte. Laut Hirschman führt diese Suche letztlich zu drei Varianten des Umgangs mit gefährlichen menschlichen Leidenschaften: 1. Zwang und Repression; 2. Instrumentalisierung und 3. wechselseitige Neutralisierung (vgl. ebd.: 23ff.). Als Beispiel für die erste Variante geht Hirschman auf den Gesellschaftsvertrag von Hobbes ein. Hobbes zeichnet den Naturzustand als Kriegszustand, wobei es sich um einen Kampf aller gegen alle handle. Sein Ausgangspunkt ist ein negatives Menschenbild und ein unerträglicher Naturzustand, der überwunden werden soll. Auf diese Weise wird ein Argument dafür geschaffen, einer äußeren autoritären Instanz die Herrschaft über die Menschen zu geben, damit ein friedvolleres Dasein angestrebt werden kann. Erst der Leviathan könne für Ordnung sorgen. Damit bringt dieser Gesellschaftsvertrag zwar gleichzeitig Zwang und Unterwerfung mit sich, sei nach Hobbes aber dennoch dem Naturzustand vorzuziehen. Die zweite Variante besteht in der Idee, menschliche Leidenschaften für das Allgemeinwohl einzuspannen. Adam Smith ginge es darum, eine Ordnung zu rechtfertigen, die dem Schutz der Menschen und dem Allgemeinwohl diene. Hirschmann begreift dies als eine Formulierung zentraler
3.2 Rationalisierung und Berechenbarkeit
93
Grundzüge des wirtschaftlichen Liberalismus (vgl. ebd.: 27).7 Schließlich hätten Moralphilosophen des 17. Jahrhunderts eine dritte Variante angeboten: Leidenschaften können durch andere Leidenschaften bekämpft oder bezähmt werden, womit der gesellschaftliche Fortschritt vorangetrieben werde (vgl. ebd.: 29, 34). Dieser Perspektive liegt die Annahme zugrunde, dass es harmlose und weniger harmlose Leidenschaften gibt. Das Verfolgen von ökonomischen Interessen wird dabei zu den ersteren gezählt, wobei diese eine neutralisierende Wirkung auf gefährlichere Leidenschaften habe. Durch die Zuschreibung »harmlos« wurde möglich, dass Leidenschaften, „die bislang verschiedentlich als Gier, Habsucht oder Gewinnsucht bekannt waren, nutzbringend eingesetzt werden könnten, um andere, wie Ehrgeiz, Machtgier oder sexuelle Begierde zu bekämpfen oder zu zügeln“ (ebd.: 49). Auch für das rationale Geldstreben bedeutet dies, dass die Umdeutung dessen zu einem neutralisierenden und allgemeinwohlfördernden Interesse geistesgeschichtlich legitimiert wird. Die Verheißung „einer von Interessen regierten Welt“ (ebd.: 57) liegt in einer Kalkulierbarkeit, Voraussagbarkeit sowie Beständigkeit in instabilen Zeiten. Nicht nur wird das Verfolgen ökonomischer Interessen als harmlos aufgefasst, es ziehe sogar friedfertige Folgen nach sich. Der Gelderwerb an sich wird zwar nicht unbedingt als positiv erachtet, aber seine Nebenwirkungen (vgl. ebd.: 138). Das ehemals als Habsucht verurteilte Interesse hat daher eine geistesgeschichtliche Legitimation erfahren, weil es neutralisierend wirke und darüber hinaus das Allgemeinwohl fördere. Indem jedes Individuum seine ökonomischen Interessen verfolgt, werde dem Wohl der ganzen Gesellschaft gedient – so der von Smith propagierte Gedanke (vgl. ebd.: 120). Damit werden Voraussetzungen für die Etablierung des kapitalistischen Systems geschaffen8 , welches durch die harmlose Habsucht erreicht, was bald als seine übelste Eigenschaft verurteilt wurde. Denn sobald der Kapitalismus gesiegt hatte […], erschien die Welt auf einmal leer, trist und langweilig, und damit war die Zeit reif für die romantische Kritik an dieser bürgerlichen Ordnung, die im Vergleich zu früheren Epochen jetzt ungeheuer armselig wirkte: Denn dieser neuen Welt schien es an Adel, Größe, Mysterien, vor allem an Leidenschaft zu fehlen. (ebd.: 141, Hervorh. im Orig.)
7 In
der frühen Neuzeit bestand eine relevante Rückbindung des „sozialen und politischen Denkens“ (van Dülmen 1997: 110) an das Konzept des Gemeinwohls. Erst im Zuge eines langen „Umwertungsprozess[es]“ (ebd.: 112) erfolgte eine Legitimierung des Eigennutzes. 8 Vgl. dazu auch Fromm: „So sind zum Beispiel das Streben nach Ruhm und Erfolg und der Trieb zur Arbeit Kräfte, ohne die sich der moderne Kapitalismus nicht hätte entwickeln können“ (Fromm 2020: 16).
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3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Simmels Philosophie des Geldes fokussiert zwar die Genese des Geldes, doch spielen für ihn religiöse, geistesgeschichtliche oder kulturelle Legitimationen in der Durchsetzung der Geldwirtschaft keine Rolle. Die protestantische Ethik ist wichtig um zu verstehen, wie sich Geld durchsetzen konnte und die christliche Tradition der Kritik an Geld relativiert wurde. Damit werden die Perspektiven von Simmel und Weber, trotz unterschiedlicher Herangehensweisen, zusammengeführt. Hirschman bietet eine Weber ergänzende Perspektive an, um die Legitimierung des Geldes nachzuzeichnen. In diesem Zusammenhang verweist er aber auf die Romantik als Reaktion auf die bürgerlich-kapitalistische Welt mit ihren Rationalisierungstendenzen. Doch wie lässt sich romantisches Denken eigentlich soziologisch betrachten und mit Geld in Verbindung bringen?
3.3
Romantisierung und Imagination
Durch die Romantisierung der Welt wird ein originärer Sinn wiedergefunden – darum ging es dem Frühromantiker Novalis, wie auch anderen Repräsentanten dieser Bewegung: Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. (Novalis 1907: 304f.)
Darin eingeschrieben ist die essentialistische Vorstellung eines Sinns. Im romantischen Denken steckt der Zweifel, ob es „die Vernunft vermag, unserem Leben Sinn zu verleihen“ (Illouz 2011: 283), womit eine Entfremdung vom »Ursprünglichen« beklagt wird. Es findet ein Bestreben nach Authentizität, Autonomie, Selbstverwirklichung und originellem Dasein statt. Berlin, auf den ich im Folgenden zentral Bezug nehme, betont die Unmöglichkeit einer verallgemeinernden Definition der Romantik, um zugleich auf die besondere Bedeutung der romantischen Bewegung hinzuweisen: sie sei als radikale Transformation der Gesellschaft zu betrachten (vgl. Berlin 1999: 1).9 Campbell, der sich mit einer Weiterführung 9 Wohingegen
Weiß einen beschränkteren Einfluss der Romantik sieht: „Bereits in ihrer originären Gestalt ist die Romantik, misst man sie an ihren eigenen, sehr weitreichenden Ambitionen, ein großes Projekt ohne umfassende und dauerhafte intellektuelle und sozio-politische Wirkungen geblieben. […] Größere, teilweise auch beträchtliche gesellschaftliche Wirkungen haben nur einzelne, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöste und nicht selten intellektuell degenerierte Motive der romantischen Kulturkritik gezeitigt, und dies häufig im Umkreis dezidiert antiaufklärerischer Bestrebungen“ (Weiß 1986: 291).
3.3 Romantisierung und Imagination
95
von Webers Geist des Kapitalismus befasst und die These einer romantischen Ethik entfaltet, beklagt ebenfalls das Fehlen einer allgemein gültigen Definition der Romantik (vgl. Campbell 2005: 179; vgl. auch Weiß 1986: 287). Grob zusammengefasst kann Romantik, je nach Erklärungszusammenhang, als Reaktion auf oder Korrektiv an der Aufklärung aufgefasst werden. Romantisches Denken ist verknüpft mit dem Anliegen, das Affekt- und Gefühlvolle dem Verstandesmäßigen nicht länger unterzuordnen. Verlangt werden im romantischen Idealismus Opfer für Überzeugungen und für Prinzipien, ohne deren Inhalte durch rationale Überlegungen einzuschränken. Es zählt lediglich das bedingungslose Hingeben zu einem Ideal, „no matter what it was“ (Berlin 1999: 9). Die Romantik setzt sich so ab von der Rationalität der Aufklärung mit ihrer Idee einer universellen Wahrheit. Bei Klinger heißt es: Absolutistische Vergangenheit und bürgerliche Gegenwart werden gleichermaßen als unter dem Vorzeichen des kalten Rationalismus stehend wahrgenommen, in eins gesetzt und negativ bewertet. Die Hauptangriffspunkte bilden das analytische, zergliedernde und zerteilende Denken, das die lebendigen Strukturen und ihre Zusammenhänge tötet, die »normative Gesinnung«, die Rechenhaftigkeit und Seelenlosigkeit – kurzum: das moderne Rationalitätsprinzip in seiner wissenschaftlich-technischen ebenso wie in seiner moralisch-gesellschaftlichen Gestalt. Positiv erscheinen demgegenüber die Zukunft und die ferne Vergangenheit, also entweder die Epoche vor dem Anbruch der Neuzeit, vor den verschiedenen Ausdifferenzierungsprozessen, die ihren Weg charakterisieren, oder die für die Zukunft erhoffte Zeit nach ihrer Überwindung durch eine neue Synthese, auf die die Romantiker hofften. (Klinger 1993: 226)
Im Folgenden nähere ich mich der Romantik auf unterschiedliche Weise an. Nicht alle hier vorgestellten Konzepte beziehen sich explizit auf diesen Begriff. Mit anderen Worten werden auch Theorien behandelt, die nicht vom Begriff »Romantik« ausgehen. Dies gilt beispielsweise für Taylors Diskussion einer „Ethik der Authentizität“ (Taylor 2014: 34), die an dieser Stelle von Bedeutung ist, da darin ein wesentlicher Beitrag zur soziologischen Beschreibung von Romantik und Romantisierung geleistet wird. Anknüpfend an Taylor gehe ich mit lllouz auf das Ideal der romantischen Liebe und die Idee des modernen Selbst ein. Das moderne Selbst war auch bei Simmel Thema (vgl. GSG 6: 493), wie ich oben bereits gezeigt habe. Fraglich ist dabei, wie man in der Moderne mit all ihren Zwängen eine „unverwechselbare Persönlichkeit“ (ebd.: 393) entwickeln kann.10 10 Bei Simmel findet sich die Antwort im Konzept des Lebensstils. Geld trägt mitunter zur Pluralisierung der Lebensstile bei (vgl. Papilloud/Rol 2003: 179) und stellt für Simmel keinen Widersacher der Entfaltung einer eigenen Persönlichkeit dar.
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3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Das Konzept des modernen Selbst hält sich als Ideal bis in die Gegenwart. Nicht nur ist es ein zentrales Motiv romantischen Denkens; hinzu kommt, dass es in einem Spannungsverhältnis zu Geld erscheint. Besser nachgehen lässt sich dieser spannungsreichen Problematik am Beispiel der romantischen Liebe (vgl. Illouz 2011). Nachvollziehen lässt sich außerdem dadurch, wie romantisches Denken ein Deutungsmuster befeuert, das Geld einen ausschließlich schädlichen Charakter zuweist. Daher stellt sich auch die Frage, ob sich ein romantisches Unbehagen in der Moderne gegen Geld und die ihm zugeschriebenen Eigenschaften richtet. Die Bündelung romantischer Motive in eine umfassende Theorie ist nicht Ziel dieser Arbeit und kann auch nicht geleistet werden. Was an dieser Stelle verfolgt wird, ist herauszuarbeiten, wie und warum die Romantik in dieser Form nur der Moderne entspringen konnte und sich gegen einige ihrer Prinzipien richtet. Dafür wird auch dem Verhältnis von Rationalismus und Romantik nachgegangen, allerdings beschränkt sich die Beschreibung des Verhältnisses nicht auf ihren Ursprung. Im darauffolgenden Kapitel befasse ich mich mit der Frage, ob es eine Verschiebung von rationalistischen Motiven und Erklärungsmustern hin zu romantischen gibt. Kommen romantischen Idealen in den letzten Jahrzehnten eine immer größere Bedeutung zu? Welche Auswirkung könnte dies auf den Umgang mit und die Bewertung von Geld haben?
3.3.1
Theorien romantischer Narrative
Ursprünge der Romantik Isaiah Berlin geht davon aus, dass die Romantik einen immensen Einfluss auf das Leben, das Denken und das Bewusstsein in der westlichen Welt genommen hat. Im Folgenden werden seine wichtigsten Argumente aus The Roots of Romanticism (1999) skizziert. Berlin versteht die Romantik als ein Projekt, welches sich gegen die Aufklärung mit ihren Prinzipien der universellen Vernunft, Ordnung und Recht richtet.11 Gleichzeitig weist Berlin darauf hin, dass die industrielle Revolution einen großen Einfluss auf die Romantik genommen hat.12 Die Romantik, verstanden als Protest, wendet sich gegen Universalität und bringt einen Wandel 11 Campbell betrachtet die Romantik zwar zu einem Teil auch als Reaktion gegen die Aufklärung, sieht aber ihre Entstehung auch aus der Aufklärung heraus, um als ihr Korrektiv zu wirken (vgl. Campbell 2005: 179ff.). Oder in den Worten Honeggers: „Die Romantik mokierte sich dann vor allem über die Lichtmetapher, stellte aber auch die Kontrollsucht, das Herrschaftsverhältnis zur Natur und die Religionskritik in Frage“ (Honegger 2012: 80). 12 Folgt man der Argumentation Campbells, hat die Romantik im Umkehrschluss die industrielle Revolution mitbegünstigt (vgl. Campbell 2005: 2).
3.3 Romantisierung und Imagination
97
der Wertvorstellungen und Ideale mit sich. Bedeutend für das romantische Ideal sind Werte wie Integrität, Reinheit, Aufrichtigkeit und Aufopferungsbereitschaft. Hinter der romantischen Absage an die Universalität der Aufklärung steht laut Berlin die Annahme einer allgemeinen Dynamik des Seins: Weil das Leben und das Universum im stetigen Fluss seien, könne es keine allgemeingültigen Werte und Prinzipien geben.13 In der Romantik habe sich in der Konsequenz die Idee verbreitet, dass es keine Lösungen mit universellem Wahrheitsanspruch gibt. Dennoch würde eine Beständigkeit fortbestehen, nämlich die endlose Sehnsucht, die Welt und sich selbst zu begreifen: The brute fact about the universe is that it is not fully expressible, it is not fully exhaustible, it is not at rest, it is in motion; this is the basic datum, and this is what we discover when we discover that the self is something of which we are aware only in effort. Effort is action, action is movement, movement is unfinishable – perpetual movement. (Berlin 1999: 106)
Romantik, interpretiert als Antwort auf die Rationalität der Aufklärung, beabsichtigt eine legitime Bezugnahme auf Emotionalität, das Gefühlvolle und auf Affekte – es impliziert ein anderes Erleben. Was gesucht wird, scheint andernorts zu finden zu sein. Daher gibt es in der Romantik ein großes Interesse für das »Primitive« und »Abgelegene«. Dazu gehört die Erfindung und Exotisierung des »Edlen Wilden«, die Idealisierung des einfachen Lebens und das Präferieren spontaner Aktionen. Vormoderne Gesellschaften und Tugenden werden verehrt und Märtyrertum sowie Heroismus als neue Qualitäten gefeiert (vgl. ebd.: 14, 19, 84). Als weiteres zentrales Element gilt der Rückzug ins Innere des Individuums und die Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Bezugnahme auf Innerlichkeit gründet auf einem Gefühl der Ohnmacht, das überwunden werden soll. Der Rückzug ins Innere stellt den Versuch dar, in sich selbst herzustellen, was in der Welt nicht erreicht werden kann. Man arrangiert sich mit äußeren Gegebenheiten, womit eine besondere Form des Pragmatismus entfaltet wird: If you cannot obtain from the world that which you really desire, you must teach yourself not to want it. If you cannot get what you want, you must teach yourself to want what you can get. This is a very frequent form of spiritual retreat in depth, into a kind of inner citadel, in which you try to lock yourself up against all the fearful ills of the world. (ebd.: 37, Hervorh. im Orig.)
13 In der Verbreitung dieser Perspektive, und im Allgemeinen in der Romantik, ist Herder eine wichtige Figur, insofern er eine kulturalistische beziehungsweise kulturrelativistische Argumentation vertritt (vgl. Berlin 1999: 61ff.).
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3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Zugespitzt meint dies, dass wenn sich die Welt schon nicht verändern lässt, dann wenigstens das Selbst und seine Einstellung zu ihr. Die Suche nach Halt im Rückzug ins Innere verspricht daher, mit den Anforderungen der Moderne und dem ihr zugeschriebenen Gefühl der Ohnmacht umgehen zu können. Das bedeutet gleichzeitig aber auch eine Verabschiedung von der Idee einer Transformation der Gesellschaft zum Besseren. Man zeigt sich bescheiden und zufrieden mit dem Wenigen, was man hat, weil man, vermeintlich, nicht mehr bekommen kann. Die äußeren Gegebenheiten werden nicht in Frage gestellt und somit wird die romantische Kritik zur Affirmation des Bestehenden. Gleichzeitig erlaubt ein romantischer Pragmatismus eine Distanz zur Gesellschaft, worin sein besonderer Reiz liegt. Den Ursprung der Romantik verortet Berlin im Pietismus, welcher sich hauptsächlich in Deutschland verbreitete. Insofern „ein tiefer Abgrund zwischen dem Pietismus und dem Geist der Aufklärung“ (Taylor 2016: 25; vgl. auch Mannheim 1984: 83) besteht, sei es kein Zufall gewesen, dass die romantische Bewegung dermaßen großen Zuspruch in Deutschland gefunden habe. Berlin betrachtet die Romantik als ein im Kern anti-französisches Projekt, welches aus einem Minderwertigkeitsgefühl Deutschlands gegenüber den fortschrittlichen Staaten Westeuropas, vornehmlich Frankreich, erwachsen sei. Gerade aufgrund des anti-französischen Charakters habe sich die Romantik über Deutschland hinaus verbreiten können und auch in England eine einflussreiche Bedeutung eingenommen (vgl. Berlin 1999: 35ff., 49). Eine andere Perspektive wird dagegen von Campbell eingenommen. Dieser behauptet, der englische Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts sei eine gewisse Prä-Romantik gewesen (vgl. Campbell 2005: 179), womit die These Berlins relativiert wird. Mannheim dagegen bezeichnet das „romantische Leben“ als „gesamteuropäisches Phänomen, das ungefähr gleichzeitig in allen europäischen Ländern auftritt“ (Mannheim 1984: 61). Es sei der „besonderen Lage“ Deutschlands geschuldet, dass romantisches Denken dort nach der französischen Revolution in „Revolutionsgegnerschaft, Konservatismus und Reaktion mündet“ (ebd.: 143).14 Wie auch immer die provokante These Berlins zu beurteilen ist, dass es sich bei der Romantik um eine provinzielle Antwort auf die Demütigung Deutschlands durch La Grande Nation15 handelt, soll an dieser Stelle auf das Motiv des Gefühlvollen – bezogen auf den Pietismus als 14 In Deutschland habe die Romantik „seinen prägnantesten und auch radikalsten gedanklichen Ausdruck gefunden […], wogegen es sich in Frankreich und England in erster Linie in der künstlerischen Produktion manifestiert habe“ (Weiß 1986: 287). 15 Die Bezeichnung Frankreichs als La Grande Nation findet sich nur im deutschen Sprachraum und ist im Französischen unbekannt. Es handelt sich nicht um eine französische Selbstbezeichnung, sondern um eine deutsche Zuschreibung (vgl. Gauger 2001).
3.3 Romantisierung und Imagination
99
„Religion des Herzens“ (Taylor 2016: 25) – eingegangen werden. Hier besteht Anschluss an Weber, aber auch an Simmel und Hirschman. Folgt man Weber, dann entspricht der deutsche Pietismus einem „innerlichen Gefühlschristentum“ (Weber 2013: 174). Die stärkere Pflege der Gefühlsseite der Religion im Pietismus steht im Widerspruch zur Pflicht des Rationalen im Puritanismus. Im Puritanismus musste das Triebhafte und Gefühlsmäßige zugunsten der Rationalität überwunden werden, da von den „Begehrungen und Affekte[n] der religiös nicht bearbeiteten rohen Menschennatur“ (ebd. 1991: 322) eine Gefahr ausginge. Gerade die Differenz zwischen dem Triebhaften und dem rationalen Kalkül, ein Merkmal des modernen Kapitalismus, macht für Weber eine wichtige analytische Unterscheidung aus. Das Hervorbringen des modernen Kapitalismus bedurfte einer „rationale[n] Temperierung dieses irrationalen Triebes“ (ebd.: 38). Innerweltliche Askese verspricht derweil, das Triebhafte und Gefühlsmäßige zu überwinden (vgl. Gerhards 1989: 352). Die religiöse Überhöhung des Rationalen, der Triebkontrolle und der Überwindung der Affekte findet einen Höhepunkt in der religiösen Legitimierung des rationalen Geldinteresses im Gegensatz zum triebhaften. Weber führt aus, dass der Utilitarismus von jenem religiösen Zeitgeist des 17. Jahrhunderts ein „ungeheuer gutes […] Gewissen beim Gelderwerb“ (Weber 2013: 197) geerbt habe. Solange Gelderwerb rational und legal sei, sei er auch gottgefällig. Geld erfährt damit durch die protestantische Ethik eine religiöse und für damalige Verhältnisse nicht zu unterschätzende Legitimierung. Die Überwindung des Triebhaften und Gefühlsmäßigen steht im Zentrum der Kritik der Romantik, die Emotionalität, Leidenschaft und Affekte betont. Dem aufklärerischen Rationalismus in Frankreich, mit seiner „Neigung zur formalen Logik, Analytik und Zergliederung, Systematik und Klassifikation“, wird ein „Interesse an der Einzigartigkeit, Differenz und Ganzheit des Lebendigen“ gegenübergestellt und es wird „die Leidenschaft und unmittelbare Erfahrung gegenüber der Vermittlung durch die Vernunft aufgewertet sowie das Interesse an der Innerlichkeit (Kultur) und der Seele des Menschen seiner äußeren Erscheinung (Zivilisation) vorgezogen“ (Schäfer 2015b: 57). Verklärung statt Aufklärung? Sehr allgemein gesprochen ist die Romantik eng verbunden mit Industrialisierung, Rationalisierung, Individualisierung, Aufklärung oder auch Säkularisierung (vgl. Berlin 1999; Campbell 1983/2005; Mannheim 1984), indem sie auf negativ empfundene Tendenzen und Gefahren dieser Momente der Moderne hinweist.
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Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Sie birgt jedoch, bleibt sie bei einem diffusen Unbehagen stehen, ein reaktionäres Potential.16 Mannheim spricht entweder von einem dialektischen oder komplementären Verhältnis zwischen Rationalisierung und Romantik. Als „Komplementärerscheinung“ (Mannheim 1984: 84) zur Rationalisierung hat sie ein „paradoxe[s] Schicksal“: Sie ist als „Gegenströmung strukturell in ihren Fundamenten von den Einstellungen und Methoden der sie hervorbringenden Aufklärung bedingt“ (ebd.: 85). Romantik, verstanden als Kritik an der Moderne, ist grundlegend an ebendiese gekoppelt. Erst die Moderne hat auch die Möglichkeit der Kritik an ihr hervorgebracht. Die Romantik trägt laut Mannheim allerdings die Gefahr in sich, „rückläufig“ zu werden, was er als ein „Sich-Überschlagen des Rationalistischen ins Irrationalistische“ (ebd.) beschreibt. Taylor weist ebenfalls kritisch auf die Entwicklung der romantischen Bewegung und ihr ursprüngliches Potential hin. Für Taylor ist die Vorstellung eines einzigartigen Selbst und seine nicht vorhergesehene und nicht vorgeschriebene Verwirklichung ein Erbe der romantischen Bewegung. Diese Vorstellung ist ein wesentlicher Teil des zeitgenössischen Glaubens an individuelle Freiheit. Damit, folgt man Taylor, bleibt diese romantische Idee in der modernen westlichen Kultur erhalten. Taylor problematisiert indessen, dass sich dieses Ideal auf das Private beschränke, wodurch eine Kluft zum Öffentlichen entstehe: Seit der romantischen Periode haftet der modernen Identität ein Unbehagen an. Viele unserer Zeitgenossen betrachten sich selbst in erster Linie als Individuen mit bestimmten Bedürfnissen und Zielen und ihre Gesellschaft als gemeinschaftliches Unternehmen der Produktion, des Austausches und, idealerweise, auch der gegenseitigen Hilfe bei der Erfüllung ihrer vorhandenen Bedürfnisse, so dass die wichtigen Tugenden der Gesellschaft rationale Organisation, Gerechtigkeit im Hinblick auf die Verteilung die Sicherung individueller Unabhängigkeit sind. Zugleich empfinden viele – und oft dieselben Menschen – eine tiefe Unangemessenheit der modernen Gesellschaft, ein Unbehagen, das sich schon im Protest der Romantiker artikulierte. (Taylor 2016: 713)
Laut Taylor charakterisiert den romantischen Protest eine Sehnsucht nach dem Vergangenen. Mit Mannheim ausgedrückt manifestiert sich in diesem Protest ein 16 Sehr düster wird es von Adorno gezeichnet: „Man kann von der Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt reden, einem Gefühl des Eingesperrtseins in einem durch und durch vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang. Je dichter das Netz, desto mehr will man heraus, während gerade seine Dichte verwehrt, dass man herauskann. Das verstärkt die Wut gegen die Zivilisation. Gewalttätig und irrational wird gegen sie aufbegehrt. […] Soziologisch möchte ich wagen, dem hinzuzufügen, dass unsere Gesellschaft, während sie immer mehr sich integriert, zugleich Zerfallstendenzen ausbrütet“ (Adorno 1970: 94f.).
3.3 Romantisierung und Imagination
101
„Ehrgefühl dem Vergangenen“ (Mannheim 1984: 155) gegenüber. Findet man in der Romantik Verklärung statt Aufklärung und damit Potential für Konservatismus und Reaktion? Ganz so einseitig sieht es Taylor nicht. Er führt aus, dass dieser Protest dennoch die Entschlossenheit enthalte, eine beispiellose Zukunft zu verwirklichen, obwohl er sich „nicht mit der Rationalität des Wirklichen“ (Taylor 2016: 714) befasse. Es scheint demzufolge verkürzt, romantisches Denken als ausschließlich anti-emanzipatorisch zu beurteilen, wie dies von Berlin nahegelegt wird. Als Korrektiv der Moderne kann romantische Kritik progressiv gewendet werden, auch wenn es ein brüchiges Unterfangen darstellt. Mit Mannheim formuliert: Es bedeutet also in der Tat den ersten Schritt zur Korrektur, wenn man die Leistungsfähigkeit des Denkens dadurch zu steigern versucht, dass man von mehreren Positionen aus zu denken bestrebt ist und die Welt aus mehreren Prinzipien zu erfassen unternimmt. (Mannheim 1984: 171)
Die romantische Bewegung wollte, folgt man Mannheim weiter, die „irrationalen, verdrängten Lebensmächte retten, indem sie sich ihrer annahm, merkte aber nicht, dass sie gerade dadurch, dass sie sich bewusst auf sie richtete, sie gleichfalls rationalisierte“ (Mannheim 1984: 85, Hervorh. im Orig.). Zwar verhalten sich Rationalismus und Romantik gegensätzlich, ergänzen sich aber auch oder stützen sich sogar gegenseitig. Teil des politischen wie kulturellen Programms der Moderne sind damit „unübersehbare Antinomien“ (Eisenstadt 2008: 24), die zu einer gewissen Dynamik beitragen. Die romantische Bewegung ist ebenfalls gekennzeichnet durch Widersprüche und es lässt sich keine in sich logische Einheitlichkeit ausmachen, was zum Teil die Attraktivität romantischer Ideen ausmacht. Festhalten lässt sich also, dass es sich bei der Romantik um ein modernes Konzept handelt, dessen Definition sich als anspruchsvoll gestaltet. An dieser Stelle möchte ich für meine Untersuchung deshalb weiter vertiefen, welche Inhalte, Motive und Konzepte romantisches Denken beinhaltet. Was ist gemeint mit der Suche nach dem »Ursprünglichen«, mit dem modernen Selbst oder mit der Betonung von Gefühlen – und wie hängt dies mit Geld zusammen? Anhand Studien von Taylor und Illouz arbeite ich heraus, inwiefern Ideen, die der Romantik entstammen, gesellschaftliche Relevanz bis in die Gegenwart herausbilden.
102
3.3.2
3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Gegenwartsgesellschaftliche Relevanz romantischer Ideale
Ethik der Authentizität Ein zentrales Element von Charles Taylors Analyse der Romantik besteht in der von ihm so benannten „Ethik der Authentizität“ (Taylor 2014: 34). Er verortet ihren Ursprung im 19. Jahrhundert, allerdings fänden sich vorgängige Ideen in frühen Formen des Individualismus, wie bei Descartes und Locke. Gleichzeitig bezeichnet Taylor das Konzept der Authentizität als „Kind der Romantik“ (ebd.: 34). Die authentische Ethik bringe das Gebot mit sich, sich selber treu zu sein und ein originelles „Gefühl des Daseins“ (ebd.: 104) herzustellen. Verloren gegangen sei eine Zugehörigkeit zu „einem umfassenderen Ganzen“ (ebd.): Nicht zufälligerweise verknüpft romantisches Denken die Suche nach dem Selbst mit einer Verbindung zur Natur, welche dieses verlustig gewordene Gefühl verkörpert. Teil der Ethik der Authentizität stellt eine spezifisch moderne Vorstellung des Selbst dar, das einer Vervollkommnung bedürfe. Das eigene Dasein werde nicht mehr durch Gott oder eine philosophische Idee des Guten vollendet, vielmehr werde der moralische Bezugspunkt durch eine „neue Form von Innerlichkeit“ (ebd.: 35) hergestellt. Im Ideal der Authentizität kommt die Vorstellung der Einzigartigkeit der Menschen auf. Dies lässt sich auf Herder, laut Berlin der wahre Vater der Romantik (vgl. Berlin 1999: 57), zurückführen. Jede Person müsse ihre „eigene originelle Weise des Menschseins“ (Taylor 2014: 38) finden und könne sich nicht mehr, wie in Feudalzeiten, auf die soziale Stellung berufen. Die Idee, auf eine „bestimmte Weise […] Mensch zu sein“ (ebd.: 38) und sich selbst treu zu sein, hat sich in der Moderne ausgebreitet. Zu den Prinzipien der Aufklärung gehört, dass der Mensch „frei ist, zu denken und sich selbst zu bestimmen. […] In der Romantik kam die Maxime hinzu, dass der Mensch einzigartig ist“ (Abels 2010: 153). Dies impliziert im Weiteren eine besondere Form der Anerkennung durch andere, welche diese Originalität erkennen und bestätigen müssen. Taylor verbindet Authentizität mit einem Unbehagen an der Moderne. Ausgehend von einem diffusen Gefühl eines Verfallsprozesses seit dem Beginn der Moderne gehöre die Überhöhung der Natur und eine Ablehnung gegen die (technische) Zivilisation zum romantischen Narrativ. Bedauert werden der Verlust der Natur und dem „eigenen natürlichen Wesen“ (Taylor 2014: 196) oder gar der Kampf dagegen:
3.3 Romantisierung und Imagination
103
Diese Klage über die »Entzauberung« der Welt ist immer wieder artikuliert worden, seit man in der Romantik deutlich empfand, dass die Menschen durch die neuzeitliche Vernunft dreierlei Trennungen erlitten haben: in ihrem Inneren, untereinander und von der natürlichen Umwelt. (ebd.: 106)
Dieses Gefühl sei variantenreich in der Moderne zu finden und zeige sich exemplarisch in einer Bewunderung vorindustrieller Gemeinschaften im Gegensatz zur modernen Gesellschaft. Auf die Gegenwart bezogen beschreibt Taylor unterschiedliche Bereiche im gewöhnlichen Leben, in denen Authentizität gesucht wird, zum Beispiel in der Arbeit, der Familie oder auch in der Liebe (vgl. ebd.: 54); eine besondere Bedeutung liegt derweil in der Suche nach Authentizität und Anerkennung in menschlichen Beziehungen: „Auf der Ebene des Privatlebens können wir sehen, in welchem Maße die originelle Identität der von anderen gewährten Anerkennung bedarf und wie verletzlich sie ist, wenn diese Anerkennung verweigert wird“ (ebd.: 59). In den nachfolgenden Ausführungen wird mit Illouz ein Blick auf das Ideal der romantischen Liebe in der Moderne geworfen, um es mit Taylors Ethik der Authentizität zu verknüpfen. Dafür rücken das Konzept des »Selbst« und seine Idealisierung in den Vordergrund. Besonderheit der Liebe Die Idee, dass es so etwas wie das Selbst gibt und vor allem auch: geben sollte, ist eine moderne Erfindung (vgl. Wagner 1995: 99). Sie konnte insbesondere in und durch die Romantik Verbreitung finden. Der moderne Begriff des Selbst entsteht im 17. Jahrhundert (vgl. Taylor 2016: 16). Seine romantische Version impliziert eine Loslösung von der gesellschaftlichen und religiösen Positionierung innerhalb der feudalen Struktur. Nun ist jede Person dazu angehalten, ein originelles und authentisches Dasein und differenziertes Selbst zu finden, wie auch Simmel ausführt (vgl. GSG 6: 493). Durch die Vorstellung, dass das Selbst nicht mehr von der gesellschaftlichen, familiären oder religiösen Positionierung abhängig ist, wird eine Essentialisierung vollzogen (vgl. Illouz 2011: 68). Die Suche nach dem authentischen Selbst ist verknüpft mit der nach Selbstverwirklichung. Nicht nur kann man sich vervollkommnen, sondern man muss dies auch tun. Das ist eine Forderung der „Ethik der Authentizität“ (Taylor 2014: 34). Entscheidend für die Einordnung der Romantik ist, dass diese Forderung, wenn auch ihrem Anspruch nach universal, in ihrer Umsetzung sich auf das westliche weiße OberschichtenSelbst beschränkt, womit das Streben nach dem Selbst zumindest in der Praxis ein elitäres Konzept bleibt.
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Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Eva Illouz geht davon aus, dass es sich bei diesem Konzept um einen nie abzuschließenden Prozess handelt, denn „das kulturelle Ideal der Selbstverwirklichung erfordert, dass die eigenen Optionen für immer offengehalten werden“ (Illouz 2011: 189). Entfaltet wird dadurch ein beträchtliches kulturelles Antriebsmoment. Die Suche nach dem Selbst und einem authentisch-originellen Dasein findet im privaten wie im öffentlichen Leben statt. Im Privaten zeigt sich die romantische Vorstellung in einem „gefühlvolle[n] Selbst voller Sehnsüchte nach Authentizität, durch die Emotionen, Einbildungen und Tagträumereien ausgelöst werden“ (ebd.: 374). Prädestiniert für die Umsetzung dieser Ideale ist schließlich die Liebe. Nicht nur soll man ein originelles Dasein entwickeln und vervollkommnen, genau dafür soll man von anderen auch anerkannt und wertgeschätzt werden. Das Selbst und seine Anerkennung ist an gesellschaftliche Strukturen gebunden, auf einer diskursiven Ebene gibt es jedoch die Vorstellung, dass beides individualisiert hervorzubringen ist. Ein individualisiertes Deutungsmuster des Selbst negiert, dass Anerkennung gesellschaftliche Voraussetzungen hat (vgl. Honneth 1994: 148ff.). Zum einen ist das Ideal der Selbstverwirklichung kulturell geformt, und zum anderen stellt es einen sozialen Prozess dar. Es ist nicht unabhängig von Klasse, Geschlecht oder Ethnie. Beides, das Selbst und Anerkennung, sind allgemein gesprochen von sozialen Strukturen abhängig, auch wenn im romantischen Ideal der Authentizität Gegenteiliges suggeriert wird. Anerkennung ist ein fortlaufender Prozess im gesellschaftlichen Kontext, in dem es eine Rückversicherung durch andere braucht. Illouz betont hierbei einen grundlegenden Unterschied zur Vormoderne: Anerkennung ist den Interaktionen nicht mehr (nur) vorangestellt, etwa durch die gesellschaftliche Positionierung; stattdessen bildet sich der soziale Wert „in ihnen und durch sie“ (Illouz 2011: 222; vgl. auch Fraser 2015: 19).17 Illouz argumentiert, dass das Selbst in der Moderne vor das Problem gestellt wird, mit weitaus widersprüchlicheren und anspruchsvolleren Anforderungen umgehen zu müssen als in der Vormoderne. Das romantische Ideal der Liebe verspreche allerdings, diesen Anforderungen nach Authentizität und Anerkennung gerecht zu werden. Liebe eröffne eine Sphäre für das „ganze Selbst“ (Illouz 2011: 438): Hier würde man als »ganzer Mensch« wertgeschätzt. Romantische Liebe, so gefasst, ist wesentlich eine Erfindung der Moderne (vgl. auch Luhmann 1982; Paul 2017: 200). In Abgrenzung zur Rationalisierung und dem, was ihr zugeschrieben wird, entsteht erst die Auffassung, dass in den „intimen Beziehungen des Menschen das Lebendige pulsiert“ (Mannheim 1984: 84, Hervorh. im 17 Auch andere soziologische Untersuchungen problematisieren die Leugnung struktureller Voraussetzungen zum Beispiel für den Imperativ der Selbstverwirklichung, ein eigenverantwortliches Selbstwertgefühl oder Glück generell (vgl. u. a. Bröckling 2007; Duttweiler 2007).
3.4 Moderne Lebensführung
105
Orig.). Ein romantisches Unbehagen gegenüber der Moderne, oder anders ausgedrückt der sozial differenzierten Gesellschaft, bringt das Ideal von Authentizität und Einzigartigkeit mit sich, welches in der Liebe – oder auch in Freundschaften – gesucht wird. Die zunehmende soziale Differenzierung in der Moderne schafft damit den als „»besonders« gedachten lebensweltlichen Raum“ (Schneider et al. 2005: 205). Die Voraussetzungen für Liebe und Eheschließungen in der Vormoderne entsprechen nicht der Vorstellung, dass man eine Person nach Maßstäben der romantischen Liebe auswählt. Es handelt sich um einen zentralen Transformationsprozess in der Gesellschaft, an dessen Ende sich das Ideal der interessenlosen und romantischen Liebe etablieren konnte. Das moderne Ideal der romantischen Liebe fordert ein, dass man eine andere Person für charakterliche, emotionale und intellektuelle Eigenschaften und Fähigkeiten lieben soll. Liebe bedeutet demzufolge eine Anerkennung der eigenen spezifischen Persönlichkeit und der je anderen. Anerkennung ist aber nie vollständig möglich, weshalb auch menschliche Intimbeziehungen zu einem permanenten Kampf werden (können). Ein Gefühl der Einzigartigkeit ist für das Ideal der romantischen Liebe konstitutiv. Für sein besonderes Selbst nicht nur Anerkennung zu erfahren, sondern gar geliebt zu werden, bewirkt in besonderem Maße eine Erhöhung des Selbstwertgefühls. Liebe und ihr romantisches Ideal sind kurzum hochgradig komplexe Prozesse und bringen Widersprüche, Bedrohungen für und hohe Ansprüche an das Selbst hervor. In der Liebe zeigen sich daher die „Dilemmata der Moderne“ mit den zentralen Elementen „Authentizität, Autonomie, Gleichheit, Freiheit, Bindung und Verpflichtung sowie Selbstverwirklichung“ (Illouz 2011: 22f.).18
3.4
Moderne Lebensführung
3.4.1
Erosion der protestantischen Ethik?
Im Folgenden wird der Fokus auf gegenwärtige soziologische Beschreibungen des Verhältnisses zwischen Rationalisierung und Romantisierung gelegt. Dafür konzentriere ich mich auf die Ebene der Lebensführung und Anforderungen daran, die ihren Ursprung im romantischen Denken haben. Es ist soziologisch erkenntnisreich, die These zu analysieren und empirisch zu prüfen, ob sich romantische Motive zu einem wirkmächtigen Deutungsmuster verdichtet haben. Reartikulieren 18 Im
Buch Der Konsum der Romantik finden sich weitere Schlagworte wie zum Beispiel „Informalität“ (Illouz 2014: : 277), „Spontaneität“ (ebd.: 285), „Originalität und Kreativität“ (ebd.: 279). Die Vorstellung der „Liebe als Differenz“ (ebd.: 276) ist auch für Illouz vor dem Hintergrund der Entzauberung der Welt zu interpretieren (vgl. ebd.: 319).
106
3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
sich romantische Motive in einer neuen Ethik oder Lebensweise? Was würde ein Bedeutungsgewinn romantischer Ideale für die kulturelle Bedeutung des Geldes implizieren? Campbell beobachtet in den 1960er und 1970er Jahren innerhalb des akademischen Systems eine von Studierenden initiierte Gegenbewegung, die romantische Ideen beinhalte, woraufhin er sich mit »Romantik« auseinandersetzte.19 Es ging ihm darum, die Annahme zu prüfen, ob „modern societies would continue to progress down the road of rationality, materialism and secularity“ (Campbell 2005: 3). Analog zu Webers Vorgehen rekonstruiert er eine romantische Ethik, die mit dem modernen Konsum der 1960er Jahre eng verbunden sei, die protestantische Ethik aber nicht ablöse (vgl. ebd.: 5ff.; ebd. 1983). Bourdieu vermutet Ähnliches, wenn er über den Zusammenhang einer „emanzipatorische[n] Moral“ und dem „perfekten Verbraucher“ (Bourdieu 2013: 584) spekuliert: Der Moral der Pflicht, die sich auf den Gegensatz von Vergnügen und Gutem stützt, Lust und Angenehmes generell unter Verdacht stellt, zur Angst vorm Genießen und einer Beziehung zum Körper führt, die ganz aus »Scheu«, »Scham« und »Zurückhaltung« besteht und jede Befriedigung verbotener Impulse mit Schuldgefühlen begleitet, stellt die neue ethische Avantgarde eine Moral der Pflicht zum Genuss gegenüber, die dazu führt, dass jede Unfähigkeit sich zu »amüsieren«, to have fun oder, wie man heute mit leichtem inneren Beben zu sagen liebt, »zu genießen«, als Misserfolg empfunden wird, der das Selbstwertgefühl bedroht, so dass aus Gründen, die sich weniger ethisch als wissenschaftlich geben, Genuss nicht nur erlaubt, sondern geradezu vorgeschrieben ist. (ebd.: 575f., Hervorh. im Orig.)
Robert Schäfer interessiert sich für die Frage, ob die protestantische Ethik einem Erosionsprozess ausgesetzt ist und von einer neuen ethischen, und zwar romantischen, Ordnung – mit den Idealen Autonomie, Originalität oder Authentizität – abgelöst werde. Gibt es eine „artistische Form der Lebensführung, die an genuin ästhetischen Idealen orientiert ist“ (Schäfer 2015a: 187)? Im asketischen Protestantismus geht es darum, das Gefühlsmäßige und Triebhafte durch eine „systematisch durchgebildete Methode rationaler Lebensführung“ (Weber 2013: 156) zu überwinden. Sich aktiv selbst zu beherrschen, kühl und überlegt zu handeln soll dazu befähigen, sich nicht von Affekten leiten zu lassen, um die „Unbefangenheit des triebhaften Lebensgenusses“ (ebd.) zu vernichten. Schäfer verfolgt daran anknüpfend die These, dass die innerweltliche Askese, als Bezeichnung für die Lebensführung der protestantischen Ethik, und die artistische
19 Auch zum Beispiel Schimank wendet sich der Erscheinungsform neoromantischer Motive zu, die sich im ökologischen Protest artikulieren (vgl. Schimank 1983).
3.4 Moderne Lebensführung
107
Lebensführung20 , das romantische Pendant dazu, sich auf der inhaltlichen Ebene antagonistisch verhalten würden. Aufgrund der „Exaktheit der Verkehrungen“ vermutet er eine „Einheit auf einer grundlegenderen Ebene“ (Schäfer 2015a: 190). Die protestantische und die romantische Ethik, die sich komplementär zueinander verhielten, zählt Schäfer zur universalgeschichtlichen Rationalisierung (vgl. ebd.: 210). Anhand der Theorien von Boltanski/Chiapello, Reckwitz, Oevermann und Taylor arbeitet der Autor die These heraus, dass sich gerade seit den 1960er Jahren eine Ethik etablieren konnte, deren Ursprung in der Romantik im 19. Jahrhundert zu verorten sei. Diese Theorien geben verschiedene Antworten auf die Frage nach der Funktion der romantischen Ethik in der modernen Gesellschaft: Sei es, dass die romantische Ethik als neuer Geist des Kapitalismus ausgewiesen werde (Boltanski/Chiapello); sei es, dass sich bei einer erodierenden Arbeitsethik aufgrund struktureller Arbeitslosigkeit eine artistische Bewährung durchsetze (Oevermann); sei es, dass die artistische Lebensführung Erfahrungen der Fülle in einer säkularisierenden Welt ermögliche (Taylor); oder sei es, dass eine romantische Ethik eine Reaktion auf Affekt- und damit Motivationsmangel in der Moderne biete (Reckwitz). An all diesen Ausführungen kritisiert Schäfer, dass sie eine Antwort auf die Funktion der artistischen Lebensführung geben, jedoch nicht auf deren Ausgestaltung eingehen (vgl. ebd.: 202ff.). Sogleich davon zu sprechen, dass die Rationalisierung allmählich erodiere und von einer neuen Ethik ersetzt werde, wird damit auch von Schäfer in Frage gestellt. Wie konnte es dazu kommen, dass eine Lebensführung, die einst einer elitären Bohème vorbehalten war, sich in der modernen Gesellschaft verbreiten konnte?21 Die Studie Der neue Geist des Kapitalismus bietet wichtige Anknüpfungspunkte, um moderne Formen der Lebensführung hinsichtlich rationalistischer und romantischer Motive und Erklärungsansätze weiter zu beleuchten.
20 Habermas sieht „[a]utonome Kunst und expressive Selbstdarstellung der Subjektivität“ in einem „komplementären Verhältnis zur Rationalisierung des Alltags“. Die „ästhetisch geprägte Gegenkultur“ gehöre „zum Ganzen der rationalisierten Kultur“ (Habermas 1981: 231). 21 Für Campbell ist die Figur des »Bohème« die idealtypische Verkörperung romantischer Ideale (vgl. Campbell 2005: 195) – dies mag aber nicht für die reaktionär-konservativen Strömungen gelten, welche sich aus der Romantik ergeben haben, denen diese Form des »dekadenten Hedonismus« besonders verhasst sein muss.
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3.4.2
3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Der neue Geist des Kapitalismus
Der neue Geist des Kapitalismus (2013) befasst sich mit der Dialektik zwischen kapitalistischem Geist und antikapitalistischer Kritik. Luc Boltanski und Ève Chiapello stützen sich auf Webers Theorie und Vorgehen. Sie zeigen anhand der Kritik am Kapitalismus, wie diese vom kapitalistischen Geist vereinnahmt und adaptiert wird und somit ungeahnte Folgen mit sich bringt. Künstlerkritische Forderungen, in Folge eines subtilen Wert- und Bedeutungswandels, würden damit in den Dienst der kapitalistischen Akkumulation treten. Ob es nun eine unhintergehbare Dialektik zwischen Kritik und Kapitalismus gibt, wie Boltanski und Chiapello nahelegen, ist an dieser Stelle nicht weiter von Relevanz. Mein Vorgehen beabsichtigt indessen, die Theorie von Boltanski und Chiapello auf die Bedeutungszunahme romantischer Elemente zu prüfen. Ihr Konzept der Künstlerkritik speist sich aus Ideen, die der Romantik entstammen, und diese spielen in der modernen Lebensweise eine zunehmend wichtigere Rolle. Ausgangssituation und Fragestellungen Boltanski und Chiapello schildern folgende Ausgangssituation ihrer Untersuchung: In den 1960 und 70er Jahren befanden sich in Frankreich das Kapital und die kapitalistische Produktionsweise in einer schweren Krise. Die Produktivitätsgewinne gerieten im Gegensatz zu den höheren Arbeitslöhnen ins Stocken und es zeichnete sich eine Umbruchphase der materiellen Verhältnisse ab (vgl. Boltanski/Chiapello 2013: 123, 224). Gleichzeitig waren die Jahre geprägt von einer starken Protestbewegung, und insbesondere die ArbeiterInnen hätten einen großen Druck auf die Unternehmen ausgeübt. Ab den 1980er Jahren kehrt laut Boltanski und Chiapello wieder Ruhe und Ordnung in die kapitalistischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ein (vgl. ebd.: 214, 313). Vor diesem Hintergrund werfen sie die Fragen auf, wie sich der Kapitalismus von seiner Krise erholen konnte und welche Produktionsveränderungen vorgenommen wurden, welche Umbrüche der kapitalistische Geist durchgemacht hat und wie die einst starke antikapitalistische Kritik in den 1960er und 70er Jahren abgeschwächt wurde. Das Grundkonzept ihrer Theorie besteht in der Annahme, dass der Kapitalismus weder als reines Zwangssystem zu begreifen noch ausschließlich materiell-motivational erklärbar ist, sondern nach wie vor auf eine Ideologie angewiesen ist. Damit beziehen sie sich auf Weber und gehen gleichzeitig auf Distanz zu ihm, da sie seine These bestreiten, dass der Kapitalismus nach seiner Etablierung keines Geistes mehr bedürfe.22 22 Oben habe ich allerdings dargelegt, dass Weber in diesem Punkt gar nicht so eindeutig ist.
