Deutschland im Mittelalter: Wirtschaft - Gesellschaft - Umwelt 3805350074, 9783805350075

Bernd Fuhrmanns umfassende Darstellung über Deutschland im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit verbindet erstmals syst

136 46 10MB

German Pages 512 [514] Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Front Cover
Titel
Widmung
Impressum
Inhalt
Einleitung
Klimaeinflüsse
Bevölkerungsentwicklung
Oberflächenstruktur
Geldwesen
Frühmittelalter
Agrarsektor
Handwerk
Handel
Städtewesen
Soziale Strukturen und Bildung des Adels
Hochmittelalter
Agrarsektor
Handwerk
Handel
Städtewesen
Verkehrswesen
Adel
Spätmittelalter
Agrarsektor
Wald- und Forstwirtschaft
Städtewesen
Bauen und Wohnen
Handwerk und Produktion
Handel
Aspekte der Sozialstruktur
Jüdisches Leben und Wirtschaften
Bergbau und Montansektor
Der Schwarze Tod und andere Seuchen
Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft
Ernährung
Rückblick
Literatur
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Back Cover
Recommend Papers

Deutschland im Mittelalter: Wirtschaft - Gesellschaft - Umwelt
 3805350074, 9783805350075

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Bernd Fuhrmann

Deutschland im Mittelalter Wirtschaft – Gesellschaft – Umwelt

Für Caroline

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Philipp von Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Daphne Schadewaldt, Wiesbaden Karte auf S. 8/9: Peter Palm, Berlin Gestaltung und Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Einbandabbildung: Rheinischer Goldgulden, geprägt zwischen 1399 und 1402 in Frankfurt-Höchst, Avers: Johannes der Täufer mit Kreuzzepter, die Rechte zum Segen erhoben; zwischen den Füßen ein Johanniterkreuz. Umschrift: IOH(ann)IS AR(chi)EP(iscop)VSMAGV(n)T(inus). wikimedia commons/by Saharadesertfox Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-5007-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-5132-4 eBook (epub): 978-3-8053-5133-1

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Klimaeinflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Bevölkerungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Oberflächenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Geldwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Frühmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Agrarsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Städtewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Soziale Strukturen und Bildung des Adels . . . . . . . . . . . . . . 63 Hochmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Agrarsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Städtewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Verkehrswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Adel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Agrarsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Wald- und Forstwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Städtewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Bauen und Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Handwerk und Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Aspekte der Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Jüdisches Leben und Wirtschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Bergbau und Montansektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 5

Inhalt



Der Schwarze Tod und andere Seuchen . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft . . . . . . . . . . . . . 460 Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488

Rückblick

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502

6

Einleitung Eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands im Mittelalter, die die Veränderungen der natürlichen Lebensumwelt und die Auswirkungen menschlichen Handelns auf diese systematisch berücksichtigt, das ist Anliegen und Inhalt dieses Buches. Was ist gemeint, wenn von Deutschland im Mittelalter die Rede ist? Zumindest im Spätmittelalter umfasste der angesprochene geografische Raum im Wesentlichen das Reichsgebiet nördlich der Alpen. Von festen Grenzen kann noch keine Rede sein, sondern wir haben es mit Grenzzonen zu tun, die zuweilen durchaus großräumigen Veränderungen unterlagen, die sich längst nicht nur infolge von militärischen Auseinandersetzungen ergaben. So schied die Eidgenossenschaft, damals noch ohne die Städte Basel und Schaffhausen, de facto am Ende des 15. Jahrhunderts nach dem Schwaben- oder Schweizerkrieg aus dem Reichsverband aus, rechtlich freilich erst mit dem Westfälischen Frieden des Jahres 1648.1 Allerdings konnten die römisch-deutschen Könige bereits während des 15.  Jahrhunderts ihre Ansprüche in der Eidgenossenschaft nicht mehr durchsetzen und dort keine Reichssteuern sowie sonstigen Finanzforderungen mehr eintreiben. Im südwestlichen Grenzgebiet fielen etliche Dörfer und Städte wie Metz, Toul, Verdun oder – als bedeutendste Kommune – Straßburg mitsamt ihrem Umland nach und nach in einem langwierigen Prozess an die französische Krone. Ungeachtet dessen erfolgte die definitive Abtretung des 1681 besetzten Straßburg an Frankreich erst mit dem Frieden von Ryswik 1697 am Ende des Pfälzischen Kriegs; während des 19. und 20. Jahrhunderts sollte das Elsass nochmals zu einem höchst umstrittenen Zankapfel zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich werden. Ohnehin blieben die Grenzen im Spätmittelalter durchlässig und behinderten den Handel kaum, der im Inneren des Reiches von Zollstellen an den Verkehrswegen, in den Städten sowie bei der Durchquerung der zahlreichen Territorien deutlich mehr belastet wurde. Vergleichsweise zeitig lassen sich im späten 14.  Jahrhundert im Osten frühnationale Gegensätze fassen, besonders in Böhmen, wo einheimische Kaufleute, aber auch weitere Teile der Bevölkerung sich gegen die Dominanz der meist deutschen Fernhändler wandten. Ohnehin blieb die Zugehörigkeit 1 Vgl. die zeitnahe, wenngleich nicht unproblematische Darstellung von Willibald Pirckheimer: Der Schweizerkrieg, ND Berlin 1988.

7



Mitteleuropa um 1500

Sylt

Einleitung

N

R

Hzm. Schleswig

KG EM R. A K

N o r d s e e

Dithmarschen

Lübeck Gft. Hamburg OstfriesHzm . Erzbm. land Me ck le n burg Gft. Bremen OldenBremen burg

Friesland Bm. Utrecht

Gft. Holland

Hzm. BraunschweigLüneburg

Hzm. Geldern

Calais

(engl.)

Osnabrück

Gft. Flandern

Gft. Artois Gft. Hennegau

Hzm. Brabant

Fsm. Anhalt

Aachen

Kassel

Köln

Bm. Lüttich

Hzm. Bar

Metz

Mainz Kurpfalz

Hzm. Lothringen

Freigft. Burgund

Schmalkalden

Frankfurt Würzburg

Speyer

Straßburg

Ober-

Nürnberg p f a l z

Stuttgart

Hzm. Württemberg

100

150 km

Eichstätt

Regensburg

Hzm. Bayern

Augsburg

Basel

Konstanz

LANDE DER EIDGENOSSEN

Hzm. Savoyen

8

Bamberg

München

Besançon

Gft. Charolais

Leipzig

Lgft. Hessen Kfsm. Sachsen

Gft. Nassau

Luxemburg

KGR. FRANKREICH

Erzbm. Magdeburg

Gft. Erzbm. Mark Köln

Hzm. Luxemburg

50

Wolfenbüttel

H z m . Münster Kleve Bm. Münster

Brüssel

0

Hzm. Holstein

Innsbruck Gft. Ti r o l

Trient

Mgft. M o n t f e r r a t Mailand Fsm. Hzm. Mailand Piemont

R E P. V E N E D I G Venedig

O s t s e e

Bornholm

Königsberg Rügen

Danzig

Bm. Cammin

GRFSM. L EinleitungI TA U E N

Hzm. Preußen N

Hzm. Pommern

Stettin

S

Gft. Ruppin

Kfsm. Brandenburg

Berlin

KGR. POLEN Sagan

Mgft. Lausitz Hzm. Sachsen

Dresden

Hzm. Schlesien

KGR. BÖHMEN Prag

Mgft. Mähren

Passau

Habsburgische Lande Österreichische Linie Burgundische Linie

Erzhzm. Österreich

Wien

Salzburg Erzbm. Salzburg

Hzm. Kärnten

Triest Adria

Wettinische Lande Ernestinische Linie Albertinische Linie

Hzm. Steiermark

Graz

Hzm. Krain

Fiume

Hohenzollernsche Lande Brandenburgische Linie Fränkische Linie

KGR. UNGARN

Wittelsbachische Lande Bayerische Linie Pfälzische Linie Geistliche Gebiete

Reichsstädtisches Gebiet Freie Reichsstadt 9

Grenze des Heiligen Römischen Reiches

Einleitung

Böhmens zum Reich trotz der 1356 definitiv festgeschriebenen Funktion des Böhmenkönigs als Wähler des Römischen Königs immer wieder umstritten. Über einen Sonderstatus verfügte Böhmen jedenfalls bereits früher als ­Österreich, das sich 1358/59 einen solchen mittels Fälschung eines Privilegs sicherte, die schließlich im 15. Jahrhundert anerkannt wurde. Dagegen bilden im Süden die Alpen eine natürliche Barriere, wenngleich Bayern noch im frühen 16.  Jahrhundert Kufstein, Kitzbühel und weitere Orte, die allesamt nördlich des Alpenhauptkamms gelegen sind, als Folge des bayerischen Erbfolgekriegs an die Habsburger abtreten musste. Für den Norden lassen sich Nord- und Ostsee als naturräumliche Grenzen benennen, wenngleich das Herzogtum Holstein zum Reich gehörte, Schleswig hingegen der dänischen Krone unterstand. Teile der Niederen Lande oder Burgunds zählten zwar zum Reich, jedoch ging der Einfluss der Herrscher auch in diesen Territorien massiv zurück; wiederum erfolgte der endgültige Austritt erst 1648. In grober Vereinfachung erschwerten zudem die Mittelgebirge die Verbindungen vom ober- in den niederdeutschen Raum und umgekehrt. Der viel diskutierte Beginn einer „deutschen“ Geschichte, der sich ohnehin nicht auf den Punkt genau bestimmen lässt, wird heute zumeist auf das 10.  Jahrhundert datiert.2 Dennoch fließen selbstverständlich die Jahrhunderte zuvor in die Darstellung ein, angesichts einer für unsere Fragestellungen nur dünnen Überlieferung allerdings mit besonderem Augenmerk auf dem Ostteil des sich im Frühmittelalter formierenden Fränkischen Reichs, zunächst unter den merowingischen Herrschern, dann unter ihren karolingischen Nachfolgern. Elemente der Sozialgeschichte finden ebenso durchgängig Eingang in die Darstellung wie solche der Umweltgeschichte, die ganz allgemein als „Interaktion zwischen Mensch und Natur und vice versa“3 verstanden wird. Ebenso erfolgen immer wieder Ausblicke auf weitere europäische Länder, um die Entwicklungen im Reichsgebiet in grundlegende Tendenzen der ökonomischen und sozialen Prozesse einordnen zu können. Generell geht die Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit weniger von theoretischen Modellannahmen aus, was schon der nur selten quantitativ hinreichend belastbaren Quellenüberlieferung ­geschuldet ist. Vielmehr analysiert sie vornehmlich hermeneutisch die eben keinesfalls immer rationalen Verhaltens- und Handlungsweisen der ­Menschen und der durch sie geschaffenen und umgebildeten Institutionen 2 Vgl. umfassend mit Spätdatierung Carlrichard Brühl: Deutschland – Frankreich: Die Geburt zweier Völker, 2., verb. Aufl. Köln/Weimar/Wien 1995. 3 Reith: Umweltgeschichte, S. 3 f.

10

Klimaeinflüsse

und bezieht auf diese Weise die für das 19. und 20. Jahrhundert konzipierte Neue Institutionenökonomik mit ein.4 Da wir häufig nur noch die Ergebnisse, die Endpunkte von teilweise langfristigen Entwicklungssträngen oder Prozessen identifizieren können, besteht die Gefahr einer teleologischen Deutung, da mögliche Nebenwege oder Brüche im Rückblick nicht oder kaum noch erkennbar sind. Die Übertragung moderner volkswirtschaftlicher Modelle auf die Wirtschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ist schon angesichts unterschiedlicher Rahmenbedingungen ausgesprochen problematisch, da beispielsweise obrigkeitliche und genossenschaftliche Verordnungen Teile des Handels und der Produktion lokal wie regional ganz anders als heute reglementierten. Vorweg einige Anmerkungen zu den Rahmenbedingungen menschlichen Lebens und Handelns wie den klimatischen Entwicklungen, den Veränderungen der Oberflächenstruktur und der Bevölkerungsentwicklung. Anschließend folgen die Hauptkapitel weitgehend der gängigen Unterteilung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter. Letzteres wird unter Einschluss weiter Teile des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts betrachtet, ohne damit ein langes 15. oder 16. Jahrhundert postulieren zu wollen. Zahlreiche Entwicklungsstränge endeten eben nicht an der Wende zum 16.  Jahrhundert, und die Schlusspunkte manch tief greifender Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft, die im Spätmittelalter einsetzten, liegen nochmals deutlich später. Grundlegende Veränderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur sollten danach erst wieder seit dem 19. Jahrhundert erfolgen. Ebenso darf nicht aus dem Blick geraten, dass trotz aller Bedeutung von Produktion und Handel die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land lebte und arbeitete. Abgesehen von wenigen verdichteten Städteregionen haben wir es europaweit im Kern noch mit einer feudalen Produktionsweise zu tun.

Klimaeinflüsse Erst in den letzten Jahrzehnten haben die klimatischen Veränderungen, von Bernd Herrmann zutreffend als einflussreiches Hintergrundereignis histori4 Gerhard Fouquet: Netzwerke im internationalen Handel des Mittelalters, in: ders./Gilomen (Hg.): Netzwerke, S. 9–20, hier S. 19. Heinz Stoob betont den scheinbar unverzichtbaren Wert der „hermeneutischen philologisch-kritischen Methode“ noch vor systematisch vergleichenden Forschungen; ders.: Vorwort, in: Franz Petri (Hg.): Bischofs- und Kathedralstädte des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Städteforschung, A: 1), Köln/Wien 1976, S. XII. Zur Neuen Institutionenökonomik vg. Gerold Ambrosius: Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001.

11

Einleitung

scher Entwicklungen charakterisiert,5 sowie ihre Auswirkungen und Einflüsse verstärkten Eingang in die Historie gefunden. Damit wurden das ­Spektrum der Erklärungsansätze für wirtschaftliche Entwicklungen, aber auch soziale und politische Veränderungen deutlich erweitert. Denn auch nach dem Ende der letzten Eiszeit bildete das Klima eben keine Konstante, sondern es wechselten mehrhundertjährige kältere und wärmere Perioden miteinander ab, dazu traten kurzfristige Schwankungen sowie vielfach nochmals regionale Abweichungen. Wie die spätmittelalterlichen Chronisten ihre Umwelt und besonders die jeweiligen Witterungsverhältnisse mit ihren vielfältigen Kapriolen wahrgenommen haben, zeigt bereits ein kurzer Blick in ihre umfangreichen Aufzeichnungen: Denn eindeutig im Zentrum stand fast Jahr für Jahr die jeweilige Witterung, da diese einen heute kaum mehr vorstellbaren Einfluss auf die Getreideernte, den Weinwuchs sowie allgemein auf das Gedeihen von Pflanzen und Tieren und damit auf die ­Lebensgrundlagen der Menschen hatte. Der grundsätzliche Einwand gegen diese Überlieferungsgattung, nämlich dass Chroniken oftmals Wissen aus zweiter und dritter Hand vermitteln, zählt in diesem Fall zumindest für die Erlebensphase der Autoren nicht; zudem konnten sie vielfach auf ältere Aufzeichnungen zurückgreifen. Die Witterung besaß damit grundsätzlich eine existenzielle Bedeutung für das Überleben. Erst an zweiter Stelle nannten die Chronisten Unwetter, Dauerregen, Überschwemmungen oder sonstige, vielfach regional oder auch lokal begrenzte Katastrophen, die gleichfalls die ­Ernährungslage entscheidend beeinträchtigen konnten. Dabei müssen freilich unterschiedliche subjektive Einschätzungen der verschiedenen Ereignisse hingenommen werden, was Vergleiche erschwert. Bereits in der Spätantike, wahrscheinlich während des 3.  Jahrhunderts, setzte eine Klimaverschlechterung ein, deren Ausmaß schwierig einzuschätzen ist, die aber schon in diesem Zeitraum zu einer Reduzierung der Erntemengen führte. Tiefer greifende Veränderungen brachte die Zeitspanne vom 6. bis zum 9.  Jahrhundert, begleitet von ergiebigen Regenfällen und einer nochmaligen Abkühlung. Erstmals nach dem „Ende“ des Römischen Reichs liegen für den Winter 763/64 Aufzeichnungen zugleich aus mehreren Gebieten Europas vor, und diese lassen auf einen außerordentlich kalten Winter schließen. Im Winter 859/60 soll das Eis selbst in der Adria so dick gefroren 5 Bernd Herrmann: Umweltgeschichte. Eine Einführung in die Grundbegriffe, Berlin/Heidelberg 2013, S. 175. Grundlegend Glaser: Klimageschichte. H. H. Lamb: Klima und Kulturgeschichte. Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1989.

12

Klimaeinflüsse

gewesen sein, dass es von beladenen Fuhrwerken befahren werden konnte; die sogenannten Annalen von St. Bertin berichten gleichfalls von einem langen, harten Winter mit Schnee und Eis von November bis April. Im Zeitraum vom ausgehenden 10. bis zum beginnenden 14. Jahrhundert lässt sich von einer Warmphase sprechen, gekennzeichnet u. a. durch ein Vordringen des Weinbaus in England bis fast auf 53 Grad nördlicher Breite, also auf die Höhe von Nottingham, Derby oder Stoke. Die höheren Temperaturen ermöglichten überhaupt erst die Fahrten der Wikinger nach Island, Grönland sowie nach Nordamerika, ebenso die Besiedlung Grönlands, die aber im Spätmittelalter – wiederum aus klimatischen Gründen – ihr Ende finden sollte; die Aufenthalte in Nordamerika blieben ohnehin eine Episode und dienten wohl in erster Linie der Holzbeschaffung. Die Durchschnittstemperatur dürfte in jenem Zeitraum mindestens ein bis eineinhalb Grad über den Werten im 20. Jahrhundert gelegen haben. Als entscheidend für die Ernährungslage erwiesen sich die durch das Klimaoptimum verlängerten Vegetationsphasen in Europa, wenngleich bis heute die Frage ungeklärt ist, ob das Bevölkerungswachstum zuerst einsetzte oder die Erhöhung der Erntemenge, also die alte Frage nach Henne und Ei erneut zu stellen ist. Die in dieser Periode um etliche Wochen verlängerte Vegetationsphase ermöglichte das Vordringen des Getreideanbaus in die höheren Lagen der Mittelgebirge, selbst wenn die Erntemengen auf diesen weniger fruchtbaren, schweren, häufig zudem steinigen Böden geringer blieben. Der Grenznutzen sank damit teilweise deutlich, es ist sogar von Aussaat-Ernte-Relationen von gerade einmal eins zu zwei die Rede. Zudem erwies sich die Gefahr von Spätfrösten im Frühjahr oder solchen relativ früh im Herbst in diesen Gebieten als größer als in tieferen Lagen, während im Weststau der Mittelgebirge bis heute häufig hohe Niederschlagsmengen mit ihren Negativfolgen zu verzeichnen sind. Zum Wachstum der Agrarproduktion trugen ansonsten vornehmlich die stärkere Verbreitung der Dreifelderwirtschaft, bessere Gerätschaften und Anspanntechniken bei im Übrigen wohl weitgehend unveränderten Anbaumethoden das Ihrige bei. Quantifizierungen sind jedoch wiederum nicht möglich, sondern wir müssen uns mit zumeist groben Trendeinschätzungen begnügen. Allerdings führte der nunmehr hohe Nahrungsmittelbedarf zu einem ausgeprägten Vergetreidungsprozess auf Kosten der Viehhaltung, die wohl noch in der Karolingerzeit dominiert hatte, und damit zu einem Rückgang des Fleischkonsums sowie der Aufnahme tierischer Eiweiße und Fette. Den gravierenden Klimaumschwung um die Wende zum 14. Jahrhundert kündigten vielfältige Vorboten an: Bereits für 1286, dann für den Zeitraum 13

Einleitung

von 1303 bis 1306 lassen sich extrem kalte Winter im Norden Europas erkennen, und für die Jahre von 1313 bis 1317 sind feuchte Sommer sowie überwiegend nasse Frühjahrs- und Herbstzeiten überliefert, am dramatischsten wohl im Jahr 1315: In diesem Jahr dürfte im April ein bis in den November hineinreichender Dauerregen eingesetzt haben, der europaweit die Ernte nicht ausreifen ließ. Zudem wüteten heftige Seuchen unter den Viehbeständen. Die folgenden Jahrzehnte verliefen uneinheit­licher. Als ausgesprochen kalt gelten die Sommer von 1342 bis 1347. 1347 war das Jahr mit dem kältesten Sommer seit Jahrhunderten, und wie schon gut 30 Jahre zuvor, suchte die Menschen europaweit eine Hungersnot heim. Ernteeinbußen über mehrere Jahre hinweg führten unausweichlich zu Hungersnöten, einem ständigen Begleiter der Stadt- und – zumindest in einem gewissen Umfang – der Landbewohner bis in das 19. Jahrhundert hinein. Häufig beinhalten die Berichte zu Hungers­ nöten vornehmlich in Früh- und Hochmittelalter toposartige Erzählungen von einem um sich greifenden Kannibalismus der Menschen in Stadt und Land; konkrete Belege dafür fehlen allerdings. Das Wissen um lange Phasen von Erwärmung und Abkühlung schon vor der Industrialisierung könnte die aufgeregten Debatten der letzten Jahre über die Klimaerwärmung versachlichen, zu mehr Gelassenheit statt hektischem Aktionismus führen. Vergleichsperioden von gerade einmal 40 oder 50 Jahren oder noch kürzeren Zeitspannen, zumal im Interesse der eigenen Interpretation möglichst passend gewählt, sind für das Erkennen länger­ fristiger Trends nun einmal gänzlich ungeeignet. Weiterhin argumentieren Historiker und Naturwissenschaftler hinsichtlich der Zulässigkeit von Analogieschlüssen und der historischen Vergleichbarkeit grundlegend unterschiedlich, denn Naturwissenschaftler schließen deutlich stärker ausgehend von Einzelbeispielen, die scheinbar Gesetzmäßigkeiten folgen, auf allgemeingültige Abläufe. Neben den gewählten Zeitphasen sorgt darüber hinaus ein Homogenitätsproblem bei den Messungen für erhebliche Schwierigkeiten in puncto Vergleichbarkeit, denn schon die Verlegung von Messpunkten aus den städtischen Randbereichen in die Innenstädte führt zwar zu einer höheren gemessenen Durchschnittstemperatur, belegt aber ansonsten keine Klimaveränderung. Dass sich die Umweltgeschichte in dieser wie in vielen anderen Fragen vielfach mit Werturteilsproblemen auseinanderzusetzen hat, ist unbestritten.6 Und selbst wenn die Umweltgeschichtsschreibung sich 6 Rainer Schreg: Die Krisen des späten Mittelalters: Perspektiven, Potentiale und Probleme archäologischer Krisenforschung, in: Daim/Gronenborn/Schreg (Hg.): Strategien, S. 197–213, hier S. 207 f.

14

Klimaeinflüsse

tendenziell zunächst an modernen Entwicklungen wie der oder den Industrialisierungen und ihren Folgen im 19. und frühen 20. Jahrhundert orientierte und etablierte, liefern neben der Klimageschichte doch auch die Mittelalter- und die Frühneuzeitforschung wichtige Impulse. Genannt seien in erster Linie Ulf Dirlmeier, Reinhold Reith, Bernd Herrmann oder Ernst Schubert, deren Beiträge vielfach in die Darstellung einfließen.7 Andere Analysen nähern sich dem Verhältnis von Natur und Mensch auf der Basis von literarischen, theologischen und philosophischen Überlieferungen ausgesprochen theoretisch an. Sie streifen das Thema schon aufgrund dieser Vorgehensweise letztlich nur am Rande, zumal sich die zeit­ genössische Rezeption derartiger handschriftlich verbreiteter, zudem überwiegend in Latein verfasster Schriften ohnehin auf einen kleinen Kreis beschränkte und sie schon deswegen wenig Wirkung entfalteten. Und dass das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt eben nicht nur aus literarischen Quellen erschlossen werden kann, betonen Ernst Schubert und andere mit Nachdruck.8 Hinzu kommt, dass nicht nur Literaturhistoriker oder Kulturwissenschaftler die Wirklichkeit als ein soziales Konstrukt zu begreifen versuchen und einen linguistic turn oder symbolische Verhaltensweisen betonen. Im Zuge dessen erhalten philologische Erwägungen, weitreichende Spekulationen auf dünnem Eis oder rein theoretische Annahmen den Vorzug gegenüber den deutlich schwieriger ermittelbaren empirischen Erkenntnissen mit all ihren der Überlieferung geschuldeten Einschränkungen. Damit soll keineswegs einem naiven Positivismus das Wort geredet werden, aber zumindest werden auf diese Weise Beliebigkeiten und Konstrukte vermieden. So erfuhr etwa der deutsche Wald im späten 18. und im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der seinerzeit nur noch geringen Bestände eine mythische Überhöhung mit lang anhaltenden Folgen. Und wenngleich Nico Stehr/Hans v. Storch: Klima, Wetter, Mensch, Opladen 2010, S.  18, 25, 31, 102  f. Hasel/ Schwartz: Forstgeschichte, S. 18–20. Joachim Radkau: Nachdenken über Umweltgeschichte, in: Siemann (Hg.): Umweltgeschichte, S. 165–186, hier S. 171–181. 7 Vgl. auch die nicht unproblematischen Überblicke von Manfred Jabukowski-Tiessen: Umweltgeschichte als geschichtswissenschaftliche Disziplin in Deutschland, in: Heike Düselder/Annika Schmitt/ Siegrid Westphal (Hg.): Umweltgeschichte. Forschung und Vermittlung in Universität, Museum und Schule, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 23–36; und Gerrit Jasper Schenk: Der Mensch zwischen Natur und Kultur. Auf der Suche nach einer Umweltgeschichtsschreibung in der deutschsprachigen Mediävistik – eine Skizze, in: François Duceppe-Lamarre/Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte (Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris, 2), München 2008, S. 27–51. 8 Vgl. z. B. Albert Zimmermann/Andreas Speer (Hg.): Mensch und Natur im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia, 21), Berlin/New York 1991. Mit ähnlichem Schwerpunkt Aberth: History, S. 10. Ernst Schubert: Scheu vor der Natur – Ausbeutung der Natur – Formen und Wandlungen des Umweltbewusstseins im Mittelalter, in: ders./Herrmann (Hg.): Angst, S. 13–58, hier S. 15.

15

Einleitung

die Nützlichkeit der Natur für den Menschen erst im 18. Jahrhundert entdeckt worden sein soll, sie demnach zuvor tendenziell als etwas Fremdes empfunden worden wäre, sprechen doch zahlreiche Sätze und Nebensätze der Überlieferung gegen diese allzu einfache Interpretation.9 Neben den klimatischen Schwankungen beeinflussten vor allem lokal oder regional auftretende Unwetter oder Schädlingsbefall die Ernteerträge massiv. Das Gleiche gilt für die zahlreichen Fehden und Kriege, die ganz überwiegend auf dem Rücken der Landbevölkerung ausgetragen wurden. Zahlreiche Chronisten notierten in solchen Fällen steigende Preise als Anzeichen einer Verknappung und kommenden Teuerung, die natürlich ebenso wie klimatische Unbill jedweder Art die Armen zuerst und am stärksten betraf, dann aber auch weitere Bevölkerungskreise. Preisanstiege bei Getreide und Trauben bzw. Brot und Wein wirkten sich unmittelbar auf die realen Lebensbedingungen der meisten Menschen aus. Leider sind längst nicht alle Editionen von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Chroniken vollständig, sodass schon aus diesem Grund zusätzliche Unsicherheit über den Stellenwert einzelner Nachrichten besteht. Besonders in oberdeutschen Groß- und Mittelstädten ließen die Räte – wie der Chronistik, aber auch der Rechnungsüberlie­ ferung zu entnehmen ist – überwiegend seit dem 15. Jahrhundert Getreidevorräte in Kornspeichern anlegen, um während einer Teuerung verbilligtes Getreide ausgeben zu können. Allerdings lässt sich von einer antizyklischen, preisstabilisierenden und damit von einer systematischen kommunalen Vorratspolitik noch kaum sprechen. Weiterhin ließen die Räte zeitweise Brot im städtischen Auftrag backen, um dieses günstiger an Bedürftige verkaufen zu können.10 Größere Teile der Einwohnerschaft verfügten eben nicht über ausreichende Mittel, um sich bei niedrigen Getreidepreisen Vorräte anlegen zu können, wie dies die Räte von den Vermögenderen einforderten. So notierte Heinrich Deichsler, selbst ein vermögender Bierbrauer, für Nürnberg massive Teuerungen für die Jahre 1432, 1435, für die verbreiteten 9 Behringer: Eiszeit, S. 433. Vgl. zuletzt Detlev Arens: Der deutsche Wald, Köln 2010, S. 318–330. Alexander Demandt: Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte, Köln 2002, S. 232–265. Zur Weiterverbreitung dieses Bildes vgl. Albrecht Lehmann: Aspekte populären Landschaftsbewusstseins, in: Siemann (Hg.): Umweltgeschichte, S. 147–164, hier S. 147–156. Vgl. auch Günter Bayerl: Die Natur als Warenhaus. Der technisch-ökonomische Blick auf die Natur in der Frühen Neuzeit, in: Hahn/Reith (Hg.): Umwelt-Geschichte, S. 33–52, hier S. 34. Fumagalli: Mensch, S. 29. 10 Ulf Dirlmeier: Lebensmittel- und Versorgungspolitik mittelalterlicher Städte als demographisch relevanter Faktor?, in: Saeculum 39 (1988), S. 149–153, hier S. 152. Zur städtischen Vorratspolitik vgl. Dirlmeier: Untersuchungen, S. 51–60; für die Zeit um 1440 vgl. Jörg, Christian: Teure, Hunger, großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2008, S. 212–222.

16

Klimaeinflüsse

schweren Krisenjahre 1437 sowie 1438, dann für 1449, 1450, 1463, 1465, 1469, 1482, 1491, 1500 und 1501. Für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts (bis 1544) nennt Müllner 1502, 1505, 1511, 1517, 1530, 1531, 1534 sowie 1540 als Hochpreisjahre.11 Müllner amtierte als Chronist der Reichsstadt Nürnberg im frühen 17. Jahrhundert, konnte sich auf deren umfangreiches Archiv einschließlich älterer Chroniken stützen. Die Reihe ließe sich problemlos weiterführen sowie durch weitere Städte ergänzen. Als die Nürnberger Bäcker 1530 aus den kommunalen Vorräten Korn erhielten, mussten sie geloben, das Brot zum Nutzen der Bürger zu verkaufen und nicht außerhalb der Stadt zu höheren Preisen. 1508 und 1509 hatte eine Ausgabe von eingelagertem Schmalz stattgefunden, da dessen Preis deutlich angestiegen war; für die armen Bevölkerungsschichten bildete ein mit etwas Schmalz versetztes Getreidemus das Grundnahrungsmittel schlechthin und lieferte zudem die einzige Zufuhr von tierischen Fetten. Bei all diesen ausschließlich auf die ­eigenen Bewohner beschränkten Vorsorgemaßnahmen spielte die Furcht vor Hungerunruhen eine zentrale Rolle, denn die Obrigkeit wurde verantwortlich gemacht für Missernten oder Getreideknappheiten. Allgemeine Unruhe in der Stadt – „die gemain murmelte ser“ – nennt eine Chronik in knapper Form als Grund für das Eingreifen des Nürnberger Rats 1437.12 Während des 16.  Jahrhunderts und besonders dessen zweiter Hälfte dürfte ein neuerlicher stärkerer Preisanstieg zu verzeichnen gewesen sein, doch lässt sich zu seiner Berechnung ein stimmiger Warenkorb aufgrund der Überlieferungssituation nicht mehr erstellen. Häufig findet zu solchen Zwecken der Getreidepreis Verwendung, doch bildet er angesichts des stark witterungsabhängigen Erntevolumens nur einen Indikator – wenngleich einen wichtigen – für die Einschätzung der Lebenshaltungskosten. Eine ausschließliche Korrelation zwischen Getreidepreisen und Einkommen war 11 Chronik Deichsler, S. 149, 151, 153 f., 176 f., 286, 290, 315 f., 368. Heinrich Deichsler’s Chronik 1488– 1506, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 11 (Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg, 5), Leipzig 1874, ND Göttingen 1961, S. 545–706, hier S. 634–636. Zu Deichsler vgl. Joachim Schneider: Heinrich Deichsler und die Nürnberger Chronistik des 15.  Jahrhunderts (Wissensliteratur im Mittelalter, 5), Wiesbaden 1991. 1438 brannte zudem in Nürnberg die Neue Mühle mit erheblichen Korn- und Mehlvorräten ab; Endres Tucher’s Memorial 1421 bis 1440, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 2 (Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg, 2) Leipzig 1864, ND Göttingen 1961, S. 9–30, hier S. 29. Müllner: Annalen, III, S. 233, 383, 415, 438, 619, 628, 648, 696. 12 Müllner: Annalen, III, S. 421, 429, 619. Kommunale Bevorratung mit Schmalz ebd., S. 500. Chronik aus Kaiser Sigmund’s Zeit bis 1434 mit Fortsetzung bis 1441, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16.  Jahrhundert, 1 (Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg, 1), Leipzig 1862, ND Göttingen 1961, S. 344–414, hier S. 398.

17

Einleitung

und ist problematisch, aber zum Aufzeigen von Tendenzen wohl dennoch unumgänglich. Besser eignet sich die von Knut Schulz vorgeschlagene Nahrungsmittelkombination von 50 Prozent Getreide, je 20 Prozent Eiweiß und Fetten sowie zehn Prozent Wein, doch stehen dem erhebliche Probleme bei der Ermittlung der jeweiligen Preisspannen im Jahresverlauf entgegen; zudem gilt es, die Kosten beispielsweise für weitere Getränke, für Bekleidung, den Unterhalt des Hauses oder die Mietzahlungen und die Heizkosten mitzuberücksichtigen.13 Klimatisch uneinheitlich gestalteten sich das weitere 14. und das 15. Jahrhundert sowie die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Das Jahrzehnt ab 1450 gilt gleichfalls als kühl, während in den beiden folgenden Dezennien die Temperaturen wieder anstiegen, bevor zwischen 1481 und 1490 erneut ein Rückgang zu verzeichnen war. Der Augsburger Burkard Zink notierte für 1446/47: „Item es hueb an zu regnen am hörbst und regnet also teglich biß nach sant Martins tag, und hueb darnach an zu schneihen und viel ain schnee über den andern. Und nach weihennechten kam ain würme in den schnee und zergieng aller auf den äckern; und als der schnee hin was, da lag es überall voller frösch uff den äckern, die frösch waren in dem regen herab kommen. Und desselben mals waren lützel meus in den äckern, sie waren all ertrunken in dem regen.“14

Von einer sich anschließenden schlechten Ernte berichtete Zink aber nicht. Für den Abend des 12. September 1448 erwähnte er einen Hagelschauer mit Körnern größer als Hühnereiern, der überwiegend Gartenfrüchte und Obst vernichtete, aber auch Dächer durchschlug und Kirchenfenster zerbrach. 1463 fraßen dann in und um Augsburg Würmer die Obstbäume kahl, sodass diese Ernährungsvariante ausfiel; das ungleich wichtigere Getreide konnte hingegen in großen Mengen eingebracht werden und galt als preiswert. Fünf 13 Rainer Gömmel: Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 46). München 1998, S. 66. Ulf Dirlmeier: Zu Arbeitsbedingungen und Löhnen von Bauhandwerkern im Spätmittelalter, in: Rainer S. Elkar (Hg.): Deutsches Handwerk in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Sozialgeschichte – Volkskunde – Literaturgeschichte (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 9), Göttingen 1983, S. 35–54, hier S. 54. Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning: Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 1: 800 bis 1750, Paderborn 21985, S. 183 f. Schulz: Handwerksgesellen, S. 436. Vgl. mit quantitativen Annäherungen Hildegard Weiß: Lebenshaltung und Vermögensbildung des „Mittleren“ Bürgertums. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Reichsstadt Nürnberg zwischen 1400–1600 (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft, Reihe B, 14), Nürnberg 1980, S. 112–114. 14 Chronik Zink, S. 182. Vgl. Glaser: Klimageschichte, S. 70, 82, 87, 91.

18

Klimaeinflüsse

Jahre später, 1468, wusste Müllner für Nürnberg und Teile Frankens erneut von Misswuchs zu berichten: „Die Witterung ist dies Jahr seher bös und ein kühler, nasser Summer gewest, also daß viel Getreid nit zeitig worden, und das Zeitige hat man nit können einbringen, sondern ist auf dem Feld ausgewachsen und etlichs gar ertrunken. Vil Felder hat man des langwürigen Regens und Gewässers halb gar nicht besämen können, das Futter ist auf den Wiesen verfaulet, daß man dessen wenig einbracht. Die Obst- und Baumfrücht sein des wenigen Teils zeitig geworden.“15

Einen gravierenden Einbruch verursachte schließlich die Klimaverschlechterung der wohl gegen 1560 beginnenden und um 1580 verstärkt einsetzenden „Kleinen Eiszeit“. Am stärksten betraf diese Entwicklung landwirtschaftlich genutzte Böden mit einer ohnehin schon ungünstigen Aussaat-Ernte-Relation, also vorwiegend diejenigen in den Mittelgebirgsregionen. Getreidemissernten mussten schon um 1570 verzeichnet werden, und vor allem in den Jahren von 1569 bis 1573 häufte sich der Hunger massiv. Währenddessen zählten Großbauern sowie adlige, geistliche oder bürgerliche Inhaber von landwirtschaftlichen Großbetrieben wie auch sonst in derartigen Krisenzeiten zu den Gewinnern, denn sie konnten ihre zwar weniger gewordenen, aber dafür deutlich teureren Überschüsse veräußern. Zahlreiche in der älteren Forschung dem 14.  Jahrhundert zugeschriebene Auflassungen von Höfen und Siedlungen (Wüstungen) erweisen sich auf Basis jüngerer Forschungen erst als eine Folge dieser Klimaverschlechterung und vor allem des Dreißigjährigen Kriegs. Während des 16.  Jahrhunderts als der zweiten Phase des Landesausbaus waren zuvor in größerem Umfang im 14. und 15. Jahrhundert aufgegebene Böden wieder unter den Pflug genommen worden.16 Zugleich dürfte diese Klimaverschlechterung durch die Verknappung der natürlichen Ressourcen zu erheblichen sozialen Veränderungen geführt oder vorhandene Tendenzen zumindest verschärft haben: Zunächst einmal wuchs die Zahl der als unehrlich eingestuften Berufe deutlich an, wenn15 Müllner: Annalen II, S. 577. 16 Pfister: Bevölkerungsgeschichte, S. 10–14, 73–76. Zu ausgeprägten Versorgungskrisen bzw. Hungersnöten vgl. Jütte: Teuerungen, S. 226. Landsteiner: Brot, S. 96–115. Manfred Jabukowski-Tiessen: Die Auswirkungen der „Kleinen Eiszeit“ auf die Landwirtschaft: Die Krise von 1570, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 58 (2010), S. 31–50, hier S. 32 f. Vgl. auch Helmut Hildebrandt/ Martin Gudd: Getreidebau, Missernten und Witterung im südwestlichen Unteren Vogelsberg und dem angrenzenden Vorland während des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde, N. F. 49 (1991), S. 85–146; sowie Behringer: Eiszeit, S. 437 f.

19

Einleitung

gleich mit regionalen Unterschieden. Ferner erfolgten die striktere Abgrenzung einer steigenden Anzahl von Randgruppen sowie eine verstärkte Kriminalisierung von Delikten und Tätern. Die von Richard van Dülmen als „Theater des Schreckens“ charakterisierten, öffentlich inszenierten Hinrichtungen gehörten gleichfalls der Frühen Neuzeit an; ebenso hatte das Ausmaß der am Ende des 16.  Jahrhunderts massiv einsetzenden Hexenverfolgungen und -prozesse eine Ursache in diesem Negativtrend.17 Damit erweist sich dieses Phänomen, das gerne als Beispiel für ein angeblich finsteres, rückständiges Mittelalter herangezogen wird, als eine Erscheinung der Neuzeit, zumal die Hexenlehre erst am Ende des 15. Jahrhunderts ihre volle Ausformung erfahren hatte. Weiterhin wuchsen nicht nur in den Alpen die Gletscher vor allem zwischen 1570 und 1620 wieder rapide an. Allerdings kam es auch noch danach, mit Höchstständen um 1700 sowie um 1859/60, zu einem Wachstum der Gletscher, deren Rückgang in den letzten Jahrzehnten die gegenwärtigen Diskussionen so stark prägt. Extrem kalt sollten die Winter der Jahre 1695 und 1697 werden, in denen sich beispielsweise auf Donau, Rhein und Elbe dicke Eisschichten bildeten. Gerade im Alpengebiet reduzierte sich die Vegetationszeit drastisch, was auch zu einem Einbruch der Milchproduktion führte.

Bevölkerungsentwicklung Während der Spätantike und des Frühmittelalters sank die Bevölkerungszahl in Europa deutlich, verstärkt durch die seit der Mitte des 6. Jahrhunderts auftretende „Justinianische Pest“, sodass für die Mitte des folgenden Säkulums die Bevölkerung Europas auf nur noch etwa 18 Millionen Köpfe geschätzt wird. Anschließend an diesen lang andauernden Transformationsprozess ist eine erste leichte Erholung zu vermuten. Ein deutlicher, wenngleich keinesfalls mit der stürmischen Entwicklung des 19.  Jahrhunderts vergleichbarer Anstieg erfolgte dann seit dem 10.  Jahrhundert, und für die erste Jahrtausendwende wird die Bevölkerungszahl für Europa mit 38,5 Millionen ange17 Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 1985. Vgl. u. a. Wolfgang v. Hippel: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 34), München 1995, S. 32–44, 88–101. Robert v. Friedeburg: Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 62), München 2002, S. 23 f., 69–72. Ernst Schubert: Räuber, Henker, arme Sünder. Verbrechen und Strafe im Mittelalter, Darmstadt 2007; trotz des Titels liegt ein Schwerpunkt auf dem 16. Jahrhundert.

20

Bevölkerungsentwicklung

geben. Allerdings beruhen alle diese Zahlenangaben auf Schätzungen, mögliche Abweichungen um ungefähr einem Fünftel nach oben oder unten müssen stets einkalkuliert werden. 1340 belief sich die Bevölkerung auf eine Zahl von ungefähr 73,5 Millionen Menschen, doch dürfte der Höchstwert bereits im ersten Jahrzehnt des 14.  Jahrhunderts erreicht worden sein, bevor im zweiten Dezennium die europaweite Hungersnot eine Vielzahl von Toten forderte. Eine zeitlich parallele Wärmephase begleitete das Bevölkerungswachstum bzw. leitete es vielleicht sogar maßgeblich ein. Dabei erfolgte der Bevölkerungsanstieg vom Ende des 10. bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts regional wie überregional ungleichmäßig, denn vor allem West- und Mitteleuropa wiesen hohe Wachstumsraten auf – hier verdreifachte sich in etwa die Einwohnerschaft während dieser Zeitspanne. Das zuvor dominierende Südeuropa musste sich dagegen mit geringeren Wachstumszahlen begnügen. Zu einem drastischen Einbruch führte schließlich die 1347/51 wütende Pest, welcher schätzungsweise ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel. Dagegen kostete der Zweite Weltkrieg „gerade einmal“ etwa fünf Prozent der Einwohner Europas das Leben. Daneben muss für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit, aber auch die Zeiten davor und danach, von einer hohen Kinder- und Säuglingssterblichkeit ausgegangen werden, denn etwa ein Viertel bis ein Drittel der Allerjüngsten überlebte schon das erste Lebensjahr nicht. Für 1500 werden Bevölkerungszahlen von 50 Millionen oder auch 84 Millionen Menschen vorgeschlagen, was die immensen Unsicherheiten derartiger rückblickender Schätzungen verdeutlicht.18 Tendenziell seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert, vielleicht schon seit dessen Jahrhundertmitte, und nochmals verstärkt im folgenden Jahrhundert lässt sich wieder ein Bevölkerungswachstum erkennen, wobei dessen Quantifizierung aufgrund der unzureichenden Quellenbasis schwierig bleibt. Erst die im späten 16. Jahrhundert zunächst vereinzelt einsetzenden Kirchenbücher mit ihren Aufzeichnungen von Geburts- und Sterbedaten bildeten hinfort zumindest ansatzweise eine Grundlage für die historische Demografie. Für die Kameralisten des 17. und 18.  Jahrhunderts galt Bevölkerungswachstum jedenfalls als die zentrale Voraussetzung für Wirtschaftswachstum; eine systematischere Peuplierungspolitik verfolgten daher etliche Territorialherren nach 18 Die Zahlenangaben folgen J. C. Russel: Die Bevölkerung Europas 500–1500, in: Carlo M. Cipolla/ Knut Borchardt (Hg.): Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1: Das Mittelalter, dt. Stuttgart/New York 1978, S. 13–43, hier S. 21. Den hohen Wert für 1500 errechnet Massimo Livi Bacci: Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte, München 1999, S.  18  f. Vgl. zum Hochmittelalter Herrmann: Zugänge, S. 70.

21

Einleitung

dem Dreißigjährigen Krieg. Wachstumslimitierend wirkte sich jedoch bereits vor dem Dreißigjährigen Krieg die Klimaverschlechterung der wohl gegen 1580 massiv einsetzenden „Kleinen Eiszeit“ aus.19 Den Dreißigjährigen Krieg selbst begleitete ein drastischer Bevölkerungseinbruch, der allerdings regional wiederum große Unterschiede aufwies. So blieb beispielsweise Hamburg von den Kriegshandlungen verschont, und die Kommune legte als Hafenstadt in diesen Jahrzehnten die Basis für den folgenden Aufstieg. Auch Köln entfaltete gerade während dieser Auseinandersetzungen umfangreiche Aktivitäten als Drehscheibe des Waffenhandels und Umschlagplatz weiterer kriegsnotwendiger Waren und Produkte, welche alle kriegsbeteiligten Parteien von dort bezogen. Dagegen erwiesen sich seit den 1630er-Jahren weite Teile Frankens und Bayerns als ebenso schwer getroffen wie Hessen, Thüringen, das Elsass, die Kurpfalz oder etliche Regionen in Württemberg. Dabei starben die Menschen weniger aufgrund direkter Kriegshandlungen, sondern vielmehr an deren Begleiterscheinungen und Folgen wie der Verwüstung der Felder und Äcker, dem Raub des Viehs sowie dem gehäuften Auftreten von Epidemien wie der Pest vor allem in den 1630er-Jahren.

Oberflächenstruktur Geomorphologische Umgestaltungen lassen sich grundsätzlich in drei Kategorien einteilen: Erstens sind Veränderungen der Landesnatur zu nennen, die ohne jeglichen Einfluss des Menschen verlaufen sind – so wurden etwa die Britischen Inseln erst vor gut 9000 Jahren nach dem Ende der letzten Eiszeit vom europäischen Kontinent getrennt. Zweitens begegnen uns durch direkte menschliche Einwirkung verursachte Entwicklungen. Schließlich sind drittens indirekte und damit nicht intendierte Eingriffe des Menschen aufzuführen, die dennoch langfristig erhebliche Auswirkungen haben können. Freilich wirkten und wirken diese Stränge auf mannigfaltige Weise zusammen, ohne dass sich ein derartiges Ineinandergreifen und die jeweiligen Rückkopplungen stets mit hinreichender Genauigkeit trennen ließen.20 Tief in das Gedächtnis eingegraben haben sich in erster Linie die großen Überflutungen, während beispielsweise Stadtbrände auf Gewitter oder auch auf 19 Pfister: Bevölkerungsgeschichte, S. 10–14, 73–76. 20 Jäger, Helmut: Einführung in die Umweltgeschichte, Darmstadt 1994, S. 6–8. Vgl. Stephan: Solling: S. 423 f.; die zahlreichen dortigen Wüstungen können durchaus in enger Verbindung zur Jahrtausendflut stehen, ohne dass dieser Bezug in dem angeführten Band explizit hergestellt wird.

22

Oberflächenstruktur

menschliche Einflüsse – beabsichtigt oder zumeist wohl eher nicht – zurückzuführen sind. Ein eindrucksvolles Beispiel für Überschwemmungen bietet jene Katastrophe, die sich kurz vor der Mitte des 14. Jahrhunderts ereignete: die Magdalenenflut. Wie jüngere Untersuchungen nahelegen, waren beispielsweise Teile des Spessart und Solling noch im frühen 14.  Jahrhundert waldarme und mit fruchtbaren Böden begünstigte Landschaften. Sie wurden während der verheerenden Magdalenenflut des Jahres 1342 großflächig ausgeschwemmt, erst als Folge der Jahrtausendflut entstanden in diesen Gebieten von Eichen und Buchen geprägte Waldlandschaften. Die Magdalenenflut dürfte allein in Deutschland etwa 13 Milliarden Tonnen Boden abgetragen haben, zwischen 1313 und 1348 belief sich die Gesamtsumme auf etwa 34 Milliarden Tonnen Boden, zumal die Starkregen eben nicht nur die Ackerkrume fortschwemmten, sondern die Landschaftsoberfläche weiträumig veränderten. Auch zahlreiche Orte vor allem an Main, Neckar, Rhein (unterhalb von Mainz), Werra, Fulda, Elbe und Donau wurden durch das Hochwasser verheert, das am 19. und 20. Juli 1342 zunächst in Mittel- und Oberfranken katastrophale Schäden anrichtete. Noch am 20. Juli erreichten die Fluten Frankfurt am Main – wo der Main mit 7,85 Metern über dem Nullpunkt des städtischen Pegels den höchsten je bekannten Stand erreichte – und am 24. Juli schließlich die Niederlande. Zahlreiche Flüsse verzeichneten in diesem Jahr den höchsten Wasserstand des letzten Jahrtausends, vielleicht sogar des Holozäns, wobei die abfließenden Wassermassen nach groben Schätzungen die großen Fluten am Ende des 20. Jahrhunderts und im frühen 21. Jahrhundert um das Zehn- bis Hundertfache übertrafen. Zumindest bis zum Ende des 17. Jahrhunderts sollten danach nur noch vergleichsweise schwache großflächige Erosionen folgen.21 Als Folge der Überschwemmungen stellte sich wieder einmal eine schwere Hungersnot nicht nur in Franken und in Hessen ein, und angesichts der mangelhaften Infrastruktur und der beschränkten Transportmöglichkeiten der Zeit gab es kaum Chancen, die zwar regional begrenzte, aber dennoch gravierende Notsituation durch Getreideeinfuhren aus nicht betroffenen Gebieten zu mindern. Dabei handelt es sich allerdings um ein für das ­Mittelalter und die Frühe Neuzeit typisches Problem. 21 Hans-Rudolf Bork/Arno Beyer/Annegret Kranz: Der 1000-jährige Niederschlag des Jahres 1342 und seine Folgen in Mitteleuropa, in: Daim/Gronenborn/Schreg (Hg.): Strategien, S.  231–242, hier S.  235  f. Hans-Rudolf Bork u. a.: Landschaftsentwicklung in Mitteleuropa. Wirkungen des Menschen auf Landschaften, Gotha 1998, S.  230, 242, 244, 253. Hans-Rudolf Bork: Landschaften der Erde unter dem Einfluss des Menschen, Darmstadt 2006, S. 120 f.

23

Einleitung

Johannes Müllner berichtete für 1445, in diesem Jahr habe das Wasser so hoch gestanden, dass sich niemand an einen höheren Stand habe erinnern können. Auch im Umland seien zahlreiche Stege und Brücken ebenso wie viele Mühlwerke von den Fluten zerstört worden. Ausdrücklich betonte er, dass für einige Tage kein Weißbrot erhältlich gewesen sei, eine wohl nur für die Oberschicht schmerzhafte Erinnerung. Das Wasser in den Kellern habe die eingelagerten Vorräte an Wein und Bier ebenso wie andere Lebensmittel und Handelsgüter verdorben. In etlichen Gassen sei das Wasser über den Köpfen der Pferde zusammengeschlagen und die Wagen seien geschwommen.22 Wieder fiel die Ernte buchstäblich ins Wasser, und derartige Hungersnöte sollten ein steter Begleiter der europäischen Bevölkerung bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bleiben. Uferschutzbauten wie beispielsweise in Innsbruck (Archen), begonnen im letzten Jahrzehnt des 13.  Jahrhunderts, sind abseits der Küstenregionen nur spärlich belegt. Der menschliche Einfluss auf derartige Katastrophen oder, genauer gesagt, auf derartige Naturereignisse dürfte, falls überhaupt messbar, noch sehr gering gewesen sein. Auch Erdbeben bildeten im Spätmittelalter keine unbekannten Größen. Zu nennen ist nicht zuletzt das Beben von 1348 mit dem Zentrum in Österreich und jenes von 1356, welches weite Teile Basels zerstörte. Der Basler Chronist Heinrich von Dissenhofen versicherte, alle Kirchen mit Ausnahme des Dominikanerklosters und der Johanniterkapelle, beide bezeichnenderweise in der Vorstadt gelegen, seien bereits beim ersten Ausbruch des Bebens am 18. Oktober 1356 eingestürzt, während ein Anonymus im „Roten Buch“ notierte, dass zunächst die Steinbauten und die Wohntürme in der Innenstadt und den Vorstädten größtenteils zerstört worden seien, während die Fachwerkhäuser aufgrund ihrer elastischeren Bauweise besser standhielten. Dennoch nutzte dies wenig, fiel doch der Rest der Bauten nahezu ausnahmslos dem anschließenden Großfeuer zum Opfer, welches zehn Tage lang ­w ütete, gefolgt von einem Nachbeben am 28. Dezember des Jahres.23 Nur vage äußern sich die Chronisten über die Zahl der Opfer. So vermerkte der Straßburger Fritsche Closener nur lapidar, „vil ludes und vihes“ seien verdorben. Andere berichteten von über 300 oder mehr als 1 500 Toten, wobei grundsätzlich festzuhalten ist, dass präzise Angaben zu Bevölkerungsoder Opferzahlen nicht nur im Mittelalter eine Ausnahme bildeten. Wie die 22 Müllner: Annalen, II, S. 374 f. 23 Gerhard Fouquet/Gabriel Zeilinger: Katastrophen im Mittelalter, Darmstadt/Mainz 2011, S. 58–73. Gerhard Fouquet: Das Erdbeben in Basel 1356 – für eine Kulturgeschichte der Katastrophen, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 103 (2003), S. 31–49.

24

Oberflächenstruktur

Zeitgenossen auf das Erdbeben reagierten, bleibt ebenfalls unbekannt. Noch die Äußerungen des 15.  Jahrhunderts fallen keinesfalls eindeutig aus: Für Enea Silvio Piccolomini, den späteren Papst Pius II., kam das Erdbeben in seiner Beschreibung Basels von 1438 einer Neugründung der Stadt gleich, denn es gebe kein Zeichen von Alter innerhalb der Mauern der seinerzeitigen Konzilsstadt. Doch ihm verstellte wohl das Städtelob den Blick. Thomas Ebendorfer, der von 1432 bis 1435 als Gesandter der Wiener Universität in Basel lebte, sprach durchaus von Erdbebenschäden, die noch zu Zeiten des dortigen Konzils (1431–1449) vielerorts in der Stadt sichtbar waren. Vor allem geistliche Zeitgenossen neigten dazu, sämtliche Katastrophen mit religiösen Motiven zu erklären: Gott sprach derart aus oder mit der Natur. So deutete der Franziskaner Jean de Roquetaillade den infolge des Erdbebens ausgebrochenen Basler Großbrand als ein den Eingeweiden der Erde entströmendes, wunderbares Feuer, dem höllischen Inferno ähnlich. Doch trafen die gött­ lichen Kollektivstrafen – und auch die Pest galt als Strafe Gottes – unterschiedslos alle, Kleriker wie Laien, Sünder wie Fromme, was ein kaum lös­ bares Problem für derartige Interpretationsansätze bildete. Weiterhin sahen manche dies alles auch als Vorzeichen des nahenden Weltendes. An der Nordseeküste blieben die Sturmfluten gefürchtet, die erst das 19.  Jahrhundert als Manntränken bezeichnete und damit dämonisierte. Gegen sie vermochten selbst die Deiche, die im Küstenbereich wohl seit dem 11. Jahrhundert errichtet wurden – umfangreiche Maßnahmen begannen in Flandern im 12.  Jahrhundert –, aufgrund der seinerzeitigen technischen Möglichkeiten wenig bis nichts auszurichten. Bereits bis 1164 hatten die Küstenbewohner die Eindeichung und damit die Kultivierung von Land insbesondere in den Niederen Landen, also dem Gebiet der heutigen Niederlande und Belgiens, allerdings so weit vorangetrieben, dass weitaus mehr Menschen in Küstennähe lebten als je zuvor – Menschen, die erst aufgrund der Landgewinnungsmaßnahmen den Fluten zum Opfer fallen konnten. Dies mag als Beleg für eine gewisse Janusköpfigkeit des Fortschritts gelten. Am bekanntesten sind die Julianenflut vom 1. Februar 1164 und die Marcellusflut vom 16. Januar 1362, die aber entgegen dem Heilgentag eventuell erst am 8./9. Oktober 1362 und damit ein gutes halbes Jahr später die Küsten­ gebiete verheerte. Diese und weitere Überflutungen führten erst in diesem Zeitraum zu der Entstehung des Jadebusens und des Dollarts; Sylt und Föhr wurden jetzt zu Inseln. Gerade für das 14. Jahrhundert sind zahlreiche Orkane und Sturmfluten zu verzeichnen. Für die Pölder Annalen war die Julianenflut des Jahres 1164 Sturm- und Sintflut zugleich. Drei Tage lang habe die Flut Menschen und Vieh ertränkt, 25

Einleitung

Dörfer und Inseln unter sich begraben. Ausschmückend ist wohl jener der alttestamentarischen Überlieferung entnommene Zusatz, wonach die Leichen zwar noch 20 Meilen vom Ufer entfernt gefunden worden seien, die Überlebenden aber Säuglinge aus den Wiegen hätten retten können. Zumeist erwähnten die Chronisten im zeitlichen Vorfeld der Naturkatastrophen wundersame Zeichen am Himmel – ein unheilverkündender Komet durfte trotz seiner damals grundsätzlich ambivalenten Deutung kaum fehlen – oder konkreter in den Wolken. Helmold von Bosau berichtete von großem Unwetter, von heftigen Stürmen, grellen Blitzen sowie krachendem Donner, von einer Überschwemmung der Küsten von Friesland und Hadeln sowie des gesamten Marschlandes an Elbe, Weser und den übrigen Flüssen der Region. Toposhaft schloss Helmold: „Wie viele Reiche, wie viele Mächtige saßen abends noch, schwelgten im Vergnügen und fürchteten kein Unheil, da aber kam plötzlich das Verderben und stürzte sie mitten ins Meer.“24 Nach 1334, also noch vor der Marcellusflut, fanden etliche der ostfriesischen Inseln erstmals in Schriftzeugnissen Erwähnung, vermutlich als eine Folge der Sturmflut ebendieses Jahres. Die Insel Helgoland dürfte um das Jahr 800 noch etwa 60 Kilometer breit gewesen sein und schrumpfte bis etwa 1340 auf ca. 25 Kilometer; heute misst Helgoland an der breitesten Stelle gerade einmal anderthalb Kilometer. Letztlich wirkten sich aber derartige Naturkatastrophen – mit Ausnahme der häufig vorkommenden Sturm- und Hagelschäden und der durch sie vernichteten Ernte – auf die demografische Entwicklung schon mittelfristig kaum aus. Als fremdartig erscheinende Naturkatastrophe sind schließlich noch Heuschreckenschwärme zu nennen, die im 14. Jahrhundert selbst Mitteleuropa massiv heimsuchten: Erfurter Quellen berichten, dass in Würzburg und dessen Umgebung im Jahre 1338 Heuschrecken von erstaunlicher Größe eingefallen seien, welche die Frucht abfraßen, die Weinberge jedoch verschont ließen. Über einigen Städten bedeckten sie den Himmel derart, dass die Sonne nicht mehr zu sehen gewesen sei. Die Heuschrecken zogen von Südosteuropa über Bayern und Schwaben bis ins Rheinland, ehe ihnen ein früher Schneeeinbruch Mitte Oktober den Garaus machte. Der Wetterumschwung seinerseits schädigte aber wiederum Weintrauben und Obstbäume, sodass quasi zwei Katastrophen einander ablösten. Karl von Mähren, der spätere König Karl IV., berichtete für 1338, dass er von einem zu24 Helmold von Bosau: Slawenchronik, S. 338 f. Dirk Meier: Land unter! Die Geschichte der Flutkatastrophen, Ostfildern 2005.

26

Geldwesen

tiefst erschrockenen Ritter der Begleitmannschaft geweckt worden war, der das Ende der Welt, den Jüngsten Tag, heraufziehen zu sehen meinte, als Heuschrecken den Himmel bedeckten. Wiederum sei die Sonne nicht zu sehen gewesen und von dem schier endlos großen Schwarm sei ein fürchterlicher Gestank ausgegangen. Auch für die folgenden Jahre 1339 und 1340 sind massive Heuschreckeneinfälle belegt.25

Geldwesen Auch wenn die Münzprägung nach dem Ende des Weströmischen Reichs zurückging, lässt sich der frühmittelalterliche Handel keinesfalls als eine Tauschwirtschaft charakterisieren. Geld spielte, wenngleich mit Abstrichen, unverändert eine gewichtige Rolle, doch unterschied sich das mittelalterliche Geldwesen von unserem gravierend. Schon deswegen und weil eine Wirtschaftsgeschichte nicht zu schreiben ist, ohne Geld und Münzwesen einzubeziehen, stellen wir einige Bemerkungen hierzu voran.26 Unter den Merowingerherrschern fand zunächst noch unverändert die Prägung von Goldmünzen in römischer Tradition statt, wenngleich später mit verändertem Münzbild. Im 7. und verstärkt im 8.  Jahrhundert ließen dann zahlreiche Münzmeister in Eigenregie Geldstücke schlagen, womit das einheitliche Münzwesen vorerst ein Ende fand. Zudem lösten Silbermünzen die Goldprägungen seit der Mitte des 7.  Jahrhunderts zunächst in England und in Skandinavien, dann auch im Fränkischen Reich ab; in Byzanz liefen die Goldprägungen dagegen ununterbrochen weiter. Die Bemühungen zur erneuten Vereinheitlichung des Münzwesens gipfelten schließlich in den Frankfurter Beschlüssen des Jahres 794, mit denen Karl der Große unter Zustimmung der Großen die königliche Münzhoheit vorerst wieder durchsetzte; geschlagen wurden im Frankenreich aber nunmehr ausschließlich Silbermünzen. Das 794 festgelegte Zählsystem sollte für Jahrhunderte Bestand haben: Ein Pfund (libra lb) entsprach 20 Schilling (solidus, ß) bzw. 240 Pfennigen (denar, d), von denen aber nur die Pfennigmünzen ausgeprägt wurden. Das Gewicht der Pfennige legte die Versammlung auf – in unser 25 Glaser: Klimageschichte, S. 65 f. Karl IV. Selbstbiographie, Hanau 1979, S. 94–97. 26 Zum Folgenden vgl. Michael North: Das Geld und seine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1994. Ders. (Hg.): Aktie. Bernd Sprenger: Das Geld der Deutschen. Geldgeschichte Deutschlands von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3., aktualisierte u. erw. Aufl. Paderborn u. a. 2002. Peter Spufford: Money and its use in medieval Europe, Cambridge u. a. 1988.

27

Einleitung

Gewichtssystem umgerechnet – je 1,701 Gramm fest. Diese Festlegung senkte die Transaktionskosten durch den Wegfall komplexer Umrechnungen zwischen verschiedenen Münzen mit variierendem Gewicht und Feingehalt. Bei den Schillingen handelte es sich zunächst um eine reine Zähleinheit (12 Pfennige), während das Pfund als Gewichtspfund Verwendung fand, denn aus einem Pfund Silber (etwa 408 Gramm) sollten ebendiese 240 Pfennige geschlagen werden.27 Die seit dem späten 9. Jahrhundert einsetzenden Verleihungen von Münzrechten an regionale und lokale Herren führten in den nächsten beiden Jahrhunderten zu einer Aufsplitterung des Münzwesens, denn regional oder sogar nur lokal gültige Pfennigmünzen bestimmten nunmehr den Geldverkehr. Zudem sanken das Gewicht und der Feingehalt der Prägungen zum Teil deutlich, weshalb solche Münzen nur noch einseitig gestempelt werden konnten, als Brakteaten oder Hälblinge bezeichnet. In Italien galten in der ersten Hälfte des 12.  Jahrhunderts beispielsweise die Münzen aus Pavia, Verona, Lucca oder Venedig überregional.28 Nördlich der Alpen sind in dieser Hinsicht der relativ wertbeständige Kölner Pfennig ebenso wie der Regensburger Pfennig zu nennen. Von beiden wurden zudem für den täglichen Marktverkehr Hälblinge oder Viertelpfennige ausgebracht, was eine gewisse Bedeutung des Geldwesens in diesen Jahrhunderten unterstreicht. Daneben dienten Barren- und Bruchsilber dem Zahlungsverkehr. Allerdings belastete bis in die Frühe Neuzeit hinein die Ausbringung unterwertiger Münzen den Handel sowie den täglichen Marktverkehr immer wieder massiv, da schlechtes Geld gutes Geld verdrängt (sogenanntes Gresham’sches Gesetz), die höherwertigen Münzen also, wenn möglich, gehortet oder wieder eingeschmolzen wurden. Denn die zahlreichen Münzverrufungen der weltlichen und geistlichen Regalinhaber, mittels derer die regionale Münze verboten und eingezogen wurde, hatten in der Regel zum Ziel, anschließend Münzen mit niedrigerem Silbergehalt und Gewicht, aber gleichem Nominalwert auszugeben. Dieses Vorgehen führte in vielen Fällen schon mittelfristig zu Abwertungen. Spätestens im Spätmittelalter erfuhr es massive theoretische Kritik. Als im 12. Jahrhundert eine Ausweitung des Handels einsetzte, begleitet von einer Monetarisierung des geschäftlichen Lebens sowie des Alltags, 27 Harald Witthöft: Münzfuß, Kleingewicht, pondus Caroli und die Grundlegung des nordeuropäischen Maß- und Gewichtswesens in fränkischer Zeit (Sachüberlieferung und Geschichte, 1), St. Katharinen 1984. 28 Alfred Haverkamp: Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien, Tl. II (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 1, II), Stuttgart 1971, S. 562.

28

Geldwesen

g­ enügten schließlich die Pfennigmünzen nicht mehr. Zunächst ließ Venedig am Ende des 12. Jahrhunderts die Grossi (2,19 Gramm; Groschen) als Pfennigvielfache prägen, gefolgt von Genua, weiteren oberitalienischen Städten und Tirol. Für England sind die Sterlingmünzen zu nennen, in Frankreich ließ Ludwig IX. erstmals 1266 Tournosen schlagen (4,22 Gramm), die in den Niederen Landen und im Rheingebiet vielfach Nachahmung fanden. Im Reich nördlich der Alpen zielte Friedrich I. Barbarossa wieder auf eine königliche Münzpolitik und ließ neben den neun bestehenden wahrscheinlich zwölf neue herrschaftliche Münzstätten gründen. Doch konnten auf Dauer die Territorialherren ihre Münzhoheit gegenüber den Herrschern durchsetzen.29 Die wohl noch vor 1200 aufgenommene königliche Hellerprägung, benannt nach der Münzstätte (Schwäbisch) Hall, einem wichtigen staufischen Stützpunkt, erwies sich dagegen als Erfolg. Gerade einmal 0,6 Gramm wogen die Münzen, ihr Silbergehalt betrug die Hälfte oder lag etwas darüber. Um 1220/30 stieg die Zahl der dort geschlagenen Münzen deutlich an, ihr Umlaufgebiet wuchs schnell. Wenn Speyer seine Pfennigmünzen bereits 1238 an dem Wert von zwei Hellern orientierte, zeigt dies den zügigen Bedeutungsgewinn der neuen Münze. Die Pfennig-Heller-Relation von eins zu zwei begegnet noch in den folgenden Jahrhunderten häufig. Wie sich die rasche Verbreitung des Hellers erklären lässt, muss aber letztlich aufgrund fehlender Überlieferung offen bleiben. Sicherlich eignete sich der Heller als Kleinmünze für die alltäglichen Geschäfte, dazu trat die grundsätzlich hohe Nachfrage nach Bargeld, denn längst nicht alle Münzstätten konnten den steigenden Bedarf decken. Auch behielt der Heller bis in die zweite Hälfte des 13.  Jahrhunderts hinein sein Gewicht bei und galt als wertstabil. Im Reichsgebiet setzte sich zudem während des 13. Jahrhunderts nach und nach die Kölner Mark mit einem Gewicht von knapp 234 Gramm (normiert 233,812 Gramm, Bandbreite 229 bis 235 Gramm) als Münzgrundgewicht anstelle des Pfunds durch, was aber erst in den Reichsmünzordnungen des 16.  Jahrhunderts festgeschrieben wurde. Derartige Normvereinheitlichungen und Leitgewichte ermöglichten weiträumige Vergleiche und die Fest­ legung eigener Münzen in Gewicht und Feingehalt mithilfe konstanter Größen.30 Für den überregionalen Handel bestimmten dagegen Feingehalt und 29 Norbert Kamp: Moneta regis. Königliche Münzstätten und königliche Münzpolitik in der Stauferzeit (MGH-Schriften, 55), Hannover 2006. Zum 14.  Jahrhundert vgl. Hendrik Mäkeler: Reichsmünzwesen im späten Mittelalter, Tl. I: Das 14. Jahrhundert (VSWG-Beihefte, 209), Stuttgart 2010. 30 Harald Witthöft: Die Währung in sich wandelnden Wirtschaftsordnungen im Fränkischen und Deutschen Reich zwischen dem 8. und dem 16./17. Jahrhundert, in: Jürgen Schneider (Hg.): Öffent-

29

Einleitung

Gewicht der Prägungen letztlich den Wert der Münzen, und für ihre Geschäftstätigkeit benötigten insbesondere die Fernkaufleute schon aufgrund der ausgeprägten, heute kaum mehr vorstellbaren Münzvielfalt präzise Kenntnisse über die jeweiligen Währungsverhältnisse. Im 13. Jahrhundert erfolgte eine Renaissance der Goldmünzen, worin die grundlegende Neuerung im Geldwesen des Spätmittelalters zu sehen ist. Seit 1231 ließ zunächst Friedrich II., damit antikem Vorbild folgend, in Brindisi und Messina Goldmünzen aus nordafrikanischem Gold prägen. Diese sogenannten Augustalen gelangten in unbekannter, vermutlich aber großer Anzahl in den Handelskreislauf. Sicherlich dienten die Augustalen der kaiser­ lichen Selbstdarstellung, doch als viel wichtiger erwies sich ihre Funktion im Großhandel vornehmlich zwischen Sizilien und Oberitalien. Hohe Bedeutung für den europäischen Handel sollten dann die 1252 gleichfalls mit Münzmetall aus Nordafrika aufgenommenen Goldprägungen von Florenz (Floren, Gulden) und Genua (Genovino) erlangen, die zudem als Vorbild für weitere Prägungen dienten. Der Genovino wog 3,53 Gramm reines Gold, der Floren ein hundertstel Gramm mehr, wobei das Gewicht der Münzen aufgrund der verfügbaren Prägetechniken ohnehin stets in geringem Umfang differierte. Die vergleichsweise günstige Versorgung mit Gold aus Nordafrika basierte auf den unterschiedlichen Relationen zwischen Gold und Silber in Italien und Nordafrika. Galt in Genua eine Gold-Silber-Relation von acht bis neun zu eins, betrug diese in Tunis nur sechseinhalb zu eins. Eine Einheit Gold entsprach hier mithin deutlich weniger Einheiten Silber als in Italien. Allgemein lagen die Relationen in Europa zwischen eins zu zehn und zwölf, im Maghrebgebiet hingegen bei eins zu sechs bis acht. Allerdings verschärfte der einsetzende Bimetallismus in der Münzprägung die ohnehin schon komplizierten Geldwechselgeschäfte, denn es handelte sich um Parallel­ währungen ohne ein konstantes Wertverhältnis. Wenn im Reich nördlich der Alpen der Heller als Kleinmünze vorerst die wichtigste Neuerung im Geldwesen bildete, während in Italien die Goldprägung einsetzte, verweist dies im Übrigen auf die noch gravierenden wirtschaftlichen Entwicklungsunterschiede nördlich und südlich der Alpen.

30

liches und privates Wirtschaften in sich wandelnden Wirtschaftsordnungen (VSWG Beihefte, 156), Stuttgart 2001, S. 21–52. Harald Witthöft: Die Markgewichte von Köln und von Troyes im Spiegel der Regional- und Reichsgeschichte vom 11. bis ins 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 253 (1991), S.  51–100. Ders.: Die Münzordnungen und das Grundgewicht im Deutschen Reich vom 16. Jahrhundert bis 1871/72, in: Eckart Schremmer (Hg.): Geld- und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart (VSWG Beihefte, 106), Stuttgart 1993, S. 45–67.

Geldwesen

Venedig nahm seine Goldprägung (Dukaten) 1285 mit ungarischem Gold auf, Ungarn wiederum prägte seit 1325 Guldenmünzen, die als wertstabile Münzen weit umliefen, so in größerer Anzahl beispielsweise in Franken mit Nürnberg als dem dortigen Handels- und Produktionszentrum. Erste Versuche in England und Frankreich mussten hingegen wegen fehlender regelmäßiger Goldeinkünfte zunächst wieder aufgegeben werden. Ab 1337 ließ dann die französische Krone den Ecu à la chaise bzw. den Ecu d’or prägen (ca. 4,18 Gramm). Unter der Herrschaft Eduards III. begann in England in den 1350er-Jahren die Prägung des Nobel, einer mit 8,97 Gramm ausgesprochen schweren Münze. Ein nicht unerheblicher Teil des für die Prägung benötigten Goldes entstammte dem Lösegeld, das für den 1356 in der Schlacht bei Maupertuis gefangenen französischen König Johann II. gezahlt wurde. Im Reichsgebiet ließen die rheinischen Kurfürsten ab 1348 nach florentinischem Vorbild Goldmünzen schlagen. 1386 begannen sie die gemeinschaftliche Prägung der rheinischen Gulden (florenus rhenensis, fl. rh.), welche bis in das frühe 16. Jahrhundert hinein den Fernhandel zumindest im Rheingebiet und in Oberdeutschland dominierten und als eine Art Leitwährung fungierten. Die Versuche der Herrscher, eine eigene Reichsguldenproduktion – die sogenannten Apfelgulden – gegen die Interessen der rheinischen Kurfürsten aufzubauen, verliefen hingegen weitgehend im Sande.31 Für den Norden und Nordosten übernahm die lübische (Silber-)Währung eine Leitfunktion. Das Recht zur Goldprägung gestand die Goldene Bulle von 1356 ausschließlich den Kurfürsten zu; außer ihnen verfügte nur noch Lübeck über dieses Privileg (1340), nutzte es aber nur vorübergehend. Um auch einmal konkrete Zahlen zu nennen: Der flandrische Graf Ludwig von Male, nicht dem Reich zugehörig, ließ während seiner knapp 40-jährigen Herrschaft (1346–1384) etwa 15 Millionen Gold- sowie ungefähr 135 Millionen Silbermünzen prägen. Einen tief greifenden Wandel im Münzwesen brachte dann erst wieder das 16.  Jahrhundert, denn das Aufkommen höherwertiger Silbermünzen neben den groschenartigen Silbermünzen führte dazu, dass die Talerprägungen selbst in Oberdeutschland nach 1536 die Guldenmünzen aus ihrer Leitwährungsfunktion verdrängten. Die Bezeichnung Taler fungierte allerdings als Oberbegriff für zahlreiche Großsilbermünzen, deren Wert bei ihrer ersten Prägung dem eines Goldguldens entsprach, was zu einem hohen 31 Vgl. u. a. Joachim Ehlers: Geschichte Frankreichs im Mittelalter, Darmstadt 2009, S. 232, 239. Jürgen Sarnowsky: England im Mittelalter, Darmstadt 2002, S. 226. Joachim Weschke: Die Reichsgoldprägung Deutschlands im Spätmittelalter bis 1450, Diss. Berlin 1955.

31

Einleitung

Gewicht der Münzen führte. Allgemein bezeichnet Michael North die durch die gesteigerte Silberförderung begünstigte Produktion von Großsilbermünzen als Einleitung der geldgeschichtlichen Neuzeit.32 Die seit ca. 1540 ins Spiel kommenden Silbervorkommen der Neuen Welt sollten aber erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das europäische Münzwesen beeinflussen, wobei ihre Auswirkungen auf das Reichsgebiet in der Forschung äußerst umstritten sind. Allerdings drangen seit den 1560er-Jahren über die süd­ lichen Niederlande spanische Philippstaler ins Reichsgebiet vor. Bereits die letzten Jahre des 16. Jahrhunderts kennzeichnete dann eine teils drastische Kleingeldverschlechterung, da den Scheidemünzen steigende Mengen an Kupfer zugefügt wurden. Ihren Gipfel erreichte diese Münzpolitik in der Kipper- und Wipperkrise zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, bevor sich die Währungsverhältnisse ab 1623 wieder stabilisierten. Eng mit dem Geldwesen verbunden erfolgte eine weitere Neuerung, bei der es sich tatsächlich um eine echte Innovation ganz ohne Vorbilder handelte, die langfristige Wirkungen entfaltete: Im Verlauf der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts lassen sich zunächst in Genua Wechselgeschäfte und damit Ansätze zu einem bargeldlosen Zahlungsverkehr erkennen. Diese bestanden im Kern zunächst nur aus dem Versprechen, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine festgelegte Summe Geldes zu zahlen; als Termine fungierten in der Regel bedeutende Märkte oder Messen mit Zahlungszielen von zumeist einem halben oder einem Jahr. Daneben zahlten Kaufleute aber auch Geld bei Wechslern ein, die zum vereinbarten Zeitpunkt die Mittel auf ein weiteres Konto, beispielsweise bei einem anderen Wechsler, transferierten. Gleichfalls für Genua lassen sich Überweisungen zwischen den „Banken“ der Stadt im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts belegen. Mittels der Wechsel konnten nunmehr bei einem nur langsamen Warenumlauf Zeiten mit Bargeldmangel überbrückt werden, denn Wechsel schufen den nötigen zeitlichen Freiraum, um beispielsweise die auf der letzten Messe erworbenen Waren bis zur nächsten abzusetzen. Bank- oder Buchgeld erleichterte mithin den Geldfluss sowie den Handel in erheblichem Maße und erhöhte die einsetzbare Geldmenge deutlich. Hohe Bedeutung bei diesen Zahlungsversprechungen und Abmachungen besaß neben der persönlichen Bekanntschaft der Beteiligten das Vertrauen in den Schuldner und in dessen prinzipielle Zahlungsfähigkeit. Seine volle Wirk-

32 North: Geld (wie Fn. 26), S. 72.

32

Geldwesen

samkeit entfaltete das Instrument allerdings erst, als die Wechsel mittels des Indossaments handelbar wurden, weitere Kaufleute also den gezogenen Wechsel quasi als Bargeld akzeptierten. Die Händler waren nun zumindest teilweise davon entlastet, große Mengen an Gold- und Silbermünzen mit sich zu führen, und ein unterwegs geraubter Wechsel dürfte für den Täter kaum in bare Münze umsetzbar gewesen sein. Schließlich kannten sich Kaufleute und Wechsler zumeist und ein den beteiligten Parteien Unbekannter ohne zusätzliche Legitimation besaß nur geringe Chancen auf den Erhalt der Summe. Zeitlich parallel zu dem weiteren Anwachsen des Wechselverkehrs begannen die Städte zudem, sich untereinander über gestohlene oder geraubte Wechsel zu informieren mit dem Ziel, den jeweiligen Überbringer festzusetzen. Außerhalb Italiens und Flanderns setzten sich die neuen Zahlungstechniken jedoch nur langsam durch, wenngleich Wechsler und Wechselstuben, zunächst sicherlich für den Wechsel von Silbermünzen, im Reichsgebiet nördlich der Alpen bereits für das 12. und 13. Jahrhundert belegt sind.33 Als Vermittler dieser kaufmännischen Praktiken dienten für das westliche Reichsgebiet und die Britischen Inseln vornehmlich die Champagnemessen; oberdeutsche Kaufleute eigneten sich hier die südlich der Alpen entwickelten Techniken an. Insgesamt dürfte der Wechsel im Reich ansatzweise im 14. und deutlich verstärkt im 15. Jahrhundert als Möglichkeit der Giralgeldschöpfung zu einem verbreiteten Finanzierungsinstrument geworden sein. Im hansischen Bereich dominierten dagegen Schuldbriefe bzw. Inhaber-Schuldscheine sowie, in moderner Diktion, Clearing-Konten. Die Kreditzinsen lagen um 1200 und in den Jahrzehnten danach noch sehr hoch. Für Genua sind Jahressätze von 20 Prozent bekannt, ebenso für Venedig, für Florenz nennt die Literatur sogar 22 Prozent. Doch im Lauf des 13. Jahrhunderts sanken die Sätze auf zehn Prozent und teilweise darunter. Diese Tendenz lässt vermuten, dass Kreditgeschäfte in den Städten zunehmend in den Alltag vordrangen. Allerdings beinhaltete der Geldhandel bzw. die Kreditvergabe einen möglichen Konflikt mit dem kanonischen Wucherverbot, wenngleich eine genaue Definition des Wuchers fehlte. Das kanonische Recht beanspruchte jedenfalls gegenüber dem jeweiligen Stadt- oder Landrecht weitreichende Geltung. In der Folge schlossen vertragliche Rege33 Wolfgang v. Stromer: Funktion und Rechtsnatur der Wechselstuben als Banken in Oberdeutschland, den Rheinlanden und den mitteleuropäischen Montanzentren im Spätmittelalter, in: Bankhistorisches Archiv 5 (1979), S. 3–35.