3.4 Moderne Lebensführung
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Auch nach der Durchsetzung des Kapitalismus sei dieser auf moralische Rechtfertigungen angewiesen, um eine engagierte Teilnahme am kapitalistischen System hervorrufen zu können. Die innerweltliche Askese beziehungsweise Rationalisierung als Erbe reicht dafür nicht aus. Insbesondere in Umbruchphasen des Kapitalismus bedürfe es einer ideologisch gefestigten Absicherung. Das kapitalistische Zeitalter – um Marx’ Charakterisierung in Erinnerung zu rufen – zeichnet sich durch eine „fortwährende Umwälzung der Produktion, […] ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, […] ewige Unsicherheit und Bewegung“ (MEW 4: 465) aus – also durch fortlaufende Veränderungen und Krisen. Boltanski und Chiapello gehen davon aus, dass das ideologische System und der kapitalistische Akkumulationsprozess Wandlungen und Anpassungen unterworfen sind. Der Geist des Kapitalismus solle zu einer subjektiven Teilnahme motivieren, müsse sich aber auch als System ausweisen, das dem Gemeinwohl diene (vgl. Boltanski/Chiapello 2013: 45ff.). Die Hauptthese Boltanskis und Chiapellos besagt, dass die antikapitalistische Kritik als „Motor für die Veränderungen des kapitalistischen Geistes“ (ebd.: 68) fungiere. Sie argumentieren, dass der Geist des Kapitalismus, gerade weil er sich nicht aus sich selbst heraus als moralisch ausweisen kann, auch in kritischen Positionen ihm gegenüber Legitimation findet. Damit ist er von eigentlich kapitalismusfeindlichen Ideen durchsetzt, was dazu beiträgt, dass die bestehende Ordnung gestützt wird (vgl. ebd.: 534). Um ihre These zu untermauern, untersuchen sie Managementliteratur der 1990er Jahre und ziehen daraus Rückschlüsse für den kapitalistischen Geist (vgl. ebd.: 91ff.). Sozialkritik und Künstlerkritik Als Analyserahmen für die Entwicklung und Veränderungen des kapitalistischen Geistes und seiner Kritik wird von Boltanski und Chiapello eine Unterscheidung des antikapitalistischen Protests in Sozial- und Künstlerkritik vorgeschlagen. In den letzten zweihundert Jahren habe sich die antikapitalistische Kritik aus den gleichen „Quellen der Empörung“ genährt: Erstens „Entzauberung und fehlende Authentizität“, zweitens „Unterdrückung“ von „Freiheit, Autonomie und Kreativität“, drittens „Armut“ und „Ungleichheiten“ sowie viertens „Opportunismus“ und „Egoismus“ (ebd.: 70). Zum Hauptträger der Sozialkritik zählen sie die ArbeiterInnenbewegung, welche Ungleichheiten, Armut und Ausbeutung sowie egoistische Partikularinteressen ins Zentrum ihrer Analyse stellte und bekämpfte. Ihre Kritik speist sich somit aus den beiden letzten Empörungsquellen. Der zweite Typus, die Künstlerkritik, habe sich in kleinen und elitären Künstler- und Intellektuellenkreisen im 19. Jahrhundert formiert. Ihr Fokus lag auf der Unterdrückungs-
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3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
und Uniformierungserfahrung in einer kapitalistischen Welt.23 Angestrebt wurde eine „Befreiung von allen denkbaren Zwangsformen“ (ebd.: 467). Steht im Zentrum der Künstlerkritik vornehmlich Autonomie und Sicherheit, stellt Solidarität das Ideal der Sozialkritik dar (vgl. ebd. 2001: 468). In anderen Worten wird in der Künstlerkritik bevorzugt Herrschaft anstatt Ausbeutung angeprangert. Die Kritik der ehemaligen Bohème fristete aber lange Zeit ein marginales Dasein in den Protestbewegungen. Im Zuge der 1968er-Proteste vermochte sich jedoch die Künstlerkritik zu etablieren, so dass nicht mehr nur KünstlerInnen und Intellektuelle zu ihren TrägerInnen gehörten. Autonomie- und Sicherheitsforderungen unterschiedlichen Ursprungs hätten, so argumentieren Boltanski und Chiapello, im Ineinanderwirken der Studierenden- und ArbeiterInnenproteste während und nach 1968 zusammengefunden. Die sehr offensive soziale Bewegung zwischen 1968 und 1978 sei schließlich in der Lage gewesen, die Produktion anzugreifen, wodurch die KapitalistInnen in Bedrängnis gerieten. (Bummel-)Streiks, Demonstrationen, offene und zum Teil gewaltsame Konflikte, Arbeitsfehlzeiten sowie Kündigungswellen etc. schlagen sich auf die Produktionskosten nieder (vgl. ebd. 2013: 221f.). Mit verbesserten Lohn- und Arbeitsplatzsicherheiten sollte der Protest geschwächt werden, doch erst als die „innovationsfreundlichen Fraktionen“ die Krise nicht mehr als Sozialkritik, sondern vielmehr als Künstlerkritik deuteten, also als „ein Aufbegehren gegen entfremdende Arbeitsbedingungen und traditionelle Autoritätsformen“ (ebd.: 227), und darauf eingingen, sei eine Stabilisierung der kapitalistischen Ordnung erfolgt. Lebensführung und Akkumulationsregime Die Verlagerung der Sozialfrage auf das „Problem der Arbeitsverhältnisse“ (ebd.: 241) begünstigte eine Individualisierung der Arbeitsbedingungen und Besoldungssysteme. Eine Folge der Veränderungen in den Arbeits- und Produktionsverhältnissen ist zum Beispiel die Ablösung bisheriger Kontrollformen durch verstärkte Selbstkontrolle. Verlagert werden unternehmerische Probleme auf die Angestellten selber, denen damit eine größere Verantwortung zugesprochen und 23 Dem Künstler des 19. Jahrhunderts sei es um „eine Freisetzung des unterdrückten Wunsches [gegangen], jemand anderes zu sein, nicht der zu sein, der von anderen […] als Projekt konzipiert wurde, so zu sein, wie man es zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sein wünscht“ (Boltanski/Chiapello 2013: 467). Auch bei Simmel wird Kunst idealerweise als nicht-entfremdete Sphäre wahrgenommen: „Diese Geschlossenheit des Kunstwerks aber bedeutet, dass eine subjektive Seeleneinheit in ihm zum Ausdruck kommt; das Kunstwerk fordert nur einen Menschen, diesen aber ganz und seiner zentralsten Innerlichkeit nach: es vergilt sich dadurch, dass seine Form ihm der reinste Spiegel und Ausdruck des Subjekts zu sein gestattet“ (GSG 6: 630, Hervorh. im Orig.).
3.4 Moderne Lebensführung
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versprochen wird. Das Interessante daran ist, dass die Forderung nach Flexibilität von den Unternehmen und den ArbeiterInnen formuliert wird, denn als Teil der Künstlerkritik werden starre Strukturen wie vorgeschriebene Arbeitszeiten, die privaten Bedürfnissen widersprechen würden, in Frage gestellt. Fundamentale Transformationen der Arbeitsverhältnisse haben zu niedrigeren Lohnkosten und höheren Produktionsgewinnen geführt sowie auch zur Entwicklung und Verbreitung weiterer Ausbeutungsformen beigetragen. Gleichzeitig soll, wie es Bauman bezeichnend nennt, einer „nostalgischen Sehnsucht nach Wärme und Zugehörigkeit“ (Bauman 2017: 72) entsprochen werden. Wurden im tayloristischen Zeitalter Menschen wie Maschinen behandelt, gelingt ab den 1970er Jahren eine verstärkte Instrumentalisierung des „eigentlichen Menschsein“ (Boltanski/Chiapello 2013: 145) für die Arbeitswelt, ein grundlegender Gegensatz zur Maxime in der Romantik.24 Eine kapitalistische Wendung der Künstlerkritik zeigt sich exemplarisch am Begriff »Authentizität«. Eine der Quellen der Empörung für Künstlerkritik ist eine diagnostizierte fehlende Authentizität der „Dinge, Menschen, Gefühle und in einem allgemeineren Sinne der damit verbundenen Lebensform“ (ebd.: 80). In der zunehmenden Aufhebung der Trennung zwischen Arbeit und Privatem soll dem »Menschsein« in der Arbeit Platz eingeräumt werden, bis hin zur Einbringung von Emotionalität in den Arbeitsbereich. Auf der Konsumebene wird der Kritik an Standardisierung und Vermassung durch die Ökonomisierung der Authentizitätsforderung geantwortet. Eine Crux des Kapitalismus ist die Vermittlung immaterieller Werte über Waren und Dienstleistungen (vgl. Beckert 2017: 9; Illouz 2014: 102). Infolgedessen werden Waren und Dienstleistungen unter Emanzipations- und Authentizitätsansprüchen feilgeboten. Authentische, echte, traditionelle und gleichzeitig hochwertige Produkte, die das Versprechen beinhalten, anders als der Mainstream zu sein, sind Teil dieser Verkaufsstrategien. Begünstigt werden sie durch ein verstärktes Interesse an Ästhetik, Gesundheit oder Natur (vgl. Bourdieu 2013: 583). Das heißt aber auch, dass 24 Zur Umsetzung dieser Forderung gehört eine kontinuierliche Aufhebung der Trennung zwischen Arbeit und Freizeit, ähnlich zur ästhetischen Lebensweise der KünstlerInnen. Eine strikte Trennung gilt aus Sicht der Unternehmen als beschränkend, da sie eigentlich miteinander verknüpfte Lebensbereiche voneinander separiere, unmenschlich sei, Affektivität einschränke und Kompetenzen hemmen würde (vgl. Boltanski/Chiapello 2013: 127). Die Optimierung der Arbeitskräfte greift somit auf Elemente der Künstlerkritik zurück und die Opposition zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit wird angegriffen. Die Unterwanderung der Sphärentrennung zwischen Privatem und Arbeit – durch Verfügbarkeit in der Freizeit, flexible Arbeitszeiten und -modelle, dem Aufbau und der Zurverfügungstellung von Netzwerken im Privaten – vollzieht sich allerdings nur in eine Richtung.
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Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Waren, welche lange Zeit nicht kommodifiziert waren, wie zum Beispiel Reisen, Freizeitangebote, Personendienstleistungen oder kulturelle Aktivitäten, der „Marktgesellschaft einverleibt“ (Boltanski/Chiapello 2013: 477) werden. Es ist Teil der kapitalistischen Dynamik, Kapital in neuen Feldern zu verwerten, was auch ein Angriff auf politische und moralische Tabus bedingt und teilweise hohe Transformationskosten mit sich bringt. Boltanski und Chiapello führen aus: In diesem Sinne lässt sich der Prozess, mit dem Nichtkapital in Kapital umgewandelt wird und der eine der Hauptantriebskräfte des Kapitalismus darstellt, durch die Ökonomisierung des Authentischen auf einer neuen Grundlage befördern und der drohenden Krise der Massenkonsumption begegnen, die sich in den 70er Jahren abzeichnet. (ebd.: 479)
Ganz so einfach verhält es sich aber mit der Kommodifizierung auch wieder nicht, denn die Vermarktung von Authentizität ist an einen inneren Widerspruch gebunden. In einer „neuen Ära des Verdachts“ (ebd.: 482) stellen sich Enttäuschungen und Unsicherheiten ein. Die Frage, ob etwas authentisch ist oder nicht, wird besonders dann problematisch, wenn sich Verdächtigungen dieser Art auf menschliche Beziehungen niederschlagen. In der Erosion der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben werden persönliche Kontakte und Beziehungen wichtiger, wodurch ihr uneigennütziger Charakter bedroht wird. Diese unweigerliche und unzertrennliche Liaison zwischen dem Geist des Kapitalismus und seiner Antithese ist Zeichen eines Dilemmas, das grundlegend in der Theorie von Boltanski und Chiapello angelegt ist (vgl. Schultheis 2006: 129; Eickelpasch et al. 2008: 12). Während Deutschmann dies als ein Anzeichen dafür deutet, dass der Kapitalismus immer weniger in der Lage sei, die für ihn notwendigen Bilder und Mythen überzeugend hervorzubringen25 , lässt
25 Beckert äußert sich diesbezüglich ebenfalls skeptisch: „Diese neuen Narrative erhöhen nicht nur Unsicherheit, sondern reduzieren mit ihren Imaginationen auch Kontingenz. Sie tragen damit zu dem immerwährenden Verlauf der kapitalistischen Moderne bei, demzufolge zwar alles Bestehende prekär ist und durch neue imaginierte Zukünfte permanent entwertet wird, doch ermöglichen die neuen Zukünfte erneute Zukunftsorientierung. Dieses Rad scheint sich immer schnell zu drehen. Erst diese Beschleunigung selbst lässt sich möglicherweise als Indikator einer fundamentalen Krise des modernen Kapitalismus deuten, denn immer weniger scheint es zu gelingen, die notwendigen, kognitiven und institutionellen Ordnungsleistungen zur Erzeugung sozialer und politischer Stabilität für mehr als kurze Augenblicke zu sichern“ (Beckert 2017: 14). Hirsch und Roth stellen zwar eine ausgeprägte Flexibilität und Reorganisationsfähigkeit des Kapitalismus fest, warnen aber davor, dass dies nicht als „Ergebnis einer strukturell vorgegebenen »systemischen« Adaptionsfähigkeit gewertet werden“ (Hirsch/Roth 1986: 42) sollte.
3.5 Rationalistisches und romantisches Weltverhältnis
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sich mit Boltanski und Chiapello nachzeichnen, dass eine moderne Lebensführung romantische Motive, jedenfalls als Ideal, miteinbezieht. Dazu gehören die Kritik an Uniformierung sowie Entfremdung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Verbunden werden damit Forderungen nach Authentizität, Einzigartigkeit, Spontaneität, Kreativität oder Affektivität; »Menschsein«, anstatt nur eine funktional spezifizierte Rolle zu übernehmen. Folgt man dem Argument von Boltanski und Chiapello, konnte sich die Künstlerkritik nur deswegen in der Mitte der Protestbewegung etablieren, weil der Kapitalismus in einer Krise war und die tayloristischen Produktionsverhältnisse an Profit- und Kostengrenzen gestoßen sind. Diese Kritik ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Den kapitalistischen Umbrüchen werden in der Etablierung einer neuen Lebensführung, die sich an der Künstlerkritik orientiert, zur Akzeptanz verholfen, und diesen Veränderungen wird ein Sinn abgewonnen. Boltanski und Chiapello beanspruchen, den gegenwärtigen künstlerkritischen Zeitgeist mit den Veränderungen des kapitalistischen Systems und seinen ideologischen Anforderungen an die Subjekte herauszuarbeiten. Es ist ein berechtigter Einwand von Deutschmann, dass die in der Managementliteratur propagierten Ansätze in der Praxis unterlaufen werden und nur auf einer rhetorischen Ebene an den künstlerkritischen Anforderungen festhalten (vgl. Deutschmann 2008: 95ff.). Eine moderne Lebensführung, so lässt sich aus den obigen Ausführungen schließen, wird dennoch auf eine Art und Weise von romantischen Elementen berührt – ob sie auch umgesetzt werden, ist eine andere Frage.
3.5
Rationalistisches und romantisches Weltverhältnis
Haltung zur Welt Rationalisierung, wie von Weber beschrieben, ist als „Weltverhältnis der Weltbeherrschung“ (Schluchter 1998: 316) zu verstehen. Als spezifische Haltung zur Welt ist sie nicht nur in kapitalistischen Produktionsverhältnissen zu suchen. Rationalisierung durchdringt alle Lebensbereiche. Sie dient zur Kalkulierbarkeit, Berechenbarkeit des Unbestimmbaren sowie Komplexitätsreduktion. In anderen Worten bietet sie einen „universellen Sinn- und Ordnungspool der Moderne“ (Schwinn 2014: 350). Unter diesen Gesichtspunkten lässt sich auch die Romantik untersuchen und ihre Bedeutung nachzeichnen. Sie richtet sich mit einigen ihrer Ideen und Lebensstile vehement gegen die Rationalisierung. Angestrebt wurde ein anderes Weltverhältnis mit anderen Formen der Erfahrung: Innerlichkeit, die Idealisierung des Einfachen, Natürlichen, Ursprünglichen, Gefühle und Leidenschaft, Außeralltäglichkeit, Sehnsucht nach dem »Anderen« der Moderne sowie die Möglichkeit des Nicht-Identischen im modernen Selbstkonzept sind einige
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Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Charakteristika romantischen Denkens. Eine zusätzliche Eigenschaft romantischen Denkens ist es, eine gewisse Distanz zur Realität zu entwickeln, die mithin auch zu einer Verleugnung der Realität führen kann. Der Zweck des romantischen Denkens ist es, genauer formuliert, durch eine zunehmende „»world rejecting« stance“ (Campbell 2005: 177) ein anderes Weltverhältnis herauszubilden. Eine andere Seite dieser Distanz ist eine „unending Sehnsucht“ (Berlin 1999: 105), womit gemeint ist, dass es mehr um ein Streben als um die Erfüllung romantischer Ideale geht. Diese Wünsche müssen nicht in Realität umgesetzt werden, denn viel wichtiger ist ein nahezu magisches Moment der Unendlichkeit und Unerreichbarkeit (vgl. ebd.: 135; Campbell 1983: 284). Man könnte von Verklärung statt Aufklärung sprechen. Eine Suche nach dem ursprünglichen, authentischen, nicht von der Moderne „beschädigten Leben“ (Adorno 1997) setzt ein. Entfaltet wird eine Sehnsucht nach einem Ort oder einer Zeit, in der die Welt noch in Ordnung ist, und in diesem Sinne sind auch eskapistische Phantasien zu verstehen (vgl. Campbell 2005: 175; Illouz 2014: 273f.). Eine Idealisierung des Einfachen, des »Anderen« der Moderne oder nostalgische Vergangenheitsbetrachtungen fungieren als Zufluchtsorte. Die Imagination dessen reicht schon aus; bedrohlich wird es, wenn diese Phantasien nicht mehr möglich sind. Beides, Rationalisierung wie Romantisierung, kennen zahlreiche Variationen (vgl. Mannheim 1984; Abels 2010), was eine präzise Begriffsbestimmung erschwert. Und doch ging es in diesem Kapitel darum, einerseits die Rationalisierung, insbesondere mit Weber, als Ethos und Lebensführung zu bestimmen; andererseits habe ich Motive und Ideale herausgearbeitet, die der Romantik entspringen und die eine Wirkmächtigkeit bis in die Gegenwart hinein besitzen. Doch was hat das mit Geld zu tun? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern dieses als Symbol für Rationalisierung fungiert und romantische Kritik sich auch dagegen richtet. Das oben beschriebene geldkritische Deutungsmuster, dass Geld eine gemeinschafts- und gesellschaftszersetzende Wirkung zeitige und als Gegensatz zu Liebe fungiere, lässt sich vor dem Hintergrund des Einflusses romantischen Denkens präziser bestimmen. Damit ist es möglich, sich verändernde kulturelle Bedeutungen des Geldes hinsichtlich Rationalisierung und Romantisierung besser zu greifen. Doch wie sehen dann mögliche Gegenwartsbezüge aus? Ideal der Interesselosigkeit Romantische Ideale beschränken sich nicht mehr nur auf elitäre Zirkel, wenn sie sich als ehemals „subkulturelle Deutungen“ (Honegger 2015: 29) gesellschaftlich etablieren. In der Frage, ob es so etwas wie eine romantische Ethik gibt (vgl. Campbell 2005: 173), steckt die Diagnose, dass sich romantische
3.5 Rationalistisches und romantisches Weltverhältnis
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Motive insbesondere in den letzten fünf Jahrzehnten verbreitet haben. Boltanski und Chiapello konstatieren, dass der Imperativ der Selbstverwirklichung, als Teil der Künstlerkritik, vom kapitalistischen Geist insofern vereinnahmt wurde, als die Arbeitsverhältnisse Eigenverantwortung, Kreativität und das Einbringen eigener Ideen erlauben. Man kann das auch als eine Form der Rationalisierung verstehen. Selbstverwirklichung ist nicht mehr ein romantisches Motiv, wenn es zum rationalen Bestandteil der kapitalistischen Ordnung wird (vgl. Bröckling 2007). Dieses Spannungsverhältnis denken Boltanski und Chiapello mit.26 Letztlich sollen die ArbeiterInnen nicht mehr nur funktionale RollenträgerInnen sein, sondern sie könnten ihr »ganzes Menschsein« einbringen und zur Entfaltung bringen (vgl. Boltanski/Chiapello 2013). Nicht als Versprechen, aber als notwendige Anforderung in der Arbeitswelt verliert es den künstlerkritischen Charakter. Die tendenzielle Auflösung der Grenzen zwischen der Arbeit und dem Privaten trägt zudem die Problematik in sich, dass vermeintlich interessenlose Beziehungen wie Freundschaften eine Instrumentalisierung erfahren, wenn sie als wichtige Kontakte für die Arbeitswelt herhalten müssen. Das Gebot der Authentizität in zwischenmenschlichen Beziehungen, wie Familie, Freundschaften oder Liebe, wird dafür konstitutiv. Die Forderung nach Selbstverwirklichung in der Arbeit und das Einbringen von privaten Netzwerken und Informationen in die Arbeitswelt bringt Friktionen mit sich. Eine besondere Fragilität besteht in zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn es um Anerkennung, Selbstverwirklichung, Authentizität und Autonomie geht. Die Maxime der „Interesselosigkeit“ (Illouz 2014: 240), die im Ideal der romantischen Liebe vorherrscht, unterstützt die Vorstellung, dass ein Antagonismus zwischen Liebe und Geld besteht. Führt die Suche nach Gemeinschaft – als affektiv basierte Verbindung »ganzer Menschen« – statt Gesellschaft – die funktionale Verbindung arbeitsteilig organisierter Rollenträger und formaler Vertragspartnerschaften – zu der Vorstellung, dass Geld als „Gegenspieler“ (Schneider et al. 2005: 206) der Liebe auftritt? Es scheint, dass gerade weil Liebe eine Besonderheit darstellt, wenn es um Anerkennung, Selbstverwirklichung und Sinnhaftigkeit geht, eine Bedrohung durch Geld besteht, wenn es als Symbol des Nicht-Authentischen, Unkontrollierbaren oder der Rationalisierung allgemein interpretiert wird. Mannheim bringt allerdings einen wichtigen Einwand gegen eine eindimensionale Wirkung des Geldes vor: 26 Fraser beschreibt ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen Kritik und Kapitalismus. Sie bringt die grundlegende Widersprüchlichkeit zwischen feministischer Kritik und kapitalistischer Vereinnahmung auf den Punkt: „In dem Masse, in dem der Diskurs von der Bewegung unabhängig wird, sieht sich letztere zunehmend mit einem seltsamen Schattenbild ihrer selbst konfrontiert, einem unheimlichen Double, welches sie weder umstandslos akzeptieren, noch gänzlich desavouieren kann“ (Fraser 2009: 55).
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Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
Das Ergebnis ist, dass, je weiter sich die Kreise erstrecken, wo der Mensch als Funktion der sich ausbreitenden kapitalistisch-rechenhaften Organisation verkommt, um so häufiger wird er als abstrakt rechenhafte Größe erlebt, und umso häufiger erlebt er die Umwelt als durch diese abstrakten Beziehungen absorbiert. Nicht, als ob nun an die psychologische Möglichkeit genommen wäre, zum anderen Menschen und zu den Dingen sich anders zu stellen als zu Geldäquivalenten, aber es besteht von nun an auch die Möglichkeit, prinzipiell und konsequent die Welt nach dieser Richtung hin zu durchdringen. (Mannheim 1984: 82, Hervorh. N.F.)27
Die obigen Ausführungen legen die These nahe, dass Kritik an Geld häufig romantisch inspirierte Elemente enthält, zum Beispiel sobald die Liebe als warmer Gegenpart zur kalten Geldlogik verteidigt wird. Wenn man nun von einem Bedeutungsgewinn romantischer Ideen ausgeht, wie ich dies zum Beispiel mit Boltanski und Chiapello ausgearbeitet habe, ist davon auch die kulturelle Bedeutung des Geldes betroffen. Wie sich rationalistische und romantische Motive in der Deutung des Geldes artikulieren, wird explorativ mit der empirischen Untersuchung erarbeitet. Spannungsreiche Romantisierung Gleichzeitig stellt sich bei diesen Befunden die Frage, wie dies mit meiner These verknüpft werden kann, dass Geld ein Mittel der Rationalisierung und ein Mittel der Romantisierung ist. Geld lässt träumen, aus der Realität zu flüchten und trägt damit einen Teil dazu bei, gerade diese Realität zu relativieren. Es ist sogar nicht abwegig, sich in Geld zu »verlieben«. Daher bietet es sich an, Geld nicht allein unter seinen rationalisierenden Komponenten zu betrachten, sondern sein romantisierendes Moment in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Diese These steht aber, wie die vertiefte Auseinandersetzung mit Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne verdeutlicht hat, in einem gewissen Widerspruch zum romantischen Denken. So zum Beispiel weist Geld Eigenschaften auf, die auch Liebe zugesprochen werden. Geld stellt eine Potentialität dar und regt damit zu Träumereien an, die wenig mit der Realität zu tun haben müssen. Mit Geld erscheint vieles möglich, ohne dass es realisiert werden muss. Die Möglichkeitsgewährung und Distanznahme zur Gesellschaft durch Geld stehen in Bezug zum authentischen, besonderen Ich, zum Selbst oder zum »Menschsein«. Die Kopplung von eskapistischen Phantasien, Wünschen, Einbildungskraft und Geld erfüllt im Grunde genommen die gleiche Funktion wie das romantische Element der 27 Und auch Hörisch gibt zu bedenken, dass es zu den Paradoxien des Geldes gehöre, zum Durcheinander in der Moderne beigetragen zu haben und dass „dieses Durcheinander gewiss nicht aufhörte, nein: noch ungleich größer würde, wenn Geld seine Geltung verlöre“ (Hörisch 2013: 48).
3.5 Rationalistisches und romantisches Weltverhältnis
117
Sehnsucht. Romantisierung ist aber nicht der Gegensatz zur Rationalisierung, denn Distanz macht ebenso Planung, Kalkül und Antizipation möglich: Mit Phantasie und Einbildungskraft geht keine Unordnung einher, wie man in der langen Kulturgeschichte der Verdammung der Einbildungskraft oft gedacht hat, sondern Kontrolle – die Fähigkeit, die eigenen Gedanken zu beherrschen und zu formen, der Erfahrung eine stabile und ästhetische Form zu geben. (Illouz 2011: 420).
Wie oben dargelegt, ist ein distanziertes Verhältnis zur Realität oder sogar eine Leugnung struktureller Tatsachen Teil der romantischen Denkweise. Mit Simmel weitergedacht ist eine Romantisierung notwendig, damit eine Distanz zur zunehmenden Vergesellschaftung in der Moderne bewahrt werden kann, was sich wiederum mit der romantischen Forderung nach Eskapismus deckt (vgl. Campbell 2005: 175). In diesem Sinne ist das Ideal des modernen Selbst ein zentrales Konzept der Vergesellschaftung, aber auch der Distanzwahrung zur Moderne. Soziologische Analysen, welche das moderne Selbst durch Geld bedroht sehen, unterschlagen diese Ambivalenz des Geldes. Geld vergrößert die Distanz zwischen Subjekt und Objekt, aber auch zwischen Subjekten in dem Sinne, dass eine Loslösung von traditionellen Abhängigkeiten und Strukturen erfolgte. Ob dies nun positiv oder negativ gedeutet wird, ist eine andere Sache. Simmel eignet sich dafür, die gesellschaftliche Bedeutung des Geldes vom Standpunkt der Geldentwicklung nachzuvollziehen, allerdings bleiben bei ihm gesellschaftliche Veränderungen und Deutungen des Geldes zu wenig beachtet. Wenn er bewertende Vorstellungen des Geldes als „sentimentale Projizierung ohne Berechtigung“ bezeichnet, um das „non olet von ihm“ (GSG 2a: 60) herauszustreichen, schließt er kulturelle Einflüsse auf Geld aus. Aber die Wirklichkeit des Geldes besteht nicht unabhängig von der Gesellschaft, den Akteuren und ihren Deutungen. Es zeigt sich also, dass diese Ausführungen des Versuchs, Geld mit Romantisierung zusammenzudenken, im Spannungsverhältnis zur romantischen Kritik steht, das Geld einen schädlichen, nicht-authentischen Charakter zuweist. Wenn ich argumentiere, dass Geld ein Mittel der Rationalisierung und ein Mittel der Romantisierung ist, und ich gleichzeitig davon ausgehe, dass romantische Motive eine spezifische Kritik an Geld bestärken, geht es mir nicht um eine Auflösung dieser Spannung. Konkreter bedeutet dies für die vorliegende Untersuchung, dass mit der Analyse alltagsweltlicher Vorstellungen nicht geprüft werden soll, inwiefern Geld auch als Mittel der Romantisierung wahrgenommen wird. Dabei handelt es sich um eine Erkenntnis, die sich aus der Auseinandersetzung mit Simmel ergab und in der bisherigen Forschung bislang nicht beachtet wird. Um
118
3
Rationalisierung und Romantisierung in der Moderne
gesellschaftliche Deutungsmuster und Narrative des Geldes zu untersuchen, wird im empirischen Teil dieser Untersuchung die Frage fokussiert, welche Bedeutung Geld alltags- und laienperspektivisch zugeschrieben wird.
4
Empirische Untersuchung
Erst die Geldwirtschaft hat in das praktische Leben – und wer weiß, ob nicht auch in das theoretische – das Ideal zahlenmäßiger Berechenbarkeit gebracht. Georg Simmel
4.1
Zur empirischen Herangehensweise
4.1.1
Vorgehen und Fragestellungen
„Warum tue ich das? Also ich könnte mal eine schöne Geschichte erzählen.“ Diese schönen Geschichten sind im Folgenden der Untersuchungsgegenstand. Zu Beginn des Forschungsprozesses kristallisierte sich mein Interesse für eine theoretische und empirische Arbeit über die gesellschaftliche Bedeutung des Geldes heraus. Während der Konkretisierung des Forschungsvorhabens verband ich die Lektüre von Simmels Philosophie des Geldes mit Recherchen nach bestehenden empirischen Arbeiten. Es zeichnete sich zum einen ab, dass es allgemein nur wenige empirische Studien zu Geld gibt. Aufgrund dieser Forschungslücken habe ich die Untersuchung von Regionalwährungen, die mediale Behandlung der Banken- und Finanzkrise 2013 in Zypern oder eine Studie über Essensmarken in Erwägung gezogen. Zum anderen kristallisierte sich heraus, dass kulturelle Deutungsmuster und Narrative des Geldes soziologisch bislang wenig erforscht sind.1
1 Die
Rekonstruktion von Semantiken des Geldes in literarischen Schriften findet sich hingegen bei Hörisch (2009; 2013) oder Bornscheuer (2006). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Frei, Deutungen des Geldes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31961-8_4
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120
4
Empirische Untersuchung
Dafür erwiesen sich diese Untersuchungsfelder als wenig geeignet. Mein Forschungsinteresse präzisierte sich daher dahingehend, dass Deutungen des Geldes ins Zentrum rückten und nicht spezifisches Geld wie eine Regionalwährung, eine Disziplinierung über Geldsubstitute wie Essensmarken oder eine Engführung des Geldes auf Wirtschafts- und Finanzkrisen. Die Erarbeitung des Forschungsvorgehens knüpft an Simmels Anspruch an, die kulturellen Bedeutungsdimensionen des Geldes zu untersuchen, um ihn gleichzeitig perspektivisch zu ergänzen. Kultursoziologisch argumentiert ist Geld ein Phänomen, das mit Sinnsystemen in Verbindung steht. Man schreibt Geld im Rückgriff auf kulturelle Semantiken und Symbole Bedeutung zu. Dafür ein Beispiel: Geld verdirbt den Charakter ist eine bekannte Redewendung. Im Rückgriff darauf eröffnen sich Perspektiven, wie der Besitz von Geld beziehungsweise Reichtum bewertet wird: Geld wird eine negative Wirkung auf die Persönlichkeit der Geldbesitzerin oder des Geldbesitzers zugeschrieben. Diese Bedeutungszuschreibung beeinflusst schließlich die Bewertung des Geldes, seiner Rolle und den Umgang damit. Wie Weber sagt, orientiert sich soziales Handeln an der „Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung“ (Weber 2010: 22, Hervorh. im Orig.) – Vorstellungen von Geld und Gesellschaft rücken damit in den Fokus. Um der kultursoziologisch motivierten Frage nachzugehen, welche Bedeutungen mit Geld verknüpft werden, habe ich mich für eine Untersuchung alltagsweltlicher Vorstellungen entschieden. Dafür werden Laien befragt, also Personen, „die nicht professionell oder organisationell mit seiner Deutung befasst sind“ (Kuhn 2014: 13). In Form von qualitativen Interviews wird untersucht, welche Bedeutung Geld alltags- und laienperspektivisch zugeschrieben wird. Der gewählte Zugang beruht auf der Annahme, dass qualitative Interviews nachvollziehbar machen, wie die Befragten in der Bedeutungszuschreibung des Geldes eine denk- und handlungsorientierende Ordnung herstellen und darüber hinaus die gesellschaftliche Ordnung interpretieren und bewerten. Orientiert am Ansatz einer verstehenden Soziologie (vgl. Weber 2010: 1ff.; Mommsen 1974: 208ff.; Wernet 2000: 9) erlaubt dieses Vorgehen, Rückgriffe auf kulturelle Semantiken und breit geteilte Sinnstrukturen zu rekonstruieren.2 Zur Rekonstruktion dieser Ordnungen richtet sich der analytische Fokus darauf, wie die Befragten Geld legitimieren und kritisieren. Qualitative, halb-offene Interviews bringen den Vorteil mit sich, dass den Befragten ein möglichst großer 2 Die
Begriffe Semantiken, Deutungsmuster, Narrative oder Sinnstrukturen werden im Folgenden sinnverwandt verwendet. Auch wenn Unterschiede gerade in Bezug auf die Theorietraditionen bestehen, vereint diese Begrifflichkeiten die Annahme, dass dem eigenen Handeln, Denken und Erfahrungen im Rekurs auf kulturelle Symbole Sinn verliehen wird.
4.1 Zur empirischen Herangehensweise
121
Raum dafür eröffnet wird, auf die Weise, die ihnen geeignet erscheint, über einen Gegenstand zu sprechen (vgl. Kleemann et al. 2009: 19). Der empirische Zugang besitzt explorativen Charakter; es handelt sich um eine Stichprobe und es wird keine erschöpfende Analyse alltagsweltlicher Vorstellungen von Geld angestrebt. Teil der Untersuchung besteht im Analysieren der Art und Weise, wie die Befragten ihr Verhältnis zu Geld beschreiben und begründen. Es bleibt allerdings nicht bei der Frage, welche Bedeutung Geld und einer damit verbundenen Ordnung beigemessen wird. Ich gehe davon aus, dass Geld als Regulationsprinzip der modernen Gesellschaft akzeptiert und legitimiert werden muss. Bendix führt in Anlehnung an Weber aus, „dass sehr viel von dem, was die Menschen in einer Gesellschaft in ihrem alltäglichen Handeln für selbstverständlich halten, tatsächlich Grundüberzeugungen und Annahmen voraussetzte, ohne die es nicht funktionieren könnte“ (Bendix 1963: 280). Mit der Untersuchung alltagsweltlicher Vorstellungen soll aufgezeigt werden, wie Geld gesellschaftlich legitim bleibt, das heißt weiterhin akzeptiert und mit Bedeutung gefüllt werden kann. Aufbauend auf dem Theoriegebäude dieser Arbeit richtet sich ein weiterer Fokus darauf, wie sich in den alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld rationalistische und romantische Motive artikulieren. Die von den Befragten konstruierten Ordnungen werden auf Rechtfertigungsmuster untersucht, die zum Beispiel im Zusammenhang mit (zweck)rationalen und leistungsethischen Begründungen stehen; aber auch Bezüge zu Motiven, die der Romantik entspringen, werden untersucht.
4.1.2
Auswahl der Befragten und Interviewsituation
Die empirische Untersuchung hat zum Ziel, Vorstellungen von Geld darzulegen, ohne Anspruch auf Repräsentativität oder Vollständigkeit. Insgesamt wurden sieben Interviews ausgewertet, obwohl zu Beginn mehr Interviews geplant waren. Mit der gewählten Methode der objektiven Hermeneutik wird der Anspruch verfolgt, zunächst möglichst jedes Detail in der Auswertung zu berücksichtigen, um eine Offenheit im Forschungsprozess zu bewahren. Forschungspraktisch bedeutet dies allerdings auch, dass die Auswertung zeitintensiv ist. Das Sample wies bereits eine so hohe Materialdichte auf, dass ich entschied, mich darauf zu konzentrieren und keine weiteren Interviews zu führen. Wie oben ausgeführt sind kulturelle Bedeutungszuschreibungen des Geldes in der soziologischen Forschung verhältnismäßig unerforscht. Paul beschreibt geradezu einen »Boom« soziologischer Forschungen des Geldes in den letzten zwei Jahrzehnten, wobei gesellschaftstheoretische und empirische Analysen des Geldes die Ausnahme bleiben (vgl. Paul 2012: 71f.). Die von mir rekonstruierten alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld
122
4
Empirische Untersuchung
sind nicht erschöpfend, was auch nicht dem Anspruch dieser Studie entspricht. Vielmehr geht es darum, einen ersten Überblick darüber zu gewinnen, welche Themenfelder in den Interviews angesprochen werden und auf welche semantischen Ressourcen die Befragten zurückgreifen. In einem zweiten Schritt, orientiert an den theoretischen Auseinandersetzungen, wird das empirische Material auf rationalistische und romantische Motive fokussierend untersucht. Warum wurden allerdings nur Deutungen von Laien und nicht die von sogenannten ExpertInnen des Geldes, wie zum Beispiel ÖkonomInnen, BankerInnen oder PolitikerInnen, in den Blick genommen? Hier zeichnet sich eine weitere Grenze des Untersuchungsdesigns ab. Ihre Perspektive hat durchaus Forschungsrelevanz und in ihren Geschichten würden sich möglicherweise vergleichbare Motive und Erklärungsmuster wie in den Interviews mit Laien zeigen. Um der Frage empirisch nachzugehen, welche alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld bestehen, ist zunächst eine Einschränkung auf ein überschaubares Sample sinnvoll. Ist es außerdem nicht die Aufgabe von ExpertInnen, positive und konventionelle Geschichten über Geld zu erzählen, um die kapitalistische Dynamik zu unterstützen (vgl. Beckert 2018)? Zumindest kann angenommen werden, dass ihre Geschichten einer anderen Intention folgen, als jene von Laien.3 Im Erkenntnisinteresse dieser Arbeit steht nicht eine ökonomische Expertise des Geldes und der dazugehörigen Geschichten; vielmehr geht es um Vorstellungen und Bedeutungen des Geldes über den ökonomischen Bereich hinaus, und damit um nicht-professionalisierte Formen der Kritik und Legitimation des Geldes. Die Interviews fanden an unterschiedlichen, von den Befragten gewählten Orten statt: in Privatwohnungen, in Büros oder in einem Café.4 Vor dem Beginn der Interviews, welche aufgenommen wurden, wurde den Befragten das Forschungsvorhaben vage umrissen. Eine detaillierte Beschreibung wurde nicht vorgenommen, damit die Befragten möglichst unbefangen auf die Interviewfragen eingehen. Im klassischen Sinne qualitativer Sozialforschung wurden offene Leitfadeninterviews geführt (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 138ff.). Die Interviews orientierten sich an folgenden Fragen:
3 Leins
zeigt in seiner Studie über FinanzmarktanalystInnen auf, dass es zu ihrem Berufsbild gehört, überzeugende Geschichten zu erzählen und eine professionelle Performance abzulegen: „Once accepted as experts, financial analysts can cultivate an image of being able to understand markets and therefore encourage other market participants to invest rather than speculate“ (Leins 2018: 158, Hervorh. im Orig.). ExpertInnen kann zudem eine hegemoniale Position im Diskurs über Geld zugeschrieben werden und sie reproduzieren tendenziell „dominant economic explanatory narratives“ (ebd.: 163). 4 Vielen Dank an die Befragten für die Bereitschaft, ein Interview mit mir zu führen.
4.1 Zur empirischen Herangehensweise
• • • • • • • • •
123
[Können Sie fünf Begriffe nennen, die Ihnen zu Geld in den Sinn kommen?] Was ist Geld? Wie funktioniert Geld? Was sind Möglichkeiten des Geldes? Was sind Grenzen des Geldes? Welche Rolle spielt die Entmaterialisierung des Geldes? Mit welchem Geldträger bezahlen Sie im Alltag? Haben Sie Rituale mit Geld? Möchten Sie zum Abschluss noch etwas zu Geld sagen?
Die ersten drei Interviews wurden im geistes- und sozialwissenschaftlichen studentischen Milieu durchgeführt. Die drei Befragten sind eine Studentin der Philosophie (27), eine Soziologie-Studentin (24) sowie ein Student im Fach Erziehungswissenschaften (28). Damit war die Idee verbunden, das Forschungsdesign mit seinen teilweise abstrakten Interviewfragen zu testen und adaptieren. Die ersten Befragungen bewegen sich in einem ähnlichen Umfeld, wobei von Interesse war, ob die Interviewfragen dennoch zu unterschiedlichen Zugängen führen. Es hat sich herausgestellt, dass der Einstieg in die Interviews geringfügig geändert werden musste; darauf komme ich später zurück. Beabsichtigt wurde damit, den Einstieg in die ungewohnte Interviewsituation für die Befragten zugänglicher zu gestalten. Bereits in diesen drei Interviews wurden unterschiedliche Vorstellungen und Interpretationen von Geld deutlich. Ergänzt wurden diese ersten Interviews durch die Befragung einer Person (27), die ein naturwissenschaftliches Fach studiert hat. Damit wurde in einem ersten Schritt eine minimale Kontrastierung (vgl. Kleemann et al. 2009: 26) verfolgt, da alle vier Befragten einem studentischen Umfeld entstammen. Daran anschließend wurden drei weitere Interviews geführt, die nicht diesem Milieu zuzurechnen sind. Befragt wurde ein Multimillionär (55), der beruflich im Bereich Finanz- und Unternehmensberatung tätig ist. Weiter habe ich eine kaufmännische Angestellte (37) sowie einen ehemaligen Bauer und Logistikmitarbeiter (67), der zum Zeitpunkt des Interviews bereits in Rente war, interviewt. Mit den drei Studierenden sind Personen im Sample, die zwar über wenig ökonomisches Kapital verfügen, aber mit anderen Kapitalsorten gut ausgestattet sind (vgl. Bourdieu 2013). Es befinden sich aber auch Nicht-AkademikerInnen sowie Nicht-Lohnabhängige in der Stichprobe. Gemeinsam ist den Befragten, trotz unterschiedlicher Kapitalausstattungen, dass niemand von existenzbedrohender Armut betroffen ist. Dieser grobe Überblick sollte verdeutlichen, wer im empirischen Material zu Wort kommt.
124
4.1.3
4
Empirische Untersuchung
Auswertung und Selbstreflexion
Die Interviews wurden wörtlich transkribiert und im Zuge dessen anonymisiert (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 160ff.). Vier Interviews wurden auf schweizerdeutsch geführt und beim Transkribieren ins Hochdeutsche übersetzt. Grammatikalische Eigenheiten des Schweizerdeutschen wurden zu einem Großteil bereinigt, wohingegen spezifische schweizerdeutsche Begriffe als Helvetismen bezeichnet und beibehalten wurden. Um die Lesbarkeit zu vereinfachen, wurden Zitate aus den Transkriptionen geringfügig um Füllwörter wie »ähm« gekürzt. Zitate aus dem empirischen Material werden kursiv und in Anführungszeichen dargestellt. Die Auswertung der Interviews orientierte sich am sequenzanalytischen Verfahren der objektiven Hermeneutik (vgl. u. a. Oevermann et al. 1979; Oevermann 1986; 2008). Für die vorliegende Arbeit steht das methodische Verfahren mit den zentralen Prinzipien Kontextfreiheit, Wörtlichkeit, Sequentialität, Extensivität und Sparsamkeit (vgl. Wernet 2000: 21ff.) im Mittelpunkt. Zum Verständnis der Methodik wird deshalb kurz auf Sequenzanalyse eingegangen.5 Bei der Sequenzanalyse handelt es sich um ein rekonstruktionslogisches Verfahren, welches jedes „Einzelereignis oder Merkmal durch seine Stellung in einer Sequenz bestimmt, statt wie in einem klassifikatorisch-subsumtionslogischen Vorgehen isoliert zu markieren“ (Oevermann 2008: 23).6 Damit eigne sich die objektive Hermeneutik dafür, sich einem Gegenstand anzunähern, ohne mit kategorialen Einschränkungen Erkenntnisse aus dem empirischen Material vorwegnehmen zu wollen.7 Die objektive Hermeneutik geht davon aus, mit ihrem Verfahren die »wirklichen« Motive einer Handlung erschließen zu können, womit eine grundlegende „Spannung“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 240) des methodologischen Ansatzes deutlich und ein womöglich nicht einzulösender Anspruch formuliert wird. Interpretiert werden Interaktionstexte einer handelnden Person, wobei unterstellt wird, dass es eine von den ursprünglichen Absichten der handelnden Person unabhängige, abgelöste Bedeutung gebe, in der sich das Subjekt sozusagen „verrät“ (Oevermann et al. 1979: 383). Die objektive Hermeneutik sucht nicht danach, 5 Insgesamt
bleibt im Folgenden die Methodologie der objektiven Hermeneutik allerdings zweitrangig. Damit ist gemeint, dass es in meiner Studie nicht darum gehen wird, diese Methodologie zu begründen. 6 Ein wichtiger Unterschied besteht hierin beispielsweise zur »Qualitativen Inhaltsanalyse« nach Mayring (2000). 7 Im Prinzip wird in dieser empirischen Untersuchung ein offener Forschungsstil verfolgt; in der theoriegeleiteten Fokussierung auf rationalistische und romantische Motive wird allerdings von diesem Anspruch abgerückt.
4.1 Zur empirischen Herangehensweise
125
die Intention der handelnden Subjekte zu bestimmen, sondern will die objektiven bzw. latenten Bedeutungs- und Sinnstrukturen– fundiert durch Spuren oder Protokolle bzw. Texte – rekonstruieren: „Interaktionstexte konstituieren aufgrund rekonstruierbarer Regeln objektive Bedeutungsstrukturen und diese objektiven Bedeutungsstrukturen stellen die latenten Sinnstrukturen der Interaktion dar“ (ebd.: 379). Die sequenzanalytische Auswertung „folgt streng dem Ablauf, den ein Text protokolliert“ (Wernet 2000: 27). Zunächst wird die Einstiegssequenz extensiv ausgewertet (vgl. ebd.: 61), um daraus erste Fallstrukturhypothesen zu generieren. Diese Strukturhypothesen werden daraufhin an ausgewählten Stellen überprüft und gegebenenfalls angepasst oder verworfen. Das gewählte Auswertungsverfahren ist aufwendig, bringt aber den Vorteil mit sich, eine grundlegende Offenheit im Forschungsprozess zu verfolgen. Das methodische Vorgehen der Sequenzanalyse richtet sich nach der Annahme, dass jede Sequenz insofern krisenhaft ist, als der weitere Weg im Text offen bleibt. Jede „einzelne Äußerung [ist] in den Kontext des vorher Gesagten eingebettet“ (Kleemann et al. 2009: 20). Die Auswertung einer Sequenzstelle unterliegt dem Anspruch, diese konkrete Stelle mit potentiellen Bedeutungsinhalten zu füllen und mögliche Anschlüsse an diese Stelle zu plausibilisieren. Dafür werden konkurrierende Lesarten entwickelt, die im Verlauf der Analyse präzisiert werden, beziehungsweise werden manche Lesarten als unschlüssig ausgeschlossen (vgl. Wernet 2000: 39ff.). Es wird gedankenexperimentell ausformuliert, was an der betreffenden Stelle – vor dem Hintergrund der gebildeten Lesarten – alles getan werden könnte. Diese hypothetischen Realisierungen werden im nächsten Schritt mit der tatsächlich verwirklichten Praxis, wie sie in der Folgesequenz zutage tritt, konfrontiert. (Hänzi 2013: 63)
Das heißt, es werden schrittweise verschiedene Lesarten gebildet, so »abenteuerlich« sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen. Erst im Verlauf des Auswertungsprozesses werden die gebildeten Hypothesen an verschiedenen Sequenzen geprüft, gegebenenfalls falsifiziert und damit ausgeschlossen. Das Ziel ist es, eine dem „Handlungsverlauf inhärente Strukturlogik“ (ebd.) herauszuarbeiten und zu einer Fallstrukturhypothese zu verdichten. Das sequenzanalytische Auswertungsverfahren der objektiven Hermeneutik eignet sich für meinen explorativen Ansatz, alltagsweltliche Vorstellungen von Geld zu erforschen und damit Bedeutungen zu erörtern. Die Methode bringt den Vorteil mit sich, dass Widersprüche im Material beleuchtet und nicht sofort aufgelöst werden, zum Beispiel indem man argumentiert, dass die befragte Person es vermutlich anders gemeint
126
4
Empirische Untersuchung
habe. Es geht nicht um einen von den Befragten intendierten Sinn (vgl. Oevermann et al. 1979), sondern man nimmt zum Untersuchungsgegenstand, warum diese Ungereimtheiten auftauchen, die möglicherweise zur Strukturformel des Falls gehören. Nach der Auswertung der Interviews stellte sich die Frage, wie das empirische Material in die Arbeit integriert wird. Wie löst sich sinnvollerweise das „Darstellungsproblem“ (Schäfer 2015b: 86) in meiner Studie? Weder war es beabsichtigt, noch ist es aufgrund der Fallzahl zulässig, eine Typenbildung vorzunehmen. In der objektiven Hermeneutik ist umstritten, in welcher Weise Auswertungen dargestellt werden können, ohne nicht doch subsumtionslogisch Typen zu entwerfen (vgl. Honegger 2010: 117; Reichertz 1995: 404f.) Honegger wirft die Frage auf, wie in der Soziologie Erzählungen sowohl als Untersuchungsgegenstand als auch als Darstellungsmittel etabliert werden können und zeigt ein Interesse für die Form der soziologischen Porträts. Das hier gewählte Vorgehen, Geschichten Raum zu geben, schließt an diese Herangehensweise an, möchte im Gegensatz zu soziologischen Porträts aber keine „typische Gebundenheit an Herkunftsmilieu, Berufsfeld, Geschlecht und Generation“ (Honegger 2010: 117) hervorheben – diese Absicht könnte man in einer zukünftigen Studie verfolgen. Den Untersuchungsgegenstand, und damit den „Fall“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 173), bilden Erzählungen über Geld. Es wird keine sozialstrukturanalytische Untersuchung angestrebt. Daraus ergibt sich, dass im empirischen Material keine systematischen Bezüge zur Herkunft der Befragten gemacht werden, beispielsweise um zu verstehen, wie die Geschichten über Geld mit dem Habitus (vgl. Bourdieu 2013) zusammenhängen. Alter, Geschlecht, Wohnort oder Beruf der Befragten werden am Anfang der Geschichten über Geld erwähnt, ohne in der weiteren Auswertung spezifisch berücksichtigt zu werden. Erzählungen, nicht Biographien, stehen im Mittelpunkt; vielmehr richtet sich das Interesse darauf, auf welche semantischen Ressourcen, etablierten Narrative und kulturellen Symbole die Befragten zurückgreifen, um Geld eine Bedeutung zuzuschreiben. Es geht also nicht darum, wer spricht, sondern darum, was gesagt wird. Um einem explorativen Charakter gerecht zu werden und den Befragten einen möglichst großen Diskussionsraum zu eröffnen, wurden die Interviews in einen theoretisch-abstrakten und einen alltagspraktischen Teil gegliedert. Geld ist eine Selbstverständlichkeit sowie Alltäglichkeit und gerade darüber wird wenig bewusst nachgedacht8 – soweit die Ausgangslage für die Befragung. Wenn etwas selbstverständlich ist, bedarf es vermeintlich keiner Erklärungen. Aus diesem 8 Kraemer
spricht von einer „unhinterfragte[n] Selbstverständlichkeit“ (Kraemer 2019: 67). Er führt anhand einer repräsentativen Befragung in Österreich im Jahr 2017 aus: „Um Geld in alltäglichen Praktiken virtuos zu verwenden, kommt es weder auf eine profunde
4.1 Zur empirischen Herangehensweise
127
Grund wurde damit gerechnet, dass Fragen nach Geld Irritationen auslösen. Als Einstieg wurde in den ersten drei Interviews danach gefragt, was Geld sei und im Anschluss daran, wie es funktionieren würde. Im Verlauf des Forschungsprozesses wurde der Einstieg geändert. Mit einer gewissen Abwehr und Unsicherheit gingen die Befragten zwar auf diese Fragen ein, doch ihre Reaktionen und die darauffolgende Interpretation ihrer Aussagen lassen den Schluss zu, dass sie sich einer Art »Prüfungssituation« ausgesetzt fühlten und verunsichert waren, was die Intention meines Forschungsvorhabens sein könnte. Dass sich die Befragten einer Prüfungssituation ausgesetzt fühlten, mag am ungewohnten Setting eines qualitativen Interviews liegen, andererseits kann es auch in Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand stehen. Halb-offene und nicht-suggestive Interviews verlangen von der interviewenden Person, Schweigen, Pausen und irritierte Nachfragen seitens der Befragten auszuhalten. Für das Gegenüber bedeutet es, in einer ungewohnten Art und Weise einseitig zu berichten. Die Befragten wurden als Laien angesprochen und der Einstieg mit theoretisch-abstrakten Fragen wirkte möglicherweise verunsichernd. Da es keine gängige Gesprächssituation darstellt, bestand vielfach eine Unsicherheit, ob die Antworten den Fragen gerecht werden beziehungsweise ob die Befragten überhaupt eine Unterstützung für das Forschungsvorhaben seien, was sich in folgendem Zitat widerspiegelt: „Jaja. Ja, ich weiß nicht, ob ich dir da helfen kann.“ In einem anderen Interview manifestiert sich eine gewisse Erleichterung in der Aufforderung des Befragten, das Interview nun auch technisch zu beenden: „Schon recht. (Lachen) So, abstellen.“ Die Aufforderung, ad hoc über Geld zu reflektieren, löste damit Irritationen aus, beispielsweise erklärte auch eine Befragte mehrmals, dass sie keine Geldexpertin sei. Wie schon deutlich geworden sein sollte, ist dieser Laienstatus für meine Forschung indessen nicht nur unproblematisch, sondern geradezu erwünscht. Das Forschungsdesign hat sich gut bewährt, oder wie einer der Befragten festhält, ist „eigentlich jeder Experte in Bezug auf Geld, weil es jeder hat“. Mit der offenen, aber voraussetzungsreichen Frage, was Geld überhaupt sei, wurde beabsichtigt, den Befragten unterschiedliche Möglichkeiten zu eröffnen, das Interview zu beginnen. Manche der Interviews werden aus alltäglichen Situationen heraus entwickelt, manche sind auf einer abstrakteren Ebene verortet. Im Weiteren wurde danach gefragt, wie Geld funktioniere und wie die Entmaterialisierung des Geldes gedeutet wird. Mit diesen theoretisch-abstrakten Fragen wird implizit davon ausgegangen, dass im Alltag selten darüber nachgedacht wird, was Geld überhaupt ist und wie es funktioniert. Das heißt allerdings nicht, dass Geld finanzielle Allgemeinbildung […] an, […] noch auf halbwegs solides Wissen über die institutionellen Grundlagen der monetären Ordnung“ (ebd.: 63).
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4
Empirische Untersuchung
in alltäglichen Handlungen und Praktiken nicht doch eine spezifische Bedeutung zugeschrieben wird; dies geschieht aber eher unbewusst. Eine Schwierigkeit in der Ausarbeitung der Interviewfragen ist es, mit den Fragen den Verlauf des Interviews einzugrenzen, ohne zu begrenzend zu sein, damit man für „Entdeckungen aufgeschlossen bleibt“ (Kaufmann 2006: 333). Im Forschungsprozess sollte deswegen darauf geachtet werden, Adaptionen im empirischen Forschungsdesign zulassen zu können. Nach ersten Schwierigkeiten mit der Einstiegsfrage („Was ist Geld?“) wurde der Einstieg dahingehend verändert, dass nach fünf Begriffen zu Geld gefragt wurde: „Nennen Sie fünf Begriffe, die Ihnen zu Geld in den Sinn kommen.“ Dieses assoziative Vorgehen dient dazu, eine Antwort darauf zu erhalten, wofür Geld steht und womit es in Verbindung gebracht wird. Im zweiten Teil des Interviews wurden schließlich alltagspraktische Fragen gestellt, um einen weniger abstrakten Zugang zu schaffen. Dabei sollen die Befragten erläutern, wie sie im Alltag bezahlen, welche Überlegungen damit verbunden sind und ob es Rituale mit Geld gibt. Mit dieser Untersuchung kann natürlich nicht festgehalten werden, wie die Befragten tatsächlich mit Geld umgehen, denn dafür müsste die Praxis protokolliert und beobachtet werden. Darum geht es auch nicht. Wichtiger ist daher, wie die alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld begründet werden und auf welche Deutungsmuster diese verweisen.
4.1.4
Aufbau und Übersicht
Im ersten Teil des Empirie-Kapitels werden die Interviews in Form von sieben Geschichten über Geld dargestellt. Die „Erzählung dient hier voll und ganz der Argumentation“ (Kaufmann 2006: 11). Die Begriffe »Interview« und »Geschichte« werden dafür im Folgenden synonym verwendet. Der Fokus wird auf die je eigene Fallstruktur gelegt und diese Fallstruktur wird als denk- und handlungsorientierende Ordnung verdichtet präsentiert. Es handelt sich um eine Rekonstruktion dieser Ordnungen anhand der Achse »Kritik und Legitimation«. Diese Ordnung dient den Befragten zur Orientierung dafür, wie sie Geld bewerten und den eigenen Umgang damit begründen.9 Die Geschichten über Geld sind nach diesen Ordnungen benannt und tragen folgende strukturbestimmenden Namen: Alltägliche Ordnung, Rechnerische Ordnung, Verdiente Ordnung, Selbstverordnete Ordnung, Paradoxale Ordnung, Verhängnisvolle Ordnung und Glücksversprechende Ordnung. 9 Das
empirische Material zu Ordnungen zu verdichten ist eine methodische Entscheidung. Das heißt, den Befragten muss diese Ordnung in diesem Sinne gar nicht bewusst sein.
4.1 Zur empirischen Herangehensweise
129
Der abstrakte Einstiegsstimulus – „Was ist Geld?“ beziehungsweise „Nennen Sie fünf Begriffe zu Geld“ – führt zu verschiedenen Zugängen zur Thematik. Dabei offenbaren sich unterschiedliche Modi, wie eine Erzählung über Geld begründet wird. Manche Geschichten weisen die Gemeinsamkeit auf, dass die (alltägliche) Notwendigkeit erläutert wird, andere hingegen beginnen mit einer zivilisationsgeschichtlichen Annäherung oder indem der eigene Umgang mit Geld thematisiert wird. Die dritte Herangehensweise ist ein Beispiel dafür, wie nicht Geld einer Rechtfertigung oder Kritik unterzogen wird, sondern ein »richtiger« oder »falscher« Umgang damit. Die Fragen, wofür Geld steht, welche Bedeutung Geld zugeschrieben wird und aus welchen gesellschaftlichen Sphären diese Zuschreibungen stammen, umfassen unterschiedliche Ebenen, die im Kapitel zu Geschichten über Geld ausführlich beleuchtet werden. Diese Geschichten haben vorrangig einen illustrativen Charakter, um Bedeutungszuschreibungen in alltagsweltlichen Vorstellungen zu rekonstruieren. Es geht also darum, unterschiedliche Positionierungen und Verständnisse des Geldes aufzuzeigen, ohne „überspannte theoretisierende Vorbauten“ (Honegger zitiert in Arni et al. 2007: 13), um damit dem „Eigensinn des Materials“ (ebd.: 15) Rechnung zu tragen. Eine Übersicht der Geldgeschichten ermöglicht die folgende Tabelle. In der Kritik und Rechtfertigung des Geldes, auf die sich der analytische Fokus richtet, zeigen sich allgemeine Vorstellungen von der Gesellschaft, die im zweiten Teil der empirischen Analyse thematisiert werden. Dabei wird danach gefragt, wie die Befragten eine gesellschaftliche Ordnung deuten und bewerten. Der zweite Teil baut auf den Geschichten über Geld auf, wobei er im Unterschied zum ersten themenspezifisch und nicht mehr fallspezifisch geordnet ist. Der zweite Teil des empirischen Kapitels ist in drei Teile gegliedert. Zuerst werden Vorstellungen von Geld dargelegt, die den Geltungsbereich des Geldes betreffen. Zum Beispiel kristallisiert sich eine exemplarische Kritik an Geld an seinen Grenzen heraus: Geld wird eine Allmacht zugeschrieben, die aber dann doch nicht für alle Bereiche gelte beziehungsweise gelten dürfe. Unter anderem, weil Geld ein gemeinschaftszersetzender oder mindestens schädlicher Charakter zuschrieben wird, werden letzte Bastionen wie Liebe, Freundschaft, Gesundheit oder Glück vor der Geldlogik verteidigt, um damit gleichzeitig Gerechtigkeits-, Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen zu verhandeln. In einem zweiten Schritt werden drei Geschichten vor dem Hintergrund einer möglichen Auflösung des Geldes analysiert. Das gesellschaftlich Bestehende wird mit Verweis auf eine absolute Unordnung begründet. Dies beinhaltet die Vorstellung, dass ein Zusammenbruch des bestehenden Systems mit Geld als Ordnungsmacht notwendig dystopische Gewaltförmigkeit hervorbringe. Im Gegensatz dazu gibt es auch eine
130
4
Empirische Untersuchung
Tab. 4.1 Überblick Geschichten über Geld Geschichten über Geld
Kritik – Legitimation
Ankerbeispiele
Alltägliche Ordnung
Legitimation über Sicherung des Alltags Kritik an Unvermeidlichkeit des Geldes
„Aber so aus einer alltäglichen Perspektive ist Geld dann einfach, also so das Täglichste, was man jeden Tag braucht, um irgendwie seine ganzen Tagesschritte so abzuarbeiten“
Rechnerische Ordnung
Legitimation über formelhafte Komplexitätsreduktion Kritik an »falschem« Umgang mit Geld
„Ja, man sagt ja, man sollte nie mehr Geld ausgeben als man hat.“
Verdiente Ordnung
Legitimation über Distinktion Kritik an Schatzbildung des Geldes
„Sie legte es ins Sparschwein. Und ich habe immer alles gleich ausgegeben. Ich bekam gerne Geld, damit ich es ausgeben konnte.“
Selbstverordnete Ordnung
Legitimation über Glück durch Geld Kritik an Disziplinierung durch Geld
„Ich bin da anders gestrickt als andere. Also der Prozess des Gelderwirtschaftens zum Beispiel macht mich nicht glücklich, aber wenn ich Geld habe, bin ich glücklich.“
Paradoxale Ordnung
Legitimation über Selbstzweck des Geldes auf subjektiver Ebene Kritik an Selbstzweck des Geldes auf objektiver Ebene
„Ich freu mich, dass ich mit Geld Geld gemacht habe, was sollte mich daran hindern, weil ich freue mich ja auch, dass meine Bäume wachsen.“
Verhängnisvolle Ordnung
Legitimation über Notwendigkeit des Geldes Kritik an Geld als solchem
„Ja, es ist ein Zahlungsmittel anstelle des Tauschens, was man früher hatte. Was zwar fast ehrlicher war als das heute.“
Glücksbringende Ordnung
Legitimation über geldbedingte Fortschritte Kritik an Vernachlässigung wirtschaftlicher Prinzipien
„Also ich denke, die ganze Entwicklung der Menschheit wäre ohne so ein Mittel, das es übrigens ja eigentlich immer gegeben hat, wäre gar nicht möglich.“
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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friedliche Version der »Postapokalyptik«, in der einfache Zustände mit Selbstversorgertum imaginiert werden und das Geldprinzip zum Positiven aufgelöst wird. Das »Andere« der bestehenden Ordnung wird als Erlösung gedeutet. Schließlich werden in einem dritten Schritt leistungsethische Rechtfertigungen des Geldes herausgearbeitet. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen von »legitimem« und »illegitimem« Geld, die die Befragten wiederum mit einer »legitimen« gesellschaftlichen Ordnung verknüpfen. Zum Beispiel wird auf Arbeit beruhendes Geld anders bewertet als geerbtes Geld. In diesem Unterkapitel wird zudem untersucht, wie die Befragten ihren Umgang mit Geld beziehungsweise unterschiedlichen Geldträgern beschreiben, um den Zusammenhang zwischen Geld und Lebensführung zu beleuchten. Bereits im zweiten Teil der empirischen Analyse werden rationalistische und romantische Motive untersucht. Damit wird im Unterschied zum ersten Teil theoriegeleitet der Frage nachgegangen, wie sich in den alltagsweltlichen Vorstellungen rationalistische und romantische Motive artikulieren. Die Verknüpfung der theoretischen Bezüge mit dem empirischen Material erlaubt die Frage zu ergründen, auf welche Weise Geld gesellschaftlich legitim bleibt. Dafür wird in der Schlussbetrachtung an konkreten Beispielen aufgezeigt, dass sich Rationalisierung und Romantisierung komplementär zueinander verhalten.
4.2
Sieben Geschichten über Geld
In diesem Kapitel wird das empirische Material anhand von Geschichten über Geld dargestellt. Untersucht werden alltagsweltliche Vorstellungen und damit Bedeutungszuschreibungen des Geldes. Um Geld Bedeutung beizumessen, greifen die Befragten auf kulturelle Deutungsmuster und Narrative zurück. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass sie sich zu ebendiesen Deutungsmustern und Narrativen positionieren. Konkret geht es in diesem Kapitel darum, aus dem empirischen Material eine für die Befragten relevante denk- und handlungsorientierende Ordnung zu rekonstruieren. Methodisch orientiere ich mich dafür an der Frage, auf welche Weise die Befragten Geld kritisieren und legitimieren. Die Geschichten werden mit Paraphrasen und Zitaten illustriert; indirekte Rede verweist auf den Inhalt der Interviews und hebt sich dadurch von meinen Interpretationen ab, die auch Teil der Geschichten sind. Ich stelle keine ausführlichen Fallrekonstruktionen dar, sondern konzentriere mich auf eine konzise Präsentation der einzelnen Fälle. Zu Beginn jeder Geschichte über Geld wird die Einstiegssequenz aus den Interviews abgebildet, um zu zeigen, wie sich die Befragten an die Thematik annähern. Damit können auch erste wichtige Einblicke in die Struktur der Geschichte
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4
Empirische Untersuchung
gewonnen werden. Die gewählte Strukturierung des Materials bringt es mit sich, dass detaillierte Interpretationen nicht aufgeführt werden. Das heißt, es werden nicht im Einzelnen verschiedene Lesarten erläutert und aufzeigt, wie die gebildeten Hypothesen an unterschiedlichen Sequenzen geprüft wurden. Dargestellt werden die Ergebnisse des sequenzanalytischen Vorgehens. Die Geschichten an sich bauen aufeinander auf und ergänzen sich, womit sich ein Gesamtbild des empirischen Materials ergibt. Ich analysiere die Geschichten auf Gemeinsamkeiten und Differenzen hin. Manche Aspekte, die in der einen Geschichte verhandelt werden, werden in einer anderen weniger stark beleuchtet. Damit ist der Anspruch verbunden, die gesamte Spannbreite der Themen und Herangehensweisen im empirischen Material abzubilden. Im zweiten Teil der empirischen Analyse erfolgt eine themenspezifische Strukturierung des empirischen Materials. Die Geschichten über Geld bilden die dafür notwendige Grundlage und ermöglichen erst ein Verständnis des zweiten Teils der empirischen Analyse.
4.2.1
Geschichte 1: Alltägliche Ordnung
Die Befragung der 24-jährigen Studentin findet in den Räumlichkeiten ihrer sozialwissenschaftlichen Fachschaft an einer ostdeutschen Universität statt. Die Befragte kommt ursprünglich aus einer ostdeutschen Kleinstadt, nicht unweit ihres Studienortes. Sie engagiert sich in hochschulpolitischen Gremien und ist kurz davor, ihren Bachelor abzuschließen, um in Frankfurt am Main einen Master in Soziologie zu beginnen. In ihrem Narrativ über Geld wird ein alltagspraktischer Bezug hergestellt, worin das Mensaessen als Veranschaulichungsbeispiel für die alltägliche Notwendigkeit des Geldes fungiert. Es ist eine Geschichte über das alltägliche Geld und damit verbundene Routinen und Krisen.10 Auf die Einstiegsfrage hin, was Geld sei, gibt die Befragte folgende Antwort: Geld ist ein Zahlungsmittel. Aber so aus einer alltäglichen Perspektive ist Geld dann einfach, also so das Täglichste, was man jeden Tag braucht, um irgendwie seine ganzen Tagesschritte so abzuarbeiten, sei es jetzt, dass ich irgendwie anfange, morgens mein Bahnticket irgendwie mit Geld zu bezahlen.
10 Für den Lesefluss würde es sich anbieten, »Alltag« und »alltäglich« nicht genauso oft wie im Interview zu verwenden. Allerdings ist es gerade die Pointe dieser Geschichte, Geld und Alltag unermüdlich in Verbindung zu setzen.
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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Die Geschichte bezieht sich direkt auf den Alltag und seinen Ablauf. Die Befragte belässt es allerdings nicht dabei, auf die allgemeine alltägliche Notwendigkeit des Geldes hinzuweisen, sondern es wird mehrmals illustrativ auf das Alltägliche verwiesen. Der Alltag wird feingliedrig in abzuarbeitende Tagesschritte unterteilt und Geld dient als Folie für die Beschreibung des Alltags. Die Bedeutung des Geldes ergibt sich über die alltägliche Unvermeidlichkeit des Geldes. Der Alltag mit seinen mühseligen Arbeitsschritten sei abzuarbeiten. Was die Befragte erläutert, gleicht nahezu einer Sisyphusarbeit, die aber durch Geld überstanden wird. Das muss nicht zwingendermaßen als Last empfunden werden, denn in der Routine an sich und der damit verbundenen Kalkulierbarkeit kann ein beruhigender Faktor liegen. Das Beunruhigende findet sich in latent vorhandenen Krisensituationen, die in der Erzählung an verschiedenen Stellen vorkommen. Das Abarbeiten mittels Geld beginnt frühmorgens, wodurch hervorgehoben wird, dass schon der Start des Tages mit der Unentbehrlichkeit des Geldes verknüpft ist. Suggeriert wird damit, dass ohne Geld kein Alltag möglich sei, ja dieser schlicht wegbricht. Die Befragte spricht selber nicht von Krisen, deutet aber an mehreren Stellen eine durch Geld ausgelöste Krise an. Ein Beispiel dafür ist ihre Beschreibung einer vermeintlichen Banalität, das Bezahlen in der Mensa: Ich musste eben noch den bösen Unterschied wieder zwischen Bargeld und irrealem Geld, also Geld auf der Bank feststellen, weil ich natürlich irgendwie eine Geldkarte dabei habe, aber unten nicht mit Geldkarte bezahlen kann. Also es hilft mir in dem Moment nur so Münzgeld oder Scheingeld, ich habe aber keines bei und wenn ich dann keinen Geldautomaten habe, dann bin ich quasi total abhängig und kann mir wieder nichts kaufen, weil die Karte als Währung nicht akzeptiert wird, also muss ich irgendwie dafür sorgen, dass ich Bargeld bekomme.
So ergibt sich eine Krise in dem Moment, wenn kein Bargeld mehr vorhanden ist und in der Mensa nicht bezahlt werden kann. Erklärt wird anschließend, dass keine Möglichkeit bestehe, eine andere Dienstleistung für das Essen anzubieten, denn der Tauschakt verlange entweder Bargeld oder eine mit Geld aufgeladene Universitätskarte. Es wird die Vorstellung gezeichnet, dass es kaum eine Alternative zu Geld gibt. Bekräftigt wird damit von der Befragten das Bild, dass Geld ein Schmiermittel des Alltags darstellt. Fehlendes Geld führe zum weiteren Problem, dass nur Essen erworben werden kann, sofern die Möglichkeit bestehe, von einer anderen Person Geld auszuleihen. Das Leihen von Geld ist wiederum mit Schulden verbunden, die in die Zukunft reichen, weshalb dies für die Befragte keine akzeptable Option darstellt. Den gegenwärtigen Alltag mit Schulden zu trüben, die erst in der Zukunft getilgt werden können, impliziert eine Abhängigkeit von anderen.
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4
Empirische Untersuchung
Auch wenn diese Beispiele simpel erscheinen, untermauern sie die Wichtigkeit, Tagesschritte möglichst umstandslos und autonom abzuarbeiten, wie es im Interview heißt. Daraus lässt sich schließen, dass Geld für die Befragte eine Erwartungssicherheit und Stabilität generiert, die nicht unbedingt auf eine Zukunft bezogen ist, sondern der Bezug liegt im Gegenwärtigen: „Also das Geld ist quasi immer das Mittel, um das zu bekommen, was man so braucht, um zu überleben und seinen Tag irgendwie schön zu gestalten.“ Mit Geld wird eine alltägliche Ordnung geschaffen und erhalten. Kein Geld bedeutet Krise. In der fortfahrenden Erzählung wird eine weitere Ebene eröffnet, weshalb der Alltag und Geld eng miteinander verknüpft seien. Neben geldpolitischen Institutionen verweist die Befragte auf eine intersubjektive Ebene, die notwendig für das Funktionieren des Geldes sei. In diesem Verweis wird eine relevante Rückbindung an den Alltag vorgenommen: Es reiche nicht aus, dass durch Institutionen eine legale Emittierung erfolge. Vielmehr sei es so, dass Individuen an den Wert des Geldes glauben, diesen annehmen und sich auch so verhalten, als würden sie es glauben. Schließlich würde man aber nicht bloß vortäuschen, dass man an Geld glaube, sondern man würde dies auch tatsächlich tun: Das Hauptding, das so im Alltag passiert, ist einfach dieses Glaubensverhältnis, dass ich behaupte oder denke, dass meine Zwei Euro Zehn halt genau den Wert haben, den sie eben zugeschrieben bekommen haben und den ich irgendwie so wahrnehme und der im Verhältnis zu anderen Wertigkeiten so steht. Und dass die Verkäuferin in der Mensa natürlich auch irgendwie weiß, dass das Geld so und so viel wert ist, dass es überhaupt etwas wert ist. Und dadurch, dass wir beide daran glauben, kann ich ihr das Geld geben und sie gibt mir im Austausch dafür quasi mein Essen.
Ein Glaube an Geld entstehe, „indem es funktioniert“. Die Befragte führt aus, dass Geld eine „absolute Glaubenssache“ sei. Dieser Glaube entspringt und reproduziert sich im Alltag. Der routinierte Ablauf des Tages lässt das Funktionieren des Geldes internalisieren und den Glauben festigen. Anders ausgedrückt geht die Befragte davon aus, dass Geld funktioniere, da man daran glaube und man glaube daran, da es funktioniere. Die Klammer des Glaubens und des Funktionierens ist die Erfahrung im Alltag. Damit der Alltag aufrechterhalten und Geld generiert werden könne, sei Lohnarbeit notwendig. Dazu bestünden nahezu keine Alternativen. Die Befragte erwähnt zwar Alternativen, diese werden jedoch als mühsam dargestellt, da sie nicht der alltäglichen Normalität entsprechen. Geld ist in dieser Geschichte unter
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dem Aspekt bedeutsam, Erwartungssicherheit und Unabhängigkeit für die gegenwärtige Ordnung zu vermitteln. Zugespitzt lässt sich eine Gemütlichkeit der Routine konstatieren. Die Befragte strebt persönliche Unabhängigkeit an – das ist der Grund, warum sie kein Geld von anderen leihen möchte. Die Problematisierung gründet auf einer persönlichen Abhängigkeit zu anderen und darauf, dass Schulden in die Zukunft reichen. In der Herausbildung einer alltäglichen Routine wird für die Befragte eine Beständigkeit der gesellschaftlichen Ordnung hergestellt, worin Geld eine notwendige und damit legitime Funktion zugeschrieben ist. Die Thematisierung der Abhängigkeit von Geld in der Reproduktion der alltäglichen Ordnung beinhaltet dennoch auch eine Kritik. Also wenn man diese ganzen Bedürfnisse hat, um seine Freizeit zu verbringen, dann kann man die schon wieder nur kriegen, indem man halt so einen bezahlten Park bekommt. Oder da sich irgendwie Zugang zu verschafft. Oder seien es nun so Sachen wie Freibäder oder Fitness neuerdings, so dass ich glaube, es ist auch so ein Ding, was man nur noch bezahlt kriegen kann. Also irgendwie, dass ganz oft vergessen wird, dass man auch so, einfach jetzt joggen gehen könnte oder so.
Kritische Punkte finden sich etwa in der Bemerkung, dass Geldvermittlung »vergesslich« mache, und in der Klage, dass Alternativen nicht ausgenutzt würden. Auch kritisiert die Befragte eine Vermittlung über Geld, wo dieses gar nicht notwendig sei. Hingegen wird nicht die konstatierte alltägliche Unvermeidlichkeit des Geldes problematisiert. Denn das Geld schafft für die Befragte einen den Alltag stabilisierenden Rahmen, weshalb Geld eine zentrale Bedeutung beigemessen wird. Für die Befragte macht Geld den Alltag berechenbar und ist so ein Mittel, das Normalität herstellt.
4.2.2
Geschichte 2: Rechnerische Ordnung
Die Befragte, Jahrgang 1977, arbeitet als kaufmännische Angestellte und wohnt in einem kleinen Dorf in einer ländlichen, konservativ-katholischen Gegend in der Zentralschweiz. Sie ist im gleichen Dorf aufgewachsen und hat bei der Gemeindeverwaltung eine Ausbildung zur kaufmännischen Angestellten absolviert. Nachdem sie bei einer Krankenkasse und in einer Anwaltskanzlei im administrativen Bereich gearbeitet hat, ist sie mittlerweile in der kantonalen Verwaltung beschäftigt. Die Geschichte der zweiten Befragten erschließt sich zu einem Teil ebenfalls über die von ihr diagnostizierte alltägliche Notwendigkeit des Geldes und eine
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4
Empirische Untersuchung
damit einhergehende Normalität. In beiden Geschichten dient Geld der Kalkulierbarkeit und Berechenbarkeit des Alltags; in der Geschichte Rechnerische Ordnung wird darüber hinaus verstärkt eine moralische Positionierung zu Geld respektive dem Umgang damit eingenommen. Die Befragte sei keine „große Expertin, wenn es um Geld geht“, und dies ist nicht der einzige Hinweis auf ihre Laienperspektive. Nichtsdestotrotz grenzt sie sich von einem »falschen« Umgang mit Geld ab. Die Einstiegssequenz lautet folgendermaßen: „Braucht man zum Leben. Ist schön zu haben. Macht alleine aber nicht glücklich. Braucht man täglich. Verdient man sich durch Arbeit.“ Das Interview beginnt damit, dass es für das Leben insgesamt und die Sicherung des Alltags notwendig sei und es keine Alternative dazu gebe. Im Weiteren wird erklärt, Geld funktioniere dadurch, dass es im Umlauf sei und fließen würde – in anderen Worten funktioniert es durch sein Funktionieren. Die Konstruktion von Bedeutung über den alltäglichen Charakter des Geldes wurde bereits in der ersten Geschichte erörtert, weswegen hier auf den zweiten zentralen Teil der Geldgeschichte eingegangen wird. Man erfährt mehr über eine Logik des Geldes, die in ihrer Einfachheit geradezu bestechend ist: „Ja, man sagt ja, man sollte nie mehr Geld ausgeben als man hat.“ Die Funktion dieser »Formel« besteht darin, dass sie sofort einleuchten soll. Gleichzeitig ist es für die Befragte eine Handlungsanleitung für sich selbst wie auch für die Beurteilung anderer. Praktisch sieht das Einhalten dieser einfachen Formel für die Befragte so aus, dass sie sich verschiedene, zweckgebundene Konten eingerichtet hat, um über den Rest auf ihrem Lohnkonto frei zu verfügen. Weil ich bin nicht die, die alles auf ein Konto legen kann und dann kann ich trotzdem sparen. Dass ich einfach alles immer so ein bisschen stehen lasse, sag ich jetzt, und so anspare auf diesem einen Konto. Ich bin jetzt so und das ist so mein Ritual, das ich mache, dass jeden Monat einfach gewisse Beträge weggehen, damit ich nachher weiß: »Das, was ich noch habe oder noch vorhanden ist, ist eigentlich das, was ich dann nachher für das tägliche Leben brauchen kann.«
Für die Befragte ist es sehr wichtig, diese einfache Formel einzuhalten, wofür sie disziplinierende Maßnahmen benötigt, nämlich das Anlegen mehrerer Konten: für Steuern, für Urlaub, für Unvorhergesehenes und für ihre Patenkinder. Auch für Außeralltägliches wird eine Sicherheit geschaffen. Für das Alltägliche bleibt ein Rest übrig, der mit gutem Gewissen nicht mehr kontrolliert werden muss. Durch die Verteilung des Einkommens auf verschiedene Konten muss man sich keine weiteren Gedanken mehr machen: „Dann ist es weg und ich sehe es nicht und ich weiß, das ist jetzt auch wirklich nicht mehr vorhanden.“ Hinter dieser eigentlich frühkindlichen Logik, dass etwas nicht vorhanden ist, wenn man es nicht sieht, steckt ein klassischer Mechanismus des Sparens. Die Interpretation
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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dessen sieht folgendermaßen aus: Geld wird außerhalb der »normalen« Rechnung aufbewahrt, klassisch im Sparschwein, und damit tabuisiert. Dieses darf nicht für profane Dinge ausgegeben werden, möglichen Verführungen des Geldes soll entsagt werden. Bei der Befragten ist die Formel nicht bloß eine Anordnung für sich selbst, sondern daraus erlaubt sie sich Urteile über andere: Es gibt sicher solche Leute, die wahrscheinlich über ihre Verhältnisse leben und vielleicht auch mehr ausgeben, als sie eigentlich haben. Indem sie irgendwie auf Pump leben oder Schulden machen und andere, man sagt ja, vielfach sagt man ja, von den Reichen lernt man sparen. Das habe ich schon oft gehört.
Aufgrund der eigenen Disziplinierung des Geldverhaltens erwächst ein Unmut gegenüber nachlässigem Verhalten. Sich selber etwas nicht zu erlauben, führt nicht selten zu einer Verurteilung anderer, die nicht Maß halten können. Damit ist es nicht eine Frage des Könnens, sondern eine des Wollens. Manche Personen würden diese Formel missachten und die durch sie zu bewahrende Ordnung gerät ins Wanken. Hervorgehoben wird die Bedeutung des individuellen Umgangs mit Geld; Schulden werden als Frage der persönlichen Einstellung und Disziplin betrachtet. Strukturelle Gegebenheiten werden damit relativiert oder gar ausgeblendet. Zugespitzt wird diese Haltung am Beispiel Griechenlands und Spaniens: Ja, also eben, wenn man jetzt so hört, wir in der Schweiz, man sagt immer, wir leben in einem reichen Land und wir gehen mit unserem Geld oder mit unserem Finanzhaushalt gut um, wenn man es dann vergleicht, wenn man so in der letzten Zeit gehört hat, was Griechenland oder Spanien oder ist ja egal, es gibt ja viele Länder mittlerweile, die völlig überschuldet sind. Die kein Geld mehr haben, die irgendwie kein Geld mehr bekommen von der EU jetzt. Unser Staat oder unsere Regierung und Banken haben es mehr im Griff als andere, sage ich jetzt mal. Und durch das sind wir sicher in einem privilegierten Land, würde ich jetzt mal sagen, was das angeht. Wir sind ein reiches Land und auch die Bewohner, also die Schweizer sind im Vergleich mit vielen europäischen und mit anderen Ländern sowieso, sind wir, würde ich jetzt mal sagen, oben auf der Liste, wenn es um das Geld geht.
Komplexitätsreduzierend wird der Reichtum der Schweiz mit einem »guten« Umgang erklärt und legitimiert. Gleichzeitig wird die Zuspitzung der Verhältnisse in Griechenland oder Spanien gerechtfertigt, da sie keinen guten Umgang mit Geld zeigen würden und somit selbst schuld an ihrer Überschuldung seien.11 11 Siehe exemplarisch zur Verantwortungszuschreibung für die Banken- und Finanzkrise ab 2008 die soziologischen Untersuchungen von Honegger et al. (2010) und Kuhn (2014).
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4
Empirische Untersuchung
Gefolgert werden kann daraus eine Legitimation damit einhergehender Austeritätsprogramme – womit das gängige Klischee der »undisziplinierten SüdländerInnen« bedient wird –, indem diesen Ländern eine gerechte Strafe zuteil komme. Die Befragte identifiziert sich mit dem eigenen Staat, der die Formel vortrefflich einhalte. Die Schweiz sei aus legitimen Gründen ein reiches Land. Es zeigt sich eine Selbstevidenz der einfachen Formel, die sogleich auf politische, strukturelle und makroökonomische Verhältnisse übertragen wird. Im „man sagt ja“ verkörpert sich ein gesellschaftliches Gewissen, wodurch sich Erwartungssicherheit generiert. Mit der Formel wird eine Komplexitätsreduktion vollzogen. Die Formel als »Mahnfigur« muss sich schließlich auch bestätigen, damit die Ordnung im Alltag erhalten werden kann. Über diese Rechenlogik lässt sich eine Identität aufbauen und von anderen abgrenzen. Kritik richtet sich demzufolge gegen einen »falschen« Umgang mit Geld, denn handlungsanweisend ist ein Rechengebot der ausgeglichenen Zahlungsbilanz. Aufgrund des NichtEinhaltens erscheint es als individuelles beziehungsweise staatliches Verschulden. Die Akzeptanz ökonomischer und politischer Verhältnisse wird internalisiert durch den Glauben an die Rechenlogik, wodurch ein Sicherheitsgefühl generiert wird: Auch wenn überall anders diese Sicherheit, diese Orientierung fehlt, wenn alle anderen Netze löchrig werden, hier, in Gelddingen geht es noch mit rechten Dingen zu. Eine Kolonne fürs Soll, eine fürs Haben – einen Strich darunter, und man saldiert. (Haesler 2011: 34)
Eine strikte Disziplinierung über zweckgebundene Konten, das Einhalten einer »Soll-und-Haben-Formel« sowie die Bedeutung des Geldes für die Berechenbarkeit des Alltags sind Teil der Rationalisierung des Geldes, durch die Geld eine Legitimität zugesprochen wird.
4.2.3
Geschichte 3: Verdiente Ordnung
Das Interview findet im elterlichen Garten des Befragten in einer ländlichen Region statt. Der 26-jährige Umweltingenieur, wohnhaft in einer schweizerischen Großstadt, arbeitet in außeruniversitären Forschungszusammenhängen. Er hat außerdem einen Nebenverdienst im Consulting-Bereich. Der Befragte hat an der ETH Zürich studiert und ist erst seit wenigen Monaten in seinem Berufsfeld tätig.
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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In seiner Erzählung ist Geld ein Symbol für Sicherheit und zusätzlich ein Inszenierungsmittel. Das Interview verhält sich kontrastierend zu den ersten beiden Geschichten, weil der alltägliche Charakter des Geldes keine Rolle spielt – vielmehr geht es bei Geld um Symbole, die über dieser Alltäglichkeit stehen. Das heißt, dass sich die Bedeutung des Geldes nicht auf der alltäglichen Ebene erschließt, sondern dass ihm durch den Befragten auf einer abstrakteren Ebene Bedeutung zugeschrieben wird. In dieser Geschichte wird die Idee vertreten, dass Geld eine Möglichkeit auf Möglichkeiten darstellt. Es handelt sich um eine besondere Form der Sicherheit: Und eben, das habe ich vorhin schon angedeutet, ist es sehr auch noch, Geld ist auch eine Sicherheit, finde ich. Es ist irgendwie etwas, das man einfach haben kann und man sich nicht überlegen muss: »Muss ich mir jetzt ein Haus kaufen?« Und das Haus ist auch eine Sicherheit, aber Geld ist noch so ein bisschen neutraler, aus Geld kann man dann einfach sehr viel noch machen.
Bereits in der Einstiegsfrage, die nach fünf Begrifflichkeiten zu Geld fragt, zeichnet sich eine Spannung im Selbstverständnis des Befragten ab: „Lohn. Sachen kaufen, auf die ich Lust habe. Absicherung Zukunft, also so ein bisschen vorausplanen, so Sicherheit eigentlich. Sicherheit. Das waren jetzt drei? Ich gebe gerne Geld aus. Und ich vermehre es gerne.“ Die Bedeutung des Geldes ist stark mit Sicherheit verknüpft; zusätzlich dazu wird es vom Befragten mit befriedigendem Konsum assoziiert. Trotz mehrfacher Hinweise auf den Sicherheitsaspekt des Geldes wird ein „recht lockerer Umgang“ damit behauptet. Der Befragte versucht, mit Kindheitserinnerungen sein Verhältnis zu Geld zu erklären, um eine biographische Kontinuität herzustellen. In diesen Anekdoten zeigen sich wiederum Spannungen in seinem Verhältnis zu Geld. Laut den Erzählungen seiner Eltern sei er schon als Fünfjähriger „extrem scharf“ auf Geld gewesen und hätte „sehr Freude“ an Geld gehabt. Er erläutert im Weiteren, dass es ihm nicht darum gehe, „es zu haben, sondern um es nachher ausgeben zu können“. Bereits als kleines Kind entwickelt der Befragte seiner Erzählung nach ein spezifisches Verhältnis zu Geld, worin er sich von seiner Schwester unterschieden habe. Anekdotisch berichtet er von Kirmes-Besuchen, für die er und seine Schwester Geld erhielten. Im Gegensatz zu seiner Schwester, die das eigentlich zweckgebundene Geld sparte, sei er sofort zum nächsten Stand gerannt, um das ganze Geld auszugeben. Die Differenz zu seiner Schwester ist wesentlich für die Erzählung über Geld, indem das eigene Verhältnis konträr bewertet wird: Ich habe auch zum Beispiel als Kleiner immer im Sommer Kirschen gepflückt, weil ich dann irgendwie pro »Chriesi-Chrätli« [Schweizerdeutsch für Kirschenkorb,
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4
Empirische Untersuchung
Anm. N.F.] 50 Rappen bekam, viel gegessen natürlich, aber ich habe dann, meine Cousins und Cousinen, also es war bei meiner Verwandtschaft, meine Cousins und Cousinen kamen dann auch. Aber die saßen dann ein bisschen unter dem Baum und aßen einfach ein bisschen Kirschen. Und ich ging den ganzen Tag einfach rauf, runter, rauf, runter und habe möglichst viele Kirschen gepflückt, damit ich dann am Tag irgendwie fünf »Stutz« [Schweizerdeutsch für Franken, Anm. N.F.] verdient habe oder so. (Lachen) Da wurde man also nicht reich, aber ich habe trotzdem immer irgendwie versucht, möglichst zu vermehren das Geld.
Diese Anekdote wirkt eigentümlich, denn es wird eine für ein Kind ungewohnte Disziplin beschrieben: immer wieder hinauf und hinunter zu klettern, während die anderen Kinder müßig unter dem Baum sitzend Kirschen essen. Der Unterschied zu ihnen ist ihm durchaus bewusst. Der Befragte hebt hervor, dass man dadurch nicht reich würde, es aber um das Vermehren ginge. Immer deutlicher wird in diesem Narrativ eine Abneigung gegen (offenkundige) Schatzbildung, wie sie etwa seine Schwester betrieb: Die Rechtfertigung des Geldes wird durch das Verdienen und Ausgeben hergestellt; dennoch wird Geld vermehrt. Die Erzählung geht in diese Richtung weiter und wiederholt sich, indem auch in der Schulzeit und während des Studiums viel gearbeitet wurde, unter dem Motto: „Doch, ein bisschen mehr Geld schadet eigentlich auch nicht.“ Nebenverdienste wurden nicht aus ökonomischen Zwangslagen angestrebt, sondern damit Geld wiederum ausgegeben und vermehrt werden konnte. Damit ist dem Befragten zum einen gelungen, mit seinem Umfeld mitzuhalten; zum anderen konnte er sich zusätzlich etwas auf die Seite legen. Hier liegt die Pointe dieser Geschichte: Der spielerische Umgang mit Geld, die Darstellung als Bonvivant, gründet auf einem „sehr guten Polster“. Dieses selbstverdiente Polster ermöglicht es dem Befragten, darüber hinaus einen lockeren Umgang mit Geld zu pflegen; gleichzeitig betont dies, dass er bereits als kleines Kind damit anfing, Geld zu verdienen. Arbeit wird der Muße vorgezogen. Es wird nicht erwähnt, wofür das Geld ausgegeben wird – wichtig ist der formale Akt des Ausgebens, in einem möglicherweise auch unproduktiven und unnützen Verwenden des Geldes. Die Dynamik des Geldes – Verdienen und Ausgeben – generiert eine sinnhafte Ordnung der Sicherheit. Trotzdem wird das Geldinteresse vom Befragten bagatellisiert, beispielsweise im Vergleich zu seiner Schwester, und auch die Studienwahl wird vom Befragten in dieses Muster eingebettet: Andererseits muss ich auch sagen, zum Beispiel, als ich mein Studium wählte, da habe ich mir nie überlegt, ob ich mit dem Job nachher viel Geld verdienen kann oder so. Also es ist nicht so, dass ich jetzt mein Leben irgendwie mega auf Geldverdienen oder so ausgerichtet hätte, auch jetzt nicht mit dem Job, den ich mache.
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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Bei Umweltingenieurwissenschaft handelt es sich nicht um ein Fach mit geringen Jobaussichten; dennoch wird betont, dass die Studienwahl nicht aus ökonomischen Interessen erfolgte. Auf dieser soliden Grundlage der Studienwahl, ebenfalls einem „Polster“, kann der Befragte es sich erlauben, einen Job nach Interesse auszuüben. Es gehe nicht darum, möglichst viel Geld zu verdienen, denn Geld zu haben, „das ist das, was ungefähr das Langweiligste am Geld ist, da Geld an sich eigentlich völlig, völlig uninteressant ist.“ Dennoch bleibt die Behauptung, das Leben nicht auf das Geldverdienen ausgerichtet zu haben, zum vorher Gesagten widersprüchlich. Distinktiv zur Schwester geht es darum, sich immer wieder von der Schatzbildung abzugrenzen – dagegen richtet sich seine Kritik. Ein Polster erlaubt es dem Befragten, im Bezug auf Geld eine spielerische Identität auszubilden. Diese Haltung wirkt weniger diszipliniert als bei der Befragten aus der Geschichte Rechnerische Ordnung, weil keine zweckgebundene Konten angelegt werden müssen. Ähnlich betont auch sie zum Schluss der Erzählung jedoch, dass sie nicht zu jenen gehöre, die viel Geld sparen, da sie lieber etwas erleben oder sich leisten möchte. Damit wird in diesen beiden Geschichten ein ähnliches Muster rekonstruiert: ab einem gewissen Polster ist die Spielerei mit Geld erlaubt, vorher sicher nicht, und geizig wollen beide schon gar nicht sein. Es gibt ein Interesse am Desinteresse Geld gegenüber.
4.2.4
Geschichte 4: Selbstverordnete Ordnung
Beim Befragten handelt es sich um einen 28-jährigen Studenten im Fach Erziehungswissenschaften. Er studiert in einer ostdeutschen Großstadt, in der er aufgewachsen ist. Neben dem Studium arbeitet er als studentische Hilfskraft an seinem Institut. Der Befragte befindet sich am Ende des Studiums und überlegt, seine Masterarbeit zu einer Promotion auszuarbeiten. In der Geschichte Selbstverordnete Ordnung ist die eigene Positionierung im Umgang mit Geld zentral und stärker ausgeprägt als in den vorherigen beiden Erzählungen. Der Befragte betont seine Andersartigkeit im Verhältnis zu Geld. Das Bedürfnis der Abgrenzung zu anderen begründet sich durch seine Deutung von Geld und diese fußt in einer Kulturkritik. Der Befragte geht davon aus, dass die Überhöhung von Lohnarbeit ein kulturelles Phänomen sei und es sich dabei um eine frei gewählte Disziplinierung handle. Die Ordnung wird demnach als selbstverordnet und nicht als notwendige Folge des Geldes verstanden. Die Befragung ist anfangs geprägt von starken Irritationen und einer gewissen Abwehr des Befragten, dann räumt er ein, er fühle „sich immer dazu genötigt, dir intelligente Antworten zu geben, ich sollte vielleicht mal davon abrücken (Lachen).“
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Empirische Untersuchung
Das Narrativ über Geld wird unmittelbar über einen Ich-Bezug entfaltet. Die Positionierung zu Geld enthält Spannungen und Widersprüche. Bereits in der Einstiegssequenz werden Unstimmigkeiten in der Selbstdarstellung deutlich: Für mich ist es ein Gebrauchsgegenstand, ich habe keinen Bezug zu Geld. Ich finde, Geld setzt mich einem Druck aus, einem unglaublichen Druck. Ich sehe eigentlich hinter Geld selten Werte. Also ich persönlich habe immer den Tick, wenn ich irgendwo ein Centstück habe oder so was, dann schmeiß ich es weg.
Zunächst erläutert der Befragte, kein enges Verhältnis zu Geld zu haben. Doch die Negation irgendeines Bezugs zu Geld wirkt auf den ersten Blick überraschend. Im Widerspruch dazu steht die folgende Beschreibung, dass Geld einen Druck ausübe. Weshalb beginnt die Geschichte damit, dass Geld nur ein Gebrauchsgegenstand sei, wenn es gleichzeitig mit einem Druck verbunden wird? Diese Aussage ist im Verhältnis zu anderen Personen nachzuvollziehen: Im Gegensatz zu anderen würde der Befragte Geld nur als Gebrauchsgegenstand betrachten. Er versucht sich davon zu distanzieren, dass Geld eine andere Bedeutung für ihn haben könnte. Das Narrativ über Geld bricht allerdings an mehreren Stellen, wie wenn bereits im nächsten Satz von einem „unglaublichen Druck“ gesprochen wird. Es verstärkt sich hier die Interpretation, dass dem Geld eine verführerische Komponente zugeschrieben wird; die Praxis, Centstücke wegzuwerfen, dient dann dazu, sich von einer Verführung fernzuhalten. Kleingeld gegenüber wird eine Indifferenz behauptet, insofern Geld Müll darstelle, der weggeworfen werden muss. Im Grunde genommen will der Befragte unterstreichen, dass er keinen Bezug zu Geld habe, indem er die „frühbürgerliche Hausvätermoral“ (Bornscheuer 2006: 37) »Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert«, ablehnt. Vielmehr zeigt sich in dieser Passage eine fast zwanghafte Haltung: das »Sündhafte« muss ferngehalten werden. Die Aussage, keinen Bezug zu Geld zu haben, wird so als bloße Behauptung aufgedeckt. Das Gegenteil liegt aber vor: Es besteht ein enger Bezug zu Geld. Ein ausgeprägt affines Verhältnis zu Geld wird an weiteren Stellen in der Geschichte sichtbar. Zum Beispiel hegt der Befragte großes Interesse an Sport. In diesem Zusammenhang erzählt er von Sportwetten, und er würde es zwar „ganz seltsam“ finden, aber „ich gucke zum Beispiel, ein komisches Phänomen, interessiere mich sehr für Sport, aber ich gucke nie Sport ohne zu wetten. Finde ich unglaublich langweilig.“ Erst Geld bringt einen Nervenkitzel in eine Sphäre – Sport –, die an sich diesen hervorbringen sollte. Dies wird vom Befragten selber als merkwürdig erachtet, denn es widerspricht der anfänglichen Ausführung, dass dem Geld kein Wert beigemessen wird. Eine maximal konträre Positionierung wird in einer weiteren Sequenz offensichtlich.
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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Darin wird auch ersichtlich, was der Befragte mit »Wertzuschreibung« meint: Im Gegensatz zu anderen macht Geld den Befragten glücklich, denn er sei da anders gestrickt als andere, weil ich bin halt nicht so, also der Prozess des Gelderwirtschaftens zum Beispiel macht mich nicht glücklich, aber wenn ich Geld habe, bin ich glücklich. Ich hatte auch schon oft Phasen in meinem Leben, da hatte ich kein Geld und war echt scheiße drauf deswegen. Wenn du halt morgens aufstehst und nicht so wirklich weißt, wie der Tag zu Ende geht deswegen, das ist halt einfach kein gutes Gefühl. Also daher macht Geld schon eine Menge mit dir, also so ganz bedeutungslos ist es dann nicht. Also wenn ich einfach grenzenlos wirtschaften könnte, wäre ich fröhlicher.
Es ist weniger das Verdienen und das Ausgeben (wie in der vorherigen Geschichte), das für den Befragten von Interesse ist, als das »Haben«. In dem Sinne ist Geld nicht mehr nur Gebrauchsgegenstand, denn Geld wird eine fundamentale Bedeutung für das Wohlbefinden beigemessen. Der grundlegende Widerspruch in dieser Geschichte, die Anziehung und Abstoßung des Geldes, wird durch einen Verweis auf eine habituelle Distinktion im Umgang mit Geld aufgehoben. Der Befragte fände es „ganz schlimm, wenn Menschen so geil auf Geld sind und man es so sieht“. Die Spannung wird dementsprechend so aufgelöst, dass Geld zwar mehr als nur Gebrauchsgegenstand ist, dies darf aber nicht gezeigt werden. Die Abgrenzung von anderen ist eingebettet in eine Kritik, die sich gegen die westliche Kultur richtet. In diesem Zusammenhang spricht der Befragte von einem „falschen Bewusstsein“ über Geld, das in westlichen Ländern vorherrschen würde: Das Bewusstsein des Geldes ist ein falsches Bewusstsein über Geld, was wir verinnerlicht haben. Und hier wird Geld auch, finde ich, diszipliniert uns auch in dem Zusammenhang. Ungemein. Und dieser Disziplinierungsmechanismus, ich fühl mich jetzt nicht genötigt, den hier erklären zu müssen, also wie entsteht Wert oder so was, da sind wir uns ja einig. Aber dass wir trotz besseren Wissens über das falsche Bewusstsein diese Handlungen auch fortsetzen. Das ist halt auch etwas, was mich persönlich deprimiert und traurig macht. Also in allen Zusammenhängen. Und so würde ich mir im Prinzip die Funktion von Geld erklären. Diese Disziplinierungsmechanismen, die dahinter stehen. So funktioniert ja Geld. Also ich ziehe für mich auch gar nicht mehr in Betracht, Dinge anders zu erwerben. Durch, was weiß ich, auch was anderes einzutauschen. Also für mich ist eine Welt ohne Geld fast gar nicht mehr vorstellbar.