33

Einleitung

lungen oder durch die kommunalen Räte erlassene Stadtrechtsmodifikationen vielfach den Gang an ein kirchliches Gericht aus. Auf diese Weise wollten sie Unwägbarkeiten reduzieren und verhindern, dass eine fremde Gerichtsbarkeit mit ungewissem Ausgang anstelle des eigenen Rechts Gültigkeit beanspruchte. Neben den Juden engagierten sich zunächst Lombarden und Karwertschen – benannt nach dem südfranzösischen Cahors, aber nicht nur von dort stammend – mit kurialer Billigung auf breiter Basis in Geldgeschäften. Im Reich nördlich der Alpen verbanden spätestens in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Münzerhausgenossen (Geldwechslergemeinschaften), die häufig ministerialischer Abstammung waren, die Münzprägung mit dem bei der Vielzahl umlaufender Münzen unabdingbaren Geldwechsel. Als Kreditgeber dürften sie aber wie die Kaufleute vorerst nur vereinzelt in Erscheinung getreten sein.

34

Frühmittelalter

Frühmittelalter

Agrarsektor1 Für das Frühmittelalter, also die Zeit der Merowinger, Karolinger und ­Ottonen, sollen die wirtschaftliche Ausgangslage und die darauf aufsetzenden Entwicklungen nur knapp behandelt werden. Unser Wissen über diese Zeit ist vielfach nur ein wahrscheinliches, nicht aber ein gesichertes. Allgemein lässt sich die Zeitspanne vom 3. bis zum 8. Jahrhundert als eine Transformationsperiode bezeichnen, die geprägt ist von tief greifenden, aber keinesfalls immer zeitgleichen Veränderungen in fast allen Bereichen von Herrschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und darüber hinaus. Die Vorstellung von einer Völkerwanderung oder von Zügen geschlossener Volksstämme quer durch Europa ist in den letzten Jahrzehnten aufgegeben worden. Bei den späteren „Germanenreichen“ oder „-völkern“ handelte es sich vielmehr um aus den weiträumigen Wanderungen entwachsene Gruppierungen, von denen ein Traditionskern dem „Volk“ oder dem Reich schließlich seinen Namen gab. Vielleicht waren etliche dieser Vorstellungen letztlich Tacitus geschuldet, der in seiner Germania den indigenen Charakter der „Stämme“ betonte, was schon unter den Humanisten seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zu Kontroversen führte. Ebenso wird der schleichende Niedergang des Weströmischen Reiches in der Historiografie nicht mehr nur als Abstieg oder gar als Zerfall gewertet, sondern daneben rücken die Neuansätze stärker ins Blickfeld.2 Schon aufgrund ihrer geringen Gesamtzahl – die Zahl der Chlodwigfranken dürfte 80 000 nicht überstiegen haben – konnten die seit dem späten 5.  Jahrhundert vordringenden Franken kein Interesse an der Vertreibung der verbliebenen romanischen oder sonstigen ansässigen Bevölkerung haben. Vielmehr nahmen sie Bauern, Gewerbetreibende und Händler in ihren Dienst und verbündeten sich nicht zuletzt zur Absicherung ihrer Herrschaft mit den alten Führungs1 Zum Agrarsektor vgl. für das gesamte Mittelalter die Überblicksdarstellungen von Werner Rösener: Bauern im Mittelalter, München 1985. Edith Ennen/Walter Janssen: Deutsche Agrargeschichte. Vom Neolithikum bis zur Schwelle des Industriezeitalters. Capelle: Frühgeschichte, S. 375–451. Mit freilich deutlichen Schwächen Friedrich Wilhelm Henning: Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters. 9. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 1994. Walter Achilles: Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit, München 1991. 2 Hans Werner Goetz: Europa im frühen Mittelalter, 500–1050 (Handbuch der Geschichte Europas, 2), Stuttgart 2003, S. 35. Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart/ Berlin/Köln 2002. Den Niedergang – in diesem Fall vornehmlich des Städtewesens – betont in der jüngeren Literatur wohl nur noch J. H. W. G. Liebechuetz: The Decline and Fall of the Roman City, Oxford 2001.

36

Agrarsektor

schichten. Dies galt schon für die Gebiete an Rhein und Mosel. Außerdem konnten die eingesessenen Senatoren- und Großgrundbesitzerfamilien unverändert die Bischöfe stellen. Erst ihr weitgehendes Aussterben bis zum 7. Jahrhundert schuf Raum für einen neuen „Adel“. Unter Chlodwig (481/82–511) erfolgte die Bildung des Fränkischen bzw. des Merowingischen Großreichs, nachdem dieser sich 486/87 militärisch die Herrschaft im vormals römisch beherrschten Teil Galliens gesichert hatte, um anschließend Tournai und Soissons zu seinen Hauptsitzen zu bestimmen. Auf die Ausdehnung des Herrschaftsbereichs bis zur Loire folgte im Bündnis mit den Burgundern 507 ein Sieg über die Westgoten und die Einnahme von deren Hauptstadt Toulouse. Der Sieg über die Alemannen öffnete zudem das Oberrheingebiet seiner Herrschaft. Parallel dazu ließ Chlodwig im Inneren konkurrierende Frankenkönige ausschalten, ein Vorgehen, das mit der Einbeziehung des Kölner Teilreichs zwischen 509 und 511 seinen Abschluss fand. Beim Tod Chlodwigs erstreckte sich das fränkische Herrschaftsgebiet vom Rhein bis zum Atlantik sowie von der Maas bis zu den Pyrenäen. In der Folge aber sollten Reichsteilungen zur Regel werden, wodurch das Reich sich im Wesentlichen in den östlichen Teil Austrien, Neustrien im Westen sowie Burgund untergliederte. Eine über die Jahrhunderte fortbestehende Kontinuität zeigt sich beispielsweise in Trier daran, dass sich dort noch im 7. Jahrhundert eine ehemalige Senatorenfamilie nachweisen lässt. Die sogenannte „Moselromania“, zwischen Trier und Koblenz gelegen, bildete sogar bis ins Hochmittelalter eine fast geschlossene romanische Enklave, die sich erst um 1200 auflöste. Die Dichte der gallo-römischen Bevölkerung nahm nach Westen im Gebiet des heutigen Frankreichs zu, während sie südlich der Loire sogar weitgehend unter sich blieb. Die fränkische Landnahme ist auch vor dem Hintergrund eines Umbruchs der ländlichen Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur zu sehen, die sich aber nur in groben Zügen abzeichnet. Die Gutsbetriebe der Spätantike wurden mit Sklaven und Lohnarbeitern, in spätrömischer Zeit verstärkt durch das Kolonat, also die Ansiedlung einer arbeits- sowie abgabenpflichtigen Landbevölkerung, bewirtschaftet. Sie erwirtschafteten nicht nur landwirtschaftliche Überschüsse, sondern produzierten teilweise gewerbliche Güter und förderten bei entsprechendem Vorkommen Bodenschätze. Die Gutsbetriebe wie auch die sonstigen ländlichen Siedlungen im RheinMosel-Gebiet und in den weiter westlich gelegenen Regionen wurden bereits von den Wirren des 3. Jahrhunderts schwer getroffen, vollends aber 37

Frühmittelalter

von den zahlreichen Kriegszügen des 5. Jahrhunderts. In diese veränderten Siedlungsstrukturen fügten sich die Franken ein, und sie ließen sich in den schon zuvor erschlossenen Gebieten nieder. Ihre Höfe und Gehöftansammlungen, in den lateinischen Quellen ausnahmslos als villae bezeichnet, legten sie vornehmlich in Niederungen und an Wasserläufen an, da Wasser und Weide für die von ihnen vorrangig betriebene Viehzucht ­unentbehrlich waren; ansonsten bevorzugten die neuen Bewohner für Siedlungsplätze zumeist die halbe Hanghöhe als Ökotopengrenzlage3. Der Getreideanbau gewann bei den Franken im 6.  Jahrhundert eine größere Bedeutung, wobei die Feldgraswirtschaft weiterhin den Ackerbau dominierte; die Jagd diente nur zur Nahrungsergänzung. Im 7.  Jahrhundert dürften erste, noch wenig umfangreiche (Brand-)Rodungen vorgenommen worden sein, um neue Böden für den Ackerbau zu gewinnen. Allerdings zeigt sich bereits für die Merowingerzeit, dass eine gesellschaftlich gehobene Stellung tendenziell zu einem höheren Fleischkonsum anstelle pflanzlicher Nahrungsmittel führte.4 Die Erschließung der Mittelgebirge blieb somit ganz überwiegend dem Hochmittelalter vorbehalten. Beim Getreideanbau lassen sich im Frühmittelalter Verschiebungen gegenüber den vorhergehenden Jahrhunderten erkennen. Unabhängig von der Bevölkerungsentwicklung schwand einerseits der Anteil des eher auf mediterrane Einflüsse zurückgehenden Weizenanbaus, während andererseits Gerste (die zu Teilen für die Bierherstellung benötigt wurde), Spelz oder Dinkel, vor allem aber Roggen und Hafer mehr Raum gewannen, zumal der Hafer für die Pferdezucht zunehmende Bedeutung erlangte. Der in Spätantike und Frühmittelalter durchaus bedeutsame Dinkelanbau beschränkte sich jedoch in den folgenden Jahrhunderten weitgehend auf das Gebiet der heutigen nördlichen Schweiz und den Neckarraum. Daneben wuchsen Hirse, Rüben und Hülsenfrüchte wie Erbsen, Linsen oder vielfach Bohnen auf den Böden; dass es sich dabei bereits um regelrechte Gärten handelte, ist hingegen unwahrscheinlich. Beibehalten wurde, wenngleich eingeschränkt, der seit der römischen Zeit verbreitete Weinanbau, zumal Wein eine hohe liturgische Bedeutung besaß. An Obstsorten sind sowohl durch Schriftquellen als auch durch Bodenfunde in erster Linie Birnen und Äpfel belegt. Bezeugt ist ferner der Anbau von Flachs auf größeren Feldern, 3 Küster: Landschaft, S. 78. 4 Holger Schutkowski: Statusabhängige Ernährungsunterschiede in merowingerzeitlichen Bevölkerungen Südwestdeutschlands, in: Dilg/Keil/Moser (Hg.): Rhythmus, S. 257–267.

38

Agrarsektor

um daraus Leinen zur Tuchherstellung zu gewinnen. Vornehmlich in den Randlagen der Urwälder, und von solchen darf man noch vielfach sprechen, wurde Bienenzucht betrieben. Bei der Viehzucht dominierten Schweine, daneben wurden Rinder, Pferde, Ziegen, Schafe und Geflügel gehalten. Über Größe, Gewicht und Leistungskraft des Viehs haben wir keine genauen Angaben, in jedem Fall sind die Kennzahlen deutlich niedriger anzusetzen als heute. Viehmist rangierte vor Mergel als der mit Abstand wichtigste Dünger, aber auch Asche und Kalk fanden zu diesem Zweck Verwendung. Doch Düngemittel sollten bis ins 19. Jahrhundert hinein ein Mangelprodukt bleiben; erst das Aufkommen chemischer Düngemittel, die fabrikmäßig und damit in großen Mengen herstellbar waren, konnte dieses Problem beheben.5 Prägend für die Lebensordnung der breiten Bevölkerung war in zunehmendem Maße die Grundherrschaft oder Villikationsverfassung. Bei beiden Termini handelt es sich um moderne Ordnungsbegriffe; daneben wird auch von einer Fronhofverfassung gesprochen. Als Begriff kam „Grundherrschaft“ parallel zum Feudalismusbegriff erst am Ende des 18. Jahrhunderts auf und fand nochmals deutlich später, im 20.  Jahrhundert, allgemeine Verbreitung. Dabei muss „Grundherrschaft“ bei verschiedenen ­Historikern durchaus nicht dasselbe meinen, wie ja auch die Begriffe „Feudalismus“ oder „Feudalgesellschaft“ für Mittelalter und Frühe Neuzeit nicht unumstritten sind. Bereits in den „Zeiten der wandernden Völker“ lassen sich Schichtungen innerhalb der Bevölkerung ebenso erkennen wie Unfreie, ohne dass sich deren Anteile quantifizieren ließen. Letztlich konnten sich aber die Königs-, Adels- und Kirchenherrschaft des Frühund noch des Hochmittelalters nur deshalb etablieren und dauerhaft behaupten, weil sie im Wesentlichen auf der Grundherrschaft beruhten, in deren Verband der Großteil der Bevölkerung wirtschaftlich, politisch und rechtlich – und bei kirchlichen oder klösterlichen Besitzungen zusätzlich kultisch – eine klare Einordnung erfuhr. Das Eigenkirchenwesen ermöglichte es den weltlichen Herren, ihre Hintersassen im kirchlich-kultischen Bereich ebenfalls in ihren Herrschaftskreis einzubeziehen. Allerdings kam verbreitet die Forderung auf, dass es sich bei den Geistlichen um Freie handeln müsse, diese also zuvor aus der Hörigkeit zu entlassen seien. Neben den persönlichen Abhängigkeiten trat während des Frühmittelalters zunehmend die Verfügungsgewalt über Grund und Boden als Herrschafts5 Vgl. Achilles: Agrargeschichte, S. 231–239.

39

Frühmittelalter

element hinzu. Über das Leben der Grundhörigen wissen wir nur wenig, traten sie doch zumeist nur als „Zubehör“ in Schenkungsurkunden und Abgabenverzeichnissen auf. Über ihre Zugehörigkeit zu den Grundherrschaften durfte fast nach Gutdünken verfügt werden, ohne dass sie aber prinzipiell rechtlos gewesen wären. Ebenso darf nicht übersehen werden, dass Aufzeichnungen und Verzeichnisse (Urbare) ausschließlich zu wenigen königlichen und etlichen kirchlich-klösterlichen Höfen vorliegen. Die Adelsherrschaft kann nur in Analogie dazu erschlossen werden. Umstritten ist, ob und in welcher Weise die Verfügungsgewalt der Grundherren über ihre Hintersassen durch Gewohnheitsrechte eingeschränkt war. Denn bei Hofrechten und vergleichbaren Quellen reicht die Überlieferung gerade einmal in das 11. Jahrhundert mit seinen veränderten Rahmenbedingungen zurück. Zeitlich parallel zur Herausbildung des Adels entwickelte sich die sogenannte bipartiale oder zweigeteilte Grundherrschaft zum Haupttypus der Grundherrschaft. Sie erlebte in der Karolingerzeit ihre Blüte und sollte bis in das 11. und 12.  Jahrhundert das dominierende Herrschaftsmodell im Frankenreich bzw. in Europa mit Ausnahme Skandinaviens, des Ostens und der Iberischen Halbinsel bleiben; der Süden mit seinen zahlreichen Städten behielt eigene Strukturen bei. Verkürzt formuliert setzte sie sich aus einem Herrenhof und Bauernstellen in unterschiedlichem Grad der Abhängigkeit zusammen, umfasste persönlich freie sowie unfreie Bauern, ebenso freie und unfreie Güter, deren Inhaber dem oder den Herren Abgaben entrichten mussten und/oder festgelegte Frondienste von unterschiedlichem Ausmaß auf dem Herrenland oder Salland ableisten mussten, dessen Umfang ebenfalls stark variierte. Solche Dienste waren häufig auf drei Tage je Woche festgesetzt, konnten aber durch eine Konzentration auf die Aussaat- und Erntezeiten mit noch erheblicheren Belastungen verbunden sein. Daneben sind in den Grundherrschaften bereits früh Hörige anzutreffen, die ausschließlich für ihren Herrn arbeiten mussten, also über keinen eigenen Landbesitz verfügten. Mit dem weiteren Ausbau und der inneren Differenzierung der Grundherrschaften im 8. und 9. Jahrhundert wurden nicht nur die von den Abhängigen geforderten Leistungen und vor allem ihr zuvor unterschiedlicher Rechtsstatus vereinheitlicht oder zumindest angeglichen, sondern die Herren schufen auch grundherrliche Instrumente wie Hofgericht, Hofrecht sowie spezifische Ausprägungen der Landleihe und Organisationsformen für Handwerk und Handel, wenngleich das römische Recht vorerst noch nachwirkte. 40

Agrarsektor

Unter den Hintersassen der Fronhöfe verfügten die servi casati mit eigener Hofstelle über eine deutlich bessere Stellung als die servi non casati, weil sie trotz Abgaben und regelmäßigen Arbeitsleistungen für die Grundherren zumindest über einen Teil ihres Arbeitsertrages verfügen konnten. Ihre Hofstellen in der Größe einer Hufe sollten nicht nur die Abgabenleistungen ermöglichen, sondern auch die darauf hausende Familie ernähren. Die Größe einer Hufe als der Grundeinheit bei der Ausstattung von Bauernstellen fiel nicht zuletzt aufgrund der jeweiligen Bodenqualität ausgesprochen unterschiedlich aus. Bei den servi non casati, die überwiegend ohne eigene Behausung oder Bauernstelle blieben, handelte es sich quasi um ein „Zubehör“ des Herrenhofes. Sie konnten überall eingesetzt oder den Hofstellen der servi casati als Arbeitspersonal zugeteilt werden. Generell spielte für das Überleben beider Gruppen eine entscheidende Rolle, dass sie mitsamt ihren Familien für den Bestand einer Grundherrschaft unentbehrlich waren und zudem für die natürliche Reproduktion der Arbeitskraft sorgten. Im Gegenzug bot die persönliche Nähe zu dem Herrn potenzielle Aufstiegsmöglichkeiten, etwa als qualifizierter Handwerker, als Meier, als berittener Bote oder in ähnlichen Funktionen. Doch selbst die Bewirtschaftung einer „freien“ Hufe durch persönlich freie Hintersassen konnte mittelfristig zu einer rechtlichen und sozialen Schlechterstellung derselben führen, falls es dem Grundherrn gelang, seine Ansprüche zu intensivieren oder seinen Herrschaftsstatus auszubauen. Weiterhin galt es aus Sicht der Herren, innerhalb der Grundherrschaft ein ungefähres Gleichgewicht zwischen dem zu bestellenden Land und den frondienstpflichtigen Bauern herzustellen. Es war vermutlich nicht primär der Besitz von Land, der für das Aufkommen dieser Herrschaftsform verantwortlich war. Vielmehr lag ihre Wurzel wohl vornehmlich in der frühmittelalterlichen „autogenen Herrengewalt“, die sich zur Grundherrschaft verdichtete, wobei sich die Herren daneben „öffentlich-rechtliche“ Befugnisse sicherten. Dazu traten Elemente der Hausherrschaft, tradierte römische Immunitätsvorstellungen und die merowingische Fiskalverfassung, bei der wiederum in römischer Tradition Hofkomplexe belastet wurden. Ohnehin hatten die Merowingerherrscher in großem Ausmaß römisches Fiskalgut übernommen und damit nicht zuletzt ihre Gefolgsleute ausgestattet. Dagegen hielt sich südlich der Loire die spätantike Sozialstruktur weitgehend bis ins 8. Jahrhundert hinein. Der teilweise komplizierte und auch unterschiedlich ausgestaltete rechtliche Charakter der frühmittelalterlichen Grundherrschaft lässt 41

Frühmittelalter

sich wohl am besten – trotz aller geäußerten Kritik – mit dem weit gefassten Begriff einer „Herrschaft über Land und Leute“ beschreiben, innerhalb derer die Bodenleihe ein Rechtsverhältnis begründete. Die Formen der Grundherrschaft waren mannigfaltig, sie reichten von einfachen Guts­ höfen bis hin zu komplexen Agglomerationen von Haupthöfen, Nebenhöfen und abhängigen Bauern in abgestuften Varianten. Besonders bei kirchlichen und klösterlichen Grundherrschaften führten Schenkungen zu einem immensen Streubesitz, der im Extremfall von der Nordsee bis zu den Alpen reichen konnte. Bei dem weiter entfernt liegenden Besitz standen Geldtransfers im Vordergrund, denn die landwirtschaftlichen Überschüsse mussten in der jeweiligen Region veräußert werden. Da derartige, teilweise ausgesprochen umfangreiche Schenkungen vermutlich vor allem an geistliche, aber auch an weltliche Herren nicht zuletzt durch die Herrscher erfolgt waren, behielten sich diese zumindest bis zum Ende des Hochmittelalters das Recht vor, auf deren Besitz und Ressourcen bei bestimmten Anlässen wie Aufenthalten vor Ort oder dem Kriegsfall zurückzugreifen.6 Daneben wurden allerdings ohne weitere Einbindung in die Grundherrschaften vielfach auch Höfe gegen reine Abgabenleistungen verliehen. Nicht nur große Grundherrschaften nannten zusätzlich Handwerker ihr Eigen, welche für den unmittelbaren Bedarf der Grundherrschaft produzierten. Back- und Brauhäuser (Met, Grutbier) sind ebenso überliefert wie Webereien. Weitere Hinweise auf die verschiedenen Handwerke bieten das Capitulare de villis oder der St. Gallener Klosterplan. Doch als zukunftsweisender als die Grundherrschaften sollten sich die von den Grundherren forciert durchgesetzten Bannbezirke erweisen, mittels derer die weltlichen und geistlichen Herren auf ihr Umland mitsamt dessen freien Bewohnern ausgriffen. Denn nunmehr konnten sie dort Verbote sowie Gebote erlassen und in erster Linie natürlich ihren Gerichtsbann etablieren. Das bedeutete, dass alle Verfahren vor ihrem Gericht entschieden werden mussten, selbstverständlich gegen Zahlung von Gebühren. Desgleichen konnten die Bewohner des Bannbezirks dazu gezwungen werden, nur noch in den Mühlen ihres Bannherren das Getreide mahlen zu lassen, was wiederum mit Zahlungsverpflichtungen verbunden war; weitere ökonomische Vorteile brachten Braugerechtsame. Daneben dürften die Bannherren auch rechts 6 Vgl. grundlegend Carlrichard Brühl: Fodrum, gistum, servitium regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Kölner historische Abhandlungen, 14), Köln/Wien 1968.

42

Agrarsektor

des Rheins aufgrund der im weiteren Verlauf des 9. Jahrhunderts zunehmenden inneren Unruhen sowie der folgenden äußeren Bedrohungen in größerer Zahl erste, einfache Burgen errichten haben lassen, die sogenannten Motten. Die in der Karolingerzeit aufkommenden Urbare spiegeln den Willen der Herren wider, einen Überblick über ihren weit gestreuten Besitz mitsamt den Einkünften zu gewinnen. Die Überlieferung beschränkt sich auf die königlichen und vor allem auf die geistlichen Grundherrschaften, da die Überlieferungschancen sich hier als deutlich besser erwiesen als bei weltlichen Herren. Die Urbare verzeichneten ortsweise den jeweiligen Besitz an Herrenland und ausgegebenen Gütern, Letztere wiederum unterteilt in freie und Hörigenhufen. Doch selbst (vorübergehend) unbewirtschaftete Liegenschaften fanden hier ihren Niederschlag. Ebenso erfassten die Urbare die Bewohner der Hofstellen, teilweise die Zahl der Kinder, mitsamt den von ihnen zu erbringenden Leistungen. Gewiss ist dies noch nicht mit der Rechenhaftigkeit späterer Jahrhunderte zu vergleichen, aber hier beginnt ein wirtschaftsbezogenes Rechnen, das der Antike noch fremd gewesen sein dürfte und seitdem aus dem mittelalterlichen Wirtschaften nicht mehr verschwunden ist. Darin lässt sich auch der Ansatz eines „Rationalismus systematischer Organisation“ sehen.7 Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass jede Grundherrschaft derartige Urbare ­angelegt hat. Die Kontrolle der königlichen Grundherrschaften dürfte, so zumindest nach Ausweis der dünnen Überlieferung, unter Karl dem Großen am intensivsten ausgefallen sein. Von den Verwaltern der Königshöfe forderte der Herrscher umfangreiche Nachweise über die jeweiligen Liegenschaften und ihre Erträge, über die Bestände beispielsweise an Vieh, besonders Pferden, oder an Gerätschaften einschließlich der Webhäuser, wobei er Nachlässigkeiten mit harten Strafen bedrohte. Wohl eine Neuerung des 8., vielleicht auch schon des 7.  Jahrhunderts bildete die Dreifelderwirtschaft mit ihrem Wechsel zwischen der Aussaat von Wintergetreide (überwiegend Roggen, teilweise Weizen), Sommergetreide und Brache. Gegenüber der Zweifelderwirtschaft erhöhte sich die nutzbare Fläche deutlich, ferner wurden die jeweils anfallenden Arbeiten günstiger über das Jahr verteilt. Dennoch setzte sich die Dreifelderwirtschaft nicht überall durch, sondern die verschiedenen Bewirtschaftungsformen bestanden nebeneinander weiter. Immer wieder führten auch 7 Fried: Mittelalter, S. 62.

43

Frühmittelalter

­ eftige Regenfälle im Herbst dazu, dass der Roggen als Wintergetreide gar h nicht erst ausgesät werden konnte oder nicht keimte. In diesen Fällen musste im Frühjahr zunächst geackert werden, um dann die Sommerfrucht auszubringen. In jedem Fall verlangte die Dreifelderwirtschaft nach einer entsprechenden Organisation der Ansiedlungen und besonders der Ackerflächen, um den Fruchtwechsel auf den eigens eingeführten Großfluren (Zelgen) zu planen. Eindeutige Nachweise für Gewannflure besitzen wir ohnehin erst aus dem 13.  Jahrhundert, mithin parallel zur Dorfbildung, und diese können eben nicht problemlos in das Frühmittelalter zurückprojiziert werden. Die Siedlungen blieben überwiegend klein; Siedlungsgrößen von nur drei, vier oder fünf Höfen dürften keine Seltenheit gewesen sein, wobei je Hof mit sechs bis zehn Bewohnern gerechnet werden kann. Im 9. und 10. Jahrhundert finden sich dann Ansiedlungen mit 30 und mehr Hofstätten. Bei den Häusern handelte es sich um einschiffige Pfostenbauten, und wie noch in den folgenden Jahrhunderten dominierte beim bäuerlichen Wohnen das Nebeneinander von Menschen und Vieh unter einem Dach. Zumindest im Winter wärmte das Vieh das Gebäude, was einen nicht zu unterschätzenden Vorteil darstellte. Vielfach waren die Häuser so ausgerichtet, dass die vorherrschende Windrichtung die Ausdünstung des Stalls nicht in den Wohnbereich trieb. Allerdings wurden während des Frühmittelalters ohnehin nur besonders wertvolle Milchtiere, ständig benötigtes Zugvieh oder die selteneren Pferde eingestellt. Zu den Wohnstallhäusern konnten Scheunen, weitere Nebengebäude sowie Grubenhäuser treten, doch Grubenhäuser dienten anders als im slawischen Bereich nicht zu Wohnzwecken. Diese aus Holz gefertigten Gebäude dürften etwa 30 bis 40 Jahre genutzt worden sein, bevor eine Neuerrichtung anstand. Seit dem 7.  Jahrhundert ist ein Aufschwung des Mühlenwesens zu erkennen, wobei es sich wohl durchgängig um „Herrenmühlen“ handelte, da die Großen ihre Bannrechte durchsetzten. Vor allem die Zahl an Wassermühlen nahm später auch in den Ausbaugebieten des Ostens und Nordens sprunghaft zu. Die Bedeutung des Mühlenwesens ist zudem aus der in erheblichem Ausmaß betriebenen Mühlsteinproduktion ersichtlich: Im Mayener Becken, nördlich der Moselmündung in der Eifel gelegen, fertigten Handwerker Mühlsteine aus Basalt. Deren Handel erfolgte seit der Spät­ antike auf den seit alters benutzten Wasserstraßen bis nach Friesland, ­England und in den skandinavischen Norden, dann sogar darüber hinaus in den slawischen Bereich. Denn der bei Mayen gebrochene Basalt erfuhr 44

Handwerk

aufgrund seines geringen Abriebs eine hohe Wertschätzung, schädigte er doch die Zähne weniger als andere Mühlsteine. Die Kiefer der erhaltenen mittelalterlichen Skelette zeigen nämlich teilweise einen hochgradigen Verlust an Zahnsubstanz, der in nicht unerheblichem Maße durch Steinpartikel im Brot oder im Getreidemus verursacht wurde.8 Bei den Pflügen lassen sich gleichfalls Neuerungen erkennen: Anstelle des Hakenpflugs, der den Boden nur ritzte und vielfach ein zusätzliches Querpflügen erforderte, trat vor allem nördlich der Alpen nach und nach der schwere, von einem oder zwei Ochsengespannen gezogene Räder- oder Beetpflug, der wesentlich tiefer in die Böden reichte und die Schollen zugleich wendete. Er fand aber erst seit dem 9. und 10. Jahrhundert in größerem Umfang Verwendung. Zusätzlich dürfte der jedoch nur langsam steigende Einsatz von Pferden in der Landwirtschaft sich vorteilhaft ausgewirkt haben. Das auf den Schultern aufliegende Kummet als weitere Neuerung ermöglichte eine höhere Kraftausnutzung der Zugtiere, ohne deren Atemwege wie zuvor einzuschnüren. Am weitesten verbreitet blieben freilich einfache, hölzerne Gerätschaften, mit denen der Boden mühselig bearbeitet werden musste. Dies lag schon daran, dass Eisenproduktion wie Tagebergbau noch wenig ausgeprägt waren. Eisen galt als kostbar, und selbst Hufeisen fanden nur langsam Verbreitung, bevor wohl noch im 11. Jahrhundert ein umfangreicherer Eisenerzabbau einsetzte. Bauern, die nur einen Hakenpflug besaßen, mussten ebenfalls in regelmäßigen Abständen ihre Felder mühselig mit den hölzernen, vielleicht an der Spitze mit Eisen beschlagenen Spaten umgraben, um den Boden fruchtbar zu halten.

Handwerk Das Handwerk der Merowinger- und auch noch der Karolingerzeit zeigt sich aus späterer Sicht wenig differenziert: Bei den größeren Werkstätten, die zumeist spätrömische Handwerksbetriebe fortführten, handelte es sich überwiegend um Glasbläsereien, um Einrichtungen zur Salzgewinnung oder Sudhäuser. Fortbestand hatten auch die Töpfereien, wenngleich teilweise mit Standortverlagerungen und unter Konzentration auf einfachere 8 Vgl. z. B. Joachim Wahl/Albert Zink: Karies, Pest und Knochenbrüche. Was Skelette über Leben und Sterben in alter Zeit verraten (Archäologie in Deutschland, Sonderheft 03/2013), Stuttgart 2013, S. 25–34.

45

Frühmittelalter

Produkte. Seit dem 6. Jahrhundert setzte zudem eine Süd-Nord-Wanderung vor allem von Bauhandwerkern ein, als deren wichtigste Auftraggeber die Könige und die Kirche galten – im Norden scheinen die Kenntnisse über die Steinbauweise in dieser Zeitspanne weitgehend verloren gegangen zu sein. Einschränkend sei darauf hingewiesen, dass der weit überwiegende Teil der schriftlichen Überlieferung zum Handwerk dieser Jahrhunderte dem klösterlichen Bereich entstammt. Eine Konzentration von Handwerkern findet sich daneben in den Emporien als städtischen Vorformen an den Küsten von Nord- und Ostsee, in den frühstädtischen Siedlungen des Binnenlands oder bei den Sitzen der geistlichen Herren in den Städten an Rhein und Donau. Archäologisch durch ihre Produkte belegt sind in der Karolingerzeit beispielsweise noch Waffenschmiede, Silber- oder Schmuckschmiede, Küfer, Metallhandwerker, Kammmacher oder Steinmetze. Im St. Gallener Klosterplan, zwischen 825 und 830 gezeichnet, fanden Werkstätten für Küfer, Stellmacher, Schmiede, Sattler, Schuhmacher, Walker, Grobschmiede, Gerber, Dreher, Schildmacher sowie Schwertfeger bzw. Messerschleifer ihren Platz, ebenso wurden Müller, Darrer, Bäcker, Brauer und Geflügelwärter berücksichtigt. Doch selbst wenn es sich um einen ­Maximalplan handelte, sind hinreichend Bezüge zur Arbeitswelt sowie zum Lebensumfeld der Mönche und Handwerker gegeben. Zu den Arbeitern, welche die Geistlichen zunehmend von der Handarbeit entlasten sollten, muss auch noch das nicht eigens erwähnte Personal für Gärten, Felder, Äcker und Vieh gezählt werden. Für etliche Klöster ist zudem bekannt, dass sie neben den agrarischen Abgaben der bäuerlichen Hintersassen auf solche von gewerblichen Betrieben zurückgreifen konnten. Das aus den 790er-Jahren stammende Capitulare de villis stellte zwar nur ein (Reform-) Programm dar, dem längst nicht alle königlichen Höfe, vielleicht mit Ausnahme der größten, entsprachen. Nach diesen Bestimmungen sollten in jedem Amtsbezirk Grob-, Gold- und Silberschmiede, Schuster, Drechsler, Stellmacher, Schildmacher, Fischer, Falkner, Seifensieder sowie Brauer ihrer Tätigkeit nachgehen, dazu Arbeitskräfte, welche Bier, Apfel- und Birnenmost oder andere wohlschmeckende – was auch immer darunter zu verstehen ist – Getränke zu bereiten verstanden, ebenso Bäcker, die Semmeln für die königliche Hofhaltung backten, Netzmacher, welche Netze für die Jagd, für Fisch- und Vogelfang zu fertigen wussten, sowie sonstige Dienstleute, deren Aufzählung, so der Text, zu umständlich wäre. Für die an zwei Stellen des Pergaments genannten Frauenarbeitshäuser hatten die Verwalter Flachs, Wolle, Waid, Scharlach, Krapp, Wollkämme, Karden­ 46

Handwerk

disteln, Seife, Fett und Gefäße in ausreichenden Mengen vorzuhalten. Ebenso fanden Kelter Erwähnung.9 Goldschmiede waren als freie und umherreisende Handwerker tätig. Eisen war in der Karolingerzeit ein knappes Gut, weshalb es wenigen ausgewählten Anwendungsbereichen vorbehalten blieb. Die meisten benötigten Gerätschaften fertigten die Handwerker oder Bauern selbst an, und zwar aus Holz. Den Rohstoff zur Versorgung der Schmieden gewannen „Bergleute“ beispielsweise aus Erzvorkommen in Vorarlberg, Rätien oder dem Lahngebiet, welche Abbaustätten wohl seit der La-Tène-Zeit in Betrieb waren; dazu kamen weitere lokal bedeutsame Fundstellen für Raseneisenerze. Die in den karolingischen Schmieden hergestellten Waffen waren wegen ihrer Dauerhaftigkeit und Schärfe bei den Käufern in aller Welt oder zumindest in Europa begehrt. Deswegen ließ bereits Karl der Große die Ausfuhr von Waffen gen Osten, also zu potenziellen Gegnern, verbieten. Karl der Kahle, freilich deutlich weniger mächtig als sein Vorfahr, bedrohte nur Jahrzehnte später jeden mit der Todesstrafe, der Schwerter an die Normannen lieferte; dennoch gelangten sie in großer Zahl in den Norden, zum Teil sicherlich als Beute aus den Raubzügen, aber auch auf anderen Wegen. Während in der fränkischen Waffentechnik also durchaus handwerkliche Innovation stattfand, bildeten sich Ansätze zu neuen gewerblichen Zentren ansonsten eher in Nordwesteuropa heraus, wo sich das „friesische“ Tuch zum Ende der Merowingerzeit zu einem begehrten Exportartikel entwickelte. Die Wolle lieferten zahlenmäßig wohl durchaus beachtliche Schafherden, daneben kam der Haltung von Rindvieh hohe Bedeutung zu. Unter der Bezeichnung „friesische“ Tuche wurden freilich ebenso flandrische oder englische Tuche verkauft. Ohnehin bildeten die großen Grundherrschaften keine autarken Wirtschaftseinheiten, sondern sie blieben trotz zum Teil beträchtlicher gewerblicher Differenzierung auf den Besuch von Märkten angewiesen. Denn komplexere Gerätschaften, Waffen von höherer Qualität und verschiedene Luxusgüter konnten im Regelfall nicht selbst produziert werden, bei zahlreichen Gewürzen handelte es sich ohnehin um Importwaren, und Weinreben wuchsen gleichfalls nicht überall. Diese Waren bezogen die Grundherren im Tausch- und Warenverkehr. Sie wurden in der Frühzeit des 5. und 6.  Jahrhunderts und auch spätestens wieder seit dem Ende des 8. Jahrhunderts in nicht unerheblichem Maße mit Geld bezahlt. 9 Günther Franz (Hg.): Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes im Mittelalter (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, XXXI), Darmstadt 1967, S. 38–59.

47

Frühmittelalter

Handel Im ostfränkischen Reichsteil erlangten jüdische Händler nach ihrer zunächst vereinzelten Ansiedlung eine wichtige Bedeutung. Königliche Privilegien schützten sie prinzipiell in ihrer Freizügigkeit und sicherten ihnen ihre religiöse Sonderstellung; sie durften nicht zum Kriegsdienst herangezogen werden und blieben zudem von den Gottesurteilen der Feuer- oder Wasserprobe verschont. Auch garantierten ihnen die Könige in Prozessen mit Christen ein relativ faires Beweisrecht. Neben wirtschaftlichen und ­sozialen Gründen sorgte vor allem der theologische Ausschließlichkeits­ anspruch beider Religionen für eine frühe Separierung der Judenschaft von den Christen als einer misstrauisch beäugten Randgruppe. Bereits der Codex Theodosianus von 438 verbot den Juden, Christen zum Judentum zu bekehren; untersagt waren ebenso Mischehen, Sklavenhaltung – nicht aber der Sklavenhandel –, die Ausübung öffentlicher Ämter, akademischer Unterricht und der Neubau von Synagogen. Ob derartige Vorschriften allerdings nach der „Völkerwanderungszeit“ noch rechtliche Bedeutung besaßen, muss bezweifelt werden, die theologisch begründete Judenfeindschaft dauerte jedenfalls fort.10 Trotz aller Einschränkungen erlebte der Handel im Frühmittelalter erhebliche Wandlungsprozesse. Als dynamisches Element sind zunächst die mittel- sowie nordeuropäischen Handelsplätze zu nennen: Sie entstanden als neue Siedlungskerne im 7. und 8. Jahrhundert nicht zuletzt im Schutz alter Römerorte, wie beispielsweise an der Maasroute Namur, Dinant, Huy und Maastricht als merowingische vici, die dann vom Aufstieg des Karolingerreiches profitierten. Etliche der Handelsplätze in der Region um Maas und Schelde benannten die karolingischen Quellen als portus und betonten damit ihre Bedeutung als Handelshäfen. Ähnliches gilt für die portus von Tournai oder Metz. Das Schelde-Maas-Niederrhein-Gebiet wuchs mit den Küstenregionen von Nord- und Ostsee in diesem Zeitraum zu einem neuen Handelsraum heran. Ein topografischer und wohl auch organisatorischsozialer Dualismus zwischen („adliger“) Burg und Handwerkersiedlung 10 Zum karolingerzeitlichen Handel vgl. Peter Johanek: Der fränkische Handel der Karolingerzeit im Spiegel der Schriftquellen, in: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, Tl. IV: Der Handel der Karolinger- und Wikingerzeit (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Kl., 3. Folge, Nr. 156), Göttingen 1987, S. 7–68. Heiko Steuer: Der Handel der Wikingerzeit zwischen Nord- und Westeuropa aufgrund archäologischer Zeugnisse, in: ebd., S. 113–197.

48

Handel

­ estand hier wohl ebenso wie bei dem Nebeneinander von Bischofsstadt b oder vielmehr befestigtem Bischofssitz und Kaufleutesiedlung, das ebenfalls einen guten Nährboden zur Entwicklung des Handwerks darstellte. Friesische und nordeuropäische Fernhändler, Angelsachsen oder Normannen, beteiligten sich wie die jüdischen Kaufleute am einträglichen Handel mit Luxusgütern, also vornehmlich mit Wein, Glas, Gewürzen, ätherischen und sonstigen Ölen, orientalischen Spezereien und Tuchen sowie mit rheinischer Keramik, aber auch am Sklavenhandel von Ost nach West. Ferner gelangten Speckstein aus Norwegen oder schwedisches Eisen in den überregionalen Handel, desgleichen Keramikprodukte aus dem Kölner Vorgebirge oder aus Knochen gefertigte Kämme in großer Anzahl. Vor allem im Nordwesten des Kontinents dürfte den friesischen Händlern eine bedeutende Rolle zugekommen sein, wobei diese den Handel nicht immer hauptberuflich betrieben, sondern zuweilen als Bauern und Händler zugleich agierten. Spätestens für das 9. Jahrhundert berichtet die Überlieferung von friesischen Vierteln in etlichen Städten oder Plätzen am Rhein. Der awarisch-slawische Vorstoß von Osteuropa bis an die Adria seit dem 6. und 7. Jahrhundert unterbrach die traditionellen Handelswege über den Balkan bis ans Schwarze Meer und damit auch die alte Verbindung vom Schwarzen Meer zur Ostsee über die sogenannte Bernsteinstraße. Nunmehr musste der Fernhandel des Ostseeraums über das Rheinmündungsgebiet sowie über Maas und Seine zur Rhône und dann weiter zum Mittelmeer umgeleitet werden. Die Eroberung der südlichen Mittelmeerküste durch den Islam und dessen Vorstoß auf die Iberische Halbinsel löste eine vorübergehende Blockade der Seewege aus, freilich ohne dass der Handel mit dem östlichen Mittelmeerraum aufgegeben worden wäre, wie es die ­ältere Forschung und besonders Henri Pirenne noch betonten. Allerdings erwies sich der Mittelmeerhandel seit der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts als deutlich rückläufig.11 Im Gegenzug führte nicht zuletzt die Verlagerung 11 Dietrich Claude: Der Handel im westlichen Mittelmeer während des Frühmittelalters (Unter­ suchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nord­ europa, II; Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Kl., 3. Folge, Nr. 144), Göttingen 1985. Zu den Kaufmannsorganisationen Harald Siems: Die Organisation der Kaufleute in der Merowingerzeit nach den Leges, in: Organisationsformen der Kaufmannsvereinigungen in der Spätantike und im frühen Mittelalter (Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, VI; Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Kl., 3. Folge, Nr. 183), Göttingen 1989, S. 62–145. Walter Pohl: Die Awaren – Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr., 2., aktualisierte Aufl. München 2002.

49

Frühmittelalter

der Handelswege zu einem wirtschaftlichen Aufstieg Nordwesteuropas. Neben den professionellen Fernhändlern spielte der Karawanenhandel der Grundherrschaften, vor allem der klösterlichen, eine bedeutsame Rolle. Nicht zuletzt die großen Klöster wie Corbie, St-Denis, das gleichzeitig als königliche Pfalz diente, Nivelles, Prüm oder Lorsch gewannen als Konsumenten, aber auch als Produzenten zunehmend an Bedeutung. Und aus P ­ rivilegien wissen wir, dass etliche fränkische Klöster aus ihren südlichen Gütern Wein und andere mittelmeerische Produkte wie Öl und Gewürze einführen konnten, ohne in Marseille oder andernorts Zoll zahlen zu müssen.12 Nunmehr dürften zudem – verstärkt durch die sich verstetigenden fränkischen Reichsteilungen – für den Weg gen Süden die Alpenrouten an Bedeutung gewonnen haben, während noch in der Merowingerzeit der Rhône vermutlich ein hohes Gewicht für den überregionalen Handel zukam. Was das gesellschaftliche Ansehen selbst der christlichen Händler betrifft, so stammen die überlieferten Einschätzungen wiederum aus klerikalen Quellen, und deren Urteil ist entschieden negativ. Augustinus nannte ihre Tätigkeit sündhaft, weil sie in seinen Augen notwendigerweise mit Betrug verbunden war. Salvian von Marseille warf ihnen grundsätzlich Betrug und Meineid vor, später warnten beispielsweise Cassiodor und Isidor von Sevilla vor der Unredlichkeit der Kaufleute. In derartigen Aussagen zeigen sich freilich auch die tendenziell egalitären Vorstellungen des frühen Christentums von der wünschenswerten Sozialstruktur – Vorstellungen, die schon in seiner Herkunft aus einer ländlich-handwerklichen Sphäre begründet lagen. Erst spätere Jahrhunderte sollten diese Vorstellungen überlagern, wenngleich sie von den Mendikanten- oder Bettelorden, in erster Linie den Franziskanern, seit dem 13. Jahrhundert wieder aufgegriffen wurden. Ebenso kann sich die anachoretische Lebensweise einzelner Kirchenväter weitab vom alltäglichen Geschehen auf derartige Anschauungen ausgewirkt haben. Wenn Augustinus an den spätantiken Händlern aber außerdem kritisierte, dass sie sich ihrer Leistungen rühmten und deshalb keinesfalls die Gnade Gottes erlangen könnten, lässt dies auf eine positive Selbsteinschätzung der Kaufleute schließen. Ihren karolingischen Kollegen mangelte es gleichfalls nicht an Selbstbewusstsein. Eine gildemäßige Organisation dürften sie schon früh entwickelt haben, da ihre Zusammenschlüsse bereits im Capitulare Haristallense (Herstal, Lüttich) von 779, 12 Andreas Otto Weber: Studien zum Weinbau der altbayerischen Klöster im Mittelalter. Altbayern – Österreichischer Donauraum – Südtirol (VSWG-Beihefte, 141), Stuttgart 1999.

50

Handel

im Kapitular von Diedenhofen 805 und im Kapitular Lothars für Italien von 822 verboten wurden. Vielleicht hatte sich ihre Konkurrenz für die im Handel engagierten geistlichen Institute als so erheblich erwiesen, dass deren hochrangige Vertreter bei Hofe gegen sie intervenierten. Denn so scharf die Urteile der Theologen auch ausfielen, haben sich Kirchen und Klöster doch bald in die Praxis des frühmittelalterlichen Warenverkehrs eingefügt und diesen sogar vorangetrieben, um selbst umfangreich am Handel zu partizipieren. Bei den Händlern handelte es sich zu einem Teil um freie Männer, über die freilich wenig in Erfahrung zu bringen ist; die Überlieferung führt in erster Linie und ohne nähere Bestimmung Große, Großbauern und sonstige „Kaufleute“ an. Daneben tauchen in den Quellen die unfreien Händler der weltlichen und geistlichen Grundherrschaften auf. Manche Kaufleute, die an einem Handelsplatz ansässig waren, unterstanden dem jeweiligen Wikgrafen, andere erhielten Königsschutz, über dessen Ausformung und konkrete Reichweite allerdings wiederum so gut wie keine Informationen vorliegen. Im 11. Jahrhundert stieg dann zumindest im Westen des Reichsgebiets die Zahl der vormals grundherrschaftlich gebundenen Händler, welche nunmehr als freie Kaufleute agierten, sich von ihren ehemaligen Herren also emanzipiert hatten. Handelsreisen dürften in der Regel gemeinsam unternommen worden sein. Da der Landhandel über weite Strecken durch noch unberührte Wildnis sowie ausgedehnte Wälder voller realer und imaginärer Gefahren führte, dominierten hier Karawanen, um die Sicherheit zu erhöhen. Noch die Gebrüder Grimm platzierten in ihren Märchen Hexenhäuschen und wilde Tiere in die tiefen, fast undurchdringlichen Wälder. Solche waren freilich zu ihren Lebzeiten kaum noch zu finden, denn wohl bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren im Reich nördlich der Alpen die Waldflächen auf ihre geringste Ausdehnung zusammengeschmolzen. In die Gesetzgebung fanden die Kaufleute der fränkischen Zeit nur selten Eingang, wenngleich das römische Recht, welches noch die Kapitularien Karls des Großen und die in der Karolingerzeit fixierten „Stammesrechte“ beeinflusste, viele Regelungen des Wirtschaftslebens kannte. Die fränkischen Erlasse setzten ein Kaufleute- oder Handelsrecht (lex mercatoria) als bekannt voraus, dessen Inhalte aber wohl gerade deswegen kaum überliefert sind. Dagegen traten nun Bitten um Schutzgewährung, um Abgabenfreiheit oder um größere Rechtssicherheit ein wenig stärker hervor. Dass die noch ausgesprochen rudimentäre Infrastruktur dennoch zunehmend die Räume verband, zeigt sich beispielsweise daran, dass sich Erfurt 51

Frühmittelalter

und Würzburg – bei guter Verkehrslage an Wasserstraßen beide mit Häfen sowie Ufermärkten ausgestattet – aus älterer Wurzel zu vorstädtischen Siedlungen entwickelten. Das Diedenhofer Kapitular von 805 erwähnte als Grenz- und Handelsstationen in Richtung Osten für den Handel mit den Slawen Bardowick (südöstlich von Hamburg), Schezla, Magdeburg, Erfurt, Hallstadt (bei Bamberg), Forchheim, Breemberga (Premberg, Oberpfalz), Regensburg und Lorsch (östlich von Passau). Allerdings kann daraus nicht auf einen weiträumigen Direkthandel beispielsweise auf der ohnehin nicht durchgängig schiffbaren Donau von Bayern bis zum Schwarzen Meer geschlossen werden. Wahrscheinlicher ist ein mittelbarer Handel zwischen Mitteleuropa und dem Donaumündungsgebiet von eher geringem Volumen. Gerade für diese frühe Phase geben mehr noch als die wenigen schriftlichen Nachrichten die archäologischen Untersuchungen zu Handel, Handelsgütern und möglichen Anlandungsplätzen oder Häfen wichtige Hinweise auf die Entstehung und Bedeutung von Märkten und „Städten“. Über das Verkehrswesen ist gleichfalls recht wenig bekannt. Von einer Bevorzugung des Schifftransports gerade bei voluminösen und schweren Produkten ist auszugehen. Die Seeschifffahrt wurde weitgehend als Küstenschifffahrt betrieben, vermied also nach Möglichkeit Fahrten auf hoher See. Dies sollte noch für etliche Jahrhunderte so bleiben. Das römische Straßennetz erfuhr zwar in merowingischer Zeit und darüber hinaus eine Weiternutzung, aber sein Zustand dürfte sich trotz Reparaturen verschlechtert haben. Bei den Verkehrsmitteln zu Lande handelte es sich um Pferde als Zug-, Reit- und Packtiere sowie um Ochsen und Wagen oder, sehr viel häufiger, zweirädrige Karren. Die für die Landwege genutzten Wagen konnten Lasten bis zu etwa einer Tonne transportieren. Die Wikinger waren entgegen den zeitgenössischen Quellen, die allesamt von ihren Gegnern verfasst sind, durchaus nicht nur mordende Krieger. Sie schufen weitreichende Handelsverbindungen: Der normannische Handel erreichte zunächst Nowgorod, dann über Kiew sogar Byzanz. Von dort aus gelangten Seide, Brokat, Schmuck, Wein, Drogen, mit welcher Deklaration vornehmlich Gewürze gemeint sind, in den nordwesteuropäischen Handelskreislauf und an die Küsten Skandinaviens. Die Schiffe der Normannen eigneten sich übrigens bei geringem Tiefgang sowohl für See- wie für Flussreisen, eine entscheidende Voraussetzung der normannischen Expansion. In fränkischer Zeit dominierten die Wasserwege im Verkehrssystem derart, dass Handelsniederlassungen an schiffbaren Gewässern über gute Wachstumschancen verfügten. Freilich lassen sich weder das gesamte 52

Städtewesen

Handelsvolumen noch die Anteile von Schiffs- und Landverkehr auch nur annähernd quantifizieren. Mithin könnte dem Überlandtransport vielleicht eine höhere Bedeutung zugekommen sein als lange angenommen. Dennoch dürften Rhein, Maas, Loire und Seine mitsamt ihren Nebenflüssen für den Handelsverkehr bevorzugt worden sein, und auch östlich des Rheins spielten die Wasserläufe eine gewichtige Rolle für den Transport und allgemein für den Verkehr. Allerdings blieb, was nochmals betont werden muss, die Bindung der Märkte an die Grundherrschaften vorerst noch eng, denn die Grundherren erhielten die einschlägigen Privilegien, nicht die Bewohner der Siedlungen. Neben den persönlich freien Kaufleuten beteiligten sich Hörige im Auftrag ihrer Herren an den Handelsaktivitäten. Als entscheidend erwies sich in diesen Fällen ihre Freizügigkeit, nicht die persönliche Freiheit. Der Fernhandel konzentrierte sich bis ins 10.  Jahrhundert vornehmlich auf Produkte wie Glas, Keramik, Tuche, Schmuck, Textilien, Metalle, Wein, Salz, Wachs, Pelzwaren oder Sklaven. Unter diesen verdeutlichen die drei letztgenannten Handelsgüter die Einbeziehung des Ostens und des Nordens in das Handelsnetz. Der überwiegende Teil der Sklaven, bei denen es sich zumindest theoretisch um Heiden handeln musste, dürfte schließlich in den maurischen Teil der Iberischen Halbinsel verschleppt worden sein.

Städtewesen Mit Blick auf Städte, städtisches Leben und frühstädtische Siedlungen lassen sich im frühmittelalterlichen Europa extrem unterschiedlich verdichtete Zonen und grundsätzlich differierende Entwicklungen erkennen, wie dies auch für manch andere Bereiche charakteristisch ist. Trotz aller strukturellen Veränderungen, der Eroberungszüge und der „Völkerwanderung“ blieben Italien, Südwest- und Südfrankreich, aber auch Burgund und Teile der Iberischen Halbinsel urban geprägt. Gleichwohl begannen die öffentlichen Bauten wie Thermen, Amphitheater oder Zirkusanlagen nicht zuletzt aufgrund des fehlenden Bedarfs zu verfallen oder dienten anderen Zwecken. Angesichts der europaweit – wenngleich in unterschiedlichem Umfang – schrumpfenden Einwohnerzahlen war es nicht nur für Städte in Randlagen des spätrömischen Reichs oft nicht mehr erforderlich, das Wasser wie zuvor über weite Entfernungen mittels Aquädukten he­ ranzuschaffen. Von Missernten einmal abgesehen, erwies sich das Um53

Frühmittelalter

land jetzt auch als ausreichend zur Sicherung der Versorgung mit Lebensmitteln. Zur Definition einer früh- oder hochmittelalterlichen Stadt nördlich der Alpen oder auch einer (vor-)städtischen oder stadtähnlichen Siedlung wird zumeist ein ganzes Kriterienbündel herangezogen. Als ­dessen zentrale Elemente lassen sich eine verdichtete Bebauung, das Über­ wiegen nicht agrarisch tätiger Einwohner, zentralörtliche Funktionen als Handels- und/oder Produktionszentrum, eine kulturelle oder kultische Mittelpunktfunktion und die Rolle als Verwaltungszentrum nennen. Dagegen erfolgte die Errichtung steinerner Mauern anstelle von Holz-SteinErde-Befestigungen als deutlich sichtbares Abgrenzungskriterium zum Umland zumeist erst in der Stauferzeit, teilweise noch später, und Stadtrechtsverleihungen markierten in vielen Fällen erst den Abschluss einer Entwicklung zur Stadt. Freilich muss dem Einwand stattgegeben werden, dass selbst ein solches Kriterienbündel eine Stadt nicht präzise definiert. Besonders die Übergänge zwischen einem großen Dorf und einer Kleinstadt mit stark agrarischer Ausrichtung konnten sich fließend gestalten. Und selbst noch im Spätmittelalter blieb der rechtliche Status einer Siedlung als Stadt zuweilen umstritten. Vielfach haben Historiker, basierend auf Walter Christallers Modell der zentralen Orte, die unterschiedlich ausgeprägten Mittelpunktfunktionen städtischer Siedlungen als entscheidendes Abgrenzungskriterium gegenüber Dörfern betont. Für das Frühmittelalter und bis weit ins 11. und 12. Jahrhundert hinein, teilweise sogar noch im 13. Jahrhundert, lässt sich von einer okzidentalen Stadt allerdings nicht sprechen, da weder Bürger im Rechtssinn existierten noch überhaupt ein gegenüber dem Landrecht besonderer Status der Bewohner dieser Siedlungen; Formen von Selbstregierung und selbst gesetztes Stadtrecht sucht man gleichfalls vergebens. Diese Merkmale stellt Max Weber, einer der Väter der modernen Soziologie, als spezifische Besonderheiten der europäischen Stadt des Mittelalters in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, grenzen ebendiese Merkmale doch die Entwicklung in Europa von der auf anderen Kontinenten fundamental ab und charakterisieren damit eine Sonderstellung der okzidentalen Städte.13 Erst ab dem späten 11. Jahrhundert setzten in Hinblick auf Freizügigkeit und Eigentumsverhältnisse entscheidende Wandlungen ein. In diesem etwa 200 Jahre später abgeschlossenen Prozess fanden die Eigentumsrechte 13 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5., rev. Aufl. Studienausgabe, 19.–23. Tsd., Stuttgart 1980, S. 741–757.

54

Städtewesen

der Stadtbewohner und ihr freies Verfügungsrecht über ihr Erbe zunehmend eine schriftliche Fixierung. Weitere Vorschläge, die zur Definition der mittelalterlichen Stadt unterbreitet wurden, seien noch kurz angerissen: Eine Stadt sei eben dadurch als solche charakterisiert, dass sie in den Quellen als „Stadt“ bezeichnet werde. Oder von einer Stadt sei dann zu sprechen, wenn der Stadtherr sie willentlich als Stadt gegründet oder zur Stadt erhoben habe. Ein weiterer Ansatz bezieht sich auf das Selbstverständnis der Bewohner: Wir haben es demnach mit einer Stadt zu tun, wenn deren Einwohner sich als Stadtbürger verstanden.14 In diesem Zusammenhang wurde nicht zuletzt auch der alltäglichen städtischen Lebensweise, der Urbanitas, Bedeutung beigemessen. Relativ einfach verfuhr hingegen das Statistische Reichsamt in den 1870erJahre, als es in einer ausgesprochen pragmatischen Vorgehensweise alle Siedlungen mit mehr als 2000 Einwohnern zu den Städten zählte. Daneben gilt es, die Herausbildung von Institutionen und Rechten zu verfolgen, denn gerade in den Städten mussten nicht nur für den Handel und die Produktion infrastrukturelle, rechtliche und institutionelle Vo­ raussetzungen teilweise überhaupt erst geschaffen werden. Eine entsprechende Regelungstendenz betraf zunehmend auch das alltägliche innerstädtische Leben, das Verwaltungshandeln sowie die Stadtfinanzen, wobei sich nicht immer die erste Lösung als Erfolg erwies, sondern die damit befassten Gremien durchaus verschiedene Wege erprobten. Mit zunehmender Häufigkeit dürften sich die werdenden Städte auch untereinander über Möglichkeiten der Problemlösung beraten haben. Beginnend im 11., verstärkt dann im 12.  Jahrhundert setzte eine Verrechtlichung und Verschriftlichung vieler Tätigkeitsbereiche ein. Auf zahlreiche neue Fragen und Herausforderungen mussten Antworten gefunden werden. Zu diesem Zweck wurden Statuten zunächst erlassen, dann fortgeschrieben, wurden Stadtrechtstexte erweitert oder umfangreicher formuliert. Bevor sich im Prozess der Kommunebildung eine rechtlich gleichgestellte Bürgerschaft entfalten konnte, mussten die Stadtbewohner sich zunächst aus den persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen von ihren weltlichen und geistlichen 14 Alfred Heit: Vielfalt der Erscheinung – Einheit des Begriffs. Die Stadtdefinition in der deutschsprachigen Stadtgeschichtsforschung seit dem 18. Jahrhundert, in: Johanek/Post (Hg.): Städte, S. 1–12. Gerhard Dilcher: Einheit und Vielheit in Geschichte und Begriff der europäischen Stadt, in: ebd., S. 13–30. Heiko Steuer: Überlegungen zum Stadtbegriff aus der Sicht der Archäologie des Mittelalters, in: ebd., S.  31–51. Michael Mitterauer: Das Problem der zentralen Orte als sozial- und wirtschaftshistorische Aufgabe, in: VSWG 58 (1971), S. 433–467.

55

Frühmittelalter

Herren befreien. Doch selbst noch im Spätmittelalter erlangte längst nicht jeder Stadtbewohner die persönliche Freiheit. „Stadtluft macht frei“ – jenes geflügelte Wort als Gegenentwurf zu „Luft macht eigen“ bleibt nun einmal eine Erfindung der (Rechts-)Historie des 19. Jahrhunderts. Die Einwohnerschaft der spätantiken Städte im späteren Reichsgebiet ging – wie vielfach andernorts auch – teilweise ebenso rasch wie drastisch zurück. Häufig lässt sich im Zuge der Christianisierung eine Schwerpunktverlagerung weg von den alten Stadtzentren hin zu neuen Siedlungskernen um Kirchen, Klöster oder Märtyrergräber erkennen, die nicht selten an der Peripherie der alten Städte lagen; für Köln bieten sich St. Gereon, St. Severin oder St. Ursula als Beispiele an. In der Nähe der außerhalb der Städte gelegenen Friedhöfe konnten sich gleichfalls neue Siedlungszellen bilden. So entstand im Fall von Bonn etwa einen Kilometer vom Kastell entfernt im 4. Jahrhundert eine Märtyrerkirche, in deren Umfeld eine neue Siedlung an Gewicht gewann. Im Hochmittelalter überflügelte sie die alte Siedlung bei dem Kastell, welche die Bewohner schließlich gänzlich aufgaben. Derartige Siedlungsverlagerungsprozesse bildeten eine durchaus nicht seltene Erscheinung innerhalb des Transformationsprozesses vom Römischen Reich zum Frankenreich, wobei die spätantiken Kultstätten sich durchaus als ein Kontinuitätselement erweisen konnten. Köln wiederum dürfte nach dem Abzug der römischen Truppen im Jahre 402 in den ­folgenden Jahrzehnten von den Franken eingenommen worden sein. Hier dürfte sich ein Teilreich herausgebildet haben, denn trotz der Grenzlage suchten etliche Merowingerherrscher in der Folge die Stadt immer wieder auf, was für ihre nicht unerhebliche Bedeutung spricht. Die Mauern dürften noch im 8. Jahrhundert Schutz geboten haben. Wie lange allerdings die steinerne Brücke über den Rhein zwischen Köln und dem rechtsrheinischen Kastell Deutz genutzt werden konnte, bleibt unklar. Constantin hatte den zwischen 308 und 310 begonnenen Bau der etwa 400 Meter langen und rund zehn Meter breiten Brücke angeordnet. Ansonsten überspannte nur eine weitere Steinbrücke den Rhein, jene von Mainz nach Kastell, die 813 abbrannte, was für einen hohen Holzanteil des Bauwerks spricht. Im Frühmittelalter lag der Siedlungsschwerpunkt Kölns schließlich in der östlichen Stadthälfte am Rheinufer. Noch immer kann von einem breiten Handwerksspektrum ausgegangen werden, dessen Produktion sich aber auf ­einfachere Gegenstände verlagerte. Dazu trat ein vergleichsweise ausgeprägter Handel, der den Wandel der Siedlungsstruktur weitgehend erklärt; hier siedelten sich zudem friesische Händler an. 56

Städtewesen

Drastisch an Bedeutung verlor dagegen die ehemalige Kaiserresidenz Trier. Zwar lebten trotz mehrfacher Plünderung dort weiterhin Einwohner, doch dürfte die Bevölkerungszahl innerhalb der immerhin 285 Hektar Fläche umfassenden Stadtmauer von ungefähr 50 000 im 4. Jahrhundert auf etwa ein Zehntel dieses Wertes um das Jahr 500 zurückgegangen sein. Ein Teil der Einwohnerschaft blieb romanisch geprägt, wenngleich die Stadt zu Beginn des 6. Jahrhunderts Teil des Frankenreichs geworden sein dürfte, wobei sie ihre Grenzlage, allerdings nun im Südwesten des Reichs, unverändert beibehielt. Die Ummauerungen der Städte, die sich nicht selten auf deren Kern beschränkten, und weiterer Siedlungen im Inneren des Römischen Reichs hatten während des 3. Jahrhunderts eingesetzt, als die Verteidigung der Grenzen nicht mehr sicher erschien. Zwei Bischöfe, der aus Aquitanien stammende Nicetius (525/56–566) und Magnerich (566 – nach 586), dominierten Trier in weiten Teilen des 6.  Jahrhunderts. Bei ihrer Herrschaft handelte es sich im Kern um ein noch spätantikes Bischofsregiment, erwachsen aus den faktischen Gegebenheiten, begünstigt nicht ­zuletzt durch die räumliche Ferne der merowingischen Herrscher. Bereits in der Spätantike hatten die Bischöfe oder allgemeiner gesagt die Kirche öffentliche Aufgaben übernommen, ein Phänomen, das sich nach dem Abzug der jeweiligen weltlichen Amtsträger noch stärker ausprägte. Erstmals fand die Trierer Gegend dann 634 als Grafschaft Erwähnung, was für eine Durchsetzung der fränkischen Macht spricht, die freilich nur kurzlebig war. Von etwa 650/700 bis ungefähr 770 herrschten wieder die Bischöfe, wie sich aus den ihnen verliehenen Münz-, Zoll- und Abgabenrechten erkennen lässt. Wahrscheinlich nutzten die Bischöfe die Basilika, die Kaiserthermen hingegen fielen an die fränkischen Könige. Den Trierer Dom hatte Nicetius erneuern und im Umland die Nicetiusburg errichten lassen, deren Bau auf seine über die Stadt hinausgehende Regionalherrschaft verweist. Wahrscheinlich konnte bei derartigen Bauvorhaben auf Material aus den in diesem Zeittraum noch funktionsfähigen Ziegeleien zurückgegriffen werden, spezialisierte Bauhandwerker galt es jedoch in Italien anzuwerben. Die Bischöfe standen mit den merowingischen Königen Theuderich I. (511–533), welcher häufig in Trier residierte, Theudebert I. (533–547), Chlothar I. (558–561) und Sigibert I. (561–575) in engem Kontakt. Allerdings versuchte Theudebert, mithilfe seines Amtsträgers Parthenius wieder reichsweit Steuern einziehen zu lassen – eine nach dem Ende der römischen Herrschaft wohl vorübergehend in Vergessenheit geratene Praxis, welche der Merowinger in Übernahme spätantiker Herrschaftsstrukturen 57

Frühmittelalter

nunmehr wiederzubeleben trachtete. Das Vorhaben brachte indes nicht nur die Franken gegen seinen Verwaltungsfachmann auf, und als Parthenius nach dem Tod Theudeberts in der Hoffnung nach Trier flüchtete, einer Verfolgung in diesem scheinbar ruhigen Grenzraum zu entgehen, wurde er dort kurzerhand erschlagen.15 Innerhalb der Mauern kam dem Dombereich die Rolle als Siedlungszentrum zu, und spätestens im 8. Jahrhundert legten die Bewohner auf den Freiflächen im Stadtbereich Weingärten an. Zwei abwechselnd abgehaltene Märkte belegen die Einbeziehung in den merowingisch-fränkischen Handel. Schwere Schäden fügten im weiteren Verlauf die Normannen der Stadt nach ihrer Einnahme am 5. April 882 zu. Von den Kirchen wurden der Dom, St. Maximin, St. Martin und St.  Symphorian erheblich beschädigt oder zerstört; das Ausmaß der Schäden an den Profanbauten ist unklar. Neben der Entwicklung aus römischem Erbe finden sich auch Ansätze einer eigenständigen Stadtentwicklung in den bisher städtelosen Regionen rechts des Rheins und nördlich der Donau: Höhensiedlungen, die Emporien an den Nord- und Ostseeküsten sowie Burganlagen bzw. geistliche Institute mit benachbarter Handwerker- und/oder Kaufleutesiedlung – eine Anordnung, die als topografischer Dualismus bezeichnet wird. In ähnlicher Weise hatte bereits die Ost- sowie Nordverschiebung des Limes in der zweiten Hälfte des 2.  Jahrhunderts im späteren Südwestdeutschland zur Anlage kleinerer Siedlungen wie Bad Wimpfen, Neuenstadt am Kocher, Pforzheim, Rottenburg oder Rottweil geführt. Eine solche Anlehnung von Markt- und Handwerkersiedlungen an herrschaftliche Befestigungen bot diesen immerhin eine gewisse Sicherheit. Über einen möglicherweise städtischen Charakter keltischer Großsiedlungen etwa in Manching oder auf dem Runden Berg bei Urach herrscht hingegen Uneinigkeit.16 Für das 7. und 8. Jahrhundert lassen sich im Binnenland die an den alten Verkehrsknotenpunkten gelegenen Burganlagen von Würzburg und Erfurt nennen, wo an den Wasserstraßen jeweils Ufermärkte entstanden, sowie Büraburg, das um 850 zugunsten von Fritzlar aufgegeben wurde. Alle drei waren zudem mit Münz- und Marktrecht begabt, ein Umstand, den die Verbindung von Herrensitz und Handwerker- bzw. Händlerniederlassung geradezu dazu prädes­ tinierte, Vorformen urbanen Lebens auszubilden. Im Falle von Magdeburg 15 Gregor von Tours: Zehn Bücher Geschichte, hg. v. Rudolf Buchner, Darmstadt 1977, I, S. 188–191. Zu Trier Heinz Heinen: Trier und das Trevererland in römischer Zeit (2000 Jahre Trier, Bd. 1), Trier 5 2002. 16 Vgl. z. B. Sabine Rieckhoff/Stephan Fichtl: Keltenstädte aus der Luft, Stuttgart 2011.

58

Städtewesen

wurde eine vorkarolingische Burganlage im späteren Dombereich zum Ausgangspunkt der sich anbahnenden Entfaltung als Herrschaftssitz unter König Otto I., als kirchliche Metropole und als Handelsplatz. Ohnehin bildeten Bischofssitze einen wichtigen Anknüpfungspunkt, mussten diese doch nach „kirchenrechtlichen“ Vorschriften stadtsässig sein; das Kirchenrecht sollte seine volle Ausformung allerdings erst im 12. und 13. Jahrhundert unter der Herrschaft der Juristen-Päpste erfahren. Außerhalb des Rhein-Mosel-Raums dürfte freilich in der Folgezeit der Begriff civitas für Bischofssitze in den Quellen verwendet worden sein, ohne dass zwingend von einem urbanen Charakter der Siedlungen ausgegangen werden darf. Neben der familia deckten in solchen Fällen benachbarte Handwerker- und Kaufleuteniederlassungen die Nachfrage der Bischöfe und ihres Umkreises. Im Mittelalter und darüber hinaus umfasste der Begriff familia eben nicht nur die Eltern und ihre Kinder, sondern alle im Haushalt oder in der Hofwirtschaft bzw. der Grundherrschaft tätigen Personen. Als förderlich für Stadtentstehung und Stadtwerdung erwies sich neben der topografischen Nähe von befestigter Anlage und Siedlung vor allem die dauerhafte Etablierung von Märkten. In karolingischer und ottonischer Zeit, also grob gesagt von der zweiten Hälfte des 8. bis zum Ende des 10. Jahrhunderts, gelang es den Herrschern, die Einrichtung von Märkten oder zumindest deren nachträgliche Legitimierung von ihrer Zustimmung abhängig zu machen. Das bedeutete in der Regel, dass sie das Marktrecht auf Bitten der Interessenten aufgrund ihres Regalrechts als Privileg verliehen. Allerdings versuchte schon Karl der Kahle sich einen Überblick über die seit der Zeit seines Großvaters Karls des Großen neu eingerichteten Märkte zu verschaffen, inklusive jener, die ohne königliche Zustimmung entstanden waren. Eine Überprüfung sollte die Nützlichkeit der Märkte belegen; erfüllte ein Markt dieses Kriterium nicht, sollte er verboten werden. Ein erstes Marktprivileg ist aus dem Jahre 833 für das Kloster Corvey (Stadt Höxter) überliefert, verbunden mit dem Münzrecht; Würzburg und Corvey wären damit die ersten belegten rechtsrheinischen Münzstätten. Ein Privileg des Jahres 861 für die in der Eifel gelegene Abtei Prüm nennt neben der Verleihung von Markt, Münze und Zoll im Hof Rommersheim einen bestimmten Marktbrauch (mercatum more humano), also eine Art Gewohnheitsrecht. Ein solches setzte die ohnehin nur geringe Überlieferung zum Handel der Merowinger- und Karolingerzeit zumeist voraus, leider ohne es zu erklären oder zu spezifizieren. In der Regel beinhalteten die knappen Urkundentexte neben Empfänger- und Ortsnamen nur die Trias von Markt, 59

Frühmittelalter

Zoll und Münze als erworbene Rechte. Die Marktgerichtsbarkeit wiederum sollte für die Einhaltung des Marktfriedens sorgen. Vor allem unter Otto I. setzten solche Verleihungen an weltliche und geistliche Große auf breiter Front ein. Sie beinhalteten unverändert neben der Erlaubnis zur Einrichtung von Märkten die Möglichkeit zur Erhebung von Zöllen und das Recht zur Prägung von Münzen, wobei deren Gültigkeit zumeist auf den gewährten Markt beschränkt blieb. Dies schloss üblicherweise die Bestimmung ein, dass alle fremden Münzen vor einem Geschäftsabschluss eingetauscht werden mussten. Dabei hatte der Münzherr abzu­ wägen zwischen kurzfristigen hohen Einkünften durch Festlegung von für die fremden Händler ungünstigen Zwangskursen und einer langfristigen Sicherung des Markthandels mit moderatem, aber dauerhaftem Gewinn. Schon durch diesen Zwangstausch gewannen die Münzer oder Münzmeister auf den Märkten erheblich an Gewicht. Zolleinkünfte galten den Zeit­ genossen als Gegenleistung für die Bereitstellung der Infrastruktur, also der Marktausstattung, der Hafenanlagen oder, wenngleich noch vereinzelt, der hölzernen Brücken. Auch die Sicherstellung des Marktfriedens zählte dazu. Leider sind die einschlägigen Privilegien knapp gehalten und verraten keine Einzelheiten, sodass erneut davon auszugehen ist, dass beiden Seiten zumindest prinzipiell klar war, welche Rechte mit welcher Reichweite die ­Pergamente beinhalteten. Bei der praktischen Gestaltung der Zolltarife dürften fiskalische Motive rasch eine gewichtige Rolle gespielt haben. Passier- oder Transitzölle blieben hingegen vorerst weitgehend auf das Gebiet des heutigen Bayern und Österreich beschränkt; der Grund könnte in den naturräumlichen Gegebenheiten sowie den Alpenpässen zu finden sein. Für die Territorien am Rhein sollten erst im Spätmittelalter die Rheinzölle als Transitzölle zur wichtigsten Einnahmequelle werden. Die steigende Anzahl von Märkten, die in erster Linie in den wachsenden Städten angesiedelt waren, ermöglichte es den weltlichen und geistlichen Grundherren, ihre Überschüsse zu veräußern. Hier konnten sie sich im Gegenzug mit begehrter Importware, Luxusartikeln und sonstigen Produkten eindecken, die innerhalb der Grundherrschaften nicht hergestellt werden konnten. Ein durchgängig unentbehrliches Produkt war Salz als das bis weit in die Neuzeit wichtigste Konservierungsmittel. Für Salz kann bereits in diesen Jahrhunderten ein weiträumiger Handel angenommen werden. Es stammte u. a. aus Reichenhall bei Berchtesgaden oder Hallein, später auch aus Schwäbisch Hall und Lüneburg sowie aus weiteren Salinen. Das Wort „Hall“ im Siedlungsnamen verweist übrigens stets auf 60

Städtewesen

Salzvorkommen und deren Verarbeitung in oder bei einer Stadt bzw. Siedlung. Als Alternative zum Salz bot sich ausschließlich das Räuchern von Fleisch oder Fisch an, denn im Gegensatz zu Skandinavien oder dem Mittelmeerraum trockneten diese Nahrungsmittel in Mitteleuropa nur schlecht oder gar nicht. Das Konservierungsmittel Salz besaß daher eine hohe Bedeutung als Handelsgut. Vielfach sicherten sich die Marktherren die Banngewalt, also das Recht, zu gebieten und zu verbieten, sowie die Ausübung der Marktgerichtsbarkeit, um Störungen des Marktfriedens zu ahnden, aber auch Gebühren einzuziehen. Aus diesen Wurzeln entstand auf verschlungenen Wegen ein vom sonstigen Landrecht geschiedenes Marktrecht. Gemeinsam mit etlichen Sonderrechten, die Teile der Fernhändler innehatten, bildete es eine wichtige Basis für die Entstehung von Stadtrechten, ohne dass dieser langwierige Prozess vom Marktort zur Stadt in seinen Details geklärt wäre; letztlich handelt es sich um ein kaum noch zu lösendes Forschungsproblem. Um die erste Jahrtausendwende dürfte es jedenfalls etwa 200 bis 300 Märkte im späteren Deutschland gegeben haben, wobei die höhere Zahl die wahrscheinlichere ist; im 11.  Jahrhundert kamen weitere Märkte hinzu. Viele davon wuchsen in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten zu Städten heran; als noch enger erwies sich die Verzahnung von Marktsiedlung, zunehmend als forum bezeichnet, und Stadtwerdung im 12. Jahrhundert. Allgemein gesagt stimulierte die Verbindung von Markt, Siedlung und Befestigung die Entstehung des hochmittelalterlichen Städtewesens außerhalb des ehemaligen Römischen Reichs maßgeblich. Für die Zeit der Karolinger und darüber hinaus ist dabei charakteristisch, dass diese von ihren Pfalzen aus herrschten und sich kaum mehr in den Städten aufhielten. Zwar entwickelten sich aus etlichen Pfalzen später ebenfalls Städte, doch fehlen stärkere, direkte Impulse der Könige für das Werden der Städte über die Privilegienverleihung (Markt, Münze, Zoll) hinaus in diesem Zeitraum weitgehend. Neben den inneren Unruhen des 9. Jahrhunderts führten die zunehmenden Normanneneinfälle ebenso zum Neubau oder zur Erneuerung von Befestigungen oder Mauerringen, dann im 10. Jahrhundert das Vordringen der Ungarn. Die Sarazenen beunruhigten vornehmlich die nördlichen Küsten des Mittelmeers, und nachdem sie mit Fraxinetum (La Garde-Freinet) 888/89 einen Festlandstützpunkt erobert hatten, griffen sie mit ihren Überfällen sogar bis auf die Alpenpässe aus; erst im Jahr 972 mussten sie diesen Standort aufgeben. 61

Frühmittelalter

Da die wirtschaftlichen Beziehungen nach Mittel- und Südgallien seit dem 7. Jahrhundert schwächer wurden und dafür der Güteraustausch mit England und Skandinavien in den Vordergrund trat, entstanden in Nordwest- und Nordeuropa von der Somme bis zur Ostsee – neben den erwähnten Siedlungen in den Niederen Landen – als eigenständige Form frühstädtischer Siedlungen sogenannte Emporien. Dabei handelte es sich vornehmlich um Handelsniederlassungen unter königlichem Schutz, in denen jedoch auch Handwerker dauerhaft siedelten. Als Zentren des Fernhandels, aber auch als Produktionsstätten sind vor allem zu nennen: Quentovic an der Canche südlich von Boulogne, dann der nur archäologisch erschlossene vicus Domburg auf Walcheren, Dorestad an der Gabelung von Rhein und Lek sowie weiter östlich die Südsiedlung von Haithabu am Südufer der Schlei, ferner das schwedische Helgö im Mälarsee vom 6. bis zum 8. Jahrhundert. Helgö, eine Vorgängersiedlung Stockholms mit den Zwischenstationen Birka und Sigtuna, lag in einer Region mit hoch entwickelter Metallproduktion, selbst in Haithabu verhütteten die dortigen Handwerker schwedisches Erz. Die beiden Orte verweisen damit auf den sich zeitlich parallel entwickelnden Ostseehandel, der sogar weit darüber hinaus bis in das Kiewer Reich reichte. Möglicherweise wurde im Frühjahr jedes Jahres in Haithabu an einem relativ festen Termin ein Markt abgehalten, den beispielsweise der norwegische Großbauer, Rentierzüchter und Saisonkaufmann Ottar von Halogaland auf seiner Fahrt über Kaupang, wo er Speckstein an Bord nehmen ließ, besuchte, bevor er vermutlich nach England weitersegelte. Jedenfalls kann vorausgesetzt werden, dass Kaufleute aus den Niederen Landen, Nordfrankreich oder England ebenso wie die friesischen Händler wussten, dass sie in diesem Ostseeemporium auf Skandinavier, Gotländer und Bewohner der südlichen Ostseeküsten trafen, vielleicht sogar schon auf Kaufleute aus dem Gebiet des späteren Russland.17 Etliche friesische Händler ließen sich sogar in der Siedlung nieder, um selbst in den Ostseehandel einzusteigen, und sie brachten ihren Schiffstyp, einen Vorläufer der Kogge, vom Wattenmeer der Nordsee mit an die Ostsee. Die Handelsbeziehungen der in Haithabu ansässigen Kaufleute reichten bis ins Rheinland, nach Dorestadt, zur englischen Küste, nach Norwegen sowie Schweden, in die slawischen Gebiete, eventuell sogar bis auf die Iberische Halbinsel, denn dort befanden sich die nächstgelegenen Vorkommen an Quecksilber, einem für die Feuervergoldung benötigten Metall. Ein im Hafengebiet untergegan­ 17 Irsigler: Messehandel, S. 38.

62

Soziale Strukturen und Bildung des Adels

genes Frachtschiff lässt eine Ladekapazität von erstaunlichen 60 Tonnen erkennen. Da nur wenige Hinweise auf Viehhaltung in Haithabu vorliegen, muss ein für die damalige Zeit umfangreicher Viehhandel auch mit dem weiteren Umland stattgefunden haben, denn die Knochenfunde deuten auf einen nicht unerheblichen Fleischverzehr hin. In der Siedlung lassen sich holzverarbeitende Gewerbe, Bernstein- und Geweihverarbeitung sowie Glasherstellung, Eisenverhüttung, Feinmetallverarbeitung, Bronzeguss und Goldschmieden nachweisen, was für eine erhebliche gewerbliche Diversifikation und Spezialisierung der Handwerker spricht. Kämme fertigten die Produzenten überwiegend aus Rothirschgeweih, wobei sie die Tiere zumeist nicht selbst erlegten, sondern die Geweihe importierten; in der Spätzeit fand Rengeweih in größerem Umfang Verwendung. Archäologische Befunde etwa aus Haithabu lassen weiterhin erkennen, dass im Norden nicht nur der Handel mit Luxusgütern Bedeutung besaß, sondern daneben Waren des täglichen Bedarfs wie Getreide, Wein, Textilien oder Metallwaren gehandelt wurden. Aus dem Osten Europas gelangten vornehmlich Pelze, Wachs, Honig und nicht zuletzt Sklaven in die Mitte, den Süden sowie den Westen Europas. Von Dorestad und Quentowik aus standen die Kaufleute auch mit Hamwic an der englischen Kanalküste unweit des heutigen Southampton in Handelsverbindung. Gemeinsam ist allen Emporien, dass sie trotz zentralörtlicher Funktionen – wobei der Fernhandel stets vor der handwerklichen Produktion im Zentrum stand – jeweils nur etwa zwei Jahrhunderte überdauerten. Dorestad plünderten die Normannen im 9. Jahrhundert relativ regelmäßig, und Haithabu dürfte in den kriegerischen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Ostseeraum noch vor der Mitte des 11.  Jahrhunderts endgültig untergegangen sein. Als Hauptgrund für den bereits zuvor einsetzenden Bedeutungsverlust gilt allerdings das Verlanden des Hafens, weshalb schon im 10. Jahrhundert Schleswig dessen Funktion sukzessive übernahm und eine vorübergehende Blüte erlebte. Bei den anderen Emporien bleiben die Gründe für ihr Ende weitgehend unklar.

Soziale Strukturen und Bildung des Adels Spätestens seit dem Ende des 8. Jahrhunderts lassen sich schwerwiegende Verwerfungen in der Gesellschaft des Frankenreichs ausmachen: Zahlreiche ehemals Freie oder Besitzer freier Hofstellen in den Grundherrschaften 63

Frühmittelalter

wurden nunmehr unter Besitzstandsverschlechterungen in eine kaum präzise zu definierende Form der Hörigkeit gedrückt, während die zuvor zahlenmäßig wenigen Unfreien mit der Hörigkeit wahrscheinlich eine – wenngleich geringe – Statusaufwertung erfuhren. Umstritten ist, wie man den aus der Antike übernommenen Terminus servus bzw. servi für die folgenden Jahrhunderte angemessen übersetzt. Um den klar umrissenen antiken Sklavenstatus handelte es sich jedenfalls nicht mehr, vielmehr bildete das allgemeine Hörigkeitsverhältnis diesem gegenüber eine zumindest leichte Verbesserung – eine Entwicklung, die allerdings erst im 10.  Jahrhundert ihren Abschluss finden sollte. Legitimierend zugunsten der Grundherrschaften und damit bestehender oder vergrößerter persönlicher Unfreiheit wirkte beispielsweise die Auffassung von Augustinus, Sklaverei entstehe durch schuldhaftes Verhalten der Menschen, sei also eigenverschuldet. Für die Zeitgenossen kennzeichneten auf der anderen Seite der Sozial­ pyramide die steigerungsfähigen Begriffe nobilis oder „edel“ – falls sie denn in einem sozialstrukturell gemeinten Sinn verwendet wurden – einen gesellschaftlichen Vorrang, der seine Begründung insbesondere in der Herkunft fand.18 Die herausgehobene Stellung beruhte also zumindest implizit auf dem Glauben an die Vererbbarkeit von positiv besetzten Eigenschaften, die wiederum eine besondere Lebensweise und die Erfüllung bestimmter Normen erforderten, um die Stellung weiterhin zu rechtfertigen. Historiker definieren Adel unterschiedlich, gewöhnlich aber anhand mehrerer Merkmale. Als grundlegende Kennzeichen gelten die Herkunft sowie umfangreicher Grundbesitz, und aus beiden Wurzeln ließen sich Herrschaftsrechte über Menschen herleiten. Adel wird weiterhin als universalhistorisches Phänomen der Vormoderne betrachtet, das zunächst in Agrargesellschaften entstand, die ihrerseits eine Folge der neolithischen Revolution und des Übergangs zum Ackerbau waren. Als hypothetischer Ausgangspunkt gilt eine Entwicklungsstufe, in der ein Mehrwert überhaupt erst realisiert werden konnte, welcher der dauerhaften, auch gewaltsam durchgesetzten Freistellung bestimmter Personengruppen von der 18 Zur Entwicklung und Formierung des Adels vgl. Werner Hechberger: Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 72), München 2004. Ders.: Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems (Mittelalter-Forschungen, 17), Ostfildern 2005. Zur Herausbildung des Adels vgl. weiterhin Joseph Morsel: Die Erfindung des Adels. Zur Soziogenese des Adels am Ende des Mittelalters – das Beispiel Franken, in: OttoGerhard Oexle/Werner Parsvicini (Hg.): Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in ­A lteuropa, Göttingen 1997, S. 312–375.

64

Soziale Strukturen und Bildung des Adels

g­ ewöhnlichen Arbeit diente, was diesen wiederum die Ausübung anderer Funktionen sowie die Herrschaft ermöglichte. Eine entscheidende Grundlage der hervorgehobenen Stellung bildete der überdurchschnittliche Grundbesitz dieser Führungsschicht, der entweder durch Akkumulation oder durch Eroberung und gewaltsamen Erwerb zustande kam. Solcher Grundbesitz konnte zum Ausgangspunkt für einen zunächst gesellschaftlichen Vorrang von unterschiedlich strukturierten Familienverbänden werden, dann zu einem vererbbaren und schließlich zu einem als Rechtsanspruch anerkannten Vorrang führen. Am Ende des Prozesses standen jedenfalls mittels der Geburt erworbene Herrschaftsrechte über andere Menschen. Die Hervorhebung der Abstammung diente als Legitimation, sicherte Kontinuität, begründete ein besonderes, wenngleich erst deutlich später voll entwickeltes Traditionsbewusstsein und wirkte sich auf das Heiratsverhalten aus. Von „Adel“ lässt sich in diesen Jahrhunderten freilich nur als von einem Idealtyp sprechen, denn nicht immer trafen alle Kriterien zusammen. Da es sich um ein Entwicklungsmodell handelt, lässt sich trefflich darüber streiten, ab welcher Stufe oder bei Vorliegen welcher Kriterien überhaupt von Adel gesprochen werden kann. Insbesondere für das frühe Mittelalter wurde die Angemessenheit des Begriffs ausführlich diskutiert, zumal eine rechtliche Sonderstellung des Adels keinesfalls eindeutig zu belegen ist. Als soziale Gruppierung blieb der Adel im Früh- und Hochmittelalter eine noch nicht fest abgegrenzte Gruppe. Insbesondere gelten der Aufstieg und die Integration der ursprünglich unfreien Ministerialen als ein Beleg für dessen soziale Durchlässigkeit. Die rechtliche Stellung des Adels fixierten Rechte ohnehin erst seit dem 12. Jahrhundert präziser. Nachdem sich auf diese Weise soziale Schranken seit dem späten Hochmittelalter verfestigten, konnte das Adelsprädikat nun auch verliehen werden. Im Hinblick auf das Selbstverständnis der Zeitgenossen ist „der“ Adel als Kollektivsubjekt erst ein Produkt des Spätmittelalters. Er formierte sich in defensiver Abgrenzung als Reaktion auf neue politische und soziale Veränderungen, so vornehmlich auf die Entstehung der Landesherrschaft mit ihren verstärkten Herrschaftsansprüchen und die wachsende Bedeutung der Städte und ihrer Bürger. In der Merowingerzeit entstand zunächst eine Oberschicht, die sich durch Reichtum, Grundbesitz und die Verfügung über verschiedene Ämter auszeichnete. Als bedeutsam erwies sich schon in dieser Zeit wie auch später im Hochmittelalter eine besondere Königsnähe. In den kriegerischen 65

Frühmittelalter

Auseinandersetzungen zwischen den Merowingern waren die Könige der Teilreiche auf Helfer angewiesen, die sie beispielsweise mit Landschenkungen gewannen. Solche Schenkungen galten anfangs zwar wahrscheinlich nur auf Lebenszeit als Bezahlung für militärische Tätigkeiten, ließen sich aber später nicht oder kaum mehr von den Erben des Empfängers zurückfordern. Die Teilungen des Reichs führten schließlich zu regionalen Adelsgruppierungen und einem geografisch bestimmten Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppen in Austrien, Neustrien und Burgund. Insgesamt ist dieser Entwicklungsstrang bis ins 8. Jahrhundert hinein durch den Bedeutungsgewinn führender Familien charakterisiert. Als Kennzeichen der Oberschicht gelten daher in der Forschung ererbtes gesellschaftliches ­Ansehen und konkrete Machtmittel, Reichtum und Grundbesitz bildeten dagegen die unverzichtbare Voraussetzung. Für die Karolingerzeit lässt sich dann von einer „Reichsaristokratie“ sprechen, die vielleicht 200 Familien umfasste, welche sich untereinander vielfach durch Heiratsbeziehungen verbanden und mehr oder weniger intensiv die königliche Politik unterstützten. Die Zugehörigkeit von Familien zur Führungsgruppe konnte freilich wechseln: Gewaltsame Ausei­ nandersetzungen, Eheschließungen sowie die Ein- oder Absetzungen durch die Könige hielten die Fluktuation hoch. Auch enthielten karolingische Kapitularien gewöhnlich die Formel, dass der Konsens der Getreuen oder der Großen eingeholt worden sei. Der Adel wirkte somit an der Gesetzgebung sowie an der Formulierung der Kapitularien mit. Da die Kirche des Reiches aufgrund der zahlreichen Schenkungen ebenfalls für „staatliche“ Aufgaben herangezogen und in die Herrschaftsstrukturen eingebunden wurde, geriet die Vergabe der hohen kirchlichen Ämter zunehmend unter die Kontrolle der Könige. So bildete sich sukzessive ein hoher Klerus aus zumeist adligen Bischöfen und Äbten, und die Konturen einer Adelskirche kristallisierten sich deutlicher heraus. Dennoch bot die Kirche die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, das bekannteste Beispiel ist wohl der aus unfreien Verhältnissen stammende Erzbischof Ebo von Reims (816–835/51). Bereits in diesen Jahrzehnten zeigte sich eine aristokratische Ausprägung der Herrschaftsstrukturen und sogar schon des Gesellschaftsaufbaus, die in Europa für das Hochmittelalter und darüber hinaus prägend bleiben sollte. Allerdings gewann zumindest in Frankreich und England spätestens seit dem 13. Jahrhundert die Königsherrschaft gegen diese zentrifugalen Tendenzen an Bedeutung und ein Verstaatungsprozess setzte ein. 66

Soziale Strukturen und Bildung des Adels

Gravierende soziale Folgen zeitigten auch die militärischen Veränderungen der Karolingerzeit, welche diesen Prozess gleichsam forcierten. Die Reitertruppe gewann seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts an Bedeutung, und in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts fanden Kriegszüge fast jährlich statt, was erhebliche Probleme für weniger vermögende Freie aufwarf. Spätestens zu Beginn des 9. Jahrhunderts knüpften die Herrscher die allgemeine Heerespflicht der Freien an eine bestimmte Besitzmindestgröße; die Ärmeren sollten Gestellungsverbände bilden. Derart nahm von sechs, acht oder zwölf Bauern nur noch einer an den Kriegszügen teil, während die verbliebenen dessen Güter mitbewirtschaften mussten. Aus diesen Kämpfern konnten sich in einem längeren Prozess spezialisierte Krieger herausbilden, die zunehmend Herrschaftsrechte gegenüber den anderen beanspruchten. In der Praxis bedrückten ohnehin vornehmlich die lokalen Grundherren ihre Hintersassen, indem sie etwa auch ärmere, aber persönlich freie Bauern zu den Waffen riefen, um diese anschließend aufgrund ihrer nunmehr zu geringen Mittel in Abhängigkeit von sich zu bringen; ihre direkten Hintersassen schonten sie dagegen vielfach. Mit diesen Entwicklungen begann die Entstehung eines Kriegertums als „Berufsstand“, der zunächst vornehmlich Angehörige von Adelsfamilien mit reichem Eigenbesitz und Lehnsgütern umfasste. Als Folge setzte eine soziale Distanzierung selbst der weniger gut ausgestatteten Reiterkrieger vom Rest der freien Bevölkerung ein. Zeitlich parallel dazu verlief der Ausbau der Grundherrschaften. Als Ergebnis ist in der Karolingerzeit ein Adel als eine wiederum in sich gestufte Oberschicht der Freien fassbar. Ein zentrales Element bildete sicherlich unverändert die Größe des Besitzes, doch wurde die Zugehörigkeit aus zeitgenössischer Sicht nun schon eindeutiger durch die Geburt definiert. Erstmals ist denn auch von Armen vornehmer Abstammung die Rede, eine Tendenz zum Abschluss des Adels ist damit deutlich erkennbar. Von einer rechtlichen Sonderstellung kann aber wohl immer noch nicht gesprochen werden. Karl der Große beantwortete eine derartige Anfrage mit dem Diktum, dass es im Reich nur Freie und Unfreie gebe. Die Entwicklung verlief in enger Verbindung mit dem Aufkommen des Lehnswesens. Idealtypischerweise verpflichtete sich der freie Lehnsmann zu Rat und Hilfe, während der mächtigere und vielfach ranghöhere Lehnsherr Schutz und Schirm zusicherte. Diese persönlichen Bindungen wurden seit der Mitte des 8. Jahrhunderts durch Treueide bekräftigt, als die Vasallität ihre ältere Verbindung mit der Sphäre der Unfreiheit verloren hatte und trotz des Handgangs keinen Ansehensverlust mehr beinhaltete. Als 67

Frühmittelalter

entscheidend aber sollte sich die dingliche Seite des Lehnsverhältnisses erweisen, denn schon in karolingischer Zeit übertrug der Lehnsherr dem Lehnsnehmer ein Lehnsgut, bei dem es sich zumeist um Landbesitz, häufig zunächst aus Kirchengut stammend, handelte. Dieses sollte zur Sicherung des Lebensunterhalts und vor allem zur Ableistung der vom Vasall geforderten militärischen Dienste dienen, doch die Lehen tendierten rasch zur Erblichkeit. Begünstigt durch die inneren Auseinandersetzungen im Frankenreich und die äußere Bedrohung durch Normannen, Sarazenen und Ungarn gewannen die Großen im 9. und 10. Jahrhundert parallel zum Verfall der königlichen Macht weiter an Bedeutung, denn nur sie konnten aufgrund ihrer Machtfülle zumindest regional für eine gewisse Sicherheit sorgen. Die folgende Zeit ist in allen Teilreichen gekennzeichnet durch die Übernahme königlicher Befugnisse durch einzelne Große aus dem Kreis der Reichsaristokratie. Jetzt entstanden im ostfränkischen Reich die sogenannten jüngeren Stammesherzogtümer; ob dabei eine gentile Grundlage in Form der älteren „Stämme“ eine besondere Rolle spielte, ist umstritten. Jedenfalls erlangten die duces der ausgehenden Karolingerzeit eine vizekönigliche ­Stellung, die oftmals die Verfügung über Kirchengüter einschloss. Parallel dazu entwickelten sich mit zunehmender Tendenz Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb des Adels durch den Ausbau und die Weiterentwicklung des Lehnswesens. Der Wechsel kleinerer Lehnsnehmer aus dem Königsdienst in den Dienst von Fürsten und anderen Großen nahm gleichfalls zu. Damit festigte sich die auf Besitzunterschieden und Rangabstufungen beruhende Hierarchie im Adel, ohne aber schon rechtlich fixiert zu sein.

68

Hochmittelalter

Hochmittelalter

Agrarsektor Die Auflösung der im Frühmittelalter entstandenen Villikationen begann allgemein im 11. Jahrhundert – in Nordfrankreich bereits im 10. Jahrhundert, während andernorts die Villikationsverfassung in Resten noch im 15. Jahrhundert existent war. Damit setzte in Europa noch im 11., verstärkt im 12.  Jahrhundert ein tief greifender Strukturwandel ein, über dessen ­Ursachen und Gewichtungen vielfach nur Vermutungen geäußert werden können. Deutlich ist jedoch eine schon oft beschriebene innere wie äußere Unruhe der Menschen, das Infragestellen tradierter Ordnungs- und Gesellschaftsvorstellungen – nicht zuletzt durch das Wachstum der Städte, den Anstieg ihrer Bewohnerzahl, aber auch durch die Ausweitung des besiedelten Landes mittels Rodungen und Trockenlegungen mitsamt den folgenden Kultivierungen –, die Zunahme von Kenntnissen über entferntere Gebiete sowie wahrscheinlich veränderte Denkstrukturen. Den Hintergrund dieser Entwicklung bildeten das enorme Bevölkerungswachstum, die Fortschritte in der Landwirtschaft, der einsetzende Verstädterungsprozess sowie der Aufschwung von Handel und Gewerbe. Nochmals verstärkt seit dem 12. Jahrhundert forderten all diese Phänomene offenere Strukturen ein anstelle der bisherigen, trotz der teilweise schon intensiven Handelsaktivitäten doch weitgehend in sich geschlossenen landwirtschaftlichen Komplexe. Auch beim Adel fanden Veränderungen statt. In diesem Zeitraum kam es zu einer ausgeprägten Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land; die Getreidepreise stiegen langfristig. Die Vorstellung der im 11. Jahrhundert ausformulierten Ständelehre von einer funktionalen Dreiteilung der Gesellschaft in Adel, Geistlichkeit und Bauern unter Einschluss der ländlichen Handwerker erwies sich bereits zu diesem Zeitpunkt als weitgehend obsolet, konnte sie doch Handwerker als eigenständige Produzenten kaum, Kaufleute gar nicht integrieren; auch sonst entsprach sie nur wenig der sozialen Wirklichkeit. Ihre Funktion zur Legitimation der Stellung von Adel und Klerus und damit der gesellschaftlichen Ungleichheit blieb jedoch langfristig wirksam. Letztlich bildeten sich auf dem Land und in den Städten ebenso wie in der Kirche jeweils eigene, nur partiell miteinander verschränkte Hierarchien heraus. Derartige Ungleichheit wurde während Reformation und Bauernkrieg zunehmend als Ungerechtigkeit empfunden. Das demografische Wachstum führte zur Ostsiedlung und zu einem großflächigen Landesausbau in den Altsiedelgebieten, wo nunmehr der Prozess der Erschließung der Mittelgebirge zunächst eine erhebliche Beschleu70

Agrarsektor

nigung erfuhr und schließlich seinen Abschluss fand. So wurden beispielsweise Bayerischer Wald, Harz, Schwarzwald, Sauerland, Rhön, Weserbergland und Erzgebirge besiedelt, in diesen Regionen entwickelten sich zudem zumeist kleinere Städte. Dagegen wurde in Frankreich das lange unzugängliche Zentralmassiv erst in den Jahrzehnten vor 1300 erschlossen. Tendenziell standen sich die Neusiedler besser als die Alteingesessenen: Sie erlangten oder behielten im Osten zumeist ihre persönliche Freiheit sowie günstige Besitzrechte, während im Westen häufig zumindest die Abgabenlast und die Frondienste eine Reduzierung erfuhren. Helmold von Bosau berichtete über die Anwerbeversuche Graf Adolfs II. von Schauenburg im Jahre 1143, um die Region um Segeberg und das spätere Lübeck mit Ansiedlern zu füllen: „Da das Land verlassen war, schickte er Boten in alle Lande, nämlich nach Flandern und Holland, Utrecht, Westfalen und Friesland, daß jeder, der zu wenig Land hätte, mit seiner Familie kommen sollte, um den schönsten, geräumigsten, fruchtbarsten, an Fisch und Fleisch überreichen Acker nebst Weidegründen zu erhalten.“1 Allerdings darf die Zahl der Ostwanderer nicht überschätzt werden, denn wahrscheinlich handelte es sich im 12. und im 13.  Jahrhundert gerade einmal um jeweils ungefähr 200 000 wohl schon zuvor landwirtschaftlich tätige Personen, welche den weiten Weg mit all seinen Strapazen auf sich nahmen, ohne aber in der Zielregion die einheimische Bevölkerung zu verdrängen. Ohnehin dürfte die Mehrzahl der Siedler aus benachbarten Regionen gestammt haben. Daneben legten die Siedler Flussniederungen, Sümpfe und Moore trocken, um zusätzliche, landwirtschaftlich nutzbare Flächen zu gewinnen. Außerdem erfolgte eine Neugestaltung des Marktwesens im östlichen Siedlungsraum. In jene Jahrhunderte fällt weithin die Umwandlung von der Natur- in eine Kulturlandschaft, bevor im 19. Jahrhundert eine noch umfangreichere Neugestaltung stattfand, welche die bestehenden Strukturen immens verformte oder vielfach sogar komplett überlagerte und zu erheblichen Schwerpunktverlagerungen führte. Im Altsiedelland trieb der Bevölkerungsdruck den Innenausbau der Gemarkungen voran, sodass aus Einzelhöfen kleine Ansiedlungen heranwuchsen und aus derartigen Weilern wiederum Dörfer. Selbst in den schon zuvor besiedelten Räumen erfolgte nun eine planmäßigere Anlage der Dörfer, denen man seit dem Hochmittelalter regelmäßigere Formen gab. Zudem dürfte sich die Verwaltung von umfang­ reichen Villikationen als durchaus kompliziert erwiesen haben. Der 1 Helmold von Bosau: Slawenchronik, S. 210 f.

71

Hochmittelalter

erforderliche Verwaltungsaufwand, um die Leistungen der Hörigen einzufordern und zu kontrollieren, könnte sich durchaus im Sinne der Grundherren durch eine Umstellung auf Pachten verringert haben. Gerade bei ausgedehnten Villikationen mit Streubesitzungen, die in erster Linie bei geistlichen Instituten teilweise Hunderte von Kilometern vom Haupthof entfernt lagen, kann dies bei zunehmender Marktverflechtung durchaus eine wichtige Rolle gespielt haben. Allerdings war es auch schon zuvor Usus, dass gerade solche entfernteren Höfe überwiegend das durch den Verkauf vor Ort erlöste Bargeld an die Zentrale transferierten. Doch lassen sich die Fortschritte in der Landwirtschaft nicht allein durch das Klimaoptimum auf der einen und Bevölkerungswachstum und steigende Getreidepreise auf der anderen Seite erklären. Hohe Bedeutung erlangten technische Neuerungen, denn allmählich verfügten die Bauern über effektivere Arbeitsgeräte wie bessere Pflüge, Wagen sowie Handgeräte. Letztere waren mittlerweile mit Eisen zumindest beschlagen, nahmen doch der Abbau von Erzen und deren Verhüttung deutlich zu; daneben erleichterten Dreschflegel die Arbeit. Die Anzahl der Mühlen stieg, was bei den am stärksten vertretenen Mahlmühlen schon durch das Anwachsen der Getreideproduktion bedingt war. Damit konnte das Gewässersystem wesentlich effektiver genutzt werden, und bis zu dem verbreiteten Einsatz von Dampfmaschinen im 19. Jahrhundert blieben die Mühlen jene universalen Maschinen, welche als einzige Wind wie Wasser in kinetisch-mechanische Energie umsetzen konnten. Neue Anspanntechniken für Pferde und Rinder oder Ochsen ermöglichten ebenfalls eine intensivere Bodenbearbeitung, die wiederum zu steigenden Erträgen führte. Seit dem 12. Jahrhundert setzte sich zudem die längst bekannte Dreifelderwirtschaft großflächig durch, lediglich in Norddeutschland blieb der sogenannte „ewige Roggenanbau“ verbreitet. Auch in Weinbaugebieten betrieben die Bauern, hier allerdings aus arbeitsökonomischen Gründen, eine Zweifelderwirtschaft unverändert weiter. Zur Getreideernte diente die Sichel, da bei Verwendung von Sensen der Kornverlust als zu hoch galt. Höhere Erträge ­ermöglichte die Anlage von Obst- und Gemüsekulturen – Erstere sind freilich erst für das 14.  Jahrhundert sicher belegt – sowie vor allem von Weinbergen und Weingärten. Die Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land stieß freilich in denjenigen Gebieten, wo die Marktanbindung der bäuerlichen Bevölkerung aufgrund der geringen Städtedichte schwach ausgebildet war, schnell an ihre Grenzen. Hier mussten die bäuerlichen Betriebe nicht zuletzt angesichts mangelnder Absatzchancen für ihre Produkte oder auch 72

Agrarsektor

infolge der geringen Bodenerträge in den Mittelgebirgslandschaften ihren Grundbedarf an Arbeitsgeräten weiterhin selbst herstellen. Es lässt sich keinesfalls konstatieren, dass die Grundherren freiwillig auf Rechte verzichtet hätten. Im Gegenteil verzeichnen die Quellen durchaus Ansätze, die grundherrlichen Ansprüche – vermeintliche oder tatsächlich gerechtfertigte – gegenüber den Hintersassen nochmals zu erhöhen. Dem standen vor allem die Möglichkeiten der Bauern entgegen, sich aus den grundherrschaftlichen Bindungen durch Freilassung oder Flucht zu entziehen, um ihr Glück in anderen Gebieten oder in den wachsenden Städten zu suchen und wohl zumindest teilweise auch zu finden. Zeitlich am frühesten erfasste der Prozess der Auflösung von Villikationen oder klassischen, bipartialen Grundherrschaften – und sowohl die Entstehung der Grundherrschaft als moderner Ordnungsbegriff wie deren Auflösung werden nur in der Rückschau sichtbar – vermutlich die kleinparzellierten Höfe mit schwindendem Anteil an Herren- oder Salland, auf denen die Fronen zumeist schon in Geldzahlungen umgewandelt worden waren. Dieser Strukturwandel führte in zahlreichen Regionen mittelfristig zu einer Aufsplitterung der grundherrlichen Gerechtsame in Grund-, Leib- sowie Gerichtsrechte, die längst nicht in jedem Fall in einer Hand vereint blieben, zumal die Rechte mit zunehmender Tendenz gehandelt oder getauscht wurden. Eine solche Konstellation aufgeteilter und damit konkurrierender Rechte konnte eine selbstständigere Stellung der Bauern ebenfalls begünstigen. Unverändert über eine hohe, teilweise noch wachsende Bedeutung verfügten hingegen die Bannbezirke, darunter insbesondere der Mühlenbann. Bereits zwischen dem 10. und dem 12.  Jahrhundert lässt sich ein Schrumpfen der Fronhöfe im Reichsgebiet oder zumindest im Südwesten erkennen, während in einem zeitlich nachgelagerten Prozess zwischen dem 11. und dem 13.  Jahrhundert die Größe der Bauernstellen in dieser Region vielfach auf eine Viertelhufe (Schuppose) zurückging. Die Herren gaben hier die Fronhofwirtschaft überwiegend auf und betrieben eine nur noch geringe Eigenwirtschaft, während das sonstige Salland gegen Geldzins an Bauern ausgegeben wurde. Diese lösten auch die Frondienstleistungen zumeist mit Geld ab, wodurch für die Grundherren der Rentenbezug in den Vordergrund trat. Doch neben den Geldleistungen kam den Naturalabgaben weiterhin eine hohe Bedeutung zu.2 Grundsätzlich lassen sich 2 Werner Rösener: Grundherrschaft im Wandel. Untersuchungen zur Entwicklung geistlicher Grundherrschaften im südwestdeutschen Raum vom 9. bis 14. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 102), Göttingen 1991.

73

Hochmittelalter

bei der Auflösung der Villikationen trotz aller teilweise gravierenden Unterschiede und regionalen Besonderheiten drei Hauptvarianten erkennen: Bei der ersten fand die Eigenwirtschaft der Grundherren gänzlich ihr Ende, und aus diesem Land wurden entweder mehrere vollwertige Bauernstellen parzelliert oder es gelangte in geringeren Flächengrößen an die Hufenbauern des vormaligen Fronhofverbands. Im Mittelpunkt standen für die Grundherren Natural- oder Geldabgaben quasi als Pachtgebühr. Als zweite Variante begegnet ein Prozess, in dessen Verlauf nicht das gesamte Eigenbauland der Grundherren der Verteilung anheimfiel. Diese behielten vielmehr einen beträchtlichen Teil des Herrenlandes zurück, der als geschlossener Hofbesitz an einen Bauern gelangte. Viele derartiger Meieroder Dinghöfe dienten den Grundherren weiterhin als Sammelstellen für die bäuerlichen Abgaben und vielerorts daneben unverändert als Sitz des grundherrlichen Gerichts, falls dieses für die Angehörigen des alten Fronhofverbandes, die familia, seine Zuständigkeit behauptete. Als dritte, keinesfalls seltene Alternative ist zu erwähnen, dass die Fronhöfe in der Hand der Grundherren verblieben und diese sich auf die neuen Bedingungen einstellten. Das Ziel war, darauf eine in der Regel reduzierte, aber möglichst ertragreiche Eigenwirtschaft zu betreiben, während das restliche Land gegen Abgabenleistungen und/oder Fronen an die freien und unfreien bäuerlichen Hintersassen ausgegeben wurde. Daneben führten das zahlenmäßige Wachstum der Ministerialität und die im späten 13.  Jahrhundert weitgehend abgeschlossene Formierung des Niederadels zu einer Vielzahl kleinerer Grundherrschaften. Namentlich die Zisterzienser und Prämonstratenser als große Grundherren betrieben auf ihren Grangien – von Konversen, also von Laienbrüdern, bebauten Betrieben – eine marktorientierte Landwirtschaft. Dies geschah häufig in Verbindung mit dem Erwerb von Höfen oder sonstigen Niederlassungen in den Städten, um dort ihre Produkte ohne Zwischenhandel selbst gewinnbringend zu vermarkten. Zusätzlich bewirtschafteten abhängige Bauern die Zins­ güter der Abteien. Mittelgroße bäuerliche Familienbetriebe finden sich im Reichsgebiet überwiegend in Westfalen, Niedersachsen und Oberbayern, während an Mittel- und Oberrhein sowie im Neckargebiet überwiegend Klein- und Kleinstbauernstellen entstanden. Als Ergebnis lässt sich bei allen regionalen Unterschieden und Sonderentwicklungen mit Werner Rösener festhalten, dass sich die grundherr­ liche Eigenwirtschaft verringerte, die bäuerlichen Frondienste sich zumeist deutlich reduzierten und die persönlichen Bindungen der Hörigen an die 74

Agrarsektor

Grundherrschaft entscheidende Lockerungen erfuhren.3 Übrigens waren es in der Regel die Frondienste, an denen sich während des gesamten Mittelalters immer wieder bäuerlicher Widerstand entfachte. Diese fielen nämlich vornehmlich in die Hauptzeiten bäuerlichen Arbeitsanfalls, wollten die Grundherren doch ihre Ernte zuerst eingebracht sehen. Die Bauern erlangten nun vielerorts größere Freizügigkeit, eine bessere rechtliche Stellung und gleichzeitig günstigere Besitzrechte an Hof und Leihegut. Soweit zugleich Geldzinsen die Frondienste komplett ablösten und die bäuerlichen Abgaben in der Folge fixiert blieben, verstärkte sich schon aufgrund des Preisanstiegs für Agrarprodukte und der dadurch relativ geringer gewordenen Zahlungsverpflichtungen die Selbstständigkeit der bäuerlichen Wirtschaften beträchtlich, und die bäuerliche Arbeit wurde für die Hofstelleninhaber lohnender. Insgesamt verlor der konkrete Rechtsstand der Bauern gegenüber den jeweiligen Abgabenverpflichtungen immer mehr an Bedeutung. In der Literatur werden die verschiedenen Abgaben (Geld, Naturalien) und Dienste (Fronen) zusammenfassend als Renten bezeichnet. Mit den bisherigen Ausführungen soll aber keinesfalls der Eindruck erweckt werden, es habe ein Goldenes Zeitalter der Bauern begonnen, denn viel zu ärmlich blieb allzu oft das alltägliche Leben, zu hoch war die Abgabenbelastung. Unverändert bedrohten vornehmlich Ernteausfälle sowie Fehden das Überleben. Tendenziell lässt sich die Entwicklung daher wohl eher als ein Übergang von einem schlechten zu einem weniger schlechten Leben charakterisieren, denn im Mittelpunkt stand, von Ausnahmen abgesehen, unverändert die Bewältigung des Alltags. Auf dem Land waren zumeist nur wenige Handwerker vertreten, in erster Linie wohl Schmiede und Wagner zur Herstellung und Reparatur bäuerlicher Gerätschaften. Gastwirte fanden sich zumindest in den größeren Dörfern. Erst die Ausweitung des Verlagswesens seit dem späten 14. Jahrhundert sollte die Dörfer in etlichen Regionen des Reichsgebiets stärker in die kommunale Tuchproduktion einbinden. Mit den Orts- und Gebietsherrschaften kristallisierte sich im 12.  Jahrhundert eine neue Struktur heraus, bildeten die ausgeweiteten Burg- und Bannherrschaften des Adels doch nach und nach einen Herrschaftstyp mit effektiveren politischen und administrativen Formen aus. Ämter zur planmäßigen Durchdringung des platten Landes wurden erst seit dem 13. Jahrhundert geschaffen. Als Ergebnis des Territorialisierungsprozesses bildeten sich die Landesherrschaften heraus, doch 3 Rösener: Bauern, S. 37.

75

Hochmittelalter

ein deutsches Wort für Landesherr gab es zu Beginn des 13. Jahrhunderts noch nicht und das lateinische dominus terrae lässt sich für diese Zeit am ehesten mit „Eigentumsherr“ wiedergeben, in dessen Händen sich die unterschiedlichen Rechte und Ansprüche bündelten. Die variierenden ­ volkssprachlichen Entsprechungen für „Landesherr“ fanden erstmals im 14. Jahrhundert schriftlichen Niederschlag. Agrartechnisch kennzeichnet das Hochmittelalter eine ausgeprägte Vergetreidung. Die Landbewohner weiteten den Ackerbau nicht nur in den Rodungsgebieten auf kaum rentable, steinige und sich vergleichsweise schnell erschöpfende Böden aus. In den altbesiedelten Dorfmarken führte dieser Prozess zu einer beträchtlichen Vergrößerung des Ackerlands auf Kosten der Weide- sowie der Waldflächen. Selbstverständlich bevorzugten die Bauern bei Rodungen zur Gewinnung von Ackerflächen Waldgebiete mit guten Böden, doch mussten geringere Qualitäten ebenfalls in Kauf genommen werden. Der dörfliche Allmendewald, welcher den Bauern zusammen mit der gemeinen Weide als Hauptgrundlage der Viehwirtschaft diente, wurde durch die massive Ausweitung des Getreideanbaus immer stärker beeinträchtigt. Damit verschwand ein nicht unwichtiger Teil der Futterbasis für die Rindviehhaltung und der Waldmast für die Schweine, was zu einer Reduzierung der Fleischproduktion führte – und dieser Rückgang lässt sich als ein Anzeichen einer allgemeinen Verschlechterung der Ernährungslage charakterisieren. Die Verringerung der Viehzucht führte außerdem zu einem verminderten Anfall von Dung, was wiederum das Getreidewachstum und auch den Weinwuchs negativ beeinflusste. Hiermit schloss sich ein Teufelskreis, welcher zur katastrophalen Ernährungskrise des frühen 14. Jahrhunderts beitrug. Schwierig gestalten sich Aussagen zu den Aussaat-Ernte-Relationen, das häufig in der Literatur erwähnte Verhältnis von eins zu drei muss wohl nach oben korrigiert werden. Als treffender dürften Werte von eins zu vier bis eins zu sieben die durchschnittlichen Erträge widerspiegeln, allerdings vor dem Hintergrund einer großen Spannbreite nach oben und nach unten. Ohnehin beanspruchten die Abgaben an Kirche (Zehnt) und Grundherren größere Teile des Ertrags (genannt werden häufig 30 bis 40 Prozent). Für die kommende Aussaat musste gleichfalls etwa ein Drittel der Ernte zurückgelegt werden, sodass bei einem Verhältnis von eins zu drei kaum Spielräume blieben. Berücksichtigt werden müssen zudem die großen Ernteschwankungen von einem Jahr zum anderen. Der Zehnt sollte sich übrigens im Spätmittelalter zu einem frei handelbaren Gut entwickeln, das auch weltliche Herren erwar76

Agrarsektor

ben; durchgesetzt worden war der Zehnt als Abgabeverpflichtung erst seit dem späten 8. Jahrhundert mittels karolingischer Kapitularien. Die Entstehung des hochmittelalterlichen Dorfes, das sich im Spätmittelalter weiter entfaltete, hing eng mit den vielfältigen Wandlungsprozessen von Siedlungsstruktur, Wirtschaft, Herrschaft und Sozialordnung zusammen. Bis zum 11. Jahrhundert kannte das altdeutsche Siedelland lediglich Elemente bäuerlichen Zusammenhalts, aber noch keine bäuerlichen Gemeinden im rechtlichen Sinne. Damit gehen Dorf und Dorfgemeinde keinesfalls, wie lange angenommen, bereits auf die Landnahme des Frühmittelalters zurück. Der Prozess der Dorfbildung vollzog sich erst im Hochmittelalter, entscheidend wohl im 12. sowie im 13. Jahrhundert, und zwar vornehmlich unter siedlungsgenetischen Gesichtspunkten. Zu nennen sind der Ausbau der Fluren und die verbreitete Bildung von Groß­ feldern und Gewannfluren mit organisierter Fruchtwechselfolge, auch als Zelgen oder Schläge bezeichnet, zur Erhöhung der Ernteerträge durch eine intensivere Landnutzung. Erst durch diese Innovation kam die dörfliche Feldgemeinschaft mit Flurzwang und Gewannteilung auf. Zugleich musste die individuelle Fruchtfolge untersagt werden, und für die Nutzung des Ackerlandes galt es, feste Regeln zu erlassen, die für alle Bauern im Dorf Geltung beanspruchten. Für Überfahrtsrechte mussten ebenso Regelungen erlassen werden wie für das Wenden der Pflüge oder Fragen der Beweidung. Gemeinschaftliche Aufgaben, die eine genossenschaftliche Organisation erforderten, wie die Anlage von Wegen und Zäunen, die Markierung von Ortsgrenzen oder die Benutzung gemeinsamer Anlagen wie Brunnen und Backöfen trugen gleichfalls dazu bei, dass sich die Dorfgenossenschaft zur Dorfgemeinde entwickelte. Die Umzäunung als Dorf­ befestigung erforderte kompaktere Dorfformen anstelle verstreuter Hofstätten; auch dichte Hecken konnten zumindest als Annäherungshindernis dienen. Nur die Hofbesitzer (Vollbauern) galten als vollberechtigte Mitglieder der Dorfgemeinde, wenngleich zumindest der rechtliche Status der Kleinbauern im Spätmittelalter und besonders nach dem Schwarzen Tod vielfach eine Aufwertung erfuhr. Dorfrechte fanden zunehmend ihren Niederschlag in den Weistümern, einer Sammelbezeichnung für schrift­liche Rechtsaufzeichnungen. Sie entstanden häufig im Zusammenspiel von Dorfgemeinde oder Schöffen als ihren Vertretern und dem jeweiligen Gerichtsherrn, aber auch ausschließlich auf der Ebene der Dorf­ gemeinde. Scharf zu unterscheiden von diesen sind die herrschaftlichen Dorfordnungen ohne gemeindliche Mitwirkung. Dorfgerichtssitzungen 77

Hochmittelalter

hatten öffentlich zu erfolgen. Sie fanden zunächst unter freiem Himmel – hingewiesen sei auf die zahlreichen Gerichtslinden –, dann auch in Gebäuden wie der Dorfwirtschaft statt. Mit der Errichtung von Zäunen oder Ettern markierten die Bewohner, vergleichbar den Mauern der Städte, einen gesonderten, wenngleich weniger geschützten Friedensbereich. Teilweise auf frühmittelalterlichen Wurzeln beruhend, verfestigten sich Dorf- und Ortsmarken, welche neben den Höfen mit ihrem Zubehör, also den Feldern und Äckern, Wiesen, Weiden oder Waldanteilen, auch Allmenden, Wege, Brücken, Weiher, Backhaus, Badehaus, Freiflächen oder Ödland umfassten, ergänzt nicht selten um Wirtshaus, Kirche sowie einen Löschteich. Die Gemarkungsgrenzen galt es gleichfalls zu markieren, eventuell zu diesem Zweck Steine zu setzen, um sie dann möglicherweise gegen rivalisierende Ansprüche zu behaupten. Verbreitet dienten die längst nicht immer regelmäßig stattfindenden Grenz­umgänge der wiederholten Feststellung der Grenzen und schufen diesbezüglich ein kollektives Gedächtnis, wenngleich die Grenzen im Lauf der Jahrhunderte Veränderungen unterlagen. Vertreter der Gemeinde überwachten zudem den Zustand von Wegen und Stegen, möglicherweise auch von Wassergräben, und kontrollierten die Feuerstätten. Gelangte die Friedenswahrung mitsamt der niederen Gerichtsbarkeit in die Hände des Dorfes, konnte ein hoher Autonomiegrad erreicht werden. Gemeindeversammlungen erfolgten wohl einmal jährlich, um gemeinschaftliche Beschlüsse zu fassen. Die volle Nutzungsberechtigung an der Allmende hing direkt am Hof, sodass nur Vollbauern über alle Nutzungsmöglichkeiten verfügten. Von einer dörflichen Allmende im engeren Sinn lässt sich allerdings erst nach der Auflösung der Villikationen und mit der einsetzenden Dorfgenese sprechen, und damit kaum vor dem 12. Jahrhundert. Zunächst erfassten diese Wandlungen offenbar diejenigen Landschaften im Westen des Reichsgebiets, welche an der Intensivierung der Landwirtschaft, an der Bevölkerungszunahme und an der Verstädterung starken Anteil hatten. Noch wenig erforscht sind die Erscheinungsformen des alltäglichen Zusammenlebens, wie beispielsweise die praktische Zusammenarbeit im ökonomischen Bereich, oder die soziale Logik der innerdörflichen Differenzierung. Parallel zur Gemeindebildung sowie der Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion erfolgte nämlich die Ausbildung sozialer Schichten in den Dörfern – oder zumindest werden diese nun deutlicher sichtbar. Eine genaue Scheidung zwischen Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde bleibt unverändert schwierig. Von einer Dorfgemeinde 78

Agrarsektor

lässt sich rechtlich wohl erst dann sprechen, wenn der Verband der Dorfbewohner kraft eigenen Rechts über die Gemeinnutzung hinausgehende Befugnisse in Anspruch nahm und diese auch ausübte. Dabei müssen erneut gravierende Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen konstatiert werden: Tendenziell konnten wiederum die bäuerlichen Gemeinden in den ökonomisch besonders fortschrittlichen Regionen während des Spätmittelalters ihre Positionen am weitesten ausbauen.4 Im Gebiet der nordwestdeutschen See- und Flussmarschen lebten zahlreiche freie Bauern, die wohl der geleisteten Kolonisationstätigkeit ihre freiheitliche Stellung verdankten. Diese sumpfigen Gebiete mussten mittels Entwässerung für die bäuerliche Wirtschaft überhaupt erst gewonnen und durch Deichbauten gegen die Einbrüche des Meeres gesichert werden. Die wohl in großer Anzahl angeworbenen „Holländer“, welche aufgrund ihrer Erfahrung die Techniken der Deichanlage und der Trockenlegung von Niederungen am besten beherrschten, galten im gesamten Nordseeküstenbereich sowie vorerst entlang der Unterläufe von Weser und Elbe als die Lehrmeister für den Wasserschutzbau. Das Recht der Holländersiedlungen bildete über Jahrhunderte das Muster für zahlreiche freie Land­ gemeindegründungen im norddeutschen Raum, später auch weiter östlich. Solche Gemeinden zeichneten sich durch ein hohes Maß an Selbstverwaltung und eine weitgehende Unabhängigkeit aus, mussten die Grund- oder Landesherren die begehrten Spezialisten doch mit günstigen Bedingungen zur Umsiedlung in ihre Gebiete bewegen. Da sich weite Teile des salzigen Marschlands für den Getreideanbau zumindest als schlecht geeignet erwiesen und auch die viehzüchtenden Bauern hier vereinzelter lebten als andernorts, äußerte sich gerade hier Herrschaft früh konkret nur noch in Abgaben. Die Stedinger führten jahrzehntelang einen erbitterten Kampf um ihre Unabhängigkeit gegen die Grafen von Oldenburg und die Erzbischöfe von Bremen, die ihrerseits den Territorialisierungsprozess vorantrieben. Schließlich mussten sie sich im zweiten Anlauf 1234 einem „Kreuzfahrerheer“ geschlagen geben, welches die Selbstständigkeit der Bauerngemeinden beendete. Drei oder vier Jahre zuvor hatte eine Bremer Fastensynode die Stedinger zu Ketzern erklärt, und ganz in diesem Sinne billigte Papst Gregor IX. den „Kreuzfahrern“ 4 Heide Wunder: Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986. Werner Troßbach/ Clemens Zimmermann: Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankenreich zur bundesdeutschen Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 79.

79

Hochmittelalter

einen vollständigen Sündenerlass zu. Zunehmend erfolgte die Ausrufung von Kreuzzügen in Pervertierung der Ursprungsidee selbst gegen innere Gegner, bei denen es sich um Christen handelte; das Vorgehen der Kurie gegen Kaiser Friedrich II. lieferte die Blaupause für derartige Vorhaben. Die Bauerngemeinden in Dithmarschen, formell ebenfalls zum Erzbistum Bremen gehörend, konnten ihre umfangreichen Freiheitsprivilegien und Selbstverwaltungsrechte hingegen nicht nur bewahren, sondern sogar noch ausbauen. Ihr autonomes, wenngleich nicht egalitäres bäuerliches Gemeinwesen bestand trotz mehrfacher militärischer Übergriffe auswärtiger Territorialherren bis nach der Mitte des 16. Jahrhunderts. So wurde in der bekannten Schlacht von Hemmingstedt im Jahre 1500 sogar das Aufgebot der verbündeten Grafen von Holstein und des Königs von Dänemark geschlagen. Für die Autonomiebestrebungen der oberdeutschen Landbevölkerung blieben hingegen die eidgenössischen Talgemeinden ein bewundertes Vorbild. Schon aufgrund ihrer Überordnungsansprüche kamen die dortigen Städte als solches nicht infrage.

Handwerk Gewerbe und Handwerk spielten in der schriftlichen Überlieferung vom 11. bis ins 13. Jahrhundert, aber selbst darüber hinaus, trotz ihrer hohen Bedeutung eine deutlich nachgeordnete Rolle.5 Zwar konnten manche Lücken wiederum durch die Mittelalterarchäologie geschlossen werden, doch lassen sich zahlreiche Handwerke archäologisch nicht oder kaum fassen. Ganz überwiegend benutzten hochmittelalterliche Handwerker noch vergleichsweise einfache Werkzeuge, die sie zum größten Teil selbst anfertigten. Die Betriebsgrößen dürften, abgesehen von umfangreichen Bauvor­ haben, gleichfalls beschränkt gewesen sein. Der rechtliche Status der Stadtbewohner, also ihre überwiegend noch bestehende persönliche Bindung an einen Herrn, lässt kaum eine Unterscheidung zwischen denjenigen Handwerkern zu, die direkt für einen stadtherrlichen Haushalt arbeiteten, und denjenigen, die überwiegend für einen wie auch immer gearteten realen Warenmarkt tätig waren. Eine soziale Differenzierung dieser nunmehr eindeutig heterogenen Gruppe ist vor dem 14. Jahrhundert kaum rekonst5 Zum Handwerk vgl. grundlegend Schulz: Handwerk. Vgl. Reinhold Reith (Hg.): Lexikon des alten Handwerks. Vom späten Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, 2., durchges. Aufl. München 1991.

80

Handwerk

ruierbar. Eine breite Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Handwerke ist vornehmlich in den großen und mittleren Gewerbezentren des Spätmittelalters anzutreffen, tendenziell aber in allen wachsenden Städten. Das höchste Maß an Spezialisierung in den jeweiligen Produktionszweigen lässt sich in Städten mit einem ausgeprägten Exportgewerbe erkennen, wobei „Export“ bereits die Belieferung des weiteren Umlands und sonstiger Regionen im Reichsgebiet einschloss. Bäcker und Metzger zählten als wichtigste Nahrungsmittelgewerbe wohl in allen mittleren und größeren Kommunen zum Grundbestand der Handwerksberufe. Für das Hochmittelalter lassen sich ansonsten das in Teilen weiter untergliederte Tuch- und Bekleidungsgewerbe, das Schmiedehandwerk, das ebenfalls eine Binnendifferenzierung aufwies, die mit ihm verbundene Waffenherstellung, ferner die Brauer, die Mälzer, die Töpfer und die Kürschner nennen, während Gold- und Silberschmiede als Kunsthandwerker wohl nur in Städten mit entsprechender Nachfrage wirkten. Eine immense Bedeutung besaßen bis weit in die Neuzeit die holzverarbeitenden Gewerbe, denn in allen Schichten blieb beispielsweise das Holzgeschirr vorwiegend in Form von Schüsseln, Bechern, Tellern und Löffeln weit verbreitet. Schon ein Blick in Rechnungsaufzeichnungen großbürgerlicher oder adliger Haushalte lässt einen enormen Verbrauch erkennen; Gleiches gilt für Holzschuhe oder zumindest die hölzernen Unterschuhe zum Schutz der Ledersohlen. Böttcher oder Küfer stellten mit den Fässern, deren Größen- bzw. Volumennormierungen in den verschiedenen Städten zunahmen, die universalen Transportbehälter dieser Jahrhunderte her. Denn sie dienten eben nicht nur dem Transport von Flüssigkeiten, sondern dem zahlreicher weiterer Produkte; später wurden selbst Bücher darin versandt. Waren wurden bei entsprechender Beschaffenheit vor dem Transport auch vielfach zu Ballen gebunden und zum Schutz gegen Witterungseinflüsse eingeschlagen. Im Küstenbereich und an den Binnenwasserwegen waren Schiff- und Kahnbauer sowie Segelmacher tätig, ferner sind Wagen- und Stellmacher anzuführen. Dass mit der zunehmenden Verbreitung des Stein- und Fachwerkbaus das Bedürfnis nach Bauhandwerkern wie Steinmetzen, Maurern, Zimmerleuten und Dachdeckern mitsamt ihren zahlreichen Hilfskräften anwuchs, liegt auf der Hand. Die deutsche Berufsbezeichnung „Steinmetz“ ist erstmals am Ende des 13. Jahrhunderts belegt. Hinzu traten Steinbrecher, Kleiber (Tüncher) und Mörtelmacher. Von den Zimmerleuten grenzten sich zunächst in größeren Städten während des 14. Jahrhunderts die Schreiner 81

Hochmittelalter

oder Tischler ab. Bei den Kirchenbauten traten nunmehr auch die Kommunen als Bauherren in Erscheinung; erwähnt seien stellvertretend die gewaltigen Münsterbauwerke in Ulm und Freiburg sowie die gleichfalls imponierende Lübecker Marienkirche. Auch die spätgotische Hallenkirche in Schwäbisch Hall mit ihrer Freitreppe ließ im 15. Jahrhundert der städtische Rat errichten. Besonders bei Kirchenbauten konnte das Versprechen eines Ablasses selbst Arme dazu bewegen, zumindest für einige Tage weitgehend unentgeltlich als Handlanger mitzuwirken. Zahlreiche Bauprojekte von Sakralbauten und mächtigen Burgen erstreckten sich über Jahre und Jahrzehnte. Oftmals war den grundsteinlegenden Bauherren durchaus bewusst, dass die Fertigstellung des Bauwerks ihre Lebensspanne überschreiten würde. Allerdings erfolgte die endgültige Fertigstellung der Kirchen und besonders ihrer Türme wie im Fall des Kölner Doms oder des Ulmer Münsters vereinzelt erst im 19. Jahrhundert. Daneben wurden auch groß dimensionierte Profanbauten wie Rat- und Kaufhäuser errichtet. Auf den Norden konzentrierte sich die Verarbeitung von Bernstein, doch liegen über den vorhansischen Handel mit diesem kostbaren Produkt kaum Informationen vor. Allgemein steigerte das Anwachsen des Handels die Nachfrage nach einem Transportgewerbe für den Land- und Seeverkehr, ebenso nach Trägern und Packern. Besonders in Städten mit Hafenanlagen schafften Karrer oder Karrenfahrer die Waren zu den innerstädtischen Verbrauchern, den Kaufhäusern oder den Markthallen. Insgesamt blieben, grob formuliert, bis zum Ende des 13. Jahrhunderts die Handwerker eine zwar unentbehrliche, aber fast vollkommen unscheinbare Gruppe der Stadtbevölkerung. Erst mit ihren Forderungen nach Machtteilhabe gelangten sie jenseits von normierenden Qualitäts- und Größenverordnungen in die schriftliche Überlieferung. Archäologisch nachweisbar sind Schneider und Hutmacher, Filzhersteller, Färber, Kürschner, Pergamenthersteller, Brauer und Mälzer, Oblatenbäcker, Lebküchner, Pastetenmacher, Seifensieder, Kerzenmacher, Wachszieher, Bader, Scherer, Barbiere, Maler, Tüncher, Perückenmacher, Scherenschleifer, Besen- und Bürstenbinder, Korbmacher, Dachdecker, Müller, Bäcker, Hufschmiede, Feilenhauer, Spiegelmacher, Kaminfeger, Lackierer, Papierhersteller sowie Sparten der Bekleidungsherstellung wie Tuch­ macher, Kappenmacher, Hosen- und Strumpfwirker, Schuhmacher oder Seidenmacher, später traten Uhrmacher, Bruch- und Augenschneider, Zahnbrecher, Branntweinbrenner ebenso wie Buchdrucker hinzu. Im Tuchgewerbe des Hochmittelalters vollzog sich ein richtungsweisender 82

Handel

Wandel: Hatte die Weberei in den Grundherrschaften noch als Frauenarbeit gegolten, betrieben nun überwiegend Männer das städtische Tuchgewerbe. Hintergrund dafür ist das verbreitete Aufkommen von HorizontalTrittwebstühlen, die bei größerer Breite zusätzlich die Stoffqualität verbesserten und die Produktionsquote steigerten. Jedoch erforderten sie sowohl ein höheres Anlagekapital als die herkömmlichen Modelle als eben auch eine größere Muskelkraft zu ihrer Betätigung. Erste derartige Webstühle sind archäologisch schon für das späte 10.  Jahrhundert in Haithabu und weiteren Handelsplätzen belegt.6 Bald sollte sich im Tuchgewerbe eine hochgradige Arbeitsteilung herausbilden, frühe Textilreviere entstanden in Flandern, der Lombardei und Schwaben. Quantitative Aussagen zur Anzahl der Handwerker oder zu Gewichtungen innerhalb des Handwerks der Salier- und Stauferzeit lassen sich freilich kaum treffen, Gleiches gilt für die Frage nach Aussehen und Größe der hochmittelalterlichen Handwerksbetriebe. Mit dem Wachstum der Städte und der Bevölkerung nahm die Differenzierung und Spezialisierung im Handwerk jedenfalls weiter zu. Längst nicht in allen Städten kam es im Zuge dessen zur Ausbildung von speziellen Handwerkervierteln, häufig blieben die Werkstätten über die ganze Stadt verstreut. Allerdings verlegten die Räte zunächst prinzipiell feuergefährliche Handwerke wie Schmiede bevorzugt in die Außenbereiche der Kommunen – doch die Sozial- und Gewerbetopografie wird an späterer Stelle noch thematisiert.

Handel Erstmals wieder im 11. Jahrhundert lassen sich berufsspezifische Zusammenschlüsse von Laien, und zwar wiederum von Kaufleuten, fassen. Mögliche Verbindungen zu den älteren Gilden sind unklar und wahrscheinlich höchstens schwach ausgeprägt. Zudem standen Teile der Kaufleute unter Königsschutz; den Handel sowie die Besonderheiten ihres Berufslebens regelten eigene Kaufleuterechte. Eine immense Gefahr gerade für diesen Berufsstand bildeten die in zahlreichen Landrechten vorgesehenen Gottesurteile wie etwa der Zweikampf, die Feuer- oder die Wasserprobe, denn Kaufleute mussten häufig in der Fremde eine Schuld beweisen oder 6 Heiko Steuer: Das Leben in Sachsen zur Zeit der Ottonen, in: Matthias Puhle (Hg.): Otto der Große, Magdeburg und Europa, Bd. I: Essays, Mainz 2001, S. 89–107, hier S. 100.

83

Hochmittelalter

a­bstreiten. Nach einem um 1020 verfassten Bericht durften sich Tieler Kaufleute hingegen bei Schuldklagen durch ihren Eid reinigen. Wie verbreitet allerdings die Abkehr von Gottesurteilen in dieser Zeit bereits war, ist ebenso ungeklärt wie umgekehrt die Häufigkeit ihrer Anwendung. Der Freiheitsbrief für Huy von 1066 sicherte den Einwohnern, die bei dieser Gelegenheit erstmals im Reichsgebiet als Bürger (burgenses) bezeichnet wurden, grundsätzlich bei Schuldklagen eine Reinigung mit zwei Eideshelfern zu. Dies bedeutet, dass zwei weitere ehrbare Personen die jeweilige Aussage beeiden mussten. Zudem forderte der Text einen Schwur, dem vor Gericht unterlegenen Einwohner zukünftig kein Unrecht zuzufügen, quasi eine Form der Urfehde. Wenn Fremde, wiederum wohl überwiegend Kaufleute, sich mit dem Zeugnis „guter Leute“, die quasi für ihre Redlichkeit bürgten, in der Stadt aufhielten und wenn ein Einwohner von solchen Fremden Geld einforderte, konnten sie sich mit ihrem Eid und dem Aufheben eines Halmes reinigen; die Symbolik des Halmaufhebens bleibt jedoch unklar. Allerdings war während des Hoch- und Spätmittelalters mit harten Strafen theoretisch bis hin zum Tod zu rechnen, falls sich der Eid als falsch, also als ein Meineid, erwies. Generell kam dem Eid in diesen Jahrhunderten eine hohe Stellung zu; erst Bücher öffentlichen Glaubens, also der Bedeutungsgewinn pragmatischer Schriftlichkeit anstelle steriler Dogmatik, reduzierten sein Gewicht. Die wechselseitige Befreiung der Kaufleute von Gottesurteilen entwickelte sich in der Folge zu einem wichtigen Bestandteil von Abmachungen der Städte untereinander oder mit den sich formierenden Territorien bzw. deren Herren. Selbst wenn das Handelsvolumen schon aufgrund der steigenden Bevölkerungszahlen anwuchs, dürfte sein Umfang im 11. Jahrhundert im Vergleich zu späteren Jahrhunderten und wohl auch in absoluten Zahlen noch gering gewesen sein. Ein weiteres Vorrecht der freien Kaufleute bildete das noch längst nicht übliche uneingeschränkte Erbrecht, welches ein Verbleiben des Nachlasses in der Familie garantierte. Dergestalt wurde die Suche nach Erben von in der Fremde verstorbenen Händlern ermöglicht, wie es beispielsweise das Freiburger Stadtrecht explizit vorsah. Ausgesprochen zäh gestaltete sich dagegen an der See der Kampf gegen das Strandrecht: Während des Frühund Hochmittelalters hatte sich aus unklarer Wurzel ein Recht der Küstenbewohner sowie ihrer Herren herausgebildet, gestrandete Waren und Schiffe ihrem Besitz einzuverleiben. Da sich die Schifffahrt überwiegend im Küstenbereich abspielte, konnten bewusst falsch gesetzte Feuer oder andere Fehlmarkierungen schnell zu einer Havarie führen, um so kurzfristig 84

Handel

die Besitzverhältnisse zu ändern. Bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts gelang es immerhin weitgehend durchzusetzen, dass gestrandete Schiffbrüchige nicht mehr kurzerhand als Hörige einkassiert oder verkauft werden durften. Das Strandrecht schafften zwar zunächst Heinrich VI. 1196, dann Friedrich II. 1220 ab, doch noch im Jahr 1532 scheint es erforderlich gewesen zu sein, dass die Constitutio Criminalis Carolina, die „Peinliche Gerichtsordnung Karls V.“, erneut die Ausübung dieses Rechts untersagte. Als ein weiteres Indiz für das Fortleben der Sitte lässt sich Markgraf Bernhard von Baden anführen, der noch 1413 die Waren eines leckgeschlagenen Schiffs beschlagnahmen ließ, welches bei Breisach auf einen unter der Wasseroberfläche befindlichen Pfahl gestoßen und anschließend gesunken war. Ob der Pfahl zu einem solchen Zweck absichtlich angebracht worden war, muss allerdings nicht nur in diesem Fall offenbleiben. In Dithmarschen beanspruchten etliche Siedlungen gleichfalls noch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts das Strandrecht, so beispielsweise formuliert im Eiderstedter Seerecht des Jahres 1444. Selbst der dänische König Erich VII., der freilich aus Pommern stammte, betrachtete dieses Recht als altes Herkommen der nordischen Küstenbewohner. Auch wenn ein Kaufmann unterwegs in einem Gasthaus verstarb, konnte der Wirt zumindest dessen mitgeführte Habe einbehalten, was bei ungeklärten Todesfällen vielfach zu schwerwiegenden Vorwürfen gegenüber den Wirten führte. In diesen Fällen brachten das späte 12. Jahrhundert und die Jahrzehnte danach grundlegende Änderungen. Wenngleich der Umfang des Handels bis in das 11. Jahrhundert hinein bescheiden blieb, etablierten sich im folgenden Säkulum noch zu thematisierende Messenetze in Europa, auf die sich der internationale Handel dann vorerst konzentrierte. Als folgenschwer sollte sich ein Privileg Heinrichs IV. zugunsten Venedigs erweisen, welches der Lagunenstadt zugestand, dass „deutsche“ Kaufleute in der Stadt nur von Venezianern kaufen und nur an diese verkaufen durften. Der Direkthandel mit den Orientalen wurde damit untersagt – und Venedig wusste dieses Privileg in der Folgezeit durchzusetzen. Der spätere Aufstieg Nürnbergs war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch in keiner Weise vorhersehbar, und auch die Bedeutung Regensburgs sollte erst noch steigen. Dennoch konnten die auch jetzt schon vornehmlich oberdeutschen Kaufleute nun nicht mehr auf vene­ zianischen Schiffen in den Vorderen Orient gelangen, um dort direkt die begehrten Waren des Ostens zu erstehen; Kaufleute aus dem Norden des Reichs erreichten die Lagunenstadt ohnehin erst später. Genua dagegen 85

Hochmittelalter

erlaubte fremden Kaufleuten die Nutzung seiner Schiffe, und auf diese Weise erreichten – wenngleich deutlich später, im 15. Jahrhundert – beispielsweise Vertreter der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft die französische Mittelmeerküste oder die Iberische Halbinsel. Die Kreuzzüge hatten trotz aller militärischen Auseinandersetzungen den Handel mit der Levanteküste gefördert, die ihrerseits mit Waren aus dem Fernen Osten versorgt wurde. Neben Gewürzen lassen sich als Luxusgüter Seide und Baumwolle, Färbe- und Beizmittel, aber auch Edelsteine und Elfenbein nennen. Am meisten profitierten zunächst die Häfen an der nördlichen Mittelmeerküste von der gestiegenen Nachfrage. Neben Wolltuchen von mittlerer und geringerer Qualität blieb im Reich die Herstellung von Leinen weit verbreitet und wurde zunächst unverändert als Hausgewerbe betrieben. Flachs und Hanf wuchsen ohnehin an vielen Orten, und die Herstellung grober Leinentücher für den Hausgebrauch, also etwa von Bettlaken, Tisch- und Handtüchern, gestaltete sich weder kompliziert noch kapitalintensiv. Zudem konnte die Verarbeitung in den weniger arbeitsintensiven Wintermonaten erfolgen. Wohl schon im 11. Jahrhundert entwickelte sich die Leinenweberei dann aber zu einem berufs­ mäßigen Gewerbe, und im ausgehenden 12.  Jahrhundert lassen sich erste Spuren eines internationalen Handels mit deutscher Leinwand erkennen. Im Hinblick auf den Warenverkehr von Norden nach Süden nannte ein Zoll­tarif aus Verona 1173 Deutsche, welche über die Alpen handelten; auch schon eine Genueser Zollurkunde des Jahres 1128 könnte sich auf Deutsche bezogen haben. Und wenn Como 1168 nach dem Beitritt zum Lombardenbund zwar dem Kaiser und seinen Anhängern den Zugang zur Stadt sperren musste, nicht aber den Kaufleuten, handelte es sich bei diesen wiederum um Deutsche. 1190 wurde in Genua ein deutscher, wohl alemannischer Kaufmann erwähnt, der Kupfer veräußerte, um mit dem Erlös Seide, Gewürze und Südfrüchte zu erwerben. Wenn uns zudem ab 1201 in genuesischen Notariatsakten Leinentücher des Bodenseeraums als „tele de Alamania“ oder „tele de Constancia“ begegnen, setzt dies zumindest für das ausgehende 12. Jahrhundert ein gewisses Maß an Standardisierung voraus, was als ein wichtiger Schritt zur Etablierung von Waren einer bestimmten Qualitätsstufe einzuschätzen ist. In erster Linie genuesische Kaufleute, aber auch solche aus anderen oberitalienischen Städten, setzten die Leinwand anschließend weiter ab. Derart gelangte wohl 1216 Konstanzer Leinwand sogar in das marokkanische Ceuta. Vorerst noch über die Champagnemessen erreichte das Produkt West- und Nordwesteuropa. Ein „Bernardus 86

Handel

t­eotonicus“ beteiligte sich Ende des 12. und zu Beginn des folgenden Jahrhunderts mit venezianischen Partnern an Handelsgesellschaften, ein weiterer Hinweis auf die Intensivierung der europäischen Handelsbeziehungen.7 Doch selbst wenn häufig von Kaufleuten die Rede ist, lassen sich diese im Hochmittelalter nur schwer genau fassen. Grundsätzlich blieb der Fernhandel in diesen Jahrhunderten ein mobiles Geschäft, weswegen die Kaufleute in eigener Person lange Reisen unter teilweise großen Gefahren unternehmen mussten, um mit ihren Geschäftspartnern den Handel abzu­ wickeln. Erst seit dem 13. Jahrhundert, verstärkt in dessen zweiter Hälfte, setzte in diesem Sektor des Wirtschaftslebens ein grundlegender Wandel ein: Nunmehr wurden zunächst die Groß- und Fernkaufleute sesshaft und betrieben ihr Unternehmen von ihrer Heimatstadt aus. Zeitgleich konnten sich im Norden die hansischen Strukturen weiter ausbilden und verdichten, entstanden in Oberdeutschland erste Handelsgesellschaften. Auch dürfte bereits am Ende des 12. Jahrhunderts auf breiter Front ein Übergang vom Luxus- zum Massenhandel eingesetzt haben, wobei die Trennung zwischen Massen- und Luxusgütern sich nicht zuletzt am Wohlstandsniveau einer Stadt oder Gesellschaft orientierte. Unverändert spielten jüdische Händler in größerer Anzahl bei der Handelsausweitung eine wichtige Rolle, während zugleich die jeweils einheimischen Händler ihre Aktivitäten deutlich verstärkt ausweiteten. Fassbar wird dieser neue Massenhandel beispielsweise, wenn Lübecker Kaufleute das freilich schon lange über weite Entfernungen und in größeren Mengen gehandelte Salz in den heutigen Südwesten Schwedens, nach dem damals dänischen Schonen, transportierten, welches dort zur Konservierung von Heringen genutzt wurde, die wiederum überwiegend Lübecker Kaufleute als Rückfracht aufnahmen. Das Salz stammte mit ansteigender Tendenz aus Lüneburg. Rheinweine veräußerten die Kölner in größeren Mengen in London und erwarben dort Wolle für Flandern, dessen Tuchprodukte sie wiederum auf den heimischen Märkten umsetzten. Schon anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass sich der Kapitalbedarf für derartige Geschäfte erhöhte. Nach Norwegen lieferten niederdeutsche 7 Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S.  118  f. Stromer, Wolöfgang v.: Die Gründung der Baumwollindustrie im Spätmittelalter, Stuttgart 1978, S. 8–10. Fritz Glauser: Handel und Verkehr zwischen Schwaben und Italien vom 10. bis 13. Jahrhundert, in: Schwaben und Italien im Hochmittelalter, hg. v. Helmut Maurer u. a. (Vorträge und Forschungen, LII), S. 229–293, bes. S. 278–282. Vgl. noch immer mit zahlreichen Details Schulte: Geschichte, Bd. I, hier S. 106 f. Stromer: Binationale Handelsgesellschaften, S. 142 f.

87

Hochmittelalter

und englische Händler Getreide, um in Gegenzug Stockfisch, zumeist handelte es sich um getrockneten Kabeljau, und Butter zu erwerben. Stockfisch fand europaweit Nachfrage, da sich das Trocknen von Fisch und Fleisch im überwiegend feuchteren Mitteleuropa als kaum möglich erwies. Über Nowgorod, welches nicht nur zum östlichen Handelszentrum der Hanse heranwuchs, gelangten osteuropäische und asiatische Produkte auf die Märkte. Im Zuge der allgemeinen Ausweitung des Handels begegnet in den größeren Städten im 12. und besonders im 13. Jahrhundert eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Märkte sowie der Markthallen. Zunächst erfolgte vielfach eine Trennung zwischen dem Alt- und dem Neumarkt, während später beispielsweise Vieh-, Fisch-, Korn-, Wein-, Holz-, Eisen- oder Heumarkt präzise Bezeichnungen erhielten, was auf das erneute Wachsen des Handelsvolumens verweist. Allerdings blieben die Verkehrsverbindungen gefährdet und deren Sicherung ein dauerhaftes Anliegen der Stadträte.

Städtewesen Die meisten Städte basierten auf Vorgängersiedlungen oder Märkten, und schon aus diesem Grund dominierten im Hochmittelalter eindeutig Stadtwachstum und Stadtwerdung sowie Stadterhebungen gegenüber regelrechten Stadtgründungen. Dennoch galten gerade die quasi auf grüner Wiese angelegten Neugründungen lange als ein Kennzeichen dieser Zeitspanne, belegt beispielsweise mit Lübeck, München oder Freiburg im Breisgau. Häufiger finden sich hingegen systematische Vergrößerungen älterer Siedlungsansätze, die von den Stadtherren initiiert wurden. Ebenso lassen sich vielfach zeitlich begrenzte Phasen eines Stadtwachstums oder von Bebauungsverdichtungen und -erweiterungen erkennen, die ohne Planung auf diese Weise nicht hätten stattfinden können. Das weitere Wachstum konnte dann wieder ungeregelter ablaufen. Auch die Parzellenstrukturen sowie deren Zuschnitte unterlagen noch für Jahrhunderte Veränderungen, sodass die Kataster des 19. Jahrhunderts höchstens noch Einblicke in ältere Strukturen ermöglichen. Ohnehin erforderten erst Steinhäuser, Fachwerkbauten sowie große Ständerbauten, welche Erweiterungen oder massive Umbauten erfuhren oder eben gar Neubauten weichen mussten, eine höhere Ortskonstanz; einfache Ständerbauten konnten dagegen ohne größere Probleme verlegt oder neu errichtet werden. 88

Städtewesen

Die Verleihung von Stadtrechten schloss oftmals einen solchen kommunalen Wachstumsprozess ab, konnte aber in kurzer und wenig ausdifferenzierter Form auch schon zu einem frühen Zeitpunkt der Entwicklung erfolgen, um neue Bewohner mittels günstiger rechtlicher Rahmenbedingungen sowie geringer Abgabenbelastung anzulocken. Zunehmend griffen die Stadtherren seit dem 12. Jahrhundert bei der Erteilung von Stadtrechten auf Vorbilder zurück, sodass sich komplette Neufassungen erübrigten; rückblickend lassen sich derart Stadtrechtsfamilien erkennen. So fanden das Lübecker sowie das Magdeburger Stadtrecht in Richtung Osten weite Verbreitung. Allerdings blieben die seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts und besonders im 12. Jahrhundert wachsenden Städte noch eng an die Interessen des oder der Stadtherren gebunden. Städte besaßen für diese nicht zuletzt ebenso wie Burgen eine wichtige Funktion als Befestigung, und diese „Herrschaftsinseln“ dienten ihnen gleichzeitig als Verwaltungssitze, die eine freilich nur wenig ausdifferenzierte Durchdringung des jeweiligen Herrschaftsbereichs ermöglichten. Diese Vorgehensweise galt gleichermaßen für Könige, für weltliche und geistliche Herren. Denn bis fast zum Ende des Hochmittelalters bezog sich Herrschaft nicht direkt auf ein Territorium, sondern bestand aus einem Bündel von einzelnen Rechten in den Händen der Herren. In der Rückschau erweist sich die „Städtepolitik“ als ein Instrument im Territorialisierungsprozess sowie als ein wichtiges Mittel zur Herrschaftsverdichtung und Herrschaftssicherung. Wenn ein bedeutender Geistlicher, Bischof Otto von Freising, ein Onkel Kaiser Friedrichs I. Barbarossa, über Herzog Friedrich  II. von Schwaben (Herzog 1105–1147) anmerkte: „Herzog Friedrich schleppt am Schwanz seines Pferdes stets eine Burg mit“, so lässt sich dies durchaus analog auf Städte beziehen.8 Steinerne Höhenburgen, deren Ruinen oder in späteren Zeiten zumeist umgestaltete imposante Bauten oft noch heute weithin sichtbar sind, waren eben weitaus mehr als Symbole der Macht. Die wichtigste Phase des Baus solcher Burgen datiert ähnlich wie die Hochphase der mittelalterlichen Urbanisierung auf den Zeitraum von der Mitte des 11. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts.9 Die Entfaltung 8 Ottonis Episcopi Frisingensis et Rahewini, Gesta Frederici seu recitus Cronica; Bischof Otto von Freising und Rahewin: Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, hg. v. Franz-Josef Schmale, Darmstadt 52000, S. 152 f. 9 Vgl. u. a. Burgen in Mitteleuropa. Ein Handbuch, Bd.  1: Bauformen und Entwicklung, Stuttgart 1999, S. 54–147. G. Ulrich Großmann: Die Welt der Burgen. Geschichte, Architektur, Kultur, München 2013, S. 114–194.

89

Hochmittelalter

des Städtewesens wiederum fand zeitgleich und in enger Verbindung mit der Bevölkerungszunahme sowie einem agrarischen und gewerblichen Wachstum statt. Erkennbar ist ferner eine zunehmende Mobilität der Menschen sowohl in geografischer als auch in sozialer Hinsicht. Bis weit in die Neuzeit hinein, in Europa wohl bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, sollten die Städte ohnehin auf Zuzug von außerhalb angewiesen bleiben, um auch nur die Einwohnerverluste ausgleichen zu können. Den Zuzüglern boten die Städte aufgrund ihrer Befestigung eine erhöhte Sicherheit, wenngleich Steinmauern erst seit dem 12. Jahrhundert in größerer Zahl errichtet wurden und zuvor Holz-Stein-Erde-Befestigungen dominierten. Darüber hinaus boten sie bessere wirtschaftliche Chancen, die Aussicht auf ein leichteres und in zunehmendem Maße ein freieres Leben. Feste und Jahrmärkte sorgten immerhin gelegentlich für Abwechslung in einem zumindest aus unserer Sicht häufig eintönigen Alltag. War jemand beispielsweise bereits als Landbewohner handwerklich tätig gewesen, konnte er, einmal in die Stadt gelangt, sich gänzlich auf sein Gewerbe konzentrieren und für den dortigen Bedarf und den des Umlands arbeiten. Zuweilen beschleunigten nahe gelegene Rohstoffvorkommen das Wachstum von Siedlungen, so im Fall von Goslar, das sich aus mehreren Siedlungskernen am Rand des Harzes entwickelte. Neben der königlichen Pfalz, die im späten 19.  Jahrhundert mit heroisierenden Historienmalereien ausgestattet wurde, um die Herrschaft der Hohenzollern als Nachfolger der römisch-deutschen Könige des Hochmittelalters zu legitimieren, entstand ein Markt, dessen Kaufleute in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts ein eigenes Recht erhielten. Etwa zeitgleich zu dieser Siedlung wuchs ein Bergdorf heran, das aber noch im 15.  Jahrhundert außerhalb der 82 Hektar umfassenden Ummauerung lag. Dort lebten sowohl die zunächst teilweise ministerialischen Gruben- und Hüttenbesitzer als auch die in den Anlagen Beschäftigten. Die allgemeine Voraussetzung für das nunmehr auch rechts des Rheins und nördlich der Donau einsetzende Städtewachstum bildeten die landwirtschaftlichen Überschüsse, die erst einmal erwirtschaftet sein mussten, damit die Kommunen und ihre Bewohner sie verbrauchen konnten. Als tief greifende Neuerung lassen sich erstmals für das ottonische Magdeburg die Kaufleute selbst als Empfänger von Markturkunden nachweisen. In etlichen Siedlungen begann das Marktleben langsam aus den herrschaftlichen Bindungen herauszuwachsen, zumal zahlreiche Kaufleute persönlich über einen besseren Rechtsstatus verfügten als die übrigen Bewohner 90

Städtewesen

und diesen somit als Vorbild zur Verbesserung des eigenen Status dienten. Wie am Kölner Beispiel zu ersehen, das im folgenden Kapitel thematisiert wird, dürfte das Kaufleuterecht aber nur selten direkt in die Stadtrechte hineingewirkt haben. Mit zunehmender Tendenz konzentrierten sich Handel und Handwerk auf die Kommunen, grundherrliche Betriebe verloren dagegen an Bedeutung. Die sich abzeichnende Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land führte zu einer vergleichsweise strikten Trennung beider Lebensbereiche, die trotz aller Kontakte im Spätmittelalter zum Regelfall werden sollte. Warum diese Stadt-Land-Trennung die Bürger aber gezwungen haben soll, sich einen „virtuellen“ Lebensraum, so seltsamerweise Elisabeth Lichtenberger, zu schaffen, muss offenbleiben.10 Für die Nachfrage nach alltäglichen Waren wie auch Luxusprodukten blieben in etlichen Städten die kirchlichen Stadtherren wichtig, während die weltlichen Herrscher seit der Karolingerzeit fast ausschließlich außerhalb der Städte ihre Bauwerke errichten ließen. Doch auch die weltlichen Herren deckten ebenso wie andere landsässige Adlige nicht unerhebliche Teile ihres Bedarfs zunehmend auf den städtischen Märkten mit deren breiterem Angebot. Pfalzen ließen in den Städten nach den Karolingern erst wieder die Staufer errichten, so die mächtige Anlage in Wimpfen am Neckar, die wohl älter ist als lange angenommen; aber auch die Bauwerke in Kaiserslautern oder Gelnhausen lassen sich anführen.11 Von den karolingischen Bauten entwickelten sich die Pfalzen in Aachen und Frankfurt am Main zu Kernen der Stadtentwicklung, während Regensburg und das von Otto I. reich ausgestattete Magdeburg bereits als frühstädtische Siedlungen existierten, bevor die Herzogs- bzw. Königspfalz errichtet wurde. Eine höhere Bedeutung kam adligen Pfalzen oder Stadtburgen in den Niederen Landen und besonders in Flandern zu, verwiesen sei auf Brügge mit der ältesten flandrischen Grafenburg. Städtische Pfalzen gewannen sogar zunehmend Residenzcharakter, selbst wenn Herrschaft in weiten Teilen unverändert als Reiseherrschaft stattfand. Als entscheidend erwiesen sich ihre Ausstattung mit dauerhaft ansässigen Burgmannen und Funktionsträgern aus Verwaltung und Rechtsprechung sowie die Errichtung von Stiften, Kirchen und Vorratsgebäuden. Damit entstand eine permanent hohe Nachfrage, selbst 10 Elisabeth Lichtenberger: Die Stadt. Von der Polis zur Metropolis, Darmstadt 2002, S. 22. 11 Hans-Heinz Hartmann: Neue archäologische Erkenntnisse zur Baugeschichte der Königspfalz Wimpfen, in: Die Pfalz Wimpfen und der Burgenbau in Südwestdeutschland (Forschungen zu Burgen und Schlössern, 15), Petersberg 2013, S. 38–44. Ludwig H. Hildebrandt/Nicolai Knauer: Neue Erkenntnisse zu Anfang und Ende der Kaiserpfalz Wimpfen, in: ebd., S. 45–65.