Das falsche Bewusstsein zeichne sich dadurch aus, dass Geld als alternativlos gelte und ein Mittel der Disziplinierung darstelle. Die Disziplinierung wird durch
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4
Empirische Untersuchung
die Verknüpfung zu Lohnarbeit erklärt. Daraus folge eine alleinige Ausrichtung des Daseins auf die Zukunft. Anders verhalte es sich hingegen in Mosambik: Dort würde es diesen Zwang nicht geben, denn die Menschen würden nur arbeiten, wenn sie kein Geld mehr hätten. Im Gegensatz zu westlichen Ländern würde nicht auf „Verdacht“ Geld angehäuft, sondern in der Gegenwart gelebt. Der Befragte sieht darin eine „kulturelle Funktion“: ob Geld Tauschmedium ist oder diesen Disziplinierungsmechanismus entfalten kann, sei kulturell zu begreifen. Mosambik gilt ihm als eine Art Vorbild und die eigene Kultur wird einer Kritik unterworfen, denn Geld zu haben „macht uns ja noch lange nicht reich oder so was“. Gegen diesen freiwilligen Zwang setzt sich der Befragte zur Wehr, weshalb er schon zu Beginn des Interviews jeglichen Bezug zu Geld negiert. Der freigewählte Zwang wird abgelehnt und nur, wer Geld als Mittel betrachtet, sei frei von diesem Zwang. Der Befragte führt einen Reichtumsbegriff ein, welcher an Freiheit und nicht an Geld gekoppelt ist, indem es sich bloß um einen Schein handle, wenn man sich mit Geld reicher fühlt. Er sieht sich selbst als Ausnahme davon, weil ihn Geld doch auch glücklich mache. Diese Spannung bleibt bestehen. In den Antworten des Befragten kommt die Vorstellung zum Ausdruck, dass es bei Gelddingen gerade nicht mehr mit rechten Dingen zugeht, wie beispielsweise in der zweiten Geschichte. Die »eigene« Kultur wird im Erzählen über Geld zum Ziel der Kritik. Es wird die Haltung vermittelt, dass Geld nicht reich machen würde, wofür eine Idealisierung der Gewohnheiten im Umgang mit Geld in Mosambik vollzogen wird. Die dortige Armut wird zu Reichtum umgedeutet. Das Problem liege aber nicht beim Geld an sich, denn dieses würde zum „Sündenbock“ gemacht werden: „Ich glaube aber, dass Geld eigentlich mal eine gute Idee war.“ Mit der nächsten Geschichte lässt sich direkt daran anknüpfen, da darin die Vorstellung erläutert wird, in welchem Sinne Geld ursprünglich eine gute Idee war und sein Sündenfall geschildert wird.
4.2.5
Geschichte 5: Paradoxale Ordnung
Für das Interview treffe ich die Philosophiestudentin im Besprechungsraum ihrer Fachschaft. Die 27-Jährige hat im Bachelor Politikwissenschaften an der gleichen Universität einer ostdeutschen Großstadt studiert. Sie kommt ursprünglich aus einem kleinen Dorf in Ostdeutschland, hat kurze Zeit in Berlin gewohnt und wechselte schließlich ihren Wohnort aufgrund des Studiums.
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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In dieser Geschichte geht es auf der einen Seite darum, weshalb Geld eine zivilisationsgeschichtliche Errungenschaft darstelle, andererseits wird die Grundproblematik des Geldes hervorgehoben. Die Philosophiestudentin beginnt ihre Geschichte folgendermaßen: Geld sei zuallererst ein Tauschwert. Das heißt, quasi ein leichteres Ding, damit ich nicht immer die Ware an sich hin- und herschleppen muss. So ist es halt besser, wenn ich statt einen Baumstamm einen Papierschein umherschleppe. Für alle Beteiligten. Einfach so ein Tauschding. Und im Weiteren ein eigener Wert. Immer nur stellvertretend für das Material, wofür es halt steht oder für die Leistung, für die es da steht. Dann halt aber auch als historischen zweiten Schritt, würde ich mal mutmaßen, etwas, was selbst sich Wert, das selber wertvoll wurde.
Es wird eine Art »Urzustand« imaginiert, in dem Tausch zum Vorteil aller gereicht und Geld etwas Positives darstellt. Es wird von einer logischen Genesis des Geldtausches ausgegangen. Mit dem Geld besteht allerdings bereits in diesem Urzustand eine kulturelle Formation beziehungsweise die Vorstellung von Geld als Kulturtechnik. Geld übernimmt die Funktion als Tauschmedium und stellt ein Symbol dar. Verwiesen wird auf eine Logik des Geldes, welches einen rudimentären Tauschhandel vereinfache. Zugleich wird davon ausgegangen, dass dies für alle Beteiligten eine Win-win-Situation darstelle. Es erscheint nicht nur aus einer Tauschperspektive vorteilhaft. Die Befragte vermittelt die Vorstellung einer Art vernünftigen Rationalisierung für alle Beteiligten. Die ursprüngliche Ordnung wird idyllisch-harmonisch gezeichnet. Erst durch einen Bruch, einen „historischen zweiten Schritt“, erhalte Geld eine Eigendynamik und werde zu etwas, was selber wertvoll sei. Ich hab ja vorhin gemeint, dass der Zweck des Geldes dann einsetzt, wenn das Geld seine Mittelfunktion übersteigt. Also in dem Moment, wo das Geld, so mutmaße ich gerade, in dem Moment, wo das Geld nur Tauschwert ist, ist es selbst nicht Wert. Man kann es halt jederzeit für den Baumstamm ersetzen. Irgendwann funktioniert es aber nicht mehr. Irgendwann kommt noch eine andere Möglichkeit des Geldes hinzu. Wahrscheinlich aufgrund eines zeitlichen Aspektes. Wenn ich jetzt dir Geld gebe für den Baumstamm, den du nicht schon hast, sondern den du erst haben wirst, hat der Schein plötzlich einen anderen Gegenwert. Es ist halt nicht nur dieser Baumstamm zum Gegenwert, sondern den zukünftigen Baumstamm, den man vielleicht auch gar nicht hätte. Das heißt, es gibt ein Risiko mit dem Geld und Geld wird in dem Moment eine Art Versicherung.
Weiter wird erklärt, dass sobald Geld an sich wertvoll sei, dieses aus sich selbst heraus Wert schöpfen könne. Damit unterscheidet sich diese Entwicklung vom
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4
Empirische Untersuchung
imaginierten Urzustand, da in diesem die Regeln noch klar sind: Geld ist ein Tauschmedium, es steht stellvertretend für einen Wert und der Handel mit Geld ist für alle Beteiligten besser. Im weiteren Verlauf wird von einer Verfallsund gleichzeitig Aufwertungslogik des Geldes ausgegangen. Indem Geld selber Wert schaffe und angehäuft werden könne, seien „Zinses-Zinsen und dieses ganze Spekulationsding“ erst möglich. Zinsen der Zinsen und Spekulation werden problematisiert. Die Ablehnung richtet sich nicht generell gegen Geld, denn die Befragte vollzieht eine Unterscheidung zwischen einer objektiven und einer subjektiven Ebene: „Ich kann mein Geld haben, ich brauch gar nichts dafür kaufen, aber ich mag das Gefühl an sich, Geld zu haben. Was ja eigentlich total bescheuert ist.“ Damit wird eine Differenz zwischen Geld als Mittel und Geld als Zweck thematisiert, um auf eine wichtige Ambivalenz zu verweisen. Erst Geld als Selbstzweck eröffnet die Differenz zwischen einer subjektiven und einer objektiven Ebene. Und so gereicht Geld nicht mehr allen zum Vorteil. Für das Individuum stellt es etwas Positives dar, Geld anzuhäufen und bloß zu besitzen, auch wenn dies objektiv „bescheuert“ sei. Es handelt sich um eine paradoxale Ordnung. Dieses Narrativ entwickelt sich von einem moralisch guten Zustand aus, in dem Geld eine positive Rolle einnimmt, hin zur Problematik des Geldes, in dem es die moralische Bestimmung verliert. Nichtsdestotrotz sei es für das Individuum weiterhin positiv, Geld bloß zu haben. Diese Betrachtung des Geldes ermöglicht eine Kritik am Selbstzweck des Geldes. Der eigene Umgang mit Geld muss nicht legitimiert werden, da es naheliegend sei, sich über Geld zu freuen: „Ich freu mich, dass ich mit Geld Geld gemacht habe, was sollte mich daran hindern, weil ich freue mich ja auch, dass meine Bäume wachsen.“ Damit erklärt die Befragte, dass Geld keine innere Begrenzung habe und somit immer weiter angehäuft werden könne, was zu einem „übertriebenen Fetisch“ führen kann. Die Befragte liefert damit auf der einen Seite eine beruhigende Legitimation für den subjektiven Umgang mit Geld beziehungsweise Schatzbildung, auf der anderen Seite schwingt ein Unbehagen mit: In dem Moment ist es halt kein reiner Tauschwert mehr, sondern es ist etwas, was ich selber zum Material mache, ihm Eigenschaften des Materials zuspreche und da ich damit das ganze Geld verändere. So was finde ich ziemlich gruselig in der Vorstellung.
Die Befragte versucht in ihrem Narrativ zwar, Geld und seine Entwicklung zu plausibilisieren, gleichzeitig gibt es darin unerklärliche und geradezu „gruselige“
4.2 Sieben Geschichten über Geld
147
Momente. Es wird als das Nicht-Erklärbare und Nicht-Rationale, das Austreten aus dem positiven Urzustand gesehen, dass Geld zum Selbstzweck wird, und dieser Umstand wird als furchteinflößend beschrieben. Dieses Narrativ ist nicht das einzige, welches eine Zivilisationsgeschichte anhand des Geldes erzählt; auch die beiden folgenden sehen Anlass dazu, a) Geld als verantwortlich für das Übel in der Welt zu sehen und, dazu konträr, b) Geld verantwortlich für eine fortschrittliche Menschheitsentwicklung zu erklären.
4.2.6
Geschichte 6: Verhängnisvolle Ordnung
Mir gegenüber sitzt ein 68-jähriger Rentner, der seine Selbständigkeit als Landwirt aufgeben musste und im Anschluss daran als Logistikmitarbeiter in einer Fabrik arbeitete. Der Befragte, der mit seiner Freundin in einer Mietwohnung zusammenlebt, ist finanziell abgesichert, trotz geringer Rente. Sehr schnell wird in dieser Geschichte klar, worin in seinen Augen das Problem mit Geld besteht: im Geld selber. Die Geschichte beginnt folgendermaßen: „Ja, Geld ist bei uns jetzt einfach ein notwendiges Übel mittlerweile. Es geht nichts mehr ohne Geld. Und das ist eigentlich schade, dass es so ist. Dass es so weit kam.“ Im Gegensatz zu den vorherigen Geschichten ist es nicht ein einzelner Aspekt des Geldes oder der Umgang damit, der Kritik hervorruft, sondern im Geld wird das Übel gesehen. Die Geschichte zeichnet sich durch eine nostalgische Sehnsucht nach einer geldfreien Welt aus. Geld ist „ein Zahlungsmittel, anstelle des Tauschens, was man früher hatte. Was zwar fast ehrlicher war als das heute. Das Anhäufen von der Menge.“ Ein archaischer Warentausch wird als ehrlicher empfunden als ein geldvermittelter Tauschhandel, weil sich keine Waren anhäufen lassen würden. Die Kritik richtet sich nicht gegen Geld als Tauschmittel, sondern gegen die Funktion der Wertaufbewahrung: Wir können natürlich nie so viel anhäufen mit dem Tauschen. Weil ein paar Sachen würden vernichtet. Wären gar nicht haltbar, was er mit mir tauschen könnte. Und dann wurde das Geld natürlich interessant. Dann kann man es anhäufen. Und verschieben natürlich wieder hinten durch.
Das Anhäufen führe zu einer Übertreibung, was sich deutlich bei der „Großfinanz“ beobachten ließe. Mit dem Ausdruck »hinten durch verschieben« wird auf Korruption verwiesen. Der Befragte erklärt, dass man dem Geld und den Finanzakteuren mittlerweile „ausgeliefert“ sei. In dieser Geschichte lässt sich
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4
Empirische Untersuchung
eine Differenzierung zwischen »uns« und »den anderen« rekonstruieren. Bei der „Hochfinanz“ würde es keine Grenzen geben. Sie stehen deshalb für das Übertreiben und eine übermäßige Macht. In der Dichotomie zwischen »uns« und »den anderen« zieht der Befragte eine moralisch relevante Grenze, indem er »die anderen« für die Spekulation und die Übertreibung verantwortlich macht. Insofern dies als Wesensmerkmal »der anderen« ausgemacht wird, erklärt sich, weshalb der Befragte ein eigenes Spekulieren dezidiert ablehnt – man will mit den anderen nichts gemein haben. Es würden sich viele Probleme dadurch ergeben, dass zu viel auf Geld ausgerichtet sei: „Das ist extrem. Also mich stört das fast. Darum bin ich auch nicht der Spekulant.“ Das Verhalten der anderen wird vom Befragten nicht mit Gier erklärt, wie so häufig im Alltagsverständnis. Vielmehr macht er auf eine innere Logik des Geldes sowie strukturelle Anreize aufmerksam, die sie zu ihrem Handeln veranlassen würden: „Eben, je mehr du hast, desto mehr musst du haben. Ja es ist natürlich für viele vielleicht ein Belohnungssystem. Die das dann nur noch nach dem Geld sehen.“ Diese geldimmanente Logik wird vom Befragten einer Kritik unterzogen und abgelehnt. Sich abzugrenzen bedeutet, Spekulation von sich zu weisen: Eben ich bin jetzt halt nicht der Typ, der spekuliert, weißt du. Sonst würde ich vielleicht sagen: »Ja, das ist doch kein Problem. Ich bin dann nicht der Letzte, der drankommt«. Ich wollte mal vor Jahren, das ist sicher 20 Jahre her, wollte ich mal Gold kaufen. Und dann habe ich auf Teletext immer geschaut, jeden Tag und dann habe ich angefangen aufzuschreiben, zu notieren. Ein Kilo Gold 14.000 Franken. Du weißt, wie es nachher hochging. Ich wollte immer kaufen. Und habe gesehen: »Ja, es geht immer weiter hoch. Es geht immer hoch.« Ich bin kein Spekulant, sonst hätte ich nicht aufgeschrieben, sondern gerade gekauft. Stell dir mal vor. Als es auf 57, 58.000 oben war das Kilo, Blödsinn. Irgendjemand zahlt dies dann wieder. Von daher bin ich eben nicht der Spekulant. Aufschreiben anstatt kaufen, genau so. Aber es ist verlockend, im Nachhinein.12
Geld wird mit Verführung in Verbindung gebracht; der Befragte erkämpft sich in der Logik des Geldes Freiräume, indem er selbst nicht spekulieren würde. Spekulation ist gemäß dem Befragten nicht im Sinne des Gemeinwohls. Trotzdem bricht die Selbstdarstellung im Verlauf des Interviews und es wird nachträglich eine Legitimierung für Spekulation vorgenommen. Der Befragte erzählt, dass er Geld in Fonds angelegt habe, er jedoch sein Sicherheitsbedürfnis nicht dem Risiko opfere: „Also ich habe schon so etwas mit einem Fonds gemacht. Aber da ist das 12 Im gewählten qualitativen Vorgehen werden Wörter nicht gezählt, um auf Bedeutung hinzuweisen. Dennoch ist in diesem 30-minütigen Interview auffällig, wie häufig der Befragte wiederholt, nicht zu spekulieren: sechs Mal findet es Erwähnung.
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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Risiko auf ein Minimum reduziert. Ich will nicht Spitzenergebnisse. Du kriegst natürlich auch nicht viel. Das ist so.“ Dahinter steckt die Vorstellung von einer »guten« und einer »schlechten« Spekulation, je nach Risiko und Gewinnaussichten. Die Distinktion zu den anderen liegt schließlich im geringen Gewinn, in einer Bescheidenheit, denn „Spitzenergebnisse“ stellen nicht seine Motivation dar. „Banken“, „Börse“ und die „Hochfinanz“ würden aufzeigen, wie mit Geld übertrieben wird und hinter ihrem Handeln stünde nur das Streben nach Profit. Banken tragen zwar dazu bei, dass Geld funktioniere, doch seien sie nicht am Gemeinwohl orientiert, sondern verfolgen ein ökonomisches Interesse: Aber dass sie vielleicht ganz andere Ziele haben als wir uns vielleicht vorstellen. Was jetzt an der Börse geht, das ist ja dann wieder eine Folge davon. Die wollen ja damit wieder arbeiten und Profit machen oder Gewinn machen. Was total übertrieben ist, das verstehe ich schon lange nicht mehr, was da abläuft.
Es wird Verständnis dafür ausgedrückt, wenn sich jemand von Geld verführen lässt und Schulden macht: „Da müsste man die fast schützen können. Aber da sind wieder Interessen dahinter und das würde man nie hinkriegen.“ Es ist das Ausgeliefertsein, welches einen zentralen Aspekt in dieser Geschichte über das Übel Geld einnimmt. Die anderen würden mit einem spielen, erzählt der Befragte weiter, und man selbst sei am „kurzen Hebel“. Eine gewisse Lösung für diese Problematik wird darin gesehen, ein Haus mit „Umschwung“13 zu haben, denn so wäre man als „Selbstversorger“ für schlechte Zeiten gewappnet, in denen Geld seine Bedeutung verliere. Es zeichnet sich hierbei eine Sehnsucht nach anderen, in die Vergangenheit imaginierten Verhältnissen ab, ein gewisses „Heimweh nach dem Vorgestern“ (Frisch 1987: 244), sowie auch eine Zukunftsvision von einer Zeit, in der Geld nichts mehr zählt. Geld wird abgelehnt, auch wenn seine Notwendigkeit eingeräumt wird und es „beruhigt, wenn man es hat. Aber es ist noch lange nicht alles.“ Der Befragte bezweifelt, dass Geld glücklich mache, da Glück nicht käuflich sei, und in diesem Punkt scheint es noch mit rechten Dingen zuzugehen: „Es ist so ehrlich, dass das nicht geht.“ Kritik richtet sich demnach nicht gegen einen »falschen« Umgang mit Geld, höchstens wenn es um Spekulation geht, sondern gegen das Geld selbst und »die anderen«. Legitimiert wird Geld einzig dadurch, dass es beruhigt, also eine Sicherheit darstellt, die aber für den Befragten trügerisch und fragil bleibt. Die Darstellung der Probleme, die Geld mit sich bringe, beinhaltet eine kulturelle Komponente. Es wird sehr pessimistisch auf die Verhältnisse in Italien verwiesen, aber auch in der Schweiz gebe es Anzeichen eines beginnenden Verfalls. In 13 Helvetismus
für ein Grundstück, das zu einem Haus gehört.
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Empirische Untersuchung
dieser Geschichte führt Geld zum Verfall der Zivilisation und Vergangenes wird idealisiert. Ein maximaler Kontrast dazu findet sich in der letzten Geschichte.
4.2.7
Geschichte 7: Glücksversprechende Ordnung
Der promovierte Soziologe, Jahrgang 1959, wohnhaft in Basel, wurde durch „eigene Arbeit zum Multimillionär“. Der Befragte hat nach seinem Studium in Soziologie und Politischen Wissenschaften innerhalb eines Jahres seine Promotion abgeschlossen und arbeitete als Journalist. Daraufhin spezialisierte er sich als Kommunikationsbeauftragter eines großen Schweizer Unternehmens. Zum Zeitpunkt des Interviews ist der Befragte Inhaber eines Beratungsunternehmens in den Bereichen Finanzen, Marketing und Kommunikation. In dieser Geschichte stellt Geld das Freiheitsmodell par excellence dar. Wie in den beiden vorherigen Geschichten wird eine zivilisationshistorische Annäherung an Geld aus einer natürlichen Tauschlogik heraus verfolgt: Geld ist irgendwie, wie soll ich sagen, erleichtert den Austausch von Gütern, von Waren, erlaubt, ich muss nicht Waren gegen Waren tauschen, sondern kann mit Geld, wie soll ich sagen, also Geld kann man verdienen und anhäufen, man kann es dann wieder ausgeben, wann man will. Also ich denke, die ganze Entwicklung der Menschheit wäre ohne so ein Mittel, das es übrigens ja eigentlich immer gegeben hat, wäre gar nicht möglich. Und ich denke, Wohlstand ist nur möglich, weil es eine Art der Form von, wie soll ich jetzt mal sagen, neutraler und nicht-verrottbarer Währung gibt, mit der man Sachen auch, wie soll ich sagen, lagern kann. Also Wohlstand lagern kann.
Geld wird für das gesellschaftliche Allgemeinwohl – und in diesem Sinne eine scheinbar unverdächtige Form der Gerechtigkeit – und die Entwicklung der Menschheit insgesamt als positiv interpretiert. Der Befragte sieht auf der einen Seite eine natürliche Entwicklung, und andererseits und eigentlich im Widerspruch dazu fügt er an, dass es Geld schon immer gegeben habe, um eine weitere Legitimierung des Geldes vorzunehmen. Die Rechtfertigung des Geldes wird ergänzt, indem es mit positiven Attributen verbunden wird. Für den Befragten hat Geld eine erfreuliche Wirkung, denn er verbindet es mit Unabhängigkeit: Geld ist etwas sehr Angenehmes, finde ich. Es macht einen unabhängig. Es kann einen aber auch abhängig machen. Ich glaube, es gibt einen individuellen Umgang mit Geld, das kann man nicht generalisieren. Es gibt Leute, die gehen sehr befreiend um mit Geld und andere lassen sich versklaven durch Geld.
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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Auf einer individuellen Ebene kann der Umgang mit Geld zwar problematisiert werden, wobei es eine Einstellungssache zu sein scheint, ob Geld befreiend oder versklavend wirkt. Dies mindert jedoch nicht die positive Zuschreibung, die Geld erfährt. Auf der gesellschaftlichen Ebene wird dem Geld eine besondere Rolle eingeräumt, denn dieses sei ein „Austausch zwischen Menschen, wodurch sie miteinander handeln können“. Jedem Menschen sei es dadurch möglich, einzubringen, „was er für sinnvoll hält in dieser Gesellschaft, was sein Beitrag in dieser Gesellschaft ist“. In anderen Worten sei es den Individuen erst durch das Geld möglich, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, wodurch Geld eine zusätzliche positive Bedeutung beigemessen wird. Der Befragte vertritt die Vorstellung, dass es erst auf der Grundlage des Geldes möglich wurde, einen primitiven Naturalientausch zu überwinden. Dafür beschreibt der Befragte eine natürliche und praktische Eigenschaft von Geld: Ich muss meine Leistung nicht mehr gegen einen Sack Kartoffeln verkaufen und am Schluss habe ich 27 Säcke Kartoffeln in der Garage, das bringt mir eigentlich wenig. Sondern es ist eine neutrale Form, wie ich meine Leistungen entgelten lassen kann. Oder auch wie ich selber Leistungen einkaufen kann. Ohne dass ich wieder den Kartoffelsack aus der Garage nehmen muss.
Geld erlaube Handel und Wohlstandsvermehrung sogar über Kontinente hinweg. In dieser Darlegung geschieht die historische Entwicklung des Geldes quasinatürlich, und diese enthusiastische Fortschrittserzählung legitimiert zusätzlich den Status Quo. Geld als „neutrales“ und damit irgendwie gerechtes Medium bringe den weiteren Vorteil mit sich, dass aus einer logischen Konsequenz heraus eine Entmaterialisierung stattfinde, der der Befragte ebenfalls eine positive Bedeutung beimisst. Bereits der Übergang von einem „Kartoffelsack“ zu einem „Goldstück“ sei als eine Entmaterialisierung zu werten, worin eine „logische Konsequenz“ liege. »Logisch« bedeutet für den Befragten, dass damit Vorteile und Fortschritt verbunden sind. Ähnlich zur Geschichte Paradoxale Ordnung liegt der Vorteil des Geldes dieser Perspektive nach darin, dass man nicht mehr einen schweren Gegenstand (Baumstamm, Kartoffelsack) als Währung einsetzen muss, sondern zu etwas Leichterem übergehen kann. Es handelt sich um eine zweckrationale Begründung: Die Metaphorik der Leichtigkeit wird benutzt, um den Vorteil des Geldes hervorzuheben. Weiter wird erklärt, dass Geld ein „Ausdruck von Effizienz“ sei. Die Entmaterialisierung sei für die Menschheit insgesamt als befreiend zu werten, denn nun müsse man Eigentum nicht mehr gewaltsam verteidigen, wie dies jahrhundertelang der Fall gewesen sei. Durch die Entmaterialisierung
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Empirische Untersuchung
des Geldes sei es möglich geworden, den Schutz des Geldes an den Staat zu übertragen. Diesbezüglich äußert der Befragte eine Kritik, welche sich nicht gegen Geld an sich oder ein Merkmal davon richtet; vielmehr sei durch das Verhalten der Menschen das Geld selbst in Gefahr. Geld beruhe auf einer „wirtschaftlichen Leistung“. Da Geld auf Leistung basiere, sei es mit der Eigenschaft verbunden, etwas dafür einfordern zu können. Leistung und Recht werden damit notwendig miteinander verknüpft. Als Konsequenz der Entmaterialisierung nehme die Bedeutung des Staates zu. Dem Staat wird vom Befragten die Aufgabe zugewiesen, Rechtssicherheit herzustellen und zu garantieren. Ein Nachteil dieser Entwicklung wird in der zunehmenden Abhängigkeit vom Staat ausgemacht. Erst durch die Entmaterialisierung des Geldes sei der Sozialstaat möglich geworden, was aber nicht nur negativ bewertet wird: Weil ich weiß nicht, ob die Leute bereit gewesen wären, ihre Goldbarren so freiwillig und so freimütig für Sachen wegzugeben, die eigentlich mit ihnen selber unter Umständen sehr wenig zu tun haben. Also Egoismus vom Einzelnen konnte man durch das natürlich zu Gunsten von einem kollektiven System optimieren.
Kritik richtet sich nicht gegen die Einrichtung eines Sozialstaates; auch die Einschränkung des Egoismus zugunsten eines Kollektivs wird als positiv erachtet. Das Problem wird in einer zunehmenden Abhängigkeit vom Sozialstaat ausgemacht, denn es würde nicht mehr bemerkt werden, dass „Wertschöpfung nur in der Wirtschaft erzielt wird“. Indem dieser Bezug zur Wertschöpfung verloren gehe, „die hinter diesem Imaginären, oder diesem nicht mehr so Sichtbaren ist“, gebe es eine Entfremdung vom Menschen von den wertschöpfenden Grundlagen, die überhaupt Mehrwert erzeugen, die Wohlstand erzeugen, die über den Tagesbedarf hinaus überhaupt Sachen erzeugen, von denen nachher alle profitieren. Von Straßenbau bis zum Sozialstaat. Oder das merken die Leute, von mir aus gesehen, heute nicht mehr. Man ist entfremdet eigentlich durch das. Das ist der negative Teil, den ich sehe.
Es besteht in dieser positiven Erzählung über Geld doch auch eine Gefahr für die Menschheit, indem Grundprinzipien des Geldes, also dass es auf »Leistung« basiere, missachtet werden. Geld wird als Entwicklungs- und Befreiungsmotor für die Menschheit verstanden; nur die Entfremdung gefährde das Allgemeinwohl. Auch auf individueller Ebene, zumindest bei richtigem Umgang, ist Geld mit Unabhängigkeit verbunden und wird als etwas „Angenehmes“ bezeichnet. Strukturelle Gegebenheiten, die eben nicht zu dieser Unabhängigkeit führen, werden
4.2 Sieben Geschichten über Geld
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ausgeblendet. Kritik richtet sich schließlich dagegen, dass wirtschaftliche Prinzipien vernachlässigt werden, die Abhängigkeit vom Sozialstaat zu groß wird und eine Entfremdung von Leistung stattfindet.
4.2.8
Zusammenfassung der Geldgeschichten
Für jede Geschichte habe ich anhand der Achse »Kritik und Legitimation« eine spezifische Ordnung rekonstruiert.14 Die je spezifische Ordnung dient den Befragten als Orientierung zur Bewertung von Geld und wirkt sich, vermutlich, auf den Umgang damit aus.15 Zusammenfassend und vergleichend gehe ich noch einmal auf einzelne in den Interviews genannte Aspekte ein, um verschiedene Ebenen der Bedeutungszuschreibungen deutlich machen zu können. Zunächst werden Beispiele besprochen, in denen sich die Bedeutung des Geldes nicht ausschließlich aus seiner Funktion als Tauschmittel erschließt. Im Anschluss daran wird aufgezeigt, wie mit zivilisationsgeschichtlichen Annäherungen an Geld sein Tauschmittelcharakter in den Vordergrund rückt. Abschließend gehe ich exemplarisch anhand der beiden letzten Geschichten auf weitere Vorstellungen von Geld ein. Diese stehen einander diametral gegenüber, symbolisiert Geld in der einen ein Unheil, ein mal nécessaire, und in der anderen eine Verheißung, eine promesse de bonheur. Bedeutungsdimensionen Die abstrakte Einstiegsfrage, was Geld sei, offenbart sehr unterschiedliche Herangehensweisen an das Interview. Geld und dem Umgang damit werden unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben, wobei Geld nicht nur als Tauschmittel und damit als Medium in der Sphäre des wirtschaftlichen Austauschs thematisiert wird. Zum Beispiel wird in den Geschichten Alltägliche Ordnung und Rechnerische Ordnung erläutert, dass Geld eine alltägliche Notwendigkeit darstelle. Geld ist daher bedeutsam, weil es ein Mittel zur Herstellung und Reproduktion von »Normalität« darstellt und zur Bewahrung des Alltäglichen beiträgt. Es ist nicht so, dass keine Alternativen zu Geld genannt werden, doch werden diese in der Geschichte Alltägliche Ordnung als mühsam und nicht den alltäglichen Normen entsprechend beschrieben. Mangelnde Alternativen zu Geld
14 Vgl.
hierfür Tab. 4.1. konkrete Umgang wurde nicht untersucht, weshalb sich darüber keine Aussagen treffen lassen. 15 Der
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Empirische Untersuchung
sind nicht unbedingt Teil einer Kritik, sondern Teil der Rechtfertigung des Geldes, da es für die Befragte einen sicheren und berechenbaren Rahmen schafft. Anders in der Geschichte Selbstverordnete Ordnung, in der die Alternativlosigkeit des Geldes durchaus Kritik hervorruft, insofern Geld mit Disziplinierung in Verbindung gebracht wird. Diese Disziplinierung wird als kulturell interpretiert und damit sei es keine logische Folge des Geldes, dass man einem „Disziplinierungsmechanismus“ unterworfen sei. In der Thematisierung eines vermeintlich »richtigen« Umgangs mit Geld zeigt sich einerseits, wie durch einen »legitimen« Umgang Geld selbst legitim wird. Dabei dient Geld als Mittel zur Distinktion. Andererseits wird dem Geld damit auch eine Verführungskraft zugeschrieben, der aber rational zu widerstehen sei. In der Geschichte Rechnerische Ordnung gibt es eine Orientierung an einer buchhalterischen und gleichwohl simplen »Soll-und-Haben-Formel« für den eigenen Umgang mit Geld, aber auch für die Verurteilung anderer, die diese Formel nicht einhalten würden. Weitere Muster der Abgrenzung zeigen sich darin, dass ein Interesse an Geld oder die Art und Weise, wie die eigene Orientierung an Geld zur Schau gestellt wird, abgelehnt werden. Beispielsweise wird in der Geschichte Verdiente Ordnung erklärt, dass nicht der Besitz, sondern das Einnehmen und Ausgeben von Geld relevant seien. Mit dem Kirmes-Beispiel grenzt sich der Befragte von seiner Schwester ab, die eigentlich zweckgebundenes Geld, das die Kinder für ihren Kirmes-Spaß ausgeben sollten, lieber in ihr Sparschwein legte. Die Spannung in dieser Geschichte liegt darin, dass der Befragte zwar seit seiner Kindheit lieber arbeitet als dem Müßiggang zu frönen, gleichzeitig aber ein „lockerer Umgang“ mit Geld betont wird. Widersprüchlich bleibt auch die Darstellung der eigenen Positionierung zu Geld in der Geschichte Selbstverordnete Ordnung. Der Befragte erklärt, dass er im Gegensatz zu anderen Geld nur als Gebrauchsgegenstand betrachte. Er messe Geld keine Wertigkeit bei. Im Verlauf des Interviews erklärt der Befragte allerdings, dass ihn Geld, wieder im Gegensatz zu anderen, durchaus glücklich mache. Aufgehoben wird der Widerspruch distinktionslogisch: Man darf nicht zeigen, dass man „geil“ auf Geld ist. Im Interviewverlauf erfolgt eine nachträgliche Rationalisierung des eigenen Umgangs, ohne die grundlegende Widersprüchlichkeit aufzuheben. Die Frage nach dem richtigen Umgang mit Geld kann folglich in den alltagsweltlichen Vorstellungen moralisierenden Charakter annehmen, was einen Rechtfertigungsdruck auslöst. Legitimes Geld wird mit positiven Attributen versehen und stellt in diesen Rechtfertigungsmustern eine Sicherheit dar. In der Geschichte Verdiente Ordnung beispielsweise wird Geld als Möglichkeit auf Möglichkeiten begriffen, womit Geld gegenüber anderen Gütern einen wichtigen
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Vorteil und Sicherheit mit sich bringe. Die Geschichte Glücksbringende Ordnung ergänzt die Vorstellung von Geld, insofern dieses als etwas „Angenehmes“ bezeichnet wird. Geld an sich, und nicht etwa sein Besitz, sei angenehm. Betont wird damit nicht die Nützlichkeit des Geldes oder die Verbindung von Geld mit Sicherheit, sondern es wird ein sinnliches Verhältnis zu Geld beschrieben. In der Geschichte Paradoxale Ordnung wird eine Freude an Geldakkumulation beschrieben, womit der Selbstzweck des Geldes auf subjektiver Ebene plausibilisiert wird. Allerdings, darauf komme ich später zurück, zeigen sich für die Befragte auf gesellschaftlicher Ebene negative Konsequenzen des Selbstzwecks. Um ein letztes Beispiel zu nennen, welche Wirkung Geld zugeschrieben wird, eignet sich eine Zitat aus der Geschichte Selbstverordnete Ordnung. Der Befragte erklärt im Kontext von Sportwetten und Gesellschaftsspiel, dass Geld „ein Multiplikator [ist], um meinen Spaß an der Sache zu erhöhen“. Mit Geertz gesprochen kann sich „Bedeutung durch Geld vertiefen“ (Geertz 1987: 233), ohne dass Geld unbedingt im Mittelpunkt des Interesses stehen muss. Es lässt sich festhalten, dass Bedeutungszuschreibungen sich nicht darauf begrenzen, Geld ausschließlich als Tauschmittel zu deuten. Dennoch ist die Annäherung an Geld über eine Tauschlogik ein zentrales Deutungsmuster in den alltagsweltlichen Vorstellungen. Bezüge auf die Entwicklung der Gesellschaft begründen den Gegenstand theoretisch-abstrakt und weniger alltagspraktisch. Darin wird Geld als Tauschmittel als neutral, positiv und gerecht interpretiert, was mit dem folgendem Zitat aus der Geschichte Verdiente Ordnung exemplarisch aufgezeigt werden kann: Geld? Ist ein Tauschmittel. Geld ist ein Gegenwert, der es den Menschen ermöglicht, Güter auszutauschen. Aber dass man halt nicht das Gut A oder die Dienstleistung A gegen die Dienstleistung oder das Gut B tauschen, gibt es eigentlich wie so ein zusätzliches Zwischending und das ist dann halt das Geld, das man brauchen kann, um das ganze möglichst effizient und ohne irgendwelche Lagerkosten oder Transportkosten irgendwie abzuwickeln. Und das Praktische am Geld ist, dass es, jetzt nicht auf Währung bezogen, aber dass Geld eigentlich den Wert ja nicht verliert. Also es kann irgendwie nicht verfaulen oder so. Und darum ist es ein sehr praktisches Tauschmittel eigentlich.
Auffällig sind die Verweise auf eine bestimmte Form der Zweck-MittelRationalität, die Geld legitimiert. Die Funktion der Wertaufbewahrung wird als Vorteil des Geldes gedeutet, wohingegen die Möglichkeit des Anhäufens Kritik hervorruft, was wiederum mit der Vorstellung einer Verführungskraft des Geldes verbunden wird. Die Vorstellung, dass Geld verführerisch sei, findet sich in manchen Geschichten und führt zuweilen zu einer Abneigung gegen Geld. Auf
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Empirische Untersuchung
unterschiedliche Weise wird in den Geschichten berichtet, wie einer Versuchung, die dem Geld beigemessen wird, standgehalten wird; sei es durch zweckgebundene Konten, durch Spekulation mit bloß geringem Risiko oder durch das Wegwerfen von Kleingeld. Letzteres wird begründet damit, wie in der Geschichte Selbstverordnete Ordnung argumentiert, dass dem Geld kein Wert beigemessen werde und es deshalb auch weggeworfen werden kann. Ein ähnliches Motiv findet sich in der Geschichte Verdiente Ordnung, in der entgegen der Behauptung des Befragten ein enges Verhältnis zu Geld rekonstruiert werden konnte. Der Befragte erklärt, dass wenn ihm Kleingeld aus den Hosen falle, er es nicht aufheben würde, sondern das Geld auf dem Boden dann seiner Freundin gehöre: „Wenn es auf dem Boden liegt, dann schnappt es sich immer meine Freundin und behält es. (Lachen) Weil sie sagt, alles, was auf dem Boden liegt, gehört ihr (Lachen).“16 Verheißung oder Verhängnis? Zum Abschluss werden die Geschichten Verhängnisvolle Ordnung und Glücksversprechende Ordnung verglichen, um einen maximalen Kontrast aufzuzeigen. Die letzte Geschichte, Glücksversprechende Ordnung, steht beispielhaft für eine enthusiastische Zivilisationserzählung, in der Geld für Fortschritt, Wohlstand und Allgemeinwohl steht. Kritik richtet sich einzig gegen eine diagnostizierte Entfremdung von Wertschöpfung und die Missachtung wirtschaftlicher Prinzipien. Es handelt sich um eine idealtypische Erzählung einer quasi-natürlichen Entwicklung zum Status Quo, in der Geld als Freiheitsmodell gedacht wird und die damit einer klassischen Robinsonade (vgl. MEW 13: 615f.) entspricht. Geld befördere das Gemeinwohl und überwinde sogar Egoismus zum Wohl aller. Damit handelt es sich um eine Ansicht, die auf „einer pessimistischen Anthropologie basiert und ganz wie die verbreitete Wirtschaftstheorie als Handlungsmotive nur egoistische Beweggründe gelten lässt“ (Boltanski/Chiapello 2013: 433). Besonders interessant ist es, wie vielseitig Geld in dieser Geschichte legitimiert wird. Die Behauptung, dass es Geld schon immer gegeben habe, ist ein Beispiel einer quasi-natürlichen Begründung des Geldes. Wenn etwas natürlich ist, ist es nicht kritisier- oder veränderbar. Die positive Wirkung des Geldes wird individuell, wirtschaftlich und für die Menschheit als Ganzes interpretiert. Dazu passend wird angemerkt, dass es „katastrophal“ sei zu sagen, dass Geld nicht glücklich mache. 16 Diese Form der Besitzverhältnisse erinnert an Bourdieus Beobachtung der geschlechtlichen Aufgabenteilung während der Olivenernte, bei der es ein „[m]ännliches Streben nach oben gegen weibliche Bewegung nach unten“ gibt: „»die Frau hebt auf, was der Mann zu Boden wirft« –, verbindet sich mit dem Gegensatz zwischen groß und klein und überlässt der Frau die zugleich niedrigen und minderwertigen, Unterwerfung und Nachgiebigkeit erheischenden, sorgfältigen, aber auch kleinlichen Arbeiten“ (Bourdieu 1987: 131ff).
4.2 Sieben Geschichten über Geld
157
Geld wird als Glücks- und Freiheitsversprechen gedeutet; demzufolge dürften dem Geld keine Grenzen gesetzt werden: Geld hat keine Grenzen. Was ich, es ist, Geld hat in diesem Sinne keine Grenzen wie auch Phantasie keine Grenzen hat. Es gibt keine Grenzen für das Geld. Geld, nein Geld, Geld, Geld allein hat keine Grenzen. Die Gesellschaft kann Grenzen setzen. Aber Geld selber ist grenzenlos. Darum hat man, darum kann man auch nicht, es gibt, wenn Geld Grenzen hätte, würde man sagen, irgendwann einmal ist genug. Also jetzt hat man genug Geld für irgendetwas. Aber das gibt es nicht, es gibt für nichts genug. Es gibt keine Phantasie, die Grenzen setzen kann dem Geld. Geld hat keine Grenzen. Es ist einfach so. Es ist Realität. Ich denke, der Mensch hat, nein ich würde sogar anders sagen, ein Mensch, der sich Grenzen setzt, der lebt im Mittelalter. Also dort hat man sich Grenzen gesetzt.
Es wird nicht ausschließlich ökonomisch argumentiert. Geld und menschliche Bedürfnisse werden mit Grenzenlosigkeit assoziiert und dies verbindet der Befragte wiederum mit der modernen Gesellschaft. Grenzen zu setzen würde schlicht bedeuten, Freiheit aufzugeben: Die Grenzen des Geldes sind die Grenzen der Menschen; Grenzsetzung wird als Regression interpretiert, welche die Menschen ins Mittelalter zurückversetzen würde. Die Glücksversprechende Ordnung weist typische Gemeinplätze des kapitalistischen Geistes auf, wenn neben „Nutzen, allgemeinem Wohlstand, Fortschritt […] auf die emanzipierende Wirkung des Kapitalismus und auf die politische Freiheit als Variable der Wirtschaftsfreiheit Bezug genommen“ (Boltanski/Chiapello 2013: 50) wird. Kontingenz und Historizität werden negiert. Die Erzählung ist beispielhaft dafür, wie Geschichte in Natur verwandelt wird (vgl. Barthes 2016: 11). Dem steht die Geschichte Verhängnisvolle Ordnung gegenüber. Die Kritik richtet sich darin deutlich gegen Geld und das von ihm produzierte System sowie, davon abgeleitet, gegen die Repräsentanten des Systems, wie Banken und Börsen, die als »die anderen« angeklagt werden. Der Befragte thematisiert mehrfach Spekulation und äußert seine Ablehnung. Er problematisiert, dass Spekulation nicht dem Allgemeinwohl diene; ähnlich verhält es sich mit der Kritik an Banken, die ein ökonomisches Eigeninteresse verfolgen würden. Banken hätten damit ein anderes Ziel, „als wir uns vielleicht vorstellen“. Diese Aussage ist bemerkenswert, denn warum sollte man nicht gerade Banken wirtschaftliches Handeln zuschreiben? Kritisiert wird ein gesellschaftliches Ungleichgewicht, das mit Geld und den ihm zugeschriebenen negativen gesellschaftlichen Konsequenzen in Verbindung gebracht wird. Im Fokus der Kritik liegt eine »Übertreibung«, von der der Befragte sich fernzuhalten versucht. Das gesellschaftliche Machtverhältnis wird folgendermaßen beschrieben:
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4
Empirische Untersuchung
Also was die Hochfinanz verursachen kann, das ist natürlich enorm, wie die damit spielen können. Und dass die eine riesige Macht ausüben, das sieht man ja an der Börse, wenn es rauf- und runtergeht. Die verursachen das sicher. Da sind wir einfach ganz am kurzen Hebel. Da können wir gar nichts machen. Höchstens mitschwimmen. Und die spielen natürlich mit uns.
Es drängt sich die Frage auf, warum es diese explizite Abgrenzung zur Bankenund Finanzsphäre gibt und welche Bilder unter anderem mit den mehrmals verwendeten Begriffen „Hochfinanz“ und „Großfinanz“ evoziert werden. Wird hier das Bild des „geldgierigen Finanzkapital[s]“ (Heinrich 2005: 188) stilisiert und verurteilt? In dieser Geschichte wird das Verhalten der anderen nicht ausschließlich auf Gier reduziert, sondern strukturelle Anreize, mehr Geld zu akkumulieren, betont. Zu finden ist in dieser Geschichte eine klassische Positionierung der Mittelschicht, die sich gerne als Kritikerin des Finanzmarktkapitalismus versteht, ohne sich im eigenen Selbstverständnis davon betroffen zu fühlen (vgl. Koppetsch 2013: 17; Haubl 2011: 23)17 : Die eigene Verwobenheit mit den anderen wird vom Befragten als bloßes „Mitschwimmen“ relativiert. Es kann festgehalten werden, dass Geld widersprüchliche Narrative und ambivalente Deutungen entfaltet. Manche Widersprüche und Spannungen werden aufgelöst, andere bleiben bestehen. Die rekonstruierten Widersprüche müssen den Befragten so auch gar nicht deutlich sein (vgl. Weber 2010: 4; vgl. Bourdieu 1987: 127). Beispiele dafür sind die Bewertung von Spekulation (Verhängnisvolle Ordnung), die Vorstellung, keinen Bezug zu Geld zu haben (Selbstverordnete Ordnung) oder das Ablehnen von Schatzbildung bei gleichzeitiger Erarbeitung eines Polsters (Verdiente Ordnung). Diesen Widersprüchen und Spannungen wird im abschließenden Fazit des empirischen Teils vertiefend nachgegangen. Im nächsten Kapitel wird am empirischen Material analysiert, wie in den alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld Bezüge zu rationalistischen und romantischen Motiven hergestellt werden. Dafür werden allgemeine Vorstellungen von der Gesellschaft und der Rolle des Geldes thematisiert und zu Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung verdichtet. Damit steht zunächst weiterhin das empirische Material, nun themenspezifisch geordnet, im Vordergrund.
17 Vgl. zur Krisenanfälligkeit des modernen Kapitalismus und die Rolle der HobbyspekulantInnen Paul (2017: 196) sowie Deutschmann (2008: 116) zum kollektiven Buddenbrooks-Effekt.
4.3 Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung
4.3
159
Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung
Das vorangegangene Kapitel diente der Rekonstruktion von Geschichten über Geld. Diese bilden die Voraussetzung zum Verständnis für den zweiten Teil der empirischen Analyse. In diesem Kapitel stehen alltagsweltliche Vorstellungen einer gesellschaftlichen Ordnung im Mittelpunkt. Die Ergebnisse aus der empirischen Analyse werden nun nicht mehr fallspezifisch, sondern themenspezifisch dargestellt. Im Unterschied zu den Geschichten über Geld werden an ausgewählten Stellen erste Theoriebezüge hergestellt; im Vordergrund stehen aber weiterhin Deutungen aus dem empirischen Material. Ergänzend wird in diesem Kapitel danach gefragt, wie sich in den alltagsweltlichen Vorstellungen rationalistische und romantische Motive artikulieren. Das heißt, dass Themen und Motive, die mit Rationalisierung und Romantisierung in Verbindung stehen, beleuchtet werden, wobei erst in der Schlussbetrachtung eine vertiefende Diskussion mit der theoretischen Vorarbeit erfolgt. Die Deutungen der gesellschaftlichen Ordnung werden in drei Unterkapitel strukturiert. Das Unterkapitel zum Geltungsbereich des Geldes widmet sich der Frage, welche Möglichkeiten mit dem Geld allgemein verbunden werden und welche Grenzen des Geldes in den Interviews gezogen werden. Es geht also um Einflussbereiche und Machtverhältnisse des Geldes. In den Geschichten über Geld werden geldfreie Refugien suggeriert; damit wird der legitime Geltungsbereich des Geldes aus der Perspektive der Befragten definiert. Neben der Vorstellung, Geld hätte spezifische Grenzen oder müsse sie haben, gibt es eine Idealisierung des Einfachen und damit eine Art Armutsromantik. Die Romantisierung von Armut reicht von Aussagen, dass Geld nicht glücklich mache bis hin zu jener Vorstellung, dass diejenigen Personen am glücklichsten seien, die gar nichts hätten. Aber es findet sich im empirischen Material auch Kritik an der Idealisierung von geldfreien Refugien oder der Verklärung von Armut. Anschließend wird durch die Rekonstruktion postapokalyptischer Bilder eine mögliche Auflösung des Geldes beschrieben und diskutiert. Postapokalyptische Szenarien erlauben Rückschlüsse auf die bestehende Gesellschaft und als mögliche Spiegel dieser sind sie sowohl „Deutungsmuster als auch Triebkraft sozialen Wandels“ (Nagel et al. 2008: 306). In diesem Unterkapitel wird aufgezeigt, inwiefern die gesellschaftliche Ordnung durch ihre Auflösung gefährdet scheint. Die Befragten aus den Geschichten Verdiente Ordnung und Glücksversprechende Ordnung bieten Ausblicke auf eine postapokalyptische Gesellschaft, in der das Geldprinzip aufgehoben ist. Diese imaginierten Bedrohungslagen werden untersucht und ihnen wird eine konträre Vorstellung aus der Geschichte Verhängnisvolle Ordnung gegenübergestellt. In dieser wird eine Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung,
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Empirische Untersuchung
in der Geld eine grundlegende Rolle spielt, tendenziell herbeigesehnt. Im Unterkapitel zu den leistungsethischen Rechtfertigungen des Geldes geht es vorrangig um rationalistische Motive in der Beurteilung des »legitimen« Geldes und einer »legitimen« gesellschaftlichen Ordnung. Darüber hinaus wird der von den Befragten beschriebene Umgang mit Geld, inklusive verschiedenen Geldträgern, erörtert. Die puritanisch inspirierte Leistungsethik, wie Weber sie rekonstruiert und gesellschaftstheoretisch beschrieben hat, zeigt sich in der Vorstellung der Legitimität von Reichtum und in bestimmten Bewertungen von Geld, aber auch in einer spezifischen Lebensführung, in die indessen romantische Motive mit einfließen (vgl. Weber 2013; Boltanski/Chiapello 2013; Schäfer 2015a). Zeigen lässt sich abschließend eine Abneigung oder Faszination gegenüber einer Generierung von Geld, die nicht auf Lohnarbeit oder einer materiellen Deckung in der »Realwirtschaft« beruht. Diese Emotionen hängen auch mit dem Umstand zusammen, dass Geld sich letztlich doch nicht ausschließlich zweckrational erklären lässt – Geld bleibt für die Befragten auf eine Art unbegreiflich.