91

Hochmittelalter

wenn große Teile der Lebensmittel aus den ländlichen Besitzungen der Herren stammten. Allerdings lassen sich für das Hochmittelalter aufgrund der nur dünnen schriftlichen Überlieferung und der mit archäologischen Untersuchungen in den heutigen Innenstädten verbundenen Probleme – wenn nicht gerade umfangreiche Tiefbaumaßnahmen anstehen – nur allgemeine Trends und Entwicklungen aufzeigen. Individuelle Besonderheiten der einzelnen Stadt, die teilweise noch heute in der Bebauung sichtbar sind, müssen außen vor bleiben. Längst nicht alle neu etablierten Märkte entwickelten sich zu florierenden Städten. Vielfach blieben sie Dörfer oder wuchsen erst später zu Kleinstädten heran. Hohe Bedeutung kam der Ansiedlung einer ortsfesten Handwerkerschaft zu, denn reine Händlersiedlungen wie beispielsweise Tiel, das die Nachfolge von Dorestad angetreten hatte und im 11. Jahrhundert vorübergehend zum wichtigsten Handelsplatz zwischen den Rheinlanden und England aufstieg, fielen später wieder wüst. Die Zahl der Fehlsiedlungen und städtischen Klein- oder Kümmerformen erhöhte sich aber erst im Spätmittelalter signifikant, ein Phänomen, das vor dem Hintergrund eines dichter gespannten Städtenetzes und einer seit dem frühen 14.  Jahrhundert schrumpfenden Bevölkerungszahl zu sehen ist. Zum Ende der Salierzeit, um 1125, dürften in Deutschland etwa 30 Städte mit Fernhandelsfunktion und – im Vergleich zu Oberitalien – bescheidenen 1000 bis 5000 Einwohnern zu verzeichnen gewesen sein, was für eine nur langsam voranschreitende Verstädterung spricht. Die Blütephase der Stadtentwicklung lag schließlich in der staufischen Periode, die sowohl ein umfangreiches Wachstum der Einwohnerzahlen als auch der Städtezahl erlebte. Wenn wir nun die verschiedenen Organisationsformen der Bürger in den Blick nehmen, sind zunächst die Gilden als Zusammenschlüsse von Kaufleuten zu erwähnen.12 Die wichtigsten konstituierenden Merkmale einer Gilde bildeten der Eid, die Satzung und das gemeinsame Mahl. Der Eid verband die Gildegenossen und schuf eine rechtliche Gleichheit unter den Mitgliedern, die Satzung konstituierte eine interne Gerichtsbarkeit sowie einen auf die Beteiligten begrenzten Rechts- und Friedensbereich. Mit dem Mahl erneuerten die Genossen zumeist in regelmäßigen Zeitabständen immer wieder die beschworene Einung. Dazu regelten die Kauf12 Schulz (Hg.): Handwerk, S.  39–49. Vgl. die Beiträge in Berent Schwineköper (Hg.): Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter (Vorträge und Forschungen, XXIX), Sigmaringen 1985.

92

Städtewesen

leutegilden das interne alltägliche Miteinander ebenso wie den Ablauf von Festlichkeiten, auch verfügten sie über eine gemeinsame Kasse. Ihre Reichweite wurde allerdings schon dadurch begrenzt, dass sie niemanden zwingen konnten, sich ihrem Verband anzuschließen. Zudem blieben sie ein exklusiver Zusammenschluss, der sicherlich prägend auf die entstehenden genossenschaftlichen Strukturen in den Städten wirkte, sich aber nicht unmittelbar in der Organisation der Stadtgemeinde niederschlug. Gleichwohl sind ihre Mitglieder häufig in den politisch führenden Schichten der werdenden Städte zu finden. Später kam dem Eid der Stadtbürger als Mittel der Verbandsbildung gleichfalls eine hohe Bedeutung zu, konstituierte er doch die Stadtgemeinde. Auch die Gewährleistung von Frieden und Schutz ging vielfach auf die Stadtgemeinde über. Da die Gilden allerdings auf Niederdeutschland, das Rheinland, Flandern sowie die übrigen Niederen Lande, auf Nordfrankreich und England begrenzt blieben, können sie außerhalb dieser Regionen keinen Einfluss auf die Stadtwerdung genommen haben. Ohnehin verbietet schon ihre Sonderstellung, den Freiheitsgewinn der übrigen Bewohner aus ihrem Bestehen zu erklären. Als zweite wichtige Gruppe für das Werden der Stadtgemeinden sind die Schöffen anzuführen, die zunächst im Rahmen der herrschaftlichen Rechtsprechung tätig waren. Demnach handelte es sich bei den Schöffenkollegien zunächst um ein Organ der Stadtherren, besetzt freilich mit Ange­ hörigen der städtischen Führungsschichten. Diesen gelang es – wie beispielsweise in Köln – zunehmend, sich aus dem Kreis der Bürger selbst zu ergänzen; den Stadt- und Gerichtsherren verblieb dann häufig nur ein Zustimmungsrecht. Derartige Entwicklungen sind zunächst aus dem RheinMosel-Gebiet bekannt. Schöffenkollegien standen oftmals am Beginn der Herausbildung von Stadtgemeinden, während Gilden gelegentlich den Charakter von Sondergemeinden annahmen. Weitere Sondergemeinden stellten die Pfarrbezirke dar. Auf ähnlicher Grundlage konnte, obschon dies eher selten der Fall war, auch das Wach- und Verteidigungswesen mittels interner Gruppenbildung organisiert sein; Stadtviertel oder später Zünfte eigneten sich wohl besser für diesen Zweck. Doch vollzog sich die Bildung von Stadtgemeinden in einem langwierigen Prozess, dessen vielfältige und je verschiedene Details längst nicht alle geklärt sind. Letztendlich erforderten schon die Regelung des Marktverkehrs sowie dessen Kontrolle, das Münzwesen oder die Allmendenutzung Mitwirkungsrechte und gemeinsam formulierte Ordnungen. Doch gestatten es diese frühen Gemeinschaftsbildungen nicht, die Herausbildung des Bürgertums als eigen93

Hochmittelalter

ständiger Kraft neben Adel und Kirche zu erklären, denn in diesem Prozess wirkten mehrere Faktoren in nachträglich kaum noch zu klärender Wechselwirkung zusammen. Nicht nur im Reichsgebiet ist zu beobachten, dass die Bewohner der Städte im 11. und teilweise noch im 12.  Jahrhundert oder sogar darüber hinaus unterschiedlichen Rechtskreisen angehörten. Halbwegs genau fassbar ist oft nur die Oberschicht, also einerseits die Kaufleute und andererseits die stadtherrlichen Ministerialen. Letztere konnten ein ausgeprägtes Gruppenbewusstsein entwickeln, welches sie zumindest zum Teil in eine Oppositionsstellung gegenüber ihren Herren führte. Über die restliche Einwohnerschaft wissen wir kaum etwas, doch dürften die meisten Handwerker und sonstigen Gewerbetreibenden noch in direkter Abhängigkeit von ihren Herren gestanden haben. Allerdings sind nicht nur die sozialen Verhältnisse in diesen Jahrhunderten durch ausgesprochene Mobilität gekennzeichnet, und selbstverständlich war ein Streben nach sozialem Aufstieg sowie nach Lösung von herrschaftlichen Bindungen verbreitet. Vor der Mitte des 13. Jahrhunderts traten Handwerker und Gewerbetreibende – Berufsgruppen, die längst das Rückgrat der kommunalen Wirtschaft bildeten – freilich nicht in das Blickfeld der schriftlichen Überlieferung, sondern verschwinden geradezu im Dunkel der Nichtüberlieferung. Erst ihre Forderung nach Teilhabe an der Macht lässt einzelne Gruppen in der Folgezeit klarer konturiert erscheinen. Die ältesten Stadtrechte oder Privilegien dürften mündlich gewährt worden sein. Daneben wurden sie wahrscheinlich in Form von kurzen schriftlichen Abmachungen oder als Zugeständnis einzelner Rechte festgehalten. Als ältestes überliefertes Stadtrecht ist das Freiburger Privileg von 1120 zu nennen, wobei die überlieferte schriftliche Fixierung erst aus späterer Zeit stammt. Das in der Folge erweiterte Privileg legte beispielsweise Grundstücksgrößen fest, sicherte den Marktfrieden und das freie Geleit, garantierte das unbeschränkte Erbrecht, versprach eine eigene Rechtsprechung nach eigenem Gewohnheits- und gewillkürtem Recht oder nach Kölner Recht. Ein Abzug der Neubewohner war nur bei einem Mangel an lebensnotwendigen Dingen erlaubt. Für die benachbarte Siedlung herzoglicher Dienstleute galten diese Bestimmungen allerdings nicht. Wie in Freiburg sind auch andere frühe Rechtsverleihungen nur durch spätere, modifizierte Überlieferungen auf uns gekommen. Überhaupt handelte es sich im Regelfall noch nicht um umfangreiche Rechtssammlungen zur Regelung des städtischen Lebens, sondern um eine Zusammenfassung von einzelnen, der 94

Städtewesen

Stadt oder ihren Bewohnern verliehenen Rechten. So wurden in Straßburg nach 1129 in einer – in diesem Fall allerdings ausgesprochen langen – Artikelliste die Rechte und Pflichten des Bischofs sowie der bischöflichen und städtischen Funktionsträger niedergelegt, ergänzt um die Ansprüche des Bischofs gegenüber der Einwohnerschaft. Weder der Verfasser noch das Datum dieser Urkunde sind bekannt. Die noch unverändert bestehende persönliche Abhängigkeit der Bewohner vom Stadtherrn lässt sich ganz deutlich an der Bestimmung erkennen, dass diese in ihrer überwiegenden Mehrzahl fünfmal jährlich eine Anzahl von Tagen Herrendienst zu leisten hatten. Die wenigen Fälle, in denen eine Befreiung von dieser Verpflichtung ausgesprochen wurde, waren zum Teil wiederum mit anderen Belastungen verbunden. Damit verweist diese Regelung auf typische, auf dem Land weitverbreitete Hörigkeitsverhältnisse. Dagegen bestimmte Kaiser Lothar III. nach 1129, dass die Vögte auswärtiger Herren den Kopfzins ihrer Hintersassen, falls diese in Straßburg lebten, dort eintreiben mussten. In den vermutlich zahlreichen Fällen von Streitigkeiten oder Zahlungsverweigerungen trafen also ausschließlich städtische Schöffen und Richter die Entscheidung, und sie urteilten in der Stadt, was den Bewohnern wahrscheinlich zum Vorteil gereichte. Denn prinzipiell dürfte ein städtisches Gericht eher zugunsten der eigenen Einwohner geurteilt haben. Hohe Bedeutung besaß die maßgebliche Mitwirkung an der Formulierung solcher Privilegien, denn damit konnte die vorherrschende Tendenz im Machtgefüge zwischen Stadt und Stadtherr bereits vorgegeben sein. Letztlich dehnte die wachsende Anzahl derartiger Bestimmungen den Geltungsbereich des Stadtrechts über geburtsrechtliche Unterschiede hinweg aus und schwächte die persönlichen Bindungen an auswärtige Herren ab. Verstärkt trat auf diesem Weg die Vorstellung in den Vordergrund, dass der Wohnsitz über den jeweiligen Rechtskreis entschied und nicht mehr die Herkunft. Damit beanspruchten die Stadtrechte eine allgemeinere ­Gültigkeit in einem nicht immer genau umrissenen Gebiet. Dessen Bewohner konnten persönliche Freiheit erlangen, verstanden – ganz anders als in der Gegenwart – als Nichtbindung an einen Herrn sowie als Teilhabe an den städtischen Freiheiten. Bei den Freiheiten, fast ausschließlich im Plural gebraucht, handelte es sich um Freiheiten von Bindungen, nicht um die Freiheit zu einer fast uneingeschränkten Gestaltung des individuellen Lebens. Neben weltlichen und geistlichen Fürsten sowie in zunehmendem Maße Ministerialen privilegierten die Könige Städte, so beispielsweise Friedrich I. Augsburg 1156, Hagenau 1164, Bremen 1186, Lübeck 1188 und schließ95

Hochmittelalter

lich Hamburg 1189. Ein Teil der Königsstädte sollte im Spätmittelalter den Status einer Reichsstadt erlangen, bevorzugt geschah dies im oberdeutschen Raum. Im Falle Augsburgs wurden die Positionen der drei beteiligten Kräftegruppen – König, Bischof und Stadt – in der Urkunde von 1156 gegeneinander abgesteckt. In diesem Zusammenhang muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den tradierten Stadtrechtsurkunden inhaltlich zumeist um Momentaufnahmen handelt. In der Folgezeit wurden die Rechte oftmals revidiert, erweitert oder ersetzt. Dies wirkte sich negativ auf die Überlieferungschancen der frühen Privilegien aus: Nach einer Privilegienerweiterung bestand vonseiten der Kommune und ihrer Bewohner keinerlei Interesse daran, eine Urkunde aufzubewahren, welche einen schlechteren Rechtsstatus dokumentierte, eventuell später gegen die Stadt verwendet werden konnte. Neben diese offiziellen Pergamente oder Schriftstücke traten zunächst vereinzelt eigene Rechtsaufzeichnungen von Bürgern, die der politischen Führungsschicht angehörten. Solche Aufzeichnungen dienten dem privaten ebenso wie dem innerstädtisch-öffentlichen Gebrauch oder der Unterrichtung einer anderen Stadt. Die persönliche Freiheit sowie Eigentumsgarantien mit voller, ausschließlicher Verfügungsgewalt über Eigentum und Besitz sowie das freie Erbrecht besaßen hohe Bedeutung für die Entwicklung eines Bürgertums wie auch für die kommunale Wirtschaft. Erst mit Durchsetzung dieser Rechte lösten sich die Stadtbewohner aus der familia der Stadtherren oder aus den Hofverbänden und somit aus den verschiedenen Formen der Hörigkeit oder auch der Zensualität mit ihren geringeren Belastungen (hier entfielen die persönlich zu leistenden Dienste). Mittels der Errichtung oder Förderung von Märkten sowie der Verleihung von Stadtrechten warben die Herren mit den Vorteilen dieses Rechtsstands, um neue Bewohner anzulocken. Die Freiheitsgewinne waren zugleich eine zentrale Voraussetzung für die Herausbildung von Bürgerschaften, die aus formal Gleichen bestanden, die einem gleichen Recht unterlagen, eben dem jeweiligen Stadtrecht. Erst nach dieser rechtlichen Aufwertung sowie Angleichung der Einwohnerschaft lässt sich überhaupt von Bürgern und Städten im Rechtssinn sprechen. Die Stadtherren partizipierten ihrerseits am Wachstum der Städte nicht zuletzt durch höhere Einnahmen aus direkten und indirekten Steuern, aus Zöllen und weiteren Abgaben. Zudem dürften mittlere und größere Städte das Ansehen ihrer Herren gestärkt haben. Neben der gewaltsamen Austragung von Konflikten führten weitaus häufiger Privilegierungen oder der Loskauf aus persönlichen Bindungen zum Erwerb dieser 96

Städtewesen

Rechte. Vielfach wurde daneben die persönliche Freiheit nach Jahr und Tag ungestörten Lebens in einer Stadt, also ohne Einspruch des ehemaligen Herren, fixiert. Doch längst nicht alle Stadtbewohner erlangten die persönliche Freiheit. Selbst im Spätmittelalter unterlagen noch zahlreiche Bewohner von Kommunen vornehmlich im Südwesten des Reichs und auch am Niederrhein persönlichen Bindungen; zu nennen sind in erster Linie Württemberg, Baden, das Bistum Speyer, der Kraichgau oder Hohenlohe. Dass derartige Beschränkungen vornehmlich in Bezug auf die Freizügigkeit von Mensch und Kapital bzw. Besitz außerhalb dieser Gebiete nicht unregistriert blieben, zeigt das Beispiel des Juristen Martin Prenninger: Als der amtierende Kanzler des Konstanzer Bischofs 1490 als württembergischer Rat und Universitätslehrer gewonnen werden sollte, machte er seine Zustimmung von der Zusicherung abhängig, dass weder er selbst noch seine Familienmitglieder oder Nachkommen nach einem Umzug nach Tübingen mittel- oder langfristig in den Status von Eigenleuten abgeschichtet würden. In Württemberg lebten in ihrer Freizügigkeit eingeschränkte Bürger neben Tübingen beispielsweise in Stuttgart, Göppingen, Bietigheim oder Kirchheim. Sie wurden auch als Eigenleute der Grafen bezeichnet, freilich ohne dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Rekognitionsabgaben zu leisten waren. Am Ende des 15. Jahrhunderts unterlagen die Bewohner aller württembergischen Landstädte diesen Beschränkungen. Ein ähnliches Bild bietet die Markgrafschaft Baden, wo zunächst aus den Jahren 1348, 1381 und 1384 Nichtabzugsverpflichtungen für Pforzheim als die größte Stadt des Gebiets belegt sind, welche die Mobilität der Bewohner und ihres Besitzes zumindest de jure einschränkten. Hintergrund war, dass bereits im 14. Jahrhundert der Abzug vermögender Bürger in die oberrheinischen Zentren die Wirtschaftskraft des Territoriums schwächte. In Ettlingen verhinderten gleiche Bestimmungen indessen nicht den Wegzug dreier vermögender Bürger. Aus Pforzheim setzte sich der bekannte Kaufmann und Geldhändler Heinrich Göldlin zunächst nach Speyer ab, doch endeten die herrschaftlichen Nachstellungen erst mit seiner Niederlassung in Zürich weitab der Einflusssphäre der Markgrafen. In den 1381 und 1384 ausgestellten Urkunden ist für Pforzheim von Eigenleuten die Rede, seit 1399 bezeichneten dann die Huldigungstexte aller markgräflichen Städte die Bürger als deren Eigenleute. 1475 ließ Markgraf Christoph in nochmaliger terminologischer Steigerung eigen durch libeigen ersetzen, und zwar u. a. für die Städte Baden, Pforzheim, Durlach, Ettlingen und Rastatt. Auch nach dem 97

Hochmittelalter

Übergang von Eppingen an die Pfalzgrafen bei Rhein formulierten diese in der Rechtserneuerung von 1540, dass Frondienste zu leisten seien. Dennoch blieb die Mobilität der Bürger höher als die der Bauern auf dem Land. Heiratsbeschränkungen galten nur bei Eheschließungen mit fremden Untertanen. Einzig die Bürger Pforzheims befreite ein Privileg des Jahres 1486 von der Hörigkeit. Der Stadtherr begründete sein Vorgehen mit dem weiteren Bedeutungsverlust des städtischen Handels, dem er gegensteuern wollte, womit er die Lehren aus dem missglückten Vorhaben zog. 1507 erfolgte die Gleichstellung des Residenzstädtchens Baden mit Pforzheim, die Durlacher konnten sich 1567 freikaufen. Selbst der Kölner Verbundbrief von 1396 formulierte, dass kein Eigenmann (yemans eygen) in den Rat gewählt werden durfte, eine Aufnahme in die Zünfte scheint dagegen durchaus möglich gewesen zu sein. Wenn diese Regelung nicht ausschließlich auf ältere Bestimmungen zurückgeht, dann könnten sogar in der einwohnerreichsten Stadt des Reiches Hörige gelebt haben, ohne dass dies als Ausnahme oder Besonderheit empfunden worden wäre. Angesichts der räumlichen Nähe Kölns zum Niederrheingebiet mit seinen stadtsässigen Hörigen verwundert dies letztlich nicht. Es könnten noch zahlreiche weitere Beispiele angeführt werden, doch beschränken wir uns auf diese. Schwere Bedenken gegen die Hörigkeit äußerte um 1500 der bekannte Jurist Conrad Peutinger, da nach dem Naturrecht alle Menschen frei seien und erst das vom Menschen geschaffene Völkerrecht zum Joch der Knechtschaft geführt habe; den Begriff „Völkerrecht“ gebrauchte Peutinger allerdings in einem anderen Sinn als heute. Naturrechtlich argumentierte schon der Schwabenspiegel des späten 13.  Jahrhunderts, der gleichfalls eine ursprüngliche Freiheit aller Menschen konstatierte. Die trotzdem verbreiteten persönlichen Abhängigkeiten bedauerte er zwar, nahm sie aber aufgrund der Machtverhältnisse als gegeben hin. Erst während des 16. Jahrhunderts erfolgte gehäufter ein Verzicht auf die Hörigkeit durch die jeweiligen Herren.13 13 Bernd Fuhrmann: Bürger als Hörige – eine Erscheinung auch des Spätmittelalters, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 29 (2011), S. 15–33, mit zahlreichen Einzelnachweisen. Knut Schulz: Stadtrecht und Zensualität am Niederrhein (12.–14. Jahrhundert), in: Edith Ennen/Klaus Flink (Hg.): Soziale und wirtschaftliche Bindungen im Mittelalter am Niederrhein (Klever Archiv, 3), Kleve 1981, S. 13– 36. Christian Heidel: Herrschaft über Land und Leute. Leibherrschaft und Territorialisierung in Württemberg 1246–1593 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, 28), Leinfelden-Echterdingen 2000, S. 175 f. Uwe Heckert: „Im Zweifel für die Freiheit“. Ein Mustergutachten Conrad Peutingers zu Bürgerrecht und Bürgeraufnahme im spätmittelalterlichen Augsburg, in: Klaus Schreiner/Ulrich Meier (Hg.): Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und

98

Städtewesen

Auch wenn die Zensualität gegenüber anderen Formen der Hörigkeit günstigere Bedingungen hinsichtlich Eigentums-, Besitz- und Erbrechten beinhaltete, drückten derartige Belastungen dennoch die wohl zunehmend als negativ empfundene persönliche Abhängigkeit aus. Geografisch konzentrierte sich die Zensualität auf Nordostfrankreich, Flandern, Hennegau, Brabant, Nieder- und Mittelrhein, das rheinfränkische und das alemannische Gebiet sowie auf Westfalen. Konkret belasteten die Zensualen Kopfzins, Todfallabgaben und erhebliche erbrechtliche Beschränkungen bei Heiraten mit einem Partner aus einer anderen familia. Dabei dürften besonders in den werdenden Städten mit ihrem größeren Einzugsbereich und verschiedenen, vornehmlich geistlichen Hofverbänden innerhalb ein und derselben Befestigung folgenschwere Eheschließungen zwischen Partnern aus einer anderen familia eher die Regel als die Ausnahme gebildet haben. Die Privilegien Heinrichs V. für Speyer und Worms aus den Jahren 1111, 1112 und 1114 sind die frühesten überlieferten Zeugnisse einer gegenläufigen Tendenz. Speyer war für die Salier ein zentraler Ort, denn der Dom galt als salische Grablege, wobei der mächtige Domneubau wohl erst 1125/30 und damit nach dem Tod des letzten Salierherrschers, Heinrich V., in Angriff genommen wurde. Allen Bewohnern Speyers also gestand der Herrscher ein freies Erb- und Verfügungsrecht über jeglichen Besitz zu, denen von Worms ein freies Ehe- und ein freies Erbrecht. Die Urkunde für Worms beschwor zunächst die jammervollen Klagerufe der Bewohner über die zahlreichen Rechtsverdrehungen ihrer Herren und ihre ungerechten Erbforderungen herauf, bevor sie eindeutig und wohl neues Recht setzend bestimmte: „Wenn ein Mann früher als seine Gattin stirbt, sollen seine Gattin und ihre Nachkommen, die sie von diesem Mann hat, all das, was der Mann als Besitz hinterlassen hat, ohne irgendwelchen Einspruch erhalten, und dasselbe Recht soll von der Frau, wenn sie früher stirbt, auf den Mann übergehen. Wenn aber beide ohne Nachkommen sterben, sollen die nächsten Erben die hinterlassene Habe besitzen.“14 Damit müssten in beiden Städten die Todfallabgaben hinfällig geworden sein, doch blieb dies keinesfalls unstrittig. Bischöfe und andere Herren verzichteten wohl nicht

italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, 7), Göttingen 1994, S.  120–144, hier S.  136. Der Kölner Verbundbrief ist u. a. abgedruckt in: Texte zur Kölner Verfassungsgeschichte, ausgewählt u. mit einer Einleitung versehen v. Bernd Dreher (Veröffentlichungen des Kölner Stadtmuseums (Heft VI), Köln 1988, S. 56–66. 14 Weinrich (Hg.): Quellen bis 1250, S. 180 f.

99

Hochmittelalter

ohne Widerstand auf diesen keinesfalls unwichtigen Einnahmeposten, der zudem ihre Herrschaft dokumentierte. Dass diese Streitigkeiten selbst Jahrzehnte später noch nicht ausgestanden waren, belegen Verfügungen Friedrichs I. Barbarossa, der 1182 die Bewohner Speyers sowie zwei Jahre später die Wormser endgültig von der Todfallabgabe befreite. Gegen die Macht des Staufers, der zudem für Worms den Kopfzins als letzte, auf persönlicher Abhängigkeit beruhende Verpflichtung aufhob, konnten die Bischöfe nicht länger Widerstand leisten. Das Wormser Diplom betonte sogar das entscheidende Mitwirken des Bischofs am Zustandekommen der Bestimmungen – wohl um diesen nicht bloßzustellen. Auf einer Metalltafel, die über dem Nordportal des Doms angebracht wurde, stand der Text hinfort allen Bewohnern vor Augen, wenngleich in Latein, den Beispielen Speyer und Mainz folgend. In Konstanz, gleichfalls eine Bischofsstadt, zog sich der Kampf der Bürger gegen die Todfallabgaben sogar bis weit in das 14.  Jahrhundert hinein. Die Wormser Geldwechsler, erst später als Münzerhausgenossen bezeichnet und als rechtlich abgegrenzter Zusammenschluss fassbar, privilegierte Friedrich I. 1165 nicht zuletzt, weil sie königliche Münzen prägten und er von den Gewinnen profitierte. Ein städtisches Gericht, in dem neben Geistlichen 40 Wormser mitwirkten, unterteilt in 12 Ministerialen und 28 burgenses, ist erstmals für 1180 belegt. Den Bau ihrer neuen Synagoge konnte die bedeutende jüdische Gemeinde 1174/75 abschließen, den der Mikwe, des Ritualbads, 1185/86, zu den Gemeinden in Speyer und Mainz bestanden enge Verbindungen. Die Existenz eines Rates belegt für Worms eine Urkunde des Jahres 1202, vier Jahre zuvor hatte Philipp von Schwaben den Speyrer Bürgern ein solches Gremium zugestanden. 1208 festigte Otto IV. die Position des Wormser Rats, doch konnte der Bischof mit Unterstützung Kaiser Friedrichs II. 1233 vor dem Hintergrund einer veränderten politischen Großwetterlage seinen entscheidenden Einfluss zurückgewinnen. Das die zunächst positive Entwicklung manifestierende steinerne Beratungshaus des Gremiums hatten die Einwohner schon im Vorjahr ab­ getragen, damit es dem Bischof zumindest nicht in die Hände fiel. Trotz der geschilderten Freiheitsbestrebungen kam es vor, dass sich selbst besser gestellte Stadtbewohner in lockere Abhängigkeitsverhältnisse begaben, die persönliche Vorteile im Dienst der Herren oder bessere wirtschaftliche Chancen versprachen. Mithin darf der in moderner Vorstellung so wichtige Gegensatz „frei“ versus „unfrei“ für den behandelten Zeitraum und besonders für das 12. Jahrhundert in den Städten nicht überbe100

Städtewesen

tont werden. Allerdings zeigen die Forschungen, dass der evolutionäre Prozess der Stadtwerdung und der Herausbildung des Bürgertums wieder einmal deutliche regionale Entwicklungsunterschiede aufwies. Zeitlich erwiesen sich überwiegend die rheinischen Städte als führend bzw. die entsprechenden Bestrebungen erscheinen dort zumindest früh in den Quellen. Die Herausbildung einer sicherlich noch kleinen Öffentlichkeit und die seit dem sogenannten Investiturstreit geführten Diskussionen um die Herrschaftslegitimation nicht nur der bischöflichen Stadtherren benennt Knut Schulz als zentrale Grundlagen für diese Entwicklumg. Zunehmend trat die Forderung nach politischer Selbstbestimmung oder zumindest ­entscheidender Mitwirkung hinzu, verbunden mit der Vorstellung eines Grundkonsenses der gesamten Stadtbevölkerung, wenngleich sich die Herrschaftsteilhabe letztlich auf einen kleinen Kreis reduzierte.15 In den welfischen Städten erfuhr die Idee der Bürgerfreiheit wohl in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ihre Umsetzung. Mit der Errichtung steinerner Mauern vornehmlich im 12. und 13. Jahrhundert verstärkte sich die Abgrenzung gegenüber dem Land weiter. Gleichzeitig erhöhte sich wahrscheinlich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Einwohnerschaft, da vielfach erst die neuen, ein größeres Gebiet umfassenden Mauern den Stadtkern mit weiteren Vorstädten oder Stadtteilen zu einer räumlichen und rechtlichen Einheit zusammenwachsen ließen. In Städten mit römerzeitlichen Befestigungen hatte die Einbeziehung zusätzlicher Siedlungsteile bereits im 10. Jahrhundert begonnen. Zuweilen konnte sich die Befestigungshoheit zu einem Streitpunkt zwischen Stadtherr und Bürgern entwickeln, doch zeigten die Stadtherren prinzipiell am Mauerbau Interesse. Immerhin boten die städtischen Befestigungen in Krisenzeiten auch ihren bäuerlichen Hintersassen im Umland Schutz. Nicht selten mussten sich deswegen die Bewohner der umliegenden Dörfer am Mauerbau ebenso beteiligen wie später an der Besetzung der Mauern und ihrer Verteidigung im Belagerungsfall. Der Mauerbau stellte einen erheblichen Kostenfaktor dar. Teilweise wurden zur Finanzierung indirekte Steuern, häufig als Ungeld oder Akzise bezeichnet, erhoben, welche in dieser frühen Phase vornehmlich Getränke belasteten. Gelang es den Städten, die Erhebung dieser Konsumsteuern zu verstetigen, konnten sie sich zu einer wichtigen kommunalen Finanzquelle entwickeln; allerdings setzt die Über15 Knut Schulz: „Denn sie liebten die Freiheit so sehr …“ Kommunale Aufstände und Entstehung des europäischen Bürgertums im Hochmittelalter, Darmstadt 1992.

101

Hochmittelalter

lieferung kommunaler Haushalte und damit gesichertes Wissen in dieser Frage erst im Spätmittelalter ein. Vielfach reduzierten die Stadtherren während der Bauphase der Befestigung die sonstige Steuer- und Abgabenbelastung der Städte. Einmal errichtet, begrenzten die Stadtmauern das Raumangebot in den Städten und eine zuvor eher unregelmäßige Bebauung konnte in eine Planung mit kleineren Parzellen münden. Mauererweiterungen oder neu entstehende (Handwerker-)Vorstädte sorgten dann für Ausweichmöglichkeiten. Umfangreiche Mauererweiterungen vor der und um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert führten angesichts des folgenden Bevölkerungsrückgangs sogar zuweilen zu Freiflächen in den Städten. Einen Niederschlag fanden Wachstum und Bedeutungsgewinn der Städte auch in der Sprache, denn während des 11. Jahrhunderts zeichnete sich eine terminologische Trennung von Burg und Stadt ab – trotz des beiden gemeinsamen Fortifikationscharakters. Bisher hatten Dichtung und Glossen selbst Städte wie Köln als „Burg“ bezeichnet, während der Begriff „Stadt“ noch am Ende des Jahrhunderts selten Verwendung fand. Doch in der Folge ersetzte der Stadtbegriff zunehmend den der Burg, wenn tatsächlich eine Stadt zu bezeichnen war, und zeitgleich verengte sich der Burg­ begriff auf eine Wehranlage weltlicher oder geistlicher Herren. Durchaus seltsamerweise blieb aber am vollberechtigten städtischen Einwohner die Bezeichnung „Bürger“ haften, wobei die Ableitungen nicht eindeutig geklärt sind. Grundsätzlich konnte nun aber zwischen Stadt- und Landbevölkerung terminologisch geschieden werden. In staufischer Zeit intensivierte sich der Verstädterungsprozess nochmals deutlich, begünstigt selbstverständlich auch durch das demografische Wachstum. Nun beteiligten sich zudem Ministerialen intensiv an Stadterhebungen, dokumentierten damit neben ihrem veränderten Status ihren gewachsenen Einfluss sowie ihren vergrößerten Besitz. Die Staufer traten sowohl als Herrscher wie – dies wohl in erster Linie – als Territorialherren auf, doch lässt sich zwischen Reichs- und Eigengut kaum in jedem Fall präzise scheiden. Friedrich I. Barbarossa, dessen Einstellung zur kommunalen Autonomie von seinen lang andauernden Konflikten und Kämpfen mit den oberitalienischen Kommunen geprägt war, privilegierte vergleichsweise viele Pfalzorte mit städtischen Rechten, genannt seien Ulm, Wimpfen, Kaiserslautern oder Hagenau. Allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: Kommunale Autonomierechte spielten kaum eine Rolle, die Einwohner sollten allenfalls an der Regelung des täglichen Wirtschaftslebens oder am Ausbau der Infrastruktur mitwirken. So blieben die Städte 102

Städtewesen

eindeutig ihrem Herrn, dem oftmals fernen Herrscher, und dessen Funktionsträgern unterstellt; Entwicklungen der Königsstädte zu Reichsstädten zeichnen sich in der dünnen Überlieferung höchstens ansatzweise ab. Daneben kam strategischen Interessen der Reichslandpolitik eine wichtige Rolle zu, so in der Wetterau, wo Frankfurt noch keine dominierende Rolle spielte. Zuweilen brachte der Kaiser zur Stärkung seiner Position auch seinen Oberherrschaftsanspruch in Bischofsstädten zur Geltung. Die meiste Förderung erfuhren die Kommunen im Süden des Reichs, genauer im ehemaligen Herzogtum Schwaben sowie in Franken, wo sich staufisches Hausgut und Reichsgut massierten; dies erklärt zudem die deutliche Konzentration der späteren Reichsstädte in diesem Raum. Wirtschaftliche Motive lassen sich beispielsweise erkennen, wenn Heinrich der Löwe die dem Freisinger Bischof zugehörige Brücke bei Oberföhring über die Isar abreißen ließ. So sollten in erster Linie die Salztransporte aus dem Alpenvorland auf den von ihm privilegierten Markt München umgeleitet werden. Ob für die Stauferzeit der Begriff „Städtepolitik“ verwendet werden kann, ist umstritten, doch dürfte er mit gewissen Einschränkungen ab etwa 1180 Gültigkeit beanspruchen. Dies trifft etwa auf die Förderung der Königsstädte zu, die deutlich über fiskalische Motive hinausging, aber ebenso auf andere Regionen. Diese Städte sollten vornehmlich dem Herrschaftsausbau bzw. dessen Intensivierung sowie einer verstärkten administrativen Durchdringung des Umlands dienen, auch außerhalb des staufischen Eigen- sowie des Reichsguts bildeten sie quasi Stützpunkte der Herrschaftsausübung. Allgemein lässt sich zudem das Ziel einer engeren Handelsverflechtung nicht nur der Königsstädte erkennen. Wie bei der „Städtepolitik“ ergeben sich für den Begriff der „Wirtschaftspolitik“ zwar Einschränkungen. Dass aber nicht nur staufische Herrscher sowohl als Könige oder Kaiser wie auch als Territorialherren – ein noch für die Wende zum 13. Jahrhundert keineswegs unproblematischer Begriff – gestaltend in den ökonomischen Bereich eingriffen und mithin Anfänge einer Wirtschaftspolitik oder zumindest umfassendere wirtschaftspolitische Regelungen etablierten, darf hingegen als gesichert gelten.16 16 Dirlmeier: Friedrich Barbarossa, passim. Johannes Fried: Die Wirtschaftspolitik Friedrich Barbarossas in Deutschland, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 120 (1984), S. 195–239. Vgl. Hugo Stehkämper: Kaiser Friedrich Barbarossa: Nur Wirtschaftsförderer oder zugleich auch Machtpolitiker? Eine Forschungskontroverse, in: Historisches Jahrbuch 119 (1999), S.  65–83. Heinrich dem Löwen billigt Ulf Dirlmeier eine weniger ausgeprägte Wirtschaftspolitik zu; ders.: Heinrich der Löwe und die Wirtschaft, in: Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation, hg. v. Johannes

103

Hochmittelalter

Wie bei seinem Großvater dürften die heftigen Konflikte mit den oberitalienischen Städten auch die Einstellung Friedrichs II. gegenüber den Kommunen geprägt haben. Zugleich benötigte er im Reich den Rückhalt der weltlichen und geistlichen Großen und damit der Stadtherren, um ohne unnötige Konflikte an dieser Front im Süden mit freier Hand agieren zu können. Damit war der letzte Stauferkaiser gleichfalls gegen kommunales Autonomiestreben eingestellt. Nicht zuletzt um mögliche Auseinandersetzungen im Reich zu vermeiden, widerrief Friedrich II. 1232 als Zugeständnis an die geistlichen Herren „in jeder Stadt und jedem Marktort Deutschlands (Alamannie) die Gemeindevertretungen, Gemeinderäte, Bürgermeister, Schulzen oder sonstige Amtsleute, die von der Gesamtheit der Bürger ohne Zustimmung der Erzbischöfe oder Bischöfe eingesetzt werden – ganz gleich mit welchem Namen sie bei der Verschiedenheit der Orte bedacht sind. Außerdem widerrufen und beseitigen Wir jedwede Handwerksbruderschaften oder Zünfte, ganz gleich mit welchem Namen sie gemeinhin bedacht werden.“17

Als Ausnahme lässt sich Regensburg anführen, dessen Bürgern Friedrich II. 1245 das Recht zugestand, Bürgermeister, Rat und Amtsleute selbst zu wählen. Die Erklärung hierfür liegt in der spezifischen politischen Situation, denn der Regensburger Bischof war zuvor auf die Seite des Papstes und damit der Kaisergegner gewechselt, weshalb Friedrich dessen Position zu schwächen trachtete. Über die fiskalische Bedeutung der Königsstädte, die freilich im Vergleich zu den Hoffnungen auf Einkünfte aus den lombardischen Städten fast zu vernachlässigen war, gibt das Fragment einer Reichssteuerliste des Jahres 1241 Auskunft, welches neben den Königsstädten etliche reichsunmittelbare Dörfer umfasst. Den höchsten Betrag musste seinerzeit Frankfurt mit 250 Mark entrichten, gefolgt von Gelnhausen, Hagenau, Basel sowie den Straßburger Juden mit jeweils 200



Fried/Otto Gerhard Oexle (Vorträge und Forschungen, LVII), Ostfildern 2003, S. 293–309. Vgl. mit zahlreichen Beispielen Ulf Dirlmeier: Mittelalterliche Hoheitsträger im wirtschaftlichen Wettbewerb (VSWG Beihefte, 51), Wiesbaden 1966. Zum Begriff „Wirtschaftspolitik“ für das Spätmittelalter kritisch zuletzt Jenks: Grundlagen, S.  79–81. Eindeutig ist damit sicherlich, dass von Wirtschaftspolitik im modernen, umfassenden Sinn für das Mittelalter noch nicht gesprochen werden kann. Allerdings wird selbst heute noch teilweise erbittert über die „richtigen“ Mittel oder schon die grundlegenden Ansätze gestritten. Schon deswegen kann selbst für die Gegenwart von einer einheitlichen Vorstellung von Wirtschaftspolitik nicht die Rede sein. Mit den genannten Einschränkungen verwenden wir den Begriff. 17 Weinrich (Hg.): Quellen bis 1250, S. 430 f.

104

Städtewesen

Mark. Schaffhausen hatte 227 Mark aufzubringen, wobei Mauerbau und Stadtbrände zu einer Steuerreduktion oder einem Steuererlass führen konnten. Schon aufgrund der Singularität der Überlieferung kann aus der Höhe der Steuerleistung nicht auf die Wirtschaftskraft der Städte geschlossen werden, wenngleich punktuell Annäherungen sichtbar werden. Letztlich standen bei den Staufern eine territorialstabilisierende Komponente sowie die ökonomische Förderung der Kommunen im Mittelpunkt. In der Folgezeit lag es dann bei den Städten, die erlangten Rechte umzusetzen und zu behaupten, auf eine konkrete Unterstützung durch die Herrscher konnten sie nur selten zählen. Am Beispiel Westfalen lässt sich der Prozess der Verstädterung gut veranschaulichen: Sind bis 1180 mit Dortmund, Höxter, Minden, Münster, Paderborn und Soest sechs Orte als Städte sowie mit Corvey, Herford, Medebach, Niedermarsberg und Siegen fünf weitere als stadtähnliche Siedlungen zu charakterisieren, kamen bis 1240 unter Einschluss von vier der zuvor stadtähnlichen Siedlungen weitere 30 städtische Siedlungen hinzu. In den folgenden fünf Jahrzehnten blieb die zahlenmäßige Zunahme zwar hoch, doch entstanden vermehrt nur noch Klein- oder Zwergstädte. Ohnehin existierten nach der Mitte des 13. Jahrhunderts angesichts eines auch in Westfalen verdichteten Städtenetzes nur noch geringe Wachstumschancen für neue Kommunen. Vielfach begegnen hier wie andernorts Stadterhebungen in den Grenzlagen der werdenden Territorien, die zur Sicherung der Grenzräume dienen sollten. Noch vor 1300 dürfte der Höhepunkt der Stadtwerdungswelle erreicht, wenn nicht schon überschritten gewesen sein. Verbunden waren diese Entwicklungen sowie spätere Stadterweiterungen mit teilweise umfangreichen Erd- und Rodungsarbeiten, gegebenenfalls auch mit Entwässerungen in der Nähe von Wasserläufen. Nach Schätzungen dürfte es im gesamten Reichsgebiet schließlich um 1320 etwa 3200 bis knapp 4000 Städte gegeben haben, aus denen ungefähr 50 mit mehr als 5000 Einwohnern herausragten. Weitere 200 Städte erreichten mit 2000 bis 5000 Einwohnern eine für das Reich bemerkenswerte Größe, während es sich bei dem verbleibenden großen Rest um Klein- und Kleinststädte handelte, deren Erscheinungsbild sich häufig kaum von dem großer Dörfer unterschied. Doch gerade die Mittelstädte prägten im Reichsgebiet das Städtewesen. Eine Besonderheit bildeten die nur in Bayern und Österreich anzutreffenden Märkte, die volle Stadtrechte nicht mehr erlangten, aber dennoch über einen Sonderstatus verfügten und dadurch aus dem umgebenden Landgebiet herausragten. Selbst noch im Spätmittel105

Hochmittelalter

alter schieden nicht nur die Urkundentexte keinesfalls immer strikt zwischen Stadt und Markt.18 Die institutionelle Herausbildung des städtischen Rates und des Bürgermeisteramts im ausgehenden 12. und im 13. Jahrhundert verlief vielschichtig und mit ausgeprägten Unterschieden. Tendenziell nahm jedenfalls der Umfang der Selbstverwaltungsrechte vorerst allgemein zu. Zentrale Bedeutung kam in allen Fällen einer begrenzten Amtsdauer der Räte sowie der Beteiligung der Gemeinde an ihrer Wahl zu, deren Modalitäten wiederum eine unterschiedliche Ausgestaltung erfuhren. Die Bezeichnungen consilium, consiliarii oder consules fanden selbst innerhalb einer Stadt nebenei­ nander Verwendung. Dies könnte seinen Grund darin haben, dass für die volkssprachlichen Amtsbezeichnungen lateinische Äquivalente für Urkunden oder sonstige Rechtstexte gefunden werden mussten. Mit einem gewissen West-Ost-Gefälle traten in den mittel- und oberrheinischen Bischofsstädten seit etwa 1185/90 Räte als Vertreter der Bürgerschaft auf. Frühe Räte sind zudem für Lübeck 1201, Erfurt um 1212 und Soest 1213 sowie in ­Utrecht bereits 1196 belegt. Doch bedeutet eine späte Ersterwähnung von Räten nicht zwingend deren Nichtvorhandensein, sondern die späte Nennung kann der fehlenden Quellenüberlieferung geschuldet sein. Vielfach bildete sich das Gremium mit Zustimmung der Stadtherren heraus, denn diese waren an der Regelung der komplexer werdenden innerstädtischen Ordnung interessiert. Doch neben Erweiterungen der Kompetenzen des Rates lassen sich gleichfalls Beschneidungen seiner Rechte erkennen. Es handelte sich somit nicht um einen geradlinigen Prozess der Machterweiterung. Die Räte konnten Schwächephasen der Stadtherren zur Ausweitung ihres Einflusses nutzen, während umgekehrt mächtige Stadtherren keinesfalls selten begrenzend wirkten. Nicht überall lassen sich zeitlich vorausgehende Einrichtungen oder Gremien erkennen, aus denen sich ein erster Rat rekrutierte. Häufig ist jedoch von einer Verdichtung des kommunalen Meliorats auszugehen, welches sich erste Organisationsformen schuf. Als zentrales Mittel des Zusammenschlusses nutzte die werdende Bürgerschaft – oder zumindest Teile derselben – die coniuratio oder communia, also die eidliche Einigung der Einwohner. Derartige Schwureinungen standen auch im Reich am Beginn der Entwicklung von Stadtgemeinden 18 Rolf Kießling: Zwischen Stadt und Dorf? Zum Marktbegriff in Oberdeutschland, in: Johanek/Post (Hg.): Städte, S. 121–143. Vgl. Alois Koch: Märkte zwischen Iller und Lech als Element des Urbanisierungsprozesses im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben, 37), Augsburg 2007.

106

Städtewesen

und deren Führungsgremien. Letztere erlangten zunächst einzelne Rechte, um schließlich nach unterschiedlich gestalteten Zwischenstationen als Rat die Geschicke der Stadt zu lenken. Selbst kaiserliche Verbote zeigten dann häufig kaum noch Wirkung und boten kaum mehr als einen Rechtstitel für stadtherrliches Begehren. Territorialstädte konnten vornehmlich im Norden gleichfalls einen hohen Autonomiegrad erlangen, doch handelte es sich auch dabei wieder um einen reversiblen Prozess. Letztlich gestaltete sich die Einflussdichte der Stadtherren sehr unterschiedlich und unterlag im Lauf der Zeit Veränderungen. Das wachsende kommunale Selbstbewusstsein, das Aufkommen von Ratsverfassungen sowie die sich verfestigenden Stadtgemeinden verdeutlichten sich im Laufe des 13. Jahrhunderts nicht zuletzt in ersten repräsentativen und multifunktionalen Rathäusern in zentraler Lage. Häufig begegnet eine Kombination von Rat- und Kaufhaus, wobei die Gebäude in den folgenden Jahrhunderten vielfach Umbauten erfuhren oder gänzlich neu errichtet wurden. Ein bekanntes Beispiel bildet das Dortmunder Rathaus, in dessen Keller sich das städtische Weinlager befand, während das Erdgeschoss eine Tuchhalle sowie die Gerichtslaube beherbergte; die Tuchhalle verweist auf die Bedeutung dieses Produkts für den Handel. Ein Geschoss darüber tagten Rat und Gericht, über allem thronte aber der Tanz- oder Festsaal. Gleichfalls große Dimensionen konnten die kommunalen Bauhöfe erreichen: Selbst der in der kleinen fränkischen Reichsstadt Windsheim, wo unter Einschluss der Vorstädte um 1400 etwa 2000 Menschen lebten, von 1441 bis 1444 errichtete Neubau verfügte über eine beträchtliche Grundfläche von immerhin ungefähr 32 x 23 Metern bei einer Gesamthöhe von über 17 Metern. Die Überspannung der ca. 14 x 25 Meter messenden zentralen Halle mit einem Dachstuhl erfolgte ohne weitere Stützen. Alleine für diesen Bau benötigten die Zimmerleute ungefähr 1000 Stämme Bauholz, für das Dach verwendeten die Dachdecker etwa 35 000 Dachziegel. Daneben finden sich in den Städten – freilich größenabhängig sowie teilweise regionalen Spezifika und Produktionsschwerpunkten folgend – Fleischhallen, Fisch- und Brotbänke, Tuchhallen oder -bänke, Getreidespeicher, öffentliche Waagen, Zeughäuser sowie seltener Schlachthäuser. Die Waagen dienten nicht zuletzt dem Zweck, fremde Kaufleute vor Irrtümern und Übervorteilung zu schützen. Die in einer Stadt gültigen Längenmaße fanden häufig an einer Außenwand des Rat- oder Kaufhauses ihren Platz. Anstelle von Kaufhäusern erbauten kleinere Städte geringer dimensionierte Markthallen. In den 107

Hochmittelalter

Kaufhäusern konnten die fremden Kaufleute zwar einerseits ihre Waren sicher vor Diebstahl und Beschädigung einlagern, doch unterlagen sie und ihre Aktivitäten andererseits der Kontrolle durch den Rat. Wohl vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert ließen die Räte zusätzlich Brauhäuser errichten, in denen auch diejenigen Bürger brauen konnten, welche nicht über die notwendigen Mittel zur Anschaffung der teuren Braugerätschaften verfügten.19 Die Zünfte errichteten ebenfalls eigene Gebäude, ebenso die Stadtherren ihre Amtshäuser. Frühe Zunftbildungen oder deren Vorformen sind aus Worms (Fischhändler 1106/07), Würzburg (Schuhmacher 1128), Köln (Bettlakenweberbruderschaft 1149, Drechsleramt 1180er-Jahre), Magdeburg (Schuhmacher 1152, Gewandschneider 1183, Sattler und Schildmacher 1197) und Mainz (Weber 1175, rückdatiert auf 1099) bekannt. In Worms wurden zunächst „nur“ die Vererbbarkeit des Berufs sowie die Zahl von 23 Fischhändlern fixiert, während in Würzburg und Mainz die Handwerker herrschaftlich gebunden blieben; als entscheidend erwiesen sich jedenfalls ihr gemeinsames Wirken und die De-facto-Anerkennung ihres Zusammenschlusses. Magdeburger Bestimmungen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts deuteten dann weiter in die Zukunft, schrieben sie doch die freie Berufswahl mitsamt Zunftzwang sowie die freie Wahl des Zunftmeisters fest. Schriftliche Belege für Zünfte datieren in größerer Zahl aus dem 13. Jahrhundert, vor allem aus dessen zweiter Hälfte, zeitlich parallel zur allgemeinen Zunahme der kommunalen Überlieferung. Das Wort „Zunft“ stammt übrigens aus dem süddeutsch-alemannischen Raum und drang nur langsam nach Norden vor; weitere gängige Bezeichnungen sind Amt, Gilde, Gaffel, Einung, Innung oder Zeche. Als ein Hauptträger der Unabhängigkeitsbestrebungen fungierten neben den Kaufleuten die Ministerialen, welche jedoch in der Stadtgeschichtsschreibung lange deutlich hinter den Fernhändlern zurückstanden. Innerhalb der stadtsässigen Ministerialität lassen sich in grober Differenzierung und Vereinfachung zwei Gruppen unterscheiden: Ein Teil von ihnen pflegte einen ausgesprochen adligen Lebensstil, betonte seine Lehnsfähigkeit, die Nähe zum jeweiligen Stadtherrn und unterhielt engere Beziehungen zum Landadel des Umlands. Die meisten dieser Ministerialen dürften 19 Bedal: Häuser, S.  290. Stefan Uhl: Kaufhaus – Kornhaus – Rathaus. Zum Wechselspiel zwischen städtischen Funktionsgebäuden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Rathäuser und andere kommunale Bauten (Jahrbuch für Hausforschung, 60), Marburg 2010, S. 379–397.

108

Städtewesen

vornehmlich im 13. Jahrhundert die Städte verlassen haben, um auf ihren Gütern landsässig zu werden; sie gingen schließlich in dem sich neu formierenden Niederadel auf. Größeren Einfluss auf die Entwicklung von Stadt und Bürgerschaft nahmen die Vertreter der zweite Gruppe, die ihren Status als Stadtbewohner, dann als Stadtbürger hervorhoben und als Repräsentanten der sich formierenden Bürgerschaften wirkten. Hohe Bedeutung kam ihren Kenntnissen und Funktionen in den verschiedenen Bereichen von Verwaltung und Gerichtswesen zu. Besonders die Münzer- oder Wechslerhausgenossen verfügten über eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorrangstellung, die sie zumindest teilweise in den neuen, bürgerlichen Lebenskreis transferieren konnten. Derart gelang es ihnen vielfach, sich Vorrechte im Wechsel- und Edelmetallgeschäft sowie im Geldhandel zu sichern. Eine eigene Gerichtsbarkeit sowie deutlich eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten zu ihrem Kreis führten zu einer exklusiven Stellung, die sie häufig erst im 14. Jahrhundert vor dem Hintergrund des rapide anwachsenden Geldhandels und des Vordringens von Kaufleuten in dieses Geschäftsfeld verloren. Allerdings durften beispielsweise in Worms die Münzerhausgenossen kein städtisches Amt übernehmen, durch welche Bestimmung ihr ohnehin hohes innerstädtisches Gewicht zumindest politisch reduziert werden sollte. Die Ministerialen verfügten vielfach über einen erheblichen Immobilienbesitz innerhalb der Mauern und auf dem Lande, wenngleich dessen genauer Umfang kaum mehr zu rekonstruieren ist. Die teilweise lehnsrechtlichen Bindungen des Landbesitzes schwanden jedenfalls zunehmend und die Eigentumsrechte fanden stärkere Betonung. Wahrscheinlich in Verbindung mit den Geld- und Wechselgeschäften beteiligten sich zahlreiche Ministerialen zudem am Fernhandel, was nicht unerhebliche Interessenüberschneidungen mit den Großkaufleuten mit sich brachte und trotz aller potenziellen Konkurrenz die Kontakte zwischen beiden Gruppen förderte. Parallel zum kommunalen Emanzipationsprozess eröffnete sich auf diesem Weg für die Ministerialen die Möglichkeit, sich aus den letzten Bindungen an ihre Herren zu befreien. Jedoch verhüllen solche pauschalisierenden Aussagen die starken Differenzen zwischen den einzelnen Städten und lassen den Ablösungsprozess zeitlich verkürzt erscheinen. Gemeinsam dürfte Ministerialen und Fernkaufleuten gewesen sein, dass sie ihre innerstädtischen Herrschaftsansprüche noch primär aus ihrer Herkunft ableiteten und daher ihren sozialen Rang deutlich über dem der restlichen Einwohnerschaft verorteten. Erst im Verlauf des 109

Hochmittelalter

13. Jahrhunderts gewannen weitere Merkmale an Bedeutung, von denen vor allem Reichtum und Vermögen die Bedeutung der Herkunft zu überlagern begannen. Doch gerade die Nachkommen der Ministerialen betonten das alte Herkommen der Familie unverändert. Gelegentlich erfolgte noch im 13.  Jahrhundert eine Verdrängung dieser zeitlich ersten Führungsschicht aus ihren Ämtern, wie es das Kölner Beispiel zeigt.

Köln – ein Sonderweg Die zuvor thematisierten Entwicklungsstränge werden nun anhand eines Beispiels anschaulich vorgestellt, das aufgrund etlicher Sonderentwicklungen als atypisch gelten kann. Wenngleich sich in Köln wie auch andernorts mehrere Prozesse teilweise überlagerten, erweist sich in diesem Fall die Überlieferung als vergleichsweise gut. Zwar zählte Köln nicht zu einer verdichteten Städtelandschaft wie Oberitalien oder den Niederen Landen, doch finden sich am Niederrhein mit seiner geografischen Nähe zu Flandern gleichfalls frühe Belege für den Beginn einer Kommunebewegung. Diese Zeugnisse lassen die hohe Verbreitung derartiger Vorstellungen und die Versuche zu ihrer Umsetzung deutlicher werden. Die gleichfalls im Strahlkreis der flandrischen Entwicklung gelegenen nordostfranzösischen Regionen ließen sich mit weiteren Beispielen anführen. Vornehmlich Händler dürften die einschlägigen Informationen von einer Stadt in eine andere übermittelt haben. Immer stärker empfanden wohl gerade die Kaufleute des schon früh neben den Tuchen für seine Metallwaren bekannten Köln den Gegensatz zwischen ihren persönlichen Abhängigkeiten und ihrem wirtschaftlichen Erfolg. Vergleichsweise gut ist die Quellenüberlieferung zu den ersten Kölner Emanzipationsbestrebungen des Jahres 1074, wenngleich Lampert von Hersfeld als wichtigster Chronist jener Ereignisse eindeutig aufseiten des dortigen Kirchenherrn stand. Die Rede ist von Erzbischof Anno von Köln, einem Mann unbekannter Herkunft, der vielleicht von der Schwäbischen Alb stammte. Er hatte 1062 den seinerzeit elfjährigen König Heinrich IV., für den dessen Mutter Agnes die Regentschaft innehatte, entführt, um so entscheidenden Einfluss auf dessen Entscheidungen nehmen zu können. Bei dem Herrscher blieb jedenfalls eine tiefe Abneigung gegenüber dem mächtigen Kirchenfürsten zurück, die sich wohl ebenso gegen weitere Vertreter des Hochadels richtete. Eingebettet waren die Kölner Ereignisse in die Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit den Sachsen, noch bevor die 110

Städtewesen

erste Phase des sogenannten Investiturstreits eskalierte und der Streit um den Vorrang zwischen Kaiser und Papst seine frühen Höhepunkte erlebte. In Sachsen, vor allem im Harzgebiet mit dessen wirtschaftlichem Zentrum Goslar, hatte Heinrich IV. Anstrengungen unternommen, die tradierten Ansprüche des Reichs bzw. des Königtums durch den Bau von Burgen zu reaktivieren. Es waren nicht zuletzt die reichen Silbervorkommen im Harz, die diese Region in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu einem erbitterten Streitpunkt zwischen den Kontrahenten werden ließen. Heinrichs Aktivitäten stießen auf heftigen Widerstand des dortigen Adels und führten schließlich zu seiner Vertreibung aus der Region. Nach seiner Flucht aus Sachsen suchte Heinrich in seiner mittelrheinischen Heimat Zuflucht und Unterstützung. Den Anlass der Kölner Ereignisse des Jahres 1074 bildete die Beschlagnahmung und Entladung eines Schiffes eines unbekannten Kölner Kaufmanns, denn die Dienstmannen des Erzbischofs erachteten gerade dieses Schiff als am besten geeignet, dem zu Ostern in Köln weilenden Münsteraner Bischof die Weiterreise zu ermöglichen. Offen tritt in diesem Vorgehen das Rechtsverständnis jenes Anno von Köln zutage, der die Einwohner, soweit sie nicht anderen geistlichen Instituten zugehörten, als Teil seiner familia betrachtete, über deren Besitz und Eigentum er frei verfügen konnte. Als jedoch der Sohn des Kaufmanns von diesem Vorgehen erfuhr, sammelte er seinerseits seinen Anhang und verjagte die erzbischöflichen Bediensteten; nicht besser erging es dem von diesen herbeigerufenen Vogt als dem Vertreter des Stadtherren. Die ohnehin schon aufgeheizte Situation verschärfte Anno mit massiven Drohungen, während ihm vonseiten der Kölner nicht zuletzt Überheblichkeit, Beleidigungen, unmäßige Härte und Rechtsbrüche vorgeworfen wurden. Seine ausgeprägte Impulsivität beim Aufkommen von Widerständen oder auch nur Widersprüchen, vielleicht sogar cholerische Züge musste sogar Lampert zugestehen. Die Teilnahme von weiteren Kaufleuten und Teilen der Einwohnerschaft an dem Aufstand erklärte Lampert mit folgenden Worten: „Und es war nicht schwer, diese Art von Menschen wie Blätter, die der Wind vor sich hertreibt, in alles zu verwandeln, was man wolle, denn von Jugend auf in den Genüssen des Stadtlebens aufgewachsen, hatten sie keinerlei Erfahrungen in Kriegsangelegenheiten, und gewohnt, nach dem Verkauf ihrer Waren bei Wein und Schmaus über militärische Dinge zu disputieren, glaubten sie, alles, was ihnen in den Sinn kam, ebenso leicht

111

Hochmittelalter

ausführen wie darüber reden zu können, aber wie die Sache dann ausging, vermochten sie nicht zu ermessen. Dazu erinnerten sie sich an die viel­ gerühmte, herrliche Tat der Wormser …“20

Die Tat der Wormser als vielgerühmt und herrlich zu beschreiben, ist aus Lamperts Feder allerdings blanker Hohn, doch dazu gleich. Der fernab der Geschehnisse als vermutlich streitsüchtiger Hersfelder Mönch, ab 1081 als erster Abt des Klosters im unwirtlichen Hasungen unweit von Kassel sicher nicht schlecht lebende Chronist stellte – ein häufig zu findender Topos – dem angeblich verweichlichten, genussvollen städtischen Leben das Leben der adligen Kämpfer sowie der geistlichen Herren gegenüber, die weit überwiegend dieser adligen Sozialsphäre entstammten; die Sympathien sind also eindeutig verteilt. Im Text folgten weitere Herabsetzungen und Vorwürfe an die Adresse der Städter einschließlich der Kaufleute, die ihm ebenso fernstanden wie ihre Lebensumstände, denen es aber immerhin gelang, Anno vorerst zur Flucht durch eine Öffnung in der Mauer zu zwingen. Noch blieb allerdings die Rache des Kölner Erzbischofs unausweichlich, der angeblich innerhalb von drei Tagen ein Heer sammelte und gegen die Stadt vorrückte. Besonders betonte Lampert die Liebe der Bauern für ihren geistlichen und weltlichen Herrn, umschrieb derart vielleicht einen wachsenden Stadt-Land-Gegensatz oder auch nur seine Sicht von der Ordnung der Welt. Allerdings aktivierte Anno in der Realität entgegen der Einschätzung des Chronisten vornehmlich seine in gewaltsamen Auseinandersetzungen geschulten Lehnsnehmer. Angesichts der feindlichen Übermacht und wohl auch interner Uneinigkeit ergab sich die Stadt und musste umgehend eine ungezügelte Plünderung durch die Kriegsmannen des Erzbischofs über sich ergehen lassen. Zahlreiche Kaufleute waren bereits vor der Wiedereinnahme der Stadt geflohen, andere fielen der Bestrafung anheim: „Der oben erwähnte Kaufmannssohn, der das Volk zuerst zum Aufstand entflammt hatte, und einige andere wurden geblendet, mehrere wurden gestäupt und geschoren, alle wurden mit schweren Vermögensbußen belegt“, so wiederum Lampert. Die Blendung, also das Ausstechen der Augen, bedeutete fast immer den sicheren Tod, während die Vermögensbußen auch die zurückgelassenen Güter und Immobilien der Geflohenen betrafen. Als Folge dieser Racheaktion musste selbst der Mönch notieren: „So wurde die Stadt, noch vor kurzem die volksreichste und nächst Mainz 20 Diese und die folgenden Zitate zu Köln und Worms aus Wolfgang Dietrich Fritz (Hg.): Lampert von Hersfeld, Annales/Annalen, Darmstadt 31985, S. 208 f., 236–249.

112

Städtewesen

der Vorort aller gallischen Städte, plötzlich fast völlig verödet; wo bisher die Straßen die dichten Scharen von Fußgängern kaum fassen konnten, zeigt sich jetzt nur selten ein Mensch, und schauriges Schweigen herrscht an all den Stätten der Lust und der Genüsse.“ Seine Verortung Kölns in Gallien folgte römischen Traditionen. Erst kurz vor seinem Tode soll sich der bereits 1183 heiliggesprochene Anno, einer Vision folgend, reumütig mit den Bewohnern der Stadt ausgesöhnt haben, indem er die angedrohten Strafen erließ und Vermögensbußen erstattete, um aus seiner Sicht im Jenseits über bessere Karten zu verfügen. Werfen wir nun einen kurzen Blick auf Worms: Nach seiner Flucht fand Heinrich IV. 1073 Rückhalt bei den Wormser Einwohnern. Wiederum bei Lampert von Hersfeld, keinesfalls einem Augenzeugen all dieser Ereignisse sowie einem Gegner Heinrichs, findet sich dazu folgende Schilderung: „Hier wurde er von den Bürgern mit großem Gepränge in die Stadt eingeholt; diese hatten, um ihre Parteinahme für ihn noch deutlicher zu beweisen, kurz vorher die Kriegsmannen des Bischofs, die seinen Einzug verhindern wollten, aus der Stadt gejagt, und sie hätten den Bischof selber gefangengenommen und ihn in Ketten ausgeliefert, hätte er nicht in eiliger Flucht die Stadt verlassen. … So hatte nun der König eine sehr stark befestigte Stadt in Händen, und sie war seitdem sein Hauptquartier, sie war die Schutzwehr seines Thrones, sie war für ihn, wie auch die Entscheidung fallen würde, ein sicherer Zufluchtsort, denn sie war volkreich, sie war wegen der Stärke ihrer Mauern uneinnehmbar, sie war in Folge der Fruchtbarkeit der Umgebung außerordentlich reich und aufs beste mit allen für einen Krieg notwendigen Vorräten versehen.“

Die Wormser Einwohner, vor allem ihre führenden Familien, handelten demnach als ein organisierter Verband, ohne dass dessen Strukturen sich in irgendeiner Weise erkennen lassen; jedenfalls müssen zumindest bischöfliche Ministerialen mitgewirkt haben. Auf die hohe Bedeutung des Agrarsektors einschließlich des Weinbaus für die Stadt verwies Lampert nachdrücklich. Mit Worms trat jedenfalls 1073 erstmals eine Stadt überhaupt als – wenngleich wenig relevanter – Faktor in der Reichspolitik in Erscheinung. Heinrich bedankte sich seinerseits mit einer Urkunde, die wortreich die Bedeutung der Wormser Einwohner hervorhob. Doch konkret wurden nur den Wormser Juden, die ausdrücklich Erwähnung fanden und wohl führend am Fernhandel beteiligt waren, sowie weiteren Wormser Kaufleuten für die Zukunft die Zölle an den königlichen Zollstätten in Frankfurt, 113

Hochmittelalter

Boppard, Hammerstein (gegenüber Andernach), Dortmund, Goslar und dem westfälischen Enger erlassen. Immerhin handelt es sich um die älteste überlieferte Urkunde, mit der ein Herrscher nördlich der Alpen die Bewohner einer Stadt direkt privilegierte. Die königliche Stadtherrschaft über Worms, in die der Bischof nur selten eingreifen konnte, dauerte bis zum Tod Heinrichs V. im Jahr 1125. Jedoch wurde die blühende jüdische Gemeinde durch die Judenverfolgungen im Vorfeld des Ersten Kreuzzugs 1095 fast vollständig ausgelöscht. Eine baldige Neubildung ist aber anzunehmen. Auf diesen schlaglichtartigen Blick auf die Wormser Gemeindebildung folgt wieder ein weitgehendes Schweigen der Quellen, nur gelegentlich tauchen Hinweise auf eine irgendwie geartete Verfasstheit der Einwohner auf. Erst an der Wende vom 15. zum 16.  Jahrhundert sollte es Worms gelingen, den Status als Reichsstadt endgültig zu sichern. Nur wenige Jahrzehnte nach dem fehlgeschlagenen Aufstandsversuch lässt sich in Köln, um diesen Faden wieder aufzugreifen, ein höherer Organisationsgrad der Einwohnerschaft vermuten: Denn als 1106 ein Aufgebot Heinrichs V., der gegen seinen gleichnamigen Vater kämpfte, auf dessen Seite Köln stand, die Stadt belagerte, leisteten die Einwohner erfolgreich Widerstand. In den gut 30 Jahren nach der Auflehnung gegen Erzbischof Anno muss die Einwohnerschaft Organisationsformen gefunden haben, um zumindest die Verpflegung zu sichern, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten sowie die Verteidigung zu organisieren, ohne dass wir Genaueres dazu erfahren. Eine Voraussetzung musste aber auf jeden Fall erfüllt sein: Innerhalb der Stadt kann es keine nennenswerten konkurrierenden Kräfte mehr gegeben haben. Die wortführenden Kaufleute und zumindest eine Mehrheit der in der Stadt ansässigen erzbischöflichen Ministerialen müssen also zu einem Miteinander gefunden haben. Ohnehin bildeten vielfach die Angehörigen dieser beiden Gruppen, die zunehmend durch Heiraten miteinander verflochten waren, die erste kommunale Führungsschicht. Ebenfalls 1106 konnte die ummauerte Fläche des Stadtgebiets auf etwa 205 Hektar vergrößert werden, 74 Jahre später, ab 1180, folgte die nächste Erweiterung des Befestigungswerks mit einer ummauerten Fläche von nunmehr etwa 403 Hektar; diese Mauer bestand, in der Frühen Neuzeit nochmals beträchtlich verstärkt, bis zu ihrer Niederlegung im 19. Jahrhundert. Gegen den letzten Mauerbau setzte sich zwar Erzbischof Philipp von Heinsberg zur Wehr, musste aber schließlich nach einem Schiedsspruch Kaiser Friedrichs I. Barbarossa einlenken. Die weitere Entwicklung zur Bürgerschaft – durchaus kein geradliniger Prozess, der frei von Rück114

Städtewesen

schlägen gewesen wäre – vollzog sich unverändert unter der Herrschaft der Erzbischöfe, denn das Verhältnis zwischen Stadt und Stadtherr blieb in all den Jahren von 1110 bis 1225 trotz gelegentlich aufflackernder Spannungen weitgehend konfliktfrei. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts intensivierten sich dann die Autonomiebestrebungen wieder deutlich. Das Kölner Meliorat, die Führungsschicht, schloss sich wohl zwischen 1114 und 1119, sicher jedoch in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu einer fraternitas, einer Bruderschaft, zusammen.21 In Köln wurden solche Zusammenschlüsse, auch die der Handwerker, zumeist als Amt, Zeche oder später als Gaffel bezeichnet. Der Name dieser Bruderschaft, Riecherzeche, kennzeichnet den Kreis ihrer Mitglieder treffend, hatten sich doch in ihr die vermögenden Einwohner der Stadt verbunden. Die Riecherzeche verfügte über ein eigenes Versammlungshaus sowie ein Siegel, ihre Geschäfte führten jährlich wechselnde Amtsträger. Schon zum Zeitpunkt ihrer Konstituierung kann eine dreistellige Mitgliederzahl angenommen werden. Innerhalb der Bruderschaft verfügten die Bürgermeister und die Schöffen über eine herausgehobene Stellung. Die Schöffen amtierten als Urteiler am herrschaftlichen – sprich bischöflichen – Hofgericht. Für das Jahr 1103 sind zwölf Schöffen belegt, um die Mitte des 12.  Jahrhunderts kann es sich um 25 gehandelt haben. Den Kreis der Schöffen rekrutierte der Erzbischof aus der Oberschicht und den Ministerialen, welche wichtige Verwaltungspositionen bekleideten und teilweise auch Handel trieben. Überwiegend finanzkräftige Männer von „bürgerlicher“ Herkunft traten zuweilen in die Ministerialität der Erzbischöfe ein, um auf diesem Weg einträgliche Ämter verliehen zu bekommen. Derartige Dienste bedeuteten mittlerweile keinen Statusverlust mehr, sondern versprachen vielmehr Einkünfte, Prestigegewinn und Einfluss. Wenn 1138/39 von Schöffenbrüdern die Rede ist, verweist dies auf eine genossenschaftliche Überformung des Gremiums. Die Schöffen ergänzten ihren Kreis nunmehr selbst (Kooptation), ein weiterer Schritt zur nachmaligen Lösung vom Stadtherrn. Bei den Schöffenbrüdern handelte es sich um Anwärter auf frei werdende Schöffenstühle. Die 1155 erstmals überlieferte Bezeichnung senatus für das Schöffenkolleg diente wahrscheinlich der innerstädtischen Abgrenzung

21 Zur (frühen) Entwicklung der Riecherzeche vgl. Manfred Groten: Die Kölner Riecherzeche im 12. Jahrhundert. Mit einer Bürgermeisterliste, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 34–71. Zur weiteren Entwicklung ausführlich ders.: Köln im 13.  Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung (Städteforschung, A: 36), Köln/Weimar/Wien 1998.

115

Hochmittelalter

der Führungsschicht und lässt sich nicht zwingend als Ausdruck eines ­Autonomiestrebens bewerten. Zwar ist ein derartiger Zusammenschluss des Meliorats nur für Köln überliefert, doch informelle Führungsgruppen können für alle größeren Städte zumindest im Westen des Reichs in diesen Jahrzehnten angenommen werden. Ihre Mitglieder unterschieden sich durch Ämter, Reichtum und/ oder Ansehen von den übrigen Bewohnern, aber bildeten in der Regel keinen abgeschlossenen Kreis. Als engster Führungszirkel mit politischer Partizipation vornehmlich über Ämter kristallisierten sich in Köln Schöffen, Schöffenbrüder und die Offizialen der Riecherzeche heraus, ergänzt freilich um zahlreiche durch das Konnubium, also durch Heiratskreise, mit ihnen verbundene Familien. Jährlich wählten die Angehörigen der Riecherzeche einen Schöffen und einen Nichtschöffen zum Bürgermeister. Nicht zuletzt zur Betonung der Exklusivität des Kreises mussten die Amtsinhaber teilweise hohe Kosten aufbringen, so hatten sie beispielsweise das Bruderschaftsmahl auszurichten und Geschenke zu verteilen. Noch dürfte das Kölner Meliorat allerdings starken Wandlungen unterlegen haben, denn zum einen lassen sich soziale Aufsteiger fassen, zum anderen ergänzten Zuwanderer aus England oder mit romanischem Hintergrund die Gruppierung. Heiraten zwischen Zuzüglern und Melioratsangehörigen verdichteten dann die Beziehungen, zumal der Kölner Handel in London anwuchs. Ein Stadtsiegel als Indiz für eine fortgeschrittene Gemeindebildung ist für das zweite Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts überliefert, doch erfolgte die Siegelführung im Einverständnis mit dem Stadtherrn und noch unter Betonung von dessen übergeordneter Stellung. Diejenigen Kölner, die sich im um 1130 belegten Versammlungshaus der Riecherzeche trafen, verstanden sich allerdings fraglos zunehmend als Vertreter der Stadt und ihrer Bewohner und wirkten von hier aus in die Stadt hinein. Anstelle des von einer Opposition vorübergehend handlungsunfähig gemachten Erzbischofs Arnold I. bestätigte die Riecherzeche den Bettlakenwebern (Bettziechenweber) 1149 die Gründung ihrer Bruderschaft. Gerade Regelungen des Wirtschaftslebens dürften zu den frühen Handlungsbereichen der Bruderschaft gezählt haben, konnte der Stadtherr ihnen als ökonomisch Erfahrenen doch derartige Angelegenheiten gut und gerne überlassen. Dazu gehörten auch die Organisationsformen des Handwerks, welche den Bischöfen eventuell als weniger wichtig erschienen. In den 1180er-Jahren anerkannte die Riecherzeche das Drechsleramt, was darauf hindeutet, dass die Erzbischöfe die Verleihung des Zunftrechts nicht wieder an sich gezogen hatten. 116

Städtewesen

S­ pätestens seit dem Jahr 1230 verfügte das Wollenamt über ein Verkaufshaus, in welchem die Qualitäten der in der Stadt produzierten Tuche eine Überprüfung erfuhren. Bestimmungen über das Maß und die Qualität grauer Tuche fixierte beispielsweise auch das Straßburger Stadtrecht von 1214. Derartige Kontrollen und Standardisierungen sind während des Spätmittelalters wesentlich breiter überliefert, für die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts finden sich hingegen nur vereinzelt Hinweise. Ihre Legitimation begründete die Riecherzeche mit der Vertretung der Gesamtheit der vereidigten „Bürger“, weswegen diese zumindest formal an Entscheidungsfindungen mitwirken mussten. Folglich könnte sich die Stimmung während der Bürgerversammlungen in unbekanntem Ausmaß auf die Entscheidungsfindung ausgewirkt haben, eine Abstimmung erfolgte vermutlich mittels Akklamation. 1159 lässt sich erstmals die Setzung einer eigenständigen, statuarischen Willkür erkennen, also eine Rechtsetzung. Das aus derartigen Willküren erwachsende Stadtrecht formulierten die im Versammlungshaus Anwesenden sukzessive weiter. Der jeweilige Wortlaut dürfte im Kern von einer kleinen Gruppe stammen und dann von einem größeren Kreis allgemeiner ausgeformt worden sein. Damit konnten, wenngleich nicht immer unangefochten, im Versammlungshaus für alle Einwohner gültige Beschlüsse gefasst werden; auch dieses Verfahren belegt das nur langsame Wachsen von Rechten der Stadtbewohner. Das Kaufleuterecht dürfte sich dagegen nur mit einzelnen Bestimmungen auf das Statuarrecht ausgewirkt haben. In derselben Zeit erfuhr übrigens Kölns Bedeutung als religiöses Zentrum eine erhebliche Aufwertung, als der Erzbischof und Reichskanzler Rainald von Dassel (1159–1167) die angeblichen Gebeine der Heiligen Drei Könige aus dem 1162 eingenommenen Mailand zwei Jahre später nach Köln überführen ließ; die Zwischenlagerung der Reliquien am Bodensee sollte das Aufsehen und die Empörung über diesen spektakulären Raub reduzieren. Auf festere Organisationsstrukturen der Fernhändler lässt ein Privileg des englischen Königs Heinrich II. aus den 1170er-Jahren zugunsten der Kölner Kaufleute in London schließen, das sie und ihre Güter in seinem Reich und damit auch auf dem englischen Festlandsbesitz unter herrschaftlichen Schutz stellte. Dabei handelte die englische Krone nicht selbstlos, sondern sie zielte auf ein Gegengewicht, um die starke Position flandrischer Kaufleute auf der Insel zu schwächen. Aus der dortigen guildhall sollte sich in der Folge der hansische Stalhof entwickeln. Eine starke Orientierung der Kölner Kaufleute auf England bestand noch Jahrhunderte 117

Hochmittelalter

weiter. Als ein wichtiges Exportgut muss Rheinwein genannt werden, wobei es mit der Errichtung eines Stapels gelang, die flandrisch-flämische Konkurrenz aus diesem Handel zu verdrängen. Sogar reichspolitischer Einfluss wird sichtbar, als sich etliche Kölner Fernhändler und Ministerialen 1198 mit finanzieller Unterstützung an der Wahl Ottos IV. aus dem traditionell englandfreundlichen Welfenhaus gegen seinen staufischen Kontrahenten Philipp von Schwaben beteiligten; hier werden Anfänge einer Hochfinanz im Westen des Reichs verortet. ­Allerdings führte dieses Vorgehen zu heftigen Streitigkeiten innerhalb der Kölner Führungsschicht, plädierten doch etliche der weniger auf England ausgerichteten Kaufleute für eine neutrale Haltung im Thronstreit. Nach erfolgter Wahl zum König durch die Staufergegner bestätigte Otto sowohl der Stadt als auch dem Kölner Erzbischof die bisher erteilten, teilweise gegenläufigen Privilegien. Aus stauferfreundlicher Sicht berichtete Burchard von Ursberg über die Vorkommnisse: „Und dann berieten sich die Kölner und Straßburger mit ihren Bischöfen und einigen anderen Ungerechten, verübten eine Untat und sandten ihre Boten, nämlich Graf Albrecht von Dagsburg und den Grafen von Leiningen nach England, damit sie von dort Otto herbeiriefen und herbeiführten, weil er hochmütig und dumm, aber von starken Kräften und großer Statur zu sein schien; außerdem erhofften sie die Hilfe des Königs Richard von England, weil er dessen Onkel war. Diesen wählten sie dann bei Köln zum König.“22

1212 gestand Kaiser Otto IV. den Kölnern zu, zur Bezahlung des Befestigungsbaus für drei Jahre einen Mahl- und Braupfennig von jedem Malter Getreide einzuziehen; dabei handelte es sich um ein frühes Beispiel der später verbreitet erhobenen indirekten Steuern. König Philipp von Schwaben fiel übrigens 1208 einem Mordanschlag in Bamberg zum Opfer, was Otto IV. eine kurze Zeitspanne als fast unumstrittener Herrscher ermöglichte, bevor Friedrich II. seine Herrschaftsansprüche durchsetzte. Spätestens 1231 erhielten die Kölner Einwohner die Zusicherung, dass sie nicht für Schulden der Erzbischöfe einstehen mussten, was nach außen den weiter fortgeschrittenen Loslösungsprozess der Stadt dokumentierte; 1236 bestätigte Kaiser Friedrich II. diese Bestimmung. Dass dennoch enge Verbindungen zwischen kommunaler Führungsschicht und erzbischöflichem Stadtherrn bestanden, zeigt sich nicht zuletzt 22 Quellen zur Geschichte der Welfen und die Chronik Burchards von Ursberg, hg. u. übersetzt v. Matthias Becher, Darmstadt 2007, S. 240 f.