4.3.1
Geltungsbereich des Geldes
Umkämpfte Bastionen Welche Grenzen des Geldes werden in den Geschichten über Geld formuliert und welches Potential wird Geld zugeschrieben? Ich gehe davon aus, dass sich in den Grenzziehungen des Geldes sowie in den Möglichkeiten, die mit Geld verbunden werden, Vorstellungen von der gesellschaftlichen Ordnung widerspiegeln. Den analytischen Fokus auf die Kritik und Rechtfertigung des Geldes zu legen erlaubt es, Gerechtigkeits-, Freiheits- oder Gleichheitsvorstellungen zu illustrieren und zu thematisieren, wie der Geltungsbereich des Geldes von den Befragten akzeptiert werden kann. Für mein Forschungsvorhaben ist es relevant zu erfahren, wie im Hochhalten letzter, vom Markt scheinbar noch nicht einverleibter, Bereiche Kritik und Legitimation des Geldes ineinandergreifen und sich gegebenenfalls neutralisieren. Die Macht des Geldes wird „mit der Einschränkung […] versehen, der schnöde Mammon verfüge jedoch nicht über … – und nun folgt je nach Kultur, Konfession und Mentalität eine ehrfurchtsvolle Nennung der Sphären, die gegen Geld immun sind“ (Hörisch 2013: 359). Kritik an Geld kann sich auflösen, solange es Bereiche zu geben scheint, in die Geld keinen Eingang findet. Diese Bereiche werden im Folgenden als umkämpfte Bastionen und die Erzählung darüber als Refugiennarrativ bezeichnet. Anhand von vier Vorstellungen von Geld nähere ich mich den Grenzen und Möglichkeiten des Geldes an. Dazu gehören: »Geld macht nicht glücklich«, »Geld macht nicht allmächtig«, »Geld macht nicht
4.3 Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung
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reich« sowie »Geld macht möglich«. Die beschriebenen Grenzen des Geldes verweisen auf Bereiche, die von Geld unberührt erscheinen. Allerdings wird in einer Geschichte auch die Auffassung beschrieben, dass es diese klaren Grenzen des Geldes überhaupt nicht gebe. »Geld macht nicht glücklich« ist eine alltagsweltliche Vorstellung, die sich unter anderem in der Geschichte Rechnerische Ordnung wiederfindet. Doch wie wird sie begründet? In dieser Geschichte wird erklärt, dass Geld zwar eine tägliche Notwendigkeit darstelle und es „schön“ sei, Geld zu haben, es mache „alleine aber nicht glücklich“. Obwohl die Bedeutungen, die Geld beigemessen werden, mehrere Ebene tangieren (Alltäglichkeit, Alternativlosigkeit, positives Gefühl), wird der Geltungsbereich des Geldes von der Befragten auf eine spezifische Weise eingeschränkt: Also Geld hat auf eine gewisse Art sicher eine gewisse Macht, sag ich jetzt. Also eben, man sagt ja auch, Geld regiert die Welt. Aber »handkehrum« [Schweizerdeutsch für andererseits, Anm. N.F.], wie ich gesagt habe, Geld allein macht nicht glücklich beziehungsweise kann man viele Sachen nicht kaufen. Wie Gesundheit, Freundschaften, Liebe. Doch, kann man sich zum Teil schon, aber nicht das, was man sich eigentlich darunter vorstellt.
Ein ähnliches Muster findet sich in der Geschichte Verhängnisvolle Ordnung, in der ebenfalls auf einen Vorteil des Geldes hingewiesen wird, um es im darauffolgenden Satz wieder zu begrenzen: „Geld beruhigt, aber es ist noch lange nicht alles“. Hier werden die Grenzen des Geldes in den Bereichen Gesundheit und Glück gezogen. Interessant ist in diesem Beispiel, dass – obwohl Geld Alternativlosigkeit und nahezu Allmacht attestiert wird – seine Geltung eingehegt und eine Trennung zwischen kommodifizierten und nicht-kommodifizierten Bereichen hochgehalten wird: manche Dinge würden sich nicht kaufen lassen, und wenn doch, so würde es nicht dem entsprechen, was man sich „eigentlich darunter vorstellt“. Suggeriert wird damit eine Täuschung oder Verfälschung durch Geld. In der Geschichte Verhängnisvolle Ordnung formuliert der Befragte, dass man mit Geld nicht glücklicher werde, denn „das [Glück, N.F.] kann man nicht kaufen. Das ist auch noch gut. Es ist so ehrlich, dass das nicht geht.“ Trotz einer Notwendigkeit des Geldes sei Glück ein Gut, das nicht käuflich ist; wenigstens in dieser Hinsicht scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Im Weiteren wird ausgeführt, dass aus der Perspektive ärmerer Länder die Schweiz „überbewertet“ werde, denn „das Zwischenmenschliche, das wird sicher total zusammengestaucht. Da fehlt uns sicher etwas irgendwie.“ Die Macht des Geldes wird damit in Bezug auf Glück und nicht-käufliche Bereiche wie Liebe, Gesundheit oder Freundschaft relativiert. Diese letzten Refugien sind umkämpft. Wenn Geld doch Eingang darin
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Empirische Untersuchung
findet, entsprechen diese Sphären nicht mehr ihrem eigentlichen Wesen. Darin zeigt sich die Überzeugung, dass Geld einer Authentizitätsvorstellung widerspricht. Um aber zu begründen, warum diese Bereiche nicht käuflich seien, wird in der Geschichte Rechnerische Ordnung auf eine gottesähnliche Instanz verwiesen. „Es ist halt etwas, das gegeben ist, wirklich. Aber warum dies so ist, puuh, das ist, irgendjemand hat dies einmal so bestimmt vor ganz, ganz langer Zeit, habe ich das Gefühl.“ Die Befragte suggeriert damit, dass es sich um eine unabänderliche Tatsache handelt, die keiner weiteren Erläuterung und damit Rechtfertigung bedarf. »Geld macht nicht allmächtig« ist eine Ansicht, die sich in der Geschichte Verdiente Ordnung herausarbeiten ließ. Demnach sei es eine „plumpe Antwort“, dass Geld nicht glücklich mache; dennoch wird ein Verständnis für diese „Standardantwort“ ausgedrückt. Die Grenzziehung verläuft für den Befragten indessen anders: Mit Geld ließe sich zwar „theoretisch alles kaufen“, man müsse aber auch Personen finden, die eine Arbeit oder Dienstleistung ausführen. Insbesondere in der Schweiz fänden sich diesbezüglich Grenzen des Geldes: „Da kann er noch so viel Geld haben, du kannst eigentlich in einer Gesellschaft wie bei uns, die stabil ist, kannst du dir mit Geld schon Macht zum Beispiel erkaufen, aber nicht unbeschränkt.“ Begründet wird dies vom Befragten damit, dass in der Schweiz Leute nicht so darauf angewiesen sind. Wenn die Bevölkerung ein gewisses Grundeinkommen hat, eine gewisse finanzielle Absicherung hat, dann ist das, was noch Plus, als Supplement dazu kommt, plötzlich nicht mehr so relevant oder wichtig. Und darum finde ich, gibt es schon eigentlich recht schnell einmal eine Grenze. Es ist so, bis zu einem gewissen Grad ist es relativ wichtig und dann ist es immer unwichtiger. Weil dann ist es nachher nur noch Luxus. Mit ein wenig Geld bekommst du eigentlich fast alles, was du zum Leben brauchst und dann kannst du noch ganz viel mehr Geld ausgeben, um es noch ein bisschen besser zu haben. Aber das bisschen besser haben, das ist es vielen Leuten auch nicht wert, habe ich den Eindruck, um sich dafür den Rücken krumm zu machen.
Grundsätzlich sei alles käuflich, sogar Macht. Die Einschränkung liegt für den Befragten darin, dass die Bereitschaft, eine Arbeit oder Dienstleistung zu übernehmen, mit dem Wohlstandsniveau und der Stabilität eines Landes zusammenhänge. Der Befragte projiziert eine soziale Wunschordnung auf die Schweiz, in dem die Macht des Geldes und damit der Handlungsspielraum der Reichen als eingeschränkt erscheinen. »Geld macht nicht reich« ist eine Aussage aus der Geschichte Selbstverordnete Ordnung. Der Befragte hebt hervor, im Gegensatz zu anderen würde ihn Geld und nicht Lohnarbeit glücklich machen. Er erklärt, dass es kein „gutes Gefühl“ sei,
4.3 Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung
163
aufgrund fehlenden Geldes nicht zu wissen, „wie der Tag zu Ende geht deswegen“. Geld und Sicherheit sind eng verknüpft. Das Problem liegt indessen darin, dass Geld und Freiheit nicht das Gleiche seien. Aus kulturellen Gründen würde eine „unheimliche Dynamik“ von der Sorge ausgehen, von „Geldnot betroffen zu sein“, und daraus folgert der Befragte, dass man also schon fast abgerichtet ist, Geld zu verdienen. Es ist offensichtlich, was Geld mit uns macht. Und trotzdem lehnen wir es nicht ab. Sondern wir nehmen es hin. Wir versuchen, damit umzugehen und arbeiten damit und entwickeln irgendwelche Mechanismen, um damit zurechtzukommen.
In dieser Vorstellung von Geld und seinen Grenzen wird davon ausgegangen, dass man sich einem Zwang unterwirft, obwohl man die Folgen des Geldes doch kenne. Reich zu sein bedeute hingegen, dass man sich von Geld und den ihm zugeschriebenen Konsequenzen nicht disziplinieren lässt. Als idealisierter Vergleich dient die mosambikanische Gesellschaft, in der es diese Unterwerfung nicht gebe. Damit zeigt sich die Grenze des Geldes in der Unterscheidung zwischen Reichtum, der Freiheit impliziert und Reichtum, der bloß auf Geld basiert. »Geld macht möglich« ist eine Bedeutungszuschreibung des Geldes, die den soeben rekonstruierten Grenzen des Geldes entgegensteht. Sie findet sich beispielsweise in der Geschichte Alltägliche Ordnung. Begründet wird diese Zuschreibung von der Befragten damit, dass man mit Geld „Zeit kaufen“ könne. Es handelt sich um eine Kritik an der Kritik, die sich im Refugiennarrativ findet. Es gibt einen Bezug zu den alltagsweltlichen Vorstellungen, die an einer Grenze des Geldes in den Bereichen Liebe, Freundschaft oder Gesundheit festhalten. Hier jedoch werden keine klaren Grenzen zu den Bereichen Liebe, Freundschaft oder Gesundheit gezogen; vielmehr wird erklärt, weshalb Geld davon eben nicht auszuschließen sei. Geld sei für die Befriedigung von „Grundbedürfnissen“ wie Essen und Wohnen zwingend notwendig und darüber hinaus seien weitere Dienstleistungen und „Zugangsvoraussetzungen“ von Geld abhängig. Es wird erläutert, dass zum Beispiel im Gesundheitsbereich Geld Zugänge sichert, ohne jedoch Garantien zu bieten. Auch für die „soziale Integration“ spiele Geld eine wichtige Rolle. Ohne Geld gebe es ein „Ausgrenzungsmoment“, da an gewissen Aktivitäten – genannt werden Kino und Shopping – nicht teilgenommen werden könne: „Genau, also auch so Sozialkontakte halt einfach, die damit irgendwie verloren gehen oder zunehmen können. Aber es ist dann auch wieder abhängig von einer bestimmten Lebenswelt, die man hat.“ Geld wird damit als wichtiger Schließungsmechanismus benannt. In der Betonung des Ineinanderwirkens von Geld
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Empirische Untersuchung
und vermeintlich geldfreien Refugien werden nicht Geld, sondern Refugien in Frage gestellt: Was man alles so über Geld bekommen kann, wozu dann auch Sexualität gehört. Das ist ja immer so ein Thema, was dann so ein bisschen auf einer anderen Ebene diskutiert wird, darf man jetzt irgendwie das so ökonomisieren oder darf man das nicht machen oder ist es etwas, wofür man Geld ausgeben soll oder etwas, das einfach unkäuflich ist. Aber auf jeden Fall gehört es ja faktisch momentan zu den Dienstleistungen unserer Gesellschaft, die man auch kaufen kann.
In der Darlegung der Möglichkeiten, die Geld bietet, werden gesellschaftliche Tabus thematisiert und damit die Grenzen brüchiger dargestellt als in anderen Geschichten. Verhandelt werden die Grenzziehungen als gesellschaftlich. Auch Liebe wird nicht per se als geldfreies Refugium aufgefasst: Also allein schon, weil man Konfliktsituationen vermeidet. Oder weil man viel Gutes mit Geld machen kann, also man kann auch viel Schlechtes machen, aber man kann da viel Gutes machen, was einem positive Gefühle zumindest wahrscheinlicher macht. Also ist es auch nicht ganz wahr, wenn man behauptet, man kann sich Gefühle überhaupt nicht kaufen oder Liebe überhaupt nicht kaufen. Zu einem bestimmten Grad ist auf jeden Fall mehr Spielraum.
Eine zugespitzte Kritik am möglichen Geltungsbereich des Geldes wird in der Geschichte Glücksversprechende Ordnung formuliert. Für den Befragten ist Geld etwas „Angenehmes“, wobei diese Wirkung und sein Umgang mit Geld nicht generalisierbar seien. Es wird als ein individuelles Vermögen aufgefasst, Geld und Glück in Zusammenhang zu bringen: „Man sagt immer, Geld macht nicht glücklich. Das finde ich einen absolut katastrophalen Begriff. Also kein Geld macht unter Umständen viel unglücklicher als Geld zu haben.“ Die Ambivalenz des Geldes wird weniger im Geld als in der Verführbarkeit der Menschen gesehen. Nicht Geld sei zu problematisieren, sondern wie mit Geld umgegangen wird. Damit ist die einzige legitime Kritik an Geld nicht auf Geld selbst oder strukturelle Gegebenheiten gerichtet, sondern nur diejenige ist legitim, die sich auf den individuellen Umgang damit beschränkt. Es geht folglich um die Abwehr einer Kritik an Geld respektive an einer damit verbundenen gesellschaftlichen Ordnung, denn der Befragte sieht in Geld ein Heilsversprechen. Geld bringe gesellschaftliche, wirtschaftliche und individuelle positive Wirkungen mit sich – Glück und Freiheit in der Gesellschaft seien dabei notwendig daran gebunden. Wie oben bereits ausgeführt, geht der Befragte davon aus, dass Geld keine Grenzen hat. Geld und Freiheit werden in dieser Geschichte gleichgesetzt.
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Armutsromantik Im Folgenden wird die Thematik der umkämpften Bastionen weitergeführt, indem eine romantische Idealisierung einfacher Verhältnisse (vgl. Schäfer 2015b: 105; Weiß 1986: 286), die als Gegenpol zu Geld verhandelt werden, beschrieben wird. Unter dem Begriff Armutsromantik fasse ich die Verteidigung letzter geldfreier Bastionen, die mit einer Alternative zur bestehenden gesellschaftlichen Ordnung verknüpft sind. Armutsromantik findet sich im Verweis auf das »Andere der Moderne«, und in den Geschichten über Geld kommt sie in dreifacher Weise vor: erstens in der Fremde, zweitens in der Vergangenheit und drittens in der eigenen Gesellschaft, aus der ein Ausstieg möglich sei. Das »Andere in der Vormoderne« ist ein Motiv aus der Geschichte Verhängnisvolle Ordnung. Diese thematisiert paradigmatisch eine Sehnsucht nach der Vergangenheit, die eine Ablehnung gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse impliziert. Im Mittelpunkt dieses Unbehagens steht Geld mit seinen zugeschriebenen Wirkungen; frühere Zeiten werden positiv bewertet. Naturalientausch sei „ehrlicher“, Korruption und ein übertriebenes Anhäufen seien logische Konsequenzen des Geldes. In der Schweiz gebe es eine Omnipotenz und -präsenz des Geldes, „es geht nichts mehr ohne Geld“. Darüber hinaus würde sich Geld negativ auf das „Zwischenmenschliche“ auswirken. Geld wird als schädlich und un-authentisch aufgefasst, was in einer Sehnsucht nach anderen Verhältnissen mündet. Deswegen werden Länder, in denen Geld (noch) kein „notwendiges Übel“ sei, vom Befragten idealisiert. Geld wird vom Befragten explizit nicht mit Sicherheit gleichgesetzt; vielmehr wird empfohlen, Alternativen zu Geld in Form von Selbstversorgertum durch ein Haus mit landwirtschaftlicher Anbaufläche anzustreben. Es wird davon ausgegangen, dass Geld einen zivilisationsgeschichtlichen Verfall eingeleitet hat. In Geld wird ein gemeinschaftszersetzendes Element gesehen; eine mögliche Aufhebung der bestehenden Verhältnisse – abstrakter gesprochen der Moderne – verspricht eine Rückkehr in das Idyll der Vergangenheit. Verstärkt zeigen sich ein Gefühl der Ohnmacht und negative Konsequenzen des Geldes in der Dichotomie zwischen »uns« und »den anderen«. Damit wird eine gesellschaftliche Ordnung, in der es eine starke Abhängigkeit gegenüber dem Finanzsektor und seinen Repräsentanten gebe, vehement kritisiert. Das »Andere der Moderne« ist eine Weise der Armutsromantik, wie sie sich in der Geschichte Selbstverordnete Ordnung aufspüren lässt. Konstitutiv für diese Geschichte ist eine Kulturkritik, die sich gegen ein „falsches Bewusstsein“ richtet, worunter eine freigewählte Disziplinierung in westlichen Ländern gemeint ist. Der Befragte geht davon aus, dass bei allen ein Wissen darüber bestehe, welche gesellschaftlichen Wirkungen Geld mit sich bringe. Er stellt nicht Geld in Frage, sondern eine mit Geld verbundene Disziplinierung in Form von Lohnarbeit:
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Also ich könnte mal eine schöne Geschichte erzählen. Zum Beispiel in Mosambik, da ist es nicht so. In Mosambik gab es, haben sich Unternehmen zum Beispiel angesiedelt und haben versucht, genau so Geld auszuschütten wie in Europa. Also alle dreißig Tage, in dem Turnus. Aber am ersten Tag des nächsten Monats ist keiner mehr zur Arbeit gekommen. Weil es war ja Geld da, sie haben 31 Tage gearbeitet und haben sich auszahlen lassen. Also geht man erst wieder arbeiten, wenn das Geld weg ist. Warum wir da immer so auf Verdacht Geld anschaffen, das ist für mich auch so eine rein kulturelle Funktion.
Die Kulturkritik bezieht sich auf Europa in Abgrenzung von einem afrikanischen Land, in dem zwar versucht wurde, ein europäisches System zu etablieren, aber ohne Erfolg.18 In dieser „schönen Geschichte“ zeigt sich eine Sehnsucht gegenüber anderen Verhältnissen, denn die „abgegrenzte Zeit oder der abgegrenzte Ort rufen eine besondere Erwartung hervor, genauso wie das häufige »Es war einmal« eine Stimmung schafft, in der man phantastischen Erzählungen zugänglich ist“ (Douglas 1988: 85). Mosambik wird als das »Andere der Moderne« gezeichnet; romantisiert wird zwar nicht die dortige Armut an sich, aber eine gesellschaftliche Ordnung, in der die Disziplinierung des Geldes nicht greife: Was ich vorhin sagte, dieses Nachrennen von Geld, das versteht ein Mosambikaner gar nicht, für die Mosambikaner ist es, glaube ich, normal, gesellschaftlich anerkannt, kein Geld zu haben. So ein gesellschaftlicher Stellenwert ermittelt sich halt anders, du bist dort meinetwegen fürsorglicher Familienvater, du bist besonders geistlich, ein geistlicher Mensch oder du hast in der Kirche eine wichtige Rolle oder irgendwie so was, so was zählt da noch mehr als bei uns.
Auffallend in der Beschreibung der Verhältnisse in Mosambik ist die Differenz zwischen einer religiös-traditionellen Gemeinschaft und einer industrialisierten westlichen Gesellschaft mit je unterschiedlichen Wertvorstellungen. Zusätzlich gründet die Wertung des Befragten darauf, dass Geld nicht reich mache und seine Freiheitsvorstellung von Geld entkoppelt ist. Schließlich bildet die Phantasie von einem Ausstieg aus der eigenen Gesellschaft eine weitere Variation der Armutsromantik. Demnach findet sich das 18 Diese Aussage erinnert an Marx’ Spott: „Herr Peel, jammert er uns vor, nahm Lebensmittel und Produktionsmittel zum Belauf von 50 000 Pfd. St. aus England nach dem Swan River, Neuholland, mit. Herr Peel war so vorsichtig, außerdem 3000 Personen der arbeitenden Klasse, Männer, Weiber und Kinder mitzubringen. Einmal am Bestimmungsplatz angelangt, »blieb Herr Peel, ohne einen Diener, sein Bett zu machen oder ihm Wasser aus dem Fluss zu schöpfen«. Unglücklicher Herr Peel, der alles vorsah, nur nicht den Export der englischen Produktionsverhältnisse nach dem Swan River!“ (MEW 23: 793f.). Bei Marx werden die Unterschiede allerdings nicht wie in der Geschichte kulturell begründet.
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Andere auch innerhalb der Moderne. In der Geschichte Rechnerische Ordnung wird eine Grenze zwischen Geld und Glück – welches mit Liebe, Gesundheit oder Freundschaft verbunden wird – gezogen. Die Möglichkeit des Ausstiegs wird bewundert: Es gibt Leute, die mit wenig Geld glücklich sind, ich sage jetzt vielleicht auch glücklicher als andere, die viel haben, weil sie einfach nicht so einen hohen Lebensstandard haben, die halt mit wenig Geld zurecht kommen müssen oder auch wollen. Ich denke da manchmal so an Aussteiger, die sich irgendwo vielleicht irgendetwas aufbauen und wirklich von wenig Geld leben, aber auch nicht mehr brauchen. Und so absolut glücklich sind.
Implizit darin enthalten ist eine Bewunderung für das Außergewöhnliche – Glück und Geld werden nicht gleichgesetzt. AussteigerInnen würden sogar eine Absolutheit des Glücks erreichen können, wobei unterschieden wird zwischen denjenigen, die mit wenig Geld zurechtkommen müssen und denjenigen, die mit wenig Geld zurechtkommen wollen. Betont wird mit dieser Unterscheidung die Freiwilligkeit des Ausstiegs und die Möglichkeit, sich den Verhältnissen zu verweigern. Die Bewunderung richtet sich auf eine Eskapismus-Existenz in der eigenen Gesellschaft, womit eine Insel der Freiheit im Bestehenden suggeriert wird. Auf diese Weise wird im Selbstversorgertum ein Glücksversprechen gesehen. Das Motiv des Ausstiegs gründet auf einem Unbehagen gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Geld eine alltägliche Notwendigkeit darstellt. Die Bewunderung einer eskapistischen und asketischen Lebensweise, eine Entsagung von gesellschaftlichen und pekuniären Zwängen, zeigt eine Sehnsucht auf: eine Sehnsucht, die sich in der Verteidigung der letzten Bastion – Glück – herauskristallisiert und analog zu den vorherigen Beispielen der Logik entspricht, in der das Einfache Wertschätzung erfährt. All diesen Romantisierungen steht die Geschichte Glücksversprechende Ordnung gegenüber. Armut wird also unterschiedlich bewertet: In dieser Geschichte zeichnet der Befragte Armut alles andere als positiv, denn Geld wird mit Glück, Freiheit, Fortschritt oder Allgemeinwohl assoziiert. Dennoch weist der Befragte auf Probleme Wohlhabender hin, welche von Armut Betroffene nicht kennen würden. Es wird berichtet, dass mit zunehmendem Reichtum Ängste einhergehen: Und was mir auffällt und das sagt auch jeder Vermögensverwalter, dass die Anhäufung von Geld, wie soll ich jetzt mal sagen, das sagen die meisten, macht eigentlich die Leute eher unsicherer, als Leute, ich sage jetzt mal, die so ein bisschen am Existenzminimum schweben. Aber das stellen sehr viele Vermögensverwalter fest, dass
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Empirische Untersuchung
Leute, die 100 Millionen haben, haben Angst, sie können die nächsten fünf Jahre nicht mehr überleben.
Die Beschreibung dieser Problematik beruht nicht allein auf seiner eigenen Erfahrung, was sich darin zeigt, dass andere Experten einbezogen werden. Damit soll seine eigene Perspektive autorisiert werden. Geld biete keine letzte Sicherheit beziehungsweise gehe mit zunehmendem Reichtum, so irrational es auch erscheinen möge, eine zunehmende Unsicherheit einher. Beschrieben wird ein Wohlstandschicksal: Dieses Problem würden von Armut Betroffene nicht kennen, womit es eine Form der Relativierung von Reichtum darstellt. Eingehegtes Geld und romantisierte Alternativen Es lässt sich festhalten, dass die Interpretation der gesellschaftlichen Ordnung die Thematisierung von Grenzen des Geldes und seines moralisch akzeptieren Geltungsbereichs einschließt. Es finden sich unterschiedliche Begründungen, wieso Geld zum Symbol von Sicherheit wird: ob es nun „beruhigt“, weil damit Möglichkeiten verknüpft seien, es aufgrund seiner alltäglichen Notwendigkeit „schön“ zu haben sei, oder weil es der „Absicherung der Zukunft“ diene. Der Geltungsbereich des Geldes wird aber eingeschränkt. Das Festhalten an der Nicht-Käuflichkeit mancher Bereiche kann so interpretiert werden, dass es unterstützt, eine moralische Ordnung zu stabilisieren: es darf nicht so sein, weil damit Gerechtigkeits- und Freiheitsprinzipien verletzt werden. Die Begründung der Nicht-Käuflichkeit von Gesundheit in der Geschichte Rechnerische Ordnung wird auf eine letzte Instanz verschoben, womit es einer autoritären, unhinterfragbaren Weisung gleichkommt: „»Es ist gut, weil Gott es so befohlen hat« ist der richtige Ausdruck für die Grundlosigkeit“ (Wittgenstein zitiert in Di Cesare 2013: 250). Dem widerspricht die Sichtweise in der Geschichte Verdiente Ordnung, die die Macht der Besitzenden beschränkt, obwohl alles käuflich sei. Die Einschränkung der Macht des Geldes verstanden als Einschränkung der Macht der BesitzerInnen verspricht eine soziale Ordnung, in der man nicht gezwungen ist, sich den „Rücken krumm“ zu machen. Vorzufinden sei diese Ordnung in der wohlhabenden Schweiz, wo aufgrund des zunehmenden gesellschaftlichen Wohlstands die Bereitschaft abnehme, gewisse Arbeiten überhaupt anzunehmen. Der Befragte suggeriert damit eine letzte Wahl. Diese Form von Freiheit ist für den Befragten wichtig, um das Bewahren der Würde zu garantieren. Anders verhält sich die Bezugnahme auf Freiheit in der Geschichte Selbstverordnete Ordnung, in der sich die Kritik gegen eine Disziplinierung durch Geld richtet. Der Befragte schreibt Geld ein Disziplinierungsverhältnis zu, welches freiwillig eingegangen werde.
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Freiheit und Reichtum werden in dieser Geschichte als von Geld unberührt, aber darum in unserer Gesellschaft auch nicht zu finden dargestellt. Diesen Variationen der Armutsromantik liegt eine Sehnsucht nach dem Einfachen und Ehrlichen sowie eine Ablehnung bestehender Verhältnisse zugrunde, welche sich in einer Kritik an Geld kanalisiert. Das „bäuerliche Leben erscheint als letztes Reduit der Innerlichkeit“ (Frisch 2010: 248) und Landwirtschaft, als Gegenpol zur Geldwirtschaft, wird „als das allein Geziemende gepriesen“ (GSG 6: 560). Der Alternativlosigkeit des Geldes wird begegnet, indem das Andere der Moderne scheinbar in anderen Gesellschaften gefunden bzw. hineinprojiziert werden kann; in der eigenen Gesellschaft beruhigt die Möglichkeit einer Eskapismus-Existenz in Form des Ausstiegs und spielt der Legitimität des Geldes sowie einer damit verbundenen gesellschaftlichen Ordnung zu. Die Idealisierung des Einfachen birgt ein konservativ-affirmatives Moment, insofern bestehende Ungleichheiten beschönigt werden. Solange die Möglichkeit des Anderen der Moderne besteht, kann demnach auch ein Arrangement mit der gesellschaftlichen Ordnung erfolgen. Kritik an Geld löst sich in Legitimation auf, da die Macht des Geldes als eingeschränkt erscheint.
4.3.2
Auflösung des Geldes
In diesem Kapitel werden Szenarien eines möglichen Zusammenbruchs der gesellschaftlichen Ordnung und damit Vorstellungen einer gesellschaftlichen Unordnung skizziert. Die Aufhebung des Geldes wird im empirischen Material mit fundamentalen gesellschaftlichen Transformationen assoziiert. Eine mögliche Auflösung oder den Zusammenbruch der Geldordnung bezeichne ich in den nachfolgenden Ausführungen als Apokalyptik, auch wenn mit dem Untergang einer Gesellschaftsform nicht gleich der Untergang der gesamten Welt gemeint ist. Die Bedeutungszuschreibungen des Geldes und der damit verbundenen Interpretation einer gesellschaftlichen Ordnung weisen eine Instabilität des Geldes auf, potenziert in postapokalyptischen Bildern, in denen Geld seine Funktion und Bedeutung in toto einbüßt. Exemplarisch an den Geschichten Verdiente Ordnung, Verhängnisvolle Ordnung und Glücksversprechende Ordnung werden Gesellschaftskonzepte umrissen, in denen das Geldprinzip zum Guten oder zum Schlechten aufgelöst ist. Die Zuspitzung erfolgt aufgrund der Überlegung, dass die Rekonstruktion postapokalyptischer Bilder Erkenntnisse über die gegenwärtige gesellschaftliche Lage verspricht. Einblicke in die Vorstellungen von Ordnungen ohne Geld erlauben Rückschlüsse auf die von den Befragten geübten Legitimationen und Kritiken am gesellschaftlich Bestehenden.
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4
Empirische Untersuchung
Die soziologische Auseinandersetzung mit apokalyptischen Erzählungen ist bislang nicht systematisiert (vgl. Rauer 2012: 1).19 Analog zu religiösen Apokalypsen vermitteln säkulare apokalyptische Bilder Heilsversprechen, Halt oder Moralkodizes. Apokalyptische Erzählungen verwenden „ahistorische, mythische, naturhafte Bilder“, was dazu dient, „die unbedingte, allumfassende Bedeutung des Urteils zum Ausdruck zu bringen“ (Vondung 1988: 267). Die Bedrohungslagen, welche in Apokalypsen sehr bildhaft transportiert werden – man denke nur an die Johannes-Offenbarung mit den vier apokalyptischen Reitern –, können von Naturkatastrophen, von menschlichem Verhalten und Gruppen wie auch von einer »Verselbständigung« der Technik ausgehen, wodurch das „bedrohte Referenzobjekt“ (Rauer 2012: 1) verschieden sein kann. Angewendet auf das empirische Material bedeutet dies, dass für die Befragten die bestehende gesellschaftliche Ordnung das gefährdete Referenzobjekt darstellt. In der ersten Variante »Postapokalypse als Kriegszustand« wird erklärt, weshalb aus der Perspektive der Befragten die gegenwärtigen Verhältnisse konserviert werden müssen. Die zentrale Erkenntnis liegt darin, dass im Verweis auf ein drohendes Ungemach dieses gleichsam abgewendet werden soll. Verhältnisse ohne Rechtssicherheit – denn nur dadurch sei die Geldlogik aufhebbar – werden als zivilisationsgeschichtliches Ende gezeichnet, in dem das Recht des Stärkeren die Geldlogik aufhebe. Die Auflösung der bestehenden gesellschaftlichen Normativität präsentiert sich nur noch in Form einer möglichen Katastrophe. Im Kontrast zur „Zukunft als Horror“ (Bauman 2017: 75) steht die Variante »Postapokalypse als friedliche Subsistenzwirtschaft«, die die gegenwärtigen Verhältnisse mit Geld als Ordnungsmacht ablehnt. Die Postapokalypse zeichnet sich durch ihre Einfachheit aus, versinnbildlicht im Selbstversorgertum, und kommt damit einem ursprünglichen Zustand der „Fülle“ (Nagel 2008b: 59; vgl. auch Taylor 2009: 19) nahe. Variante I: »Postapokalypse als Kriegszustand« Die Geschichten Verdiente Ordnung und Glücksversprechende Ordnung bilden die empirische Grundlage für die erste Variante eines postapokalyptischen Narrativs. Die Gegenwart wird als ideale und damit legitime Ordnung aufgerufen sowie affirmiert, obwohl auch auf Entwicklungen hingewiesen wird, die von den Befragten als Verfallstendenzen gedeutet werden und die eine Bedrohung darstellen. Rechtssicherheit wird als wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren des
19 Dies steht nicht im Verhältnis zur kulturindustriellen Vermarktung dystopischer Verhältnisse und der Ausbreitung dieser Endzeitgenres. Diese sind im Folgenden aber auch nicht der Untersuchungsgegenstand, sondern ein allgemeines Untergangsnarrativ.
4.3 Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung
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Geldes betrachtet, weswegen befürchtet wird, dass durch einen Verlust der Rechtssicherheit ein Natur- als Kriegszustand herbeigeführt wird, in dem das Recht des Stärkeren gilt und das Geldprinzip durch Waffen ersetzt wird. In der Geschichte Glücksversprechende Ordnung geht der Befragte davon aus, dass Geld einen „imaginären Wert“ darstellt, da es im Gegensatz zu einer Ware keinen Eigenwert besitze: Man geht weg von einem Gegenstand, der Wert hat, zu einem imaginären Gegenstand, das nur ein Stück Papier ist, auf Deutsch gesagt. Und sobald ich dann diesen Wandel mache und sobald Leute sagen, das ist einfach viel praktischer, so miteinander umzugehen, dann werden sie ein Rechtssystem schaffen, weil nur dieses Rechtssystem kann eigentlich diesem Papier einen Wert zuordnen.
Die Entwicklung zu Papiergeld bedinge das Entstehen eines modernen Rechtssystems, wobei die Entmaterialisierung des Geldes als logische Entwicklung gedeutet wird. Damit wird eine ziemlich hohe Abstraktionsleistung notwendig. Rechtssicherheit wird in dieser Geschichte als wichtigste Rahmenbedingung des Geldes betrachtet, alles andere sei „sekundär“. Der Befragte führt aus, dass in der Moderne zu dieser Rechtssicherheit Zentralbanken gehören, die Geld als „imaginärem Symbol“ einen Wert zuschreiben: Und diese Nationalbanken, die können dem Geld nicht einen beliebigen Wert geben, sondern es muss irgendwo hinterlegt sein mit der wirtschaftlichen Leistung. Also ein Staat oder ein Währungsraum muss eine gewisse wirtschaftliche Leistung erbringen, sonst wird der imaginäre Wert vom Geld, dieser wird sonst tiefer oder er wird höher, wenn eine höhere Wirtschaftsleistung damit verbunden ist.
Geld sei „ein Ausdruck von Effizienz. Also von einem optimalen Einsatz von den Menschen, die in diesem System drin funktionieren“. Die Entmaterialisierung des Geldes wird vom Befragten als „befreiender Schritt“ bezeichnet, sie wird als quasi-natürlich und damit legitim dargestellt. Befreiend sei es deshalb, weil der Mensch „sein Hab und Gut“ nicht mehr gewaltsam verteidigen müsse, wie dies jahrhundertelang der Fall gewesen sei. Insofern der Staat Rechtssicherheit garantiere, bestehe ein Schutz und Sicherheit für entmaterialisiertes Geld. Um diese Argumentationsweise zu stützen, wird in dieser Geschichte auf ein Horrorszenario verwiesen. Das bedeutet allerdings auch, dass Rechtssicherheit und Geld letztlich nicht als unantastbar betrachtet werden. Dahinter steckt die Vorstellung, dass auf das Wegbrechen des bürgerlichen Rechtssystems ein Zustand gewaltförmiger Unordnung folgen würde. Geld wird mit Friedfertigkeit assoziiert. Der Befragte konstatiert, dass man in einem System ohne Rechtssicherheit
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4
Empirische Untersuchung
„mit einer Kalaschnikow eigentlich viel mehr erreichen kann, als mit einem Stück Papier“. Nur rechtsstaatliche Strukturen würden den imaginären Charakter des Geldes decken können. Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Geld ist postapokalyptisch gefärbt, gerade weil in dieser Geschichte Geld eine promesse de bonheur darstellt. Die Vision eines gewaltförmigen Kriegszustands, in dem Kalaschnikows und das Recht des Stärkeren vorherrschen, und nicht mehr bürgerlich-kapitalistische Rechtssicherheit, wird durch den Verweis auf Verfallstendenzen zusätzlich veranschaulicht und plausibilisiert: Eine abzuwendende Krise zeichne sich in Südeuropa ab, aber auch in der Schweiz wird bereits ein Verfall ausgemacht. Verwiesen wird dabei auf ökonomische Entwicklungen. Eine hohe Staatsquote bedrohe Geld, Wirtschaft und Gesellschaft allgemein: Ich finde es für eine Gesellschaft extrem schädlich, dass die Leute eigentlich meinen, das Geld werde irgendwie aus dem Bundeshaus20 , nachts unter dem Bundeshaus gedruckt und dann heimlich verteilt und niemand fragt mehr, wo wird denn eigentlich die Wertschöpfung gemacht. Dass eigentlich niemand mehr so besonders, dass die Leistung von der Wirtschaft eigentlich gar nicht mehr so wertgeschätzt wird, weil man irgendwie viel zu weit weg ist von der eigentlichen Wertschöpfung, die hinter dem Geld steht, das Geld alleine den Wert gibt. Also ich meine, das sieht man jetzt in Griechenland. Ich bekomme nicht mehr so viel für das, weil das System nicht mehr funktioniert, weil keine Wertschöpfung mehr vorhanden ist. Weil Leute zwar in irgendwelchen Büros rumsitzen, aber einfach nichts mehr produzieren, nichts mehr, wofür ich bereit bin, einem andern Land etwas dafür zu zahlen.
In diesem Zusammenhang konstatiert der Befragte eine Entfremdung von wirtschaftlichen Leistungen und die Konsequenz dessen – eine Gefährdung des Allgemeinwohls – wird als Krise deklariert. Rechtssicherheit wird in dieser Geschichte notwendigerweise an eine Ordnung gebunden, die kapitalistische Grundsätze schützt. Die Verletzung von Wirtschaftsprinzipien malt der Befragte als Vorbote eines Verfalls. Die Möglichkeit der Aufhebung des Bestehenden durch den Verweis auf einen dystopischen Zustand gleicht hier einer Mahnfigur; erste Tendenzen des drohenden Untergangs würden sich bereits abzeichnen. Ähnlich verhält es sich in der Geschichte Verdiente Ordnung, in der Geld ein Symbol für Sicherheit und Potentialität darstellt. Vom Befragten wird dies als ein relevanter Vorteil gegenüber anderen Sicherheitssymbolen, wie Immobilien, hervorgehoben. Doch auch hier scheint Geld, als eigentlicher Garant für Sicherheit, nicht vor seiner Auflösung geschützt, insofern das Funktionieren des Geldes die Garantie von Privateigentum meint:
20 Sitz
der schweizerischen Regierung und des Parlaments in Bern.
4.3 Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung
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Also das stabile Rechtssystem, da geht es eigentlich darum, dass dein Besitz garantiert ist. Also, dass deine Gesellschaft oder dein Rechtssystem, in dem du lebst, dass du annehmen kannst mit ziemlich hoher Sicherheit, dass dann nicht irgendwie morgen einer kommt und dir alles Zeug wegnimmt.
Um in der Zukunft als Potential gelten zu können, bedarf es einer Zukunft, welche diesen Rückgriff erlaubt. Der Ausblick auf Verhältnisse, in denen Rechtssicherheit und Geld verloren gehen, weist Ähnlichkeiten mit der vorherigen Geschichte auf: „Wenn es nicht stabil ist, dann hast du besser irgendwie eine Kalaschnikow daheim. Und (Lachen) eine fette Hacienda oder so.“ Verhältnisse ohne Geld werden erneut als Kriegszustand gezeichnet, in denen Waffen und das Recht des Stärkeren dominieren. Wiederum wird auf Verfallstendenzen hingewiesen, um das Argument zu untermauern: Wenn sie jetzt da in Zimbabwe irgendwie das Gefühl haben, sie müssen jetzt wieder ein bisschen mehr Geld drucken, dann hat es nachher einfach weniger Wert. Ich habe das Gefühl, in der Schweiz ist das nicht ein Problem.
Zimbabwe wird als Negativbeispiel zur Schweiz benannt, wo nicht nur der neoklassische Imperativ der Inflationsstabilität missachtet wird, sondern jegliche Rationalität in Gelddingen aufgehoben scheint. Nicht nur Kalaschnikows machen die dystopische Vision aus; ergänzend wird mit der Hacienda das KlischeeBild südamerikanischer, grausam-romantischer Drogenbaronverhältnisse evoziert. Auffallend ist ein Othering in Form von Bezugnahmen auf Phänomene mit fremdsprachigen Namen oder Orte: Kalaschnikow, Hacienda, Zimbabwe. Für den Fall der Auflösung des Bestehenden werden folglich nicht hochmoderne Waffen und ein sicheres Bunkersystem vorgeschlagen. Aber warum wird ein fast schon vormodernes Bild gezeichnet? Kalaschnikows sind die verbreitetsten Waffen weltweit und stehen symbolisch für Bürgerkriege, aber auch für »Befreiungskämpfe« (vgl. Müller 2008). In diesem dystopischen Bild setzen sich »einfachere« Waffen und das Recht des Stärkeren durch. Die Hacienda ist assoziativ ebenfalls mit Macht und Einfluss verbunden, nämlich mit Konfliktlösungsmöglichkeiten jenseits von Aushandlung und demokratischer Konsensfindung. Diese beiden Geschichten können als eine Form der Idealisierung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung begriffen werden. Wertschöpfung, Inflationsstabilität, Rechtssicherheit und Schutz von Privateigentum spielen darin fundamentale Rollen. Eine positive beziehungsweise friedvolle Bedeutungszuschreibung des Geldes wird als notwendig an das Bestehende gebunden. Ein Zusammenbruch dieses Bestehenden kann nur als gewaltvoll vorgestellt werden. Die zu bewahrende Ordnung zeigt sich vornehmlich (noch) in der Schweiz;
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Empirische Untersuchung
Gegenbeispiele gelten als erste warnende Vorboten, wie als Teil einer Prophezeiung. Maßnahmen gegen die drohende Apokalypse sehen aber unterschiedlich aus. Die bestehenden Missverhältnisse, exemplarisch an Zimbabwe ausgeführt, und die generelle Sorge vor einer Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung führen dazu, dass der Befragte Vorsichtsmaßnahmen trifft. In der Geschichte Verdiente Ordnung wird erklärt, dass die Stabilität des Rechtssystems in der Schweiz nicht gefährdet sei; dennoch sucht der Befragte nach Sicherheitsalternativen zu Geld: Ich finde diese Entmaterialisierung eigentlich nicht ein Problem. Wenn ich ein Problem damit hätte, dann würde ich wahrscheinlich mir eher einen Klumpen Gold zu Hause bunkern oder so. Logisch ist es natürlich, wenn die Gesellschaft oder wenn politisch gesehen alles ein bisschen instabil wird und so, dann würde ich vielleicht auch mein Geld von der Bank nehmen und mir einen realen Gegenwert dazu schaffen. Ja gut, ich habe mir ja dieses Häuschen gekauft. Das hat schon auch einen gewissen Hintergedanken, also nicht, dass ich irgendwie panisch wäre, (Lachen), aber das ist ein bisschen eine Lebenseinstellung, die man vielleicht hat. Und ich habe gern irgendeinen, eben einen Gegenwert von dem, was ich besitze.
Konträr dazu äußert sich der Befragte der Geschichte Glücksversprechende Ordnung, der zwar ebenfalls die bestehende Ordnung als gefährdet betrachtet, jedoch keinen Zweifel an Geld hegt, vielmehr in „Cash“ eine Sicherheit sieht: „Ich habe immer das Gefühl, ich müsse immer ungefähr 1000 Franken im Portemonnaie haben. […] Aber ich bin ein Mensch, dem es nur wohl ist, wenn er relativ viel Cash auf der Bank hat.“ Sicherheit generiert sich durch den unmittelbaren Zugriff auf Geld. Alternative Vorsorgemaßnahmen bleiben unnötig, obwohl gesellschaftliche Verfallstendenzen auch von ihm ausgemacht werden. Variante II: Postapokalypse als friedliche Subsistenzwirtschaft In der zweiten postapokalyptischen Variante, für die die Geschichte Verhängnisvolle Ordnung steht, wird die bestehende gesellschaftliche Ordnung abgelehnt. Mit der Einführung des Geldes beginne ein Verfall; Geld stelle mittlerweile ein „notwendiges Übel“ dar. Gegenwärtig hegt der Befragte keine Hoffnung auf Veränderung, denn „alle sitzen in diesem Ding drin.“ Er idealisiert vergangene Zeiten, in denen Naturalientausch vorherrschend war, denn dieses Vergangene sei „ehrlicher“ gewesen. Als Kontrast dazu führt der Befragte aus, dass der Wohlstand in der Schweiz „überbewertet“ werde. Begründet wird dies damit, dass es einen Mangel des „Zwischenmenschlichen“ gebe. Die Kritik an Geld und einer damit verbundenen gesellschaftlichen Ordnung spitzt sich zu in einer Dichotomie zwischen »uns« und »den anderen« und damit in einer Spaltung der Gesellschaft. Allerdings sei die gesellschaftliche Situation in Italien noch viel dramatischer als
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in der Schweiz. Der Befragte macht in Italien beinahe dystopische Verhältnisse aus. Der italienischen Mafia wird eine grausame und unentrinnbare Raffinesse zugeschrieben. Staatliche Strukturen hätten ihren Einfluss bereits verloren und der zunehmende Verfall sei nicht mehr aufzuhalten. Die Schweiz wird demgegenüber zwar nicht als Ideal gezeichnet, dennoch wird ihre gesellschaftliche Ordnung jener Italiens vorgezogen: Ob das von der Kultur abhängig ist, dass man so schonungslos schalten und walten kann? Wie eine Mafia, die eigentlich in Europa, also bei uns ist das ja vielleicht auch ein bisschen. Aber nicht in dem Maße wie in Italien. Das ist grausam. Und da gibt es, glaube ich, keine Mittel dagegen. Es scheint auf jeden Fall so. Weil die sind einfach zu mächtig. Also in Italien ist der Staat einfach, also eben, die machen das raffiniert. Die bauen dies richtig auf und haben ihre Anhänger und die offerieren ihnen natürlich etwas, bis sie sie richtig in den Krallen haben. Schade. Aber eben, hoffen wir, dass es bei uns nicht so extrem wird.
Schließlich wird in dieser Geschichte angesichts der möglichen Auflösung des Bestehenden angeregt, bereits in der Gegenwart einen Gegenwert zu schaffen: So empfiehlt der Befragte zur Selbstversorgung ein Haus mit landwirtschaftlicher Anbaufläche. Er deutet die Möglichkeit an, dass Geld dereinst seine Bedeutung verlieren könnte: „Oder mit dem Geld, das ist noch schwierig, vielleicht bringt dir da Geld gar nichts“. In einer Utopie der Einfachheit geprägt durch Subsistenzwirtschaft wird kein Geld mehr nötig sein und Naturalientausch kann wieder Einzug in die Gemeinschaft halten respektive Gemeinschaft hervorbringen. In der Dichotomie zwischen »uns« und »den anderen« wird ein Ohnmachtsgefühl deutlich; deswegen werden alternative Maßnahmen zur Schaffung von Sicherheit erwogen, beispielsweise der Kauf von Immobilien: Ja vielleicht ein Haus. Also als Gegenwert des Geldes, das ist natürlich auch eine Sicherheit. Ich hab manchmal das Gefühl, ich hätte irgendetwas kaufen sollen. Weißt du, das wäre dann nicht so ausgeliefert. Wenn das Geld einmal seinen Wert verlieren würde, dann hast du einfach etwas, was da ist.
Die gegenwärtige Gesellschaft mit Geld als Ordnungsmacht wird zurückgewiesen; eine durch Geld ausgelöste Krise wird in den italienischen Verhältnissen bereits erkannt. Die Aufhebung des Bestehenden ist an die Aufhebung des Geldes gebunden, die eine Annäherung an einen ursprünglich-harmonischen, »paradiesischen« Zustand erlaubt.
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Empirische Untersuchung
Kritik und Legitimation mithilfe postapokalyptischer Deutungsmuster Die Rekonstruktion postapokalyptischer Visionen in Form eines Niedergangs der bestehenden Geldordnung zeigt sich in prophetischer Manier, im „Modus radikaler Differenz“ (Rauer 2012: 4) zwischen der bestehenden Ordnung und einer möglichen fundamentalen Krise, die in der ersten Variante eine Unordnung darstellt. Die Idee der nahenden Katastrophe wird plausibilisiert, indem erste Verfallstendenzen in Zimbabwe, Griechenland oder Italien aufgezeigt werden. Thematisierte Vorsorgemaßnahmen legen die Möglichkeit einer Auflösung der bestehenden Ordnung und der nur darin möglichen Geldwirtschaft nahe. Diese warnende Prophezeiung dient der Abwehr dystopischer Verhältnisse. Die erste Variante tendiert zu einem Hobbesschen Menschenbild, wenn der Naturzustand als Kriegszustand aller gegen alle gezeichnet wird, in welchem Misstrauen, Angst sowie Unsicherheit vorherrschen. Die Unbeständigkeit der menschlichen Natur wird als „Gefahr für die Einrichtung einer funktionsfähigen Gesellschaftsordnung“ (Hirschman 1987: 61) verstanden. Hobbes zeichnet ein negatives Menschenbild und stützt damit die Vorstellung, dass durch eine Unterwerfung der gewaltförmige Naturzustand überwunden werden könne. Laut Hobbes gewährleiste der Leviathan, als staatlicher Souverän, körperliche Sicherheit für den Menschen, solange er sich unterwirft. Der Naturzustand sei demnach ein rechtsfreier Raum; erst durch den vertragsbedingten Gesellschaftszustand entstehe ein Rechtsraum (vgl. Kersting 1994; Hirschman 1987: 39f.). Die Rekonstruktion dieser beiden postapokalyptischen Varianten zeigt in der Differenz Gemeinsamkeiten: Auch wenn der Bezugsrahmen und daran anknüpfend das Menschen- und Weltbild sich unterscheiden, besteht eine Ähnlichkeit im Aufrufen eines „radikal differenten Nachher[s]“ (Rauer 2012: 3) und damit die Möglichkeit einer Aufhebung des Geldprinzips. Laut Rauer konnten sich Apokalypsen als Deutungsmuster im Übergang zur Moderne etablieren; wie „kein anderes Geschichtsnarrativ suggerieren Apokalypsen den nahenden Untergang als Bedingung der Möglichkeit, ein neues Zeitalter zu realisieren“ (ebd.: 5). Die hier rekonstruierten postapokalyptischen Varianten verweisen auf kulturelle Deutungsmuster, die um das Bestehende ringen. Postapokalyptische Deutungsmuster können ideologischen Charakter haben und sind für eine Analyse der Gesellschaft relevant (vgl. Nagel 2008a: 1027; Etzemüller 2008: 203; Schipper 2008: 80), dennoch sind sie bislang in der Soziologie unterbelichtet. Anhand der skizzierten Varianten postapokalyptischer Vorstellungen wurde aufgezeigt, dass die Aufhebung der gesellschaftlichen Ordnung mitsamt des Geldes als »Bedrohung« oder »Erlösung« gedeutet wird. Postapokalyptische Bilder in den Geschichten über Geld veranschaulichen eine zugespitzte Form der Rechtfertigung (Variante I) oder
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Kritik (Variante II) des Geldes und einer damit verknüpften gesellschaftlichen Ordnung.
4.3.3
Leistungsethische Rechtfertigungen des Geldes
In diesem Kapitel wird untersucht, welche alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld mit Webers Konzept der protestantischen Ethik theoretisiert werden können. Geld übernimmt, als wichtiges Mittel der Rationalisierung, eine bedeutsame Vermittlungsfunktion zwischen der Rationalisierung in der wirtschaftlichen Sphäre und anderen Lebensbereichen (vgl. Weber 2010: 53ff.; Deutschmann 1999: 32). Weber geht davon aus, dass der moderne Kapitalismus für seine Entfaltung auf eine spezifische Gesinnung – den rationalistischen Leistungsethos – und eine daran angepasste Lebensführung – die innerweltliche Askese – angewiesen ist. Eine Kontinuität dessen zeigt sich bis in die Gegenwart. In diesem Kapitel wird untersucht, welche Vorstellungen des »legitimen« Geldes in den Geschichten über Geld skizziert werden, die mit einer Leistungsethik in Verbindung stehen. Dafür wird der Schwerpunkt auf die Verknüpfung von Lohnarbeit und Geld gelegt. Zusätzlich wird untersucht, wie die Befragten ihren eigenen Umgang mit Geld beschreiben und begründen. Zwar unterstützt Geld eine Systematisierung der eigenen Lebensführung, allerdings zeigen sich auch Abweichungen von einer rationalisierten und planvollen Lebensführung in dem Sinne, dass Bereiche genannt werden, die scheinbar keiner strengen Reglementierung unterliegen und mit einem Gefühl des unbefangenen Genusses assoziiert sind. Eine Rationalisierung über Geld kann so romantisierende Wirkungen entfalten. Zur Annäherung an leistungsethische Motive sowie die Ausgestaltung der modernen Lebensführung untersuche ich die Beschreibungen der eigenen Praxis. Die Befragten wurden aufgefordert zu erläutern, mit welchem Geldträger sie im Alltag bezahlen und welche Überlegungen damit zusammenhängen. In der Beschreibung unterschiedlicher Geldträger zeigen sich ausgemachte Unterschiede zwischen »richtigem« und »künstlichem« Geld. Abschließend wird ein Unbehagen und eine Faszination anlässlich der Generierung des Geldes herausgearbeitet, die nicht auf Lohnarbeit beruht. Diese Generierung entspricht einer anderen Logik der Kontrolle. Die Vorstellung, dass aus Geld mehr Geld generiert werden kann, ohne dass man dafür zu arbeiten braucht, wird in meinem Sample sowohl abgelehnt als auch gebilligt. Es zeigt sich in den Geschichten über Geld im Weiteren, dass Geld unbegreiflich bleibt, wenn es um seinen Selbstzweck geht. In diesen kurz umrissenen Beispielen finden sich rationalistische Motive im Sinne einer Leistungsethik, aber auch eine
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Empirische Untersuchung
Faszination gegenüber Geld, die romantische Motive enthält, weil sie nicht rational zu begreifen ist. In diesem Kapitel wird schließlich herausgearbeitet, dass eine Rationalisierung der Lebensführung, die nicht-reglementierte Bereiche beinhaltet, zur Legitimation des Geldes beiträgt. Arbeit legitimiert Geld Geld „verdient man sich durch Arbeit“ – so simpel lautet die legitime Form des Gelderwerbs in der Geschichte Rechnerische Ordnung. Anderweitige Generierung von Geld, sei es durch staatliche Transferleistungen, Vermögen, Rente, Geschenke, Kredite etc., werden in einem negativen Kontext erwähnt. Dieser Geschichte liegt eine streng einzuhaltende »Soll-und-Haben-Formel« zugrunde. In einer Idealvorstellung, wie Geld zu funktionieren habe, wird ein ähnliches Muster der gesamten Wirtschaft aufgerufen: Ja ein Teil gibt es aus, andere nehmen es ein, dass es immer im Umlauf ist. Man verdient es durch Arbeit. Gibt es aus, um den täglichen Bedarf zu decken. Sei es um, mit Lebensmitteln, um Miete zu zahlen, andere nehmen das wieder ein, geben es wieder aus, auf ihre Art, investieren es vielleicht und so läuft es und so funktioniert wahrscheinlich auch die Wirtschaft, dass Geld fließt.
Geld soll in den Kreislauf investiert werden, „es muss in Umlauf kommen, dass es auch weiter geht“. Es entstehe eine Gefährdung des Kreislaufs, wenn Geld nicht investiert werde. Aber auch Schulden stellen eine Bedrohung für diesen Kreislauf und das Funktionieren des Geldes dar. In der Annahme eines fließenden Geld- und Wirtschaftskreislaufes wird dessen Anfälligkeit deutlich. Als Pendant zu Menschen, die „auf Pump leben“, gelten jene, die im Gegensatz dazu zu wenig Geld ausgeben und daher ebenso eine Gefährdung für den Kreislauf darstellen: Jene, die viel haben, geben dann vielleicht, sind dann vielleicht ein wenig geiziger, geben es weniger gerne aus, als jene, die wenig haben, die es vielleicht mit vollen Händen ausgeben und dafür Ende des Monats nicht mehr haben oder eben im Minus sind.
Aufgrund einer ökonomischen Bewertung wird eine Kritik an Geiz formuliert, wenn dieser zur Folge hat, dass Geld nicht wieder in den Kreislauf investiert wird. Geiz und Verschwendung unterliegen einer ähnlichen Problematisierung der Verletzung der scheinbar einfachen Soll-und-Haben-Formel als Handlungsanleitung. Eine Abweichung davon erscheint als irrational und daher nicht legitim. Legitimes Geld ist in dieser Geschichte an Lohnarbeit gebunden. Am Beispiel von
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Sozialhilfe wird ausgeführt, dass nicht der Geldmangel, sondern fehlende Arbeit das Problem sei: Die ja auch nicht viel Geld haben oder auch nicht viel Geld bekommen, die sind wahrscheinlich weniger glücklich, weil sie möchten vielleicht, da hat es vielleicht viele dabei, die irgendetwas arbeiten möchten, vielleicht nichts arbeiten können und durch das auf Sozialhilfe angewiesen sind.
Deutlich wird in diesem Zitat, dass die Befragte Arbeit als Selbstzweck versteht. Es handelt sich auch nicht um eine inhaltliche Erfüllung durch Arbeit, da sie bloß „irgendetwas arbeiten möchten“. Glück liegt nicht in Reichtum, aber in Arbeit. Auch vererbtes Geld wird kritisch betrachtet: Und »handkehrum« [Schweizerdeutsch für andererseits, Anm. N.F.], wenn jemand viel Geld hat, ob er glücklicher ist, weiß ich nicht. Er kann sich sicher mehr leisten, er ist vielleicht sicherer. Aber ob er glücklicher ist, jemand, der viel Geld hat? Entweder hat er es sich hart verdient, vielleicht hat er es bei der Geburt schon geerbt, weil er einfach in eine reiche Familie hineingeboren wurde. Und gerade wenn jemand es sich, wirklich etwas aufgebaut hat und so reich wurde, vor solchen Leuten habe ich extrem, also natürlich viel mehr Respekt oder als jemand, der einfach ein Bankkonto geschenkt erhielt als er auf die Welt kam.
Bedient wird damit der Mythos »Vom Tellerwäscher zum Millionär«, dem Anerkennung gebührt. Diesem liegt die Vorstellung zugrunde, dass Arbeit sich lohnen soll, wodurch eine Abwertung anderer Formen der Geldgenerierung, insbesondere der Sozialhilfe, vorgenommen wird. Geerbtes Geld ist weniger Wert als hart erarbeitetes Geld. Vermittelt wird der Glaube, dass durch harte Arbeit und einen starken Willen sozialer Aufstieg durchaus möglich und berechtigt ist. Diese Bedeutungszuschreibung des Geldes findet sich auch in der Geschichte Glücksversprechende Ordnung wieder, worin der Befragte erklärt: „Als Soziologe fängt man relativ weit unten an, aber ich hatte das Glück, dass ich zu einem, was man so sagt, Multimillionär wurde durch meine eigene Arbeit.“ Interessant ist weniger die Wiederholung des oben genannten Narrativs, sondern dass die gesellschaftliche Positionierung des Akademikers als „relativ weit unten“ bezeichnet wird. Damit wird eine Überhöhung der eigenen Leistung vollzogen, indem ein akademischer Abschluss mit der Ausgangsposition als »Tellerwäscher« annähernd gleichgesetzt wird. Für die Einordnung bezieht sich der Befragte rein auf das Ökonomische – kulturelles Kapital, zum Beispiel, bleibt damit unbeachtet. Der Befragte impliziert eine Gleichheit der Ausgangssituationen und sein Aufstieg wird durch »eigene« Leistung berechtigt. Anders formuliert festigt die Bedeutungszuschreibung, die
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legitimes Geld erhält, den Glauben an ein meritokratisches System, das Leistung belohnt. Außerdem wird gesellschaftliche Ungleichheit plausibilisiert, wenn unterschiedliche Ausgangssituationen nivelliert werden. Lohnarbeit ist damit ein wichtiger Grundstein der Legitimierung des Geldes. Im Weiteren wird legitimes Geld mit der Funktionsweise des Geldes in Verbindung gebracht. Geld basiere, so wird in der Geschichte Glücksbringende Ordnung erklärt, auf einer wirtschaftlichen Leistung. Konkreter ist damit gemeint, dass die Geldmenge von der Wertschöpfung eines Währungsraumes abhänge und der Wert der Währung sich am Bruttoinlandsprodukt bemesse. Dieses Argumentationsmuster problematisiert staatliche Transferleistungen, da sie einer wirtschaftlichen »Leistung« ermangeln würden. Eine Gefährdung dieser Ordnung wird als „extrem gefährliche Situation“ beschrieben, wobei der Befragte eine Entfremdung von Wertschöpfung befürchtet. Nicht jede Lohnarbeit trägt seiner Meinung nach zur wirtschaftlichen Wertschöpfung bei: „Also ein Sozialarbeiter, sage ich jetzt mal böse, erzielt keine Wertschöpfung. Er verwaltet ein Unglück in dieser Gesellschaft, irgendetwas, das schiefging, aber er erzielt keine Wertschöpfung.“ Nicht-wertschöpfende und damit weniger legitime Arbeit stellt daher ein Problem dar, das exemplarisch an Griechenland vorgeführt wird. Waren oder Dienstleistungen, die keinen bestimmten „Gegenwert“ haben, seien für eine Gesellschaft des Geldes jedoch nicht unbedingt problematisch, was am Beispiel von Luxusuhren aufgezeigt wird: Weil so eine Uhr kostet ab Fabrik auch nicht mehr als 500, 600 Franken. Das muss man einfach klar sehen. Der Rest ist einfach rein Luft. Ich verkaufe Luft dazu. Marketing. Ich finde das genial, wir sind ja auch ein bisschen in diesem Bereich tätig. Aber da habe ich dann irgendwie das Gefühl, ich muss da ein bisschen auf dem Boden bleiben. Aber ich bewundere, dass Leute, wie soll ich sagen, die geldwerte Leistung völlig aushebeln können und irgendeine eine Phantasie reinbringen können, bei der Leute bereit sind, für eine Uhr, die einen Warenwert hat von 800 Franken, 400.000 Franken zu zahlen. Das finde ich genial. Aber ich wäre nie bereit, das zu machen.21
21 Der wirtschaftliche Rationalismus, wie er in dieser Geschichte vertreten und verteidigt wird, wird dennoch nicht konsequent befolgt: „Ich habe mir vor zehn Jahren eine große Yacht gekauft, so eine Stahlyacht, mit der, mit der man über den Atlantik rüber könnte damit, habe diese aber in einen Schweizer See reingestellt. Da haben auch, da fanden viele: «Hey, geht es eigentlich noch?«“. Die Nützlichkeit dieser Yacht wird vom Befragten angezweifelt, aber immerhin würde eine geldwerte Leistung dahinterstehen. In dieser Geschichte bedarf Luxus keiner eigenständigen Legitimation, was wiederum mit dem meritokratischen Ideal des Befragten zu erklären ist. Zusätzlich bedeutet diese Yacht
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Hier liegt eine spezifische Vorstellung von Nützlichkeit vor, denn die Definition von Wertschöpfung wird mit einer Bereitschaft verbunden, eine Ware oder Dienstleistung zu kaufen; gleichzeitig muss Wertschöpfung nicht unbedingt auf einer „geldwerten Leistung“ beruhen. Im Grunde genommen wird mit einer Uhr auch kein Wert geschaffen, sondern imaginiert, was wiederum vom Befragten nicht negiert wird. Das Gleiche könnte man auch für sein Beispiel des Sozialarbeiters behaupten; allerdings hält der Befragte an dieser Kontrastierung der wirtschaftlichen Wertschöpfung fest. Praxis der Lebensführung Folgt man Weber, zeichnet sich die innerweltliche Askese durch nüchternes, planvolles, organisiertes sowie aktives Handeln aus, wohingegen unbefangenes Dasein und Genuss abgelehnt werden. Geld lädt dazu ein, eine „konstante Selbstkontrolle und […] planmäßige[…] Reglementierung des eigenen Lebens“ (Weber 2013: 162) auszuüben. Geld ist aber nicht ausschließlich ein Mittel der Rationalisierung; im Folgenden geht es darum, die Praxis der Lebensführung nachzuzeichnen und dabei rationalistische wie romantische Motive herauszustreichen. Wird überhaupt ein systematisch-methodischer Umgang mit Geld deutlich und wann werden möglicherweise Prinzipien der Reglementierung und Kontrolle ausgesetzt? Kann dies als ein Streben nach einer Distanz zur rationalen Lebensführung interpretiert werden? Um diese Aspekte stärker zu beleuchten, ist es von Interesse, wie der Umgang mit Geld von den Befragten charakterisiert und begründet wird. In der Geschichte Alltägliche Ordnung wird Geld ausführlich als Mittel zur Herstellung von Normalität und Alltäglichkeit beschrieben. Zu Geld würden kaum Alternativen bestehen. Dieser Aspekt wird hier nochmals aufgegriffen, weil damit eine zentrale Begründung der eigenen Lebensführung ausgeführt wird. Das heißt, dass die Notwendigkeit des Geldes von der Befragten nicht ausschließlich negativ gedeutet wird. Der alltäglichen Notwendigkeit steht eine latente und bedrohliche Krise gegenüber. Der Verweis auf die Krisenlatenz des Alltäglichen sichert und rechtfertigt eine Ordnung, die durch Geld hergestellt wird. Krisenhafte Momente zeigen sich für die Befragte, wenn Bargeld fehlt oder eine Kartenzahlung nicht möglich ist. Geld ist vor dem Hintergrund dieser brüchigen Alltäglichkeit wichtig. Darüber hinaus werden grundlegende Bedürfnisse angesprochen, um die eigene Vorgehensweise gegen Kritik zu immunisieren:
die Möglichkeit, den Atlantik zu überqueren, wodurch sich die Inkonsequenz des Befragten erklärt, insofern sein wirtschaftlicher Rationalismus auch ein romantisches Moment beinhaltet.
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Und das brauch ich ja auch wirklich. Also wenn ich Hunger habe, dann kann ich mit Geld halt Essen bekommen. Oder dass ich halt irgendwie meine Miete bezahlen kann. Also ich könnte meinen Vermieter bestimmt auch fragen, ob ich diesen ganzen Hausmeisterjob machen kann und dann könnte ich bestimmt auch irgendwie wohnen, aber generell ist es, glaube ich so, dass man schon darauf angewiesen ist, dass man Geld bezahlen kann, damit man irgendwo Wohnraum bekommt. Also diese ganz elementaren Sachen.
Zwar würden Alternativen zu Lohnarbeit und damit Geld bestehen, diese werden aber von der Befragten schnell verworfen. Die konstatierte Alternativlosigkeit impliziert eine Disziplinierung zu Lohnarbeit und eine damit verbundene Abwertung von Kreativität: Also ich könnte bestimmt auch super viele Sachen einfach irgendwie machen, also so Dienstleistungen anbieten und dann irgendwie Dienstleistungen von anderen einfordern. Aber das geht halt nicht und deswegen kann ich nicht irgendwie so was super Kreatives machen, sondern muss halt nachher wieder in diese Bar gehen.
Lohnarbeit, als Konsequenz aus der Alternativlosigkeit des Geldes, stabilisiert derweil die gegenwärtige und zukünftige alltägliche Ordnung. Als Wertaufbewahrungsmittel bringt Geld die Möglichkeit und den Vorteil mit sich, eine zukünftige Krise bereits in der Gegenwart abzuwenden, wodurch es für die Befragte auf einer weiteren Ebene relevant und legitim ist. Diese Variante der planvollen Lebensführung über Geld beinhaltet das Bild eines abzuarbeitenden Alltags, wofür Geld Beständigkeit schafft. Damit ruft die Alternativlosigkeit des Geldes nicht nur Kritik hervor, sondern ist Teil einer Rechtfertigung des Geldes und einer damit verbundenen gesellschaftlichen Ordnung. Geld und Lohnarbeit erscheinen als notwendig. Demgegenüber steht eine scharfe Kritik, welche sich in der Geschichte Selbstverordnete Ordnung findet. Geld und Lohnarbeit werden kulturell gedeutet und sind aus Sicht des Befragten deshalb nicht notwendig. Der Befragte spricht von einer Disziplinierung zu Lohnarbeit, die er im Rahmen einer Kulturkritik formuliert und verurteilt. Mosambik, als das »Andere der Moderne«, fungiert als positive Vergleichsfolie, insofern dort Lohnarbeit nicht als Selbstzweck begriffen wird und die Lebensführung anders gestaltet sowie bewertet werden kann. In der Geschichte Rechnerische Ordnung wird die alltägliche Ordnung über eine streng-rechnerische Formel erhalten, was wiederum dazu dient, das gesellschaftlich Bestehende zu rechtfertigen. Die Maxime, nicht mehr Geld auszugeben als man besitzt, verpflichtet zu einem systematisch-konsequenten Umgang mit
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Geld. Um diese Soll-und-Haben-Formel einzuhalten, bedarf die Befragte allerdings eines strukturellen Rahmens, weshalb sie zweckgebundene Konten eingerichtet hat: „Ich mach es einfach so, dass ich von meinem Geld eigentlich alles ein bisschen weglege und dann weiß ich, den Rest, den ich dann noch habe auf dem Konto, das ist für mich eigentlich so ein bisschen zum Brauchen.“ Das Einhalten der Formel wird über eine formal strikte Disziplinierung gewährleistet, indem nicht stets ausgerechnet werden muss, ob »Soll-und-Haben« gefährdet wird. Die Einrichtung zweckgebundener Konten eröffnet ihr die Möglichkeit, einen einfachen Umgang mit dem restlichen Geld zu pflegen, ohne sich diszipliniert und besonders sparsam zu fühlen: Und ich lebe sicher nicht schlecht, aber ich bin jetzt eben auch nicht die, die jedes, also wirklich jedes »Füfi« [Schweizerdeutsch für Fünfrappenstück, Anm. N.F.] spart für irgendwann, weil ich denke immer: »Ja, wer sagt mir, was irgendwann ist?«. Ich finde, ein Polster ist sicher gut, aber ich bin die, die gerne lebt jetzt und auch, ich sage jetzt, viel Geld so ausgebe, aber auch einen gewissen Teil sicher spare, so ein Mittelmaß.
Der Effekt des zweckgebundenen Sparens ist nicht ausschließlich ein Gefühl der Kontrolle. Vielmehr wird dadurch ein Gefühl der Lockerheit generiert. Diese Perspektive wirkt sich letztlich auf die Selbstwahrnehmung im generellen Umgang mit Geld aus. Eine Spannung liegt für die Befragte darin, dass sie Sparen und eine Ausrichtung auf die Zukunft ablehnt, gleichzeitig bedarf es dafür einer finanziellen Grundlage, welche diese Haltung erst berechtigt. Ein reglementierter Umgang mit Geld eröffnet einen Handlungsspielraum, der nicht-reglementiert und -planvoll gedeutet wird und mit Genuss verknüpft ist. Wichtig ist allerdings, dass Genuss erst verdient werden muss, weshalb die Befragte jene verurteilt, die „über ihren Verhältnissen leben“ oder Geld „mit vollen Händen ausgeben“, und damit die formelhafte Maxime nicht einhalten. Ein ähnliches Muster zeichnet sich in der Geschichte Verdiente Ordnung ab: Zum einen liegt Befriedigung im Verdienen sowie Ausgeben des Geldes, zum anderen wird Arbeit der Muße vorgezogen. Es müssen erst bestimmte Konditionen erfüllt sein, ein sogenanntes „sehr gutes Polster“, bevor das »Lustprinzip« entfaltet werden kann. Solange die Gegenwart und die Zukunft nicht abgesichert sind, ist dem Befragten Genuss nicht gestattet. Er beschreibt eine rationale Buchführung, weist sie aber interessanterweise nicht als solche aus; vielmehr betont er seinen lockeren Umgang mit Geld: Seitdem ich diese Funktion habe im E-Banking, wofür ich mein Geld ausgegeben habe, dann schaue ich mir dies am Ende des Monats an, weil ich es noch spannend
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finde. Ich würde jetzt nie aufschreiben, wofür ich mein Geld ausgebe. Habe ich noch nie gemacht. Und ich würde, ich glaube also, ich habe, ich würde sagen, ich habe einen recht lockeren Umgang mit Geld. Also ich überlege mir nicht mega viel, bevor ich Geld ausgebe. Ich schaue dann aber gerne am Ende des Monats, damit ich nicht zu viel ausgegeben habe oder so: »Aha, ich habe trotzdem immer noch mehr als letzten Monat oder es ist immer etwas dazugekommen.«
Bereits als kleines Kind hat der Befragte lieber gearbeitet, als müßig unter dem Baum dem Kirschengenuss nachzukommen, und diese Disziplin zieht sich auch durch die Erzählung über die Schulzeit und das Studium. In der Selbstwahrnehmung wird indessen betont, dass Sparen nicht im Vordergrund stand, wofür die Kirmes-Anekdote aus der Kindheit steht. Wichtig ist dem Befragten die Abgrenzung zu seiner Schwester, die das Geld im Gegensatz zu ihm gespart habe. Der Verweis auf biographische Kontinuitäten ist eine gängige Form, wie in der Gegenwart Bedeutung hergestellt wird und dient der plausiblen Selbstdarstellung. Der Befragte vollzieht damit eine Distinktion zu einer sparsamen Haltung. Es bedarf weniger einer formellen Restriktion, beispielsweise durch das Anlegen zweckgebundener Konten, weil praktischerweise immer genug Geld vorhanden war, denn ich habe immer ein bisschen mehr verdient, als ich wirklich gebraucht hätte. Als ich mir easy etwas auf die Seite legen konnte, habe ich mir schon immer Geld auf die Seite gelegt. Ich hatte eigentlich immer ein sehr gutes Polster, aber ich schaute einfach immer, dass ich einigermaßen viel arbeiten kann. Wenn ich mich immer mit dem Umfeld vergleiche, in dem ich halt drin war, dass ich relativ viel arbeiten konnte, weil dann halt auch ein bisschen mehr reinkam und dann konnte ich mehr ausgeben oder gleich viel ausgeben wie die anderen und dann noch etwas auf die Seite legen, oder so.
Lohnarbeit erfolgt nicht ausschließlich aus einer existentiellen Notwendigkeit, wenn es darum geht, mit dem Umfeld mitzuhalten. Der Selbstzweck liegt allerdings in der Arbeit und nicht unbedingt in Geld, womit ein lockerer Umgang erst verdient werden muss. Die Beschreibungen der Befragten sind nicht zu trennen davon, wie sie die gesellschaftliche Ordnung deuten und ihre Lebensführung daran anpassen. Diese grob skizzierten Praxen zeigen auf, dass Geld nicht nur zu einer planvollen Systematisierung und Berechenbarkeit beiträgt. Genuss, das Ausruhen auf dem Besitz oder die Suche nach unmittelbarem Vergnügen galten einst in der protestantischen Ethik als frevlerisch. Ergebnisse aus dem empirischen Material verdeutlichen hingegen die Möglichkeit, dass ein systematisch-methodischer Umgang mit Geld
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eine Ordnung herzustellen erlaubt, in der ein „zweckfreie[s] Lustprinzip“ (Schäfer 2015a: 189) einen legitimen Platz findet. Dies deutet außerdem darauf hin, dass Rationalisierung und Romantisierung komplementär verwoben sein können, wenn ein kontrollierter Umgang mit Geld einen Bereich des Genusses und des lockeren Umgangs mit Geld eröffnen kann, d. h. einen Bereich, in dem nicht mehr kontrolliert und reglementiert werden muss. Dies ist wiederum anschlussfähig an das Refugiennarrativ: Solange es auf der Ebene der Lebensführung von Geld unberührte Bereiche gibt, ist eine Rationalisierung über Geld berechtigt und akzeptiert. Umgang mit unterschiedlichen Geldträgern Die Erläuterungen, welche Geldträger in welchen Situationen eingesetzt werden, erlauben Einblick in eine weitere Sphäre des systematisierenden Charakters des Geldes. In der Geschichte Paradoxale Ordnung gestaltet sich der Überblick über die Ausgaben sehr einfach, weil die Befragte ein geringes Vermögen besitzt. Zusätzlich gibt es die selbstverordnete und dem Budget entsprechende Restriktion, nicht mehr als zehn Euro pro Tag auszugeben: Ich hab nicht viel Geld, dementsprechend weiß ich ganz oft meinen genauen Kontostand. Ich versuch immer Bargeld in der Tasche zu haben, weil ich mich dann einfach unabhängiger fühle, wenn ich Bargeld in der Hand habe, weil man ja immer noch nicht oft überall mit Karte bezahlen kann. Das schaffe ich aber ganz oft nicht und zahle trotzdem immer mit Karte. Zum Beispiel, muss ich meine Einkaufsmöglichkeiten ändern, geh dann halt nicht zum kleinen Gemüsemarkt, sondern zum Supermarkt, wo ich mit Karte bezahlen kann. Ich habe eine Kreditkarte, ich benutze die aber nur, sobald ich im Ausland bin oder für das Ausland vorbereite.
Es besteht nicht die gleiche Krisenlatenz wie in der Geschichte Alltägliche Ordnung, denn obwohl die Befragte Bargeld mit Unabhängigkeit verbindet, können Einkaufsmöglichkeiten flexibel angepasst werden. Der Gebrauch der Kreditkarte hingegen ist nicht Teil des Alltags; eine analoge Beschreibung findet sich in der Geschichte Verhängnisvolle Ordnung. Im Alltag ist es für den Befragten wichtig, nicht mit der EC-Karte zu bezahlen, sondern Geld abzuheben; dies wird mit einem Bedürfnis nach Kontrolle und Disziplinierung begründet: Ich will dies noch wissen. Das ist eben das Verlockende. Nur noch das »Kärtchen«22 hinhalten und fertig. Das Gefühl, was habe ich noch und so, man gibt einfach viel lockerer aus. Wenn ich jetzt vielleicht irgendwohin gehe und sage: »Au ja, das muss ich kaufen« und einfach zu wenig Geld bei mir habe, dann zahle ich mit dem 22 Helvetismus
für (EC-)Karte.
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Empirische Untersuchung
EC. Es ist dann natürlich bequem. Ich muss es nicht zuerst holen. Aber ich weiß, für mich bedeutet das schon, ich weiß schon, was es gekostet hat. Nicht, dass das einfach blind wegläuft. Eben, wir wissen vielleicht noch, wie das ist. Aber ich weiß nicht, wie die junge Generation damit umgeht. Es ist sicher ein Unterschied.
Das haptische Vorhandensein des Geldes wird als begünstigend für einen kontrollierten Umgang ausgewiesen. Aber eine Verführungskraft des Geldes wirke nicht auf alle Generationen gleich. Der Befragte plausibilisiert wesentliche Unterschiede im Vergleich zu vergangenen Zeiten, insofern im Gegensatz zur Gegenwart eine einfache Logik vorherrschend gewesen sei: „Weißt du, mit diesem Plastikgeld oder online einkaufen, das geht so einfach. Wir hatten jetzt dieses Gespür noch. Wenn du Geld hattest, dann hast du dir etwas gekauft. Wenn du keins hattest, dann kannst du nichts kaufen.“ Er betont das verführerische Moment der Entmaterialisierung des Geldes, von dem er sich abzugrenzen versucht. Eine Ausnahme bildet der außeralltägliche Urlaub, wofür der Gebrauch der Kreditkarte erlaubt ist, weil es „praktisch“ ist. Denn „du musst nicht so einen Haufen mitnehmen, wenn du jetzt eben in die Ferien gehst. Da kannst du einfach mit dem »Kärtchen«. Aber wehe, wenn du es verlierst oder es gestohlen wird. Das ist dümmer. Wenn du dann in den Ferien bist.“ Kreditkarten werden in außeralltäglichen Situationen genutzt und nur in diesen ist ein Ausbruch aus täglichen Gewohnheiten im Umgang mit Geld zulässig. Die Rechtfertigung der Kreditkarte wird auch in der Geschichte Rechnerische Ordnung an außeralltägliche Situationen geknüpft. Es wird beschrieben, dass täglicher Konsum, „also mein normaler Einkauf“, bar bezahlt wird. Aber „sobald es irgendwie 20, 30 Franken oder höher ist, nehme ich mein »EC-Kärtchen«. Es ist für mich eine Art Barzahlung, das Geld ist gerade weg.“ Die Kreditkarte hingegen kommt dann zum Einsatz, wenn außeralltägliche Dinge benötigt werden, das heißt „um auswärts zu essen oder irgendwie im Internet Tickets zu bestellen oder irgend sonst etwas zu bestellen, das manchmal oder vielfach gar nicht mehr auf Rechnung oder gar nicht anders funktioniert, da brauche ich die Kreditkarte.“ Der Umgang mit unterschiedlichen Geldträgern basiert demnach auf verschiedenen Rechtfertigungen in alltäglichen und außeralltäglichen Situationen. Was für den Alltag gilt, und akribisch eingehalten und kontrolliert wird, muss für Außeralltägliches nicht mehr gelten. In der Geschichte Alltägliche Ordnung werden andere Aspekte betont. Monatlich anfallende Kosten werden über Daueraufträge vom Konto beglichen, „das passiert halt so, ohne dass ich mich darum kümmern muss und ohne dass ich das mitkriege.“ Für die Befragte wäre es „absurd“, die Miete erst abzuheben und ihrem Vermieter in die Hand zu geben, was er wiederum bestimmt auch „komisch“ fände – auf beiden Seiten wird der Sinn dieser Handlung über die
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»normale« Praxis generiert. Die Anpassung an Gegebenheiten, die man als Normalisierung verstehen kann, wird mit dem Verweis, es sei praktisch, zusätzlich legitimiert: „Also auch wenn es für mich eh praktischer ist, könnte ich es gar nicht anders machen.“ Flüge oder Urlaub hingegen werden mit der Kreditkarte bezahlt, weil der „Zugang halt einfacher ist“ und mitunter keine andere Wahl bestehe. In dieser Geschichte gibt es dennoch keinen direkten Nexus zwischen Außeralltäglichkeit und dem Gebrauch einer Bankkarte. Ausschlaggebend ist hierfür die Vermittlung einer Wertschätzung: Ich glaube so dieses Essen gehen und dieses ganze Gastronomische, das scheint mir irgendwie zu abstrakt, mit digitalem Geld zu bezahlen. Weil ich da irgendwie das Gefühl habe, ich kriege hier eine sehr direkte Dienstleistung, auch eine sehr persönliche Dienstleistung. Die ich dann auch also sehr persönlich mit dem Geld bezahlen will. Also wo ich es irgendwie besser finde, der Person dann auch das Geld direkt in die Hand zu geben und zu sagen: »Hier, weil das Essen so gut war oder weil das Trinken so gut war.« Und dann noch das Trinkgeld unbedingt bar bezahlen möchte. Ich habe auch schon ein-, zweimal mit Karte bezahlt bei so etwas und ich fand das dann immer irgendwie unbefriedigend.
Bemerkenswert ist hierbei, dass es nicht um die Kontrolle geht, die als Begründung für die Bezahlung mit Bargeld angeführt wird, sondern um die Abstraktion des Tauschaktes und Wertschätzung. Bargeld wirkt für die Befragte als persönlicheres Medium, da es als unvermittelter bewertet wird. Eine Zweckgebundenheit des Geldes zeigt sich darin, dass Barzahlung symbolisch aufgeladen wird, insofern die Befragte damit eine direkte Wertschätzung verbindet. Der Gesichtspunkt »Abstraktion« wird auch in der Geschichte Selbstverordnete Ordnung thematisiert: Ich glaube, es fühlt sich unglaublich krasser an, 400 Euro in der Hand zu haben oder eine Zahl 400 zu sehen. Ich kann irgendwie immer mit meiner Plastikkarte irgendwo hingehen, kann immer Geld bezahlen und glaube auch, dass mein Ausgabeverhalten, wenn ich kein bares Geld habe, höher ist, also wenn ich bloß eine Karte habe. Weil ich immer gar nicht weiß, wie viel ich noch auf dem Konto habe. Weil ich immer Lastschriftverfahren entwickle und so was, wie ein offenes Portemonnaie, wo ständig jeder kommt am Anfang des Monats und Geld rauszieht. Also da bin ich auch völlig entfremdet von. Ich versuche mittlerweile, tatsächlich am Anfang der Woche 50 Euro abzuholen und dann auch wieder einen bewussten Nerv zu entwickeln, wie teuer mein Leben tatsächlich ist. Also auch wieder Wertschätzung. Wenn ich immer nur diese Plastikkarte irgendwo einschiebe, dann habe ich eine falsche Wahrnehmung vom tatsächlichen Geld.
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Kartenzahlung wird ein verfälschender Einfluss auf die Wahrnehmung zugeschrieben, weshalb das Verhältnis zu Geld als »entfremdet« bezeichnet wird. Eine Lösung, um der Entfremdung zu begegnen, wird in der Unmittelbarkeit des Geldes gesehen. Wenn Geld „als Material“ da sei, wäre der Befragte auch sparsamer. Der Befragte versucht mit dem wöchentlichen Abheben von Bargeld eine systematisch-methodische Lebensführung zu etablieren, die Wertschätzung und eine richtige Wahrnehmung des „tatsächlichen“ Geldes in Abgrenzung zum künstlichen »Plastikgeld« verspricht. Es sind Kategorien der Praktikabilität, Bequemlichkeit, Wertschätzung oder Kontrolle, die als Begründung für die Verwendung von Bargeld, EC-Karte oder Kreditkarte aufgeführt werden. Zudem nehmen sie Einfluss darauf, Kartenzahlung kritischer zu betrachten. Es geht dabei aber auch um die Relevanz der Anschaulichkeit und Greifbarkeit des Geldes. Sicherlich gibt es noch weitere Begründungen, die sich durch das Sample nicht ergeben haben. Manche Themenbereiche ließen sich auch nur andeuten. Abschließend möchte ich anhand der Beschreibungen in den Geschichten Verdiente Ordnung und Glücksversprechende Ordnung aufzeigen, dass auch Abgrenzungen von den oben beschriebenen Begründungen geschehen. In der Geschichte Verdiente Ordnung erläutert der Befragte, dass er meistens mit der EC-Karte bezahle, außer bei kleinen Beträgen, und zwar weil er zu „faul“ sei, um extra Geld abzuheben. Ergänzend zu dieser Erklärung fällt indessen ein Kontrollaspekt auf: „Dann musst du einfach weniger mit dir rumschleppen. Und der Vorteil vom »Kärtchenzahlen«, ich sehe zum Beispiel bei mir beim E-Banking nachher genau, für was ich mein Geld ausgegeben habe.“ Bargeld wird, wie in der Geschichte Verhängnisvolle Ordnung, mit Gewicht assoziiert, was eine etwas eigentümliche Verknüpfung darstellt, aber naheliegend ist, wenn es um eine Leichtigkeit im metaphorischen Sinne geht. Der erwähnte Kontrollaspekt taucht auch in der Geschichte Glücksversprechende Ordnung auf, in der thematisiert wird, auf welche Weise dieser umgangen wird. Der Befragte würde hauptsächlich mit Kreditkarte bezahlen, aber ich habe das Gefühl, ich müsse immer ungefähr 1.000 Franken im Portemonnaie haben. Ja, das ist so ein Feeling, also weil hie und da zahle ich dann einfach bar oder kaufe mir irgendetwas. Aber größere Sachen zahle ich eigentlich alles mit der Kreditkarte. Nein, nicht nur größere Sachen, auch die so Auslagen sind, die in die geschäftliche Buchhaltung reinmüssen. Dann ist es einfach viel einfacher mit Kreditkarte, weil man immer einen Nachweis hat. Man hat einen sauberen Trace: »Wo hat man getankt? Wie viel hat es gekostet?«. Also im Alltag ist es, glaube ich, schon die Kreditkarte plus noch so ein bisschen Bargeld. Und der Rest sind Rechnungen, die man zahlt.
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Bargeld wird vom Befragten mit einem bestimmten Gefühl verknüpft und nicht mit einem Bedürfnis nach Kontrolle oder dem Fakt der Alternativlosigkeit. Im Alltag wird mit der Kreditkarte bezahlt; mit unmittelbar vorhandenem Bargeld kann aber ein gewünschtes Gefühl hergestellt werden. Die Kontrolle bezieht sich vor allem auf geschäftliche und alltägliche Ausgaben, außeralltäglich wird bar bezahlt. Bargeld ist damit in dieser Geschichte mit einem Bereich verbunden, der nicht reglementiert und kontrolliert ist, wodurch sich dieses spezifische Gefühl erklärt. Bargeld stellt Zugang zu einer Sphäre her, die unsichtbar bleibt, weil es von dieser keinen „sauberen Trace“ gibt. In dieser Geschichte gibt es eine positive Bezugnahme auf Kontrollverlust. Geld ermöglicht es zum einen, Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit zu strukturieren. Zum anderen eröffnet es auch Bereiche, die nicht als Teil des kontrollierten Umgangs empfunden werden. Creatio ex nihilo Die Vorstellung, dass Geld eine Art „creatio ex nihilo“ (Haesler 2007: 146) darstellt, ist eine weitere Ebene der Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung, der nachfolgend Aufmerksamkeit zukommt. Diese Vorstellung hängt zum einen damit zusammen, dass die diagnostizierte Entkopplung des Geldes von Lohnarbeit Irritationen hervorruft, zum anderen ist damit eine den Befragten unerklärbare Komponente des Geldes benannt. Die Unbegreiflichkeit des Geldes löst aber nicht ausschließlich eine ablehnende Haltung bei den Befragten aus, sondern kann auch für Faszination sorgen. Am Beispiel der Geschichte Paradoxale Ordnung wird ein Unbehagen rekonstruiert, das sich gegen Geld als Selbstzweck richtet. Diese Geschichte liest sich gleichzeitig als Verfalls- und Aufwertungsgeschichte des Geldes. Es wird von einem expliziten Bruch mit einer Art »Urzustand« ausgegangen, in dem Geld als Tauschmittel für alle etwas Gutes gewesen ist. Dieses Bild plausibilisiert die Einführung des Geldes, dessen Entstehung wird idealisiert. Im Anfang stellt Geld einen Tauschwert dar, derweil die Rechtfertigung des Geldes mit seiner physischen Leichtigkeit und Praktikabilität untermauert wird. Die Legitimation des Geldes wird an die Bedingung geknüpft, dass es Material oder eine Leistung repräsentiere, womit die Befragte die »eigentliche« Bestimmung des Geldes benennt. Geld erleichtere den Tauschakt aufgrund einer „physischen Notwendigkeit, die wird irgendwann immer entstehen.“ Darunter versteht die Befragte, dass Geld „immer etwas kleiner und leichter“ ist und dass es automatisch zur Einführung des Geldes komme. Auch hier wird mit einer metaphorischen Leichtigkeit, das heißt zweckrational argumentiert. Eine weitere Bedingung für das Funktionieren des Geldes, neben seiner logisch notwendigen Entwicklung, sei eine „öffentliche Bejahung“. Im »Urzustand« besteht so etwas
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wie ein „sozialer Konsens“; das heißt, der Urzustand in dieser Geschichte hat bereits protodemokratischen Charakter. Dieser Konsens hebt das Geld auf eine höhere Legitimationsebene; schließlich würde sich eine Gewöhnung einstellen. Gewöhnung stellt Sicherheit, Routinisierung und Veralltäglichung her, bis hin zur ordnenden Tautologie: „Dann ist es gar keine Frage mehr, ob Geld da ist oder nicht, man kennt es halt nicht anders. Oder ob etwas Geld da ist, weil es ist immer Geld da.“ Die Geldordnung ist demnach durch ihre bloße Existenz normal, was wiederum einen wichtigen Teil der Rechtfertigung des Geldes darstellt. Es komme aber zu einem fundamentalen Bruch, durch den Geld zum Selbstzweck werde: Also ich hab zum einen diesen Tauschwert, ich kann aber auch mit Geld, wofür ja eigentlich nur das Material, das dahinter steht, selber Geld, also weiteres Geld schaffen. Genau, das heißt, ich hab ja diesen Tauschwert und einmal hab ich diese zweite Ebene, in dem Geld selber Wert hat. Und als etwas, das selber wertvoll ist, in der Lage ist, sich selber weiteren Wert zu schaffen.
Sobald Geld nicht stellvertretend für einen Wert steht, ist es möglich, Geld zu horten und sogar einen „Fetisch zum Geld zu entwickeln“. Damit ist gemeint, dass Geld eine „Sicherungsfunktion“ hat und man sich dadurch „behaglich“ fühlt. Die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes erlaube die Entfaltung eines Fetisches, der auf einer individuellen Ebene positiv und angenehm sei, auf einer gesellschaftlichen Ebene aber problematisch. In der Entwicklung des Geldes gebe es unerklärliche Momente, wie beispielsweise, „dass ich aus diesem Geld mehr Geld mache. Da habe ich keine Ahnung, wie das funktionieren soll.“ Der Bruch mit dem prähistorischen Zustand wirft aber nicht nur Fragen auf, sondern löst ein Unbehagen gegen Geld als creatio ex nihilo aus: Es muss dann genau so ein Moment sein, wo ich Geld habe. Ich gebe dir Geld. Und ich stelle fest, vorher schon, Geld haben ist schön. Und dann komme ich auf die Idee, ich könnte ja aus dem Geld selber Geld machen. Das ist ziemlich, ich finde diese Idee ziemlich unbefriedigend, weil es aus dem Nichts kommt, in dem Moment. Das müsste dann einfach so, ich stelle fest, dass der Schein, den ich in der Hand habe, so funktionieren kann wie Material, was ich damit kaufe. In dem Moment ist es halt kein reiner Tauschwert mehr, sondern es ist etwas, was ich selber zum Material mache, ihm Eigenschaften des Materials zuspreche. Und da ich damit das ganze Geld verändere, so was finde ich ziemlich gruselig in der Vorstellung.
Die gesellschaftliche Ordnung nach dem Bruch wird problematisiert, wodurch eine scharfe Diskrepanz zum anfänglichen Zustand betont wird. Sobald Geld nicht nur Mittel, sondern auch Zweck ist, gebe es „keine innere Möglichkeit zu sagen: »Halt nein, das ist jetzt unmoralisch oder so.«“ Eine gefährliche Konsequenz
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daraus sei eine „Übermacht“ des Geldes. Bedenklich seien die gesellschaftlichen Konsequenzen: In dem Moment, wo Geld Eigentum wird, habe ich eine Rechtsordnung, die auf Eigentum, also ich habe halt Geld als Eigentum und ich habe eine Rechtsordnung, die auf Eigentum aufbaut und dann hab ich halt ein Recht, was auf Geld aufbaut. Nicht ideal. Überhaupt nicht ideal.
Kritik richtet sich gegen eine gesellschaftliche Ordnung, in der Geld eine Übermacht zukommt und die auf einem Rechtssystem basiert, welches das Eigentumsrecht zur Grundlage hat. Die Bewertung bezieht sich auf die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes, die aufgrund des Selbstzweck des Geldes fundamental vom »Urzustand« unterschieden wird. Eine weitere Variante des Unbehagens gegen eine Generierung von Geld zeigt sich in einer Art »Entkopplung«. Zum Beispiel spitzt sich in der Geschichte Verhängnisvolle Ordnung eine Kritik an Geld zu, wenn es um Spekulationsgeschäfte mit Nahrungsmitteln geht: Und ich habe mal gehört oder gelesen, an der Börse, also an der Lebensmittelbörse, das ist ja auch so eine dubiose Sache, mit Lebensmitteln zu spekulieren. Was weltweit mit Mais an der Börse gehandelt wird, sei zu zehn Prozent real vorhanden. Der Rest ist Luft. Eben, das ist eigentlich, das ist fast kriminell. Dass man das nicht fixieren kann, dass man sagen könnte, wenigstens mehr als die Hälfte wäre doch vorhanden. Aber zehn Prozent ist Wahnsinn.
Damit wird ein wichtiges Konglomerat der Kritik zum Ausdruck gebracht: Geld an sich wird vom Befragten als ursächliches Übel gesehen, wobei es eine Übertreibung damit insbesondere bei »den anderen« geben würde. Skepsis richtet sich im Allgemeinen gegen Spekulationsgeschäfte mit Nahrungsmitteln und verstärkt wird sie im Besonderen, da eine Diskrepanz zwischen den Börsengeschäften und der materiell vorhandenen Basis festgestellt wird. Der Befragte verweist auf eine gegenwärtige Ungerechtigkeit, denn „die letzten beißen die Hunde. Von daher ist es unheimlich.“ Problematisiert wird einerseits die Ungleichheit und andererseits das Überschreiten einer Grenze des Rationalen. Als anschlussfähig an diese Form des Unbehagens offenbart sich eine Vorstellung aus der Geschichte Selbstverordnete Ordnung, indem der Befragte erläutert, dass sich Geld „irgendwie postmodernistisch“ verhalte. Exemplarisch wird eine Irritation am Beispiel der Bitcoins beschrieben, da für diese nicht einmal mehr Arbeit als Grundlage diene:
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Ich versteh das überhaupt nicht, was ein Bitcoin sein soll. Warum kriege ich eine virtuelle Währung, ohne dass ein Arbeitswert dagegensteht oder irgendwie so was. Also in diese Geldsphären, muss ich gestehen, habe ich keinen Einblick. Also diese Entkopplung des Geldes von den Gegenständen, die wir anfassen können, die wir sehen können, die wir nachvollziehen können, wo meinetwegen auch Arbeit drinsteckt, also Werterschaffung oder so was. Das kann ich nicht nachvollziehen. Dafür ist mir das Finanzsystem, um immer wieder darauf zurück zu sprechen kommen, zu krude.
Der Befragte problematisiert damit eine Entkoppelung von einer Vergegenständlichung oder auch Arbeit. Virtuelle Währungen werden als illegitimes Geld gedeutet und Kritik äußert sich gegen das Finanzsystem in toto. Diesen Ausführungen eines Unbehagens steht eine im empirischen Material vorgefundene Faszination gegenüber. Zum Beispiel wird in der Geschichte Glücksversprechende Ordnung positiv darauf Bezug genommen, wenn aus „Luft“ Gewinn gemacht werden kann, was der Befragte als ein Aushebeln einer „geldwerten Leistung“ interpretiert. Marketing schaffe eine Entkopplung von ebendieser Leistung. Die Unterscheidung wird nicht zwischen legitimem und illegitimem Geld getroffen, sondern zwischen legitimer – das heißt in diesem Fall wertschöpfender – und illegitimer Arbeit. Der »Verkauf« von Luft stellt für den Befragten keine Unerklärlichkeit dar; vielmehr löst es Anerkennung und Faszination aus. Schließlich finden sich in der Geschichte Verdiente Ordnung zwei illustrierende Beispiele dafür, inwiefern die Generierung von Geld, die nicht auf Lohnarbeit beruht, sogar zu einer Art »Wiederverzauberung« führt. Die Faszination entfaltet sich im Bereich des Außeralltäglichen, wo alltägliche leistungsethische Prinzipien ausgesetzt werden dürfen. An den folgenden zwei Beispielen wird eine Begeisterung deutlich, gerade weil Geld nicht durch Lohnarbeit oder aufgrund einer streng-reglementierten Lebensführung generiert wird: Ich mache eigentlich noch gern Glücksspiele, aber ich mache es ganz selten. Das sind vielleicht drei Mal oder so war ich im Casino. Und dann gehe ich schon gerne so ein bisschen Roulette spielen und so. Aber ich finde nicht mit Riesenbeträgen oder irgendetwas. Also ich finde das irgendwie noch lustig, wenn sich das Geld durch Nichtsmachen dann plötzlich verdoppelt oder halt nicht mehr vorhanden ist.
Einen weiteren außeralltäglichen Umgang mit Geld, der nicht auf der strengen Reglementierung basiert, stellt der Kauf von Glückslosen dar: Von Zeit zu Zeit kaufe ich mir so ein Los und zwar ist es das »Win for Life«. Es kostet einen »Füfliber« [Schweizerdeutsch für Fünffrankenstück, Anm. N.F.]. Es ist sehr oft so, dass man dann eben wieder einen »Füfliber« oder wieder eine
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Zehnernote gewinnt oder so. Und dann kaufe ich eines und dann gibt es, dass du fünf Mal hintereinander einen »Füfliber« gewinnst. Bei diesem Spiel gehe ich immer so lange, bis ich es verloren habe. Also es ist eigentlich eine Minusrechnung. Ich weiß das schon, ich spiele es so lange, wie es, manchmal gewinne ich auch 15 Franken, dann kaufe ich mir einfach drei Lose und dann sind von dem wieder zwei Nieten. Und dann habe ich nochmal fünf Franken und dann setze ich dies wieder ein. Das ist einfach so ein Spiel, das ich mache. Aber ja, das mache ich vielleicht ungefähr alle zwei Monate, mache ich dieses Spiel, also weißt du, das ist überhaupt nicht viel Geld, das da liegen bleibt.