118

Städtewesen

an der Familie Unmaze, als deren bekanntestes und wohl einflussreichstes Mitglied in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Gerhard Unmaze zu nennen ist. Da ihr Name durchaus negativ verstanden werden konnte, bezeichnete sich die Familie seit etwa 1170 mit dem Zusatz „de Curia“ anstelle von Unmaze. Gerhard Unmaze erwarb in größerem Umfang als andere Familienmitglieder planmäßig an den Dombezirk und den erzbischöf­ lichen Hof angrenzenden Hausbesitz, ergänzt um Verkaufshallen und weitere Immobilien. Der Reichtum der Familie stammte wohl ursprünglich aus dem Fernhandel, doch wirkte Gerhard Unmaze zudem als Geldhändler. Immobilien sicherten die vergebenen Kredite, was zu weiterem Grundund Gebäudeeigentum im Falle nicht zurückbezahlter Geldleihen führte; die genaue Ausgestaltung der Verträge ist wieder einmal nicht überliefert. Selbst die englische Krone zählte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu seinen Gläubigern. Gerhard und sein Bruder waren an der bürgerlichen Selbstverwaltung beteiligt, ab 1169 amtierte Gerhard zudem als einer der beiden obersten Zöllner des Erzbistums, womit er sich der „bürgerlichen“ Ministerialität zurechnen lässt. 1174 konnte er sogar den Kölner Stadtzoll pfandweise für 600 Mark erwerben. Allerdings ist unklar, wie lange dieser genau in seinem Besitz blieb; wohl 1180/84 kam er in andere Hände. Die Gewinne aus Handel und Ämtern wanderten mit zunehmender Tendenz in Immobilienbesitz. Ob dies als eine Annäherung an adlige Lebensweise interpretiert werden kann, wie es im Spätmittelalter häufiger zu beobachten ist, muss nicht nur in diesem Fall noch offen bleiben. Nach seinem Tod 1198 erbten jedenfalls seine Stieftochter Richmud und ihr Mann, der Sohn seines Bruders Dietrich, sein Vermögen. Derartige Heiratsstrategien hielten das Familienvermögen zusammen – ein nicht zu unterschätzender Faktor des Wirtschaftens vermögender Familien in den Städten wie auf dem Land. Nur wenig später verzeichneten die Quellen Richmud als Witwe, die nun, wahrscheinlich 26-jährig, das außerhalb der Stadtmauern gelegene Augustinerinnenkloster St. Maria zum Weiher gründete, ihr immenses Vermögen in dieses einbrachte und mit ihren vier, vielleicht auch nur mit drei Töchtern in das Kloster eintrat. In der Folge besorgte sie die weltlichen Angelegenheiten des Klosters, den Schleier nahm sie allerdings nicht. Für diese Tätigkeit muss sie über Erfahrungen im Geschäftsleben sowie in Finanzfragen verfügt haben, obschon sonst erst für die folgenden Jahrhunderte auf breiter Basis belegt ist, dass Frauen aktiv in die Geschäfte ihrer Männer involviert waren, diese etwa bei deren Abwesenheit führten. Die auf eine erneute Heirat abzielende Verwandtschaft beäugte die Hand119

Hochmittelalter

lungsweise der Witwe argwöhnisch, denn durch den von ihr eingeschlagenen Weg verloren die Anverwandten jede spätere Zugriffsmöglichkeit auf ihre Besitztümer.23 Die ritterliche Ministerialität verkörperte beispielsweise ein Karl, später Abt des Zisterzienserklosters Villers. Sein gleichnamiger Vater Karl von der Salzgasse agierte als eine Führungspersönlichkeit in der Riecherzeche, war Mitglied im Schöffenkolleg und amtete wie Gerhard Unmaze als Zöllner. Der jüngere Karl nahm als Begleiter des Kölner Erzbischofs Philipp von Heinsberg an dem prächtigen Mainzer Hoftag Friedrichs I. Barbarossa des Jahres 1184 teil, entschloss sich aber dann – aus welchen Gründen auch immer – zur Aufgabe des bisherigen Lebens. Ein weiterer Kölner, in den Quellen „Terricus Teutonicus de Colonia“ genannt, entfaltete in England, genauer in London und Stamford, einem Textilstädtchen, umfangreiche unternehmerische Aktivitäten, selbst wenn er an die finanziellen Dimen­ sionen eines Unmaze nicht heranreichte. In Stamford und Umgebung erwarb Terricus zahlreiche Immobilien, mindestens einmal lieh er dem ­englischen König kurzfristig Geld, außerdem beriet er ihn in Münzfragen. Sicher belegt ist, dass er über den Kanal mit Tuchen handelte. Seine Kontakte zu den Kölner Kaufleuten blieben ebenso bestehen, wie er in London einen Weinkeller besaß und über enge Verbindungen zur dortigen Führungsschicht verfügte.24 Leider tauchen einzelne Personen wie Gerhard, Karl und Terricus aus dem Dunkel der Nichtüberlieferung stets nur schlaglichtartig auf, lassen aber individuelle Lebensläufe und Entscheidungen zumindest ansatzweise erkennen. Wohl aufgrund der Größe der Stadt gestalteten Sondergemeinden und Kirchspiele die Kölner Verhältnisse nochmals komplizierter als andernorts. Denn innerhalb der zwölf Kirchspiele im Mauerring dürfte sich genossenschaftliches Handeln früher entfaltet haben als auf der gesamtstädtischen Ebene. Dank ihres Alters und der gewachsenen Traditionen gelang es den Parochien, sich eine weitgehende Unabhängigkeit von Schöffen­ kolleg und Riecherzeche zu sichern. Sie agierten quasi als Gegengewichte, 23 Zu Unmaze s. Sonja Zöller: Kaiser, Kaufmann und die Macht des Geldes. Gerhard Unmaze von Köln als Finanzier der Reichspolitik und der „Gute Gerhard“ des Rudolf von Ems, München 1993. Dies.: Gerhard Unmaze von Köln. Ein Finanzier der Reichspolitik im 12. Jahrhundert, in: Burgard u. a. (Hg.), Hochfinanz, S. 101–119. 24 Knut Schulz: Reichspolitik, rheinische Zisterzen und Kölner Führungsschicht. Kreditgeschäfte und personelle Verknüpfungen im ausgehenden 12.  Jahrhundert, in: Burgard u. a. (Hg.): Hochfinanz, S. 121–136. Natalie Fryde: Ein mittelalterlicher deutscher Großunternehmer. Terricus Teutonicus de Colonia in England, 1217–1247 (VSWG Beihefte, 125), Stuttgart 1997.

120

Städtewesen

mit denen sich die beiden hohen Stadtgremien zu einigen hatten, wenn sie ihre Beschlüsse schließlich auch durchgesetzt sehen wollten. Die Bewohner der Kirchspiele versammelten sich zunächst unter dem Vorsitz städtischer Richter in den jeweiligen „Geburhäusern“ (domus civium), wo auch der Bürgereid geleistet und die Bürgerlisten geführt wurden. Die berühmten Schreinskarten, die bis zu dessen Einsturz 2009 im Kölner Stadtarchiv aufbewahrt wurden, fanden zunächst auf Ebene der Pfarreien Einsatz. Sie verzeichneten Vermietungen und Verkäufe von Immobilien, Pfand- und Leihgeschäfte, ebenso Eheverträge, Mitgiften, Schenkungen, Stiftungen oder Erbschaftsangelegenheiten. Damit lassen sich die bis ins 12.  Jahrhundert zurückreichenden Schreinskarten als Bücher öffentlichen Glaubens charakterisieren, eine für das Reichsgebiet ausgesprochen frühe Erscheinung pragmatischer Schriftlichkeit. Für die überwiegende Mehrzahl der Bewohner Kölns blieben damit im Hochmittelalter die Pfarreien auch verwaltungstechnisch der alltägliche Lebensbereich, der kirchlich ohnehin geprägt war durch Taufen, Messen, Feste und Begräbnisse auf den Gemeindefriedhöfen, bevor die weitere Ausdifferenzierung des Stadtlebens diese Strukturen zu überlagern begann. Als Sprecher der Kirchspiele amtierten jeweils zwei Meister, die nach einjähriger Amtszeit in die Bruderschaft der Amtleute eintraten. Diese Bruderschaft wiederum wuchs im Laufe des 12.  Jahrhunderts zu einem Leitungsorgan der Kirchspiele mit periodischer Amtsführung heran. Der Zuständigkeitsbereich der Amtleute der Sondergemeinden erstreckte sich auf die niedere Gerichtsbarkeit sowie auf den Erlass bindender Statuten für die Kirchspielbewohner. Die hohe Gerichtsbarkeit – und nur sie urteilte, verkürzt gesagt, über Leib und Leben, verhängte Körper- wie Todesstrafen – verblieb beim Erzbischof. Die Amtleute hatten ferner die Eintreibung der auf dem Boden lastenden direkten Steuer sowie die abschnittsweise Stadtverteidigung zu organisieren. Noch im 12. Jahrhundert erkannten die Erzbischöfe die Amtleutekollegien der Pfarrspiele als Vertretung der Bürgerschaft an. Selbstverständlich finden sich Schöffen und Amtsträger der Riecherzeche unter den Amtleuten, doch die Kollegien rekrutierten sich aus einem breiteren Kreis der Einwohnerschaft. Nicht selten führte die unterschiedliche Basis der Interessenvertretungen zu Differenzen und Gegensätzen zwischen Parochien und Stadt, Letztere vertreten durch Riecher­ zeche und Schöffen. Erst im 14. Jahrhundert sollte schließlich dem Rat die Unterordnung der Kirchspiele gelingen, seit 1356 ist die Verleihung des Bürgerrechts durch den Rat anstelle der Kirchspiele nachweisbar. 121

Hochmittelalter

Nur knapp seien die weiteren Entwicklungen im 13.  Jahrhundert geschildert: Auf innerstädtische Spannungen verweist ein erstmals 1216 erwähnter Rat, der sich allerdings gegen die Herrschaft der Schöffen richtete und von den Amtleuten der Kirchspiele getragen wurde. Noch im gleichen Jahr erzwang der neu gewählte Erzbischof Engelbert von Berg dessen Auflösung, befahl aber den Schöffen, die ihnen übertragene Hochgerichtsbarkeit auf Basis des Rechts zu handhaben und die ihnen vorgeworfene Willkür zukünftig zu vermeiden. Beschwerden über ungerechte Urteile sowie über eine angebliche oder tatsächliche Bevorzugung zumeist von Mitgliedern der Oberschicht begegnen vielfach auch in anderen Städten, sie bargen ein ständiges Konfliktpotenzial. Eine neue Stufe erreichte der Konflikt zwischen Stadtherr und Einwohnerschaft im Jahr 1252: Erstmals lässt sich im Reich nördlich der Alpen das aus Oberitalien bekannte Schiedsverfahren erkennen, in dem sich unter maßgeblicher Beteiligung von Albertus Magnus die Kontrahenten, Erzbischof Konrad von Hochstaden und die Vertreter der Stadt, quasi gleichberechtigt gegenüberstanden und beide Parteien sich zur Wahrung des Rechts oder der Rechte der anderen Seite verpflichteten. Allerdings zeigten sich bereits in der ersten Hälfte des 13.  Jahrhunderts auch Parteiungen und Konflikte innerhalb der Kölner Oberschicht, deren Intentionen nach den ersten gemeinsamen Erfolgen auseinanderdrifteten und in Streitigkeiten der Geschlechter um ihren jeweiligen Rang, um Positionen und Machteinfluss mündeten. Schon in der Frage der Unterstützung Ottos IV. im Thronstreit waren diese Interessenunterschiede offenbar geworden. Ohne die zahlreichen, teilweise undurchsichtigen Verästelungen zu beachten, formierten sich grob gesagt in diesen Jahren zwei Hauptgruppierungen: einerseits die sogenannten „Weisen“, deren Familienangehörige Amtspositionen innehatten, andererseits die um Einfluss ringenden und auf Amtsübernahme zielenden Familien. Letztere wurden angeführt von den Overstolzen, deren imponierendes Wohnund Geschäftshaus noch heute bewundert werden kann. In einem parallelen Prozess gewannen die Ämter und die Zünfte an Gewicht, besonders das Wollenamt als mitgliederstärkste Verbindung regelte interne Zunftfragen weitgehend autonom. Die Erzbischöfe, denen ein Gegenwicht zu den führenden Familien dienlich erschien, bestärkten diese Tendenzen. Im Wollenamt und noch stärker ausgeprägt unter den Gewandschneidern waren nämlich durchaus erfolgreiche Kaufleute vertreten, nicht aber die im Tuchgroßhandel aktiven Overstolze. Als politische Kraft blieben die Ämter dennoch nachrangig. 122

Städtewesen

Als Folge des Großen Schieds von 1252, der das Ergebnis der komplexen Ausgleichsverhandlungen festhielt, fand der Rat als Organ des Stadtregiments sechs Jahre später Anerkennung; unklar bleibt die Machtverteilung zwischen dem Rat und den Schöffen. Im folgenden Jahr kam es dann zu einem Miteinander von Rat, Gemeinde und Erzbischof, welche gemeinsam die Schöffen und damit Teile des Meliorats der Stadt entmachteten. Vorgeworfen wurde den Schöffen u. a. die Beraubung und Erpressung von Bürgern, ungerechtfertigte Schatzungen von Kaufleuten, die Bestrafung Unschuldiger sowie der Freispruch Schuldiger. Der in solchen Konflikten immer wieder erhobene Vorwurf der Bestechlichkeit fehlte gleichfalls nicht. Kurzum: Die Schöffen hätten nach ihrem Gutdünken geherrscht. Ein derartiges Bündnis, städtischerseits unter dem maßgeblichen Einfluss vermögender Kaufleute initiiert, war keine Ausnahmeerscheinung, beanspruchte doch das Meliorat die Herrschaft in der Stadt und verlangte wohl schon in diesen Jahrzehnten von der Einwohnerschaft Gehorsam. Der Erzbischof hoffte, durch die weitgehende Entmachtung der führenden Geschlechter einen stärkeren innerstädtischen Einfluss zu erlangen. Zumindest vorerst verteilte sich die Macht nun auf eine breitere Grundlage, denn 24 Schöffenstellen erfuhren eine Neubesetzung. Diese erfolgte zwar prinzipiell auf Lebenszeit, doch wurde nun immerhin eine Absetzung bei Amtsvergehen möglich. Als wichtige Neuerung durfte sich zudem das Schöffenkolleg zukünftig nicht mehr selbst ergänzen, sondern die Wahl erfolgte durch Erzbischof und Schöffen unter Mitwirkung von Rat und Bruderschaften. Für eine Machtentflechtung sorgte auch die Bestimmung, dass die Schöffen nicht im Geldhandel oder als Münzer aktiv sein durften. Das lukrative Monopol für den Silberhandel verblieb allerdings bei der Münzerhausgenossenschaft. Dauerhaft konnten Dissonanzen und Spannungen selbst auf diese Weise nicht verhindert werden. Erneut brachen Streitigkeiten zwischen politischer Führungsschicht, Gemeinde und Erzbischof aus, die mit der Entmachtung der „Weisen“ vorerst ein Ende fanden. Deren Versuch, die Stadt im Gegenzug militärisch zu bezwingen, scheiterte. In der sich seit 1268 neu formierenden Oberschicht spielten die Overstolze, die eine ritterliche Lebensweise annahmen, eine führende Rolle. Gleichzeitig wuchs der Rat zur maßgeblichen städtischen Institution heran. Allerdings entwickelte sich rasch eine neue Geschlechterherrschaft: Der sprichwörtliche Kölsche Klüngel sollte sich als eine Konstante zumindest bis zur französischen Besetzung der Stadt im Oktober 1794 erweisen, blieb aber wohl 123

Hochmittelalter

auch darüber hinaus zumindest virulent. Mit der Gründung einer Weinbruderschaft beschränkte der Rat den lukrativen Detailhandel mit diesem Getränk auf einen kleinen Kreis von Familien, zu denen nur noch Klöster und andere geistliche Institute in Konkurrenz standen. Wenig später bildete sich gegen die über den Niederrhein hinausreichenden Herrschaftsambitionen des Kölner Erzbischofs Siegfried von Westerburg eine breite Koalition, die von dessen hochadligen Gegenspielern wie Herzog Johann von Brabant getragen wurde. Als Mitglied dieser Koalition konnte sich Köln mit und nach der Schlacht von Worringen 1288 aus der erzbischöflichen Stadtherrschaft befreien, wenngleich das Erzstift mittels der Hochgerichtsbarkeit auch weiterhin in der Stadt über erhebliche ­Befugnisse verfügte. Ebenso flossen den Erzbischöfen unverändert Einkünfte aus Zöllen sowie weiteren Gebühren und Abgaben zu, selbstverständlich behielten sie auch ihren innerstädtischen Immobilienbesitz. Mit der Einführung des Weiteren Rats erfolgte um die Wende zum 13. Jahrhundert eine festere Einbindung der Kirchspiele in das gesamtpolitische Leben der Stadt, wenngleich der Enge Rat das entscheidende Gremium blieb. Außerdem besetzten zunehmend Mitglieder der Geschlechter die Amtleutekollegien der Kirchspiele, was den Kreis derer erneut verengte, welche über Machtteilhabe verfügten.

Wohnverhältnisse Über die Dauer der Weiternutzung von steinernen Bauwerken aus der Römerzeit wissen wir für das Früh- und Hochmittelalter im Detail nur wenig. Doch in den meisten Römerstädten blieben vorerst romanisch beeinflusste Einwohner und Bauhandwerker ansässig, sodass in den folgenden Jahrzehnten zumindest Reparaturen keine Probleme bereitet haben dürften. Wahrscheinlich ist, dass die Warmluftheizungen, die Hypokaust­ anlagen, relativ schnell nicht mehr in Betrieb gehalten werden konnten. Spätestens im 6. Jahrhundert gingen die Kenntnisse in der Steinbauweise deutlich zurück, worauf viele Indizien hindeuten. Für Großbauwerke zogen die vornehmlich geistlichen Auftraggeber nunmehr Baumeister aus dem Süden Europas heran. Allerdings fand Stein kaum noch Verwendung als Baumaterial. Sofern er überhaupt eingesetzt wurde, beschränkte er sich in Städten und frühstädtischen Siedlungen auf Kirchen, auf dem Land auf Klöster und königliche Pfalzen. Eventuell errichteten auch Große vereinzelt Steinbauten. Den überwiegenden Teil der Kenntnisse 124

Städtewesen

über die seinerzeitigen Wohnverhältnisse verdanken wir der Archäologie sowie der Bauforschung.25 Einfache Pfostenbauten dürften in den vorstädtischen Siedlungen dominiert haben, dazu traten Pfosten-Schwellriegel-Konstruktionen. Im 11. und deutlich verstärkt im 12. Jahrhundert lösten Ständerbauten die Vorgängertypen ab, wobei die Lebensdauer der hölzernen Häuser auf etwa 30 bis 50 Jahre geschätzt wird. Als Fundament schützten bei dieser neuen Bauweise gemauerte oder nur lose gefügte Unterlegsteine die Schwellbalken besser vor Fäulnis, während bei Pfostenbauten die tragenden Pfosten direkt in die Erde eingegraben worden waren. Die Fußböden bestanden überwiegend aus gestampftem Lehm, teilweise mit Brettern oder ähnlichen Materialien abgedeckt, die Feuerstelle zum Wärmen und Kochen blieb vorerst nur leicht über den Boden erhoben. Die tragenden Grundschwellen ergrabener Lübecker Ständerbauten des 12. Jahrhunderts ruhten auf ebenerdigen oder leicht erhöhten Sockeln, und in einem Fall erreichte die Wand eine Höhe von immerhin sechs Metern. Solche Neuerungen führten zu einer Ausdifferenzierung des Hausinneren und erlaubten es, den doch kühlen Boden der Gebäude zumindest vorübergehend zu verlassen. Vermutlich schliefen die Bewohner in den oberen Etagen. Festere Verzapfungen der Hölzer mit den Grundschwellen sowie Versteifungen ließen zunehmend größer dimensionierte Bauten entstehen. Durchgängig großflächige und stabile ­Gebäude sowie eine Zwei- oder Dreistöckigkeit ermöglichten dann Fachwerkhäuser, wie sie vielen heutigen Betrachtern als typisch mittelalterlich erscheinen. Wohl seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts, vielleicht schon in den letzten Jahrzehnten des vorherigen, erfolgte in Oberdeutschland eine etagenweise Abzimmerung der Hölzer, womit sich die Länge der Pfosten, also der verwendeten Stämme, nicht mehr höhenlimitierend auswirkte. Mehrstöckige, hoch aufragende Fachwerkbauten konnten auf diese Weise errichtet werden. Die Zahl der Steinbauten blieb im 11. und 12. Jahrhundert noch gering, bewohnt wurden sie überwiegend von den Stadtherren sowie ministerialischen Familien. Wie schon früh in Freiburg im Breisgau ersetzten zunehmend auch in anderen Städten in unterschiedlichem Umfang Steinhäuser ihre hölzernen Vorgänger, nun auch von Kaufleuten errichtet. Dabei ist 25 Imma Kilian: Wohnen im frühen Mittelalter (5.–10. Jahrhundert), in: Dirlmeier (Hg.): Geschichte des Wohnens, S. 11–84. Antje Kluge-Pinsker: Wohnen im hohen Mittelalter (10.–12. Jahrhundert, mit Ausblicken in das 13. Jahrhundert), in: ebd., S. 85–228.

125

Hochmittelalter

festzuhalten, dass die Nutzung von Steinen in der hochmittelalterlichen Stadt auch die soziale Schichtung widerspiegelt. Im 13. Jahrhundert sollten Steinbauten nicht nur das Zürcher Stadtbild bestimmen. Allerdings muss einschränkend bemerkt werden, dass naturräumliche Bedingungen die Bauweise entscheidend mitbeeinflussten; die Verfügbarkeit von zum Bauen geeigneten Steinen ist bei allen nachträglichen Wertungen zu berücksichtigen. Gerade Buntsandstein erwies sich beispielsweise gegenüber Basalt als leichter zu bearbeiten. Hölzerne Zwischendecken trennten die Geschosse voneinander ab, die in aller Regel auf Balken ruhten, welche entweder in das Mauerwerk eingelassen waren oder auf Rücksprüngen des Mauerwerks auflagen. Beide Möglichkeiten lassen sich noch heute in Burgruinen deutlich erkennen, die in späteren Zeiten eben keine Überbauungen mehr erfuhren. Die Bauplanung und die Leitung der Baustellen übernahmen seit dem 13. Jahrhundert Bau- oder Werkmeister – oder zumindest lassen sich außerhalb des Kirchenbaus nun solche erkennen –, welche Baupläne oder Risszeichnungen anfertigten und sich aus erfahrenen Handwerkern rekrutierten. In erster Linie für Großbaustellen gefragt blieben wandernde Spezialisten mit ihrem noch umfangreicheren Erfahrungsschatz. Für diese Jahrzehnte lassen sich bei mehrstöckigen romanischen Steinhäusern in den Städten zahlreiche Parallelen zu den Palasbauten der Burgen erkennen, was sowohl für einen Wissenstransfer zwischen den Baumeistern als auch für ihren Einsatz in beiden Bereichen spricht.26 Um die Steinbauweise in größerem Maßstab zu nutzen, galt es, Stein­ brüche zu erschließen sowie die Kalkgewinnung und die Kalkbrennerei auszuweiten. Mit fortschreitender Technik nutzten die Bauherren in Ober-, West- und Mitteldeutschland anstelle teurer gebrochener Steine Lesesteine von Äckern und aus Flussbetten und errichteten damit dennoch repräsentative Gebäude. Letztlich blieben Quadersteine im kommunalen Bauwesen eher eine Ausnahme, sie wurden vorzugsweise an den Gebäudeecken eingesetzt. In Norddeutschland mit seinem geringeren Steinaufkommen, aber nicht nur dort, mussten in großer Zahl und mit hohem Energieaufwand Ziegel gebrannt werden, häufig in städtischen Ziegelbrennereien. Die richtige Mörtelmischung, also das Verhältnis von Sand, Wasser und Kalk, besaß hohen Einfluss auf die Dauerhaftigkeit und die Standfestigkeit der Steinbauten. Üblicherweise löschten die Mörtelrührer oder ihre Hilfskräfte 26 Vgl. grundlegend: Binding: Baubetrieb. Michael Weihs: Ein bescheidenes Anwesen? Archäologische Funde im Haus und in der Umgebung, in: Bedal/Marski (Hg.): Baujahr, S. 45–50, hier S. 47.

126

Städtewesen

den Kalk erst auf der Baustelle, empfohlen wurde die Beimischung von Schweineborsten, Kuh- oder Hirschhaaren, ebenso von Magerquark. Durch die Zugabe von Ziegelsplitt konnte zudem wasserfester Mörtel gewonnen werden. Bis ins 12. Jahrhundert und darüber hinaus erfolgte die Dacheindeckung vornehmlich mit Stroh, Reet, Schilf oder Holzschindeln. Für eine weitgehend feuersichere Dachdeckung erwiesen sich spezielle Dachziegel in der Form von Flach- oder Hohlziegeln als notwendig, falls denn diese aufwendige Methode finanzierbar war. Ebenso setzte die durch das hohe Gewicht dieser Dacheindeckung erforderte Statik bautechnische Grenzen. Noch zahlreiche Gemälde oder Darstellungen von Städten des Spätmittelalters dürften einen höheren Grad an Ziegeldeckung vorspiegeln, als dies tatsächlich der Fall gewesen sein kann. Immerhin ließen sich dem Betrachter derart aufgrund der scheinbar kostenträchtigen Bauweise die (wünschenswerte) Bedeutung sowie das finanzielle Vermögen der Kommune und ihrer Bewohner vor Augen führen. Im Spätmittelalter bezuschussten etliche Städte wie Bern die Steindeckung. Von Repräsenta­ tionszwecken abgesehen, diente eine solche vor allem der erhöhten Feuer­ sicherheit als einem zentralen Aspekt der Baugesetzgebung. Reine Verbote der Stroheindeckung wie in Osnabrück 1338 sagen hingegen noch nichts über deren Umsetzung aus.27 Bei räumlicher Nähe zu Schiefervorkommen fand dieser zur Dacheindeckung Verwendung. Der Übergang von den früheren Holzbauweisen zum ortsfesten Stein- und Fachwerkbau oder zu groß dimensionierten Ständerbauten führte, verstärkt durch eine Erhöhung der Wohnqualität, zu einem grundlegenden Wandel der Rechtsauffassung: Wenn noch zu Beginn des 13. Jahrhunderts beispielsweise in Lübeck das Haus als nicht mit dem Boden verbundene Fahrhabe galt, bildeten Boden und Gebäude schließlich am Ende dieses Jahrhunderts nicht nur dort auch rechtlich eine Einheit. Als frühes Beispiel für die Steinbauweise sei ein Haus auf dem Zürcher Münsterhof aus dem 11.  Jahrhundert angeführt. Wahrscheinlich, so der Grabungsbefund, handelte es sich um ein Gebäude mit zwei Stockwerken in Steinbauweise mit einer weiteren, gezimmerten Etage darüber. Analoge Bauweisen kennen wir aus dem Burgenbau, was auf den erwähnten Befund verweist, dass sich die Bautechniken wechselseitig ergänzten, zumal die Baumeister in mehr oder weniger engem regionalen Kontakt gestanden 27 Das älteste Stadtbuch von Osnabrück (Osnabrücker Geschichtsquellen, IV), Osnabrück 1927, ND Osnabrück 1997, S. 31 f.

127

Hochmittelalter

haben dürften. Den relativ kleinen Grundriss von 5,7 x 7,0 Metern gab die bestehende Bebauung vor, doch dieser ließ das Haus turmartig erscheinen. Hölzerne Anbauten ergänzten das Ensemble. Funde eines wertvollen Noppenbechers, von Kinderschuhen und höherwertigen Speiseresten in der Abfallgrube sprechen, wie kaum anders zu erwarten, für sozial höher­ rangige Bewohner. Insbesondere zugeschüttete oder auf andere Weise luftdicht abgeschlossene Kloaken ermöglichen den Archäologen und sonstigen Spezialisten zahlreiche und grundlegende Aufschlüsse über die Lebensweise und Ernährung nicht nur jener Jahrhunderte. Das Obergeschoss dieses Zürcher Hauses verzierte die bis heute älteste bekannte Wandmalerei der Stadt, wenngleich deren erhaltenes Fragment kein Motiv mehr erkennen lässt. Daneben dürften in Zürich und andernorts die Obergeschosse als Wohnbereiche zunächst über eine Außentreppe, einen Hocheingang, betreten worden sein, bevor diese seitlich gelegenen Eingänge im 13. und 14. Jahrhundert der dichteren Bebauung zum Opfer fielen. Dann erst erschlossen Treppen im Hausinneren diesen Bereich, häufig in einer der hinteren Ecken des Gebäudes platziert.28 Als weiteres, vergleichsweise gut untersuchtes Beispiel ist erneut Freiburg im Breisgau zu nennen, wo sich bereits für das 12. Jahrhundert ein hoher Anteil der Steinbauweise erkennen lässt. Erstmals ist ein solches steinernes Gebäude hier für das Jahr 1135 belegt. Die Gebäude erhielten in diesem Zeitraum oft schon eine Erweiterung in den Hofbereich hinein; die Funktion der kleineren, oft unterkellerten Nebengebäude bleibt allerdings unklar. In Erd- und Obergeschoss verfügten kleinere Steinhäuser des 12.  Jahrhunderts vielfach über je einen ungeteilten Raum von 32 bis 48 Quadratmetern, ein Freiburger Haus aus der Mitte des Säkulums war immerhin über einer Grundfläche von 87 Quadratmetern errichtet. Locker gereiht präsentierte sich die Bebauung der Stadt noch um die Wende zum 13.  Jahrhundert, so der Befund der Rekonstruktionen: Ställe, Scheunen und Freiflächen ergänzten das Stadtbild und dokumentieren zugleich die Bedeutung der eigenen Landwirtschaft für die Versorgung der Bewohner. Zur Straße hin prägten jeweils in traufständiger Bauweise errichtete Hauptgebäude mit einem oder zwei Obergeschossen das Bild. Die später oftmals zweistöckigen Keller konnten nach 1300 große Mengen an Vorräten und Handelswaren aufnehmen, doch hatte erst eine deutliche Erhö28 Jürg Schneider/Daniel Gutscher/Hansueli Etter/Jürg Hanser: Der Münsterhof in Zürich. Berichte über die Stadtkerngrabung 1977/78, 2 Tle., Olten/Freiburg i. Br. 1982.

128

Städtewesen

hung des Straßenniveaus um ein bis drei Meter im späten 12. Jahrhundert zahlreiche Erdgeschosse zu Kellern werden lassen und damit die Voraussetzung für diese neue Nutzungsmöglichkeit geschaffen. Licht fiel in die zunehmend enger aneinandergereihten Häuser – die Bebauung der Straßenzeilen verdichtete sich vor allem nach 1220 – vornehmlich von der Straßen- und der Hofseite her. Zunächst durchbrachen klein dimensionierte Fenster das Mauerwerk nur selten, erst ab dem 13.  Jahrhundert sollten sie als architektonisches Element ihren Weg in die Planungen finden. Jedoch musste der obere Abschluss aus einem einzigen Stein gehauen oder in einem Steinbruch aus einem Block in mühseliger Hand­ arbeit ausgeschlagen werden, was bei zunehmender Breite der Fenster deutlich höhere Kosten verursachte. So erhielt, wenngleich in der ersten Hälfte des 15.  Jahrhunderts, ein ansonsten unbekannter Maurermeister Hans allein für das Zuhauen von Steinen für fünf Türrahmen und einen Fensterrahmen von dem Bauherrn Konrad von Weinsberg beträchtliche acht Gulden. Für die folgenden Arbeiten galt für den Maurer der normale Sommerlohn.29 Wie in Freiburg führte die zunehmende räumliche Enge der Städte allgemein zu einem Höhenwachstum der Gebäude, die immer häufiger mit der Schmalseite an die Straßen oder Gassen angrenzten. Es dominierte eine langrechteckige Form, wobei im 12. und im 13. Jahrhundert die Grundflächen der Gebäude gleichfalls anwuchsen. Neubauten mussten sich in der Regel in die bestehende Parzellenstruktur einfügen, doch verhindern häufig spätere Überbauungen Kenntnisse über frühere Hausgrößen und Parzellenstrukturen. Weithin verbreitete sich zudem die Auskragung der oberen Stockwerke, um auf diese Weise den Wohn- und Nutzraum zu vergrößern, was im Erdgeschoss Straßen und Durchgänge zumeist nicht zuließen. Dennoch sollte keine aufsteigende Linie vom Holzbau zum Steinbau gezogen werden, denn vielfach lösten im 13. und 14. Jahrhundert Fachwerkbauten ältere Steinhäuser wieder ab, so beispielsweise in Schwäbisch Gmünd, Wimpfen oder Ladenburg. Daraus lässt sich eine hohe Wertschätzung des Baumaterials Holz erkennen. Auch in Schwäbisch Hall oder Tübingen dominierte seit dem Spätmittelalter wieder der Fachwerkbau. In Niederdeutschland prägten gleichfalls trotz zahlreicher Steinhäuser Holzbauten beispielsweise das Stadtbild von Hamburg, Bremen, Hannover, Braunschweig oder Göttingen. Ob diese Bauweise freilich mit Ernst 29 Fuhrmann: Oikos, S. 112.

129

Hochmittelalter

S­ chubert leicht ironisierend als „Plattenbau früherer Zeiten“ bezeichnet werden kann, sei angesichts der teilweise formvollendeten Ausgestaltung und vor allem der Dauerhaftigkeit der Bauten dahingestellt.30 Die Bauausführungen jedenfalls verweisen auf ein hohes technisches Wissen der Bauhandwerker und damit auf eine längere Erfahrungspraxis zur Gewinnung und Weitergabe dieser Kenntnisse. Steinerne Wohntürme wuchsen, oberitalienischem Vorbild folgend, seit dem 13. Jahrhundert in Oberdeutschland in die Höhe. Erhalten sind sie in größerer Zahl aber nur noch in Regensburg, was dem Bedeutungsverlust der Stadt seit dem späten 14.  Jahrhundert geschuldet ist; alle bekannten Wohntürme lagen und liegen in den älteren Stadtgebieten. Das bekannte Runtingerhaus in Regensburg, zunächst Anfang des 13.  Jahrhunderts als isolierter Wohnturm errichtet, erhielt um 1260 einen seitlichen Anbau, welcher die Grundfläche verdoppelte. Nunmehr fügte sich das Gebäude zudem passender in die Häuserzeile ein, betonte den repräsentativen Charakter kaufmännischen Bauens und Wohnens. Es erfuhr um 1330 eine weitere Vergrößerung, in diesem Fall allerdings in den Hofbereich hinein. Platz geschaffen wurde damit auch für einen Saal, doch vor allem dienten die Umbauten der Verbesserung der Wohnqualität. Ursprünglich maß das Bauwerk 7,8 x 8,8 Meter, was einer Nutzfläche von etwa 44 Quadratmetern für jede der sechs Etagen entsprach; die Höhe betrug 21,5 Meter. Andere Türme in der Stadt erreichten gar stolze 37 Meter, und von ihren Obergeschossen boten sie einen weitgehend ungestörten Blick über Stadt und Land. In Nürnberg wurden 1430 in den beiden Pfarrbezirken St.  Sebald und St. Lorenz neben 3 556 Wohnhäusern 65 Wohntürme gezählt, die in der Folge anders als in Regensburg durch Häuser mit höherer Wohnqualität ersetzt wurden.31 Den Wohnkomfort erhöhten seit dem 11. und 12. Jahrhundert rauchfrei beheizbare Räume, doch begegnen sie zunächst vereinzelt und die Technik verbreitete sich nur langsam. Erst im 14. sowie verstärkt im 15. Jahrhundert etablierten sich Kachelöfen, häufig von der Küche aus beheizt, als die übliche Heizanlage von Bürgerhäusern. Diese Öfen besaßen eine Lebensdauer von etwa ein bis zwei Jahrzehnten, in dieser Hinsicht durchaus mit heutigen 30 Ernst Schubert: Erscheinungsformen der Armut in der spätmittelalterlichen deutschen Stadt, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, hg. v. Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich, Leipzig 2001, S.  659–697, hier S.  659. Schütte: Funde, S. 79. 31 Sander: Haushaltung, S. 907 f.

130

Verkehrswesen

­ eizungskesseln vergleichbar, doch die einzelnen Kacheln mussten immer H wieder ersetzt werden, auch darin Verschleißteilen unserer Tage gleich. Grundsätzlich wirkten geschlossene Öfen als Wärmequelle nach einem anderen Prinzip als offenes Feuer, denn bei ihnen erwärmte die Hitze eine Speichermasse – Lehm oder Steine –, die ihrerseits die Wärme über einen längeren Zeitraum möglichst kontinuierlich wieder abgeben sollte. Weiterhin dürften größere Fenster seit dem 13. Jahrhundert die Wohnqualität verbessert haben, denn damit nahmen sowohl die Helligkeit als auch die Belüftungsmöglichkeiten zu. Allerdings musste Zugluft in den Gebäuden möglichst verhindert werden, weshalb es die Öffnungen zumindest zeitweise entsprechend zu verschließen galt. Hierfür kamen verschiedene Materialien wie Leinwand oder Tuch zum Einsatz, während Glasfenster noch selten blieben und für einen gehobenen Wohnkomfort standen. Die Küchenherde als zumeist unverändert offene Feuerstelle hoben sich nunmehr deutlich vom Boden ab, eine lehmbestrichene Herdplatte ruhte auf gemauerten Steinen oder Ziegeln. Zugleich rückte der Herd aus der Raummitte an eine der Außenmauern, wo ein Rauchabzug das Raumklima der Küche deutlich verbesserte. Kamine blieben dagegen in Bürgerhäusern noch eine Ausnahme, sie finden sich eher bei Großbauten. Erst um 1500 dürften sich geschlossene Kamine auch für Herdstellen und Stubenöfen zumindest in Oberdeutschland durchgesetzt haben.32 Bis zur Errichtung größerer Häuser mit mehreren Etagen sowie Räumen spielten Tische mit ihrem hohen Platzbedarf selbst für gemeinsame Mahlzeiten nur eine nachgeordnete Rolle, wenngleich wir über das hochmittelalterliche Mobiliar nur unzureichend unterrichtet sind. Zum Sitzen dienten vornehmlich Bänke an den Wänden, die sich zudem als Schlafgelegenheit nutzen ließen, sowie Schemel. Truhen – noch keine Schränke – nutzten die Bewohner zur Aufbewahrung von Hab und Gut. Gleichfalls platzraubende Stühle hielten nur langsam Einzug.

Verkehrswesen Trotz aller Probleme verfügte Oberitalien über ein noch vergleichsweise gut ausgebautes Verkehrsnetz, doch ein funktionierender und sich ausweitender Handel benötigte auch nördlich der Alpen eine adäquate Infrastruktur. 32 Albrecht Bedal: Vom Auf und Ab eines kleinen städtischen Wohnhauses, in: Bedal/Marski (Hg.): Baujahr, S. 13–27, hier S. 18 f.

131

Hochmittelalter

Steinerne Brücken entstanden in Würzburg (ca. 1120 bis 1133) und dann – wahrscheinlich unter Mitwirkung von oberitalienischen Baumeistern, die ihr Know-how wohl teilweise einem Wissenstransfer aus dem arabisch-­ byzantinischen Raum verdankten – in Regensburg (1135 bis 1146). Ihre Errichtung hatte eine Verlagerung des Verkehrs von Nordfrankreich, Flandern und den Rheinlanden in Richtung Osten auf eine Achse von Würzburg über Nürnberg nach Regensburg zur Folge. Die vorherige Trasse mit den Hauptstationen Worms, Wimpfen und Passau verlor an Bedeutung. Zu ihrer Entstehungszeit waren die steinernen Brücken viel bestaunte baulichtechnische Wunderwerke. Das Regensburger Bauwerk wies ursprünglich eine Länge von 336 Metern auf, wobei vor allem der südliche Brückenkopf noch mehrfach bauliche Veränderungen erfuhr. Als Bauverantwortliche gelten der bayerische Herzog, der königliche Burggraf sowie der örtliche Bischof, die ihrerseits sicherlich die Einwohnerschaft in unbekanntem Ausmaß in das Bauvorhaben einbezogen. Eine bürgerliche Gemeinde war noch nicht existent und konnte demzufolge keine Funktionen übernehmen. Die Finanzierung des Bauwerks erfolgte zumindest überwiegend durch eine Sondersteuer, welche Einwohner und Klerus aufbringen mussten. Anders als die sonstigen Nutzer durften sie im Gegenzug die Brücke zukünftig gebührenfrei passieren. Allgemein erwiesen sich die Errichtung und die Unterhaltung besonders von Steinbrücken als kostenintensiv. Eine Ergänzung erfuhren die Bauwerke auf dieser Route durch die Mainbrücken in Ochsenfurt sowie in Kitzingen, 1247 und 1300 erstmals erwähnt, wobei eine Ochsenfurter Holzbrücke vermutlich in das 12. Jahrhundert zurückreicht. Im verkehrsgünstig am Zusammenfluss von Inn und Donau gelegenen Passau ließen die Bischöfe zunächst um 1143 eine hölzerne Brücke über den Inn errichten. Eine Donaubrücke folgte erst 1278, weil die bautechnischen Anforderungen hier wegen der größeren zu überspannenden Distanz höher waren. Selbst wenn Wein- und Getreidehandel eine Rolle spielten, rückten Salztransport und Salzhandel mit Halleiner und Reichenhaller Salz in den Vordergrund des Passauer Handels; spätestens im 15. Jahrhundert konnten sie eine Monopolstellung zwischen Passau und Regensburg erringen, von wo aus auch der böhmische Raum beliefert werden konnte.33 33 Zum Würzburger Bauwerk vgl. zuletzt Wolfgang Schich: Die topografische Entwicklung Würzburgs im Hoch- und Spätmittelalter (1000–1400), in: Geschichte der Stadt Würzburg, Bd. 1, S. 183– 210, hier S. 194–196. Zu Regensburg vgl. Artur Dirmeier: Die steinerne Brücke in Regensburg, in: Das mittelalterliche Regensburg im Zentrum Europas, hg. v. Edith Feistner (Forum MittelalterStudien, 1), Regensburg 2006, S. 25–41. Lutz-Michael Dallmeier: Schwarzer Turm, Salzstadel und

132

Verkehrswesen

Die Planungen des Kölner Erzbischofs Rainald von Dassel († 1167), mit Unterstützung der Kölner Einwohner den Rhein mittels einer Steinbrücke zu queren, konnten hingegen nicht realisiert werden. Die steinerne Mainbrücke zwischen Frankfurt und Sachsenhausen fand erstmals 1222 Erwähnung. Baupläne lassen sich vor dem 13. Jahrhundert generell nicht belegen. Vielmehr bestimmten das empirische Wissen und das Können der Baumeister maßgeblich die Gestaltung der Bauwerke, seien es Brücken, Kirchen, Rat- und Kaufhäuser oder sonstige Gebäude.34 Der bekannte Ponte Vecchio in Florenz, erstmals erbaut schon in der Römerzeit, musste nach einer Zerstörung 1177 neu errichtet werden. Hier wie andernorts befanden sich Geschäfte auf der Brücke, deren Mieterträge zu ihrer Instandhaltung beitrugen. Teilweise fundierten die Bauherren die Brücken mit Liegenschaften, deren Erträge gleichfalls ihrer Unterhaltung dienten; vorübergehend gewannen Ablässe als Finanzierungselement an Bedeutung. In Italien sowie in Frankreich und Spanien, kurzfristig auch in England, formierten sich geistliche Brückenbruderschaften zur Unterhaltung der Bauwerke. Neben ihrer Bedeutung für den gemeinen Nutzen galten Brücken als Gott wohlgefällige Werke, konnten doch auch Pilger ihre Vorteile nutzen, ohne auf zeitweise unpassierbare Furten oder die schwankenden Kähne der Fährleute zurückgreifen zu müssen. Allerdings diente der Verweis auf den Nutzen für Pilger – anstelle der entscheidenden Verkehrserleichterung – nicht zuletzt einem vornehmlich aus geistlicher Sicht höheren Ansehen des Auftraggebers. Hölzerne Brücken mussten öfter erneuert werden, die erforderlichen Reparaturleistungen lagen höher und Hochwasser sowie insbesondere Eisgang gefährdeten sie in erheblichem Maße. Nicht nur in Italien erwiesen sich Teile des antiken Straßennetzes als verfallen und kaum noch nutzbar, weshalb Straßen(neu)baumaßnahmen anstanden. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erneuerten die Pisa

Hafenkanal. Archäologische Forschungen an den beiden Brückenköpfen der Steinernen Brücke in Regensburg, in: Archäologie der Brücken. Vorgeschichte, Antike, Mittelalter, Neuzeit. Archeology of Bridges. Prehistory, Antiquity, Middle Ages, Modern Era, Regensburg 2011, S. 195–200. Tilman Kohnert: Alte Mainbrücke Ochsenfurt, in: ebd., S. 271–278. Richard Loibl: Die Stadt im späten Mittelalter. Wirtschaftskraft und Verfassungsstreit, in: Geschichte der Stadt Passau, hg. v. Egon Boshof u. a., 2., erw. u. aktualisierte Aufl. Regensburg 2003, S. 97–130, hier S. 106–108. 34 Erich Maschke: Die Brücke im Mittelalter, in: Die Stadt am Fluß, hg. v. Erich Maschke/Jürgen Sydow (Stadt in der Geschichte, 4), Sigmaringen 1978, S. 9–39, hier S. 13. Zum Brückenbau im Hochmittelalter vgl. Frank G. Hirschmann: Brückenbauten des 12. Jahrhunderts – ad comunem utilitatem, in: Campana pulsante convocati. FS Alfred Haverkamp, hg. v. dems./Gerd Mentgen, Trier 2005, S. 223– 255. Ludwig: Technik, S. 156–159. Spufford: Handel, S. 132–136. Binding: Baubetrieb, S. 191 f.

133

Hochmittelalter

ner die Verbindung nach Lucca, in dessen letztem Jahrzehnt folgten die Renovierung der Arnobrücke, die Anlage einer weiteren Brücke und der Bau der Straße nach Porto Pisano, dem gleichfalls neu angelegten Außenhafen. Letztere Straße erforderte zur Überquerung der Sümpfe einen Straßendamm und mehrere Brücken, die von den verbreiteten zweirädrigen Karren und auch von den moderneren vierrädrigen Wagen mit ihren wesentlich höheren Lasten befahren werden konnten. Über die in nördlicher Richtung erneuerte Via Aurelia gelang der Anschluss an den Landweg nach Frankreich. Immerhin 3,70 bis 4,60 Meter betrug die Straßenbreite und ermöglichte so einen Begegnungsverkehr auf gepflastertem Untergrund. Das Fernverkehrsnetz von Florenz musste die Erhebungen des Umlands mit für Fuhrwerke befahrbaren Trassen, also solchen mit geringen Steigungen, sowie die Zuflüsse des Arno mittels Brücken passierbar gestalten; die zeitlich frühesten Neuanlagen konnten häufig nur Lasttiere begehen. Bei beiden Städten zogen sich die Maßnahmen bis weit in das 14. Jahrhundert hinein. Zahlreiche der zunächst in Holz ausgeführten Brücken ersetzten im 14. Jahrhundert steinerne Bauwerke.35 Für Frankreich lassen sich beispielsweise die Saônebrücke bei Lyon oder der Pont d’Avignon nennen, der als Ruine heute noch von ehemaliger Größe zeugt. Im Reich nördlich der Alpen blieben innerstädtisch die schon lange bekannten Holz- und Bohlenwege verbreitet, verfüllt mit Kies und/oder Sand als Untergrund. Gepflasterte Straßen, wie vereinzelt in Köln im späten 12. Jahrhundert bekannt, bildeten noch eine Ausnahme. Einem intensiven Handel zwischen dem Norden und dem Süden stand die Überwindung der Alpen entgegen, selbst wenn erste Passwege in der Römerzeit angelegt worden waren. Allerdings ließen sich diese, so weit überhaupt noch passierbar, bis zum Spätmittelalter und teilweise darüber hinaus nur zu Fuß oder mittels Lasttieren benutzen. In größerer Zahl erleichterten vom 11. Jahrhundert an Hospize und dann kommerzielle Gasthäuser den Weg, welche den Reisenden Schutz und Unterkunft in der streckenweise unwirtlichen Landschaft boten. Im 13. und 14. Jahrhundert begegnen vielfach Transportgenossenschaften der Säumer und Fuhrleute, die auf festgelegten Wegabschnitten die Waren gegen Abgaben als Monopolbetrieb führten. Mit Ausnahme des befahrbaren Brenner konnten zahlreiche weitere Alpenpässe bis ins 14. oder sogar bis ins 16. Jahrhundert hinein nur mit Saumtieren begangen werden; in den alpinen sowie hochalpinen 35 Szabó: Straßen, passim. Spufford: Handel, S. 135–139.

134

Verkehrswesen

Lagen erwiesen sich Esel und Maultiere als wesentlich trittsicherer als Pferde. Nahe an die Alpenpässe heranreichende Seen wie in Oberitalien oder der Eidgenossenschaft erleichterten den Transport dagegen erheblich. Der Passverkehr fiel im Winter wohl nur unwesentlich schwächer aus als im Sommer, da in dieser Jahreszeit Schlitten genutzt werden konnten; belastbare Datensätze fehlen freilich. Je nach Pass dauerte der Warentransport von Oberitalien nach Oberdeutschland oder umgekehrt etwa 14 bis 30 Tage, eine Reise ohne Waren etwa zwei Wochen. Ein Bedeutungsanstieg des transalpinen Handels zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Territorialherren seit dem frühen 13.  Jahrhundert erkennbar daran interessiert waren, die Wegebedingungen zu verbessern, um mittels Zöllen vornehmlich am Handelsverkehr über „ihren“ Pass zu profitieren. Dies kann durchaus als eine zielstrebige Infrastrukturpolitik gewertet werden, so beispielsweise am Mont Cenis in Savoyen, in den Bündener Alpen durch die Bischöfe von Chur oder durch die Grafen von Tirol am Brenner. Hohe Bedeutung erlangte die Öffnung des Passweges über den St. Gotthard, die durch die Anlage eines Steges in der Schöllenenschlucht unterhalb von Andermatt um das Jahr 1200 ermöglicht wurde. Als begehbar erwies sich der Pass mit einer Höhe von 2100 Metern zwar nur von Juni bis September/Oktober, aber in dieser Zeit verband er über die Rheinschiene den Westen des Reichs direkt mit Mailand. Allerdings unterbrachen im 14. Jahrhundert mehrfach Kämpfe zwischen der sich formierenden Eidgenossenschaft und den Habsburgern den Handelsverkehr auf diesem Pass. Umfangreichere Wegausbauten erfolgten dann erst wieder im frühen 16. Jahrhundert. Gleichfalls um 1200 erfuhren die Wege am Splügenpass und am Großen St. Bernhard Verbesserungen, ein Teil des Splügenweges mit einer Breite von 1,80 Metern konnte immerhin von Karren befahren werden. Die Eröffnung der Via mala erleichterte den Reisenden in Graubünden den Weg zwischen Chur und dem Splügenpass sowie dem Großen St. Bernhard bzw. San Bernardino. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts verfügten aufgrund der Champagnemessen gerade die westlich gelegenen Alpenpässe vom Mont Cenis bis zum Simplon, der wohl im frühen 13. Jahrhundert ausgebaut worden war, für den Handel zwischen Oberitalien und dem nordwestlichen Europa über eine hohe Bedeutung. Allerdings dürften die von 1280 bis 1310 über Großen St. Bernhard und Simplon transportierten Fernhandelswaren ein Gewicht von vermutlich zusammen 400 Tonnen jährlich nicht überstiegen haben; das meiste davon entfiel auf den Simplon. Ein Karrenweg am Septimer folgte 1387. 135

Hochmittelalter

Die Route durch die Eisackschlucht und weiter Richtung Brenner konnte 1314 mittels eines Weges für Reit- und Saumtiere eröffnet werden. Der Wegebau wurde hier vorangetrieben und finanziert durch den Kaufmann Heinrich Kunter, dem mitsamt seiner Ehefrau Kathrein der Tiroler Graf und Kärntener Herzog Heinrich im Gegenzug die Erhebung eines Zolls oder Wegegeldes zugestand, ferner die Errichtung von zwei Gasthäusern an der Strecke. Besonders Letzteres spricht für die Hoffnung, dass ein höheres Verkehrsaufkommen auf dieser nun besser erschlossenen Route die Investitionen rentierlich gestalten werde. Schätzungen gehen von etwa 1000 Tonnen Fernhandelsgut bei einem Gesamtvolumen des Alpentransports von 4000 Tonnen in diesen Jahren aus. Gut eineinhalb Jahrhunderte später, 1483, konnten auf der nunmehr den Landesherren unterstehenden Strecke nach umfangreichen Erweiterungen sogar Wagen genutzt werden. Spätestens um 1400 dürfte der Reschenpass gleichfalls befahrbar gewesen sein. Weiter östlich handelte es sich primär um die Passwege über den Katschberg und die Radstädter Tauern sowie über die Heiligenbluter Tauern (die heutige Großglockner-Hochalpenstraße), welche dem Fernverkehr dienten. Der Warenverkehr beispielsweise über den Brenner vor allem mit Venedig nahm erst im 13. Jahrhundert größere Ausmaße an, während die Zunahme des Seeverkehrs zwischen Italien und der Kanalküste sowie der Nordsee die Bedeutung etlicher Alpenpässe wiederum reduzierte. Während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit wickelten nicht nur Augsburg und Nürnberg ihren Oberitalienhandel zumeist über den Brenner ab, nutzten aber daneben auch andere Alpenpässe. Der weitere Ausbau der Passwege im 15. Jahrhundert lässt sich als ein neuerlicher Beleg für die Zunahme des Handelsvolumens werten. Der nur schwer abschätzbare jährliche Gesamtwarenverkehr dürfte am Brenner im weiteren Verlauf des Spätmittelalters bei etwa 3000 bis 5000 Tonnen jährlich gelegen haben, an den Zentral- und Westalpenpässen jedoch bei höchstens je 1200 Tonnen.36 Zwischen Augsburg und Oberitalien verliefen zwei Hauptrouten: 36 Herbert Hassinger: Zur Verkehrsgeschichte der Alpenpässe in vorindustrieller Zeit, in: VSWG 66 (1979), S. 441–465. Werner Schnyder: Handel und Verkehr über die Bündner Pässe im Mittelalter zwischen Deutschland, der Schweiz und Oberitalien, Bd.  1, Zürich 1973. Szabó: Straßen. Ingrid Heike Ringel: Kontinuität und Wandel. Die Bündner Pässe Julier und Septimer von der Antike bis ins Mittelalter, in: Auf den Römerstraßen ins Mittelalter, hg. v. Friedhelm Burgard/Alfred Haverkamp (Trierer Historische Forschungen, 30), Mainz 1997, S.  211–295. Schulte: Geschichte, Bd.  I, S. 169–178. Otto Stolz: Deutsche Zolltarife des Mittelalters und der Neuzeit, Tl. I: Quellen zur Geschichte des Zollwesens und Handelsverkehres in Tirol und Vorarlberg vom 13. bis 18. Jahrhundert (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit, X), Wiesbaden 1955, S. 20 f., 59 f. Elisa-

136

Verkehrswesen

zum einen die Obere Straße über Füssen, Fernpass, Reschen, Vinschgau, Bozen, Trient, Verona oder Val Sugana sowie Bassano nach Venedig, zum anderen die Untere Straße über Ettal, Mittenwald, Innsbruck, Brenner, Pustertal nach Treviso. Von der Iberischen Halbinsel mit Barcelona als Handelszentrum führte der Weg häufig zunächst über See nach den Hafen­ städten Südfrankreichs, vielleicht mit dem Ziel Aigues Mortes im Rhônedelta. Dessen Hafenanlagen begannen aber bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu versanden und wurden 1481 schließlich zugunsten von Sète aufgegeben. Von dort ging es weiter über Avignon sowie Lyon nach Genf, sodann über Bern nach Konstanz. Nach den Angaben von Ulman Stromer beliefen sich die Transportkosten auf dieser Stecke von Barcelona nach Konstanz für einen zentner hochwertigen Safran auf insgesamt sechs Gulden; eine Preisangabe findet sich leider nicht.37 Nördlich der Alpen kam Basel eine wichtige Stellung zu, da von hier die über den St. Gotthard herbeigeschafften Waren ebenso wie die aus Burgund, Südfrankreich und von der Iberischen Halbinsel mittels der Oberrheinschifffahrt weitertransportiert werden konnten. Allerdings wies der Rheinverkehr zwischen Basel und Straßburg keinesfalls zu unterschätzende Tücken auf. Neben der Infrastruktur ist gleichfalls nach den Transportmitteln zu fragen. Für die Schifffahrt sind trotz der Bedeutung der Flüsse als Transportwege weder bei den Schiffen noch bei den Wasserstraßen im Hochmittel­ alter wichtige Neuerungen zu verzeichnen. Gerade Massengüter ließen sich auf den Wasserwegen wohl auch noch in den folgenden Jahrhunderten am kostengünstigsten transportieren, selbst wenn die Schiffe oftmals Zwischenstopps schon zur Deckung des Nahrungsmittelbedarfs einlegen mussten. Häufig ließ sich dies aber mit dem abendlichen Anlanden verbinden, da die Reisenden die Nacht zumeist am Ufer verbrachten. Dort wurden auch die Speisen zubereitet, zu welchem Zweck höherrangige Reisende nicht selten einen Koch mitführten, während das Schiff nur bewacht wurde. Abseits der großen Flüsse sperrten oder behinderten allerdings seit etwa 1200 vorwiegend Mühlenstauwerke immer häufiger die Fahrt mit Kähnen und anderen, kleineren Booten, welche eine hohe Formenvielfalt aufwiesen.38

beth Vavra: Verkehr, in: Enzyklopädie des Mittelalters, Darmstadt 2008, Bd.  II, S.  156–164, hier S. 162–164. Ludwig: Technik, S. 159–161. 37 Ulman Stromers Püchel, S. 102 f. 38 Detlev Ellmers: Techniken und Organisationsformen zur Nutzung der Binnenwasserstraßen im hohen und späten Mittelalter, in: Schwinges (Hg.): Straßen- und Verkehrswesen, S. 161–183. Detlev Ellmers: Binnenschiffahrt im Mittelalter, in: Lindgren (Hg.): Technik, S. 337–344. Detlev Ellmers/

137

Hochmittelalter

Gänzlich anders sah es hinsichtlich der Innovationen bei den Transportmitteln zu Lande aus: Verbreitung fand vornehmlich in der Stauferzeit der vierrädrige Wagen mit lenkbarer Vorderachse, der deutlich schwerer beladen werden konnte als ein Karren. Die Wagen dürften bis etwa zwei Tonnen Last transportiert haben – und damit das Doppelte eines Karrens mit Zugtier. Das Pferd löste den Ochsen als wichtigstes Zugtier ab, was die Geschwindigkeit zumindest auf befestigten Wegen erheblich steigerte. Das Ortscheit, ein Querholz, ermöglichte als neue Zug- und Anspannvorrichtung eine höhere Kraftübertragung. Weiterhin lässt sich, obschon vorerst nur vereinzelt, eine Aufhängung der Wagenkästen erkennen, welche die Erschütterungen reduzierte; solche Wagen dienten wahrscheinlich dem Personentransport.39 Standesgemäßes Reisen blieb ohnehin das Reisen zu Pferde, gleich ob es sich um Adlige oder um Kaufleute handelte. Europaweit lässt sich im 13. Jahrhundert das Beschlagen der hölzernen Radkränze mit Kopfnägeln nachweisen, was allerdings das Straßenpflaster erheblich schädigen konnte. Diese Neuansätze technischer Entwicklungen und die Verbesserungen der Infrastruktur, deren Durchsetzung sich in der Folge noch deutlich beschleunigte, verweisen auch darauf, dass in der zweiten Hälfte des 12. und der ersten des 13. Jahrhunderts eine enorme Steigerung des Handelsvolumens im Reichsgebiet erst begann. Bedacht werden muss bei allen technischen Entwicklungen die teilweise geringe Überlieferungsdichte, welche vielfach die Frage offenlässt, wann Neuerungen konkret Eingang in den Alltag und damit eine weite Verbreitung fanden. Deutlich sichtbar werden jedenfalls Wechselwirkungen zwischen den Innovationen: So benötigten die vierrädrigen Wagen mit ihren schweren Lasten einen befestigten Untergrund und breitere Wege, ebenso nahm für ihre Herstellung der Bedarf an Eisenteilen zu. Im 12.  Jahrhundert ist dann häufiger von einer via regia die Rede, die in den folgenden Jahrhunderten auch als „des Reiches Straße“, „Heerstraße“, „gemeine Straße“ oder „Landstraße“ in den

Uwe Schnall, Schiffbau und Schiffstypen im mittelalterlichen Europa, in: Lindgren (Hg.): Technik, S. 353–370. Ralf Molkenthin: Straßen aus Wasser. Technische, wirtschaftliche und militärische Aspekte der Binnenschiffahrt im Westeuropa des frühen und hohen Mittelalters, Berlin 2006. Richard W. Unger: The Ship in the Medieval Economy 600–1600, London/Montreal 1980, S. 119–159, hier S. 121. Detlev Ellmers: Die Archäologie der Binnenschiffahrt in Europa nördlich der Alpen, in: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, Tl. 5: Der Verkehr (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, philologisch-historische Klasse, 3. Folge, Nr.  180), hg. v. Herbert Jankuhn/Wolfgang Kimmig/Else Ebel, Göttingen 1989, S. 291–350. 39 Ludwig: Technik, S. 145–149.

138

Adel

Quellen erscheint. Dabei handelte es sich überwiegend um befestigte und aus der angrenzenden Flur ausgeschiedene öffentliche Straßen mit besonderem Friedensschutz. 1224, 1231 und 1235 folgten Bestimmungen, welche eine Umleitung dieser Straßen ebenso untersagten wie Versuche, die Kaufleute zur Nutzung anderer Straßen zu zwingen. Das Geleitsrecht, ausgeübt von den Territorialherren, trat als Regal eindeutig 1231/32 in Erscheinung. Selbstverständlich verhinderten derartige Bestimmungen aber nicht die Neuanlage und Verlegung von Wegen, Straßen oder Trassen. Spätestens im 15. Jahrhundert dürfte der Straßenzwang durch die Landesherren rigoroser durchgesetzt worden sein, um derart den Verkehr möglichst zur Gänze auf abgabepflichtige Straßen zu lenken und hohe Zoll- und Geleiteinkünfte zu erzielen; vielfach resultierten aus dieser Vorgehensweise Konflikte mit benachbarten Herrschaftsgebieten.40 Für den West-Ost-Handel gewannen die Hohen Straßen mit ihren unterschiedlichen Routen, welche als Endpunkte Flandern mit Nowgorod verbanden, an Bedeutung. Die Anlage befestigter Überlandstraßen, der Chausseen, erfolgte in Süddeutschland allerdings erst während der ersten Hälfte des 18.  Jahrhunderts, im Norden und Osten sogar kaum vor dem Jahrhundertende.

Adel Als der deutlichste Ausdruck hochadligen Strebens nach Machtteilhabe erwies sich die mehr oder weniger präsente, aber nie in Vergessenheit geratene Vorstellung von der Königswahl durch die Großen, die in den Jahrzehnten nach dem Ende der Staufer definitiv durchgesetzt wurde. Spätestens seit dem 11. Jahrhundert lässt sich das Reich als ein Personenverband begreifen, welcher den König und den Hochadel umfasste. Im Spätmittelalter brachte die Formel von König und Reich, womit vorrangig der Herrscher und die Kurfürsten gemeint waren, dieses Mit-, Gegen- und Nebeneinander in knapper Form zum Ausdruck. Seit dem 12. Jahrhundert kam die Mitwirkung der Großen bei königlichen Verfügungen in den Quellen nochmals deutlicher zum Ausdruck, sie zeigte sich gleichfalls in den Fürstenurteilen der staufischen Zeit. Doch schon während der Karolingerherrschaft hatten die Großen Mitwirkungsrechte beansprucht und durchge40 Klaus Brandstätter: Straßenhoheit und Straßenzwang im hohen und späten Mittelalter, in: Schwinges (Hg.): Straßen- und Verkehrswesen, S. 201–228.

139

Hochmittelalter

setzt. Die Nichtberücksichtigung des Anspruchs auf Beteiligung an der Herrschaftsausübung oder eine Zurücksetzung von Adelsfamilien und Adelsgruppen konnten gerade vom 10. bis 12. Jahrhundert Aufstände zur Folge haben. Denn die Herrscher blieben zumindest mittel- und langfristig auf einen Konsens mit dem überwiegenden Teil des Hochadels angewiesen, um die Herrschaft für ihr Haus dauerhaft sichern zu können. Das Recht zur Fehde als legitimes Selbsthilferecht gegenüber anderen Adligen oder selbst gegen den König wurde anfangs nur durch informelle, erst seit dem 12. Jahrhundert zunehmend auch durch formelle Regeln beschränkt. Das Fehderecht gilt der heutigen Forschung als Kennzeichen eines Adels, der über nicht vom König ableitbare Herrschaftsrechte verfügte, während sich das Lehnswesen zugleich verfestigte und verrechtlichte, die Erblichkeit der Lehnsgüter nochmals an Bedeutung gewann. Allerdings gelang es den Saliern und den Staufern immer wieder, den Amtscharakter selbst der Herzogtümer zu betonen und ihnen missliebige Herzöge abzusetzen. Seit dem ausgehenden 10.  Jahrhundert konnte der Herzogstitel auch die Würde und den Rang einer Familie ausdrücken, und zwar besonders bei solchen Herzögen, denen es nicht gelungen war, sich in dem ihnen zugedachten Herrschaftsgebiet tatsächlich durchzusetzen, und die den Titel als Zeichen ihrer Rangerhöhung dennoch führten. Als zeitlich erster Vertreter dieser Art sei für das Jahr 985 Otto von Kärnten genannt. Besonders Friedrich I. Barbarossa schuf bei der Zerschlagung der Stammesherzogtümer neue Herzogtümer, verbunden mit Rangerhöhungen. Derart teilte er das Herzogtum Bayern durch die Abspaltung von Österreich zugunsten der Babenberger auf, ebenso verfuhr er mit dem Herzogtum Sachsen mittels der Schaffung des Herzogtums Westfalen, welches die Kölner Erzbischöfe zukünftig innehatten. Seit dem 12. Jahrhundert beanspruchten nachgeborene Söhne ebenfalls den Herzogstitel, falls die Besitzungen nicht ohnehin geteilt wurden. In die Zeit vom ausgehenden 9. bis zum 13. Jahrhundert fielen wichtige Veränderungen in der Stellung und Struktur adliger Familien. Zunächst lässt sich der Aufbau zeitlich stabilerer Herrschaftsbereiche feststellen, der einerseits zu einer regionalen und lokalen Verwurzelung der Adelsfamilien führte, andererseits zu einer verstärkten Vererbung der Besitzungen. Der Allodialbesitz bildete das Zentrum der adligen Herrschaften, durch Rodungen, sonstige Kultivierungsmaßnahmen oder auch Fehden konnte er erweitert werden. Hinzu trat der Besitz von Lehen, die von anderen Adligen, dem König oder der Kirche stammten. Hohe Bedeutung für den Ausbau eigener 140

Adel

Herrschaftsbereiche kam neben den Bannrechten spätestens seit dem 10.  Jahrhundert den Kirchenvogteien zu. Da das Kirchenrecht in grober Vereinfachung Geistlichen ebenso untersagte, Blut zu vergießen wie Körper- oder Todesstrafen auszusprechen, mussten diese die hohe Gerichtsbarkeit an weltliche Amtsträger abtreten. Dass sich zahlreiche hohe Geistliche schon aufgrund ihrer adligen Herkunft durchaus engagiert und persönlich an kriegerischen Unternehmungen beteiligten, steht auf einem anderen Blatt. Ausbau und Ausübung von Vogteirechten im Namen der geistlichen Institute inklusive der Einziehung der damit verbundenen, keinesfalls unbedeutenden Geld- oder Naturalleistungen führten zur Entwicklung einer „grafengleichen Hochvogtei“, die mit der hohen Gerichtsbarkeit über geistliche Immunitätsbezirke einherging. Damit gestalteten sich Vogteien über Bischofskirchen und Abteien für den Adel als ebenso attraktiv wie lukrativ. Schon im 11. Jahrhundert beanspruchten Adlige dann die Vogteien als erbliches Recht. Häufig beklagten sich Kirchen oder Klöster, dass ihnen durch die Vogteiinhaber erhebliche Teile ihrer Güter entfremdet worden seien, um deren Besitztümer zu vergrößern. Mit der territorialen Verankerung der adligen Familien entwickelte sich sukzessive die Adelsdynastie. Da die Vater-Sohn-Folge im Normalfall den Erbgang bestimmte, nahm die Bedeutung der Vorfahren in der männlichen Linie zu und wurde letztlich konstitutiv für die Adelsgeschlechter im heutigen Verständnis. Ebenfalls im Hochmittelalter begann eine „Vertikalverschiebung“ des Adels und besonders seiner Sitze, wobei erste Ansätze dazu im Westen des Reiches bis in das 9.  Jahrhundert zurückreichen. Der karolingische Adel hatte dagegen noch in leicht befestigten Herrenhöfen in oder bei dörflichen Siedlungen gesessen. Seit der Mitte des 11.  Jahrhunderts kann dann von einer Epoche des Baus adliger Höhenburgen gesprochen werden, die bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert andauerte. Selbstverständlich erfuhren diese Burgen in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten diverse Ausbauten und Erweiterungen, doch entstanden auch später noch komplette Neuanlagen. Gewöhnlich spielte einer dieser neuen Herrschaftssitze für die Vorstellung, die sich mit einem Geschlecht und seinem politischen Handeln verband, eine besondere Rolle. Nach dem jeweiligen Stammsitz benannte sich die Dynastie in der Folgezeit auch häufig; damit endete auf adliger Ebene das Zeitalter der Einnamigkeit. Bei den Beinamen handelte es sich zunächst um Herkunftsbezeichnungen, doch fanden diese später selbst dann Verwendung, wenn die namensgebende Burg aufgegeben werden musste, wie im Fall der Habsburger geschehen. Im 12. Jahrhundert began141

Hochmittelalter

nen sich der Gebrauch von Siegeln und das Führen von Wappen zu verbreiten, zunächst personengebunden, dann das Geschlecht umfassend. Alle diese Entwicklungen begegnen zunächst im Hochadel, um mit zeitlicher Verzögerung schließlich selbst auf Ebene der Ministerialen anzukommen. Als förderlich für diesen Prozess, der zunächst vor allem im Südwesten des Reiches erkennbar ist, erwies sich die Verbindung von adligen Familien und geistlichen Instituten. Adlige gründeten Klöster, die als Grablege des Geschlechts dienten, bedachten diese mit Schenkungen und versuchten, sich deren Vogtei als erbliches Recht anzueignen. Ein solches Vorgehen sicherte den Bestand der Gründung. Im Gegenzug sorgte das Kloster für das Totengedenken und pflegte damit die memoria des Geschlechts. Vielleicht erst durch diese Form der Erinnerung konstituierte sich die Dynastie als gedankliches Konstrukt nunmehr dauerhaft. Und nicht zuletzt aus dieser Wurzel entwickelte sich seit dem 12.  Jahrhundert eine Geschichtsschreibung über adlige Geschlechter. Insgesamt entstanden als Ergebnis der hochmittelalterlichen Entwicklungen neue, zeitlich stabilere, örtlich und regional verankerte Herrschaftsbereiche von adligen Familien. Diese unterschieden sich einerseits nach dem Umfang der jeweiligen Besitzungen, Rechte und weiteren Pertinenzien, andererseits nach dem Adelsrang der Inhaber. Abhängigkeiten untereinander beruhten auf land- und lehnsrechtlichen Bestimmungen bei großen regionalen Unterschieden, und sie resultierten nicht zuletzt aus der Konstellation und Ausgestaltung der regionalen Machtverhältnisse. Im ausgehenden 12. und 13. Jahrhundert sind Versuche zu erkennen, die Hierarchie im Adel auf Grundlage lehnsrechtlicher Abhängigkeiten zu systematisieren, was die Rangunterschiede deutlicher hervortreten ließ.41 Ein Ausdruck dieser Entwicklung ist der seit 1180 fassbare „Reichsfürstenstand“, der aber vor dem 15. Jahrhundert keinesfalls als homogener Stand existierte, sondern teilweise gravierende Wandlungen in seiner personellen bzw. familiären Zusammensetzung erfuhr. Grundsätzlich setzte er sich aus geistlichen Herren (Bischöfe, Äbte und Äbtissinnen von Reichsklöstern, eventuell auch die Pröpste von Ellwangen und von Berchtesgaden) sowie weltlichen Fürsten zusammen. Die zunächst etwa 92 geistlichen Reichsfürsten erhielten ihre Regalien direkt vom König, die anfangs 22 weltlichen 41 Zum Lehnswesen mit neuen, freilich nicht immer überzeugenden Deutungsansätzen vgl. die Beiträge in Jürgen Dendorfer/Roman Deutinger (Hg.): Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz (Mittelalter-Forschungen, 34), Ostfildern 2011.