Die Irrationalität des Glücksspiels wird mit dem Verweis heruntergespielt, dass der Einsatz nicht hoch sei. Das Risiko ist im eingeschränkten Einsatz einkalkuliert. Weil es eine außeralltägliche Handlung ist, gelten nicht die gleichen Kriterien wie in alltäglichen Handlungen. Leistungsethische Ordnung und ihre Grenzen Aus diesen Ausführungen lässt sich der Schluss ziehen, dass die Beurteilung des »legitimen« Geldes unter dem Aspekt der Nützlichkeit und Rationalität erfolgt. Ein irrationaler Umgang mit Geld, zum Beispiel das Nicht-Einhalten der Sollund-Haben-Formel, wird dabei abgewertet. Der protestantischen Ethik zufolge ist ein irrationales Verhalten im Umgang mit Geld und Besitz abzulehnen. Weiterhin dürfe Geld nicht als Selbstzweck begehrt werden, nur Arbeit sei ein von Gott gewollter Selbstzweck (Weber 1991: 169). Soziologisch formuliert ist damit gemeint, dass Arbeit eine zentrale Vergesellschaftungsinstanz darstellt und als besonders legitim erscheint. Geld benötigt damit weitere Rechtfertigungen. Ein meritokratisches Ideal hält sich und ein durch Arbeit verdienter Aufstieg wird mit Anerkennung belohnt.23 Was sich damit bewährt, ist eine „spezifisch bürgerliche Anschauung, welche den geschäftlichen Erfolg und Erwerb als Symptom der geistigen Leistung glorifiziert, dem bloßen (ererbten) Besitz dagegen keinerlei Respekt entgegenbringt“ (ebd.: 258, Hervorh. im Orig.). Legitimes Geld festigt den Glauben an das meritokratische System und plausibilisiert eine gesellschaftliche Ungleichheit, vor allem, wenn unterschiedliche Ausgangssituationen wie in der Geschichte Glücksversprechende Ordnung nivelliert werden. Den Weg zum Multimillionär auf bloße Arbeit zurückzuführen, ist ein Grundelement des Mythos des sozialen Aufstiegs, worin ein ideologisches Moment zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung liegt (vgl. Deutschmann 2008: 30; Koppetsch 2013). 23 Diese Figur findet man bereits in der protestantischen Ethik: Der „nüchterne bürgerliche Selfmademan“ (Weber 1991: 172) erfahre Respekt, wohingegen die „vornehme Lässlichkeit des Seigneurs und die parvenümäßige Ostentation des Protzen […] der Askese gleichermaßen verhasst“ (ebd. 2013: 188) bleibe.
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Empirische Untersuchung
In der Beschreibung und Begründung des Umgangs mit Geld werden Aspekte wie Kontrolle, Disziplinierung, Unmittelbarkeit, Praktikabilität oder Alternativlosigkeit deutlich, die einen Einfluss darauf nehmen, ob mit Bargeld, EC-Karte oder Kreditkarte bezahlt wird. Diese Ergebnisse aus dem empirischen Material sind freilich nicht erschöpfend. Haesler konstatiert aus seinen empirischen Studien über Geldsurrogate einen Kontrollverlust der KäuferInnen. Obwohl noch immer mit Geld bezahlt wird, ersetzt die Kartenpräsentation die »Darbietung« von Bargeld. Mit dieser Entwicklung behauptet Haesler eine Auflösung des Opfercharakters der Bezahlung (vgl. Haesler 2002: 191). Dem Kartengeld fehle die Reziprozität des Tauschaktes, sozusagen das Loslassen des Geldes (vgl. Bammé 2005: 68). Kontrolle wird demnach mit dem haptisch vorhandenen Geld verknüpft, wohingegen eine Entmaterialisierung des Geldes von Haesler problematisiert wird. Die zunehmende Entmaterialisierung und die damit verbundene Abstraktion des Geldes würden zu einer größeren Diskretion, Reserviertheit und Distanziertheit gegenüber dem Kaufakt führen. Gleichzeitig seien eine zunehmende Entpersönlichung, eine schwächere Kontrolle seitens der BenutzerInnen sowie eine Leichtigkeit des Bezahlens festzustellen. Diese Perspektive auf den Kontrollverlust wird auch in einigen Geschichten über Geld eingenommen; interessant ist auch die Verbindung des digitalen Geldes mit der Vorstellung einer metaphorischen Leichtigkeit. Die Beispiele aus den Geschichten weisen aber auch darauf hin, dass die Bewertung der unterschiedlichen Geldträger verschieden ausfällt. Es ist fraglich, ob dieser zunehmenden Entpersönlichung und Abstraktion auf einer Mikroebene nicht durch Bedeutungszuschreibungen entgegengewirkt wird, wie dies auch Zelizer festhält (vgl. Zelizer 1994). Die Geschichte Alltägliche Ordnung jedenfalls enthält ein veranschaulichendes Beispiel, wie durch Bargeld eine persönliche Wertschätzung vermittelt werden soll. Kartenzahlung führt aber nicht unbedingt zu einem leichtfertigen Ausgeben. In der Geschichte Glücksbringende Ordnung bedeutet Bargeld geplanten Kontrollverlust, gerade weil es keine nachvollziehbaren digitalen Spuren hinterlässt. Im Weiteren konnte veranschaulicht werden, dass Rationalisierung außeralltäglichen Genuss mit außeralltäglichen Mitteln, der Kreditkarte, erlaubt, ohne dass damit Rechenhaftigkeit unterminiert wird. Dennoch findet sich auch das Motiv des „versucherische[n] Charakter[s] des Geldes“ (GSG 6: 330), das mit der Entmaterialisierung des Geldes verbunden wird, weshalb zum Beispiel die Maßnahme der Vergegenwärtigung des Geldes durch das wöchentliche Abheben von Bargeld eingeleitet wird. Neben der Kontrolle geht es darum, das „tatsächliche Geld“ wertzuschätzen. Es ist eine Form der Zweckgebundenheit des Geldes, welche nicht nur in dieser Geschichte aufscheint. Auch an anderen Stellen findet sich der „sinnliche Reiz der Unmittelbarkeit“ (Gabriel 2009: 269) – sei es,
4.3 Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung
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indem 1000 Franken Bargeld notwendig seien, sei es, dass Trinkgeld in einer Bar eine persönliche Wertschätzung vermittle. Es besteht in den alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld eine Relevanz der Anschaulichkeit und Greifbarkeit des Geldes. Auf unterschiedliche Weise werden Vergegenwärtigungsprozesse und damit Bedeutungszuschreibungen des Geldes auf einer Mikroebene von den Befragten erläutert. Ein systematisch-methodischer Umgang mit Geld begünstigt die Etablierung und Wahrnehmung von Sphären, die nicht von leistungsethischen Prinzipien durchstrukturiert erscheinen. Schließlich zeigt sich in den Geschichten über Geld ein Spannungsverhältnis zwischen einem Unbehagen an und einer Faszination über unerklärlichen Eigenschaften des Geldes. Geld als Emergenz oder creatio ex nihilo wird in manchen Geschichten als gruselig, unheimlich oder dubios bezeichnet. Demgegenüber steht eine Faszination für den Fall, wenn aus „Nichts“ oder „Luft“ Geld generiert wird. In diesem Spannungsverhältnis zeigt sich eine leistungsethische Rechtfertigung des Geldes insofern als Lohnarbeit oder eine sonstige materielle Deckung seine Legitimität herstellt. Eine besondere Skepsis zeigt sich derweil gegenüber der Finanzsphäre, der eine Entkoppelung von einer »realen« oder vermeintlich »sichtbaren« Basis attestiert wird. Aber auch digitale Währungen wie Bitcoins lösen Kritik aus. Darin äußert sich ein Unbehagen gegen das Abstrakte und Unerklärliche, wohingegen Lohnarbeit für die Befragten greifbarer ist und eine andere gesellschaftliche Rechtfertigung beanspruchen kann.
4.3.4
Deutung der Deutungen
Anhand des Geltungsbereiches des Geldes, einer möglichen Auflösung der Geldordnung sowie leistungsethischen Rechtfertigungen des Geldes, die sich auch im Umgang damit verkörpern, können Rückschlüsse auf die Interpretationen des gesellschaftlich Bestehenden vollzogen werden. Dieses Kapitel gibt Aufschluss darüber, wie sich die Befragten die gesellschaftliche Ordnung vorstellen und diese mit Geld in Beziehung setzen. Die Einschränkung des Geltungsbereiches erfolgt vor dem Hintergrund, dass dem Geld zwar einerseits Alternativlosigkeit und Notwendigkeit attestiert werden, andererseits aber dennoch Inseln der Freiheit suggeriert werden, in denen die Geldlogik nicht greifen könne und die mit Glück, Ehrlichkeit und Authentizität assoziiert werden. So wird es als ehrlich empfunden, wenn sich Glück nicht kaufen lässt. Im Refugiennarrativ zeigt sich eine gewisse Ohnmacht der Einzelnen gegenüber der Allmacht des Geldes, die sich in einer Negativität der Beschreibung niederschlägt. Es sind Bereiche des Nicht-Käuflichen, Authentischen oder auch Nicht-Rationalisierbaren, die vor Geld
196
4
Empirische Untersuchung
verteidigt werden. Geld will beherrscht werden, oder zumindest soll es noch Bereiche geben, in denen die Geldmacht eingeschränkt ist. Die Etablierung von Verboten oder Tabus ist verknüpft mit der Vorstellung einer »gerechten« gesellschaftlichen Ordnung, für welche Geld bedrohlich wirkt. Das Kontrollierende soll kontrolliert werden; mit Verweis auf die Freiheit wird die Macht des Geldes eingeschränkt: Freiheit durch Kontrolle.24 Diese Konstruktionen erlauben, sich mit Geld einstweilen zu arrangieren oder auch zu versöhnen. In der Herstellung dieser Ordnungen findet sich eine Form der Gerechtigkeit wieder. Die Idealisierung geldfreier Refugien ist insofern eine romantisierte Gesellschaftsvorstellung, als sie eine Distanz zur Realität gestattet. Bemerkenswert sind die Befunde zum Geltungsbereich des Geldes unter anderem aus dem Grund, dass die Bedeutungen, die Geld im vorherigen Kapitel zugeschrieben werden, nicht ausschließlich darauf beruhen, dass Geld ein Tauschmedium ist und in Bezug auf wirtschaftlichen Austausch von Relevanz ist. Die Befragten schreiben Geld eine Bedeutung zu, weil es beispielsweise ein Mittel zur Herstellung von Normalität, Sicherheit oder Distinktion darstellt. Anders formuliert ergibt sich die Bedeutung, die Geld in den Geschichten über Geld beigemessen wird, nicht nur aus der wirtschaftlichen Sphäre. Demgegenüber werden dann aber Grenzen des Geldes auf gesellschaftlicher Ebene gezogen, um seine Geltung auf die wirtschaftliche Sphäre einzuschränken. Was ist aber, wenn die Grenzen des Geldes nicht eingehalten werden? In der Geschichte Alltägliche Ordnung zeigt sich ein dafür interessantes Beispiel in der Beschreibung von Geldgeschenken. Geldgeschenke bewegen sich in einem Graubereich des gesellschaftlich Legitimen und es handelt sich um ein Beispiel dafür, wie Geld mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen werden kann, ohne eine Bedrohung für die Wirkmächtigkeit des Refugiennarrativs und seiner ordnungskonstitutiven Funktion darzustellen. Geschenke dürfen nicht als Waren wahrgenommen werden, was wiederum abhängig vom kulturellen Kontext ist, und in dieser Hinsicht sind Geldgeschenke problematisch (vgl. Paul 1997: 442): Also ich finde Geldgeschenke zum Beispiel immer nicht so schön, weil ich immer das Gefühl habe, dass es halt so pur und so nackt ist irgendwie. Also ich habe einfach eher das Bedürfnis, dass man, also daran misst sich wahrscheinlich auch, worum es einem geht, ob es einem um den materiellen Wert geht oder halt um den finanziellen, den man dann hat. Oder um die Geste. Ich glaube, daran bemisst sich halt viel. Und ich glaube, Leute, die das genau so sehen, aber trotzdem irgendwie, 24 Dieses Freiheitsverständnis beschreibt Taylor treffend: „Frei sind wir, sobald wir die Bedingungen unserer eigenen Existenz neu schaffen können, sobald wir imstande sind, die Dinge zu beherrschen, die uns beherrschen“ (Taylor 2014: 113).
4.3 Deutungen einer gesellschaftlichen Ordnung
197
es gibt ja so Kontexte, in denen es einfach angebracht ist, Bargeld zu schenken, weil es vonnöten ist oder so, die sich dann aber trotzdem darüber bewusst sind, dass das jetzt nicht um den Wert gehen soll, den das Geld jetzt vermittelt, sondern dass es auch um die Geste gehen soll und die sich dann unglaublich aufwendige Verpackungen für das Geld ausdenken. Also ich habe auch neulich, auf Arbeit haben auch welche so ein Geldgeschenk gemacht und haben halt so einen riesen Blumenstrauß aus so Scheinen gebastelt. Das ist halt auch so eine Art, mit Geld umzugehen und das irgendwie, also über seinen finanziellen Wert hinaus irgendwie als Geste zu verpacken.
Welche Bedeutung Geschenken, den Schenkenden und den Beschenkten zugeschrieben werden, ist eine delikate Angelegenheit, gerade weil es um die Vermittlung von Wertschätzung, Einzigartigkeit und Emotionalität geht. Zusätzlich werden, abstrakter gesprochen, grundlegende gesellschaftliche Regeln und Normen tangiert (vgl. Mauss 1990). Im System des Schenkens wird laut Illouz Macht gleichzeitig sichtbar und verborgen. Es lastet auf der beschenkten Person quasi eine Schuld; aber auch die schenkende Person ist verpflichtet, mit einem Geschenk „Empfindungen, Intimität und gemeinsame Erfahrungen“ auszudrücken, wobei „Marktwert und Status“ (Illouz 2014: 266) negiert werden müssen. Geschenke reflektieren soziale Bindungen nicht nur, sondern können diese auch festigen (vgl. Zelizer 1994: 78; ebd. 1996: 492). Laut Simmel ist das Entscheidende bei Geldgeschenken aber, dass „die Gabe eben nicht als ökonomische wirken darf oder dass wenigstens das Zurücktretenlassen ihres ökonomischen Charakters als besondere Kordialität wirkt“ (GSG 6: 355). Geldgeschenke bewegen sich damit in der Spannung zwischen Rationalisierung und Romantisierung, denn sie halten sich nicht an die Grenze, dass Geld in Freundschaften oder Liebe keinen Eingang finden dürfe. Die Verteidigung letzter Bastionen, die nicht von Geld vereinnahmt werden können, wie zum Beispiel Freundschaft und Liebe, erfolgt schließlich vor der Sorge, dass „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übergelassen [wird] als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«“ (MEW 4: 465). Geld wird verknüpft mit der Vorstellung einer kühlen Künstlichkeit. Die Verpackung von Geldgeschenken zur warmen Geste ist damit ein Beispiel für ein spannungsreiches Verhältnis von Rationalisierung und Romantisierung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Im Ausblick auf die Möglichkeit, dass sich die bestehende Ordnung mitsamt des Geldprinzips auflösen könnte, zeigen sich affirmative wie ablehnende Haltungen den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber. Endzeitliche Narrative und damit Verweise auf eine absolute Unordnung können dazu dienen, die bestehende Ordnung zu legitimieren. Mit Beckert kann man argumentieren, dass die postapokalyptischen Visionen in den Geschichten Verdiente Ordnung und
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4
Empirische Untersuchung
Glücksbringende Ordnung das kapitalistische System festigen: „Insofern sich die imaginierte Zukunft der Katastrophe als kulturelles Leitbild durchsetzt, wird sie für die Dynamik des Kapitalismus relevant, indem durch ein solches Leitbild Entscheidungen beeinflusst werden“ (Beckert 2017: 7). Mit Verweis auf Länder, in denen bereits bedrohliche Zustände herrschen würden, können Interventionsprogramme als alternativlos ausgegeben werden. Ein mögliches Aufbegehren gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft kann mit dem Bild eines postapokalyptischen Horrorszenarios ad absurdum geführt werden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden als alternativlos präsentiert und gegen Kritik immunisiert. Demgegenüber steht die zweite Variante postapokalyptischer Visionen, in der ein durch Geld initiierter Verfallsprozess behauptet und kritisiert wird, um gesellschaftliche Verhältnisse ohne Geld herbeizusehnen. Sie vermittelt „das Bedürfnis nach einer eigenen, eng begrenzten Welt, nach Überschaubarkeit und Stabilität“ (Honegger/Rychner 1998: 9). Geld wird dabei ein gemeinschaftszersetzendes Moment zugeschrieben; eine „Heimkehr in einen fiktiven Ursprung“ (Henning 2015: 145) wird angestrebt. Schließlich wurde in diesem Kapitel an verschiedenen Beispielen illustriert, dass Arbeit als Legitimationsgrundlage für Geld eingebettet ist in eine Verpflichtung gegenüber Arbeit, wie diese Weber in der protestantischen Ethik analysiert hat. Dabei soll die „Auffassung der Arbeit als Selbstzweck, als »Beruf«, wie sie der Kapitalismus fordert“, dazu dienen, den „traditionalistischen Schlendrian zu überwinden“ (Weber 1988: 47f.) und Geld als Selbstzweck zu widerstehen. In den alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld wird eine dem Geld innewohnende Verführungskraft thematisiert. Um sich von dieser Verführung fernzuhalten, werden unterschiedliche Praktiken ausgeübt. In manchen Geschichten werden Kreditkarten mit einem Kontrollverlust assoziiert. Ein reglementierter Umgang mit Geld und den verschiedenen Geldträgern verspricht, der Verführungskraft standzuhalten – Kontrolle anstatt Verführung. Allerdings konnte in diesem Zusammenhang ebenso aufgezeigt werden, dass Kontrollverlust nicht per se abgelehnt wird. Die Handhabung verschiedener Geldträger ist mitunter im Kontext der Alltäglichkeit zu begreifen, insofern in außeralltäglichen Situationen nicht die gleiche Kontrolle praktiziert werden muss. Alltägliche Regeln, auch im Umgang mit Geld, werden dabei ausgesetzt. Außeralltägliche Erlebnisse unterliegen einer anderen Strukturierung und Wahrnehmung (vgl. Schäfer 2015b; Zink 2013), es liegt ihnen ein Charme inne; Geld kann dafür eine konstitutive Rolle übernehmen. Die Befragten skizzieren damit Bereiche, in denen der Umgang mit Geld nicht reglementiert werden muss oder, vielleicht treffender formuliert, als nicht kontrolliert wahrgenommen wird.
4.4 Fazit
4.4
199
Fazit
Die empirische Untersuchung orientierte sich an der Frage, welche Bedeutung Geld alltags- und laienperspektivisch zugeschrieben wird. Abschließend werden Bedeutungszuschreibungen des Geldes diskutiert, die zwischen Geld als Tauschmittel und Geld als Selbstzweck oszillieren. Dafür liegt der Schwerpunkt dieser Ausführungen auf Widersprüchen und Ambivalenzen, ohne den Anspruch zu verfolgen, diese aufzulösen. Die Thematisierung des Geldes als Tauschmedium bezieht sich vor allem auf Rationalisierung; Rationalisierung hat dabei eine Konnotation der Leichtigkeit. Die Erfindung des Geldes erscheint als naheliegend, fast schon natürlich. Thematisiert wird aber auch ein »richtiger« Umgang mit Geld, woraus sich moralische Urteile über andere ergeben oder offenkundige Schatzbildung abgelehnt wird. Inszeniert wird ein Desinteresse Geld gegenüber. Ein dezidiertes Interesse an Geld erscheint nicht als legitim, weshalb eine ablehnende Haltung dem Geld gegenüber mit Nachdruck betont wird. Mit Simmel lässt sich indessen argumentieren, dass sich hier ein ambivalentes Verhältnis zu Geld zeigt und sich dahinter möglicherweise eine (romantische) Faszination verbirgt: „Gerade das bewusste und betonte negative Verhalten zum Gelde hat, wie durch einen dialektischen Prozess, das Gegenteilige zur Grundlage, aus der allein jenem irgend ein Sinn und Reiz kommen kann“ (GSG 6: 323). Schließlich geht es um eine Geld zugeschriebene Verführungskraft, die auf die Ambivalenz des Geldes als Tauschmittel und als Selbstzweck verweist. Es besteht die Vorstellung, dass der dem Geld zugeschriebenen Verführungskraft durch einen rationalen Umgang Abhilfe verschafft werden kann. Bedeutung als Tauschmedium Die Begründungen, warum sich Geld überhaupt als Tauschmedium durchsetzen konnte, sind im empirischen Material zweckrational gefärbt. Die Einführung des Geldes wird als praktisch, quasi-natürlich, effizient und »irgendwie vernünftig« bezeichnet. Auf den Punkt gebracht: Weniger Aufwand, mehr Nutzen. So heißt es zum Beispiel in der Geschichte Alltägliche Ordnung: Und man hat halt einfach das Geld oder man hat es halt nicht, um den Preis zu bezahlen. Und dass einem dieser Aushandlungsprozess, das jedes Mal wieder selber durchmachen zu müssen, als unglaubliche Last vorkommt. Und es auch einfach als ineffizient erscheint, dass man so seinen Alltag auch nicht verbringen will.
Naturalientausch wird mit Aufwand und hohen Kosten verbunden. In diesem Zusammenhang wird in einigen Geschichten eine Metaphorik der Leichtigkeit
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4
Empirische Untersuchung
verwendet, weil dank des Geldes nicht länger Baumstämme oder Kartoffelsäcke getauscht werden müssen. Diese zweckrationale Begründung des Geldes ist damit eine Plausibilisierung durch Vereinfachung. Daran anschlussfähig sind Thematisierungen von Alternativen, die nicht der »normalen« Praxis entsprechen. Man will damit Alternativen zu Geld nicht komplett ausschließen. Sie sind allerdings als mögliche Alternativen wichtig und nicht, weil sie auch tatsächlich umgesetzt werden. Alternativen zu Geld werden mit mehr Aufwand assoziiert und das obige Zitat illustriert, dass man mit ineffizienten Alternativen zu Geld seinen Alltag dann lieber doch nicht verbringen möchte. Auch zivilisationsgeschichtliche Annäherungen an Geld bedienen sich sehr anschaulich zweckrationaler Erklärungen. In der Geschichte Paradoxale Ordnung wird von einer Art »Urzustand« ausgegangen, in dem Geld nur als Tauschmedium fungiert. Damit wird eine eigentliche Bestimmung des Geldes benannt, was an das Argument gebunden ist, dass Geld Allgemeinwohl hervorbringe. Die Bezugnahme auf das Allgemeinwohl, die Geld als legitim erscheinen lässt, ist nochmals abstrakter als die Vorstellung, es erleichtere den Tauschhandel. Besonders ausgeprägt konnte diese Vorstellung in der Geschichte Glücksversprechende Ordnung rekonstruiert werden. Geld begründet in dieser Geschichte Freiheit, Allgemeinwohl und Fortschritt; es wird eine quasinatürliche Entwicklung des Geldes nahegelegt. Eigentlich abstrakte Möglichkeiten des Geldes (vgl. Paul 2012: 76) werden damit als logische Konsequenzen des Geldes gedeutet. Eine zweckrationale Metaphorik der Leichtigkeit findet sich zusätzlich in der Thematisierung unterschiedlicher Geldformen wieder. Die Befragten nehmen eine für sie wichtige Differenzierung vor, die durch die Unterscheidung zwischen Bargeld und Bankkarten gekennzeichnet ist. Insbesondere Kreditkarten bedürfen einer zusätzlichen Legitimität. Die Geschichte Glücksversprechende Ordnung bildet eine Ausnahme; abgesehen davon sind Kreditkarten nicht Teil der alltäglichen Praxis der Befragten. Die Verwendung von Kreditkarten wird im Zusammenhang mit außeralltäglichen Dingen wie Reisen, Restaurantbesuchen oder Konzerten genannt. Hierbei ist ein interessantes Muster aufgefallen: Die Befragten beschreiben, dass in manchen Situationen nur eine Bezahlung mit Kreditkarte möglich sei; darüber hinaus wäre dies aber auch praktisch, weil nicht „ein Haufen Geld“ mitgenommen werden muss. Die Alternativlosigkeit reicht damit nicht aus als Begründung; es wird ein zweckrationales Argument hinzugefügt. Dass dem Umstand, keine Wahl zu haben, eine weitere, positive Begründung zur Seite gestellt wird, könnte ein Hinweis darauf sein, dass Kreditkarten für die Befragten nicht »normalisiert« sind. Die Alternativlosigkeit führt in diesen Beispielen offensichtlich noch nicht zu einer Normalisierung von Kreditkarten; vielmehr bedürfen diese erst einer sinnhaften Einbettung.
4.4 Fazit
201
Trotz einer Zweckrationalität, die Geld zugesprochen wird, bleibt ein Rechtfertigungsdruck des Geldes bestehen. Die rationalistische Begründung gerät an Grenzen. Dies sieht man zum Beispiel hinsichtlich sozialer Ungleichheit. Folgendes Beispiel illustriert einen mit Geld zusammenhängenden Rechtfertigungsdruck, der nicht zweckrational aufgelöst wird. In der Geschichte Selbstverordnete Ordnung verweist der Befragte auf Emotionales: Würde ich zum Beispiel darüber nachdenken, warum ich in einem Wohlstandsland lebe und so viel Geld habe, dann müsste ich ja wieder traurig werden. Also was das angeht, hat Geld für mich eine emotionale Einwirkung. Ich denke auch viel darüber nach: »Also wo kommt mein Geld her? Wieso habe ich dieses Geld? Habe ich dieses Geld zurecht? Warum hat jemand anderes dieses Geld nicht? Ist das cool?«
Dahinter steht die Frage nach der Legitimität sozialer Ungleichheit. Der Befragte konstatiert einen Konnex zwischen Geld und Glück. Thematisiert wird damit auch die Frage nach dem verdienten Glück, ohne dass der Befragte sich einer meritokratischen Argumentation bedient. Romantische Motive sind vor diesem Hintergrund hilfreich, um Geld dennoch mit Freiheit, Gerechtigkeit oder Gleichheit zu verbinden. Geld bleibt in den alltagsweltlichen Vorstellungen legitim, weil es davon unberührte Bereiche gibt. Bedeutung als Mittel der Berechenbarkeit Ein sehr wichtiger Befund des ersten Teils der Empirie ist, dass die Bedeutung, welche die Befragten Geld zuschreiben, nicht ausschließlich aus dem Bereich der Ökonomie abzuleiten ist. Die Geschichten über Geld beinhalten Bedeutungszuschreibungen, die sich zum Beispiel auf Sicherheit und Stabilität beziehen, ohne damit soziale Absicherung zu meinen. Geld als Mittel, um die alltägliche Normalität zu bewahren, ist ein vorgefundenes Muster im empirischen Material. Praktisch jede Tätigkeit, so wird in der Geschichte Alltägliche Ordnung erklärt, ist von Geld berührt, woraus sich für die Befragte die Rechtfertigung des Geldes erschließt: Es sichert die alltägliche Ordnung. Alternativen zu Geld werden zwar thematisiert, jedoch nur um diese als zu umständlich auszuweisen. Das heißt, Geld wird von der Befragten nicht als alternativlos aufgefasst, darum ist seine Unvermeidlichkeit kein Grund der Kritik. Die pekuniäre Durchdringung des gesamten Alltags ist im Gegenteil geradezu Teil seiner Rechtfertigung. Dem stehen mögliche Krisen gegenüber, die eintreten, wenn Geld fehlt oder man gezwungen ist, sich Geld von anderen zu leihen. Geld macht den Alltag berechenbar und unabhängig. Anders formuliert vermittelt Geld aus Sicht der Befragten Beständigkeit
202
4
Empirische Untersuchung
und Verlässlichkeit. Darin liegt, so könnte man es mit Hirschman ausdrücken, die Verheißung „einer von Interessen regierten Welt“ (Hirschman 1987: 57). Berechenbarkeit, nun in Form von Rechenhaftigkeit, stellt auch in der Geschichte Rechnerische Ordnung ein wichtiges Motiv dar. Berechenbarkeit ist hierbei an eine einfache Soll-und-Haben-Maxime mit umfassenden Konsequenzen gekoppelt. Es findet sich jene Spielart der Rationalität, die sich auszeichnet durch eine „kalkulierende, exakt buchführende Mentalität“ (Mannheim 1984: 159). Das Einhalten einer einfachen, buchhalterischen Praxis verweist auf einen »richtigen« Umgang mit Geld. Die Bedeutung des Geldes ergibt sich für die Befragte daraus, dass es ihr ein moralisches Urteil über Individuen und sogar makrowirtschaftliche Verhältnisse erlaubt. Soziale Ungleichheit lässt sich damit auf einen »falschen« Umgang mit Geld zurückführen und relativieren. In der Geschichte Verdiente Ordnung stellt Geld ein Symbol für Sicherheit dar, das über den Alltag hinausgeht. Darin wird es als Möglichkeit auf Möglichkeiten thematisiert und seine besondere Stellung als Sicherheitssymbol mit seiner Neutralität erklärt. Weil Geld nicht auf konkrete Zwecke beschränkt ist, bedarf es als Sicherheitssymbol nicht erst einer Realisierung. Das heißt, es muss nicht die fast schon lästige Frage gestellt werden: „Muss ich mir jetzt ein Haus kaufen?“. Diese alltagsweltliche Vorstellung von Geld als Sicherheitssymbol rückt nahe an die Ausführungen Simmels über den Selbstzweck des Geldes und darüber, warum Geld anderen Waren gegenüber einen einzigartigen Vorteil genieße (vgl. GSG 6: 317). Auch der Befragte betont Vorteile des Geldes gegenüber Alternativen, in diesem Fall gegenüber anderen Sicherheitssymbolen. Mit 26 Jahren verfügt der Befragte bereits über ein „sehr gutes Polster“, was auf stetige Arbeit statt Muße und, zusätzlich, auf Investitionen zurück zu führen ist – eine anders nuancierte Art der Berechenbarkeit und Rechenhaftigkeit.25 Folgendes Beispiel illustriert diese Haltung des Befragten:
25 Gleichzeitig gibt es eine dezidierte Abgrenzung zu Schatzbildung. Vielleicht, so könnte man gegen die Selbstbeschreibung einwenden, ist er auch einfach nur der „klügere Kapitalist“ (MEW 23: 168), wie ihn Marx charakterisiert hat: „Die rastlose Vermehrung des Werts, die der Schatzbildner anstrebt, indem er das Geld vor der Zirkulation zu retten sucht, erreicht der klügere Kapitalist, indem er es stets von neuem der Zirkulation preisgibt“ (ebd.). Mit Simmel gesprochen besteht eine Wahlverwandtschaft zwischen der Figur des Geizigen und der Figur des Verschwenders, da beide Geld vom Tauschmedium zum Selbstzweck aufwerten. Geldinteresse drückt sich für den Verschwender allerdings nicht im Haben, sondern im Ausgeben aus: „Die Lust am Verschwenden […] heftet sich also an den Moment des Geldausgebens für irgendwelche Gegenstände; der Reiz dieses Momentes überdeckt beim Verschwender die sachgemäße Schätzung des Geldes einerseits, der Gegenstände andrerseits“ (GSG 6: 322f.). In anderen Worten heißt dies, dass es dem Verschwender oder der Verschwenderin nicht um konkrete Gegenstände und Waren geht, denn
4.4 Fazit
203
Ich habe zum Beispiel Bäume gekauft in Ecuador. Ja, das ist halt eine Investition. Wir hatten einfach das Geld und fanden, wir brauchen es jetzt im Moment nicht. Wir haben im Moment mehr Geld, als wir eigentlich brauchen. Also es wäre sonst einfach auf der Bank. Das ist einfach so eine Investition für irgendwie 18 Jahre und die wachsen jetzt da unten einfach und irgendeinmal werden sie halt gefällt und verkauft und dann bekommt man Cash. Oder halt auch nicht. (Lachen) Weil es in Ecuador ist.
Er investiert Geld lieber langfristig, als es auf der Bank aufgehoben zu wissen. Berechenbarkeit findet sich in einer klassisch kapitalistischen Unternehmerlogik: viel arbeiten und Geld reinvestieren. Eine Unsicherheit besteht allerdings bezogen auf die Verhältnisse in Ecuador. An verschiedenen Stellen wurden in den Geschichten über Geld Bezüge zu anderen Ländern hergestellt, gerade auch, um die gesellschaftliche Ordnung in der Schweiz hervorzuheben, womit eine enge Verknüpfung zwischen wirtschaftlichem Rationalismus und der Schweiz nahegelegt wird.26 Es lässt sich festhalten, dass Bedeutungszuschreibungen des Geldes mit Berechenbarkeit verknüpft werden, wobei dies von den Befragten ambivalent beurteilt wird: positiv in dem Sinne, dass Geld eine alltägliche Normalität herzustellen erlaubt, tendenziell negativ in einer Geschichte, in der Berechenbarkeit in Form von Disziplinierung, die sich durch die gesamte Gesellschaft ziehe, fundamental kritisiert wird. Der Vorteil des Geldes gegenüber anderen Sicherheitssymbolen berührt die Ebene des Selbstzwecks des Geldes. Geld ist in diesen alltagsweltlichen Vorstellungen nicht ausschließlich ein simples Tauschmedium, dessen Funktion und Bedeutung sich auf den ökonomischen Bereich beschränkt. Konkret benannt wird der Selbstzweck in der Geschichte Paradoxale Ordnung. Die Befragte erläutert, dass der Selbstzweck des Geldes aus individueller Perspektive durchaus Sinn ergebe; auf der Ebene des Gesellschaftlichen problematisiert sie den Selbstzweck allerdings und verweist auf einen historischen Bruch.27 Es diesen gegenüber besteht eine Gleichgültigkeit. Es können irgendwelche Gegenstände sein, da das Interesse nicht ihnen gilt, sondern dem Geld an sich und was es auszulösen vermag. 26 Es sind aber nicht ausschließlich rationalistische Motive, die in der Idealisierung der Schweiz greifen. Die romantischen Projektionen betreffen nicht nur das »Andere der Moderne«, das im Kontrast zur Schweiz steht; in der Geschichte Selbstverdiente Ordnung trifft die romantische Projektion die Schweiz selber, denn dort würden noch Grenzen des Geldes bestehen und die Macht des Geldes sei nicht uneingeschränkt. 27 An dieser Stelle bietet sich nochmals ein Bezug auf Simmels Ausführungen an: „Hier ist es also das ganz spezifische Wesen des Geldes, auf dem sich die Divergenz des individuellen vom sozialen Interesse aufbaut, nachdem beide bis zu einem bestimmten Punkte aus zusammengegangen sind“ (GSG 6: 194).
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4
Empirische Untersuchung
bedarf damit zusätzlicher Rechtfertigungen des Geldes, wenn dieses nicht nur ein neutrales Tauschmedium darstellt. Verführung und Vergegenwärtigung Um einer Verführung des Geldes rational zu widerstehen, wird eine strenge Berechenbarkeit als geeignete Methode nahegelegt. Diese Methode umfasst zum Beispiel die buchhalterische Soll-und-Haben-Formel, wobei dies der Befragten gerade auch erlaubt, mit dem restlichen Geld frei und unbeschwert umgehen zu dürfen. Ein weiteres Beispiel liefert die Geschichte Selbstverordnete Ordnung, in der ein Widerspruch bereits zu Beginn deutlich wird. Der Befragte betont, dass er Centstücke wegwerfen würde, und wenn ihm Kleingeld aus der Tasche falle, würde er es erst gar nicht aufheben. Dabei konnte rekonstruiert werden, dass es darum geht, sich von der Verführung des Geldes fernzuhalten, indem eine Indifferenz dem Geld gegenüber behauptet wird.28 Dazu passend ist die Aussage des Befragten, gar keinen „Bezug“ zu Geld zu haben, um einen Satz später jedoch anzufügen, dass Geld einen „unglaublichen Druck“ ausübe. Auch in Verhängnisvolle Ordnung wird dem Geld eine Verführungskraft zugesprochen, zusätzlich gebe es „verlockende“ Angebote der Banken- und Finanzsphäre. Nicht zu spekulieren oder wenigstens nur mit einem geringen Risiko, wie es der Befragte tun würde, werden als Formen des rationalen Widerstands dargestellt. Das „Verlockende“ des Geldes wird vom Befragten wiederum im Zusammenhang mit verschiedenen Geldträgern aufgegriffen: Bargeld stellt für den Befragten ein Mittel dar, der Verführungskraft des Geldes standzuhalten. Dieses Muster findet sich auch in der Geschichte Selbstverordnete Ordnung, wobei eine Unterscheidung zwischen „tatsächlichem Geld“ und der „Plastikkarte“ vorgenommen wird. Durch einen systematischen Umgang mit Geld, das heißt in diesem Fall 50 Euro pro Woche abzuheben, soll ein „bewusster Nerv“ entwickelt werden, um sich von einer Versuchung fernzuhalten. Die Verführungskraft, die in den alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld thematisiert wird, wird nicht nur dem Geld beigemessen, sondern wird auch als die Verführbarkeit der Individuen zum Thema gemacht. In 28 Simmel erklärt: „Weil es in jedem Augenblick zur Verwendung bereit ist, ist es der schlimmste Fallstrick der schwachen Stunden, und da es alles zu beschaffen dient, so bietet es der Seele das ihr jeweilig Verführerischste dar; und alles dies ist von um so unheimlicherer Gefährlichkeit, als das Geld, so lange es wirklich bloß als Geld in unseren Händen ist, das indifferenteste und unschuldigste Ding von der Welt ist. So wird es für asketische Empfindungsweisen das richtige Symbol des Teufels, der uns in der Maske der Harmlosigkeit und Unbefangenheit verführt; so dass dem Teufel wie dem Gelde gegenüber die einzige Sicherung im absoluten Fernhalten liegt, in der Ablehnung jeglicher Beziehung, wie ungefährlich sie auch scheine“ (GSG 6: 330).
4.4 Fazit
205
der Geschichte Glücksversprechende Ordnung sind es die Menschen, die sich von Geld „versklaven“ lassen, und die Schuld daran trage der individuelle Umgang damit. Das Deutungsmuster des verführerischen Geldes ist damit Teil der Kritik sowie der Legitimation des Geldes. Dieses Muster konnte Weber bereits für die protestantische Ethik nachweisen. Innerweltliche Askese soll dazu dienen, den „Versuchungen, welche der Reichtum mit sich bringt“ (Weber 2013: 273), zu trotzen. Ein systematisch-methodischer Umgang mit Geld und Berechenbarkeit stellen in den alltagsweltlichen Vorstellungen eine Lösung für das Problem der Versuchung dar.
5
Schlussbetrachtung
Da aber selbst Hochkulturen auch ohne Geld möglich waren, muss gelten, dass Geld keine conditio sine qua non der komplexen Erfahrung von Welt und Dasein ist. Allerdings spricht alles dafür, dass Geld, einmal »erfunden«, nicht ohne größte Komplikationen negiert werden kann. Jochen Hörisch
5.1
Zur gesellschaftlichen Legitimität des Geldes
5.1.1
Verknüpfung von Theorie und Empirie
Geld ist eine sehr komplexe und ambivalente Angelegenheit. Es ist Grund für kontroverse Debatten, Tabuisierungen, aber auch Huldigungen oder Verharmlosungen. Die „apotheotischen und dämonisierenden Personifikationen von Geld und Reichtum“ (Bornscheuer 2006: 4) stehen in alter wie divers geprägter – sei es religiöser, politischer oder philosophischer – Tradition (vgl. Paul 2017: 196ff.). Wie kann man Geld, seine Entwicklung und seine Wirkungen begreifen und soziologisch bewerten, ohne seine „Ambivalenz in Eindeutigkeit“ (Nedelmann 1993: 412) umzubiegen? Um Geld und seine Bedeutungen zu untersuchen, wurde eine kultursoziologische und eine alltagstheoretische Perspektive eingenommen. Eine zentrale Frage für eine Soziologie des Geldes ist dabei auch, wie Geld gesellschaftlich legitim bleibt – darauf liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Schlussbetrachtung. Es wird zum einen theoriebezogen argumentiert, dass Geld gesellschaftlich legitim bleibt, weil es ein Mittel der Rationalisierung und ein
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Frei, Deutungen des Geldes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31961-8_5
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208
5
Schlussbetrachtung
Mittel der Romantisierung darstellt. Darüber hinaus wird durch das empirische Material deutlich, dass gerade Kritik die Legitimität des Geldes erhält. Die Aufarbeitung soziologischer Diagnosen des Geldes wurde mit dem Anspruch verbunden, zu erörtern, welche Bedeutung Geld aus soziologischer Perspektive einnimmt. Der wichtigste klassische Beitrag zu dieser Frage stellt Simmels Philosophie des Geldes dar. Sie ist zugleich eine Theorie der modernen Gesellschaft und eignet sich dafür, den Gegenstand Geld gesellschaftstheoretisch zu fassen und die Moderne vom Standpunkt der Geldentwicklung zu verstehen. Simmels Ansatz ist es, Geld im Zuge der sozialen Differenzierung der Gesellschaft zu denken. Geld befördert eine Individualisierung und trägt dazu bei, Anforderungen, die das moderne Selbstbild an den Einzelnen stellt, gerecht zu werden. Zunehmende individuelle Freiheit und persönliche Unabhängigkeit sind allerdings mit einer steigenden Abhängigkeit von der Gesellschaft verbunden, die wiederum von und durch Geld geprägt ist. Geld ist zwar ein Mittel der Rationalisierung und fördert diese, doch enthält es zugleich eine sinnlich-ästhetische Komponente, wodurch es romantisierende Wirkungen – im Sinne eines zunehmenden Abstands von der Realität – entfaltet. Hier liegt die Crux des Geldes: Geld verbindet uns stärker mit der Gesellschaft, trägt aber auch zu einer Distanzierung bei. Damit beleuchtet mein Ansatz eine Ambivalenz des Geldes, die in der bisherigen Forschungslandschaft wenig Beachtung erfahren hat. Ambivalenzen sind in mehrfacher Hinsicht konstitutiv für meine Analyse des Geldes. Das mit Simmel entwickelte Theoriegebäude diente zur Diskussion von Ansätzen, welche diese Ambivalenz nicht beachten. Grob umrissen fallen darunter einerseits Theorien, die Geld als Tauschmittel begreifen und anderweitige Bedeutungen des Geldes ausblenden und andererseits Theorien, die nur die rationalisierenden Wirkungen von Geld behaupten und den schädlichen Charakter des Geldes in den Vordergrund einer Krisentheorie rücken. Die ersten lassen sich unter das Deutungsmuster konventionelles Narrativ über Geld zusammenfassen. Sie theoretisieren aus primär ökonomischer Perspektive Geld als Tauschmittel und unterstreichen seine friedliche Wirkung sowie seine Bedeutung für das Gemeinwohl. Die zweiten zeichnen sich durch ein dazu konträres Deutungsmuster aus, welches die schädlichen Wirkungen des Geldes hervorhebt, eine strikte Gegenüberstellung von Geld und Liebe behauptet und eine »Begrenzung« des Geldes einfordert. Beiden Theoriesträngen ist eigen, dass sie Simmel einseitig unter Konzentration auf die Rationalisierungsmomente des Geldes hin interpretieren und dadurch nicht nur Simmel einseitig auslegen, sondern zudem die romantisierenden Wirkungen des Geldes und die damit geldinhärente ambivalente Bewegung des Geldes ignorieren.
5.1 Zur gesellschaftlichen Legitimität des Geldes
209
Ausgehend von diesen Erkenntnissen erfolgte eine Vertiefung im Bezug auf Rationalisierung und Romantisierung, um gesellschaftliche Deutungsmuster des Geldes in den Blick zu nehmen. Diese Analyse stellt eine Ergänzung zu Simmels Ansatz dar, um Geld vom Standpunkt kultureller Deutungen besser verstehen zu können. Im Zentrum standen dafür zunächst Webers Ausführungen zum universalhistorischen Rationalisierungsprozess im Kontext der protestantischen Ethik. Geld übernimmt eine wesentliche Vermittlungsfunktion zwischen der ökonomischen Sphäre und anderen Lebensbereichen, wodurch seine gesellschaftliche Legitimität zunimmt. Geld steht in enger Verbindung zum Rationalismus, verstanden als spezifische Form der Beherrschung und Berechenbarkeit der Welt. Eine zunehmende „Rationalisierung der Lebensführung“ (Weber 1991: 367) bildet die Grundlage für den modernen Kapitalismus, die moderne Wissenschaft sowie die moderne Technik. Dagegen richtet sich indessen Kritik, welche sich elementar in der Romantik herausgebildet hat und auf welche sich mein Forschungsinteresse richtete. Romantik kann als Reaktion, Korrektiv oder Komplementärerscheinung zur Aufklärung und Rationalisierung soziologisch verstanden werden (vgl. Berlin 1999; Campbell 2005; Mannheim 1984). Aus der Auseinandersetzung mit romantischem Denken lässt sich die bedeutsame Frage für eine soziologische Theorie des Geldes entwickeln, die wiederum mit den obigen Diagnosen in Verbindung stehen: Wenn sich romantisch inspirierte Kritik gegen den universalhistorischen Rationalisierungsprozess richtet, richtet sie sich dann auch automatisch gegen Geld? Es wäre unschlüssig zu behaupten, jegliche Kritik an Geld entstamme romantischen Deutungen gesellschaftlicher Verhältnisse. Es gibt aber eine bestimmte Art romantischer Kritik, die gesellschaftlich anschlussfähig ist und die die Legitimität des Geldes maßgeblich beeinflusst. Anknüpfend an die theoretische Erörterung der Legitimität von Geld erfolgte eine empirische Untersuchung, um weitere Bedeutungen und Themen, die mit Geld verknüpft sind, sichtbar zu machen. Es wurden qualitative Interviews mit Laien durchgeführt und im Hinblick auf die Fragestellung ausgewertet, welche Bedeutung Geld alltags- und laienperspektivisch zugeschrieben wird. Dabei stellten alltagswelche Vorstellungen von Geld den Untersuchungsgegenstand dar. Im ersten Teil der empirischen Analyse wurden denk- und handlungsorientierende Ordnungen, präsentiert in Form von Geschichten über Geld, rekonstruiert. Es fällt auf, dass die Bedeutungszuschreibungen des Geldes sich nicht auf seinen Charakter als Tauschmedium und auf die Verortung des Geldes in der Sphäre des wirtschaftlichen Austauschs beschränken. An diese Beobachtung anknüpfend wurde der Fokus darauf ausgeweitet, wie die Befragten die gesellschaftliche Ordnung deuten und diese in Verbindung zu Geld setzen.
210
5
Schlussbetrachtung
Um die erarbeiteten Ergebnisse aus dem empirischen Material mit dem Theoriegebäude dieser Arbeit zu verbinden, wurde auf die Auseinandersetzung mit Rationalisierung und Romantisierung rekurriert. Beispielsweise wurde im empirischen Material Wohlstand einerseits gerechtfertigt, insofern er auf asketischer Berufsarbeit und entsprechender Wertschöpfung sowie einem »richtigen« Umgang mit Geld beruht. Andererseits lässt sich neben dieser Leistungsethik eine bestimmte Armutsromantik beobachten – eine Sehnsucht nach dem Anderen, die sowohl vom sorgenlosen Leben afrikanischer Gemeinschaften schwärmt, die aufhörten zu arbeiten, sobald genug zu essen vorhanden ist, als auch von westlichen AussteigerInnen, die es geschafft hätten, sich vom Zwang der Geldlogik zu emanzipieren. Negativ bewertet werden hingegen Länder wie Griechenland und Spanien, deren ökonomische Probleme selbst verschuldet seien, was mitunter auf einen »falschen« Umgang mit Geld zurückgeführt wird. Damit sind einige Beispiele benannt, wie sich in den alltagsweltlichen Konkretisierungen des Geldes rationalistische und romantische Motive artikulieren. Die dritte forschungsleitende Fragestellung wird abschließend vertieft, um den Blick dafür zu schärfen, wie Rationalisierung und Romantisierung in Verbindung stehen und dadurch zur Legitimität des Geldes beitragen.
5.1.2
Soziologische Diagnosen des Geldes
In den folgenden Ausführungen erfolgt eine Rekapitulation und Bewertung der wichtigsten theoretischen Ergebnisse, um Geld vor dem Hintergrund seiner gesellschaftlichen Legitimität zu diskutieren. Die Ambivalenz des Geldes wird aus gesellschaftstheoretischer Perspektive hergeleitet und mit meinen Erkenntnissen hinsichtlich der romantisierenden Wirkungen des Geldes ergänzt. Dieses Vorgehen erlaubt, eine Orientierung an Geld weder als irrational zu verstehen, noch Wirkungen des Geldes bloß eindimensional zu denken. Die gesellschaftliche Legitimität des Geldes ist in seiner historischen Genese zu suchen und sie ist Veränderungen unterworfen. Zwar argumentiere ich, dass Geld legitim bleibt, weil es eine Distanzierung von der gesellschaftlichen Realität ermöglicht – dies steht aber im Widerspruch zu romantischer Kritik, die sich gegen Entfremdung richtet, worunter die versachlichende Wirkung des Geldes subsumiert wird. Um letztlich zu zeigen, dass zwischen Rationalisierung und Romantisierung eine komplementäre Verbindung besteht, bieten sich Erkenntnisse aus dem empirischen Material zur Veranschaulichung an.
5.1 Zur gesellschaftlichen Legitimität des Geldes
211
Ambivalenz des Geldes Zwar ist es richtig, dass Simmel fundiert aufzeigt, inwiefern Geld eine zunehmende Abstraktion, Quantifizierbarkeit und Versachlichung in der Moderne mitauslöst. Es ist durchaus in seinem Sinne, die Berechenbarkeit des Geldes und dessen Einfluss auf die Moderne hervorzuheben; aber daraus sollte nicht der Schluss gezogen werden, dass Geld ausschließlich Rationalisierung bewirkt. In diesem Zusammenhang bestätigte sich der Eindruck, dass der erste Teil der Philosophie des Geldes in der soziologischen Forschung vernachlässigt wird. Darin zeichnet Simmel fundamentale Bedeutungsänderungen in der historischen Entwicklung des Geldes nach. Weil Geld „das Wertverhältnis der Güter untereinander ausdrückt, sie misst und austauschen hilft, tritt es zu der Welt der direkt nutzbaren Güter als eine Macht ganz anderer Provenienz hinzu“ (GSG 6: 126). Die Moderne zeichne sich durch eine zunehmende Abstraktion gesellschaftlicher wie individueller Art aus; Geld bedürfe ebenso einer außerordentlichen Abstraktionsfähigkeit: „Die Steigerung der intellektuellen, abstrahierenden Fähigkeiten charakterisiert die Zeit, in der das Geld immer mehr zum reinen Symbol und gegen seinen Eigenwert gleichgültig wird“ (ebd.: 171). Das moderne Geld ist aber nicht nur als Konsequenz eines geistigen Prozesses zu verstehen. Simmel denkt Geld im Kontext einer zunehmenden Arbeitsteilung, die eine soziale Differenzierung der Gesellschaft begünstigt. In diesem Zusammenhang führt Simmel aus, dass Geld nach einer Ausweitung seiner Verbindlichkeit verlange. Es entstehe letztlich eine wachsende Form der Abhängigkeit zu einer sozialen Gesamtheit (vgl. ebd.: 213). Bringt also Geld die moderne Gesellschaft hervor, oder ist es vielmehr umgekehrt? An einigen Stellen bleiben die Ausführungen von Simmel diffus und mehrdeutig. Unklar bleibt zum Beispiel, wie es überhaupt zu der für die Entwicklung des Geldes notwendigen Intellektualisierung und Rationalisierung kommt. Die Genese des Geldes ist bei Simmel, trotz vieler historischer Belege, unterbelichtet, womit auch hier die „Einmaligkeit der okzidentalen Entwicklung“ (Honegger 2015: 14) vernachlässigt wird.1 Eine Vernachlässigung jedoch, die sich mit Marx oder Weber beheben lässt (vgl. MEW 23; Weber 2013). Bestechend ist Simmels Analyse dahingegen darin, Geld nicht mehr nur als Mittel zu Zwecken zu begreifen. Folgende Charakteristik wird für Geld ausgemacht: Es ist eine „Institution, in die der Einzelne sein Tun oder Haben einmünden lässt, um durch diesen Durchgangspunkt hindurch Ziele zu erreichen, die seiner auf sie direkt gerichteten Bemühung unzugängig wären“ (GSG 6: 263). Geld wird zum Selbstzweck, was nach Simmel weitreichende Folgen hat: 1 So
argumentiert auch Haesler: „Das wirklich abstrakte Geld ist das Geld, dass sich selbst kapitalisiert; dieses ist zutiefst europäisch“ (Haesler 1993: 233).