142

Adel

Reichsfürsten grenzten land- und lehnsrechtliche Kriterien vom restlichen Adel ab. Sie durften Lehen nur vom König oder von der Kirche empfangen und mussten zudem eine herzogliche oder herzogsgleiche Herrschaft innehaben, was wie die Belehnung der geistlichen Reichsfürsten mit ihren Regalien die Reichsunmittelbarkeit betonte. Die weltlichen Reichsfürsten führten den zuvor unspezifischen Titel eines princeps, der um 1180 nunmehr exklusive Vorrechte verfassungs-, lehns- und landrechtlicher sowie sozialer Qualitäten beinhaltete. Die Aufnahme in diesen Stand, die als Erstem 1184 dem Grafen von Hennegau gelang, erforderte prinzipiell einen formalen Akt. Die sogenannten Fürstengesetze von 1231/32 gestanden schließlich den weltlichen Reichsfürsten wie schon 1220 den geistlichen eine Reihe von Rechten zu, welche sich im Spätmittelalter für den Aufbau der Landesherrschaft als konstitutiv erweisen sollten. Die Bedeutung dieser Gesetze als neues Recht darf aber nicht überschätzt werden, denn offensichtlich sanktionierten sie nur den bereits erreichten Status quo oder schrieben an einzelne Fürsten verliehene Rechte für alle Standesgenossen fest. Aus dieser Gruppe stiegen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert in einem komplexen Prozess die sieben Kurfürsten als alleinige Königswähler nochmals auf, welcher Vorgang schließlich mit der Goldenen Bulle von 1356 rechtlich fixiert wurde. Bei den sieben handelte es sich um den Pfalzgraf bei Rhein, den König von Böhmen, den Herzog von Sachsen, den Markgraf von Brandenburg sowie die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier; ihre Hauptaufgabe lag reichsrechtlich in der Königswahl. Allerdings beanspruchten die in dem Gesetzeswerk nicht berücksichtigten Habsburger und die bayerischen Wittelsbacher Ranggleichheit mit diesem exklusiven Zirkel. In einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Goldenen Bulle unterstrichen die Habsburger ihren Anspruch mit einer umfangreichen, zunächst allerdings nicht anerkannten Fälschung, dem Privilegium maius des Jahres 1358/59, rückdatiert auf 1156. Ein weiterer Schritt zur rechtlichen Festlegung sozialer Grenzen innerhalb des Adels wird in den Rechtsbüchern oder den knappen Rechtstexten des 13.  Jahrhunderts erkennbar. Heerschildordnungen entwarfen eine lehnsrechtliche Stufenordnung des Adels, zuerst fassbar und überliefert im Sachsenspiegel von 1225. An der Spitze stand der König, der zweite Schild umfasste die geistlichen Fürsten, der dritte die weltlichen, denn diese konnten von den Kirchenfürsten Lehen empfangen, während die Lehnsnahme von ranggleichen oder rangniederen Adligen ansonsten prinzipiell untersagt blieb. Den vierten Schild bildeten die Grafen und die freien Herren, 143

Hochmittelalter

den fünften die Vasallen der freien Herren, den sechsten wiederum deren Vasallen; im Sachsenspiegel blieb die siebte Stufe frei. Der etwas später entstandene Schwabenspiegel wies, wie allgemein bei süddeutschen Spiegeln üblich, den Einschildrittern die letzte Stufe der Heerschildordnung zu; diese konnten offensichtlich nur Lehen erhalten. Selbst wenn diese Entwürfe, die bei der Darstellung der unteren Stufen ohnehin Unterschiede aufwiesen und nicht alle Aspekte der adligen Sozialstruktur widergaben, keineswegs Gesetzescharakter besaßen, fanden sie doch tendenziell allgemein Beachtung. In der Praxis erwarben oder empfingen allerdings seit dem ausgehenden Mittelalter auch Bürger und Bauern Lehen, ohne dass dies in den einschlägigen Ordnungen Berücksichtigung gefunden hätte. Einen Sonderfall bildeten die ursprünglich unfreien Ministerialen, die in den wenigen erhaltenen frühen Urkunden als Teil der familia der geistlichen Herren oder des Königs erscheinen. Das 1061/62 in einer bischöflichen Urkunde überlieferte Bamberger Hofrecht kannte dann bereits ein eigenes Standesrecht der dortigen Ministerialität, denn deren Angehörige galten nicht mehr als Bestandteil der familia und ihre Lehen wurden als erblich betrachtet. Von einem Stand (ordo) der Ministerialen ist in erzählenden Quellen erstmals gegen Ende des 11.  Jahrhunderts die Rede. Auf Reichsebene werden in den Urkunden Heinrichs V. (König 1106–1125) ministeriales genannt, unter Lothar III. (1125–1137) wird schließlich von Reichsministerialen (ministeriales regni) gesprochen. Die zunehmende Herausbildung eines standesspezifischen Selbstbewusstseins zeigt eine Nachricht aus den Pölder Annalen zum Jahre 1146: Ministerialen des Königs und anderer Herren trafen sich aus eigener Initiative und hielten Gerichtstage ab. Die Rolle der Ministerialität nicht zuletzt als bewusstes Gegen­ gewicht zum Hochadel bei der Ausübung der Reichsherrschaft ist zwar schon unter Heinrich III. vor der Mitte des 11.  Jahrhunderts zu fassen, weitaus deutlicher dann aber unter seinem gleichnamigen Sohn und Nachfolger; in der Stauferzeit bildete sie schließlich einen wesentlichen Faktor und Rückhalt der königlichen Herrschaft. Zunächst galt dies für Verwaltungsaufgaben im Rahmen einer königlichen Territorialpolitik: Reichsgut wurde eben nicht mehr als Lehen ausgegeben, sondern durch Ministerialen im Namen der Herrscher verwaltet. In staufischer Zeit entstanden quasi „Königslandschaften“, vor allem in Schwaben, Franken, Teilen Mitteldeutschlands und im Elsass, in denen de facto der ausschließlich lehnsrechtlich abhängige und schon deswegen nur schwer kontrollierbare Adel durch weisungsgebundene Dienstmannen ersetzt worden war. Diese Ent144

Adel

wicklung korrespondierte mit der Territorialbildung der Fürsten, erfuhr aber nach dem Tod Friedrichs II. und dem Untergang der Staufer tief greifende Einschnitte, wenngleich die weitaus meisten Verpfändungen von Reichsgut erst unter Karl IV. stattfinden sollten. Reichsministerialen traten weiterhin als Inhaber der Hofämter, als Ratgeber der Könige und als Erzieher der Thronfolger in Erscheinung. Als nicht weniger wichtig erwies sich ihre Rolle in Italien: Im Zuge der herrschaftlichen Erfassung durch die staufischen Könige nahmen sie militärische, diplomatische und verwaltungstechnische Aufgaben vornehmlich im Königreich Sizilien wahr. Dort war ihnen zudem der Aufstieg zu Herzögen möglich, welcher ihnen nördlich der Alpen verwehrt bleiben sollte. Bedeutende und schillernde Persönlichkeiten wie der Reichsmarschall Heinrich von Kalden († 1214) und der Reichstruchsess Markward von Annweiler († 1202), der ein unstetes, abenteuerliches Leben führte, übernahmen zeitweise persönlich die Durchführung der staufischen Italienpolitik. 1195 erhob Heinrich VI. schließlich Markward von Annweiler zum Herzog von Ravenna und zum Markgrafen von Ancona. Nach Heinrichs Tod verwies ihn dessen Gattin Konstanze zwar 1197 des Königreichs Sizilien, doch nach ihrem Tod kehrte er bereits im folgenden Jahr zurück. Markward beanspruchte nun unter Berufung auf ein Testament des Kaisers und im Einverständnis mit König Philipp von Schwaben gegen den Papst die Regentschaft über den jungen Friedrich II., den im Dezember 1194 geborenen Sohn Heinrichs. Nachdem er 1201 mit der Hauptstadt ­Palermo auch den minderjährigen, gerade einmal sechs Jahr alten König in seine Gewalt bringen konnte, unterwarf sich ihm fast das gesamte Königreich – obwohl er vom Papst als Feind Gottes und der Kirche gebannt war –, bevor er 1202 einer Erkrankung, vermutlich der Ruhr, erlag. Dieses Herrschaftsexperiment fand damit eher zufällig ein schnelles Ende. Ministeriale von weltlichen Fürsten lassen sich dagegen trotz älterer Ursprünge erst im 12.  Jahrhundert konkret fassen, wobei am Ende dieses Jahrhunderts dann selbst Dienstmannen von Ministerialen belegt sind. ­Allerdings erwiesen sich die Unterschiede innerhalb dieser Gruppe als ausgeprägt, denn längst nicht allen Ministerialen gelang im weiteren Verlauf der Anschluss an den Adel. Schon im 12. Jahrhundert verwendeten Urkunden und andere Schriftstücke die Bezeichnungen nobilis und dominus im Südosten des Reichs vereinzelt auch für Ministerialen. Bei ihren Lehen handelte es sich zunächst um reine Dienstlehen, die nach Ende des Dienstverhältnisses an die Herren zurückfielen. Seit dem letzten Viertel des 145

Hochmittelalter

12. Jahrhunderts erfolgte aber auf breiter Front eine Entwicklung zu regulären Lehen mit Ansprüchen auf Vererbung innerhalb der Familie, ein bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossener Prozess. Zudem nahmen Ministerialen von anderen Herren Lehen und verfügten gleichfalls über Allodialbesitz. Die Herren von Bolanden beispielsweise verzeichneten in ihrem 1250/60 niedergeschriebenen Lehnsbuch 45 verschiedene Lehnsherren, und sie verfügten selbst über fast 200 Vasallen. Bei einer derartigen Konstellation waren Konflikte mit den Lehnsherren fast unvermeidlich, konnte der Lehnsnehmer bei Konflikten zwischen seinen Lehnsherren doch nur eine Seite unterstützen. Einen zentralen Faktor des Aufstiegs bildete die adlige Lebensweise, und hier entwickelte sich die spezielle Form der ritterlichen militärischen Betätigung zu dem Charakteristikum schlechthin. Im Zuge der Entwicklung des Reiterkriegertums zum Rittertum wurden mit dem Begriff des „Ritters“ spezifische Werte, Normen, Verhaltensweisen und Symbole verknüpft, die für alle Adligen unabhängig von ihrer Herkunft galten, zumindest theoretisch. Die sogenannte ritterlich-höfische Kultur wurde somit gegen Ende des 12.  Jahrhunderts bei ansonsten ausgeprägten sozialen Schranken zum einenden Band zwischen König, Adel und zunächst nur einem Teil der Ministerialität, wobei die neuen Ideale des Rittertums den sozialen Wandel begünstigten. Nicht zuletzt das Lob der neuen Ritterschaft eines Bernhard von Clairvaux hatte diese Idealvorstellung gefördert. In der Siegel- und Wappenführung, dem Bau namensgebender Burgen oder der Teilnahme an Turnieren zeigte sich deutlich die Angleichung der Ministerialität an die Lebensweise des älteren Adels. Als endgültiger Indikator für den gelungenen Aufstieg kann schließlich die Einheirat in eine alteingesessene Adelsfamilie bewertet werden. Gegen Ende des 13.  Jahrhunderts verschwand der Begriff ministerialis weitgehend aus den Quellen, und damit der letzte Hinweis auf ihre ursprünglich unfreie Herkunft. Die Masse der ritterlich lebenden Ministerialen entwickelte sich gemeinsam mit dem Rest der weniger bedeutsamen altadligen Familien zum niederen Adel, der sich im 13.  Jahrhundert geburtsständisch zu verfestigen begann. Ob in diese Entwicklung die Mehrzahl der ehemaligen Dienstmannen einbezogen war, ist höchstens zu vermuten, jedenfalls stellten ihre Nachfahren zu Beginn der Neuzeit die überwiegende Mehrheit des Adels. Der Prozess führte letztlich entweder zur Mitgliedschaft in der Reichsritterschaft, so vornehmlich in Oberdeutschland, oder zur Formierung eines landständischen Adels, der seit dem 15.  Jahrhundert eigene Interessen 146

Adel

g­ egenüber den sich bildenden Territorialstaaten vertrat. Auch formierten sich etliche Adelsbündnisse oder Adelsgesellschaften wie der Sankt Jörgenschild, nicht zuletzt um eine Abgrenzung und Überordnung gegenüber den Nachkommen stadtsässiger Ministerialengeschlechter, die nicht selten über erhebliche Finanzmittel verfügten, zu demonstrieren, denn diese durften eben nicht beitreten. In manchen Regionen gelang sogar das Einrücken in Positionen des alten Adels. Eine besondere Rolle spielten die Ministerialen in den südostdeutschen Gebieten, wo der alte Adel weitgehend erloschen war. So entstammten die Landherren in Österreich und der Steiermark sowie der höhere Adel in Bayern, der sogenannte Turnieradel, fast ausschließlich der Ministerialität. Doch wiederum erfolgte eine Zweiteilung in Herren- und Ritterstand. Ein Amtsadel sollte sich im Gegensatz zu Frankreich erst wesentlich später etablieren. Letztlich dürfen die bekannten Karrieren nicht darüber hinwegtäuschen, dass es daneben Phänomene des sozialen Abstiegs gab, die in den Quellen naturgemäß seltener Niederschlag finden und quantitativ nicht zu fassen sind. Eine bedeutende Rolle spielte die Ministerialität zudem in zahlreichen Städten vor allem in Süd-, Südwest- und Westdeutschland, und zwar in erster Linie in Königs- und Bischofsstädten. Als Amtsträger der Stadtherren nahmen die Dienstmannen schon im 11. Jahrhundert bedeutsame Funktionen in Verwaltung, Politik und Wirtschaft ein, ebenso in der Gerichtsbarkeit, bei der Regelung und Beaufsichtigung des Marktverkehrs und in der Finanzverwaltung einschließlich des Münzwesens, oder sie wurden mit militärischen Aufgaben betraut. Damit erlangten sie einen hervorgehobenen Status und konkrete Einflussmöglichkeiten auf die Geschicke der jeweiligen Stadt, was paradoxerweise als Folge ihrer Herkunft aus der familia des Stadtherrn anzusehen ist. Die seit den 70er-Jahren des 11.  Jahrhunderts nachweisbaren Emanzipationsbestrebungen von den Stadtherren und die Entwicklung der Ratsverfassung wurden von stadtsässigen Ministerialen häufig entscheidend mitgetragen. In einigen Bischofsstädten ist daneben erkennbar, dass mit dem Ende der bischöflichen Stadtherrschaft allenfalls ein Teil der Ministerialen die Stadt verließ und sich dem landsässigen Adel anschloss, während die anderen, am Handel sowie am sonstigen Wirtschaftsleben intensiv beteiligt und im Besitz führender Positionen in der Selbstverwaltung, in den Kommunen verblieben. Da der Formierungsprozess des Adels am Ende des Hochmittelalters weitgehend abgeschlossen war, folgen bereits an dieser Stelle etliche Entwicklungen des Spätmittelalters. Ausgehend vom Rittertum entwickelte 147

Hochmittelalter

sich ein überregionales Gruppenbewusstsein, als dessen integrativer Begriff sich „Adel“ durchsetzte. Die Fürsten als nunmehrige Landesherren fielen freilich kaum mehr unter diese Bezeichnung; der Bedeutungsgewinn der Städte mitsamt dem Aufstieg des Bürgertums bildete eine weitere Konkurrenz. Einen Ausdruck dieser Veränderung bildeten nicht zuletzt die Ahnenproben, mittels derer die adlige Standesqualität oder die ritterliche Lebensweise auf der Basis einer bestimmten Anzahl von standesgemäßen, also adligen Vorfahren nachgewiesen werden musste. Diese spielten eine immer wichtigere Rolle bei der Aufnahme in Domkapitel, in Kanoniker- und Kanonissenstifte, in Ritterorden, in Adelsgesellschaften oder, vornehmlich in Oberdeutschland, für die Teilnahme an Turnieren. Damit verfestigten sich auch die Strukturen des Niederadels erst im 15. Jahrhundert, während zuvor zumindest in Franken wohl noch in Einzelfällen Großbauern hinzugezählt wurden. Nach der Reformation entfielen jedoch in den protestantischen Gebieten zahlreiche geistliche Institute als Versorgungsinstitute besonders für nachgeborene Söhne und Töchter. Die schließlich auch rechtliche Verfestigung einer Abstufung innerhalb des Adels und die Entwicklung eines homogenen Gruppenbewusstseins begleitete in anderer Hinsicht eine Tendenz zu mehr Heterogenität. Hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Machtmittel sowie insbesondere der ökonomischen Situation sind erneut erhebliche Unterschiede feststellbar. Generell lässt sich der Adel zwar weiterhin unverändert nach der Stellung in der Heerschildordnung sowie der Abstammung einerseits und dem Verhältnis zum König andererseits untergliedern. So setzte sich der Hochadel aus Fürsten sowie standesgleichen Grafen und freien Herren zusammen, darunter stand der Niederadel. Doch eine andere Trennlinie entstand im Zuge der Herausbildung der Landesherrschaft und der Umgestaltung der Reichsverfassung: Wer sich dem Sog der Landesherrschaften entziehen und ein direktes Verhältnis zum König bewahren oder erlangen konnte, galt als reichsunmittelbar. Der überwiegende Teil dieser Reichsritterschaft lebte in Oberdeutschland; hier zeigen sich Parallelen zur Entwicklung der Reichsstädte. Der Großteil des Adels wurde allerdings in eine Landesherrschaft eingegliedert und schließlich mediatisiert. Dieser langwierige Prozess fand erst in der Frühen Neuzeit mit ihren teilweise komplexen Ausgestaltungen frühmoderner Staatlichkeit sein Ende. Ausgesprochen schwer sind Aussagen über die finanziellen Möglichkeiten von Adelsherrschaften zu treffen, da die Überlieferung selbst für das 148

Adel

Spätmittelalter noch ausgesprochen rudimentär ist.42 Als sicher kann gelten, dass Herrschaften vornehmlich an verkehrsreichen Flüssen mit umfangreichen Zollrechten über eine bedeutsame Einnahmequelle verfügten, welche größere finanzielle Spielräume eröffnete. Von einer generellen Krise speziell des Niederadels wie überhaupt des Spätmittelalters oder auch nur des 14. Jahrhunderts kann angesichts der wenig einheitlichen Entwicklungen keineswegs gesprochen werden. Gerade im Spätmittelalter verzeichneten die Pertinenzformeln in den Urkunden beispielsweise im Falle von Güterübertragungen eine umfangreiche Anzahl von Rechten wie Steuern, Gülten, Abgaben, Renten, Gerichtsherrschaften, Vogteirechte, Wälder, Wiesen, Äcker, Weinberge oder Weingärten, Mühlen, Fischereirechte, Jagdbefugnisse sowie Dienstverpflichtungen der Hintersassen oder Hörigen, bei entsprechender Lage zudem Fähren zur Überquerung von Flüssen sowie weitere potenzielle Einkünftegattungen, darunter gewerbliche Betriebe. Nicht selten zeigt sich derart eine hochgradige Aufsplitterung von Rechten anstelle eines geschlossenen Herrschaftsbereichs. Bedeutsam blieb häufig der Anteil der Naturaleinnahmen, der aber nicht zuletzt von der Bodenqualität und den Witterungs- bzw. Klimabedingungen abhängig war. Dennoch lag offenbar der Wert der Naturaleinkünfte über dem der durch Abwertung gefährdeten und damit im Lauf der Zeit faktisch reduzierten Silbergeldeinkünfte der einzelnen Herrschaften. Als ausgesprochen lukrativ konnten sich auch Bannweinrechte erweisen, also beispielsweise der bei Festen oder während der Kirchweih an den ersten Tagen ausschließlich dem jeweiligen Herrn vorbehaltene Verkauf seines Traubensafts. Beginnend in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzte dann ein 42 Enno Bünz: Adlige Unternehmer? Wirtschaftliche Aktivitäten von Grafen und Herren im späten Mittelalter, in: Grafen und Herren in Südwestdeutschland vom 12. bis ins 17. Jahrhundert (Kraichgauer Kolloquien, 5), Epfendorf 2006, S. 35–69. Vgl. u. a. Markus Bittmann: Kreditwirtschaft und Finanzierungsmethoden. Studien zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Adels im westlichen Bodenseeraum 1300–1500 (VSWG Beiheft 99), Stuttgart 1991. Fuhrmann: Oikos, mit Forschungsüberblick. Maulhardt: Grundlagen. Reinhard Gresky: Die Finanzen der Welfen im 13. und 14. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, 22), Hildesheim 1984. Wilhelm Kossin: Die Herrschaft Rheineck. Wirtschaftliche Grundlagen einer Adelsfamilie im 15. Jahrhundert (Rheinisches Archiv, 134). 1995. Wilfried Wackerfuß: Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Odenwaldes im 15. Jahrhundert. Die ältesten Rechnungen für die Grafen von Wertheim in der Herrschaft Breuberg (1409–1484), Breuberg-Neustadt 1991. Franz Irsigler: Die Wirtschaftsführung der Burggrafen von Drachenfels im Spätmittelalter, in: Bonner Geschichtsblätter 34 (1982), S. 87–116. Kurt Andermann: Zu den Einkommensverhältnissen des Kraichgauer Adels an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Die Kraichgauer Ritterschaft in der frühen Neuzeit, hg. von Stefan Rhein (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 3). 1993. S. 65– 121. Weitere Zahlen fanden bereits in Verbindung mit den Rheinzöllen Erwähnung.

149

Hochmittelalter

regelrechter adliger Bauboom ein. Zahlreiche Schlösser und sonstige Bauten entstanden im Stil der Renaissance und später des frühen Barock. Wie bei zahlreichen Klostergrundherrschaften blieben zumindest bis ungefähr um die Mitte des 15. Jahrhunderts Einkünfte aus dem Weinverkauf in den größeren und mittleren Städten prinzipiell leicht realisierbar. Dies galt vor allem im Falle einer guten Erreichbarkeit auf Wasserwegen oder zunehmend auch auf Straßen. Analoges lässt sich für Getreide und, wenngleich zeitlich überwiegend später, für Vieh sagen. Adlige beteiligten sich gleichfalls als Unternehmer oder tätigten Geldgeschäfte. Derart stieg der holsteinische Adel noch vor der Wende zum 16.  Jahrhundert in den Handel mit dänischen Ochsen ein, wenngleich sein Anteil am Gesamtumsatz bei der im hohen Norden gelegenen Gottdorfer Zollstelle, die an einem zentralen Platz des Ochsenhandelswegs errichtet war, zunächst fünf Prozent nicht überstieg. Während der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts ­sollten diese holsteinischen Adligen allerdings nicht nur zu den wichtigsten Kreditgebern der Stadt Hamburg werden, sondern ebenso den Kieler Stapel dominieren. Ebenfalls noch in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts begannen diese zudem, sich intensiv am Getreidehandel zu beteiligen, zumal die Adligen über das Vorkaufsrecht an den bäuerlichen ­Getreide-, sprich überwiegend Roggenernten verfügten; ab 1524 gestatteten die Landesherren ihnen, ihre Naturalien sogar zollfrei auszuführen. In etlichen Regionen wie Thüringen, Sachsen, Niedersachsen, Hessen oder Franken dürfte die Schafzucht intensiviert worden sein. Während des Spätmittelalters kam es wohl nicht selten vor – belastbare Zahlenreihen fehlen erneut –, dass adlige Grundherren ihren bäuerlichen Hintersassen Kredite zu durchaus günstigen Konditionen zur Verfügung stellten, damit diese Zeiten ohne oder mit nur geringen Einkünften bis zur nächsten Ernte überbrücken konnten. Das entscheidende Interesse der Grundherren lag dabei in der Weiterbewirtschaftung der Liegenschaften zum Zweck zukünftiger Abgabenerzielung; ansonsten hätte die Gefahr gedroht, dass nur mühselig zu rekultivierende Wüstungen entstehen könnten. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des niederen oder mediatisierten Adels trat, deutlich verstärkt noch im 16.  Jahrhundert, in landesherrliche oder königliche Dienste, z. B. durch die Übernahme von Ämtern in der Verwaltung. Selbst ein Studium, überwiegend ein juristisches, galt nun nicht mehr als artfremd, sondern wurde als zusätzliche Chance neben der Herkunft begriffen, zumal zahlreiche bürgerliche Juristen aufgrund geänderter Anforderungen Eingang in die Spitzen der Verwaltungen fanden. Als Bergun150

Adel

ternehmer betätigten sich dagegen nur wenige Familien wie die Mansfeld – zunächst in Person Graf Albrechts IV. –, Graf Wolfgang von Stolberg oder Herzog August von Sachsen; dazu trat bei anderen der Erwerb von Kuxen. Das 14.  Jahrhundert eröffnete den Adligen ein weiteres Betätigungsfeld im Kriegsmetier, vornehmlich in den oberitalienischen Ausei­ nandersetzungen, wo sie in dieser Zeitspanne als begehrte Söldner galten. Unter den Grafen und den Condottieri dominierten Adlige aus Schwaben, während über das Fußvolk kaum Nachrichten vorliegen; anzunehmen ist, dass zahlreiche Söldner aus dem Niederrheingebiet ihren Weg nach Italien gefunden haben. Im Fall der Schwaben wirkte sich begünstigend aus, dass in der Heimat eine Betätigung im Rahmen der Territorialherrschaft entfiel, da sich hier nach dem Ende von Zähringern, Welfen und schließlich Staufern kleinräumige Herrschaftsgebiete entwickelten und es den Habsburgern trotz ihrer Ansprüche nicht gelang, dieses Machtvakuum zu füllen. Ein Dienstverhältnis bei den gleichrangigen Grafen von Württemberg kam für etliche dieser Grafen trotz nur geringer Besitzausstattung jedenfalls nicht infrage. Mit dem frühen 16. Jahrhundert endete aufgrund des nunmehr durchgesetzten Fehdeverbots die Zeit der adligen Fehdeunternehmer, als deren bedeutendste späte Vertreter Thomas von Absberg, Götz von Berlichingen oder mit umfangreichem, aber weit verstreutem Besitz Franz von Sickingen genannt werden können. Sickingen sollte nach der gescheiterten Eroberung Triers bei der Belagerung und Beschießung seiner eigenen Burg Nanstein durch Truppen des Trierer Erzbischofs, des Pfalzgrafen sowie des Land­ grafen von Hessen den Tod finden; anschließend teilten seine Gegner seine Besitzungen unter sich auf. Andere Adlige wiederum verdienten ihren Unterhalt als Kriegsherren, und noch im Dreißigjährigen Krieg agierten regelrechte Söldner- oder Kriegsunternehmer, die Aufgebote zusammenstellten und an die kriegsführenden Parteien für einen bestimmten Zeitraum vermieteten. Am bekanntesten dürfte neben Lazarus von Schwendi der im ­frühen 16.  Jahrhundert aktive Georg von Frundsberg gewesen sein, doch selbst Albrecht Wallenstein fällt noch in diese Kategorie. Allerdings ver­ loren bereits seit dem 15.  Jahrhundert vor dem Hintergrund geänderter Praktiken der Kriegsführung reine Ritteraufgebote an Bedeutung. Hingegen dürfte die Zahl der Raubritter für das Spätmittelalter nicht nur gelegentlich überschätzt worden sein, zumal zahlreiche legitime Gründe für eine Fehdefühung bekannt waren. Zwar weiß die städtische Chronistik von zahlreichen ungerechtfertigten Befehdern und durch sie 151

Hochmittelalter

angerichteten Schäden an Leib und Habe vornehmlich der Kaufleute sowie der Landbevölkerung zu berichten. Doch gerade die großen Städte organisierten eine Gegenwehr, heuerten Adlige und weitere Söldner an, um mit kampferprobten Aufgeboten militärisch gegen die Übeltäter vorzugehen und deren Burgen zu brechen. Teilweise legitimierten die Herrscher ein solches Vorgehen. Beispielsweise erlaubte Kaiser Ludwig 1340 der Stadt Augsburg und deren Verbündeten, wegen der Gefährdung der Wege zwischen der Schwäbischen Alb und Augsburg die Burgen Brenz und Stotzingen zu zerstören.43 Köln beschäftigte im 15. Jahrhundert dauerhaft Söldner, darunter auch Armbrustschützen, und warb in Krisensituationen zusätz­ liche Verbände an. Letztlich dürfte aber das durchgesetzte Fehdeverbot seit dem 16. Jahrhundert zu einer Verrechtlichung der Auseinandersetzungen und ihrer vermehrten Austragung im Rahmen gerichtlicher Prozesse geführt haben.

43 Götz von Berlichingen: Mein Fehd und Handlungen, hg. v. Helgard Ulmschneider (Forschungen aus Württembergisch Franken, 17), Sigmaringen 1981. Helgard Ulmschneider: Götz von Berlichingen. Ein adeliges Leben der deutschen Renaissance, Sigmaringen 1974. Reinhard Scholzen: Franz von Sickingen. Ein adliges Leben im Spannungsfeld zwischen Städten und Territorien (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, 9), Kaiserslautern 1996. Fritz Redlich: The German Military Enterpriser and his Work Force. A Study in European Economic and Social History, 3 Bde. (VSWG Beihefte 47/48), Wiesbaden 1964–1965. Reinhard Baumann: Georg von Frundsberg. Vater der Landsknechte, Feldhauptmann von Tirol, München 1991. Urkundenbuch Augsburg, Bd. I, S. 350 f. Brigitte Maria Wübbeke: Das Militärwesen der Stadt Köln im 15. Jahrhundert (VSWG Beiheft, 91), Stuttgart 1991.

152

Spätmittelalter

Spätmittelalter

Agrarsektor Analysen zur dörflichen Sozialstruktur zeigen bereits für das ausgehende 13. und das beginnende 14.  Jahrhundert in vielen Dörfern eine teilweise nur dünne bäuerliche Oberschicht, die selbstverständlich innerhalb der jeweiligen dörflichen Gesellschaft eine Führungsstellung einnahm. Ihre Angehörigen amteten als Mitglieder des Dorfgerichts und übten Funktionen im Dienste der Grund- und Gerichtsherrschaft aus. Zugleich waren sie ­Inhaber der größten Höfe mit zahlreichem Gesinde. Diese Großbauern nahmen die Allmendeflächen stärker in Anspruch als die Kleinbauern, da sie beispielsweise einen größeren Viehbestand besaßen, den sie auf die Allmende trieben. Häufig saßen sie zu vorteilhafteren Erbleihrechten auf ihren Höfen, weil sie über engere Verbindungen zu den Grund- oder Dorfherren verfügten. Sie waren in der Lage, weit über den Eigenbedarf hinaus vornehmlich Getreide zu produzieren und Vieh zu halten, und ließen ihre Produkte auf den städtischen Märkten verkaufen. Die Erlöse flossen vielfach in den Betriebsausbau oder als Kredite an ärmere Bauern, die so in finanzielle Abhängigkeit gerieten. Damit verwischten sich häufig die ökonomischen Grenzen zwischen derartigen Großbauern und zahlreichen niederadligen Familien nicht nur der Reichsritterschaft, die ihrerseits gerade einmal wenige Hundert Gulden im Jahr erwirtschaften konnten.1 Allerdings betrafen die städtischen Bemühungen zur Durchsetzung eines Marktzwangs gerade diese Bauern, versuchten die Kommunen doch auf diese Weise die Bauern des Umlands zu zwingen, ihre Produkte auf dem städtischen Markt möglichst zu seitens der Stadt festgelegten Preisen zu verkaufen, der Stadt die einschlägigen Steuern oder weiteren Abgaben zu entrichten und in der Stadt auch ihren eigenen Bedarf zu decken. Unterhalb dieser bäuerlichen Führungsgruppe existierte eine breitere Mittelschicht, die über eine zwar bescheidene, aber im Regelfall zum Bestreiten des Familienhaushalts ausreichende Besitz- und Einkommensbasis 1 So mussten die Schenk von Schenkendorf gleichfalls vor der Mitte des 15. Jahrhunderts mit etwa 300 Gulden jährlich auskommen; Gerhard Rechter: Das Verhältnis der Reichsstädte Windsheim und Rothenburg zum niederen Adel ihrer Umgebung, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 41 (1981), S. 45–87, hier S. 57. Ein Verzeichnis der Rittertruhe des Kantons Neckar(-Schwarzwald) vom Ende des 15. Jahrhunderts verdeutlicht, dass die Mehrzahl der dortigen Adligen nach Eigenveranlagung bis zu 300 Gulden jährlich an regelmäßig fließenden Einkünften versteuerte; Karl Otto Müller: Zur wirtschaftlichen Lage des schwäbischen Adels am Ausgang des Mittelalters, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 3 (1939), S. 285–328, hier S. 312. Allerdings handelt es sich um Angaben zur Steuereinschätzung, die realen Einkünfte dürften höhere Werte erreicht haben.

154

Agrarsektor

verfügte. In Anerbengebieten wie Teilen Westfalens und Niedersachsens sowie Bayern, wo wir eine breite Vollbauernschicht finden, prägte diese Schicht von mittleren und größeren Bauern das Gesamtbild der Dorfbevölkerung. Kleinere Betriebe befanden sich hingegen gehäuft im Neckarraum, am Mittel- und Oberrhein, in Franken und in Oberhessen. Allerdings handelte es sich dabei mit Ausnahme von Oberhessen um Weinbaugebiete, und die Bodenqualität beispielsweise östlich und südöstlich von Würzburg gilt zudem als ausgesprochen hoch. Die breite Masse der bäuerlichen Unterschicht, die um 1300 in vielen Landstrichen bereits mehr als die Hälfte der Landbevölkerung ausmachte, setzte sich aus Kleinbauern, Kleinstelleninhabern, Tagelöhnern und Gesindekräften zusammen; dies verweist auf die erheblichen Strukturveränderungen im Agrarsektor während des Hochmittelalters. Ihre bescheidenen Land- oder sogar nur Gartenparzellen reichten allein selten zum Lebensunterhalt aus, sodass sie auf zusätzliche Einkünfte angewiesen waren. So arbeiteten sie beispielsweise im Tagelohn auf den Höfen der Großbauern, der weltlichen oder geistlichen Grundherren; ein Teil war auch als Handwerker tätig. Allerdings entziehen sich die Verhältnisse der Quantifizierung und somit muss die Frage unbeantwortet bleiben, wo ihre große Anzahl tatsächlich Beschäftigung gefunden hat. Die absolute Zahl und der relative Anteil der Landlosen sollten dann in der Frühen Neuzeit auch abseits der Montanregionen und der Tuchreviere nochmals deutlich zunehmen. Die wichtigsten Ursachen dieser Entwicklungsstränge lagen in der schon lange bestehenden, sehr unterschiedlichen Besitzausstattung mit Land, in dem Grad der herrschaftlichen Abhängigkeit, in der Marktfrequenz sowie in den verschiedenen Erbrechten, also der grundsätzlichen Unterteilung in Anerben- und Realteilungsgebiete. Denn in den Anerbenregionen erhielt in der Regel der älteste, gelegentlich auch der jüngste Sohn den kompletten Hof einschließlich des Zubehörs. Die weiteren Nachkommen mussten sich mit Ausgleichszahlungen in – günstigenfalls – etwa dem Besitzwert entsprechender oder auch weitaus geringerer Höhe abfinden lassen, falls denn überhaupt Geld floss. Bei der Realteilung gingen alle Besitztümer in gleich großen und damit bereits mittelfristig immer kleineren Anteilen und Flächen an die Erben. Es dürfte ohnehin keine weiteren Diskussionen erfordern, dass der Lebensstandard eines nicht unerheblichen Teils nicht nur der ländlichen Bevölkerung im Spätmittelalter unverändert auf einem niedrigen Niveau verharrte. Das Wirtschaften erfolgte mit regionalen Unterschieden vielfach in den verschiedenen Formen der Subsis155

Spätmittelalter

tenzökonomie, was sich in der Frühen Neuzeit unverändert fortsetzte. Nur die Großbauern verstanden es teilweise über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte hinweg, durch eine geschickte Heiratspolitik und adäquate Erbfolgeregelungen die Geschlossenheit ihres Besitzes zumindest zu wahren und auf diese Weise die Kontinuität und Stellung ihrer Familien über Generationen zu sichern. Zumindest in größeren Dörfern und Städten konnten neben dem Vermögen und der damit verbundenen Hofgröße auch Verwandtschaft und nachbarschaftliche Beziehungen eine wichtige Rolle für den sozialen Status spielen. Verbreitete Darstellungen etwa von Bäuerinnen mit einem Korb voller Eier auf dem Rücken oder mit Geflügel in Käfigen auf ihrem Weg zum nächstgelegenen Markt dürften durchaus konkrete ­Lebensumstände der mittelbäuerlichen Schichten mit ihren überschau­ baren Überschüssen abbilden. Vor allem Vieh, Wein, Getreide sowie Färbepflanzen wurden dagegen über größere Entfernungen gehandelt. Jedenfalls führten das Bevölkerungswachstum, die weitere Spezialisierung und Intensivierung der Gewerbe, ihre Verdichtung zu Gewerberegionen sowie die Entstehung neuer Gewerbeschwerpunkte etwa in den Bergbaugebieten mit ihrer steigenden Nachfrage zu einer stärkeren Einbeziehung des Landes in die Märkte. Mit dem Ende der Villikationen änderten sich bis ins Spätmittelalter die Pachtbedingungen deutlich, falls von letzterer Rechtsform zuvor überhaupt schon gesprochen werden kann: Nunmehr entwickelte sich die Zeitleihe zu einer vielgestaltigen Form der Bodenvergabe mit Zwischen- und Sonder­ formen von der Besitzübertragung gegen Abgaben bis hin zu regelrechten Pachtformen mit unterschiedlichen Laufzeiten sowie Zins- bzw. Gültleistungen. Für das bäuerliche Wirtschaften stellten Zeitpachten auf den ersten Blick eine Verschlechterung dar, bildeten aber in einer marktorientierten Wirtschaftsweise eine Innovation, konnten doch auf diesem Weg neue Rechtsformen entwickelt werden. Gleiches galt für den Teilbau, den in seiner Grundform schon die karolingische Zeit kannte: Die Grundrente wurde in diesem Abgabensystem in Beziehung zur Ernte gesetzt. Ursprünglich musste im arbeitsintensiven Getreideanbau jede zweite Garbe an den Grundherren entrichtet werden, es konnte sich dann aber auch um die vierte, fünfte, achte oder zehnte handeln, während die hälftige Abgabe ohne Beteiligungsleistungen der Grundherren kaum mehr Akzeptanz fand. Gegenüber dem Teilbau ohne finanzielle Beteiligung der Grundherren fand seit dem 12. Jahrhundert ein Teilbausystem im engeren Sinne Verbreitung, das mit einer scheinbar frei aushandelbaren Zeitpacht mit zu156

Agrarsektor

meist nur kurzen Laufzeiten von vielfach gerade einmal drei, sechs oder neun Jahren verbunden war. Derartige Teilbauverträge wurden überwiegend für Reb- und Getreidekulturen abgeschlossen, seltener für Viehzuchtbetriebe; die Viehverstellung oder Viehpacht konzentrierte sich auf das Gebiet der Eidgenossenschaft. Die höchste von den Bauern tolerierte Abgabenquote scheint wie zuvor der Halbbau gewesen zu sein, es dominierten aber der Drittel- oder der Viertelteilbau. Der Halbbau setzte jetzt allerdings eine Herrenbeteiligung an Gewinn und Verlust voraus: Die Bauernfamilien stellten als Pächter ihre Arbeitskraft zur Verfügung, die Herren kamen für den Hof und das Saatgut auf, mussten darüber hinaus aber auch Zuschüsse zu Dünge- und Erntekosten gewähren. Diese Produktionsweise blieb aufgrund der engen Beziehung zwischen Grundherr und bäuerlichem Pächter tendenziell paternalistisch sowie herrschaftlich geprägt. Die nordwestlich von Tübingen gelegene Klosterherrschaft Bebenhausen benötigte bei der Getreideernte und der Weinlese mindestens 180 Aufseher, um im Sinne der Abtei den korrekten Eingang der Naturalleistungen zu überwachen; dadurch entstanden wiederum hohe Verwaltungs- oder Transaktionskosten. Ob sich die Bauern bei derartigen Pachtformen besser standen als zuvor, kann nicht allgemein beantwortet werden, zu unterschiedlich gestalteten sich Abgabenbelastungen, Besitzwechselleistungen und Produktionsbedingungen. Ohnehin unterlagen die Pachtbedingungen Konjunkturen, und diese konnten je nach Anbauprodukt hochgradig variieren. Vielerorts entwickelte sich schließlich die lebenslange Pacht zum Regelfall, und bei Vorliegen günstiger Bedingungen konnten die Pächter sogar erreichen, dass sie ihren Besitz als Erbe weitergeben konnten. Bei zu kurzen Pachtzeiten ohne realistische Aussicht auf ein Weiterbestehen des Pachtverhältnisses bestand für die Grundherren die Gefahr, dass die bäuerlichen Hintersassen die Güter vernachlässigten und insbesondere erst mittel- oder langfristig wirksame Erhaltungsmaßnahmen unterließen. Nach der Untersuchung von Otto Volk zum spätmittelalterlichen Weinbau am Mittelrhein kam der Teilbau sowohl den Interessen der Grundherren wie den Bedürfnissen der Pachtwinzer entgegen. Der Verpächter konnte auf diese Weise die aufwendige Eigenbewirtschaftung des Weingartenlandes und die Menge des zu verarbeitenden Traubenaufkommens auf dem Herrenland deutlich verringern, ohne die Möglichkeit zu verlieren, die Art und Intensität der Bebauung wesentlich zu beeinflussen. Die Pächter hingegen hatten teil an einer möglichen Steigerung der Erträge 157

Spätmittelalter

und an der Realisierung von Gewinnen beim Verkauf der Weine. Durch die tendenziell proportionale Beteiligung beider Seiten am Ernteergebnis verteilte sich zudem das Risiko, das von den beträchtlichen Ertragsschwankungen im Weinbau ausging, auf beide Seiten, was wiederum in erster Linie den Interessen des in der Regel finanzschwächeren Pächters entsprach. Bei einer fixierten Abgabenleistung in Verbindung mit einer oder mehreren schlechten Ernten hätte der Pächter ansonsten rasch vor dem drohenden Ruin stehen können.2 Der Weinbau als die wichtigste mittelalterliche Spezialkultur mit seiner in die Römerzeit zurückreichenden Tradition gestaltete sich schon immer besonders arbeitsintensiv. Über die einzelnen Arbeitsschritte informieren uns sowohl überlieferte Verträge zwischen Eigentümern und Pächtern als auch erhaltene Rechnungen mit all ihren Eintragungen über Kosten für zusätzliches Personal oder dessen Versorgung bei den anfallenden Tätigkeiten. In sehr guten Lagen konnten die Rebstöcke ein Alter von 50 bis 100 Jahren erreichen, doch unter normalen Umständen erwies sich ihre Ertragsfähigkeit nach 30 bis 50 Jahren als weitgehend erschöpft. Sie ergaben zwar auch dann noch einen guten Wein, doch trugen sie immer weniger und erwiesen sich als stärker frostgefährdet, sodass sie schließlich ausgehauen und durch neue ersetzt werden mussten. Nach jahrzehntelanger Nutzung sahen sich die Winzer ohnehin gezwungen, den einen oder anderen Weinberg einige Jahre brach liegen zu lassen, damit der Boden sich erholen konnte; allerdings durfte der jeweilige Weinberg oder Weingarten in dieser Zeitspanne nicht komplett verwildern. Ständig galt es, die Mauern instand zu halten und größere Steine aus den Anlagen zu entfernen. Der wertvolle Weinbergboden, den heftige Regenfälle oder die Schneeschmelze immer wieder den Hang hinabschwemmten, musste in mühevoller Arbeit fast jährlich in Kiepen wieder bergauf getragen werden. Diese Tätigkeit, die sich freilich erst nach Jahren auszahlte, blieb vor allem der ruhigeren Zeit im Winter vorbehalten, falls keine Schneefälle oder strenger Frost die Arbeit übermäßig erschwerten oder sogar verhinderten. Die Düngung der Böden war gleichfalls in Handarbeit zu verrichten. Dazu kamen Ausbesserungen an den Weingartenwegen und die Instandhaltung oder Neuanlage von Treppen an den steilen Hängen des Mittelrheins, aber teilweise auch an Mosel und Neckar, um die jeweiligen Terrassen überhaupt erreichen zu können. Da Wege und Treppen zum Teil gemeinsam genutzt wurden, war 2 Zum Weinbau vgl. umfassend Volk: Wirtschaft, S. 155–243, hier S. 166.

158

Agrarsektor

in diesen Fällen die Gemeinschaft der Winzer gefordert, die jeweils anfallenden Arbeiten abzusprechen. Jährlich fiel nach der Lese, soweit es die Witterung noch zuließ, die Wintergrabung an, um danach die Reben zum Schutz vor Frostschäden niederzulegen und abzudecken. Sobald sich die Weinberge wieder als weitgehend schneefrei erwiesen, wurde „geraumt“, also das Deckmaterial entfernt. Bereits im März, und damit noch während der Kälteruhe der Reben, mussten die Stöcke zum ersten Mal mit dem Rebmesser auf das Tragholz zurückgeschnitten werden, um die vorjährigen Schösslinge zu entfernen. Nach dem Schnitt wurden die Rebstöcke mit einem Pfahl versehen – von diesen waren immer wieder Hunderte oder Tausende als Ersatz zu beschaffen –, an welchem das Tragholz mit Weidegerten oder Strohbändern zu einem Halb- oder einem Vollkreis gebogen wurde. Im März oder April galt es für die Weinbauern anschließend, die Weinberge oder -gärten in einer ausgesprochen kräftezehrenden Tätigkeit umzugraben; weitere einbis zweimal musste später zumindest nachgewachsenes Unkraut entfernt werden, teilweise sogar ein zweites Mal umgegraben werden. Besonders wenn sich ein guter Ernteertrag abzeichnete, erwies es sich als vorteilhaft, während der Reifephase überflüssige seitliche Ranken auszubrechen und zu entfernen; zugleich verminderte das Beschneiden der höchsten Rebenspitzen eine Beschattung von Stock und Trauben durch überhängendes Laub und begünstigte damit deren volles Ausreifen. Bei Pachtverhältnissen unterlagen die Tätigkeiten einer Kontrolle durch die Eigentümer der Weinberge oder deren Beauftragte, die naturgemäß ein hohes Interesse an einer sorgfältigen Durchführung hatten. Die Rechnungsüberlieferung lässt immer wieder eine Vielzahl von im Tagelohn bezahlten Hilfskräften in den arbeitsintensiven Perioden und vor allem während der Weinlese erkennen. Bis zur Reife galt es auch zu überwachen, dass niemand unberechtigt Trauben entfernte; zu diesem Zweck wurden eigens Wächter eingestellt, die in der Regel ihrer Tätigkeit bewaffnet nachgingen. Überwiegend im September standen die organisatorischen Vorbereitungen für die Lese an: Dazu zählten in erster Linie Reinigungs- und Ausbesserungsarbeiten an den reparaturanfälligen Keltern, an Fässern, Bütten und sonstigen Gerätschaften, weiterhin Instandsetzungsmaßnahmen an den wohl meist nur wenig befestigten Wegen, damit die Wagen und Karren die Weinberge unbeschädigt erreichen konnten. Wann die Lese begann, entschied im Regelfall nicht der einzelne Winzer, sondern der Grundherr schrieb diesen Termin im Rahmen des Lesebanns vor; ansonsten erfolgte eine Regelung auf 159

Spätmittelalter

gemeindlicher Ebene. In beiden Fällen geschah dies natürlich abhängig von den Witterungsverhältnissen und dem Reifeprozess der Trauben. Gerade in Gebieten mit Kelterzwang, eine nicht zu vernachlässigende Einnahmequelle der Bannherren, blieb die Abstimmung des Lesetermins besonders wichtig, um den Andrang vor den Keltern überhaupt bewältigen zu können. Die eigentliche Lese spielte sich unter Mitwirkung einer großen Zahl von Tagelöhnern ab, darunter zahlreiche Frauen und Heranwachsende. Am besten entlohnt wurden im Herbst zumeist die Träger, welche die schweren ­Kiepen mit den Trauben auf dem Rücken den Berg hinabschleppten. Entweder unmittelbar an Ort und Stelle oder anschließend vor den Keltern erfolgte die Aufteilung des Ernteertrags im Teilbausystem; auch galt es den Zehnten auszusondern. Für derartige Tätigkeiten zahlte der Verwalter der Oberkellerei Weinsberg mit einem überschaubaren Weinbergbesitz im Rechnungsjahr 1442/43 527 Tagelöhne aus, um die dauerhaft beschäftigten Knechte und Mägde zu entlasten und durch das Auffangen der Arbeitsspitzen nicht zuletzt die Ernte rechtzeitig einzubringen. 1443/44 handelte es sich um 473 Tagelöhne, im Folgejahr um 524.3 Eine Spezialisierung auf bestimmte Rebsorten wie beispielsweise den Riesling erfolgte sukzessive seit dem 15. Jahrhundert, während zuvor die Weine nach ihrer Herkunft bezeichnet wurden und die verschiedenen Rebsorten nebeneinander wuchsen. Oftmals blieben Knechte und Mägde langjährig in einem Betrieb. Differenzierungen zwischen ihnen wurden nach Tätigkeitsbereichen vorgenommen, wobei die Jahreslöhne je nach Funktion und Schwere der Arbeit erheblich variieren konnten. Ergänzend kamen besonders in Sommer und Herbst Rinder-, Kuh- sowie Schweinehirten hinzu, bei denen es sich nicht selten um Heranwachsende handelte, welche das Familieneinkommen aufbesserten. Ebenso fanden Köche, Bäcker, Eseltreiber (zur zusätzlichen Wasserversorgung auf Höhenburgen), Vogler oder Wächter Erwähnung, von denen ein Teil seiner Beschäftigung nicht selten nebenberuflich nachging. Neben der Verpflegung und dem Jahreslohn, der in Oberdeutschland während des 15.  Jahrhunderts häufig zwischen fünf und zehn Gulden lag, erhielten Knechte sowie Mägde Bekleidungsdeputate einschließlich Schuhen und Stiefeln, gelegentlich auch Naturalien wie Holz oder Wein, sodass Dauerbeschäftigungsverhältnisse bei einer Grundherrschaft durchaus begehrens3 Bernd Fuhrmann: Lohnarbeit und Entlohnungsformen in der spätmittelalterlichen Agrarwirtschaft, in: Rolf Walter (Hg.): Geschichte der Arbeitsmärkte (VSWG Beihefte 199), Stuttgart 2009, S. 119–144, hier S. 129.

160

Agrarsektor

wert gewesen sein dürften. Weitere Tagelöhne und Gedinge lassen die Rechnungen für eine Vielzahl von Tätigkeiten erkennen: das Mähen von Wiesen, die Getreideernte einschließlich des Dreschens, Gartenarbeiten, die Anlage oder das Ausbessern von Entwässerungsgräben, das Aufbereiten von Mist oder auch das Waschen von Wäsche. Dabei konnte etwa das Dreschen auch in den weniger arbeitsreichen Spätherbst- und Wintermonaten erfolgen. In das Spätmittelalter fiel eine Reihe von Differenzierungen und Spezialisierungen des Agrarsektors. Zunächst ist die Besömmerung der Brache in der Dreifelderwirtschaft zu nennen, also der Anbau beispielsweise von Hülsenfrüchten als Nahrungsmittel oder von Wicken als hochwertigem Pferdefutter auf diesen Flächen. Dies führte zu einer Erweiterung der Ernte­möglichkeiten, und zugleich förderten Wicken und Luzerne sogar die Bodenqualität durch Stickstoffzufuhr. Eine derartige Besömmerung, in diesem Fall überwiegend mit Bohnen, ist aus Oberitalien bereits seit dem 12. Jahrhundert bekannt. Auch in der Frühen Neuzeit dominierte noch die Dreifelderwirtschaft, während die Vier- oder Fünffelderwirtschaft gleichzeitig zunahm und nun auch Leguminosen auf den Brachflächen angepflanzt wurden. Die Steigerung des Getreideanbaus auf Kosten der Viehzucht verringerte aber wie schon im Hochmittelalter den Dunganfall. Auch dürfte die Klimaverschlechterung seit dem frühen 14.  Jahrhundert zumindest teilweise vermehrt den Anbau von winterhartem Getreide erzwungen haben, während für wärmeliebende Anbauprodukte ein Rückgang begründet anzunehmen ist. In der Frühen Neuzeit erfolgte schließlich in landwirtschaftlich intensiv genutzten Zonen mit guten Böden die Aufgabe der Brache. In regelrechten Obstgärten wuchsen vornehmlich Apfel- und Birnbäume, gleichfalls verbreitet dürfte der Anbau von Pflaumen und Zwetschgen gewesen sein, später auch von Süß- und Sauer­ kirschen. In Trier dienten sogar Teile des Stadtgrabens der Anlage von Obstgärten. Minderwertige Produkte ließen sich immerhin noch zu Most verarbeiten.4 Der Anteil von eisernen Arbeitsgeräten wuchs an, wodurch die Tätigkeiten effektiver wurden. Doch trotz aller Innovationen bestimmte der Rhythmus der Natur die anfallenden Arbeiten, wobei sich deren Verteilung über das Jahr in Weinbaugebieten und solchen mit dominantem Getreideanbau unterschied. 4 Zu Gartenbau und Sonderkulturen vgl. Irsigler: Gestaltung, passim. Ulrich Willerding: Landnutzung im Umfeld städtischer und ländlicher Siedlungen des Mittelalters, in: Dilg/Keil/Moser (Hg.): Rhythmus, S. 377–402. Matheus: Trier, S. 35.

161

Spätmittelalter

Die schon im 14. Jahrhundert gut funktionierende Marktschifffahrt auf Rhein und Mosel mit regelmäßig und für damalige Verhältnisse schnell fahrenden Booten begünstigte selbst bei leicht verderblichen Früchten den Absatz bis zu einer Entfernung von etwa 50 bis 60 Kilometern, natürlich immer nur flussabwärts. Wohl ebenso häufig wie der Obstbau begegnen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Gemüsegärten, vor allem, wenn der Anbau über die Deckung des Eigenbedarfs hinaus stadtnah und marktorientiert betrieben werden konnte. Ein breiter Gürtel von Gartenland erstreckte sich um zahlreiche Städte und wurde von diesen aus bewirtschaftet; großflächigere Anlagen dienten primär dem Verkauf. Derart lässt sich vom 13. bis zum 16.  Jahrhundert weithin eine „Vergartung“ konstatieren, ohne an dieser Stelle auf die kleinen Gewürz- und Gemüsegärten zur Deckung des Familienbedarfs einzugehen. Beispielsweise Marburg begann um die Mitte des 16. Jahrhunderts – und damit vergleichsweise spät –, umfangreichere städtische Flächen in der Feldmark aufzuteilen und als Gartenland gegen geringe Gebühren an die Bürger auszugeben.5 Der Augsburger Kaufmann Lucas Rem aus angesehener Familie erwarb 1525 „ain garten samt Somerhaus, Stadel und alem zuogehör“ für immerhin 200 Gulden in Silbermünze, was 187½ Goldgulden entsprach. Schon der Hinweis auf das Sommerhaus verweist auf eine weitere Nutzung der sicherlich gegenüber den üblichen Gärten wesentlich größeren und aufgewerteten Liegenschaft.6 Die zahlenstarken Gärtnerzünfte vornehmlich in etlichen Städten an Rhein und Mosel entfalteten umfangreiche Aktivitäten und galten gelegentlich sogar als wohlhabend, vor allem in Speyer und Worms, aber auch in Trier oder Luxemburg. In Straßburg wohnten nach einer Aufgebotsliste von 1444 fast 700 Gärtner, die vor allem Rüben-, Rettich-, Zwiebel- und Kohlanbau betrieben, wenngleich die Straßburger Gärtner sozial tendenziell den Unterschichten angehörten. Letztlich dürfte aber in allen Städten ein Teil der Einwohnerschaft im Vollerwerb landwirtschaftlich tätig gewesen sein, ein weiterer Teil nebenerwerblich, wobei Gärten und Vieh nicht unerheblich zur Versorgung beitrugen. Selbst in Köln diente noch 1681 mehr als ein Viertel der Stadtfläche dem Anbau von Wein, Obst und Gemüse.7 5 Bernd Fuhrmann: Der Haushalt der Stadt Marburg in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (1451/52– 1622) (Sachüberlieferung und Geschichte, 19), St. Katharinen 1996, S. 134 f. 6 Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494–1541, hg. v. B. Greiff, Augsburg 1861, S. 62. 7 Christian Reinicke: Agrarkonjunktur und technisch-organisatorische Innovationen im Agrarsektor im Spiegel niederrheinischer Pachtverträge 1200–1600, Köln/Wien 1989, S. 278. Vgl. die Beiträge in Kurt-Ulrich Jäschke/Christhard Schrenk (Hg.): Ackerbürgertum und Stadtwirtschaft. Zu Regio-

162

Agrarsektor

Seit dem 14. Jahrhundert erlangten als weitere Sonderkultur die Färbepflanzen hohe wirtschaftliche Bedeutung: Besonders um Speyer und Worms bauten die Gärtner Krapp an, den wichtigsten Rotfärbestoff des Mittelalters, der vor allem für Wolle und Wolltuche benötigt wurde. Als Hauptkonkurrent galten die Anbaugebiete im niederländischen Seeland, während die schlesische Produktion geringer ausfiel. Als weiteren Rotfärbestoff gewannen die Bauern Saflor aus den Blüten der Färberdistel. Bei Thüringen, dort besonders dem Gebiet um Erfurt, sowie dem Maastal und dem Hennegau handelte es sich hingegen um die bevorzugten Anbaugebiete für Waid, das gängige Mittel zum Blaufärben, das seinen Weg zu den Käufern über weite Strecken fand. Nürnberg ließ 1377/78 ein Waidhaus errichten, in welchem der gesamte von Nichtbürgern eingeführte Rohstoff gegen eine Gebühr bis zum Verkauf eingelagert werden musste; die Stadt versorgte sich überwiegend mit Waid aus Thüringen.8 Der Waid aus dem Umland von Köln und dem Jülicher Land floss wohl komplett in die Kölner Tuchproduktion, bevor Ende des 15. Jahrhunderts ein tiefer Einbruch der niederrheinischen Tuchherstellung den Produzenten der Monokultur erhebliche Schwierigkeiten bereiten sollte. Im späten 16.  Jahrhundert begann schließlich Indigo den Waid auf breiter Front abzulösen, wobei Indigo zumindest von denjenigen Färbern, die an der tradierten Methode der Blaufärbung festhielten, zunächst als minderwertig betrachtet wurde. Vermutlich sind in der Frühphase der Verwendung von Indigo tatsächlich Qualitätsprobleme aufgetreten, da zunächst die richtige Zusammensetzung des dafür benötigten Beizmittels gefunden werden musste. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nutzten Blaufarbenwerke überdies Kobalt zur Farbproduktion. Daneben fand der durchaus lukrative Hopfenanbau in Verbindung mit der Intensivierung des Brauwesens in mehreren Regionen eine weite Verbreitung. Die soziale und ökonomische Entwicklung der ländlichen Bevölkerung im Spätmittelalter verlief, wie kaum anders zu erwarten, durchaus differenziert. Die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs infolge der Pest und weiterer Seuchen stellen Wilhelm Abel und seine Schüler wohl übertrieben dar, denn aufgegeben wurden vor allem wenig ertragreiche Böden, während zahlreiche dieser Zeit zugeschriebene Wüstungen tatsächlich erst

nen und Perioden landwirtschaftlich bestimmten Städtewesens im Mittelalter (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn, 13), Heilbronn 2002. 8 Astrid Schmidt-Händel: Thüringen als Beschaffungsmarkt oberdeutscher Firmen für Waid um 1500, in: Westermann/Welser (Hg.): Beschaffungs- und Absatzmärkte, S. 159–173, hier S. 161.

163

Spätmittelalter

während des Dreißigjährigen Kriegs zu solchen wurden. Von einer Krise des Spätmittelalters sollte daher auch für den Agrarsektor nicht mehr generell die Rede sein. Letztlich lässt sich das 16. Jahrhundert auch ohne vorherige Krise als eine lang währende Agrarkonjunktur bewerten. Jedoch dürfte es nach dem verheerenden Pestzug etwa ab der Mitte des 14. Jahrhunderts für etwa zwei Jahrzehnte zu regional unterschiedlich ausgeprägten Anpassungskrisen gekommen sein. Sonderkulturen konnten zumindest in etlichen Gebieten den Rückgang beim Getreideanbau auffangen, vielleicht sogar überkompensieren. Sie lassen sich durchaus als Fortschritt, als Ausdruck wirtschaftlicher Stärke während eines Strukturwandels interpretieren. Ein zumindest vorläufiges Ende erfuhr dagegen sicherlich der Vergetreidungsprozess; erst im 16.  Jahrhundert setzte ein erneutes Anwachsen der Getreideproduktion auf Kosten der Viehhaltung ein, wobei auch zuvor aufgegebene Böden trotz geringerer Erträge wieder als Anbauflächen dienten. Vorläufig aber nahm eine auf Rindvieh und Schweine konzentrierte Viehzucht zu, wobei die Rinder wichtigster Fleischlieferant waren. Zudem setzte eine gezielte Viehzucht zur Erhöhung der Leistungskraft sowie der Fleischerträge ein. Als kritisch erwies sich die Winterfütterung, die oft zu einer deutlichen Gewichtsabnahme führte; daher erfolgten der Verkauf und die Schlachtung von Vieh besonders im Herbst. Die Haltung von Zugvieh und besonders von Pferden gestaltete sich kostenintensiv. Obwohl Schafe neben Fleisch auch Wolle und Pergament lieferten, wurden sie – wenngleich bei steigender Tendenz – im Vergleich zu England oder Flandern in geringerer Zahl gehalten; Ziegen spielten gleichfalls eine nur nachrangige Rolle. Stadtnah errichtete Viehhöfe dienten eindeutig der Versorgung der jeweiligen Kommune. Im Kölner Umland befanden sich die großen Viehhöfe in der Hand der Geschlechter, welche die Landwirtschaft im Nahbereich der Stadt trotz der dortigen Herrschaft der Erz­ bischöfe gemeinsam mit den ihnen verbundenen geistlichen Grundherrschaften kontrollierten. Im Trierer Umland nahm die Schafzucht im 15. Jahrhundert deutlich zu, wobei die Tiere für die Fleischversorgung der Stadt in diesem Fall eine wichtige Rolle spielten, während der Dung der häufig im Besitz geistlicher Institutionen stehenden Herden in die Weinberge gelangte. Schwer einzuschätzen ist der Umfang der jedenfalls weitverbreiteten Geflügelhaltung. Als differenziert erwiesen sich auch die Reaktionen der Grundherren auf den drastischen Bevölkerungsrückgang des 14. Jahrhunderts. Ein Teil von ihnen, so die Klöster und Herren im südlichen Schwarzwald oder das 164

Agrarsektor

Fürststift Kempten, verschärfte die Leibherrschaft und forderte höhere Abgaben, was den Widerstand der Bauern provozierte.9 Andere kamen den Hintersassen mit Abgabenermäßigungen, Diensterleichterungen und Besitzrechtsverbesserungen entgegen, um sie auf diese Weise zum Bleiben zu bewegen, ihren Abzug in die Städte zu verhindern. Über das Ausmaß des ländlichen Liegenschafts- und Immobilienhandels lassen sich freilich nur selten konkrete Aussagen treffen. Ob es der Bevölkerung auf dem Land und in den Städten vor oder nach dem Schwarzen Tod um die Mitte des 14. Jahrhunderts generell besser ging, ist rückblickend nicht mehr mit hinlänglicher Sicherheit zu entscheiden. Noch für das 16. Jahrhundert lassen sich kaum exakte Angaben zu bäuerlichen Einkommen machen. Doch da Ländereien brach lagen und die Städte auf den Zuzug ländlicher Bevölkerung angewiesen blieben, stand den Bauern prinzipiell der Wegzug in die Kommunen oder in Agrarregionen mit für sie besseren Rechtsverhältnissen offen. Mehr oder weniger erfolgreiche Nichtabzugserklärungen, in denen sich die Bauern eidlich verpflichteten, ihre Herren nicht zu verlassen und die Böden weiterzubewirtschaften, sind zahlreich aus dem 15. Jahrhundert überliefert. In Bayern unterstützte die Landesherrschaft gegen den Widerstand des Adels und der kirchlichen Einrichtungen die Bauern in ihrem Streben nach besserem Erbrecht sowie weiteren Vergünstigungen, und in Oberbayern setzten sich Erblehen mit für die Hintersassen günstigeren Bedingungen durch. Doch handelten die bayerischen Herzöge nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern ihre Interessen lagen in der weiteren Zurückdrängung des adligen Einflusses und in der möglichst breiten Einbeziehung der Bevölkerung in den werdenden Territorialstaat, selbstverständlich inklusive ihrer Besteuerung. Dieser Verstaatungsprozess wurde nicht zuletzt durch ein möglichst einheitliches Recht zunächst in Oberbayern gefördert. Im fränkischen Raum verschwand die Leibherrschaft fast gänzlich oder sie reduzierte sich auf Anerkennungsabgaben. Hingegen verstärkten in den ostelbischen Gebieten die Grundherren während des 14. und 15.  Jahrhunderts einerseits ihre Zwangsrechte und Herrschaftsansprüche, um andererseits mit dem Erwerb sowie der Ausweitung gerichtsherrlicher Rechte die umfangreichen bäuerlichen Dienstverpflichtungen auch durchzusetzen, zusätzliche Frondienste einzuführen oder diese auszudehnen. Damit legten sie in diesem Gebiet bereits im 9 Matheus: Trier, S. 37. Claudia Ulbrich: Leibherrschaft am Oberrhein im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 58), Göttingen 1979.

165

Spätmittelalter

S­ pätmittelalter die Wurzeln für die Gutsherrschaft der Frühneuzeit, die bekanntlich erst im 19. Jahrhundert, teilweise noch später, ihr Ende finden sollte; erinnert sei an die ostelbischen Junker. Schon im 14. und 15. Jahrhundert hatten in diesen Gebieten die Adligen nicht mehr besetzte Bauernstellen in großem Umfang dem eigenen Land zugeschlagen. Eine Intensivierung erfuhr die Grundherrschaft im Nordosten und Osten des Reichs seit dem 16. Jahrhundert, begleitet von einem „Bauernlegen“, dem Vertreiben der Bauern von ihren Gütern vor dem Hintergrund einer zunehmenden Bodenknappheit. Nachdem die Bauern aufgrund der höheren Belastungen mit ihren Zahlungsverpflichtungen häufig im Rückstand waren, geschah dies auch mittels des preiswerten Aufkaufs von Bauernland durch den Adel, dessen Besitzungen in diesen Jahrzehnten nochmals anwuchsen. Die adligen Herren konnten nunmehr große Flächen mit entsprechenden Rationalisierungsvorteilen bestellen lassen, wenngleich die erzwungenen Frondienste wahrscheinlich die Arbeitseffektivität reduzierten. Mecklenburg und Pommern folgten erst im 17.  Jahrhundert. Eine ähnliche Entwicklung fand zu Beginn der Frühen Neuzeit in Ostholstein und Schleswig statt, wo die Grundherren ebenfalls ihren Besitz erweiterten und Bannund Gerichtsrechte intensivierten, die Hörigkeit seit der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts gleichfalls eine Ausdehnung erfuhr, die bäuerlichen Dienste und die von ihnen ausgehenden Belastungen vielfach drastisch stiegen. Etwa zeitlich parallel verbreitete sich in Schleswig und Holstein die Koppelwirtschaft, bei der die Böden nach einer mehrjährigen Nutzung für den Getreideanbau einige Jahre als Weide dienten. In all diesen Regionen zielten Grundherren und Adel darauf, in möglichst hohem Maße selbst von der verstärkten Nachfrage nach Agrarprodukten und deren steigenden Preisen zu profitieren. In ganz ähnlichen Formen verlief die Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert in Polen oder Ungarn. Vor allem im südwestdeutschen Raum mit seinen vielfach kleinräumigen Herrschaften teilte sich die Herrschaft in Grund-, Leib- und Gerichtsherrschaft auf, und in Gemengelage konnten den Bauern aufgrund rivalisierender Ansprüche der verschiedenen Herren durchaus Vorteile erwachsen, konkurrierten diese doch um Ansprüche und Zahlungen. Zudem waren die private und die öffentlich-rechtliche Sphäre noch miteinander vermischt. Seit dem 15. Jahrhundert und verstärkt im Laufe des 16. Jahrhunderts begannen die Landesherrschaften ihre Eingriffsrechte durchgängig zu verdichten. Sie erstrebten eine Rechtsvereinheitlichung und eine ­direkte Besteuerung ihrer nunmehrigen „Untertanen“. Derart überlagerten 166

Agrarsektor

keinesfalls konfliktfrei sukzessive frühmoderne Staatlichkeitselemente die lokalen oder regionalen Herrschaftsstrukturen. Mit Blick auf den gesamten Agrarbereich muss freilich grundlegend bedacht werden, dass aus bäuerlicher Feder keinerlei Quellen aus dem Spätmittelalter überliefert sind, sondern städtische Bürger, Adlige und Geistliche die Sichtweise prägten und damit nicht zuletzt das heutige Bild bäuerlichen Lebens vielfach determinierten. Und Autoren dieser sozialen Schichten charakterisierten die Bauern eben überwiegend als dumm und rückständig. Nicht selten dürfte gerade bei den Bürgern Neid eine Rolle gespielt haben, galt das Leben auf dem Land doch als preiswerter. In den Darlegungen aus humanistischer Feder sind zudem Übernahmen von antiken Autoren festzustellen. Zwar spielt der Bauernkrieg – oder die Bauernkriege – in den aktuellen Forschungsdiskussionen kaum eine Rolle, doch bildete er zumindest im Reichsgebiet eine wichtige Etappe jener langen Transformationsphase zwischen „Mittelalter“ und „Neuzeit“, bündelte doch gerade das 16. Jahrhundert in hohem Ausmaß Altes und Neues. Aufstände oder Revolten der Agrarbevölkerung ereigneten sich im Spätmittelalter europaweit, genannt sei stellvertretend die Peasant’s Revolt im England des 14. Jahrhunderts. Doch dürften sie, wiederum auf das Reichsgebiet bezogen, um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert eine neue Qualität gewonnen haben. Denn bereits bei den geplanten Bundschuherhebungen am Oberrhein ebenso wie beim „Armen Konrad“ in Württemberg wird eine regionale, teilweise überregionale Ausdehnung sichtbar, welche über die einzelnen Herrschaften mit ihren besonderen Konfliktpotenzialen hinausgriff. Der in den Bundschuhbewegungen aktive Joß Fritz tauchte zu Beginn des dortigen Bauernkriegs im Schwarzwald wieder auf. Die Bezeichnung „Bundschuh“ verweist übrigens auf das einfache Schuhwerk der Bauern im Gegensatz zu den Stiefeln der Adligen. Und selbst der Pfeiffer von Niklashausen 1474 lässt sich als ein Vorläufer der Aufständischen einschätzen. Allerdings müssen zur Erklärung des Phänomens etliche bereits erwähnte Aspekte wieder aufgegriffen werden.10 Vorab sei festgehalten: Die Einordnung der Erhebungen als „Bauernkrieg“ erfolgte schon zeitgenössisch vor allem aus Sicht der Obrigkeiten, welche aufgrund der zeitlichen Parallelen zwischen den Ereignissen be10 Zum Bauernkrieg vgl. u. a. Günther Franz: Der deutsche Bauernkrieg, 12., gegenüber der 11. unveränd. Aufl. Darmstadt 1984. Peter Blickle: Die Revolution von 1525, 4., durchges. u. bibliogr. erw. Aufl. München 2004. Horst Buszello/Peter Blickle/Rudolf Endres (Hg.): Der deutsche Bauernkrieg, 3., bibliogr. erg. Aufl. Paderborn u. a. 1995. Schulze: Geschichte, S. 89–111. Vgl. allgemeiner Peter Blickle: Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde., München 2000.

167

Spätmittelalter

fürchteten, überall derselben, möglicherweise allgegenwärtigen Bedrohung gegenüberzustehen. Gemeinsam war den Erhebungsgebieten ein hoher Grad an Verstädterung, eine ausgeprägte wirtschaftliche Entwicklung sowie ein Vorherrschen der Realteilung. Auch wenn der Bauernkrieg in Verbindung mit den reformatorischen Tendenzen sowie Fehden etlicher Reichsritter gesehen werden muss und eben kein isoliertes Ereignis bildete, lässt sich – trotz Vorläufern in Stühlingen und anderswo im südlichen Schwarzwald im Sommer 1524 – als sein Beginn der Januar 1525 erkennen. In diesem Monat, übrigens einer wenig arbeitsreichen Zeit im Agrarsektor, versammelten sich oberschwäbische Bauern, um ihre Forderungen zu artikulieren. Die im März vornehmlich von dem Kürschnergesellen Sebastian Lotzer sowie dem Memminger Prediger Christoph Schappeler verfassten „Zwölf Artikel“, die vielleicht schon im Oberrheingebiet vorformuliert worden waren, fanden aufgrund ihrer allgemein gehaltenen Forderungen eine weite Verbreitung, immerhin 25 Drucke sind überliefert. Ob sie als „das“ Programm der Aufständischen bezeichnet werden können, muss unverändert offenbleiben, kann aber zumindest für Thüringen, Tirol und Salzburg bezweifelt werden. Letztlich dürften die rechtlichen, ökonomischen und sozialen Voraussetzungen und die Herrschaftsbedingungen in den verschiedenen Regionen und Territorien für ein gemeinsames Programm zu unterschiedlich gewesen sein, wenngleich die Berufung auf das Evangelium eine einigende Klammer bildete. Die Zwölf Artikel beinhalteten in grober Zusammenfassung die grundsätzliche Aufhebung der Hörigkeit oder Eigenschaft, eine Reduktion von Abgaben und Diensten, die Erstattung tatsächlich oder angeblich den Gemeinden entfremdeter Allmenden, Wälder sowie Zehnten, eine an tradierten Normen orientierte Gerichtspraxis sowie Rechtsprechung unter Zurückdrängung römisch-rechtlicher Einflüsse mit ihren härteren Strafen und der durch sie verursachten Vermehrung der Delikte und nicht zuletzt die begrenzte Freigabe von Jagd und Fischfang, ebenso eine beschränkte Waldnutzung. Darüber hinaus flossen mit der Pfarrerwahl und der Predigt des sogenannten reinen Evangeliums lutherische und oberdeutschreformierte Forderungen ein. Mit diesem göttlichen Recht, an dem alle Forderungen gemessen werden sollten, war nun aber die Legitimationsgrundlage auch für weitreichende, zukünftige Ansprüche gefunden. Denn nur bereits in der Bibel belegte Abgaben galten den Bauern noch als hinreichend begründet. Zudem wurde auf dieser Basis jede in ihrer Interpretation unchristliche Herrschaft zu einer unrechten Herrschaft, gegen die 168

Agrarsektor

­ iderstand zu leisten als legitim erschien, standen diese Herrscher doch W letztlich dem Willen Gottes entgegen. Für die Mehrzahl ihrer Forderungen wählten die Verfasser die Zustände einer nicht näher definierten guten, alten Zeit als Vergleichsmaßstab und hoben damit auf ein altes Recht ab, welches es wiederherzustellen galt. Über die konkrete Ausgestaltung jenes alten Rechts herrschten allerdings verschiedene Ansichten, zumal ein lokal-regionaler Charakter dieser Rechtsvorstellungen betont werden muss. Analoges gilt für die Kritik an der sukzessiven Übernahme seinerzeit moderner römisch-rechtlicher Formulierungen in die Territorialrechte, die gleichfalls durch tradierte Rechtsfindungen auf dörflich-herrschaftlicher Ebene ersetzt werden sollten. Aus heutiger Sicht bildete jedoch gerade die zunehmende Rechtsvereinheitlichung, die auf territorialer Ebene noch Jahrzehnte und länger andauern sollte, ebenso wie die Durchsetzung der direkten Besteuerung der Einwohnerschaft ein wichtiges Element für den Aufbau frühmoderner Staatlichkeit, dazu traten fallweise Sondersteuern. Kersten Krüger spricht in diesem Zusammenhang von dem Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat.11 Die Staatsbildungsprozesse können hier indes nicht eigens thematisiert werden. Schon der überwiegend rückorientierte Bezugsrahmen nicht nur der Zwölf Artikel macht es in unseren Augen jedenfalls ausgesprochen problematisch, den Bauernkrieg als eine Revolution zu charakterisieren. Auf Oberschwaben folgten in rascher, geradezu lawinenartiger Folge die Erhebungen in Franken und Württemberg, dann im Elsass und im Schwarzwald, in der Pfalz sowie im Spätfrühjahr schließlich in Thüringen, Tirol und Salzburg, wo 1526 ein weiterer Aufstand stattfand. Ohne auf einzelne Ereignisse wie Erstürmungen von Burgen oder Klosterplünderungen einzugehen, sei nur knapp darauf verwiesen, dass im Sommer 1525 drei schwere Niederlagen der Bauernhaufen (Allgäuer, Baltringer und Seehaufen) gegen die Söldneraufgebote der Herren bei Elsaßzabern, Böblingen und in Frankenhausen letztlich bereits den Schlusspunkt bildeten. Voraus gingen die Artikulierung von Beschwerden, Ausgleichsverhandlungen, die Bildung von militärisch organisierten, überregionalen Bauernhaufen oder die Bildung einer christlichen Vereinigung, welche soziale und religiöse Aspekte verknüpfte; als christliche Vereinigung be11 Krüger, Kersten: Finanzstaat Hessen 1500–1567. Staatsbildung im Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat, Marburg 1980.

169

Spätmittelalter

zeichnete sich zuerst der Allgäuer Haufen. Allerdings blieb für die Mehrzahl der Bauern der lokale Bezugsrahmen mit seinen spezifischen Belastungen dominant, auch lässt sich fast durchgängig eine defensive Ausrichtung der Aufstände und ihrer Träger erkennen. In Südtirol hingegen forderte Michael Gaismair in seinen Landesordnungen ein egalitäres Gemeinwesen von Bauern und Bergknappen, während die Städte ebenso wie der Adel aller Vorrechte verlustig gehen und die Mauern der Städte eingerissen werden sollten. Der Miltenberger Keller des Mainzer Erzbischofs, Friedrich Weigandt, präsentierte gleichfalls einen weiter reichenden Ordnungsentwurf, wenngleich nicht mit einer so ausgeprägt egalitären Tendenz wie Gaismair. Doch auch Weigandt wollte die großen Handelsgesellschaften abgeschafft sehen, nannte 10 000 Gulden Hauptgut als Obergrenze, betonte auch die Negativwirkung von Zöllen in Gestalt der Verteuerung der Waren. Bereits im Mai 1525 forderte er zudem eine reichsweite Vereinheitlichung der Längen- und Hohlmaße sowie der Gewichte, da die Vielzahl der Einheiten gerade den gemeinen Mann überfordere und Betrügereien geradezu begünstige. Auch eine Münzvereinheitlichung sah er als unabdingbar an. In Thüringen stand Thomas Müntzer mit seinem eschatologischen Programm im Zentrum. Luther hingegen sah durch die Forderungen und die Erhebung der Bauern „seine“ Reformation als gefährdet an, wandte sich schließlich massiv gegen die Aufständischen und forderte die Obrigkeiten zu brutaler Repression auf. Wenn wir einen Blick auf die Motive der Aufständischen werfen, so ist die lange prägende Einschätzung von Günter Franz,12 der vornehmlich den Widerstand der bäuerlichen Gemeinden gegen die erstarkenden Territorialstaaten ins Zentrum rückt, einem differenzierteren, aber eben auch uneindeutigen Bild gewichen. Wie in den Städten lässt sich in den Dörfern eine breite soziale Spreizung feststellen, hier zwischen den vermutlich wenigen vermögenden Vollbauern und einer unterschiedlich großen Anzahl von Kleinbauern oder Tagelöhnern. Schon im 15. Jahrhundert bereitete es nach Ausweis zahlreicher Rechnungen auf der einen Seite keine oder kaum Probleme, selbst in den Spitzenzeiten ländlichen Arbeitsanfalls, und damit vornehmlich zur Erntezeit, eine ausreichende Anzahl von Hilfskräften zu rekrutieren. Auf der anderen Seite profitierten die überwiegend für die städtischen Märkte produzierenden Vollbauern von den seit etwa 1470 steigenden Preisen für Lebensmittel und Sonderkulturen. 12 Günther Franz: Der deutsche Bauernkrieg, 12., gegenüber der 11. unveränd. Aufl. Darmstadt 1984.

170

Agrarsektor

Die Beweggründe der Bauern lassen sich drei Motivsträngen zuordnen, die aufgrund ihrer Unschärfe sowie ihrer Verquickungen sicherlich weiterer Diskussionen bedürfen: Unterschieden werden demnach wirtschaftliche, politische und individuelle, die einzelne Person betreffende Handlungsmotive. Zu den wirtschaftlichen Forderungen zählen solche nach Verbesserung der grundherrschaftlichen Pachtbedingungen – die sich aber auch als rechtliche Rahmenbedingungen fassen ließen –, nach Abgabenund Steuerreduktionen, um am Wirtschaftswachstum stärker teilzuhaben. Als politisch können Forderungen nach höherer Autonomie der Dorfgemeinden, nach Teilhabe an der Gerichtsbarkeit sowie nach einer politischen Repräsentation auf territorialer Ebene gelten. Dabei dürfte sich der letztgenannte Wunsch nach Landstandschaft nur auf wenige Aufstandsgebiete mit einschlägigen Traditionen wie beispielsweise Tirol beschränkt haben. Allerdings sind der Territorialisierungsprozess und das Eindringen der Obrigkeit in die Dorfgemeinden schon im frühen 15. Jahrhundert als Voraussetzungen für die Ausbildung verdichteter Herrschaft zu erkennen. Als ein auf das Individuum abzielendes Motiv wird die zumeist naturrechtlich begründete Aufhebung der Leibeigenschaft oder Hörigkeit betont, die übrigens schon der Schwabenspiegel am Ende des 13.  Jahrhunderts forderte. Beispielsweise in den fränkischen Gebieten spielte sie zwar kaum noch eine Rolle, im Südwesten stellte sie jedoch aufgrund teilweiser weiterer Verschärfungen eine massive Belastung dar. Damit verbundene Beschwerden über unmäßig eingeforderte Frondienste, die Unterbindung der Freizügigkeit, das Verbot der ungenossamen Ehe, das Prinzip der ärgeren Hand oder die Todfallabgaben fanden vielfach Erwähnung. Freilich erwies sich die Herrschaft über die Bauern als unterschiedlich stark verdichtet. Nur wenn sich deren drei Hauptelemente Grund-, Leibund Gerichtsherrschaft in der Hand eines adligen, kirchlichen oder städtischen Herrn bündelten, verfügte dieser über die Möglichkeit einer intensiven Herrschaftsausübung, überlagert allerdings zunehmend von der Landesherrschaft. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass große Teile des Adels einem hohen Mediatisierungsdruck ausgesetzt waren, der frühmoderne Staat ihre tradierten Rechte beschnitt und nicht zuletzt ein Gewaltmonopol im Inneren durchzusetzen trachtete. Nicht umsonst gingen dem Bauernkrieg Auseinandersetzungen der Territorialherren mit einem ausgeprägt antiklerikal agierenden Adel wiederum im Südwesten und am Mittelrhein voraus. Als Protagonisten lassen sich erneut Franz von Sickingen oder Götz von Berlichingen nennen, unterstützt 171

Spätmittelalter

durch Schriften des Ulrich von Hutten, der seit 1520 auf den Besitzungen Sickingens lebte. Lange Zeit galten vor allem die Mitglieder der dörflichen Führungsschichten als Hauptträger der Unruhen, doch ist diese These weder belegt noch widerlegt. Denn gerade bei diesen widersprachen sich wirtschaft­ licher Erfolg auf der einen und Abgabenforderungen und Abhängigkeiten auf der anderen Seite. Größere Gewissheit würden hier erst die Auswertung von Steuerlisten oder vergleichbaren Verzeichnissen und ihr Abgleich mit den namentlich bekannten Aufstandsteilnehmern bieten, bei adäquater Quellenüberlieferung eine durchaus lohnende Forschungsaufgabe. Immerhin konnte für den „Armen Konrad“ 1514 in Württemberg wahrscheinlich gemacht werden, dass hier auch Angehörige der dörflichen Mittelschichten Aktivitäten entfalteten.13 Dies verweist auf die Dorfgemeinden als einen Träger der Unruhen. Peter Blickle stellt dagegen den „gemeinen Mann“ in das Zentrum des Aufstandsgeschehens, um derart zumindest auch Teile der städtischen Bevölkerung einbeziehen zu können. Als „gemeinen Mann“ bezeichnet er den nicht herrschaftsfähigen Untertanen im Gegensatz zur Obrigkeit, und zwar auf dem Land wie in den Städten. Doch lässt sich ein Zusammengehen auch nur einer mittleren oder größeren Reichsstadt mit einem der Bauernhaufen nicht erkennen, der StadtLand-Gegensatz dürfte trotz aller nicht nur wirtschaftlichen Verflechtungen für ein derartiges Bündnis zu ausgeprägt gewesen sein. Weiterhin zielten diese Städte auf eine zumindest ökonomische Dominanz ihres Umlands, traten den Grundherren vergleichbar mit Herrschaftsansprüchen auf. Sich etwa zeitgleich abspielende innerstädtische Unruhen beruhten ganz überwiegend auf Auseinandersetzungen und Spannungen in den einzelnen Kommunen, bei denen Steuererhöhungen, Münzverschlechterungen und Obrigkeitsansprüche der Räte im Zentrum standen. Als Stadt- und Landbewohnern gemeinsame Belastung lassen sich mithin zwar ganz allgemein der Steuerdruck und eine versagte politische Partizipation nennen, der daraus resultierende Unmut richtete sich jedoch gegen die jeweils eigene Obrigkeit. Derart lässt sich der Bauernkrieg immerhin in einen vom Erstarken der staatlichen Gewalten verursachten Systemkonflikt einordnen. Nürnberg einigte sich übrigens vertraglich mit der 13 Schmauder, Andreas: Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad. Ein Beitrag zum bäuerlichen und städtischen Widerstand im Alten Reich und zum Territorialisierungsprozeß im Herzogtum Württemberg an der Wende zur frühen Neuzeit, Leinfelden-Echterdingen 1998.

172

Agrarsektor

großen Zahl seiner bäuerlichen Hintersassen und reduzierte in erster Linie deren Abgabenbelastung. Anders war die Lage beispielsweise in den württembergischen Kleinstädten, die mit ihrer agrarwirtschaftlichen Ausrichtung dörflichen Strukturen wesentlich näherstanden, sodass es hier zu Verbindungen kam. Doch das weitgehende Nichtzusammengehen lässt keinen Raum für eine Interpretation des Bauernkriegs als eine frühbürgerliche Revolution. Als Vorbild bei der Formulierung der Forderungen diente vielmehr gerade in Oberdeutschland die Eidgenossenschaft mit ihren zumindest an der Oberfläche gemeindlichen, egalitären Strukturen – trotz der dortigen scharfen und gelegentlich eskalierenden Gegensätze zwischen Stadt- und Landkantonen. Letztlich lassen sich die Forderungen der Aufständischen bei nur wenigen neuen Elementen in ihrer Mehrzahl als in der Vergangenheit verwurzelt kennzeichnen, wenngleich eine Durchsetzung der Forderungen in ihrer Gesamtheit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft massiv verändert, ja umgewälzt hätte. Nur in dieser Hinsicht, mit Blick auf das potenzielle ­Ergebnis, kann eingeschränkt von einer Revolution die Rede sein. Eine planmäßige Enteignung des Adels dürfte dennoch kein Ziel der Aufständischen gewesen sein, seine Herrschaftsansprüche wurden nicht grund­ legend infrage gestellt. Auf der anderen Seite führten selbst die Nieder­ lagen der Bauernhaufen, abgesehen von den unmittelbaren Folgen, den Hinrichtungen sowie den auferlegten Strafzahlungen, zu keiner generellen Schlechterstellung. Denn ein Teil ihrer Beschwerden und Forderungen wie günstigere Besitz- und Pachtverhältnisse fand Aufnahme in sich anschließende, vertragliche Regelungen. Weiter vorangetrieben wurde der Ausbau der frühmodernen Territorialstaaten, verbunden mit einer weiteren Verrechtlichung der Beziehungen und in deren Gefolge einer steigenden Zahl von Prozessen. Die erneute Massierung von Unruhen in den 1580er-Jahren mit einem Schwerpunkt im Südwesten dürfte dann neben weiteren Problemen wie steigenden Steuerleistungen an das Reich zumindest teilweise der Kleinen Eiszeit geschuldet sein, welche die Ernteerträge massiv beeinträchtigte und die Lebensgrundlage bedrohte. Während des 16. Jahrhunderts standen die bäuerlichen Gemeinden ohnehin durch die Territorialstaaten auf der einen und die nochmals wachsende Marktverflechtung auf der anderen Seite unter Druck. Insbesondere ließ Letztere die Interessen der Dorfbewohner immer weiter auseinandergehen. Eine deutliche Kritik an der adligen Sonderstellung und der Verteilung des Reichtums zeigt sich denn auch im 16. und frühen 17. Jahrhundert in den 173

Spätmittelalter

Utopien eines Thomas Morus oder Tommaso Campanella, während ­Johann Valentin Andreae die gesellschaftliche Verteilung der Arbeits­ organisation massiv angriff.

Wald- und Forstwirtschaft Um 1300 notierte, durchaus erschreckt, ein Dominikaner in Colmar als Folge des inzwischen gewachsenen Holzeinschlags: „Gießbäche und Flüsse waren damals [etwa 100 Jahre zuvor; B. F.] noch nicht so groß wie jetzt, weil die Wurzeln der Bäume die Feuchtigkeit von Schnee und Regen längere Zeit in den Bergen zurückhielten.“14 Schon diese Aussage zeigt, dass die Zeitgenossen Umweltveränderungen wahrnahmen, vor dem Hintergrund ihres Wissens zu erklären versuchten und Alternativlösungen entwickelten. Aufgrund der langfristigen Entwicklungsstränge greifen wir in diesem Kapitel nochmals zeitlich in das Hochmittelalter zurück, um die Veränderungen deutlicher vor Augen treten zu lassen. Eine Übernutzung siedlungsnaher Wälder machte sich sukzessive im 12. und 13. Jahrhundert bemerkbar, oder zumindest liegen nunmehr einschlägige Nachrichten vor. Als ein frühes Beispiel lässt sich ein Diplom Friedrichs I. Barbarossa aus dem Jahr 1164 anführen, welches den Bewohnern des elsässischen Hagenau zwar zugestand, Brenn- und Bauholz ebenso wie Laub als Einstreu aus dem herrschaftlichen Forst zu entnehmen. Doch durften sie Buchen und Eichen nicht schädigen, von denen wiederum die Eichen ausschließlich als Bauholz dienen sollten. Eine weitere Bestimmung verbot dem bei Hagenau gelegenen Kloster Neuburg das Eintreiben von Schafen in den Forst. Neben dem Schutz der herrschaftlichen Wälder, der Wahrung des eigenen Besitzstandes und der Betonung der Hoheitsrechte kann als Ursache für diese Beschränkungen ein Wald­ ­ flächenrückgang vermutet werden, der möglicherweise aufgrund der Rodungs­tätigkeiten dieses Jahrhunderts einsetzte. Vornehmlich seit der zweiten Jahrhunderthälfte liegen Regelungen über Nutzungsrechte am Wald und dessen Holzbeständen in größerer Zahl vor. Wenn erste Abgrenzungen und präzisere Formulierungen der verschiedenen Rechtsansprüche 14 Die Zustände des Elsasses im Beginn des 13. Jahrhunderts, Beschreibung des Elsasses; Beschreibung Deutschlands, in: Annalen und Chronik von Kolmar, neu bearb. v. W. Wattenbach, Leipzig 31940, S. 134.

174

Wald- und Forstwirtschaft

erfolgten, muss dies aber längst nicht in jedem Fall auf Holzmangel zurückzuführen sein. Auch gilt für die Bischofsviten, dass sie nicht selten eine einseitig – in erster Linie zugunsten der geistlichen Institute – gefilterte Sicht der Dinge wiedergibt, da die Gegenseite, die Landbevölkerung, ihre Forderungen noch nicht schriftlich formulieren konnte. Den einsetzenden Rodungsverboten des 12. Jahrhunderts im Altsiedelland stand in den (Mittel-)Gebirgen freilich noch eine Förderung der Rodungen gegenüber.15 Zugleich dürfte die Verbreitung der Dreifelderwirtschaft bei ohnehin gestiegener Anbaufläche und rückläufigen dörflichen Brachen die Konkurrenz um Waldweideflächen für Vieh verschärft haben. Es erstaunt keinesfalls, dass die Zisterzienser häufig in solchen Streitigkeiten als Prozesspartei auftauchen, zählten doch Wälder oder Waldstücke vielfach zu ihren Grangien und ließen sie durch ihre Laienbrüder eine intensive Landwirtschaft betreiben. Mit zunehmender Tendenz geriet auch Altsiedelland mit bereits bestehenden Höfen und sonstigen Rechtsansprüchen durch Schenkung, Tausch oder Kauf in ihre Hände. Mittels Generalkapitelbeschlüssen der Jahre 1191 und 1192 sollte schließlich der käufliche Erwerb von weiterem Landbesitz weitgehend beschränkt werden, um so dem Vorwurf der Habgierigkeit des Ordens zu entgegnen. Ihre Überschüsse konnten die agrarischen Großbetriebe, und als solche lassen sich etliche Kloster- und besonders Zisterzienserhöfe charakterisieren, in den rasch wachsenden Städten absetzen. Einer der wichtigsten Stadthöfe der Zisterzienserabtei Eberbach (Rheingau) lag verkehrsgünstig am Kölner Rheinufer: Ein Inventar des Jahres 1485 zählte immerhin 16 Betten in dem Gebäude, was seine Bedeutung unterstreicht; 1503 belief sich ihre Zahl sogar auf 23. Im Jahr 1467 ließ die Abtei immerhin 4165 Hektoliter Wein nach Köln verschiffen, was den höchsten Wert in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts darstellt; witterungsbedingt waren es dagegen 1503 gerade einmal 582 Hektoliter.16 Die infrage stehenden Nutzungsrechte am und im Wald waren auf 15 Dirlmeier: Friedrich Barbarossa, S. 512. Epperlein: Waldnutzung, passim, mit zahlreichen Beispielen. Hasel/Schwartz: Forstgeschichte, S. 60 f. Vgl. Aberth: History, S. 92–97. 16 Vgl. z. B. Wilhelm Janssen: Zisterziensische Wirtschaftsführung am Niederrhein: Das Kloster Kamp und seine Grangien im 12.–13.  Jahrhundert, in: Walter Janssen/Dietrich Lohrmann (Hg.): Villa – curtis – grangia. Landwirtschaft zwischen Loire und Rhein von der Römerzeit bis zum Hochmittelalter. Economie rurale entre Loire et Rhin de l’epoque gallo-romaine au XIIe–XIIIe siècle, München 1983, S.  205–221. Gabriele Schnorrenberger: Wirtschaftsverwaltung des Klosters Eberbach im Rheingau, 1423–1631 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, XXIII), Wiesbaden 1977, S. 17. Werner Rösener: Die Stadthöfe der Zisterzienser im Spannungsfeld der Stadt-LandBeziehungen im Hochmittelalter, in: Claudia Dobrinski/Brunhilde Gedderth/Katrin Wipfler (Hg.): Kloster und Wirtschaftswelt im Mittelalter (MittelalterStudien, 15), München 2007, S. 85–99.

175

Spätmittelalter

eine rechtliche Grundlage zu stellen, zu welchem Zweck zunächst noch wenig umfangreiche Regelwerke entstanden. Auch mussten erste, ebenfalls noch rudimentär ausgeprägte Institutionen zur Überwachung dieser Bestimmungen geschaffen werden. Waldordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts zeigen dann eine deutlich gestiegene Regelungsdichte, benennen das zuständige Personal und die zuständigen Gerichte. Insgesamt lag der qualitative und quantitative Schwerpunkt der Klagen über einen gravierenden Holzmangel aber zeitlich später: in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts, wobei der Grad der Holznot ebenso schwer nachträglich bestimmbar ist wie der Zustand der Wälder. Zedler bezeichnete in seinem bekannten Universal-Lexikon Eisenhütten und ähnliche Betriebe als „Wald-Verderber und Holtzfresser“.17 Wenngleich der Holzhandel seinen Höhepunkt ebenfalls erst im 18. Jahrhundert erlebte, wobei der Holzeinschlag tief in die Mittelgebirge am Oberrhein hineinreichte, befuhren Flöße doch schon zuvor den Rhein, um das Niederrheingebiet und die Niederen Lande mit Holz, in erster Linie Bauholz, zu versorgen. So forderte etwa Köln bereits 1441 die Holzmenger auf, im Oberland, also ­vornehmlich im Oberrheingebiet, Holz aufzukaufen, und zwar „so vil sy ­willen und kunnen“. Dies verdeutlicht die frühe Notwendigkeit des Holz­ bezugs über größere Entfernungen für die niederrheinische Metropole. Buchen erwiesen sich übrigens als nicht flößbar, Eichen mussten zwischen Tannen oder Fichten gebunden werden, um ihr Sinken zu verhindern. Schon im späten Mittelalter versorgten sich die Niederen Lande zusätzlich mit Holz von der Ostseeküste. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, dürften die Holzvorräte dennoch bis in das 18. Jahrhundert hinein ausgereicht haben, in welchem Jahrhundert dann aber der Mangel an Holz regional auf die wirtschaftliche Entwicklung limitierend wirken konnte. In den Jahrhunderten zuvor dürfte mancher „Holzmangel“ schon von den Zeitgenossen überzeichnet worden sein. Im europaweiten Vergleich sollen im 18. Jahrhundert die Energiekosten bei aller Problematik derartiger Schätzungen in Polen, Deutschland und Österreich am geringsten gewesen sein, in Spanien am höchsten.18 17 Below/Breit: Wald, S.  41, 43. Johann Heinrich Zedler: Grosses Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden wurden, Bd. 52, Leipzig/Halle 1747, S. 1166. 18 Dietrich Ebeling: Organisationsformen des Holländerholzhandels im Schwarzwald während des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Auf den Spuren der Flößer. Wirtschafts- und Sozialgeschichte eines Gewerbes, hg. v. Hans-Walter Keweloh, Stuttgart 1988, S. 81–99. Kuske (Hg.): Quellen, Bd. 1, S. 336.

176

Wald- und Forstwirtschaft

Holz als wichtige Ressource Neben Wasser blieb Holz bis ins 19. Jahrhundert der wichtigste Energieträger, während Windmühlen mit einem räumlichen Schwerpunkt im Norden und Nordwesten des Reichs langsamer Verbreitung fanden. Die Wälder lieferten das benötigte Brennholz zum Kochen, zum Heizen sowie für gewerbliche Zwecke – Bäckereien und Schmieden beispielsweise hatten einen besonders großen Bedarf an Brennmaterial. Gleichfalls in großen Mengen wurde Werk- und Bauholz benötigt. Zahlreiche Handwerker verarbeiteten Holz zu Fässern als den wichtigsten Transportbehältern der vorindustriellen Zeit, zu Bottichen, Wagen, Holzgeschirr wie Löffeln, Tellern und Schüsseln für den alltäglichen Bedarf, Bänken, Truhen sowie weiterem Mobiliar. Die Verwendungsmöglichkeiten für Holz waren fast grenzenlos. Neben den teuren Steinhäusern entstanden nicht nur in den Städten Ständer- und Fachwerkhäuser; Scheunen und andere Nutzgebäude wurden von den Besitzern oder den beauftragten Handwerker ohnehin aus Holz errichtet. Für ein Bürgerhaus belief sich die erforderte Holzmenge auf 12 bis 36 (Eichen-)Stämme, ein Kirchendachstuhl verschlang wohl durchschnittlich 300 bis 400 Bäume; für den Bau der Münchener Frauenkirche wurden zwischen 1468 und 1488 sogar ungefähr 20 000 Stämme auf der Isar zum Bestimmungsort geflößt.19 Als Bauhölzer wurden ganz überwiegend Eichen und Tannen verwendet; Buchen hingegen dürften zu diesem Zweck als ungeeignet gegolten haben, denn sie finden nur selten Erwähnung. Auf den sandigen Böden des Nordens und Nordostens spielte daneben die ­Kiefer eine wichtige Rolle. Hoher Beliebtheit als Bauholz erfreute sich auch die Weißtanne, welche freilich nur in begrenzten Regionen wuchs, so im südwestlichen Mitteleuropa in den Alpen und ihrem Vorland, im Schweizer Jura, auf der Südwestalb sowie am oberen Neckar und im Schwarzwald. Allerdings führte ein umfangreicheres Abholzen von Weißtannen zu einem prinzipiell unerwünschten Rückgang der Waldbienenwirtschaft, da



Robert C. Allen: Was there a Timber Crisis in Early Modern Europe?, in: Economia e Energia, S. 469–482, hier S. 473. 19 Dirlmeier/Fouquet/Fuhrmann: Europa, S. 9. Schubert: Wald, S. 259. Sven Schütte: Kulturgeschichtlicher Befund aus dem hoch- und spätmittelalterlichen Göttingen und der Frühneuzeit, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, hg. v. Dietrich Denecke/Helga-Maria Kühn, Göttingen 1987, S. 392–421, hier S. 401, gibt den Holzverbrauch für ein durchschnittliches Handwerkerhaus mit erstaunlichen 400 bis 500 laufenden Metern Balkenwerk aus Vollstämmen (ungeteilten Stämmen) an.

177

Spätmittelalter

die Insekten diese Bäume bevorzugten.20 Seit etwa 1300 setzte sich die technische Neuerung der etagenweisen Abzimmerung der Fachwerkhäuser durch, die hinfort vornehmlich in Oberdeutschland angewandt wurde. Dies reduzierte immerhin die Nachfrage nach geraden, langen Stämmen. Seinen hölzernen Tribut forderte ferner der Wachstumssektor des Schiffbaus, und selbst die Druckerpressen waren trotz ihrer für den Druck benötigten Bleilettern sowie etlicher Metallteile überwiegend hölzern. Nicht zu vergessen ist auch, dass ein sumpfiger Untergrund vor jeglichen Hochbaumaßnahmen durch das Einbringen vornehmlich von Eichenstämmen, aber auch anderen Hölzern, stabilisiert werden musste. Enorme Holzmengen verschlangen zudem der Montansektor, der Salinenbetrieb sowie die Glashütten. Besonders für Teile Niederdeutschlands, aber nicht nur dort, dürfen die Kalkbrennereien und Ziegelöfen nicht vergessen werden, die für die Herstellung von Mauer- und Dachziegeln gleichfalls beträchtliche Holzmengen verschlangen; Tongruben lieferten den dafür notwendigen Grundstoff. Gerade in holzintensiven Gewerken wie Ziegelbrennereien oder auch Salinen muss das Brennmaterial zunehmend zu einem erheblichen Kostenfaktor geworden sein. So wissen wir beispielsweise – selbst wenn keine präzisen Mengen- oder Preisangaben rekonstruiert werden können –, dass um 1400 der Anteil der Brennholzbeschaffung der Lüneburger Saline bei gut einem Drittel der Produktionskosten lag. Kommunale Ziegeleien entstanden mehrheitlich im Norden des Reichs in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts; sie produzierten sowohl für das städtische als auch für das private Bauwesen. Allerdings besaß beispielsweise auch die Stadt Straßburg einen städtischen Ziegelmeister, den der Straßburger Rat 1405 anwies, nur dort Material auszuheben, wo es für die Stadt ungefährlich sei, damit die Infrastruktur keinen Schaden nahm. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verbot der Rat der Stadt Speyer wegen des hohen Holzverbrauchs den Verkauf von Ziegeln nach außerhalb der Mauern. Um Anreize für den Steinbau zu setzen und so die Feuergefahr zu reduzieren, boten ­städtische Ziegelöfen ihre Produkte vergleichsweise billig an.21 20 Hansjörg Küster: Die Umwelt der mittelalterlichen Stadt, in: Stadtluft, S. 347–350, hier S. 349. Lorenz: Wald, S. 28. 21 Antje Sander-Berke: Baustoffversorgung spätmittelalterlicher Städte Norddeutschlands (Städteforschung, A: 37), Köln/Weimar/Wien 1995, S. 32–46. Ulf Dirlmeier/Gerhard Fouquet: Eigenbetriebe niedersächsischer Städte im Spätmittelalter, in: Meckseper (Hg.): Stadt, 3, S. 257–279, hier S. 258– 268. Eheberg: Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, S. 38. Der Bamberger Bauhof erwarb dagegen Ziegel und Kalk im Umland der Stadt; Sichler: Bauverwaltung, S. 338–345. Erich

178

Wald- und Forstwirtschaft

Generell hing die gesamte gewerbliche Produktion in hohem, heute kaum mehr vorstellbarem Maße von der Natur ab, welche sowohl die benötigten Rohstoffe lieferte wie auch die gleichfalls notwendige Energie. Als Hauptmerkmale der Energienutzung in Agrargesellschaften sind der Fluss­ charakter, die geringe Energiedichte sowie die fehlende Umwandelbarkeit einzelner Energieformen zu nennen. Letztlich blieb der Ausnutzungsgrad der Energieträger schon deswegen gering. Die immense Bedeutung des Holzes für die vorindustriellen Gesellschaften betonte bereits Werner Sombart nachdrücklich: „Dieser [der Holzgebrauch] war nun, wie ich schon an verschiedenen Stellen hervorzuheben Gelegenheit gehabt habe, in aller früheren Zeit, das heißt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, ein so allgemeiner, daß wir uns heute nur schwer eine richtige Vorstellung machen können. Das Holz griff in alle Gebiete des Kulturdaseins hinein, war für alle Zweige des Wirtschaftslebens die Vorbedingung ihrer Blüte und bildete so sehr den allgemeinen Stoff aller Sachdinge, daß die Kultur vor dem 19. Jahrhundert ein ausgesprochen hölzernes Gepräge trägt: sie bleibt auch in ihrer stofflich-sinnlichen Eigenart eine ‚organische‘.“22 Früher als im Reichsgebiet sind Beschränkungen beim Holz- bzw. Brennholzbezug im Gebiet der französischen Krone bereits für das 11. Jahrhundert überliefert. Seit dem 12.  Jahrhundert dürfte dort zumindest im Umkreis einiger Städte nicht mehr genügend Totholz als Brennmaterial verfügbar gewesen sein, sodass die Entnahme etlicher Weichholzarten zugestanden werden musste; gleichfalls noch im 12. Jahrhundert häuften sich Prozesse um die Waldnutzung sowie den Holzbezug. Neben dem Adel und den geistlichen Instituten sicherten sich im Reich seit dem 13. Jahrhundert zunehmend die Städte Waldeigentum oder zumindest Berechtigungen zur Nutzung von Forsten. Die Ansprüche der weltlichen und geistlichen Herren in Konkurrenz zur bäuerlichen Bevölkerung thematisierte der im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts wirkende Freidank drastisch: „Die fürsten twingend mit gewalt velt, stein, wazer und walt, dar zuo beidin unde zam; sie taeten lutte gerne alsam, der muoz uns doch gemeine sin. Mohtens uns der sunnen schin verbieten, ouch wint unde regen, man mueste in zins mit

Maschke: Die Stellung der Reichsstadt Speyer in der mittelalterlichen Wirtschaft Deutschlands, ND in: ders.: Städte, S. 100–120, hier S. 102. Stein: Akten, II, S. 212; Schultheiß: Satzungsbücher, S. 149. Vgl. z. B. Solleder: München, S. 274–281. 22 Reininghaus: Gewerbe, S. 11. Sieferle: Nachhaltigkeit, S. 47. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus, Bd. II: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, 2., neu bearb. Aufl. München/Leipzig 1916, S. 1138. Vgl. knapp und prägnant Lorenz: Wald, S. 25 f.

179

Spätmittelalter

golde wegen.“23 Ein ähnliches Motiv, bezogen jedoch auf die englischen Steuerbehörden, hat übrigens George Harrison gut 700 Jahre später in seinem Beatlessong Taxman wieder aufgegriffen.

Waldnutzung In den Wäldern, an ihren Rändern oder auf Lichtungen wuchsen Beeren, vornehmlich wohl Blaubeeren, Brombeeren, Himbeeren sowie Walderdbeeren, je nach Standortbedingungen Schlehen und verbreitet Nüsse. Wie die Beeren konnte Wildobst die ansonsten eintönigen Mahlzeiten breiter Bevölkerungsschichten bereichern und die benötigten Vitamine liefern. In erster Linie sind, wie in den späteren Obstgärten, Äpfel und Birnen zu nennen, daneben Pflaumen sowie Zwetschgen. Aus Bucheckern konnte wie aus Nüssen Öl gewonnen werden. In nicht zu unterschätzendem Ausmaß dienten die Wälder auch der Viehweide. Der Schweineeintrieb in die Wälder erfolgte meist in zwei Zeitfenstern: zunächst im Frühjahr von März bis Juni, dann im Herbst als der entscheidenden Mastzeit der Tiere. Erste Beschränkungen der Tierzahl je Flächeneinheit sind jedoch schon für das 9. Jahrhundert belegt. Im Spätmittelalter bestimmten die Waldbesitzer die Zahl der mit ihrer Zustimmung eingetriebenen Tiere häufig nach den (erwarteten) Erträgen an Bucheckern und Eicheln, wobei teilweise Abgaben pro Tier zu zahlen waren. In Nordwestdeutschland wurde die Dauer der Waldschweinemast jährlich neu festgelegt, und zwar zumeist um die Eckpunkte 1. Oktober und 11. November; während des Sommers fraßen die Schweine hier nur in den Randzonen der feuchten Niederwälder. Nicht von der Hand zu weisen ist die Erkenntnis, dass der Nutzen der Wälder schon im Spätmittelalter und wohl noch bis ins 17. Jahrhundert hinein primär nach den potenziellen Mastmöglichkeiten bewertet wurde, die je nach klimatisch bedingter Ertragslage von Jahr zu Jahr schwankten; der Bedeutung nach erst an zweiter Stelle folgte das Ausmaß der möglichen Holzentnahme.24 23 Lohrmann: Energieprobleme, S. 307–312. Fridankes Bescheidenheit v. Heinrich Ernst Bezzenberger, 1872, ND Aalen 1962, S. 136 f. Eine Übertragung bietet Freidanks Bescheidenheit, Auswahl, mittehochdeutsch – neuhochdeutsch, übertragen u. hg. v. Wolfgang Spiewok, Berlin 21991: „Die Fürsten nehmen mit Gewalt Feld und Wasser, Stein und Wald, das zahme und das wild’ Getier. Sie nähmen selbst das Luftrevier, doch bleibt uns dies noch insgemein. Sie möchten Regen, Sonnenschein und Wind verbieten und uns zwingen, dafür den Zins in Gold zu bringen.“ 24 Lamprecht: Wirtschaftsleben, S. 491, 521 f. Albrecht Timm: Die Waldnutzung in Nordwestdeutschland im Spiegel der Weistümer. Einleitende Untersuchungen über die Umgestaltung des Stadt-LandVerhältnisses im Spätmittelalter, Köln/Graz 1960, S. 59 f. Lorenz: Wald, S. 26.

180

Wald- und Forstwirtschaft

Die hohe Bedeutung der Wälder für die Mast belegt schon für die erste Hälfte des 12.  Jahrhunderts eine Vertragserneuerung des Hildesheimer Bischofs mit benachbarten Ansiedlern: Bei gutem Bucheckerwachstum durften die Neusiedler in den bischöflichen Wäldern ebenso viele Schweine mästen wie die hörigen Hintersassen des Bischofs. Erwies sich aber nur die Eichelmast als gut, bevorzugte das Abkommen die Hörigen, welche in diesem Fall doppelt so viele Tiere in den Wald eintreiben durften wie die Zuzügler. Weiterhin gestand der Vertrag von 1134/37 den Neusiedlern das Fischerei- und Jagdrecht mit Ausnahme der bischöflichen Wildbanne zu. Bei der Schweinemast erfreuten sich Eicheln allgemein größerer Beliebtheit, da sie einen kräftigen und angenehmen Geschmack des Schinkens bewirkten, während eine reine Bucheckermast den Schinken tranig schmecken ließ. Daneben dürften Kastanien, Wildobst und Nüsse zur Ernährung der Tiere beigetragen haben. Lichtungen in den Wäldern boten dem Vieh weitere Möglichkeiten, Nahrung zu finden. Das Nahrungsspektrum der „Hausschweine“ blieb übrigens bis zum Ende der Frühen Neuzeit weitgehend mit dem der Wildschweine identisch, von denen sie sich wohl auch phänotypisch nur wenig unterschieden.25 Neben den Schweinen gelangte vornehmlich Rindvieh in die Wälder, doch musste verhindert werden, dass die Tiere im Wald verschwanden oder zur Beute von Wildtieren oder Viehdieben wurden. Dies hatten die vielfach in den Quellen erwähnten Hirten zu verhindern. Zwar düngte bei der Waldweide einerseits das Vieh den Boden und gruben die Schweine Teile des Bodens um, was das Wachstum von Bäumen förderte, da der gelockerte Boden beispielsweise die Einlagerung von Eicheln erleichterte, doch mussten andererseits erhebliche Bissschäden hingenommen werden. An den älteren Bäumen fraßen die Tiere nur an den unteren Ästen, während die Triebe nachwachsender Bäume immer wieder abgebissen wurden. In die zwischen Bruchsal und Philippsburg gelegenen Waldungen der Lußhardt wurden im Jahr 1437 mindestens 43 000 Schweine eingetrieben, und schon diese Zahl verdeutlicht die Bedeutung der herbstlichen Waldweide. Die Ebersberger Wälder, östlich von München gelegen, durchstreiften in Herbst und Frühwinter 1555 – allerdings ein Ausnahmejahr – fast 10 500 Schweine. Schon im 17. und nochmals verstärkt im 18. Jahrhundert sank die Zahl der eingetriebenen Tiere dann deutlich; dies lässt sich als ein Hinweis auf weiter zurückgehende Bestände werten.26 25 Franz: Quellen, S. 183. Hasel/Schwartz: Forstgeschichte, S. 200. Regnath: Schwein, S. 30. 26 Küster: Wald, S. 114–116. Franz Joseph Mone: Ueber die Waldmarken, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 8 (1857), S. 129–159, hier S. 133. Beck: Ebersberg, S. 73.

181

Spätmittelalter

Die Wälder des Hochsauerlands – eine ansonsten von der Eisenverarbeitung sowie den nördlich gelegenen Hellwegstädten dominierte Region – nutzten kopfstarke Herden aus dem benachbarten Hessen sowie aus der Grafschaft Mark. Versuche der Stadt Soest, sich umfangreiche Rechte im Arnsberger Forst zu sichern, scheiterten dagegen im 14. und 15. Jahrhundert weitgehend. Auch in Paderborn, das verkehrstechnisch im Spätmittelalter allerdings in eine Randlage geriet, wurden Schweine in großer Anzahl in die Wälder des Um- und Hinterlandes getrieben, denn die Tiere bzw. ihr Fleisch waren ein wichtiges Exportgut. Es war vornehmlich die urbane Nachfrage, die seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu einer der­ artigen Zunahme der teilweise systematisch betriebenen Schweinemast führte, dass größere Herden ihren Weg in die Wälder fanden. Doch mussten diese zum Teil im Herbst längere Strecken zurücklegen, was wiederum den Fleischertrag reduzierte.27 Im Kölner Umland dominierten die erwähnten großen Viehhöfe im Besitz von geistlichen Instituten sowie zunehmend auch von Kölner Bürgern. Schon der Einstieg der städtischen Kaufleute in diesen Wirtschaftszweig ist als Indiz für die potenziell hohen Gewinnerwartungen in diesem Teil des Agrarsektors zu werten; dasselbe gilt für ihre Beteiligung am Getreidebau und dem Anbau weiterer Pflanzen. Die in dieser Region vorherrschende Besömmerung der Brache mit Wicken erbrachte ein hochwertiges Pferdefutter, während beispielsweise im benachbarten Herzogtum Kleve Luzerne bevorzugt wurde. Auch umfangreiche Waidanpflanzungen traten in Konkurrenz zum Anbau von Getreide und Futterpflanzen. Ein Anbau von Spezialkulturen wie Färbepflanzen auf Kosten des Getreides und damit von Nahrungsmitteln erfuhr allerdings bereits zeitgenössisch Kritik. Heute spielen Pflanzen zur Gewinnung sogenannter regenerativer Energien eine ähnliche Rolle, angebaut vielfach in keinesfalls umweltfreund­ licher, großflächiger Monokultur mit ihren negativen Folgen nicht nur für den Artenreichtum. Schon im Zuge von Bemühungen zur Reform der bayerischen Land- und Forstwirtschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden Forderungen lauter, die Stallhaltung zu forcieren und die 27 Ralf Günther: Der Arnsberger Wald im Mittelalter. Forstgeschichte als Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, XXII; Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung, 20), Münster 1994, S. 215 f. Heinrich Schoppmeyer: Die spätmittelalterliche Bürgerstadt (1200–1600), in: Jörg Jarnut (Hg.): Paderborn. Geschichte der Stadt und ihrer Region, Bd. 1: Das Mittelalter. Bischofsherrschaft und Stadtgemeinde, Paderborn u. a. 1999, S. 199– 473, hier S. 355. Regnath: Schwein, S. 87.

182

Wald- und Forstwirtschaft

Waldweide gänzlich zu verbieten; abgesehen vom Wald schädige das Vieh auch die sonstigen Weiden und Wiesen übermäßig.28 Verbreitet blieb zudem das Sammeln von Laub, um es als Streu in den Ställen zu nutzen; diese Praxis entzog den Böden wichtige Nährstoffe. Allerdings blieben zumindest die dichteren Wälder nicht zuletzt die Heimat wilder und gefürchteter Tiere wie Bären und Wölfe, die beide trotz der Bejagung eine reale Gefahr für Mensch und Vieh darstellten und von denen Letztere noch im 19. Jahrhundert in größerer Zahl vorkamen, während Bären dann seltene Ausnahmen bildeten. Erhebliche Schäden konnten zudem Schafe und Ziegen in den Gehölzen anrichten, doch dürften zumindest Ziegen in Mitteleuropa anders als im Süden des Kontinents nur in vergleichsweise geringer Zahl eingetrieben worden sein. Allerdings trafen Eintriebsverbote für Ziegen zumindest im weiteren Verlauf der Frühen Neuzeit gerade die arme, landlose oder nur geringe Flächen bewirtschaftende Bevölkerung überproportional, da diese sich zumeist keine Kühe oder Rinder leisten konnte. Die Ziegen fraßen nämlich, auch wenn genügend Gräser und Kräuter zur Verfügung standen, mit Vorliebe Holzpflanzen, und sie ließen sich nur schwer zusammenhalten. Besonders in England entwickelte sich durch die enclosures eine ausgeprägte Konkurrenz zwischen großflächiger Schafzucht und einfacher bäuerlicher Bevölkerung, die sich im 16.  Jahrhundert nochmals verstärkte, bevor in den 1620er-Jahren die Wollpreise zu fallen begannen. Für das Reichsgebiet kann eine solche Konkurrenz für etliche Gebiete gleichfalls vermutet werden. In Flandern grasten im Dienste der Tuchherstellung vornehmlich in den Küstengebieten zahlenstarke Schafherden zunächst der Grundbesitzer und Abteien, bevor im Spätmittelalter auch Bürger viele solche Ländereien erwarben.29 Weite Teile der Iberischen Halbinsel prägte gleichfalls die Schafzucht, besonders in Kastilien handelte es sich im Spätmittelalter um den wichtigs28 Vgl. u. a. Erich Wisplinghoff: Kurkölnische Domänen während des 14.–18. Jahrhunderts, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62 (1998), S. 17–58. Irsigler: Gestaltung, S. 175 f., 178 f., 188 f. Beck: Ebersberg, S. 100–105. 29 Johann: Wirtschaftsfaktor, S.  31. Hasel/Schwartz: Forstgeschichte, S.  203. Vgl. z. B. Christopher Dyer/Richard Hoyle: Britain 1000–1750, in: Bavel/Hoyle (Hg.): Rural Economy, S. 51–78, hier S. 61, 71. Erik Thoen/Tim Soens: Credit in rural Flanders, c. 1250–1600: its variety and significance, in: Phillipp Schofield/Thijs Lambrecht (Hg.): Credit and the rural Economy of North-Western Europe, c. 1200–c. 1850 (CORN Publication Series, 12), Turnhout 2009, S. 19–38, hier S. 30 f. Zum städtischen bzw. bürgerlichen Landerwerb in den Niederen Landen vgl. u. a. Bas van Bavel/Piet van Cruyninigen/Erik Thoen: The Low Countries, 1000–1700, in: Bavel/Hoyle (Hg.): Rural Economy, S. 169–197, hier S. 172–177, 179–182.

183

Spätmittelalter

ten Wirtschaftsfaktor. Die Zahl der Schafe soll von eineinhalb Millionen um das Jahr 1300 auf etwa fünf Millionen Tiere um das Jahr 1500 gestiegen sein. Die vielköpfigen Herden adliger und geistlicher Großer zogen zwischen ihren Sommer- und Winterweiden (Transhumanz) durch die Berge der Sierra und des Nordens nach Andalusien oder in die Extremadura zweimal jährlich hin und zurück über Hunderte von Kilometern. Erhebliche Schäden durch Verbiss im Umfeld der Wege und massive Konflikte mit Anliegern bildeten die unausweichlichen Folgen; jedoch standen die Herden seit 1347 in Kastilien unter königlichem Schutz (Mesta). Die Zucht des wohl aus Marokko um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert eingeführten Merinoschafs mit seiner hochwertigen Wolle ließ die Bedeutung dieses Wirtschaftszweigs weiter steigen. Vor allem seit dem 16. Jahrhundert nahmen Rodungen sowie die Beanspruchung von Dorfallmenden als Weideplätze der Schafherden nochmals zu, was vielfach die dörfliche Landwirtschaft schädigte und nicht unwesentlich zur Landflucht beitrug.30 Weitgehend bedingt durch den Vergetreidungsprozess im Binnenland hatte sich die Viehwirtschaft während des Hochmittelalters verstärkt auf die Küstenbereiche sowie die Voralpen und die Alpen konzentriert. Begünstigt durch das Klimaoptimum war im 12. und verstärkt im 13. Jahrhundert die Anlage von Schwaighöfen erfolgt, auf denen zumindest in Österreich vermutlich zunächst mehr Schafe als Rinder gehalten wurden. Die Bedeutung des Rindviehs sollte sich im Spätmittelalter deutlich steigern. Im Salzburger Land lagen die Schwaigen zumeist auf einer Höhe von 800 bis 1000 Metern, in Tirol auf bis zu 2000 Metern. Die Dauerbesiedlung der Höhenlagen, die in der Eidgenossenschaft wohl spätestens um die erste Jahrtausendwende eingesetzt hatte, führte natürlich zu erheblichen Veränderungen im Landschaftsbild, dienten doch die dortigen Wälder nunmehr als Viehweide und fanden in diesen Gebirgsregionen teilweise auch Rodungen statt, während die ältere Almwirtschaft noch waldfreie Flächen genutzt hatte. In der Eidgenossenschaft lagen die Hochweiden häufig zwischen 1600 und 2000 Höhenmetern, womit sie sich oftmals noch unterhalb der natürlichen Waldgrenze befanden. Während allgemein die landwirtschaftliche Produktion in den Alpen und deren agrarische Nutzung seit dem 13.  Jahrhundert eine Ausweitung erfuhren, sorgte die intensivierte 30 Vgl. u. a. Prada: Spanien, S. 753 f. Ludwig Vones: Art. „Mesta“, in: Lexikon des Mittelalters, VI, München 1993, Sp. 565 f. Klaus Herbers: Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 266.

184

Wald- und Forstwirtschaft

Großviehhaltung seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bei steigenden Beständen zu Nutzungskonflikten auch auf den Almen. Diese führten vielfach zu einem Abdrängen der Schafe auf tiefer gelegene, schlechtere Weiden. Auf den Magerweiden zwischen 1600 und 2500 Metern Höhe lassen sich archäologisch zahlreiche Reste von Trockenmauern nachweisen, die von ehemaligen Häusern, Hütten, Pferchanlagen, Sperr- und Umfassungsmauern stammen. Allerdings hat die heutige Forschung erhebliche Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen Dauer- und Temporärsiedlungen in den Höhenlagen zwischen 1300 und 1700 Metern. In diesen potenziell erheblich gefährdeten Lagen erfolgte die Wahl der Siedlungsplätze äußerst sorgfältig, um Gefahren beispielsweise durch Steinschlag, Lawinen, Blitze oder Überschwemmungen zu minimieren. Für die Fleischversorgung spielte übrigens zumindest im 14.  Jahrhundert die Jagd auf Gämsen noch eine wichtige Rolle.31 In den Geestgebieten Norddeutschlands führte neben der intensiven Beweidung die Entnahme von Plaggen, also von humusreichen Waldbodensoden, die u. a. als Brennmaterial oder zusammen mit Stalldung als Dünger für den ewigen Roggenanbau dienten, zu einer Entwaldung. Das Landschaftsbild prägten zunehmend Heide sowie einige wenige Straucharten. Zudem erleichterten die vorherrschenden Sandböden im Norden die Rodung von Wäldern im Vergleich zu anderen Gebieten deutlich, zumal flach wurzelnde Kiefern hier dominierten. Doch durch den folgenden Verlust der Humusschicht verarmten die Böden rasch. In der nicht zuletzt durch Hermann Löns bekannt gewordenen, landschaftlich eher eintönigen Lüneburger Heide forderten auch die dortige Saline und der Holzbedarf für den Schiffbau ihren Preis. Nicht nur in dieser Region pflegten Viehhirten die Heide anzuzünden, damit ihre Tiere das dann kurzfristig nachwachsende Gras fressen konnten. Das Heidekraut kam zwar wieder hervor, als dauerhaft verbrannt erwiesen sich indes die Baumtriebe. In den Niederen Landen wiederum trug das Abgraben des Torfs als preiswertes Brennmaterial zu den Überflutungen vornehmlich des Spätmittelalters bei, während im

31 Michael Mitterauer: Wirtschaft und Handel, in: Dopsch (Hg.): Salzburg, S. 419–436, hier S. 422– 424. Sablonier: Gesellschaft, S.  52, 160  f., 165. Werner Meyer: Rodung, Ackerbau und Viehwirtschaft. Archäologische Beiträge zur Besiedlung und zur Geschichte der landwirtschaftlichen Technologien in den Alpen des Mittelalters, in: Jean-François Bergier/Sandro Guzzi (Hg.): La découverte des Alpes. La scoperla della Alpi. Die Entdeckung der Alpen (Itinera 12), Genf 1992, S. 117–129, hier S. 121, 126, 128. Meyer: Besiedlung, S. 239 f., 249, 254.

185

Spätmittelalter

15.  und 16.  Jahrhundert neue Abbautechniken ein Absinken des Grundwasserspiegels forcierten.32 Die Wälder boten zudem Raum für eine in größerem Rahmen betriebene Imkerei. Die Bienenstöcke lieferten das Basisprodukt für den dringend benötigten Süßstoff Honig sowie das überwiegend für die Kerzenherstellung, aber auch für Siegel und wächserne Schreibtafeln genutzte Wachs. In den überlieferten Waldordnungen nahm dieser Tätigkeitsbereich breiten Raum ein, wurden die Aktivitäten der Zeidler oder Imker zunehmend detaillierter reglementiert. Überwiegend waren sie im bäuerlichen Nebenerwerb tätig, doch in einigen Regionen wie im Nürnberger Umland, im Fränkischen Wald, in der Oberpfalz, dem Fichtelgebirge, am Harz oder in der Mark Brandenburg entwickelte sich die Zeidlerei zu einem eigenständigen Gewerbe. Ein Rutenstülper als „künstliche“ Bienenbehausung lässt sich bereits auf der im Wesermündungsgebiet gelegenen Wurt „Feddersen Wierde“ für das 1. oder 2.  Jahrhundert nachweisen.33 Erst der in großem Maßstab und planmäßig vorangetriebene Zuckerrohranbau der Portugiesen und Kastilier auf Atlantikinseln wie den Kanaren oder Madeira ließ den Preis für Zucker seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts so weit fallen, dass sich das Produkt zunächst im Mittelmeerraum, dann zunehmend weiter nördlich für Angehörige der Mittelschichten als erschwinglich erwies. Daneben übten Vogelfänger ihre Tätigkeit in den Wäldern oder an deren Rand aus, denn zahlreiche Vogelarten galten als erfreuliche und schmackhafte Ergänzung zur sonstigen Ernährung. Beispielsweise empfahl der Nürnberger Stadtphysikus Johann Lochner im Jahr 1480 den Verzehr von Wachteln, Krammetsvögeln (Wacholderdrosseln), Amseln, Drosseln, sonstigen kleinen Waldvögeln und jungen Tauben. Dagegen untersagte Zürich 1335 vorerst auf fünf Jahre den Fang von Vögeln, welche Mücken und Würmer sowie weiteres Ungeziefer vertilgten; unter besonderem Schutz standen zudem Wachteln. Ausdrücklich nahm diese Regelung Drosseln, Wasserhühner und wilde Enten aus; den Hintergrund dieser Bestimmungen bildeten die durch Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse. Die Straßburger Voglerordnung des Jahres 1439 sah gleichfalls eine Unterschutzstellung etlicher Vogelarten bis zum 21. Juni eines jeden Jahres vor, was weitgehend dem 32 Küster: Landschaft, S. 101–103, 236–238. Küster: Wald, S. 153 f. Bavel: Manors, S. 19, 45, 358–360. Dazu waren in den Niederen Landen städtische Torfmärkte weit verbreitet; Dam: Städte, S. 89. 33 Mantel: Wald, S. 85–89. Burger: Waldämter, S. 28 f. Capelle: Frühgeschichte, S. 436.

186

Wald- und Forstwirtschaft

Ende ihrer Brutzeit entsprach.34 Auch diese Bestimmung spricht für eine recht genaue Beobachtung der Natur, um mittels eines empirisch gesicherten Wissens potenzielle Eingriffschancen zu erkennen und zu nutzen, und damit gegen eine in der Literatur vielfach unterstellte Gedankenlosigkeit der spätmittelalterlichen Menschen im Umgang mit dieser. Einen frühen Ausweg aus der Holzverknappung boten mit zunehmender Tendenz Niederwaldschläge, die wohl schon seit dem zweiten Jahrzehnt des 13.  Jahrhunderts genutzt wurden – in erster Linie zur Gewinnung von Werk- und Brennholz. Aus den Eichenrinden wurde zudem verbreitet Lohe als Gerbstoff für die Gerberei gewonnen. Bei dieser Bewirtschaftungsform wurden vornehmlich Nieder- oder in begrenzterem Umfang Mittelwald­ bestände in gleich große Teile gegliedert, von denen in jedem Jahr nur ein begrenztes Areal eingeschlagen werden durfte, welches anschließend über einen durchschnittlichen Zeitraum von 15 bis 25 Jahren wieder nachwachsen konnte und daneben zwischenzeitlich nur zur Korneinsaat und als Viehweide diente. Die Wurzeln der Bäume blieben in der Erde, sodass die Seitentriebe im nächsten Jahr wieder ausschlugen. Erste urkundliche Belege für eine Niederwaldwirtschaftsform sind 1215 für den Aachener Stadtwald, 1219 für das Gebiet des Bistums Speyer sowie 1264 bei Erfurt überliefert. Die Hackwaldwirtschaft, eine weitere Organisationsform in Verbindung mit landwirtschaftlicher Zwischennutzung, lässt sich im Odenwald zumindest bis 1290 zurückverfolgen, ebenso in anderen Gebieten. Ähnlich wie die Hauberge des Siegerlands bewirtschafteten die Anwohner der Eifel die dortigen Bestände in Schiffelwirtschaft, während die Anwohner des Schwarzwalds diese als Reutewaldwirtschaft ausübten. Dabei liegen diese drei Regionen in durchaus waldreichen, aber überwiegend – im Fall von Eifel und Siegerland sowie in den höher gelegenen Gebieten des Schwarzwalds – wenig klima­ begünstigten Mittelgebirgsregionen. Niederwaldwirtschaft lässt sich ferner in den Alpen für den Salinenbetrieb sowie im Harz belegen. Letztlich dürfte diese Form der Waldnutzung unter verschiedenen Bezeichnungen noch deutlich weiter verbreitet gewesen sein. Ähnliches gilt für die im Konstanzer Umland des 13. Jahrhunderts belegte Mittelwaldwirtschaft.35 34 Hans J. Vermeer: Johann Lochners „Reisekonsilia“, in: Sudhoff’s Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 56 (1972), S. 145–196, hier S. 161. Zürcher Stadtbücher, I, S. 146. Brucker (Hg.): Zunft- und Polizeiverordnungen, S. 229 f. 35 Hasel/Schwartz: Forstgeschichte, S. 267. Rolf-Jürgen Gleitsmann: Die Haubergswirtschaft des Siegerlandes als Beispiel für ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft, in: Scripta Mercaturae1/1982, S.  21–54. Otto Lucas: Die Wirtschaftsstruktur des Siegerlandes, in: Franz Petri/Otto Lucas/Peter

187

Spätmittelalter

Während des 12. und 13. Jahrhunderts blieb der Bergbau kleinräumig, seine Auswirkungen auf die Umwelt daher gering. Dennoch erhöhten bereits im 12. Jahrhundert neue Öfen und Verhüttungstechniken den Ausstoß bei zugleich reduziertem Energieverbrauch. Zwischen 1220 und 1270 wanderten die Schmelzöfen weitgehend in die Täler ab, um dort die Wasserkraft zu nutzen, was sie nunmehr ortsfest werden ließ; Wasserräder betrieben also die Blasebälge der in diesen Jahrzehnten errichteten Schmelzhütten, um die benötigten höheren Temperaturen zu erzielen. Ihre Lage wurde schon aus Feuerschutzgründen außerhalb der wachsenden Siedlungen gewählt, aber im Sinne kurzer Wege zu den Betriebsstätten dennoch in deren Nähe. Im 14. und 15. Jahrhundert ist dann eine massive Ausweitung des Bergbaus zu beobachten, begleitet von einer starken Vermehrung der Hütten und wassergetriebenen Hämmer zur Metall- und besonders der Eisenverarbeitung. Nunmehr dominierten vielfach eindeutig die Interessen des Montanwesens – sprich die Interessen der Betreiber an den daraus resultierenden Gewinnen – sowie die Beteiligung der jeweiligen Landesherren als Regalinhaber an der Ausbeute gegenüber einer Schonung der Ressource Holz. Allerdings dürfte erst zu Beginn des 19.  Jahrhunderts die bisher geringste Gesamtwaldfläche in Deutschland zu verzeichnen gewesen sein, bevor in den folgenden Jahrzehnten umfangreiche Wiederaufforstungen einsetzten.36 Dennoch führte bereits der früh- und hochmittelalterliche Bergbau auf Silber und Buntmetalle zu Bodenerosion und damit zu Veränderungen der Geländestrukturen, ebenso zu Schwermetallablagerungen vornehmlich in den Schlacke- und sonstigen Abraumhalden, deutlich geringer in den Flussoberläufen. Zwar lassen sich für den teilweise ergrabenen Friedhof im Schwarzwälder Bergrevier „Sulzberg-Geissmättle“ bei eher schlechter Skeletterhaltung bei Kindern und Jugendlichen Anzeichen einer chronischen Bleivergiftung erkennen, doch allein aufgrund der Skelettbefunde wäre – unabhängig von der Lage der Siedlung – nachträglich kaum eine Verbin

Schöller: Das Siegerland. Geschichte, Struktur und Funktionen (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volkskunde. Reihe I: Wirtschafts- und verkehrswissenschaftliche Arbeiten, 8), Münster 1955, S. 55–73, hier S. 65–68. Hans Page: Brandspuren Südwest: Feuer und Landnutzung im Schwarzwald und am Kaiserstuhl. Geschichte, Gegenwart und Perspektiven, in: Feuer (Schriftenreihe Forum, 10), Bonn 2001, S. 313–327, hier S. 316 f. Bernd Becker/Judith Oexle: Stadt und Umland – dargestellt am Beispiel der Waldnutzung im Umland des mittelalterlichen Konstanz, in: Stadtluft, S. 374–379, hier S. 376 f. 36 Bartels/Klappauf: Mittelalter, S. 143, 155–157, 200. Rolf-Jürgen Gleitsmann: Der Einfluß der Montanwirtschaft auf die Waldentwicklung Mitteleuropas. Stand und Aufgaben der Forschung, in: Der Anschnitt, Beiheft 2, S. 24–39, hier S. 24 f. Küster: Landschaft, S. 312–320.

188

Wald- und Forstwirtschaft

dung zum Bergbau hergestellt worden. Die Reviere im Inneren des Schwarzwalds erschlossen die Bergleute bis um 1200, im folgenden Jahrhundert drangen sie in den mittleren Schwarzwald vor. Seine Blütezeit erlebte der dortige Silberbergbau im 13. und 14. Jahrhundert.37 Für das hessische Dietzhölztal lassen sich bis zum Ende des 13. Jahrhunderts gewichtige Auswirkungen auf den Waldbestand schon aufgrund des geringen Produktionsvolumens weitgehend ausschließen. Im benachbarten Siegerland nahm ebenso wie im märkischen Sauerland die Zahl der Hütten im Laufe des 14. Jahrhunderts zwar deutlich zu – und aus der erstgenannten Region diffundierten die Techniken zudem in die Grafschaft Arnsberg –, aber im Sauerland dominierten Kleinreviere, was die Umweltbelastungen reduzierte. Gleichfalls überschaubar blieben die Eingriffe in die Natur auf dem bereits um 1300 aufgegebenen Altenberg mitsamt benachbarter Siedlung im nördlichen Siegerland, wo die Bergleute als technische Besonderheit bereits aufwendige Schächte in den Boden trieben; angesichts des Waldreichtums der Region dürfte der Holzbezug auch hier unproblematisch gewesen sein.38 In die unzugänglicheren Harzregionen wagten sich bis ins 13. Jahrhundert hinein nur wenige Menschen vor, und selbst in dessen Randbereichen hielten sich die Belastungen und Probleme in Grenzen. Bis etwa 1200 wurden die ohnehin nur saisonal betriebenen, kleinen Schmelzöfen bei ihrer rasch notwendig werdenden Erneuerung stets möglichst dort angelegt, wo 37 Goldenberg: Umweltbeeinflussung, S.  235. Andreas Hoppe/Ansgar Foellmer/Thomas Noeltner: Historischer Erzbergbau im Schwarzwald und Schwermetalle in Böden der Staufener Bucht (südliche Oberrheinebene), in: Heiko Steuer/Ulrich Zimmermann (Hg.): Montanarchäologie in Europa. Berichte zum Internationalen Kolloquium „Frühe Erzgewinnung und Verhüttung in Europa“ in Freiburg im Breisgau vom 4. bis 7. Oktober 1990 (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland, 4), Sigmaringen 1993, S. 249–254. Alt: Umwelt­ risiken, S. 216 f., 223–227. Allerdings ist bei Untersuchungen an Skeletten stets zu beachten, dass die Altersbestimmung im Erwachsenenalter ausgesprochen schwierig bis unmöglich ist, weshalb in der Literatur zumeist ein zu geringes Durchschnittsalter angegeben wird; Herrmann: Zugänge, S.  56. Heiko Steuer: Zur Frühgeschichte des Erzbergbaus und der Verhüttung im südlichen Schwarzwald. Literaturübersicht und Begründung eines Forschungsprogramms, in: Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland, 1), Sigmaringen 1990, S. 387– 415, hier S. 396–398. Aus der älteren Literatur vgl. Eberhard Gothein: Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften, 1. Bd.: Städte- und Gewerbegeschichte, Strassburg 1892, S. 583–612. 38 Dieter Lammers: Überlegungen zur Kapazität der mittelalterlichen Verhüttung im Dill-/DietzhölzRevier am Beispiel des Rennofenstandorts B 88, in: Jockenhövel (Hg.): Bergbau, S. 51–57, hier S. 56 f. Reininghaus/Köhne: Hütten- und Hammerwerke, S. 55 f. Claus Dahn/Uwe Lobbedey/Gerd Weisgerber: Der Altenberg. Bergwerk und Siedlung aus dem 13.  Jahrhundert im Siegerland, 2 Bde., Münster 1998.

189

Spätmittelalter

in unmittelbarer Umgebung ausreichende Holzbestände zur Verfügung standen. Die zuvor genutzten Standorte konnten sich in der Folge regenerieren. Wahrscheinlich trieben die Bergleute im Harz schon im 12. Jahrhundert ebenfalls Stollen in die Berge, womit hier frühzeitig eine Ablösung des Tagebaus erfolgte; allerdings blieben die Einzelgruben vorerst wiederum klein dimensioniert. Die hohe Bedeutung des Silberbergbaus zeigt sich deutlich an den intensiven, aber letztlich erfolglosen Bemühungen König Heinrichs IV., den dortigen Reichsbesitz für die Krone zu sichern. Der im 13. Jahrhundert einsetzende Erwerb von Waldungen durch Hüttenbesitzer lässt sich dagegen als ein Hinweis darauf lesen, dass man mittlerweile zukünftige Versorgungsprobleme mit Holz befürchtete. Auch die Stadt Goslar war seit dem späten 13. Jahrhundert bestrebt, sich Waldungen zu sichern.39 Untrennbar mit dem Hüttenwesen verbunden war die Köhlerei, die mit der Holzkohle den dringend benötigten Energieträger vornehmlich für die Schmelzöfen lieferte. Entsprechend erlebte sie im 15. Jahrhundert einen starken Aufschwung. Um eine Einheit (Gewichtsvolumen) Holzkohle zu erzeugen, verwendeten die Köhler vier bis fünf Einheiten Holz. Letztlich wird der Holzverbrauch der Öfen in der Forschung aber sehr verschieden eingeschätzt, bedingt nicht zuletzt durch den Metallgehalt der Erze sowie die verwendeten Holzarten, weshalb für eine Volumeneinheit Erz die zehn- bis dreißigfache Menge an Volumeneinheiten Holz zur Verhüttung benötigt worden sein könnte. Und die für die Metall-, Salz-, Glas- und Kalkherstellung sowie für die Metallverarbeitung benötigten Temperaturen lieferte – von den wenigen Steinkohlerevieren abgesehen – eben nur die Holzkohle, für deren Herstellung wiederum Buche wegen der mit ihr erzielbaren hohen Temperaturen Priorität genoss.40 Die Köhler galten gleich anderen Waldgewerbetreibenden wie den Pechbrennern, Zeidlern, Pottaschesiedern oder Glasherstellern aufgrund ihrer abgelegenen Arbeitsplätze als potenziell gefährlich, waren sie doch höchstens teilweise in die dörflichen Gemeinschaften integriert und wirkten fern von diesen in den teilweise noch legendenumrankten tiefen Forsten. 39 Bartels: Geschichte, S. 41. Lothar Klappauf/Friedrich-Albert Linke: Auf den Spuren des Alten Mannes. Zur archäologischen Erschließung der frühgeschichtlichen Kulturlandschaft Harz, in: Rammelsberg, Bd. 2, S. 232–249, hier S. 248. Vgl. Lothar Klappauf: Spuren früher Montanwirtschaft im Harz, in: Hauptmeyer (Hg.): Mensch, S.  17–30. Kraschewski: Bergbau und Hüttenwesen, S.  698. Marie-Luise Hillebrecht: Eine mittelalterliche Energiekrise, in: Herrmann (Hg.): Mensch, S. 275– 283, hier S. 277. Epperlein: Waldnutzung, S. 21 f. 40 Kraschewski: Spätmittelalter, S. 262. Hansjörg Küster: Mittelalterliche Eingriffe in Naturräume des Voralpenlandes, in: Herrmann (Hg.): Umwelt, S. 63–76, hier S. 66.

190

Wald- und Forstwirtschaft

Während des 14. und mehr noch während des 15. und 16. Jahrhunderts wandelte sich nach und nach das Bild: Bei zunehmender lokaler oder regionaler Verknappung des Rohstoffs Holz stieg zugleich die Anzahl der Hütten und Hämmer deutlich an. Zu einer Belastung der Umwelt insbesondere in ihrem engeren Umfeld entwickelten sich vornehmlich die Schmelzhütten. Das Vordringen in größere Tiefen vor allem beim Edel- bzw. Buntmetallabbau seit dem 14. Jahrhundert führte – neben weiteren Ursachen – zu erheblichen Problemen mit eindringendem Wasser, die mittels Hebewerken erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zufriedenstellend gelöst werden konnten.41 Europaweit galt es auch, die immer komplexer werdende Bewetterung der Gruben sicherzustellen. Technische Lösungen für das Problem des eindringenden Wassers wären wohl schon zuvor möglich gewesen, doch galten diese als ausgesprochen kostspielig und waren damit wohl vorerst nicht realisierbar. Die nicht nur zur Wasserhebung errichteten mächtigen Kehrräder der Wassermühlen erreichten über Tage immerhin Durchmesser von bis zu zwölf Metern; derartige wasserbauliche Anlagen unter Tage blieben kleiner dimensioniert. Ohnehin wird eine vorhergehende Krise dieses Bergbauzweigs primär aus der Wiederaufnahme der Förderung um die Mitte des 15. Jahrhunderts abgeleitet, belastbare Daten zu Produktionsmengen liegen nur unzureichend oder gar nicht vor. Hatte im Hochmittelalter die Gewinnung agrarisch nutzbarer Flächen bei der Erschließung der Wälder im Mittelpunkt gestanden, reduzierten nunmehr jedenfalls vornehmlich die verschiedenen gewerblichen Nutzungsformen den Waldbestand.42 In überwiegend agrarisch geprägten Landschaften wie dem oberen Mittelrheinraum standen noch im 14. Jahrhundert Bestimmungen gegen ungeregelte Rodungen im Fokus, im 15. Jahrhundert dann Vorschriften generell gegen eine Übernutzung der Wälder. Gemälde mit Stadtansichten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zeigen kaum je Wälder in Stadtnähe, sondern zumeist nur vereinzelte Bäume und Sträucher oder kleine Gehölze. Selbst wenn derartige Gemälde oder Stiche nicht auf eine detailgetreue Darstellung des Stadtbilds oder der umgebenden Natur abzielten, verweisen sie dennoch auf eine Entwicklungstendenz. Zu einer vorüberge41 Schmidtchen; Technik, S. 220–224. Jan A. van Houtte, Europäische Wirtschaft und Gesellschaft von den großen Wanderungen bis zum Schwarzen Tod, in: ders. (Hg.): Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Mittelalter (Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 2), Stuttgart 1980, S. 1–149, hier S. 56. 42 Bartels: Bergbaukrise, S.  157, 161, 165–169. Armin Gerstenhauer: Die Stellung des Waldes in der deutschen Kulturlandschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Josef Semmler (Hg.): Der Wald in Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora, 17), Düsseldorf 1991, S. 16–27, hier S. 24.

191

Spätmittelalter

henden Entlastung dürfte die Aufgabe von kleinen Dörfern oder Einzel­ höfen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts geführt haben, wenngleich deren Ausmaß umstritten und letztlich ungeklärt ist. Es sei daran erinnert, dass bereits in der Spätantike die Holzknappheit zur Verlagerung von Töpfereien aus Köln und Trier in die Voreifel bzw. die Eifel geführt hatte; daneben wurden Glashütten in waldreichen Gebieten angesiedelt. Während des Frühmittelalters sollten sich die Waldbestände im Westen des späteren Reichsgebiets jedoch wieder großflächig erholen, und in fränkischer Zeit dürften die wenigen Glaswerkstätten in Köln wieder stadtsässig produziert haben. Allerdings müssen den Zeitgenossen abgesehen von den unmittelbar sichtbaren Schädigungen viele Gefährdungszusammenhänge verborgen geblieben sein. Denn selbst die Qualität des Wassers konnte nur mittels Aussehen, Geruch und Geschmack überprüft werden, wenngleich beispielsweise stehende Gewässer schon prinzipiell als gefährlich galten. Früh begegnen auch Verbote, Flachs im Wasser reifen zu lassen, da dieser Prozess das Wasser und dann die Luft verunreinigte; als Beispiele lassen sich für das 13. Jahrhundert das Königreich Sizilien und Ferrara nennen.43 Besonders schwermetallhaltige Flugstäube im Hüttenrauch konnten sich bei entsprechenden Windverhältnissen weit verbreiten, und die wechselnde Intensität ihrer Diffusion lässt sich heute beispielsweise anhand von Bleiablagerungen im Boden archäologisch nachweisen. Ebenso führen die Flüsse des Harzes selbst noch in der Gegenwart aus Schlacken- und Bergbauhalden ausgewaschene Schwermetalle mit sich. Ansonsten belasteten vornehmlich Arsen und Schwefel den Hüttenrauch. Doch ist im Falle von Goslar bereits für das Jahr 1352 belegt, dass Vitriol aus dem Hüttenrauch gewonnen wurde, um es zu verkaufen; Verwendung fand Vitriol beispielsweise zum Gerben von Fellen oder zur Herstellung des Blaufärbstoffs Waid. Für das folgende Jahrhundert ist die Praxis der Gewinnung von Rückständen aus dem Hüttenrauch dann breiter nachgewiesen. Da der ­bisher vorwiegend betriebene, für die Mittelgebirge typische Tagebau nicht mehr genügend Erträge erbrachte, wurden die Gruben nunmehr überall in 43 Volk: Wirtschaft, S. 326 f. Vgl. auch Wolfgang Behringer; Topographie und Topik. Das Bild der europäischen Stadt in ihrer Umwelt, in: Schott/Toyka-Seid (Hg.): Stadt, S. 123–144. Lukas Clemens: Wirtschaft an Rhein und Mosel in der Spätantike und im Frühmittelalter, in: Franz J. Felten (Hg.): Wirtschaft an Rhein und Mosel. Von den Römern bis ins 19. Jahrhundert (Mainzer Vorträge, 14), Stuttgart 2010, S. 13–32, hier S. 19. Carl Dietmar/Marcus Trier: Colonia. Stadt der Franken. Köln vom 5. bis 10. Jahrhundert, Köln 2011, S. 109 f. Konstitutionen Friedrichs II., S. 308 f. Zupko/Laures: Straws, S. 38, 65.

192

Wald- und Forstwirtschaft

Europa in immer tiefere Gesteinsschichten vorangetrieben. Zur Abstützung der Gänge und Schächte wurden erhebliche Holzmengen benötigt, was eine direkte Konkurrenz zum Bedarf der Schmelzhütten darstellte. Teilweise sind die seinerzeit angelegten Gruben oder Pingen noch heute in den Wäldern sichtbar, freilich Bombentrichtern des Zweiten Weltkriegs nicht unähnlich. Neu entwickelte Wasserkünste erlaubten zudem die Wiederaufnahme des Betriebs in zwischenzeitlich aufgegebenen Gruben bzw. Bergwerken. Aber selbst die dazu benötigten Gerätschaften wie Schöpfräder oder Kehrräder waren überwiegend aus Holz gefertigt; in etlichen Bergwerken fuhren zudem die Transportbehälter, die „Hunde“, auf hölzernen Schienen.44 Die Verbreitung des indirekten Verfahrens beim Ausschmelzen der Eisenerze seit dem 14. Jahrhundert führte zwar zu steigenden Schmelzerträgen, doch stieg der Holz- und Holzkohleverbrauch zur Erzielung der dafür benötigten höheren Temperaturen ebenfalls deutlich an. Bei all dem wurden die Wälder nicht nur durch die reine Entnahme von Holz geschädigt: Daneben wurden beim Transport der Stämme nicht selten die Waldböden massiv in Mitleidenschaft gezogen, was trotz der zu diesem Zweck vielfach angelegten Rutschen oder Rinnen zu Bodenerosion sowie in den Bergen zu Murenabgängen führen konnte.45

Glashütten Die in den Mittelgebirgen verbreiteten Glashütten waren die Hauptabnehmer für Pottasche, die durch das Auslaugen von Holzasche gewonnen wurde; daneben benötigten Tuchfärber, Bleicher und Seifenmacher das Material. Im 16.  Jahrhundert setzte ein umfangreicher Handel mit Pottasche ein, die in den baltischen, polnischen sowie russischen Wäldern mit ihren großen Reserven gewonnen wurde, was die mitteleuropäischen Ressourcen wie zuvor schon die nordwesteuropäischen schonte. Der hohe ­Bedarf an Pottasche für die Glasschmelze führte dazu, dass die extrem 44 Matthias Deicke/Hans Ruppert: Frühe Metallgewinnung und Umweltbelastung im Harz – Umweltgeochemische Aspekte, in: Auf den Spuren einer frühen Industrielandschaft. Naturraum – Mensch – Umwelt im Harz, hg. v. Christiane Segers-Glocke (Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 21), Hameln 2000, S. 78–82. Vgl. Goldenberg: Umweltbeeinflussung, S. 238–241. Suhling, Lothar: Hüttentechnik und Umwelt im 16. Jahrhundert, in: Bayerl u. a. (Hg.): Umweltgeschichte, S. 87– 102, hier S.  93–96. Hans-Joachim Kraschesky: „Daß wohlgesotten victriols in die fesser gesacket werde“. Vitriole aus dem Rammelsberg, in: Rammelsberg, Bd. 2, S. 344–357, hier S. 345. Zur Entwicklung der Bergbautechnik vgl. Schmidtchen: Technik, S. 218–225. 45 Kraschewski: Spätmittelalter, S. 291 f. Bingener/Bartels/Fessner: Zeit, S. 381.

193

Spätmittelalter

energieintensiven Glashütten häufig auf obrigkeitlichen Druck in von den Siedlungen weit entfernten, großflächigen Waldgebieten errichtet wurden. Hier stellten die brandgefährdeten Betriebe zudem keine Gefahr für ihre Nachbarschaft dar. Produktionsstarke Glashütten lagen vornehmlich im Spessart, im Schwarzwald, im Fichtelgebirge, im Thüringer Wald, im Erzgebirge, im Weserbergland, in Sachsen, in Schlesien sowie zunehmend in Böhmen, wobei in den Montanrevieren die Territorialherren wegen des konkurrierenden Holzbedarfs die Anlage von Glashütten zumeist untersagten. Das Kaliumkarbonat der Pottasche sollte allerdings erst der Kalibergbau, der vor der Mitte des 19.  Jahrhunderts einsetzte, ersetzen.46 Im Mittelmeerraum fand das dort leicht zu gewinnende Soda anstelle der Pottasche Verwendung Die zunächst auf die Nachfrage der mittel- und niederrheinischen Städte ausgerichteten Glashütten im Spessart dürften infolge des Bevölkerungsrückgangs in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und der damit verbundenen noch größeren Abgeschiedenheit ihrer Lage sowie der verringerten Konkurrenz um den Rohstoff Holz eine breitere Akzeptanz in der Bevölkerung erfahren haben. Dennoch kam es zu einer Übernutzung der Wälder, weshalb in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorübergehend eine Kehrtwende erfolgte und etliche der dortigen Hütten geschlossen wurden. Die gleichzeitig hohe Produktion in Hessen und wohl ebenso in Württemberg dürfte zudem zu einem Überangebot geführt haben, welches sich aber durch die Schließung der Hütten im hessischen Kaufungerwald 1596 wieder verminderte; die hessischen Landgrafen machten Forstschutzgründe geltend. Bereits 1591 war dagegen eine erste Neugründung im Spessart erfolgt, 1604, 1605 und 1608 nahmen weitere Glashütten die Produktion auf, wobei der Hüttenbetrieb nun einer strengeren Regulierung unterlag. Im Schwarzwald lag der Schwerpunkt der Glasproduktion zunehmend in ­dessen südlichem Teil, während die Glashütten im Nordosten im 16. Jahr46 Reith: Umweltgeschichte, S. 50 f. Behre: Landschaftsgeschichte, S. 275, betont, dass für die Gewinnung von 50 Kilogramm Pottasche 52 Kubikmeter Holz eingeschlagen werden mussten; nach Hasel/ Schwartz: Forstgeschichte, S.  219, handelte es sich dagegen um einen Kubikmeter Holz für einen Zentner Pottasche. Rolf Peter Sieferle: Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution, München 1982, S. 84, gibt an, dass für die Erzeugung von einem Kilogramm Glas 2400 Kilogramm Holz benötigt wurden, davon 97 Prozent für die Gewinnung von Pottasche; in der Frühen Neuzeit habe sich der Verbrauch verringert. Ebenso wird ein Wert von mehr als 1500 Raummeter Fichtenholz (ca. 60 Tonnen) für die Produktion von einem Zentner (ungefähr 69 Kilogramm) Pottasche angegeben; Rainer Geibel: Holz und Kohle. Der Wald im Dienst des Montanwesens, in: Rammelsberg, Bd. 2, S. 492–501, hier S. 492. Schmidtchen: Technik, S. 468.

194

Wald- und Forstwirtschaft

hundert an Bedeutung verloren. Im folgenden Jahrhundert erfolgte dort die gänzliche Einstellung des Glashüttenbetriebs, da das verbliebene Holz für die Hüttenwerke zur Schmelze von Metallen reserviert wurde; ein Neubeginn datiert erst auf das 18. Jahrhundert. Im sächsischen Langenbach lauteten 1572 die konkreten Klagen eines Hüttenmeisters auf Holzmangel sowie zu hohe Einkaufs- und Transportkosten für das von den Glashütten benötigte Holz. Außerdem beklagte der Mann sich darüber, dass der Krieg in den Niederen Landen den Absatz drastisch mindere – eine Aussage, die als Beleg für den Handel mit Glaswaren über weite Distanzen gelten kann. Als Folge zögen die Glasmacher weiter, ließen aber ihre Frauen und Kinder mittellos zurück, welche er zu versorgen habe, denn verhungern lassen könne er sie schließlich nicht. Nachträgliche Versuche, den zweifellos hohen Holzverbrauch zu berechnen, erweisen sich als ausgesprochen schwierig, und die Schätzungen über die benötigten Holzmengen pro Einheit Pottasche weichen erheblich voneinander ab. Erschwerend kommt hinzu, dass die Glashütten Pottasche von verschiedenen Anbietern erwarben und der Pottasche oft Hausasche oder sonstige Stoffe zusetzten, um deren Menge zu erhöhen. In Mecklenburg-Vorpommern führte jedenfalls der Holzbedarf der Glashütten vielfach zu ihrer Schließung oder Verlegung nach bereits sechs bis acht Betriebsjahren. In England erfolgte 1615 gar ein komplettes Verbot der Verwendung von Holz für Glashütten, die zukünftig ausschließlich mit Steinkohle betrieben werden sollten.47 Große Holzmengen verschlang auch die Salpetersiederei, deren Produkt vornehmlich für die Schwarzpulverherstellung Verwendung fand, bevor im 16. Jahrhundert Importe die einheimische Ware zu ersetzen begannen. Im Vogtland erfolgte während des 15. Jahrhunderts vielerorts die Verarbeitung von Baumharzen in Pechsiedereien. Die Harzgewinnung, welche gleichfalls die Baumbestände schädigte, fand im Schwarzwald größere Verbreitung. Die gängige Praxis des spiralförmigen Einschneidens der 47 Stefan Krimm: Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Glashütten im Spessart (Veröffentlichungen des Geschichts- und Kunstvereins Aschaffenburg e.V., 18,1; Studien zur Geschichte des Spessartglases, 1), Aschaffenburg 1982, S.  141–144. Zu den Württemberger Hütten, teilweise im Dreißigjährigen Krieg zerstört, denen im späten 17. und 18. Jahrhundert steigende Holzpreise zusetzten vgl. Karl Greiner: Die Glashütten in Württemberg (Veröffentlichungen zur Geschichte des Glases und der Glashütten in Deutschland (Historische Topographie, 2), Wiesbaden 1971. Bertram Jenisch: Alles glaswergkh, das muglich ist … Spätmittelalterliche Glashütten im Oberrheingebiet, in: Spätmittelalter am Oberrhein, S. 195–201, hier S. 196. Rolf Kneißler: Der Schöllkopf und die spätmittelalterlichen Glashütten im nordöstlichen Schwarzwald, in: ebd., S. 203–206, hier S. 205. Quellen zur älteren Wirtschaftsgeschichte Mitteldeutschlands, V. Tl., hg. v. Herbert Helbig, Weimar 1953, S. 163 f. Kellenbenz: Wirtschaft, S. 55. Behre: Landschaftsgeschichte, S. 277.

195

Spätmittelalter

Rinde zur Gewinnung von Harz begünstigte nicht nur die Verbreitung von Baumkrankheiten, sondern die angerissenen Bäume waren zudem unbrauchbar für die Weiternutzung als Bauholz, womit dieser Produktionszweig in Konkurrenz zu dem wichtigen Holzhandel stand.48

Das Beispiel Nürnberg Eindeutig mit Holzknappheit lässt sich eine schwerwiegende Entscheidung des Nürnberger Rates vom 24. September 1461 begründen, die der reichsstädtische Chronist des frühen 17.  Jahrhunderts, Johannes Müllner, mit knappen Worten schilderte: „Der Rat zu Nürmberg hat dies Jahr, donnerstags nach Matthei, Herdegen Tuchers Schmelzhütten zum Feilhoff des Schmelzens und Kohlen halben Maß gesetzt und folgends alle Schmelz­ hütten innerhalb fünf Meil wegs umb Nürnberg gänzlich abgeschafft und bei 100 Mark Silber verboten, dann der Wald dardurch seher war verösigt worden. Der Tucher hat seine Schmelzhütte gen Öllingen und andere auf den Türinger Wald transferirt.“49 Bereits zehn Jahre zuvor hatte der Rat den Holzkohleverbrauch, der den Hütten zustand, deutlich reduziert. Zwar lag das bedeutende, ältere oberpfälzische Revier mitsamt der dortigen Metallverhüttung und -verarbeitung weit genug entfernt von der Reichsstadt, doch bedrohten die benachbarten Saigerhütten mit ihrem immensen Holzkohleverbrauch die Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Brenn-, Werk- und Bauholz. Erhebliche Schäden hatten die Wälder wohl zudem 1450 durch zahlreiche Brandstiftungen genommen, welche im Ersten Markgrafenkrieg Nürnberg schädigen sollten. 1458 planten der Nürnberger Rat und sein Kontrahent, Markgraf Albrecht Achilles von Ansbach, der nachmalige Kurfürst, bzw. dessen Vertreter allerdings ein gemeinsames Vorgehen gegen die im letzten halben Jahrhundert neu angelegten Mühlen, Hämmer, Badestuben, Brauhäuser und Schenkstätten im Umland der Stadt, um so den Waldbeständen größere Chancen zur Erholung zu geben. Im September 1461 nahm der Rat sich schließlich, wie gehört, der Probleme mit den Schmelzhütten an und zielte auf deren Verlagerung fort aus dem städtischen Umland.50 48 Reininghaus: Gewerbe, S. 45. Hasel/Schwartz: Forstgeschichte, S. 215. Sönke Lorenz: Zum Harzgewerbe im Schwarzwald, in: Spätmittelalter am Oberrhein, S. 191–193, hier S. 191. 49 Müllner: Annalen Tl. II, S. 542 f. 50 Gerhard Hirschmann: Mühlen, Sägen und Hämmer um die Nürnberger Wälder 1458/64, in: ders.: Aus sieben Jahrhunderten Nürnberger Stadtgeschichte. Ausgewählte Aufsätze (Nürnberger For-

196

Wald- und Forstwirtschaft

In den Saigerhütten konnten durch den Einsatz beträchtlicher Bleimengen Kupfer und Silber getrennt werden, doch erforderten die Hütten und der Rohstoffbezug, also das Anlage- und das Betriebskapital, die Aufwendung erheblicher Geldmittel. Schon aus diesem Grund erfolgte hier, aber auch in anderen Sektoren des Montanwesens, bereits frühzeitig eine Trennung von Kapital und Arbeit, sodass dieser Wirtschaftszweig durchaus als frühkapitalistisch charakterisiert werden kann. Aufgrund der neuen Technik konnten hochwertiges Garkupfer sowie eine deutlich erhöhte Silbermenge selbst aus solchen Kupfervorkommen gewonnen werden, bei denen sich das Ausscheiden des Silbers zuvor als nicht lohnend erwiesen hatte. Die zum Einstieg in diesen Sektor erforderliche Kapitalakkumulation dürfte im Fernhandel stattgefunden haben. Ein weiteres, von den Zeit­ genossen freilich wenig beachtetes und kaum verstandenes Problem in Zusammenhang mit dem Saigerverfahren lag darin, dass „der größere Teil [des Bleis] – samt einigem Arsen – durch den Schornstein flog und halt die Umwelt ein bißchen vergiftete“. Von 13 500 bis über 22 000 Zentnern Bleis, die in den Saigerhütten des Thüringer Waldes, der Mittelslowakei und in Kuttenberg um die Wende zum 16.  Jahrhundert jährlich verarbeitet ­w urden, gingen – so spätere Berechnungen – wohl elf Prozent verloren, welche sich in den betroffenen Regionen niederschlugen.51 Allerdings handelte es sich bei den Nürnberger Saigerhüttenbesitzern um keine Fremden, sondern um angesehene Bürger aus der städtischen Oberschicht, die zum Teil Ratsfamilien entstammten. So hatte der von

schungen, 25), S. 19–29. Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 60 b: Reichsstadt Nürnberg, Ratsbücher, I b, fol. 21v f. Nach der Chronik von Heinrich Deichsler bis 1487, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 10, Leipzig 1872, ND Göttingen 1961, S. 118–386, hier S. 214, 233, wurden noch 1456 und 1457 neue Schmelzhütten errichtet, im letzten Fall durch Heinrich Meichsner, der als vermögender Neubürger 1447 das Bürgerrecht erworben hatte und mit seinem Bruder Peter in den Montansektor einstieg. Vgl. Westermann: Garkupfer, S. 96. Herbert Maschat: Technik, Energie und Verlagswesen. Das Beispiel der spätmittelalterlichen Reichsstadt Nürnberg, München 1988, S. 33 f. Michael Diefenbacher: Die Tucherisch Compagnia. Ein Nürnberger Handelshaus um 1500, in: Wirtschaft – Gesellschaft – Städte. Festschrift für Bernhard Kirchgässner zum 75. Geburtstag, hg. v. Hans-Peter Becht/Jörg Schadt, Ubstadt-Weiher 1998, S. 79–93. Augsburg verbot 1490 Schmelzhütten – bei ohnehin geringerer Bedeutung derselben – in einem Umkreis von sechs Meilen um die Stadt, um die Holzversorgung der Stadt zu sichern; Kießling: Augsburgs Wirtschaft, S. 174. 51 Wolfgang von Stromer: Die Saigerhütten-Industrie des Spätmittelalters. Entwicklung der KupferSilber-Scheidekünste zur „ars conflatoria separantia argentum a cupro cum plumbo“, in: Technikgeschichte 62 (1995), S. 187–219, hier S. 208. Vgl. grundlegend Westermann: Garkupfer. Ian Blanchard: International Lead Production and Trade in the „Age of the Saigerprozess“ 1460–1560 (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 85), Stuttgart 1995. Danuta Molenda: Der polnische Bleibergbau und seine Bedeutung für den europäischen Bleimarkt vom 12. bis 17. Jahrhundert, in: Der Anschnitt, Beiheft 2, S. 187–198, hier S. 190.