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5
Schlussbetrachtung
Im Geld aber hat das Mittel seine reinste Wirklichkeit erhalten, es ist dasjenige konkrete Mittel, das sich mit dem abstrakten Begriffe desselben ohne Abzug deckt: es ist das Mittel schlechthin. Und darin, dass es als solches die praktische Stellung des Menschen […] zu seinen Willensinhalten, seine Macht und Ohnmacht ihnen gegenüber verkörpert, aufgipfelt, sublimiert – darin liegt die ungeheure Bedeutung des Geldes für die Grundmotive des Lebens. (ebd.: 265)
Dadurch wird eine Orientierung an Geld auf umfassende Weise deutlich. Es stellt nicht die Verwirklichung eines unmittelbaren Bedürfnisses dar, wie andere konkrete Objekte, vielmehr ist Geld die Möglichkeit zur Verwirklichung vom Begehren an sich, es ist die Möglichkeit auf Möglichkeiten. Dieser Aspekt verdient eine Akzentuierung: Geld beinhaltet ein imaginatives Moment, ermöglicht damit die Distanzierung von der Wirklichkeit und ist in diesem Sinne ein Mittel der Romantisierung. Im zweiten Teil der Philosophie des Geldes stehen die ambivalenten Wirkungen auf das „Wesen und [die] Gestaltung“ (ebd.: 11) des allgemeinen Lebens im Vordergrund. Im Verlauf der sozialen Differenzierung nehmen Vergesellschaftungsmöglichkeiten zu. Die Hauptdifferenz zur feudalen Gesellschaft liegt darin, dass die Abhängigkeit von wenigen Personen, die zusätzlich persönlich gefärbt ist, durch eine von einer größeren Anzahl von Menschen ersetzt wird. Damit wird eine Abhängigkeit von einer sozialen Gesamtheit entfaltet und gefestigt (vgl. ebd.: 392ff.). Die persönliche Färbung geht verloren. Simmel formuliert nicht schlicht die These, dass die Moderne mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bietet, wofür Geld aufgrund seines Zugriffs auf alle Sphären des Lebens eine zentrale Rolle spielt. Sein Argument ist komplexer: In der Moderne – und hier ist die Romantik sein Referenzpunkt – entsteht das Ideal eines differenzierten Selbst (vgl. ebd.: 493). Die Verwirklichung dieses Ideals ist unvermeidlich an die moderne Gesellschaft geknüpft – und damit auch an Geld. Er führt aus, dass Geld ermöglicht eine je eigene Persönlichkeit zu entwickeln, da es dazu beiträgt, dass man sich unterschiedlichen sozialen Kreisen anschließen kann. Neben der Verknüpfung von Geld und Lebensstil betont Simmel, dass Geld den Schutz der eigenen Persönlichkeit begünstigt. Denn ein Tauschverhältnis, das nicht über Geld vermittelt wird, ist von viel mehr Unabwägbarkeiten, wozu auch persönliche Befindlichkeiten gehören, geprägt (vgl. ebd.: 381). Mit Geld verstärke sich die Sachlichkeit in Beziehungen. Es ist indessen verkürzt, Simmels Theorie nur unter dem Rationalisierungsaspekt zu lesen oder in dem Sinn zu interpretieren, dass Geld gemeinschaftszersetzend sei und lediglich Vereinsamung und Bindungslosigkeit hervorrufe. Es bestehen in der Moderne Möglichkeiten, sich assoziativ zusammenzutun, um in dem neuen Zusammenhang eine spezifische soziale Rolle einzunehmen. Man müsse sich nicht als »ganzer Mensch« einbringen (vgl. ebd.: 465) – was
5.1 Zur gesellschaftlichen Legitimität des Geldes
213
Simmel als Freiheitsmoment betont, ist im romantischen Denken Grund zur Klage. Dennoch äußert auch Simmel Besorgnis gegenüber der Geldentwicklung, da sich das Geldinteresse zunehmend in die private Sphäre verschiebe und eine Versachlichung in privaten Beziehungen Einzug halte (vgl. GSG 10: 118). Geld als Tauschmedium Das Verständnis von Geld als Vergesellschaftungsinstanz und seiner Ambivalenzen ist komplex. Eine Verkürzung des Geldes auf ein neutrales Tauschmedium ist jedoch in ökonomischen und soziologischen Studien weiterhin anschlussfähig. Eine ökonomietheoretische Perspektive auf Geld, die den Selbstzweck außen vor lässt, wäre weniger ein Problem, wenn diese ökonomische Lesart auf ihr Fach begrenzt bliebe – so ist es aber nicht. Ökonomische Theorien des Geldes spielen der Legitimität des Geldes zu, indem die Auffassung bestärkt wird, dass Geld neutral, harmlos, friedfertig oder allgemeinwohlorientiert sei. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass Geld durch seine Funktionen, d. h. als Tauschmittel, Rechenmittel sowie Wertspeicher, definiert wird (vgl. Dornbusch/Fischer 1995; Woll 2000; Mankiw 2017). Aber, und hier kann man wiederum mit Simmel intervenieren, hat und ist Geld Wert, wodurch es nicht bloß neutrales Tauschmedium sein kann, sondern immer auch in seinem Eigenwert verstanden werden muss. Eine solche Verkürzung auf das Tauschmedium unterschätzt Geld und seine Relevanz massiv. Neben den ökonomischen Theorien distanzieren sich auch soziologische Ansätze von der Behauptung, Geld habe einen Wert. Geld wird beispielsweise in der Systemtheorie von Luhmann und Parsons analysiert, allerdings ausschließlich in seiner Funktion als Mittel resp. als Medium.2 Kritik an systemtheoretischen Geldanalysen richtet sich unter anderem gegen die Annahme einer Heterarchie der Teilsysteme und die Vorstellung, Geld sei nur ein Medium des Wirtschaftssystems. Eine solche systemtheoretische Perspektive auf Geld vernachlässigt sein Macht- und Herrschaftspotential (vgl. Paul 2017; Ganßmann 1996; Deutschmann 2008). Auch handlungstheoretische Ansätze wie jener von Kellermann, der Geld als Kommunikationsmedium denkt, gehen von einer Störung aus, wenn Geld als etwas verstanden wird, was nicht nur Mittel ist. Etwa, wenn Geld an sich begehrt wird. Das sei Ideologie (vgl. Kellermann 2008: 338). Dabei handelt sich aber gerade nicht – wie ich gezeigt habe – um „Äußerungsformen eines irregeleiteten Bewusstseins“ (Bammé 2007: 186, Hervorh. im Orig.), wenn Geld um
2 Wenngleich
Luhmann gegenüber Parsons dem Geld eine umfangreichere Rolle zuspricht, bleibt auch bei ihm die Funktion des Geldes über seinen Status als Medium hinaus zu wenig beachtet.
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5
Schlussbetrachtung
seiner Selbst willen begehrt wird, sondern um Ausdruck der Anerkennung des freiheitsschaffenden Charakters des Geldes. Theorien, welche die Tauschmittelfunktion ins Zentrum stellen oder eine Regulierung des Geldes herbeisehnen, weil der Selbstzweck des Geldes als irrational und ideologisch abgetan wird, kommen an ihre Grenzen, sobald sie den Eigenwert des Geldes verständlich machen sollen. Nicht nur können sie ihn nicht erklären, sie leugnen vielmehr das Phänomen und die Möglichkeit, dass es auch eine bestimmte Logik in sich trägt. So einfach ist es jedoch nicht. Ich habe aufgezeigt, dass die sinnlich-ästhetische Komponente, und eine damit verbundene Distanzwahrung zur Gesellschaft, gerade keine Irrationalität darstellt, eben weil Geld an sich die Möglichkeit auf Möglichkeiten verspricht. Diese Interpretation des Geldes hat den Vorteil, Geld als Mittel und als Selbstzweck zu begreifen. Darüber hinaus eröffnet dieser Blickwinkel, ein weiteres Exklusionsmoment des Geldes zu fassen: Wer kein Geld besitzt, kann weder Distanz zur Gesellschaft einnehmen noch sich Freiheiten ermöglichen und ist damit auf ganze andere Weise der gesellschaftlichen Realität mit ihren Härten und Zwängen ausgeliefert als jene, die über Geld verfügen. Geld und Rationalisierung Neben den system- und handlungstheoretischen Ansätzen stehen diejenigen soziologischen Theorien, die eine Gesellschaftstheorie vom Standpunkt des Geldes entwickeln. Diese zeichnen sich tendenziell dadurch aus, dass sie die Krisensymptomatik der Moderne auf das Geld selbst zurückführen. Zusätzlich wird die Monetarisierung aller Lebensbereiche zum Anlass für Kritik genommen. Wie ich gezeigt habe, können diese Perspektiven auf Geld und Moderne trotz inhaltlicher Differenzen als Weiterführung von Simmels Theorie verstanden werden, da kulturpessimistische Elemente auch bei Simmel zu finden sind. Allerdings betonen diese Theorien zu einseitig die Wirkungen des Geldes. Dafür sei an zwei Beispiele erinnert: Deutschmann verknüpft den Vermögenscharakter des Geldes mit der kapitalistischen Dynamik und nimmt so auf Marx und Simmel Bezug. Das Potential des Geldes liegt nach Deutschmann in seinem direkten Zugriff auf das menschliche Arbeitsvermögen. Geld wird zum Schlüssel der „Produktion alles durch menschliche Kreativität nur Herstellbaren, d. h. von Reichtum schlechthin, im Grunde von menschlicher Wirklichkeit überhaupt“ (Deutschmann 2007: 169). In der Moderne würde Geld nicht nur eine enorme Aufwertung erfahren, sondern werde sogar grenzenlos, denn was „immer wir sind, tun und besitzen, erhält eine implizite quantitative Bewertung unter dem Gesichtspunkt seiner möglichen Rekonvertierung in Geld“ (ebd. 1999: 24). Keine Ware oder Dienstleistung könne
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215
die gleiche Befriedigung auslösen wie Geld (vgl. ebd. 2000: 714). Laut Simmel ist das menschliche Begehren unerschöpflich (vgl. GSG 6: 99); Konsum, so folgert daraus Deutschmann, funktioniere nun gerade über „Sehnsucht – Kauf – Desillusionierung – neue Sehnsucht“ (Deutschmann 2009: 243f.). Geld impliziert eine Überlegenheit anderen Waren gegenüber. Die Vermögenseigenschaft des Geldes, dies hat bereits Simmel gesehen, wirkt sich auf sachliche, soziale, zeitliche und räumliche Dimensionen aus. Allerdings stellt sich das „Superadditum des Reichtums“ (GSG 6: 276) erst ab einem gewissen Vermögen ein. Das bedeutet, dass Macht und Freiheit, die mit Geld verbunden sind, nicht für alle gelten. Deutschmann hält in diesem Zusammenhang lakonisch fest: „Freiheit und Macht: das ist etwas ganz anderes als nur der »Nutzen« von Äpfeln und Birnen“ (Deutschmann 2000: 306). Begehren nach Geld sei infolgedessen rational, weil es diese Vermögenseigenschaft besitzt und zugleich den Zugriff auf die menschliche Arbeitskraft, die alleinige Quelle von Kreativität und Innovation, ermöglicht. Deutschmann gelingt es, in seiner Geldtheorie die Macht- und Freiheitskomponenten des Geldes hervorzuheben. Darin liegt aber auch eine Grenze dieser Theorie, insofern das Potential des Geldes innerhalb der kapitalistischen Dynamik gedacht wird. Demgegenüber betone ich, dass ein weiterer Reiz des Geldes darin liegt, zu Imagination anzuregen und eine Distanz zur gesellschaftlichen Realität zu bewahren. Warum soll Geld aber noch ausgegeben werden, wenn darin stets ein Enttäuschungspotential liegt? Inwiefern mein Ansatz mit der kapitalistischen Dynamik vereinbar ist, ist eine noch offene Frage, die in dieser Arbeit nicht beantwortet wird. Düsterer als bei Deutschmann fallen Haeslers Prognosen aus: „Indem das Geld um sich greift, schafft es Möglichkeiten zuhauf – aber im Zuge dieser Potenzierung befällt uns immer mehr das Gefühl, dass dies alles eigentlich nicht nötig ist“ (Haesler 2011: 48). Haeslers Schwerpunktsetzung liegt im Unterschied zu Deutschmanns nicht auf der Theoretisierung der Vermögenseigenschaft des Geldes, sondern in seiner Entmaterialisierung: Geld werde „diaphaner und unsichtbarer“ (ebd.: 9). Es tendiere dazu, aus der Sphäre des wirtschaftlichen Austausches auszutreten, in sämtliche Interaktionssphären einzudringen und sich von gesellschaftlichen Normen zu befreien. Je abstrakter das Geld, umso mehr denkt das Geld anstelle des Tauschsubjekts. Es handelt aus ihm heraus, das Subjekt durchaus in der Illusion belassend, noch in vollem Bewusstsein handeln zu können. Nicht die Tauschpraxis ist somit durch das Abstraktwerden des Geldes affiziert, sondern der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem der Tausch nicht anders als abstrakt gedacht werden kann. (ebd. 2002: 181)
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5
Schlussbetrachtung
Dagegen lässt sich einwenden, dass nur weil Strukturen hinter dem »Rücken« des Subjekts handlungsbedingend sind, sie noch nicht »denken«. Fraglich ist aber auch, ob die steigende Abstraktion des Geldes tatsächlich ein so großes Problem darstellt wie Haesler suggeriert. Geld ist zwar ein „Konstrukt denkbar abstrakter Art“, aber trotz dieses abstrakten Charakters muss es „so behandelt werden, als wäre es ein Ding“ (Deutschmann 2007: 162). Ich gehe davon aus, dass die zunehmende Abstraktion praktisch durch die dinghafte Behandlung, auf die Deutschmann hinweist, bewältigt werden kann und die gegenwärtige Entwicklung nicht das Ende der Moderne bedeuten muss. Eine praktische Bewältigung der Abstraktion erkennt man zum Beispiel in der Bedeutungszuschreibung des Geldes auf Mikroebene – um dies zu verstehen sind Studien wie von Zelizer wichtig (vgl. Zelizer 1994); aber auch mein Ansatz eignet sich dafür. Geld macht sich weder unabhängig von den Akteuren, noch bleibt es unberührt von gesellschaftlichen Narrativen und Deutungen. Aller Kritik an einer einseitigen Rationalisierungsthese des Geldes zum Trotz sind diese soziologischen Diagnosen wichtig für das Verständnis der gesellschaftlichen Legitimität des Geldes. So bleibt auch bei Simmel eine warnende Skepsis bestehen, wenn er die Besorgnis über Entfremdung teilt, die er auf Geld zurückführt: Wenn der moderne Mensch frei ist – frei, weil er alles verkaufen, und frei, weil er alles kaufen kann – so sucht er nun, oft in problematischen Velleitäten, an den Objekten selber diejenige Kraft, Festigkeit, seelische Einheit, die er selbst durch das vermöge des Geldes veränderte Verhältnis zu ihnen verloren hat. […] Dass der Geldwert der Dinge nicht restlos das ersetzt, was wir an ihnen selbst besitzen, dass sie Seiten haben, die nicht in Geld ausdrückbar sind – darüber will die Geldwirtschaft mehr und mehr hinwegtäuschen. (GSG 6: 555f.)
Diese Skepsis lässt sich zu weiteren wichtigen theoretischen Fragen verdichten: Wird Geld letztlich zum Versprechen, die disparaten Momente der Entfremdung des Menschen aufzulösen? Kann der entfremdete Mensch sich selbst nur noch durch Geld entfalten und zu sich finden? Verstärkt sich vor diesem Hintergrund ein gesellschaftliches Bedürfnis, das nicht alle Lebensbereiche von Geld dominiert wissen will? Eine mit Geld verbundene Entfremdungsdiagnostik, die sich gegen Entzauberung und Rationalisierung richtet, lässt sich mit einer vertieften Auseinandersetzung Romantik besser nachvollziehen. Geld und Romantik Rationalismus und Romantik stehen in einem engen Zusammenhang. Wenn die Moderne, allgemein gesprochen, für Kapitalismus, Rationalisierung und soziale
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217
Differenzierung steht (vgl. MEW 23; Weber 2013; GSG 6), ist Romantik charakterisierbar durch eine Verklärung natürlich gewachsener Gemeinschaften, Kult des Irrationalen, des Trieb- und Rauschhaften sowie Streben nach Ganzheit, Einssein und Ungeteiltheit (vgl. Weiß 1986; Berlin 1999; Campbell 2005; Schäfer 2015a). In romantischer Kritik steckt eine Sinnfrage, die zu stellen sie der Vernunft und dem aufklärerischen Denken abspricht. Weitere Merkmale der Romantik offenbaren sich im selbstzweckhaften „desire to desire“ (Campbell 1983: 282) sowie einer Idealisierung des Einfachen oder Vergangenen. Romantisierung setzt aber nicht unbedingt voraus, dass das Idealisierte tatsächlich erreicht werden muss. Eine Befriedigung kann in der reinen Imagination und in eskapistischen Phantasien erfolgen. Um in diesem Kontext Geld und seine Durchsetzung besser nachvollziehen zu können, bietet sich eine Verbindung von Simmels Philosophie des Geldes und Webers Protestantische Ethik an. Beide Werke stellen Analysen der Moderne dar, wenn auch unterschiedliche Ausgangspunkte gewählt wurden, und tragen zum Verständnis dafür bei, wie sich das Geldsystem entwickeln und etablieren konnte. Bei Weber steht der Zusammenhang zwischen religiöser Ethik und kapitalistischer Gesinnung im Vordergrund. Die protestantische Ethik ist aber „nur eines von verschiedenen Phänomenen, […] das in die Richtung eines erhöhten Rationalismus in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens wies“ (Bendix 1964: 59). Weber beschreibt anschaulich, dass sich die innerweltliche Askese gegen Affekte, das Triebhafte und insbesondere das „unbefangene Genießen des Daseins und dessen, was es an Freuden zu bieten hat“ (Weber 1991: 175, Hervorh. im Orig.), richtet. Gefordert werde eine aktive, kontrollierte Selbstbeherrschung und erziehung, die über den wirtschaftlichen Bereich hinausgeht. Solange der Umgang mit Geld rational sei, sei die Vermehrung des Geldes legitim. Damit sind zentrale Aspekte benannt, die konstitutiv für den kapitalistischen Geist werden und zur Rechtfertigung des Geldes beitragen. Hirschman ergänzt Weber, indem er anhand ideengeschichtlicher Konzepte von Hobbes, Locke und Smith untersucht, wie sich eine Abwehr gegen Geld und modernen Handel allmählich relativierte. Gerade die Konzeption eines negativen Menschenbildes sei dabei entscheidend. Diese sei im Kern folgendermaßen charakterisiert: Der Mensch habe, von Natur aus, destruktive Leidenschaften und die Frage sei, wie diese gesellschaftlich eingehegt werden können. Etablieren konnte sich eine moralphilosophische Lösung aus dem 17. und 18. Jahrhundert, schädliche Leidenschaften mit anderen, harmlosen Leidenschaften auszugleichen, wie z. B. dem Streben nach Geld. Ökonomische Interessen würden neutralisierend wirken und dem Gemeinwohl dienen. Es findet sich in diesen Konzeptionen der Gedanke, dass Gelderwerb positive, friedfertige Wirkungen mit sich bringe. Kalkulierbarkeit, Voraussagbarkeit und Beständigkeit in einer durch Unsicherheit geprägten Frühmoderne werden als gesellschaftlich
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5
Schlussbetrachtung
positiv erachtet. In der Verbreitung dieser Gesellschaftskonzepte sieht Hirschman eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich das kapitalistische System etablieren konnte. Vor diesem Hintergrund hat sich romantischer Protest entfaltet, der sich gegen die von ihm diagnostizierte Tristesse der Moderne wendet: „Besonders überzeugend und einflussreich ist die Kritik, die den unterdrückerischen, entfremdenden Charakter des Kapitalismus betont, die Art, wie er die »volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit« verhindert“ (Hirschman 1987: 141). Jedoch sind, wie sich in der Auseinandersetzung mit Simmel zeigte, einige romantische Ideale notwendigerweise mit Rationalisierung und mit Geld verbunden. So erklärt Simmel, dass das moderne Selbst, von dem romantisch geträumt wird, nur in einer sozial differenzierten Gesellschaft entfaltet werden kann. Es geht ihm darum, das Freiheitsmoment der Moderne zu betonen. Die soziologische Beschäftigung mit dem Konzept des modernen Selbst eröffnet aber gerade eine wichtige Perspektive darauf, weshalb Geld mit Entfremdung assoziiert wird. Die Suche nach dem Authentischen lässt sich im romantischen Denken verorten. Davon ist das moderne Selbst betroffen, das auf der Vorstellung beruht, dass jede Person ein originelles Dasein führen muss. In der Moderne bietet sich für das Individuum, allerdings nach wie vor in einem begrenzten Rahmen, die Möglichkeit der Selbstentfaltung. Das originelle Selbst lässt sich nicht jenseits gesellschaftlicher Prinzipien herstellen. Es bedarf der Anerkennung durch andere (vgl. Taylor 2014; Illouz 2011) – romantisches Denken suggeriert aber etwas anderes, wenn dafür notwendige gesellschaftliche Bedingungen negiert werden. Die Suche nach dem Selbst wird in soziale Beziehungen verlagert. Dementsprechend etabliert sich die Vorstellung, dass man wenigstens in diesen Bereichen nicht nur eine funktional spezifizierte Rolle übernimmt. Das Ideal trägt sich durch die Absicht, einer zunehmenden Rationalisierung aller Lebensbereiche Einhalt zu gebieten. Romantisierend werden dabei Refugien idealisiert: Hier die (romantische) Liebe, die höchst »subjektiv« genau zwei (bestimmte) Individuen miteinander vergemeinschaftet, diese aber je als ganze Person, womit deren Individualität gleichermaßen sowohl die Voraussetzung für ihre Beziehung darstellt als auch als deren Resultat erscheint; dort das in höchstem Maße »objektivierend« wirkende Geld, welches potentiell jede/n mit jedem/r in eine Beziehung treten lassen kann, im konkreten Austausch jedoch gerade von der Individualität der Beteiligten abstrahiert und sie ausschließlich als Träger des einzutauschenden Leistung anspricht und vergesellschaftet. (Schneider et al. 2005: 208)
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219
Liebesbeziehungen, Freundschaften und Familie erscheinen daher als letzte Bastionen gegen die Überforderung der Moderne. Liebe als Pool der Wiederverzauberung bewährt sich auf diese Weise bis in die Gegenwart; Geld wird als Opponent dazu begriffen. Die Ausführungen zu den soziologischen Diagnosen des Geldes sowie der Verbindung zwischen Rationalisierung und Romantisierung verdeutlichen die Komplexität der gesellschaftlichen Legitimierung des Geldes. Mit Simmel allein lässt sich die gesellschaftliche Legitimität des Geldes nicht greifen, gerade weil er kulturelle Narrative und Deutungen außen vor lässt. Im Folgenden werden zusammenfassend noch einmal die soziologische Diagnosen mit alltagsweltlichen Vorstellungen hinsichtlich rationalistischer und romantischer Begründungen diskutiert. Wie sehen diese Verbindungen im Konkreten aus?
5.1.3
Alltagsweltliche Vorstellungen von Geld
Folgt man dem Verständnis von Schluchter, kann Rationalismus als bestimmte Art des Weltverhältnisses und -verständnisses aufgefasst werden. Weltbeherrschung sei die „Eigenart des okzidentalen Rationalismus“ (Schluchter 1998: 316). Ein rationalistisches Weltverhältnis, das sich durch Kalkulierbarkeit, Berechenbarkeit des Unbestimmbaren und Komplexitätsreduktion bestimmen lässt, steht nicht in einem streng widersprüchlichen Verhältnis zur Romantik – dies lässt sich mit dem empirischen Material erschließen. Romantische Motive nähren im empirischen Material die Vorstellung, dass es trotz der Rationalisierung eine bestimmte Form der Kontrolle des Geldes und der Welt geben muss. Eine mit Geld verknüpfte Rationalisierung wird dann nicht zwiespältig aufgefasst, wenn sie den Befragten weiterhin Sinn und Ordnung zu erschließen erlaubt. Es lässt sich festhalten, dass die Befragten romantische Erklärungsmuster nutzen, sobald Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit als durch Geld bedroht erscheinen. Eine andere Möglichkeit an diesen Werten festzuhalten, besteht darin, die Verantwortung dafür im »richtigen« Umgang mit Geld zu sehen, um strukturelle Rahmenbedingungen auszublenden und die eigene soziale Positionierung zu rechtfertigen. Romantische Motive unterstützen eine Rationalisierung durch Geld dadurch, dass sich Kritik, wenn auch unbeabsichtigt, in Rechtfertigung umwandelt. Konkretisiert wird meine These an dem in der Empirie sich darstellenden Refugiennarrativ, das sich darin äußert, dass von Geld unberührte Bereiche behauptet werden. Das Refugiennarrativ zeigt sich einerseits auf der gesellschaftlichen Ebene in der Imagination von Inseln der Freiheit. Andererseits konnte es auf der
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5
Schlussbetrachtung
Ebene der Lebensführung in Form von nicht-reglementierten Sphären sowie planvollem Kontrollverlust nachgezeichnet werden. In manchen Bereichen ist keine Kalkulierbarkeit und Berechenbarkeit gewollt. Geld und das damit verbundene Gesellschaftssystem werden nicht als alternativlos oder als Zwangssysteme aufgefasst, gerade weil es Möglichkeiten der Verweigerung und Grenzen des Geldes gebe. Inseln der Freiheit sind nicht nur umkämpfte Bastionen; dazu gehören auch Möglichkeiten des »Anderen« in Form eines Ausstiegs oder die Suche nach Enklaven wie der mosambikanischen Gesellschaft, einem Ort, wo die Welt noch in Ordnung scheint. Dabei reicht zur Legitimation aus, dass Alternativen zu Geld und einer damit verknüpften gesellschaftlichen Ordnung als Möglichkeit imaginiert werden können. Es geht also vielmehr um den „Traum[…], der Gesellschaft zu entfliehen“ (Bourdieu 2013: 582, Hervorh. N.F.). Legitimes Geld – legitimer Umgang – legitime Ordnung Bereiche wie Freundschaft, Gesundheit, Liebe oder Glück erscheinen als letzte von Geld unberührte Refugien und können als „Variation[en] des Authentischen“ (Schäfer 2015b: 38) bezeichnet werden. Wenn Geld doch Eingang in umkämpfte Bastionen, beispielsweise in die Liebe, findet, entspricht diese nicht mehr der »ursprünglichen« Vorstellung. Im Refugiennarrativ erfolgt über die Idealisierung der Einfachheit eine Abgrenzung vom vermeintlich Nicht-Authentischen. Geld symbolisiert in diesen alltagsweltlichen Vorstellungen das Nicht-Authentische; es wird mit einem schädlichen und verfälschenden Charakter verbunden, von dem gewisse Bereiche beschützt werden müssten. Dieses Unbehagen gegenüber Geld kann durchaus als romantisch inspiriert bezeichnet werden. Eine „romantische Glückssehnsucht“ (Rath 2013: 119) mündet als Teil eines Entfremdungsgefühls in der Suche nach einem verlorengegangenen Paradies, womit ein typisches Motiv der Romantik in der Moderne reartikuliert wird. Dem »Anderen der Moderne« wird Authentizität zugesprochen (vgl. Schäfer 2015b: 254), ohne dass dieses idealisierte Leben tatsächlich angestrebt wird oder werden muss. Die Exotisierung dieses Anderen beinhaltet das Bild, dass Freiheit nicht als Freiheit des Individuums in der bestehenden Gesellschaft erreichbar ist, sondern nur noch als Ausstieg oder Projektion in die ferne und unberührte Gemeinschaft imaginiert werden kann. Solange noch Freiräume und Alternativen zu Geld bestehen, behält dieses romantische Motiv eine zentrale Wirkmächtigkeit. Weltweite Ungleichheit und Armut wirken erträglicher, wenn dem Geld Grenzen gesetzt sind, die das »Geldspiel« gerade noch als fair erscheinen lassen. Eine weitere wichtige Figur in der Legitimierung des Geldes stellt die Bewertung von »legitimem« Geld sowie einem »richtigen« Umgang damit dar. Soziale Ungleichheit wird durch den Verweis auf rationalistische Motive in Form einer
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221
Leistungsethik thematisiert und relativiert. Vereinfacht ausgedrückt: Legitimes Geld ist auf Arbeit beruhendes Geld. Dies wirkt sich auf die Legitimität von Reichtum aus, aber auch auf die Rechtfertigung einer damit verbundenen gesellschaftlichen Ordnung im Glauben an eine Meritokratie. Beispielhaft wurde die Schweiz vielfach als ideale Ordnung gelobt und ihr Reichtum gerechtfertigt. Dabei wird auf wirtschaftliche Konzepte verwiesen, insofern die Schweiz die Soll-Haben-Rechnung einhalte, nicht so unproduktiv wie Griechenland oder Spanien sei oder nicht aus einem bloßen »Gefühl« heraus Geld drucke, wie dies von Zimbabwe behauptet wird. Eine politische Disziplinierung wird aufgrund eines unzulänglichen Umgangs mit Geld legitim: In a modern consumer society, properly supervised money could serve as an important instructional currency to rehabilitate the morally righteous but technically incompetent poor, teaching them how to spend properly. (Zelizer 1994: 121)
Unterschiede werden im empirischen Material auf leistungsethische Prinzipien zurückgeführt und soziale Ungleichheit so legitimiert. Der Mythos einer meritokratisch legitimierten gesellschaftlichen Ordnung ist aber nicht ungefährdet (vgl. Prisching 2015: 169; Becker/Hadjar 2009: 36). Narrative des Geldes, die strukturelle Gegebenheiten ausblenden, können in diesem Kontext als systemstabilisierend interpretiert werden. Die Überhöhung der eigenen Handlungsmacht im suggeriert richtigen Umgang mit Geld, ist dann soziologisch kritisch zu betrachten, wenn die „Ursächlichkeit […] vordergründig im Subjekt [statt] in den gesellschaftlichen Strukturen“ (Henning 2015: 181) gesucht wird. Was im Kapitel über Rationalismus und Romantik als besondere Form des »romantischen Pragmatismus« rekonstruiert wurde, findet hier Entsprechung: Ein Rückzug in die Innerlichkeit, die Verantwortungsverschiebung auf das Individuum oder der Glaube an die Möglichkeit des Anderen lösen die Kritik an Geld oder der bestehenden Ordnung in Rechtfertigung auf. Ideologiekritisch formuliert geben romantische Eskapismusphantasien vor, dass eine Flucht aus der bürgerlichen Gesellschaft möglich ist, um die Menschen gleichsam darin zu halten. Mit Lefebvre und Guterman ausgedrückt: „The »out there« is never real. It is one out there in the reflection, and what’s more, it honestly and sincerely fulfills its function of keeping us in the here and now“ (Lefebvre/Guterman 2012: 45, Hervorh. im Orig.). Eine besonders pointierte Form der Kritik und Legitimation der bestehenden Ordnung zeigt sich in der Diskussion einer möglichen Auflösung des Geldes. Gesellschaftsformen ohne Geld werden entweder als dystopische Bedrohung
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5
Schlussbetrachtung
oder idyllische Erlösung heraufbeschworen. In den postapokalyptischen Versionen, die der ideologischen Sicherung des Status Quo dienen, wird Geld eine Friedfertigkeit zugesprochen. Die Gefährdung der rechtsstaatlichen Sicherheit im Bestehenden impliziert eine mögliche Auflösung des Geldes und eine Rückkehr zu gewaltvollen Zuständen. Das Recht des Stärkeren anstatt bürgerlicher Rechtssicherheit, Kapitalismus und Geld. Verankert ist diese Vorstellung in einem Hobbesschen Menschenbild, das auch in der Moderne noch argumentative Wirkmächtigkeit behält. Die Infragestellung des negativen Menschenbildes bleibt, mit Freud gesagt, schwierig: „Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (Freud 2015: 76). Das Heraufbeschwören einer Krise dient in diesem Sinne dazu, diese wieder abzuwenden – der kapitalistische Vergesellschaftungsmodus wird als unveränderlich und grundlegend für gesellschaftliche Entwicklung und Fortschritt thematisiert. Daher kann die „Vergegenwärtigung des Grauens […] aber auch wie ein Antidot wirken: Indem das Entsetzliche ausgesprochen oder vor Augen gestellt wird, ist es zugleich dingfest gemacht und gebannt“ (Vondung 2008: 194). In einer dazu konträren postapokalyptischen Vision wird die Sehnsucht nach Einfachheit im Selbstversorgertum, in Gemeinschaft statt Gesellschaft (vgl. Tönnies 2017; GSG 6: 479) gesucht. Die „ethische Glorifizierung“ (Weber 1991: 249) des bäuerlichen Lebens ist ein modernes Deutungsmuster und in ihrem Ursprung der Romantik zuzurechnen. Eine „ursprüngliche Lebenshaltung“ (Mannheim 1994: 84) zu idealisieren, in der nicht Geld, sondern der Mensch zähle – und damit „konkret-menschliche Beziehungen“ – (ebd.: 83), ist eine Charakteristik romantischen Denkens. Was sich in dieser alltagsweltlichen Vorstellung zeigt, findet sich empirisch auch an anderer Stelle. Ähnliche Motive zeigen sich in Initiativen, welche ein gesellschaftliches Unbehagen auf die Funktionslogik des Geldes verkürzen und in regionalen Währungen eine Alternative zum Bestehenden sehen. Im Gegensatz zur geltenden Währung werden Regionalwährungen als »gutes« Geld geadelt (vgl. Thiel 2011). Allerdings fordern diese Initiativen, das ist zu betonen, nicht den Ausstieg aus dem Bestehenden. Angesichts eines Autonomieverlusts in einer globalisierten Welt können solche Initiativen als „Re-Provinzialisierung“ (Koppetsch 2013: 100) gedeutet werden. Regionalgeld soll persönliche Bindungen schaffen und ethische Normen als Handlungsanleitungen geben, um „unpersönliche, versachlichte Beziehungen“ sowie „rein zweckrationale Kalküle“ (Thiel 2011: 50) zu überwinden. Es zeigt sich ein Grundmotiv einer „nostalgische[n] Beschwörung eines verlorenen Paradieses“ (Illouz 2013: 118), deren Quelle der Empörung die Entzauberung darstellt (vgl. Boltanski/Chiapello 2013: 70; Taylor
5.1 Zur gesellschaftlichen Legitimität des Geldes
223
2014: 240). Den entfremdeten Zuständen wird ein „System der Bedarfsdeckungswirtschaft“ (Weber 2013: 86), in Abgrenzung von der Rationalisierung, als Ideal entgegengehalten. Etwas ausführlicher in Webers Worten: Dies ist eben ein Beispiel desjenigen Verhaltens, welches als »Traditionalismus« bezeichnet werden soll: der Mensch will »von Natur« nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist. (ebd.)
Genau dagegen richtet sich der okzidentale Rationalismus mit seiner zweckorientierten Beherrschung der Welt. Die Unberechenbarkeit der Vormoderne soll durch Berechnung aufgehoben werden, dies „schafft jedoch nicht jedwede Form von Leidenschaft aus der Welt“ (Illouz 2011: 285), oder wenigstens nicht jedes Bedürfnis danach. Ähnlich sehen es Boltanski und Chiapello, die ein Revival künstlerkritischer Motive in den letzten Jahrzehnten verzeichnen. Im Zentrum der antikapitalistischen Kritik stehe der „Sinnverlust und insbesondere ein verloren gegangenes Bewusstsein für das Schöne und Große als Folge der Standardisierung und der triumphierenden Warengesellschaft“ (Boltanski/Chiapello 2013: 81). Mit ihrem Ansatz lässt sich der Gedanke weiterentwickeln, dass die gegenwärtige idealisierte Lebensführung nicht mehr der innerweltlichen Askese entspricht, sondern Motive beinhaltet, die der Romantik entspringen. An die These, dass Rationalisierung und Romantisierung einander nicht streng entgegengesetzt sind, sind Befunde auf der Ebene der Lebensführung anschlussfähig. Moderne Lebensführung Die methodische Lebensführung kann als eine „historische Erscheinungsform[…]“ (Seyfarth 1973: 241) des Rationalisierungsprozesses aufgefasst werden, die offen für Veränderungen bleibt. In der Beschreibung der eigenen Lebensführung durch die Befragten artikulieren sich romantische Motive. Diese Erkenntnis hebt sich von denen Webers ab, der affektive, ästhetische und genussvolle Elemente als widersprüchlich zur Rationalisierung betrachtet. Es gibt eine Verzahnung von Rationalisierung und Romantisierung dahingehend, dass Genuss und ein locker-großzügiger Umgang mit Geld erst erarbeitet werden müssen, diese dann aber auch erlaubt sind. Die Befragten nennen im empirischen Material Bereiche, die scheinbar keiner strengen Reglementierung unterliegen. Es handelt sich um Freiräume, die mit einem Gefühl des unbefangenen Genusses assoziiert werden. Damit bringen die Befragten Geld nicht ausschließlich mit Rationalisierung und der Welt des Triebverzichts in Verbindung. In ihren Beschreibungen einer Systematisierung des Lebensführung durch Geld zeigt sich, dass zwar nicht mehr die gleiche Genussfeindlichkeit wie einst
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5
Schlussbetrachtung
idealtypisch in der protestantischen Ethik vorherrscht, »reinen« Hedonismus findet man aber auch nicht vor. Geld ist nicht nur ein Mittel der Rationalisierung, das zur planvollen Organisation des Alltags und der Zukunft dient. Im empirischen Material wurde deutlich, wie es Zugänge zu nicht-reglementierten Sphären schafft. Es geht um eingeplante »ungeplante« Erlebnisformen. Der kontrollierte Umgang mit Geld wird von den Befragten nicht unbedingt als solcher betrachtet. Eine systematische Lebensführung mit Geld begünstigt die Etablierung und Wahrnehmung von Sphären, die keiner rationalistischen Logik entsprechen. Dies bedeutet auch, dass man sich darin »frei« fühlen kann und im Gegensatz zur protestantischen Ethik nun „sorglos und lustig“ (Weber 1991: 172) leben darf. Dem zugrunde liegt das Bedürfnis, nicht das ganze Sein dem Geld unterwerfen zu müssen, sowie eine Form des »gefühlten« Widerstandes gegen die Rationalisierung. Eine Legitimierung des Geldes vollzieht sich auf der Ebene der Lebensführung, solange es romantische Elemente und Erlebnisformen miteinbezieht. Geld schafft außeralltägliche und faszinierende Erfahrungsräume, die als Distanzierung zur Wirklichkeit gedeutet werden können. Geld kann in diesem Sinne dazu dienen, die Gesellschaft gerade nicht als „stahlhartes Gehäuse“ (ebd.: 188) zu empfinden. Es lässt sich festhalten, dass in alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld Bezüge auf rationalistische und romantische Motive ineinandergreifen. Es handelt sich um ein komplementäres Verhältnis zwischen zweckrationalen Rechtfertigungen, wie zum Beispiel im Glauben an Leistungsethik und Meritokratie, und romantischen Motiven, die zur Stabilität der Geldordnung führen. Ein zentraler Befund der empirischen Analyse ist dabei, dass die Befragten Geld nicht als alternativlos oder als Teil eines Zwangssystems auffassen. Andernfalls wäre eine Kritik an Geld auch nicht möglich. Kritik an Geld löst sich in Wohlgefallen auf, solange es Bereiche gibt, in die Geld keinen Eingang findet. Denn romantisches Denken birgt die Grundüberzeugung, dass es schlecht wäre, wenn Geld die Welt regieren würde und alle Lebensbereiche rationalisiert wären. Romantisierung verlangt jedoch nicht, dass das Idealisierte auch umgesetzt werden muss. Die gesellschaftliche Ordnung wird dagegen legitimiert durch die Möglichkeit, dass man – wenn man wöllte – ausbrechen könnte. Daher gründet die Legitimität des Geldes in seiner Kritik.
5.2
Ausblick
In weiteren Forschungen wird es sich anbieten, die vorgefundenen Muster und Motive in einem größeren Sample zu untersuchen, um eine gesellschaftliche
5.2 Ausblick
225
Rückbindung auf der Makroebene nachzuzeichnen. Meine Arbeit konnte zwar einige romantische Themen und Begründungen aufzeigen, allerdings wäre zu prüfen, auf wie viel Zustimmung diese gesamtgesellschaftlich stoßen. Es ist zum einen zu vermuten, dass komplementäre Referenzen auf rationalistische und romantische Motive nicht nur bei der Befragung von Laien zutage tritt, sondern auch in einer Studie mit ExpertInnen beobachtet werden würden. Dies würde erlauben, die für Geld zuständigen gesellschaftlichen Instanzen unter dem Aspekt des Legitimationsprozesses in den Blick zu bekommen. Bedienen sich ÖkonomInnen, PolitikerInnen oder BankerInnen ähnlicher Muster, um eine bestimmte Form der Kritik an Geld zu stabilisieren? Erkenntnisreich wäre zum anderen der Konnex von Habitus und Weltbild: Wer hinterfragt Gesellschaftliches in den alltagsweltlichen Vorstellungen von Geld? Welche Rationalitäten und romantischen Erklärungsnarrative sind klassenbedingt? Geld hat vielschichtige Funktionen und Wirkungen, die nicht allein im Bereich des wirtschaftlichen Austausches liegen. Machtkritisch argumentiert gilt es daher, auch soziale Ungleichheit weitgreifender zu denken. Mit meinem Ansatz, Geld auch als Mittel der Romantisierung zu begreifen, eröffnet sich eine weitere Sphäre der Exklusion. Ausschluss besteht dann in dem Sinne, dass eine Distanzierung von der Gesellschaft über Geld nicht erreicht werden kann. Die Untersuchung von Lebensstilen mit dem Fokus auf Geld stellt einen weiteren Ansatz dar, dieser Thematik nachzugehen, um romantischen Kriterien aufzuspüren und den Umgang mit Rationalisierung zu verstehen. Wichtige Fragen müssten lauten, welche Bedeutung romantisches Denken in der gegenwärtigen Gesellschaft einnimmt und ob es auf der Ebene der Praxis nicht doch ein elitäres Projekt bleibt (vgl. Bourdieu 2013: 583). Die obigen Erkenntnisse ließen sich zudem weiterentwickeln unter dem Aspekt, dass Geld einen Glauben benötigt. Bislang weiß man wenig über den Glauben an Geld; auch Simmel bleibt in diesem Punkt zögerlich. Dort heißt es zwar, dass es eines Glaubens an Geld und die soziale Gesamtheit bedürfe (vgl. GSG 6: 216), dieser aber nicht mit einem religiösen Glauben gleichzusetzen sei. Der Glaube an Geld hält nicht nur die Wirtschaft zusammen, vielmehr handelt es sich um einen praktischen Glauben, weil er ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt. Er lässt sich zudem dadurch charakterisieren, dass wir von einer ordnungskonstitutiven Funktion des Geldes ausgehen. Wir bestätigen in diesem Glauben performativ das, wofür diese Repräsentationen stehen. Wichtig für diesen Glauben ist einerseits die Theoretisierung eines romantisierenden Moments des Geldes, andererseits deuten die empirischen Ergebnisse darauf hin, dass
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5
Schlussbetrachtung
romantische Motive in den Bedeutungszuschreibungen des Geldes diesen Glauben stärken. Mit dieser Herangehensweise könnte man die bisher ungelöste Frage der Deckung des Geldes beleuchten. In der Thematisierung unterschiedlicher Geldträger und dem Umgang damit kristallisiert sich letztlich heraus, dass Geld anschaulich und greifbar bleiben muss. Ein systematischer Umgang mit Geld wird als Lösung betrachtet, um der Verführungskraft des Geldes Widerstand zu leisten. Es ist zu vermuten, dass Vergegenwärtigungsprozesse in Form von Bargeld dazu dienen, mit der Abstraktheit des Geldes umzugehen, damit dieses begreifbar bleibt. Steckt in dieser „unmittelbare[n] Erfahrung“ (Schäfer 2015b: 160), im Gegensatz zu seiner abstrakteren Form, auch ein romantisches Motiv? Ist das eine mögliche Erklärung dafür, warum in manchen Gesellschaften, in denen romantische Bezüge wichtiger sind, Bargeld idealisiert wird? Gibt es die romantisch inspirierte Kritik an Geld auch in Ländern, in denen rationalistisches und romantisches Denken nicht die gleiche okzidental-spezifische Entwicklung genommen hat? Mit einer ländervergleichenden Studie wäre es möglich, den kultursoziologischen Blick dafür zu schärfen, welche Differenzen in den Bedeutungszuschreibungen bestehen. Zu hinterfragen wäre, ob es tatsächlich in der „Logik des Geldes als universelles Tauschmittel liegt“, seine moralischen „Begrenzungen immer wieder zu transzendieren“ (Liessmann 2009: 17), wie es Simmel nahelegt, oder ob eine kultursoziologische Perspektive auf Deutungen und Narrative nicht gerade erlaubt, die Entwicklung des Geldes aus gesellschaftlichen Gegebenheiten heraus zu erklären. Die empirischen Erkenntnisse verweisen darauf, dass eine Distanz zur gesellschaftlichen Realität gerade dann aufgebaut werden kann, wenn damit die Vorstellung verbunden wird, dass infolge der Grenzen des Geldes die damit verknüpfte gesellschaftliche Ordnung Gerechtigkeits- und Gleichheitsgebote bewahrt. Eine Vertiefung dieses Aspekts stellt eine Möglichkeit dar, die theoretische und empirische Beantwortung der Frage, wie Geld gesellschaftlich legitim bleibt, weiter zu untersuchen. Für eine Fundierung und Weiterentwicklung meiner Thesen würde es sich lohnen zu erforschen, inwieweit Geld und seine gesellschaftlichen Narrative eine »Wiederverzauberung« und damit ein Arrangement mit dem Bestehenden begünstigen oder hemmen. Kann es als Mittel der Romantisierung zu einer Wiederverzauberung beitragen und verhindern, dass die gesellschaftliche Ordnung als dumpf und trist wahrgenommen wird? Diese Perspektive auf die Entzauberungsthese hebt sich von Ansätzen ab, die Religion und Wiederverzauberung theoretisch verknüpfen (vgl. Joas 2017). Anschluss besteht derweil an Studien, die zum Beispiel Finanzspekulationen unter dem Blick der Wiederverzauberung nachzuvollziehen ermöglichen (vgl. Stäheli 2007). Entzauberung, Rationalisierung und Entfremdung bleiben große Themen in der Soziologie. Meine Arbeit
5.2 Ausblick
227
leistet einen Beitrag dazu, Widerstandsformen gegen Geld und Rationalisierung auf der Mikroebene nachzuzeichnen, wofür die Befragten romantische Motive nutzen. Ausbauen könnte man die Befunde hinsichtlich der Komplementarität von Rationalisierung und Romantisierung durch die Frage, wann ein »Zuviel« an Rationalisierung empfunden wird. Die Verbindung geldsoziologischer Analysen, alltagsweltlicher Vorstellungen und rationalistischer sowie romantischer Rechtfertigungen deuten darauf hin, dass die Legitimität der modernen Gesellschaft darin liegt, Kritik zu ermöglichen. Kritik an der Moderne muss aber nicht „Gegenaufklärung“ (Honegger 2014: 84) bedeuten. Um dem aufklärerischen Projekt verpflichtet zu bleiben wäre es zweckmäßig, progressive Elemente romantischen Denkens in die Kritik miteinzubeziehen. Mit Horkheimer und Adorno formuliert: „Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun“ (Horkheimer/Adorno 1969: 4). Soziologische Analysen romantischen Denkens sollten dafür beachten, dass die romantische Bewegung nicht widerspruchsfrei ist und nicht als monolithischer Block aufgefasst werden kann. Einige politische Motive, wie jene, die sich gegen die Aufklärung und ihren Universalismus richten, Innerlichkeit propagieren und Identitätssuche mit Nation verbinden, plausibilisieren die Bewertung der Romantik als konservativ-reaktionäres Projekt. Eine Engführung des romantischen Protests auf sein konservatives Moment ist aber unterkomplex. Genauso wenig sollte das Argument überstrapaziert werden, dass die Romantik in ihrer Gemeinschaftsphantasie das gute Leben für alle bereithält. Ein wichtiges Forschungsdesiderat besteht demnach hinsichtlich einer soziologischen Theorie der Romantik und ihrer gegenwärtigen Relevanz, ohne diese affirmativ zu überhöhen. Das gewählte mehrdimensionale Forschungsdesign bringt eine ergänzende Perspektive in die Soziologie des Geldes ein. Es eignet sich dafür, um Simmels Ansatz weiterzuentwickeln: es leistet einen Beitrag zu einer Theorie des Geldes sowie zu einer Soziologie der Romantisierung. Geld bleibt, trotz Untergangsprophezeiungen und Kritik, legitim, weil es sowohl ein Mittel der Rationalisierung, als auch ein Mittel der Romantisierung darstellt. Die Legitimität des Geldes ist aber auch verbunden mit gesellschaftlichen Veränderungen. Eskapismusphantasien, Idealisierung des Einfachen oder von Geld unberührte Refugien sind zwar Teil einer Kritik an Geld oder den damit assoziierten gesellschaftlichen Verhältnissen; diese Kritik kann sich aber schon durch Imagination und bloße Möglichkeit des »Anderen« in Rechtfertigung umwandeln. Ein projiziertes Idyll in geldfreien Bereichen oder im Anderen der Moderne führt zu Problemen, sobald strukturelle Faktoren ausgeblendet und Armut als freie Entscheidung in Form des Ausstiegs oder des Asketismus hochstilisiert werden. Eine „soziale Differenz“ verschwände in einer „artifiziell erzeugten In-Differenz“ (Bornscheuer 2006: 37).
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5
Schlussbetrachtung
Die soziale Frage wird zum Schweigen gebracht, wenn die Beschönigung von Armut zum hegemonialen Deutungsmuster wird. Umkämpfte Bastionen wären in diesem Sinne „Bereich[e] der Verleugnung der sozialen Welt“ (Bourdieu 1987: 796), gerade wenn daraus ein zunehmendes Unverständnis gegenüber Schlechtergestellten folgt. Geld wirft notgedrungen Fragen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Ungleichheit auf. Solange es eine Antwort auf diese Fragen gibt, auch in Form von romantischen oder rationalistischen Begründungen, wird die Legitimität des Geldes gesellschaftlich gestützt.
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