197

Spätmittelalter

Müllner erwähnte Herdegen I. Tucher um 1450 den Veilhof, östlich von Nürnberg gelegen, erworben und dort eine ertragreiche Schmelzhütte errichten lassen. Der bereits 1462 verstorbene Herdegen hatte im Jahr 1456 sogar dem Kleineren Rat im Rang eines „Alten Genannten“ angehört; anschließend ließ er sich wegen seiner Kaufmannschaft wieder entpflichten, da diese ihm nicht genügend Zeit ließ, um als Ratsherr zu amten. Dennoch entschied der Rat 1461 eindeutig zugunsten der breiten Einwohnerschaft, wobei auf den ersten Blick die Legitimation mit dem Gemeinen Nutzen einleuchtet; allerdings kann die Furcht vor möglichen Unruhen aufgrund steigender Holzpreise oder eines Holz- und Holzkohlemangels durchaus eine entscheidende Rolle für diesen Beschluss gespielt haben. Das Zugeständnis größerer Holzbezugsmengen gegenüber den Saigerhüttenbetreibern hätte das ohnehin fragile „soziale Gleichgewicht“ der Reichsstadt wohl erheblich gefährdet. Doch auf die Schnelle ließen sich die Saigerhütteneigner nicht von ihren angestammten Plätzen vertreiben, weshalb der Rat 1467 und 1468 erneut Produktionsbeschränkungen für noch bestehende Anlagen verfügte. Vermutlich sollte deren Rentabilität reduziert werden, um auf diese Weise „freiwillige“ Umsiedlungen in die Wege zu leiten. Die 1465 erlassene Ordnung für den Lorenzer Reichswald schnitt das Problem hingegen nicht an. 1469 folgte schließlich der Entscheid, bis Ende September desselben Jahres den Betrieb der Anlagen gänzlich einzustellen, doch schon 1470 sah sich der Rat gezwungen, ein erneutes Verbot zu erlassen; erst in den folgenden Jahren konnten die Schließungen end­ gültig durchgesetzt werden. Wenig hilfreich war gewiss, dass die Stadt eine eigene Schmelzhütte betrieb, welche gleichfalls abzustellen der Rat vorerst ablehnte. Diese erste Schmelzhütte soll eventuell schon vor 1420 in Betrieb gewesen sein, doch weitaus wahrscheinlicher bestand sie erst gut drei Jahrzehnte später.52 Die neuen Saigerhütten ließen die Betreiber vor allem im waldreichen thüringischen Mansfeld errichten, zumal die dortigen Kupfer52 Peter Fleischmann: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18.  Jahrhundert, Bd.  2: Ratsherren und Ratsgeschlechter (Nürnberger Forschungen, 31/2), Nürnberg 2009, S.  1011. Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 52 c: Reichsstadt Nürnberg, 45: Ordnungen und Urkunden des Waldes Lorenz, fol. 68r–74v. Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 60 b: Reichsstadt Nürnberg, Ratsbücher, 1 b, fol. 139r, 161v, 171v, 193v, 195r. Stromer: Hochfinanz, S. 344. Sander: Haushaltung, S.  271, Fn. 1, nennt den Zeitraum zwischen 1406 und 1419 für die Errichtung einer ersten Schmelzhütte. Vgl. dagegen Fritz Schnelbögl: Topographische Entwicklung im 14. und 15. Jahrhundert, in: Gerhard Pfeiffer (Hg.): Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 88–92, S. 91, mit einer Datierung auf 1453; ebenso Michael Diefenbacher, Art. Saigerhandel, in: Stadtlexikon Nürnberg, S. 919 f. Zur Verlagerung vgl. Stromer: Gewerbereviere, S. 93–95.

198

Wald- und Forstwirtschaft

vorkommen Silber enthielten. Das im Saigerverfahren gewonnene Gar­ kupfer benötigten nicht zuletzt die Messingproduzenten sowie im Anschluss die messingverarbeitenden Gewerbe in größeren Mengen. Bei einer Unterversorgung vornehmlich der metallverarbeitenden Handwerker mit Holzkohle verfuhr der Nürnberger Rat freilich ganz anders: Aufgrund einer Kohlenknappheit und der damit verbundenen Teuerung ordnete er 1476 einerseits den Bau von Kohlenstadeln an und versorgte andererseits die Handwerker mit günstigeren Kohlen aus städtischen Vorräten. Es galt eben, keine unnötigen Krisen in den für das wirtschaftliche Gedeihen der Stadt wichtigen Produktionszweigen aufkommen zu lassen. 1485 wurden erneut Kohlen aus kommunalen Vorräten abgegeben, ebenso in den Jahren 1492, 1501, 1504, 1522, 1527 und 1528 sowie 1536.53 Auf 1294 datiert die älteste Nürnberger Waldordnung zum Schutz der Forste, erlassen freilich im Namen König Adolfs von Nassau mit seinen nur begrenzten, aber tatkräftig in Angriff genommenen politischen Wirkungsmöglichkeiten, handelte es sich doch rechtlich um zwei Reichswälder. Die Nutzungsrechte an den Wäldern sicherte sich die Stadt vor und kurz nach der Mitte des 14.  Jahrhunderts, konnte die weitere Devastierung indes höchstens verzögern. 1309 hatte zudem König Heinrich VII. – wenngleich ebenso ohne größere Machtfülle im Reich – angeordnet, den Wäldern Zeit zur Regeneration zu geben, doch lässt sich selbstverständlich das Ausmaß der Zerstörungen für diesen Zeitraum nicht näher bestimmen. Wie so oft bei derartigen Verordnungen bestimmten die Urkundenempfänger den Text des Pergaments, welches die Kanzlei gegen eine Gebührenzahlung ausfertigte. Nach dem Verbot der Köhlerei 1340 – zuvor waren sechs Köhler zugelassen –, schränkte der Rat 1385 schließlich die Nutzholzentnahme durch holzverarbeitende Handwerke wie Wagner, Schindelmacher, Büttner, Drechsler oder Schachtelmacher ein, den Gerbern verbot er sogar die Nutzung des Waldes gänzlich, ebenso untersagte er den Handel mit Brennholz. Eingeschlagen werden durften dagegen Weichhölzer wie Espen, Erlen, Weiden, Birken sowie Haselnusssträucher oder Hagebutten. Selbst der angesehene Bürger und Reichsschultheiß Conrad Groß – der Nachwelt bekannt nicht zuletzt durch die Stiftung des Neuen Spitals in seiner Heimatstadt – musste seinen Eisenhammer mit Holz betreiben, welches außerhalb der Reichswälder eingeschlagen worden war. Als weitere Maßnahme beschloss der Nürnberger Rat Ende des 14. Jahrhunderts, dass der Waldamt53 Müllner: Annalen, Tl. III, S. 33, 73, 129, 212, 261, 480, 587, 598, 663.

199

Spätmittelalter

mann gemeinsam mit dem Schäfer und dessen Knechten insgesamt höchstens 600 Schafe in den Sebalder Wald treiben durfte. Gerade das Satzungsbuch der Jahre von 1315/1330 bis 1360 zeigt neben Unsicherheiten über das als notwendig erachtete Vorgehen, damit „der walt widerkome“, ein Abwägen der verschiedenen Interessen am Wald, geprägt jedoch durch die zunehmende Reduzierung der Entnahmemöglichkeiten. In diesem Zeitraum, genauer 1332, war Fremden bereits jegliche Nutzung dieser Wälder untersagt worden. Allerdings verfügten die Zeidler sowie die Bewohner der Dörfer in den Reichswäldern über eigenständige Holzbezugs- und Waldnutzungsrechte, welche der Nürnberger Rat kaum beschneiden konnte. Der Lorenzer Reichswald mit einer Fläche von 17 300 Hektar kam Ende des 14. Jahrhunderts definitiv in den Besitz der Stadt, der ungleich kleinere Sebalder Reichswald, etwa 12 000 Hektar umfassend, wurde 1385 pfandweise gewonnen und 1427 endgültig von den Burggrafen, den Markgrafen von Ansbach, gekauft. Um die Wende zum 15. Jahrhundert dürften nur für die öffentlichen Bauten der Stadt etwa 4000 Holzstämme im Jahr benötigt worden sein, während die Kalköfen etwa 2000 Fuder Holz jährlich verschlangen.54 Mit einer drohenden Holzverknappung sahen sich freilich zahlreiche Städte sowie energieintensive Betriebe spätestens im 15. Jahrhundert eindringlich konfrontiert, wobei die eingeschlagenen Lösungswege durchaus unterschiedlich ausfielen. In Endres Tuchers Baumeisterbuch nahm der Holzbezug für das kommunale Bauwesen ebenfalls breiten Raum ein, was erneut die Bedeutung dieses Rohstoffs betont. Der Aussaat geschuldet, dominierten in den Reichsforsten in der Folge Tannen und Fichten, bevor um die Mitte des 16. Jahrhunderts Kiefern an Bedeutung gewannen.55 Beim Landtransport von Brennholz galten wohl Entfernungen bis zu 15 Kilometern und bei Nutzholz bis zu 30 Kilometern als tolerabel, wenngleich solche Grenzen bei entsprechend hohem Bedarf selbstverständlich überschritten wurden; ebenso begünstigte die Lage an flößbaren Flüssen den Transport über größere Distanzen. 54 Eißing: Reichswald, S. 12–14. Epperlein: Waldnutzung, S. 84 f. Sporhan/Stromer: Nadelholz-Saat, S.  80. Burger; Waldämter, S.  26–30. Schultheiß: Satzungsbücher, S.  174  f., 192 (zu Conrad Groß). Pfeiffer: Wasser, S.  162  f. Vgl. Art. Lorenzer Reichswald, Sebalder Reichswald, in: Stadtlexikon Nürnberg, S. 651, 968. Fritz Schnelbögl: Die wirtschaftliche Bedeutung ihres Landgebietes für die Reichsstadt Nürnberg, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Nürnberg 1967, S.  261– 317, hier S. 273. 55 Heine: Umweltbezogenes Recht, S. 121. Fumagalli: Mensch, S. 51–54, 85. Ulman Stromers Püchel, S.  29. Daniel Burger: Die Überlieferung der Nürnberger Waldämter, in: May/Rodenberg (Hg.): Reichswald, S. 40–49. Endres Tuchers Baumeisterbuch, S. 69–80. Eißing: Reichswald, S. 21.

200

Wald- und Forstwirtschaft

Von Nürnberg ausgehend, hat sich schließlich die planmäßige Nachsaat zunächst von Kiefern und Tannen ausgebreitet, gefolgt von vergleichsweise schnell wachsenden Laubbäumen wie Birken, welche vornehmlich Nutzund Brennholz lieferten. „Peter Stromer, mein bruder, pracht aus daz man den walt und holcz seet, da von nu gross vil weld kumen sein. … Anno ­domini 1368 zu ostern do hub man mit dem ersten an den walt zu seen bey dem Lichtenhoff und dar nach vil hundert morgen, di man gesett hat; und dez waz alles anheber und der den funt mit dem ersten fand Peter Stromeir mein bruder, dem got gnedig sey“, notierte der vielseitige Unternehmer und Finanzmakler Ulman Stromer rückblickend nicht ohne Stolz dessen Aktivitäten.56 Bereits 1343 sind für die Wälder um Dortmund das Ausgraben von Wildlingen verschiedener Laubholzarten und deren folgende Pflanzung an anderer Stelle belegt; es fehlen jedoch Nachweise für eine Verstetigung dieser auch sonst angewandten Praxis. Die Aussaat bei Nürnberg entsprang zunächst privater Initiative, benötigten die Stromer/ Stromeir doch große Holzmengen für ihre Mühlen, Bauten und Gerätschaften sowie für die Herstellung von überwiegend in ihren Hütten genutzter Holzkohle. Die Stadt führte in der Folge die planmäßige Aussaat weiter, und spätestens 1385/86 wurden die erwähnten Birken angesät. Trotz aller Konkurrenz behielt der Nürnberger Samen (Kiefer, Fichte, Tanne) in der Folge europaweit eine hohe Bedeutung und bildete ein keinesfalls unbedeutendes Handelsgut. Dass die Devastierung der Wälder weit fortgeschritten gewesen sein muss, belegt die Aussaat von Kiefern, denn diese wären als sonnenliebende Bäume in geschlossenen Wäldern nicht gewachsen.57 Das Vieh sowie das Wild schädigten Nadelbäume zudem weniger als (junge) Laubbäume.

Maßnahmen zum Schutz der Wälder Erste Rodungsverbote sowie Waldordnungen datieren nördlich der Alpen in das 13. Jahrhundert, Vorläufer reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück. Dagegen war die Waldzerstörung in Oberitalien bereits weiter fortgeschritten und in den städtischen Rechten fanden deshalb umfangreiche Regelun56 Ulman Stromers Püchel, S. 63, 75 f. 57 Lichtenhof lag wenige Kilometer südlich der Stadtmauer. Kühnel: Forstkultur, S.  121. Wolfgang v. Stromer: Peter d. Ä. Stromeir, in: K. Mantel/J. Pacher (Hg.): Forstliche Biographie vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. I: Forstliche Persönlichkeiten und ihre Schriften vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Hannover 1976, S. 3–10, hier S. 6 f. Eißing: Reichswald, S. 14–18. Küster: Wald, S. 139.

201

Spätmittelalter

gen zum Holzbezug und zum Schutz der Restwälder Aufnahme.58 Stadt und Amt Zug erließen 1412 ein grundsätzliches Verbot des Holzverkaufs an Nichteinwohner. Zürich hatte die Ausfuhr von Bauholz ohne Zustimmung des Rats bereits 1292 untersagt; die Holzentnahme aus dem zu Beginn des 14.  Jahrhunderts an die Stadt gelangten Sihlwald unterlag im 15.  Jahrhundert präzisen Regelungen, während die Nutzungsmöglichkeiten für Landbewohner aus der Umgebung schon zuvor Einschränkungen erfahren hatten. Dennoch benötigten die Stadt und ihre Bewohner weiteres Holz, welches aber vergleichsweise kostengünstig über die Sihl und den Zürichsee herbeigeschafft werden konnte. Selbst in der Innerschweiz ­erwiesen sich für die Bewohner nicht nur der Städte zahlreiche günstig ­erreichbare Waldbestände wohl spätestens im 16.  Jahrhundert aufgrund der Holzkohlegewinnung, der Schmelzöfen und der Eisenverarbeitung als erschöpft. Für Göttingen ist der Walderwerb in erster Linie als ein Element der Territorialbildung einzuschätzen, daneben dienten Neuerwerbungen aber auch der Brennholzversorgung. Allerdings erwiesen sich schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts weite Flächen als derart zerstört, dass teilweise über Jahrzehnte kein Holz mehr eingeschlagen werden konnte. Unter maßgeblichem Einfluss der Zünfte erfolgte 1531 der Ausschluss aller Nichtbürger von der Nutzung. Selbstverständlich ergänzten sich auch andernorts Versorgungsaspekte mit Zielen des Territorialerwerbs. In Hannover dagegen sollte das 1362 verfügte Holzstatut vorrangig die Versorgung kommunaler Einrichtungen und Betriebe sichern, doch trotz des Verbots der Waldweide 1480 lässt sich hier im 16.  Jahrhundert gleichfalls eine Übernutzung konstatieren.59 Zur Schonung des Stadtwalds und um dessen Nutzung als Viehweide zu erhalten, beschaffte Luxemburg Bau- und Brennholz aus entfernteren Wäldern; als entscheidende Voraussetzung dafür galten jedoch niedrige Transportkosten. Frankfurt am Main erwarb 1372 den südlich des Mains gelegenen Reichsforst Dreieich für über 13 000 Gulden, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen. 1458 verfügte die Stadt dann, dass Bürger aus den Stadtwäldern nur noch „orholcz und desglichen“ entnehmen durften, und 58 Gleitsmann: Einfluß, S. 28. 59 Sablonier: Gesellschaft, S. 170. Zürcher Stadtbücher, I, S. 96 f.; II, S. 340 f. Anton Schuler: Holzenergienutzung und Waldschutz in der frühen Neuzeit, in: Economia e Energia, S.  599–606. Bettina Borgemeister: Die Stadt und ihr Wald. Eine Untersuchung zur Waldgeschichte der Städte Göttingen und Hannover vom 13. bis 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 228), Hannover 2005, S. 124–127, 195, 230–232, 244–248.

202

Wald- und Forstwirtschaft

untersagte wie andere Städte den Handel mit im Reichswald eingeschlagenem Holz; Nichtbürger mussten auf jegliche Nutzung verzichten. Den Wienern stand der gleichnamige Wald direkt vor den Mauern der Stadt zur Verfügung, selbst wenn auch er nicht uneingeschränkt genutzt werden durfte. Spätestens im 16. Jahrhundert setzte im Wienerwald eine Entwicklung hin zu Sondernutzungsrechten in bestimmten Arealen ein, erfolgte die Festlegung von Nutzungsrechten und Besitzgrenzen, organisiert allerdings unter der Regie der Landesherren. Zudem wurde 1559 der Verkauf des auf der Donau herbeigeschafften Holzes genau reglementiert: Zunächst konnte die Landesherrschaft das Holz erwerben, am zweiten Tag die Stadt, am dritten deren Bürger, und erst danach war der Handel mit dem jeweils verbliebenen Holz uneingeschränkt möglich.60 Insgesamt kann allerdings von einer einheitlichen „Waldpolitik“ oder „Forstpolitik“ nicht gesprochen werden. Insbesondere langfristige Planungen finden sich eher selten, wobei zumindest Nürnberg und Zürich Ausnahmen bildeten. Darüber hinaus galt gerade der Wald weit verbreitet als Gemeinland und sperrte sich derart gegen die Durchsetzung von Eigentumsansprüchen, und sei es auch in Gestalt von Schutzmaßnahmen.61 Doch musste sich nicht hinter jeder mit Holzmangel oder Waldschädigung begründeten Forstordnung ein solcher Mangel tatsächlich verbergen, wobei sich die rückblickende Bewertung als ausgesprochen schwierig gestaltet. Außerdem lässt sich ein Holzmangel in etlichen Städten schon durch fehlende oder unzureichende Transportmöglichkeiten erklären. Für Hessen kann allerdings schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine herr60 Michel Pauly/Martin Uhrmacher: Das Versorgungsgebiet der Stadt Luxemburg im späten Mittelalter, in: Städtische Wirtschaft im Mittelalter. Festschrift für Franz Irsigler zum 70. Geburtstag, hg. v. Rudolf Holbach/Michel Pauly, Köln/Weimar/Wien 2011, S.  211–254, hier S.  229–231. Otto Volk: Waldnutzung in Hessen im späten Mittelalter, in: Andreas Hedwig (Hg.), „Weil das Holz eine köstliche Ware …“ Wald und Forst zwischen Mittelalter und Moderne (Beiträge zur Geschichte Marburgs und Hessens, 2; Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg, 17), Marburg 2006, S. 21–32, hier S. 23. Frankfurter Amts- und Zunfturkunden, S. 168 f. Zu Waldschenkungen bzw. Walderwerbungen von Pfullendorf, Wimpfen und Ravensburg vgl. Rudolf Kiess: Bemerkungen zur Holzversorgung von Städten, in: Sydow (Hg.): Versorgung, S. 77–98, hier S. 79–83. Wimpfen schenkte König Heinrich (VII.) den Wald Wollenberg mit einer Fläche von 583 Hektar, der allerdings zwölf Kilometer von der Stadt entfernt lag. Opll: Leben, S. 425. Christoph Sonnlechner: Wald der Wiener? Der mittelalterliche und frühneuzeitliche Wienerwald als Biomasse-Lieferant und Jagdrevier, in: Brunner/Schneider (Hg.): Umwelt, S. 165–169. Elisabeth Johann: Das Holz-Zeitalter. Die städtische Holzversorgung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 170–179, hier S. 171 f. 61 Joachim Radkau: Das Rätsel der städtischen Brennholzversorgung im „hölzernen Zeitalter“, in: Dieter Schott (Hg.): Energie und Stadt in Europa. Von der vorindustriellen „Holznot“ bis zur Ölkrise der 1970er Jahre (VSWG Beihefte, 135), Stuttgart 1997, S. 43–75, hier S. 49–52. Below/Breit: Wald, S. 17–23.

203

Spätmittelalter

schaftliche Durchdringung der Forste eindeutig belegt werden. Sie verfolgte das Ziel, bei reduzierter Holzentnahme dennoch die Einnahmen für die landgräfliche Kasse zu erhöhen. Um auch am Bergsegen zu partizipieren, ließ Landgraf Wilhelm vor der Mitte der 1560er-Jahre beim mittel­ hessischen Gladenbach anstelle einer Mahlmühle zudem eine Saigerhütte errichten. Große Teile des planmäßigen Waldbaus endeten jedoch im Dreißigjährigen Krieg, ohne nach dessen Ende wieder aufgegriffen zu werden, was zu einem weiteren Rückgang der Waldflächen führte. Allerdings dürfte im Gegenzug der regional unterschiedliche, in etlichen Gebieten aber überaus erhebliche Bevölkerungsrückgang infolge der Kriegszerstörungen zu einer Erholung der Waldflächen geführt haben. Auf aufgege­ benen Äckern oder Weiden dürfte auch Wald neu gewachsen sein, zumal nun erst zahlreiche Dörfer und Siedlungen wüst fielen.62 Im 18.  Jahrhundert setzten dann Kameralisten und Reformer wieder stärker auf ein planendes Eingreifen der Menschen zur Neuanlage oder Nachzucht der Wälder, um die benötigten Baumbestände wachsen zu lassen. Noch blieb der Erfolg vermutlich überschaubar, und eine direkte Linie zum Waldbau des 19.  Jahrhunderts sollte wohl nicht gezogen werden. Grundsätzlich begünstigte jedoch das regenreichere Klima im Norden und in der Mitte Europas das Nachwachsen der Wälder, wogegen Wiederaufforstungen im Mittelmeerraum häufig nicht mehr gelangen, weshalb dort ein konkreter Holzmangel deutlich früher eintrat. Venedig erließ bereits 1282 ein Einschlagverbot für Pinien im Umland. Nicht nur für die Glasproduktion versorgte sich die Stadt mit Holz aus Istrien, Dalmatien und dem Friaul, während Genua Holz in Südfrankreich aufkaufte. In den 1470er-Jahren folgten in Venedig Rodungsverbote für alle Stadt- und Dorf­ allmenden, sämtliche Eichen blieben dem Bau von Kriegsschiffen vorbehalten. Spätestens im 16. Jahrhundert galt (Bau-)Holz in Oberitalien als ein rares Handelsgut, doch in der Frühen Neuzeit gelang es schließlich, Holz aus Norwegen und dem Baltikum nach Oberitalien zu schaffen. Allerdings

62 Sablonier: Gesellschaft, S.  172. Kersten Krüger: Finanzstaat Hessen 1500–1567. Staatsbildung im Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 24,5), Marburg 1980, S.  152–168. Schenk: Waldnutzung, S.  82–91. Ekkehard Westermann: Die neue Schmelz- und Saigerhütte zu Mornshausen bei Gladenbach in Hessen 1563/65. Momentaufnahmen aus Planung, Bau und erstem Betrieb, in: Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold, Bd. 1: Mittelalter und frühe Neuzeit (VSWG Beihefte, 132), Stuttgart 1997, S.  71–92. Schröder-Lembke: Waldzerstörung, S.  124  f. Zum Bevölkerungsrückgang vgl. beispielsweise Pfister: Bevölkerungsgeschichte, S. 14–18, 76–79.

204

Wald- und Forstwirtschaft

mussten sich die dafür aufgewendeten hohen Transportkosten amortisieren, was wiederum hohe Holzpreise zur Folge hatte.63

Wald- und Forstordnungen Für das 16. Jahrhundert ist eine deutliche Zunahme von Wald- und Forstordnungen feststellbar, die sicherlich nicht zuletzt als ein Ausfluss zunehmender frühmoderner Staatlichkeit zu werten sind. Gegenüber den Anfängen der Regulierung im 13. Jahrhundert zeigen sich nun der rechtliche Rahmen sowie die institutionelle Ausgestaltung als wesentlich umfangreicher und dichter, musste doch auf tatsächliche oder vorgebliche neue Anforderungen immer wieder eine Antwort gefunden werden. Dass durchaus nicht hinter jeder Warnung vor Holznot unverändert ein tatsächlicher Mangel existierte, gilt es erneut zu betonen. Freilich kann auch längst nicht für jeden Fall die Frage nach der Gewichtung zwischen einer tatsächlich bestehenden Nutzungskonkurrenz und der Durchsetzung herrschaftlicher Interessen abschließend beurteilt werden. Unstrittig ist einzig der zunehmende Rückgang der Waldfläche, der jedoch lokal oder regional sehr verschieden ausfiel und kaum exakt quantifizierbar ist, was breite Interpretationsspielräume offenlässt. Zudem spielten zeitgenössische Erwartungen oder Prognosen über zukünftige Entwicklungen eine Rolle, das heißt: Beschränkungen können quasi prophylaktisch erlassen worden sein. Und da es sich bei Waldordnungen um normative Quellen handelt, muss stets deren Umsetzung oder der Grad derselben im Blickfeld bleiben. Letztlich dürften die Forstordnungen einen Rahmen gebildet haben, innerhalb dessen die herrschaftlichen Funktionsträger aktiv werden konnten oder vielmehr sollten. Die Ordnungen konkurrierten jedoch vielfach mit gewohnheitsmäßigen Nutzungsrechten der bäuerlichen und städtischen Bevölkerung, welche diese in der Regel nicht freiwillig aufzugeben bereit waren. Besonders die niederen Funktionsträger standen diesen Waldnutzern sozial weitaus näher als den oftmals auch räumlich fernen Herren, was sich durchaus – und aus Sicht der Herren negativ – auf die Umsetzung der neuen Bestimmungen auswirken konnte. 63 Beck: Ebersberg, S.  111–114. Lohrmann: Energieprobleme, S.  305  f. Heinrich Rubner: Forstgeschichte im Zeitalter der industriellen Revolution (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 8), Berlin 1967, S. 32. Franco Franceschi: The economy: work and wealth, in: John M. Najemy (Hg.): Italy in the Age of the Renaissance 1300–1550, Oxford 2004, S. 124–144, hier S. 128.

205

Spätmittelalter

Im Bauernkrieg kam dem Zugang zu den Forsten gleichfalls eine bedeutende Rolle zu. So deklarierten die bekannten Zwölf Artikel die Brennholz­ entnahme als Recht jedes Einzelnen, sahen jedoch vor, dass die Entnahme von Bauholz mit Vertretern der Gemeinde vorab geklärt werden sollte: „Zum fünften seien wir auch beschwert der Holzung halb, dann unsere Herschaften hebend inen die Hölzer alle allain geaignet, und wann der arme Man was bedarf, muß ers umb zwai Geld kaufen. Ist unser Mainung, was für Hölzer seien, es habens geistlich odr weltlich innen, die es nit erkauft haben, sollen ainer ganzem gemain wider anhaimfallen, und ainer gemain zimlicher weis frei sein, aim ietlichen sein Notdurft ins Haus zu brennen umbsunst lassen nehmen; auch wann von Noten sein wurde zu zimmern, auch umbsunst nehmen, doch mit Wissen der, so von der Gemain darzu erwelt werden.“64

Ebenso spielte die Waldnutzung bereits in den Beschwerden des Armen Konrad eine gewichtige Rolle. Das Interesse der Herren an intakten, möglichst ausgedehnten Hochwäldern als Jagdrevieren steht außer Frage. Peter Blickle charakterisiert diesen vorwiegend frühneuzeitlichen Prozess in erster Linie als eine Vertreibung der Bauern aus dem Wald durch die Herren. Den bäuerlichen Gemeinden attestiert er angesichts des Wissens um die Begrenztheit der Ressourcen einen umsichtigen Umgang mit dem Rohstoff Holz; häufig hatten unter herrschaftlichem Einfluss verkündete Weistümer schon lange vor den frühneuzeitlichen Ordnungsbestrebungen die Waldnutzung geregelt. Wie Blickle betont, sind die neuen Ordnungen stets auch in die Entwicklung von einer Nutzungs- zu einer Eigentumsgesellschaft einzuordnen.65 Mit Rolf Peter Sieferle ist festzuhalten, dass die Energienutzung in Agrargesellschaften zwangsläufig nachhaltig sein musste; ihr geringer Ausnutzungsgrad wurde bereits angesprochen.66 Für die Pfalz sieht Joachim Allmann den entscheidenden Mentalitätswandel ohnehin erst im 18. Jahrhundert. Erst zu diesem Zeitpunkt sollten hier auch die Wälder „geordnet“ werden, sollte der Zugang zu ihnen verstärkt kontrolliert und reglemen64 Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges. Gesammelt u. hg. v. Günther Franz (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, II), München 1963, S. 177. Ders.: Quellen zur Geschichte des Bauernstandes in der Neuzeit (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, XI), Darmstadt 1963, S. 17. 65 Peter Blickle: Wem gehörte der Wald? Konflikte zwischen Bauern und Obrigkeiten um Nutzungsund Eigentumsansprüche, in: Zeitschrift für Westdeutsche Landesgeschichte 45 (1986), S. 167–178, hier S. 168, 176.

206

Wald- und Forstwirtschaft

tiert werden. Daher haben in seiner Interpretation Forstordnungen „weniger mit Forst als mit Ordnung zu tun“.67 Nach Karl Hasel und Ekkehard Schwartz erfolgte dennoch bereits im 16.  Jahrhundert der Übergang zu einer geordneten Waldwirtschaft – zumindest theoretisch, denn diese beiden Forscher orientieren sich an den normativen Quellen.68 In einer Befragung zur Waldnutzung durch das Reichskammergericht 1608 berichteten dagegen Zeugen, vornehmlich Dorfbewohner, dass ohne die würzburgischen Waldordnungen der Jahre 1578 und 1597 die Haßbergischen Wälder – östlich von Schweinfurt gelegen und fast bis in den Bamberger Raum reichend – völlig zerstört worden wären, da Adlige und Gemeinden zuvor fast ohne Beeinträchtigung hätten Holz einschlagen können, damit wohl auch Holzhandel betrieben hätten, wobei die Eichen dem Adel vorbehalten gewesen seien. Außerdem sei der Wald intensiv als Weide genutzt worden. Ob freilich der als Partei am Gerichtsverfahren beteiligte Würzburger Fürstbischof Julius Echter zuvor Druck auf seine Hintersassen ausüben ließ, um ihre Aussagen zu beeinflussen, muss dahingestellt bleiben.69 Neben den vom Menschen verursachten Abholzungen konnten besonders Insektenbefall, Windbruch sowie Eis- und Schneelasten die Wälder in kaum quantifizierbarem Ausmaß schädigen; auch über die Häufigkeit von Waldbränden fehlen Untersuchungen. Stürme bzw. Orkane konnten und können gleichfalls ganze Wälder umwerfen, erinnert sei an Kyrill im Januar 2007 als ein Beispiel aus jüngerer Zeit. Für die Region um das böhmische Joachimsthal lässt sich zeigen, dass im 16. Jahrhundert mit zunehmender Knappheit der Ressource Holz und der zügigen Entwaldung des Erzgebirges infolge des zunächst ungeregelten Holzeinschlags auch die Fällungen mit wachsender Intensität Reglementierungen unterlagen. Eine „Forstordnungspolitik“, die derartig auf als negativ erkannte Entwicklungen reagierte, dürfte auch sonst weit verbreitet gewesen sein. In der Oberpfalz machte sich ein Holzmangel lokal in der zweiten 66 Sieferle: Nachhaltigkeit, S. 49. 67 Joachim Allmann: Der Wald in der frühen Neuzeit. Eine mentalitäts- und sozialgeschichtliche Untersuchung am Beispiel des Pfälzer Raums 1500–1800 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 36), Berlin 1989, S. 346. 68 Hasel/Schwartz: Forstgeschichte, S. 144. 69 Vgl. mit nicht nur überpointierter Überschrift David Petry: Zwischen Ausrottung und Nachhaltigkeit: Das Mensch-Natur-Verhältnis im Spiegel fränkischer Dorfordnungen des 15. bis 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 71 (2011), S.  113–128. Helmut Demattio: Die Forstwirtschaft in den Haßbergen in Hinblick auf ihre verfassungs- und motivgeschichtlichen Hintergründe, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 62 (2002), S. 179–202, hier S. 187–190. Zu Windbruch vgl. Schenk: Waldnutzung, S. 139–142.

207

Spätmittelalter

Hälfte des 16.  Jahrhunderts bemerkbar, woraufhin Einschränkungen der zuvor großzügig gehandhabten Versorgung der Hütten und Hämmer erfolgten. Als betroffen erwiesen sich vor allem das Gebiet um Amberg und der Westen der Oberpfalz; auf gesamtterritorialer Ebene kann von einem Holzmangel keine Rede sein. Als weitere Maßnahme wurden dort wie andernorts Verlagerungen von Hammerwerken weg von den Erzstätten und hin zu Gebieten mit besserer Holzversorgung vorgenommen. Bereits die Oberpfälzer Forstordnung von 1485 folgte, wohl geschuldet den engen wirtschaftlichen Verbindungen, dem Nürnberger Vorbild zur Neusaat und Wiederaufforstung der Wälder. Ohnehin lagen die holzintensiven Salinen und Bergwerke überwiegend in Süd- und Mitteldeutschland, in den Alpen sowie allgemein in den Mittelgebirgen. Die nördlichen und nordöstlichen Gebiete waren tendenziell noch länger eher mit einem Holzüberschuss gesegnet, als dass sie unter Holzmangel zu leiden hatten; freilich galt das nicht ohne Ausnahmen, wie beispielsweise die Lüneburger Heide belegt.70 Wenig überraschend ist, dass zahlreiche frühe Forstordnungen in Gebieten mit Erzbergbau und Montanindustrie erlassen wurden. In diesen Regionen war es aufgrund der vielfältigen, widerstreitenden Interessen bei hohem Holzverbrauch besonders dringlich, die Waldnutzung sowie die jeweiligen Zugriffsrechte zu regulieren. Daneben spielte die räumliche Nähe von Siedlungen und vor allem von größeren Mittel- oder Großstädten zu den jeweiligen Waldbeständen eine wichtige Rolle; ebenso beanspruchte ein ausgeprägtes Gewerbewesen die Wälder. Ein hoher städtischer Holzverbrauch allein war aber in der Frühen Neuzeit nicht entscheidend, da beispielsweise günstige Transportmöglichkeiten die Versorgung sichern konnten. Ein umfangreicher Holzhandel setzte dabei stets die Nähe zu flößbaren Gewässern voraus. Die Geldstrafen für Walddelikte stiegen vom 15. zum 16. Jahrhundert deutlich an, danach nochmals im 17. Jahrhundert, und zwar jeweils gleichermaßen für Eingriffe in Gemeindewälder oder Herrschaftswälder. Nur für Letztere setzten die Herren die Strafen im 18.  Jahrhundert weitere Male hinauf – neben ihrer nunmehrigen recht­ lichen Sonderstellung Zeichen einer nochmals gewachsenen ökonomi70 Jìří Majer: Die Waldwirtschaft und die Holzverwendung im Silberrevier Jáchymov/Joachimsthal im Erzgebirge und im Zinnerzrevier Horní Slavkov/Schlaggenwald im Kaiserwald im 16. Jahrhundert, in: Westermann (Hg.): Bergbaureviere, S. 221–248, hier S. 223–225. Dirk Götschmann: Oberpfälzer Eisen. Bergbau- und Eisengewerbe im 16. und 17.  Jahrhundert (Schriftenreihe des Bergbau- und ­Industriemuseums Ostbayern in Theuern, 5), Amberg 1985, S. 83 f. Stromer: Gewerbereviere, S. 82. Hasel/Schwartz: Forstgeschichte, S. 138.

208

Städtewesen

schen Bedeutung der Wälder angesichts steigender Holzpreise. Bereits im 16. Jahrhundert konnten Einnahmen aus dem Holzverkauf gerade in kleineren, waldreichen Territorien nicht unerheblich zum Haushalt beitragen. In Hessen beispielsweise ist ein deutlicher Anstieg der Forsteinnahmen seit den 1540er-Jahren zu beobachten. Für die königlichen Wälder Englands wird dagegen konstatiert, dass in erster Linie die Vielzahl von Ausnahmen die Effektivität der Forstordnungen deutlich gemindert habe.71

Städtewesen Das Städtewesen erfuhr während des Spätmittelalters kein entscheidendes Wachstum mehr, denn nunmehr prägten Kleinstädte oder Kümmerformen sein weiteres Anwachsen. Allerdings lassen sich Bedeutungsgewinne und -verluste etlicher Kommunen sowie ausgeprägte Schwerpunktverlagerungen auf regionaler und überregionaler Ebene beobachten, auf deren teilweise feine Nuancen hier nicht eingegangen werden kann. Die beiden wichtigsten städtischen Produktions- und Handelszentren des spätmittelalterlichen Reichs waren zweifellos Köln und Nürnberg. Als weitere bedeutende Handelsstädte lassen sich ohne Anspruch auf Vollzähligkeit für das Rheingebiet Basel, Straßburg und Mainz nennen, ebenso Frankfurt mit seinen Messen, dazu in Grenzlage Aachen, im Norden Bremen, Hamburg und Lübeck im Küstenbereich, im Binnenland Braunschweig sowie Lüneburg, im mitteldeutschen Raum Erfurt und Magdeburg, für den Süden ­zunächst noch Regensburg und seit dem 15. Jahrhundert mit erheblichem Bedeutungsgewinn Augsburg. Der Rheinische Bund der Jahre 1254/56 dokumentierte das gewachsene politische Bewusstsein der Städte und den – nicht eingelösten bzw. wohl eher nicht einlösbaren – Anspruch auf Machtteilhabe auf Reichsebene. Als einwohnerstärkste Stadt im Reichsgebiet ist eindeutig wiederum Köln mit etwa 45 000 Bewohnern an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zu nennen, doch erreichte diese Zahl bei Weitem nicht die Höchstwerte in Oberitalien oder Flandern, von Paris oder dem frühneuzeitlichen

71 Mantel: Wald, S. 165. Schenk: Waldnutzung, S. 298 f. Werner Michael Schwarz: Umweltstrafen. Fragen nach den historischen Bewertungskriterien von Umweltdelikten, in: Gerhard Jaritz/Verena ­Winiwarter (Hg.): Umweltbewältigung. Die historische Perspektive, Bielefeld 1994, S.  77–98, hier S. 87–92. Aberth: History, S. 122.

209

Spätmittelalter

London ganz zu schweigen. Einen europäischen Spitzenwert verkörperte Paris mit geschätzten 220 000 Einwohnern; in Italien erreichten Mailand, Venedig und Neapel jeweils 100 000 und mehr Bewohner. Immerhin etwa 25 000 Einwohner können für Nürnberg, Augsburg, Lübeck, Wien und Prag am Ende des 15. Jahrhunderts angenommen werden, nochmals ungefähr 5000 weniger für Bremen, Braunschweig, Magdeburg sowie Danzig. Eine Straßburger Zählung des Jahres 1474 ergab 20 722 Einwohner, was einen ausgesprochen seltenen konkreten Wert darstellt. Lüneburg und Erfurt dürften jeweils 18 500 Bewohner beherbergt haben, Würzburg und Ulm ca. 17 000. Als weitere Großstädte, und von solchen wird im Reich ab einer Einwohnerzahl von 10 000 gesprochen, können noch Aachen, Breslau, Elbing, Goslar, Hamburg, Königsberg, Kulm, Münster, Rostock, Soest, Stralsund und Thorn angeführt werden, selbst wenn ein Teil dieser heute in anderen Ländern liegt. Ansonsten blieb für das Reichsgebiet eine große Anzahl von Mittelstädten typisch und vorherrschend (2000 bis 10 000 Bewohner), welche die Städtelandschaften prägten. Zu diesen zählten beispielsweise die wichtige Messestadt Frankfurt am Main oder das einstmals bedeutende Trier. Bei weniger als 2000 Einwohnern wird von einer Kleinstadt gesprochen. Allerdings rissen seit dem Wiederaufleben der Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts, der etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel, immer wieder Seuchenzüge erhebliche Lücken in die Einwohnerschaft. Diesen Umstand nutzten in größerem Ausmaß Zuzügler vom Land, um das Bürgerrecht zu erwerben oder sich zumindest zu minderem Recht dort anzusiedeln. Unscharf ist der zeitgenössisch nicht verwendete Begriff „Ackerbürgerstadt“, der eine Stadt mit überwiegend agrarischer Ausrichtung kennzeichnen soll. Hiergegen muss betont werden, dass in allen Städten ein Teil der Bewohner im Hauptberuf landwirtschaftlich tätig war, ein weiterer Teil nebenerwerblich, während die zahlreichen Gärten und die Viehhaltung ohnehin zur Versorgung beitrugen. Selbst in Köln diente noch im Jahr 1681 mehr als ein Viertel der Stadtfläche dem Anbau von Wein, Obst und Gemüse. Die Versorgung ihrer Einwohner mit Lebensmitteln und Rohstoffen sowie die Absatzmöglichkeiten für deren Handwerksprodukte bestimmten vielfach die „Umlandpolitik“ der Städte, was freilich nicht ohne Widerstände der davon betroffenen Dörfer oder Städte in ihrem jeweiligen Einflussbereich blieb. Nur eine ausgesprochene Minderheit bildeten während des Spätmittel­ alters und der Frühen Neuzeit die Reichsstädte oder gar die nochmals deut210

Städtewesen

lich schwächer vertretenen Freien Städte. Einige Reichsstädte verloren ihre Sonderstellung in erster Linie durch Verpfändungen. Gleichwohl prägen diese Ausnahmen, und unter ihnen wiederum die größeren Kommunen, weithin das heutige Bild und die Vorstellungen von der mittelalterlichen Stadt. Denn gerade sie dienten der bürgerlichen (Stadt-)Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als Vorbild, da sie von vergangenem kommunalem Selbstbewusstsein kündeten. Ihre Strahlkraft war umso größer, als die politischen Partizipationsmöglichkeiten der „Bürger“ vornehmlich während der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts trotz ihrer steigenden Wirtschaftskraft nur gering waren. Das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht sollte die Industriellen und andere Vermögende dann jedoch immens bevorzugen. Einer definitorischen Annäherung sei vorausgeschickt, dass noch für die späte Stauferzeit die schon erwähnte Abgrenzung zwischen Königsstädten und staufischen Städten schwerfällt, denn Eigen- und Reichsgut waren keineswegs klar geschieden, sondern in hohem Ausmaß mit­ einander verwoben. Grob skizziert handelte es sich bei Reichsstädten also um a) Königsstädte auf Reichsboden und ehemals staufischem Hausgut sowie auf von den Staufern erworbenen oder ererbten Gebieten, welche schließlich König Rudolf von Habsburg (1273–1291) für das Reich beanspruchte, um b) Königsstädte auf ehemaligem Kirchengut oder um c) kirchliche Städte mit königlicher Vogtei. Mit dem Instrument der Vogtei übertrug ein geistliches Institut die Vertretung seiner weltlichen Angelegenheiten, besonders die Ausübung der hohen oder Blutgerichtsbarkeit, seltener jedoch die Verwaltung der Güter auf einen weltlichen Herren. In den beiden letztgenannten Fällen – Königsstädte auf ehemaligem Kirchengut und kirchliche Städte mit königlicher Vogtei – drängten die Herrscher mit Unterstützung ihrer Funktionsträger die Rechte der Kirche nach und nach zurück, was die Könige schließlich zu alleinigen Stadtherren werden ließ. Über Vogteien verfügten die Herrscher übrigens keinesfalls exklusiv, sondern zahl­ reiche Adlige bauten gleichfalls auf diese Weise ihre Position aus. Der Begriff „Reichsstadt“ (civitas imperii) löste die ältere Bezeichnung Königsstadt sowie deren lateinische Entsprechungen während der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ab. Dies geschah vor dem Hintergrund dessen, dass sich die Beziehungen zwischen Stadt und Herrscher zunehmend auf die jährliche Begleichung der Stadtsteuern reduzierten; daneben mussten fallweise Sondersteuern aufgebracht werden. Solche Sondersteuern konnten freilich durchaus dem persönlichen Interesse des Herrschers dienen, wie es z. B. im Fall des Erwerbs der Mark Brandenburg durch Karl IV. (Wahl zum 211

Spätmittelalter

(Gegen-)König 1346, König 1347–1378, Kaiser 1355–1378) für das Haus Luxemburg der Fall war. Doch direkte Eingriffe des Königs in städtisches Handeln nahmen angesichts mangelnder Erfolgsaussichten und einer ­fehlenden Exekutivmacht ab. Rudolf von Habsburg hatte noch 1274 versucht, zumindest in Schwaben sowie im Elsass – und damit in durchaus königsnahen Landschaften – eine direkte Vermögensbesteuerung der einzelnen Bürger durchzusetzen, musste jedoch seine Pläne aufgrund des energischen Widerstands der Kommunen und ihrer Bewohner aufgeben. Eine solche direkte Steuererhebung durch das Reich bei den Bürgern wäre ertragreicher gewesen und hätte die königliche Herrschaft konkret verdeutlicht, nicht nur symbolisiert. Hingegen fungierten bei der schon tradierten Praxis der Forderung einer Pauschalsumme und deren anschließender Umlegung in den Städten durch den Rat oder die Steuerherren diese als oberste Instanz, was ihre Stellung als Obrigkeit nun festigte. Auch ein weiterer Versuch des Habsburgers, 1284/85 direkt auf die finanziellen Mittel der Stadtbewohner zuzugreifen, führte verbreitet zu Unruhen. Bei den Freien Städten handelte es sich um ehemalige Bischofsstädte, denen es auf verschiedenen Wegen gelungen war, die bischöfliche Stadtherrschaft abzuschütteln. Dies konnte mit militärischen Mitteln wie in den Fällen Köln oder Straßburg geschehen, zumeist erfolgte die Ablösung aber friedlich durch den sukzessiven kauf- oder pfandweisen Erwerb einzelner stadtherrlicher Rechte, Einkünfte und Ämter. Die Pfandsummen wurden nicht selten in Höhen getrieben, die eine Rückgewinnung durch die geistlichen Herren unmöglich machten. 1262 schlug das Straßburger Bürger­ aufgebot mit adliger Unterstützung die Truppen Bischof Walters von Geroldseck, sein Nachfolger schloss im folgenden Jahr mit der Stadt Frieden. Die Kölner kämpften in eher nachrangiger Rolle an der Seite hochadliger Gegner des Erzbischofs Siegfried von Westerburg. Dieser betrieb eine expansive Territorialpolitik, um auf Kosten seiner Nachbarn seine Position als Herzog von Westfalen auch im Niederrheingebiet auszubauen und sein Territorium dort zu erweitern. Bei Worringen konnte 1288 die Schlacht ­erfolgreich entschieden werden, was die Stadtherrschaft der Erzbischöfe beendete. Erzbischof Dietrich II. von Moers verpfändete dann 1444 der Stadt Köln seine Einkünfte aus dem Rheinzoll, dem Viehzoll, dem Salzmaß, den Rheinmühlen, der Grut, der Fettwaage und aus Häusern und Gaddemen (Verkaufshallen) sowie 600 Mark aus dem Siegelgeld des geistlichen Gerichts gegen eine Schuldenübernahme von 29 900 Gulden. Damit musste zwar hinfort die Stadt Köln 19 Frankfurter und 13 Kölner Renten212

Städtewesen

bezieher mit insgesamt 1 374½ Gulden jährlich bedienen, hatte aber weiteren politischen und wirtschaftlichen Spielraum gewonnen.72 Letztlich blieb jedoch der rechtliche Status der Freien Städte kaum unsicherer als jener der Reichsstädte. Die Streitigkeiten über die letzten verbliebenen stadtherrlichen Rechte konnten sich noch über Jahrhunderte hinziehen. Mit deutlich ansteigender Tendenz unterstützten im 15.  Jahrhundert gelehrte Juristen die Rechtspositionen beider Seiten. Neben Köln zählten zu den Freien Städten Mainz, Worms, Speyer, Regensburg und Augsburg sowie die heute in Frankreich liegenden Kommunen Straßburg, Besançon, Toul, Metz, Verdun und Cambrai. Basel rechnete sich ebenfalls zu den Freien Städten, denn hier verfügte der Bischof in der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts nur noch über wenige Abgaben von Immobilien- sowie Grundbesitz als letzte Überbleibsel der ehemaligen stadtherrlichen Rechte. Ende des 15.  Jahrhunderts ließen schließlich die Bischöfe ihre neue Residenz im Jurastädtchen Pruntrut/Porrentruy errichten. Mainz konnte sich trotz formaler Oberherrschaft des Erzbischofs im 13. Jahrhundert auf Basis des Freiheitsprivilegs von 1244 zwar die Unabhängigkeit sichern, wurde jedoch – mit hohen Schulden belastet, zudem im Bischofsstreit auf der falschen Seite stehend – im Zuge der Mainzer Stiftsfehde 1462 wieder dem Territorium eingegliedert. Trier dagegen nutzten selbst jahrhundertelange Bemühungen und andauernde juristische Streitigkeiten um die Reichsfreiheit letztlich nichts. Die Stadt verblieb unter erzbischöflicher Herrschaft, die allerdings erst im 16. Jahrhundert definitiv durchgesetzt wurde. Aus den geschilderten Gründen lag die Mehrzahl der Reichsstädte südlich des Rheins mit Schwerpunkten in Franken, in Schwaben und im ­Elsass. Sie gewannen im Verlauf des Spätmittelalters als Resultat eines unterschiedlich ausgestalteten Emanzipationsprozesses eine weitgehend autonome Stellung, da sie sich die herrschaftlichen Rechte bis hin zur Hoch­ gerichtsbarkeit zu sichern verstanden. Überwiegend fand der Rechteerwerb vonseiten der stets in Geldnöten steckenden Könige hier zunächst gleichfalls auf dem Pfandwege statt. Andererseits verloren etwa 30 der deutlich über 100 Reichsstädte vor allem aufgrund von Verpfändungen bis ins 17. Jahrhundert hinein ihren Status und gingen in den sich formierenden 72 Horst Kranz: Die Kölner Rheinmühlen, II. Edition ausgewählter Quellen des 13. bis 18. Jahrhunderts. Mit einer Datenbank (Aachener Studien zur älteren Energiegeschichte, 2), Aachen 1993, S. 175–183.

213

Spätmittelalter

Territorien auf; zumeist handelte es sich dabei um kleinere und mittlere Städte. Allerdings lassen sich Gegenbeispiele nennen: So hatte Ludwig der Bayer zwar Rothenburg ob der Tauber an die Grafen von Hohenlohe verpfändet, doch die Stadt konnte sich 1335 gegen die Summe von 4000 Pfund Heller selbst auslösen. Als Gegenleistung musste der Kaiser den Bürgern, Christen wie Juden, eine siebenjährige Steuerfreiheit gegenüber dem Reich zusichern.73 Selbst eine kleine Reichsstadt wie Wangen im Allgäu, dessen Vogtei das Kloster St. Gallen als der größte Grundbesitzer der Umgebung 1267 erpfändete, konnte sich nach Jahrzehnten aus dieser Umklammerung durch einen Rückkauf befreien, in diesem Fall 1347; die Blüte der Stadt während des 15. und 16. Jahrhunderts stand in enger Verbindung mit dem Aufstieg der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft sowie dem daraus erwachsenen Beziehungsgeflecht. Das nahe gelegene, nach der Mitte des 13.  Jahrhunderts an die Truchsesse von Waldburg verpfändete, 1306 an diese verkaufte Isny konnte sich 1363 durch den Loskauf von den Truchsessen ebenfalls die Reichsunmittelbarkeit sichern. Diejenigen Städte, deren Rechte oder Regalien verpfändet waren, versuchten selbstverständlich, den Rückkauf wenn irgend möglich zu finanzieren, um so dem Verlust der Reichsunmittelbarkeit und der folgenden Mediatisierung zu entgehen. Selbst der Erwerb von Nichtverpfändungsprivilegien von den Königen schützte nicht in jedem Fall. Die Verpfändungen von Kommunen sprechen jedenfalls dafür, dass es den Herrschern weniger um die konkrete Herrschaftsausübung in den Reichsstädten ging – oder sie und ihre Berater anerkannten schlicht die Fruchtlosigkeit derartiger Anstrengungen –, sondern stattdessen die Stadtsteuern und weitere finanzielle Leistungen der Kommunen die zentrale Rolle spielten. Freilich gestalteten sich die Verbindungen zwischen Königen und Reichsstädten sehr unterschiedlich: Einige wie Nürnberg oder Frankfurt am Main orientierten sich stark auf den jeweiligen Herrscher hin, während schon aufgrund der großen Entfernung und der geringen Eingriffsmöglichkeiten der Könige im Norden des Reichs beispielsweise die Bindungen Lübecks oder Hamburgs nur noch ausgesprochen locker ausgeprägt waren. Auf dem Reichstag von 1521 zählten offiziell noch 88 Reichsstädte zum Städterat, doch darf wohl getrost ein Viertel von dieser Anzahl abgezogen werden. Schon die Formierung der Eidgenossenschaft und ihr De-facto-Ausscheiden aus dem Reichsverband vornehmlich im 15.  Jahrhundert reduzierte 73 Abdruck in Weinrich: Quellen Verfassungsgeschichte, S. 285.

214

Städtewesen

die Anzahl der Reichsstädte, da diese selbst eine nur noch formelle Oberherrschaft der Könige nicht mehr anerkannten. Ähnliches gilt in der Folge für den Übergang etlicher Städte an Frankreich. Zum entscheidenden Gremium konnte sich in den Reichsstädten nunmehr der Rat entwickeln. Falls neben den statuarischen Gesetzgebungsbefugnissen – bei Verstößen gegen diese Statuten beanspruchte der Rat die alleinige Gerichtsbarkeit – sowie der Finanzhoheit des Rats auch die Vogtei oder das Schultheißenamt und somit die hohe Gerichtsbarkeit an die Stadt fielen, konnte diese in der Folge weitgehend autonom agieren. In der Regel erfolgte der Erwerb wiederum pfandweise. Dennoch gelang es den Königen immer wieder – besonders im Fall von innerstädtischen Konflikten –, in die kommunalen Verhältnisse einzugreifen und somit direkten Einfluss beispielsweise auf die Ratsbesetzung zu nehmen. Teilweise erhebliche finanzielle Mittel mussten die Städte für Privilegienbestätigungen und die Erweiterung städtischer Freiheiten und Rechte aufbringen. Beim Herrschafts­ antritt eines neuen Königs war es zwingend notwendig, sich die städtischen Privilegien von diesem bestätigen zu lassen. Zu diesem Zweck reisten hochrangige kommunale Gesandtschaften zu den Krönungsfeierlichkeiten oder später an die Höfe. Im 15. Jahrhundert beschickten die Städte zunehmend auch die Reichstage. Doch gestalteten sich derart langwierige Unternehmungen vielfach kostspielig, galt es doch den Rang der Stadt zu repräsentieren, wozu die Ausrichtung von Feierlichkeiten und Festmählern zählte. Um solche Kosten zu senken, ließen sich kleinere Kommunen häufig von großen Städten vertreten. Auf den Reichstagen ging es den Städten vornehmlich darum, eine übermäßig hohe Steuerlast zu verhindern und eine ihren Interessen entsprechende Friedensordnung auf den Weg zu bringen. Damit sollte nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zahlreichen Fehden mit mehr oder weniger legitimen Begründungen die stets latente Gefahr von Überfällen auf die Kaufmannszüge oder die bäuerlichen Hintersassen reduziert werden. Allerdings dauerte es bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, bevor die teilweise miteinander rivalisierenden Kommunen auf Städtetagen begannen, ihre politischen Absichten zumindest in den Grundzügen untereinander abzustimmen, um derart schließlich gemeinschaftlich und aktiv an den Reichstagen teilnehmen zu können – wenngleich mit letztlich nur geringen Wirkungsmöglichkeiten. Reichsrechtlich ragten Aachen als Ort der Königskrönung, Frankfurt als Wahlort des zukünftigen Königs und Nürnberg als Gastgeber des ersten Reichstags nach der Neuwahl eines Königs aus dem Kreis der Reichsstädte 215

Spätmittelalter

heraus. Nürnberg diente zudem seit 1424 als Aufbewahrungsort der Reichsinsignien bzw. der Reichskleinodien; König Sigismund hatte sie dorthin aus Karlstein vor den Hussiten in Sicherheit bringen lassen. Die jährliche Präsentation der Insignien ließ der Rat in den folgenden Jahrzehnten zu einem großen Fest ausgestalten, das zahlreiche, auch hochrangige Besucher anlockte. Freilich musste für diese Anlässe die Zahl der Bewaffneten und der Wachen deutlich erhöht werden. Nach dem Bericht des Conrad Celtis kam es bei der Heiltumsweisung des Jahres 1465 dennoch zu einem schweren Zwischenfall: Eine Krähe lockerte auf der Suche nach Material für ihren Nestbau einen Dachziegel, der anschließend auf den voll besetzten Markt fiel, wo er einige Personen verletzte. Da die Ursache weithin unbekannt blieb, entwickelte sich weiter entfernt vom Ort des Geschehens ein Auflauf, da die Besucher dort wesentlich stärker in Sorge und Schrecken waren, eine Untat fürchtend, als die Betroffenen und die in ihrem Umkreis Stehenden, denen der Grund des Unfalls eben klar war. In dem nun entstehenden Auflauf – heute wäre bei im Grunde gleich gelagerten Fällen von einer Panik die Rede – wurden schließlich mehrere Teilnehmer zu Tode getrampelt oder erdrückt, weitere verletzt.74 1524 schaffte der Rat schließlich die Heiltums­ weisung im Zuge der Reformation ab; heute befinden sich die Reichsinsignien im Schweizertrakt der Wiener Hofburg. Seine letzten Reichstage sah Nürnberg 1542 und 1543, da die offiziell strikt altgläubigen habsburgischen Herrscher die nunmehr protestantische Stadt trotz der Bestimmungen der Goldenen Bulle von 1356 konsequent zu meiden trachteten. Während des 16. Jahrhunderts stagnierte die Einwohnerzahl in etlichen großen Städten nicht zuletzt aufgrund von Versorgungsschwierigkeiten vornehmlich mit Lebensmitteln. Entgegen diesem Trend wuchsen beispielsweise Augsburg, Frankfurt am Main, Leipzig, München sowie Wien nochmals deutlich an, und selbst im sächsischen Dresden lebte nunmehr eine fünfstellige Anzahl von Bewohnern. Für die Frühe Neuzeit wurde das Aufkommen neuer Städtetypen konstatiert, doch handelt es sich bei derartigen Klassifizierungen nur um nachträgliche Systematisierungen der Forschung, die eine Orientierung bieten sollen. Über die konkrete Einordnung kann im Einzelfall sicherlich berechtigt gestritten werden, ebenso konnte eine Stadt verschiedene Charakteristika in sich vereinen. So fand beispielsweise seit dem 15. und 16. Jahrhundert der Begriff „Hauptstadt“ in seiner Bedeutung als Vorort eines Territoriums Verwendung. Im 17. Jahrhundert 74 Müllner hat diese Geschichte in sein Werk aufgenommen: Annalen, Tl. II, S. 249.

216

Städtewesen

kam dann die Kopplung von Haupt- und Residenzstadt auf, wobei sich das Wort „Residenzstadt“ im deutschen Sprachraum seit dem Ende des 16.  Jahrhunderts nachweisen lässt. Für Zedlers Universal-Lexikon galt: „Residenz ist diejenige Stadt, in welcher ein Potentat oder Fürst sein Hoflager hält, daselbst auch die oberen Collegia als Regierung, Hofgericht, Cammer und andere, so die gemeinen Angelegenheiten des Landes zu besorgen haben, arbeiten.“75 Besonders in Niederdeutschland erfolgte während des 16. Jahrhunderts und nochmals verstärkt nach dem Dreißigjährigen Krieg die Einbeziehung von zuvor quasi autonomen Städten wie Braunschweig, Lüneburg, Osnabrück oder Göttingen in die sich formierenden Territorialstaaten; Analoges galt beispielsweise für Magdeburg oder Erfurt. Zwar bedeutete dieser Prozess den Verlust sowohl von politischer Bedeutung als auch von Vorrechten der ehemaligen Führungsschicht, doch profitierten Gewerbe und Handel in vielen Fällen. Verfügten sie doch nun über größere Absatzgebiete, nachdem die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzende merkantilistische Wirtschaftspolitik der Territorien ihre Exportmöglichkeiten zunächst reduziert hatte. Für die große Menge der Einwohnerschaft wechselte ohnehin nur die Herrschaft, hatten die Räte doch auch schon zuvor eine Stellung als Obrigkeit beansprucht und Gehorsam eingefordert. Bereits für die vorangegangenen Jahrhunderte kann von einem Dualismus zwischen Rat und Gemeinde gesprochen werden. Verstärkt gelangten nunmehr aufgrund des gestiegenen Einflusses der Stadtherren landesherrliche Funktionsträger in die kommunalen Räte und nahmen teilweise bestimmenden Einfluss auf die Entscheidungen, ohne dass die Bürger politisch komplett entmündigt worden wären. Innerstädtische Unruhen nahmen vor und in der Reformationszeit wieder deutlich zu und religiöse Forderungen mischten sich gehäuft mit politischen sowie sozialen. Die beiden Jahrzehnte jeweils vor und nach der Wende zum 17. Jahrhundert bildeten einen weiteren Höhepunkt der Unruhen. Bereits im Spätmittelalter entstanden erste Bergstädte, die ein rasches Wachstum verzeichnen konnten; sie werden gemeinsam mit dem Montansektor an späterer Stelle thematisiert. Zu nennen sind weiterhin Festungsstädte wie Jülich, Neubreisach oder Saarlouis, ebenso die nicht ­eindeutig definierten Idealstädte, welche sich neutraler als Planstädte bezeichnen lassen. Die Anlage von Flüchtlings- oder Exulantenstädten fiel 75 Johann Heinrich Zedler: Grosses Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden wurden, Bd. 31, Leipzig/Halle 1742, Sp. 405.

217

Spätmittelalter

überwiegend in die Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, während der Terminus „Universitätsstadt“ schon aufgrund der geringen Zahl von Lehrenden und Studenten nur einen Teil der Funktionen dieser Städte abdeckt. Städte waren die ersten Träger reformatorischer Bestrebungen, bevor sich spätestens im vierten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts eindeutig Fürsten an deren Spitze stellen sollten. Im Laufe des 16.  Jahrhunderts nahm die Zahl mauerbrechender Kanonen zu, doch für einen Neubau der Stadtbefestigung oder zumindest für die Einbeziehung der alten Mauern in das nunmehr notwendige Befestigungswerk mit Verschanzungen, Bastionen etc. fehlten den meisten Städten die notwendigen Mittel. Während des Dreißigjährigen Krieges ergaben sich daher viele Städte bereits nach kurzem Beschuss, wurden teilweise geplündert und mussten hohe Kontributionsleistungen aufbringen. Wallenstein hatte als Erster damit begonnen, die Aufwendungen für seine Truppen systematisch durch erpresste Kontributionen zu bezahlen. Die Zahlungen hatten diejenigen Territorien zu leisten, in denen er sich gerade aufhielt, und es spielte dabei keine Rolle, ob es sich um Feinde oder Verbündete handelte. Seit dem Ende der 1620erJahre übernahmen auch die anderen Kriegsparteien diese Finanzierungspraxis, was ihnen zwar die weitere Kriegsführung ermöglichte, aber Territorien und Städte nicht nur finanziell auspresste.

Innere Urbanisierung In den spätmittelalterlichen Kommunen gewann die Vorstellung an Gewicht – oder zumindest lässt sich ein derartiger Wandel nunmehr erstmals erkennen –, dass es sich bei der Ver- und Entsorgung zumindest in Teilen um eine obrigkeitlich zu regelnde Aufgabe handelte. Mithin wurden die Städte selbst gestaltend aktiv und erließen einschlägige Verordnungen, wobei die beschrittenen Wege wieder einmal variierten. Um beide Extreme von vornherein auszuschließen: Die Städte waren weder Oasen aus Stein noch schmutzstarrende Agglomerationen. Maßnahmen zur Verbesserung der kommunalen Infrastruktur umfassten in erster Linie die Wasserversorgung, die Pflasterung von Straßen und Plätzen sowie die Beseitigung von Unrat einschließlich der Regelungen zur innerstädtischen Viehhaltung. Dazu trat die Marktaufsicht zur Überwachung der Lebensmittelqualität vornehmlich von Fleisch und Fisch. Grundsätzlich ist bei allen von städtischen Räten erlassenen Bestimmungen zu bedenken, dass ihre regelmäßigen Wiederholungen entweder nach erfolgreicher Umsetzung quasi 218

Städtewesen

nur der Erinnerung gedient haben könnten oder auch ihrer Gering- bzw. Nichtbeachtung geschuldet sein könnten. Über die Umsetzung schweigen die Rechtstexte in der Regel, hier können die chronikalische Überlieferung und insbesondere die leider kaum edierten Aufzeichnungen der niederen Gerichtsbarkeit für Abhilfe sorgen. Bereits an dieser Stelle sei jedoch einer Einschätzung zu etlichen oberdeutschen und englischen Städten zugestimmt, wonach die Kommunen einen ständigen, wenngleich nicht immer erfolgreichen Kampf um die Sauberkeit der Städte und die Erhaltung der Lebensqualität geführt haben.76

Wasserversorgung Die Wasserversorgung der Städte musste nicht nur die Erfordernis von sauberem Trinkwasser erfüllen, sondern angesichts der vielen, zumeist jedoch auf ein oder wenige Häuser begrenzten Brände auch ausreichend Löschwasser zur Verfügung stellen; weiterhin benötigten zahlreiche Handwerker zwingend Wasser oder Fließgewässer. Eine Überprüfung der Wasserqualität blieb bis weit in die Neuzeit hinein auf Geschmack, Aussehen und Geruch beschränkt, und damit ausschließlich auf eine Sinnenprüfung. Daneben konnten mögliche Reaktionen von Mensch und Vieh nach dem Genuss der verschiedenen Gewässer beobachtet und eingeordnet werden. Leon Battista Alberti, in dessen Ausführungen sich eine intensive Antikenrezeption mit eigenen Beobachtungen und Wertungen mischten, glaubte um die Mitte des 15.  Jahrhunderts, dass die beste Qualität für Trinkwasser das Regenwasser liefere, welches aber bei Lagerung leicht verfaule und verderbe. Darauf folgten in seiner Sicht Quellwasser in unterschiedlicher Güte, die u. a. von der Lage der Quelle abhing, dann fließendes Wasser, Brunnen und schließlich die ungesunden, stehenden Gewässer. Letztlich sollte das Wasser leicht sein, außerdem hell, dünn und vollkommen durchsichtig. Den Hintergrund für diese Überlegungen bildete unverändert das antike humoralpathologische Gedankengebäude in Verbindung mit der Miasmatheorie, welches schließlich mit den Erkenntnissen der Bakteriologie gegen Ende des 19.  Jahrhunderts definitiv zum Einsturz gebracht werden sollte. Zu einem grundlegenden Umdenken führte beispielsweise in Hamburg erst die Choleraepidemie des Jahres 1892, während der ausgesprochen spät und nach massiven Interventionen 76 Falk/Gläser/Moeck-Schlömer: Wasserversorgung, S. 556.

219

Spätmittelalter

von außen adäquate Maßnahmen ergriffen wurden.77 In der Vorstellungswelt der Humoralpathologie wurden die verschiedensten Krankheiten als Fehlmischungen der vier Körpersäfte erklärt, während die Miasmatheorie in knapper Verkürzung von der Vorstellung ausging, dass verunreinigte Luft Krankheiten verursache und massiv zu deren Verbreitung beitrage. Öffentliche Brunnen sind zwar erst seit dem 14. Jahrhundert in größerer Zahl belegt, doch dürften sie, ebenso wie private Brunnen, zumeist so alt gewesen sein wie die jeweilige Stadt. Je nach Untergrund wurden die Brunnenwände zumeist entweder zwecks Stabilisierung – etwa bei lockerer Bodenbeschaffenheit – mit Holz verkleidet oder es galt, die Brunnen mühsam in einen steinigen, felsigen Grund hineinzutreiben. Daneben nutzten die Brunnenbauer wie in Braunschweig auch ausrangierte Transportfässer als Brunnenfassung. Für die Anlage von Brunnen bargen freilich die weicheren Böden erhebliche Gefahren, konnte doch das Erdreich nachgeben: So berichtete der Kölner Hermann Weinsberg von einem Steinmetz, der 1540 beim Graben und Mauern eines Brunnens von den Erdmassen verschüttet wurde, aber glücklicherweise nach drei Tagen ­lebend geborgen werden konnte. Ein 1155/56 in Lübeck errichteter Brunnen wies eine Tiefe von knapp 10,5 Metern auf, wobei die mit kleinen Steinen gepflasterte Sohle eine Versandung verhindern und ein Brunnenhaus die Gerätschaften vor den Wetterunbilden schützen sollte; Brunnen in Rostock erreichten bis zu 15 Meter Tiefe. Die hölzernen Brunnenhäuser erwiesen sich als ebenso reparaturanfällig wie die häufig zu erneuernden Seile. Brunnen im Hausinneren, wie in Regensburg teilweise ergraben, waren überwiegend mit Bruch- oder Hausteinen, aber auch mit Quadersteinen gemauert und bedurften keines besonderen Schutzes. Im 14.  und 15.  Jahrhundert ersetzten dann zunehmend mit Steinen oder ­Ziegeln gemauerte Brunnen ihre hölzernen Vorgänger im öffentlichen ebenso wie im privaten Bereich.78 77 Alberti: Zehn Bücher, S. 546–553. Zur kommunalen Wasserversorgung vgl. umfassend Grewe: Wasserversorgung, S. 53–74. Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 367–414. 78 Fehring: Stadtarchäologie, S. 51. Buch Weinsberg, 1, S. 148. Gläser: Infrastrukturen, S. 183 f. Ralf Mulsow: Archäologische Quellen zur Infrastruktur der Hansestadt Rostock, in: Lübecker Kolloquium IV, S. 221–235, hier S. 223–227. Auf Höhenburgen mussten die Brunnen vielfach in weitaus größere Tiefen vorangetrieben werden; so maß der Burgbrunnen von Regenstein 195 Meter, der auf Kyffhausen 176 und der in Homburg/Efze 170 Meter. Derartige Werte bildeten sicherlich Ausnahmen, doch erreichte der Brunnen der um 1200 erbauten Burg Trifels mit 79 Metern gleichfalls eine beträchtliche Tiefe; Fuhrmann: Wasserversorgung, S. 107. Dallmeier: Ver- und Entsorgung, S. 285 f. Gechter: Wasserversorgung, S. 223.

220

Städtewesen

Nach Endres Tucher hielten in Nürnberg die Seile der öffentlichen Brunnen zumeist nicht länger als 16 oder 18 Wochen, bei bester Wartung konnten die Seile am Ratsbrunnen immerhin eineinhalb Jahre genutzt werden. Zumindest einige öffentliche Brunnen ließ er daher während seiner Amtszeit als städtischer Baumeister mit wesentlich teureren, aber haltbareren Ketten anstelle der Seile versehen. Ansonsten wies Tucher die Brunnenmeister ausdrücklich darauf hin, dass die Anlagen in regelmäßigen Abständen zu reinigen seien. Dass außergewöhnliche Verunreinigungen als gefährlich wahrgenommen wurden und zu Reaktionen führten, belegt schon die Notiz, dass Tucher den Brunnen auf der Feste kurzfristig reinigen ließ, nachdem eine Katze hineingefallen und darin ertrunken war; eine derartige Praxis ist ebenso für Köln belegt.79 Insgesamt könnten in Nürnberg während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts 95 öffentliche Ziehbrunnen in Gebrauch gewesen sein, vier weitere waren außer Betrieb. Die Zahl der privaten Brunnen dürfte sich wie in anderen Städten kaum noch ermitteln lassen, lag aber wohl nochmals deutlich höher. Für Frankfurt sind Brunnenfeger (bornfeger) erstmals 1358 in den Steuerbüchern nachweisbar, was erneut dafür spricht, dass die Bedeutung von sauberem Wasser hoch eingeschätzt wurde; Brunnenmacher tauchen erstmals 1328 in dieser Quellengattung auf. Seit dem 14. Jahrhundert lässt die Überlieferung, vorerst eher vereinzelt, auch Brunnenmeister erkennen, denen die Aufsicht über die (öffentliche) Wasserversorgung oblag, so in Freiburg im Breisgau 1333, in Basel 1360, in Heilbronn 1362 oder in Zürich 1370. Vielfach wurden in den Städten die Anlieger zu Brunnengemeinschaften zusammengeschlossen, welche für die Funktionsfähigkeit sowie für die Reinhaltung der Anlagen Sorge zu tragen hatten, seltener aber für deren Bau. Gelegentlich übernahm der Rat den Unterhalt der Brunnen und legte die dafür anfallenden Kosten auf die Anlieger sowie weitere Nutzer um. Grundsätzlich belegten die Stadtrechte die absichtliche Verunreinigung von Brunnen mit hohen Strafen; vielfach war das Waschen von Bekleidung oder anderen Textilien in den Brunnentrögen verboten. Konstanz verbot den Totengräbern explizit, ihre Gerätschaften in diesen Behältnissen zu säubern.80 79 Endres Tuchers Baumeisterbuch, S. 110 f., 195, 301 f. Gechter: Wasserversorgung, S. 223. 80 Karl Bücher: Die Berufe der Stadt Frankfurt a. M. im Mittelalter, Leipzig 1914, S. 32. Gerhard Fouquet: Bauen für die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters. Eine vergleichende Studie vornehmlich zwischen den Städten Basel und Marburg (Städteforschung, A. 48), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 241. Illi/Höfler: Versorgung, S. 360 f. Vgl. u. a. Stein: Akten, II, S. 508 f. Solleder: München, S. 368 f. Wolf (Hg.): Gesetze, S. 277, 351 f. Gechter:

221

Spätmittelalter

Neben Grundwasserbrunnen trugen in unterschiedlichem Umfang mit Quellwasser aus dem Umland gespeiste Leitungen zur Wasserversorgung bei. Doch musste deren Verlauf außerhalb der Mauern absolut geheim bleiben, da im Fall von Fehden die Gegner der Stadt ansonsten die überlebensnotwendige Wasserzufuhr leicht hätten unterbrechen können. Schon deswegen kam privaten wie öffentlichen Brunnen innerhalb der Mauerringe eine hohe Bedeutung zu. Das wichtigste Material für die Wasserrohre bildete einmal mehr Holz. Mit zunehmender Fertigkeit bohrten die Handwerker die Stämme, vorwiegend wohl Nadelbäume und Erlen, aber auch Weichholzarten wie Weiden, der Länge nach auf und verbanden sie dann bei der Verlegung überwiegend mit eisernen Muffen. In und zu Klöstern lassen sich Wasserleitungen spätestens für das 12. Jahrhundert nachweisen, hier zwar in deutlich kleineren Dimensionen als später bei den kommunalen Leitungen, doch dürften diese den städtischen Systemen als Vorbild gedient haben. So wurden die ersten Basler Wasserleitungen im 13. Jahrhundert noch in kirchlicher Regie angelegt, bevor die Stadt 1316 die Zuständigkeit übernahm. In Bern wiederum lieferte der heiße und trockene Sommer des Jahres 1393 den Anlass, eine aus Quellwasser gespeiste Leitung in die Stadt zu führen; die Leitungsquerschnitte lagen in Bern zwischen sechs und zehn Zentimetern. Ob Wasserleitungen in Pfalzen oder Burgen wie beispielsweise die wohl zwischen 1065 und 1074 in der Harzburg angelegte Leitung für spätere kommunale Anlagen gleichfalls modellhaft gewirkt haben, muss hingegen offen bleiben; die Pfalz in Goslar soll bereits 1036 mittels Rohren mit Wasser versorgt worden sein. Allerdings kannten weder die klösterlichen Anlagen noch diejenigen in Burgen oder Pfalzen Hebewerke, wie sie sich in den Städten vielfach als notwendig erwiesen.81 In Lübeck initiierten die Brauer, keinesfalls untypisch für den Norden, Ende des 13. Jahrhunderts den Bau von Wasserleitungen. Gespeist wurden sie aus der Wakenitz, deren Wasserpegel man mittels eines Staudamms

Wasserversorgung, S. 222. Keussen, Topographie, S. 172. Zu Brunnengemeinschaften vgl. Wolfgang Schmid: Brunnen und Gemeinschaft im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 276 (1998), S. 561– 586, hier S. 573–575. Helmut Maurer: Konstanz im Mittelalter, I: Von den Anfängen bis zum Konzil, Konstanz 1989, S. 245. 81 Grewe: Wasserversorgung, S. 40–48. Clemens Kosch: Wasserbaueinrichtungen in hochmittelalterlichen Konventanlagen Mitteleuropas, in: Wasserversorgung Mittelalter: S. 87–146, hier S. 99–109. Gerber: Bauen, S. 33 f. Baeriswyl: Sodbrunnen, S. 57 f. Auch in England ließen die ersten innerstädtischen Wasserleitungen weit überwiegend geistliche Institute errichten; C. James Bond: Mittelalterliche Wasserversorgung in England und Wales, in: Wasserversorgung Mittelalter, S. 147–183, hier S. 161–168. Busch: Wasserversorgung, S. 301.

222

Städtewesen

e­ rhöhte. Mithilfe eines Wasserrads wurde das Wasser anschließend in ein darüber errichtetes Becken geführt, von dem aus das innerstädtische Gefälle genutzt werden konnte. 1302 folgte eine zweite Leitung. Unterirdisch verlegte Röhren speisten derart Häuser sowie öffentliche Brunnen, wobei eine unterirdische Leitungsführung zudem einen gewissen Frostschutz bot. Die Gesamtlänge dieses Leitungsnetzes betrug zunächst gut 3000 Meter, bevor zu Beginn des 14. Jahrhunderts mit dem Bau sechs neuer Wasserkünste begonnen wurde, sodass nunmehr eine Netzlänge von beträchtlichen 10 000 Metern versorgt werden konnte. Das Schöpfrad wurde vermutlich 1463 durch ein Pumpwerk ersetzt. Erst 1867 und damit nach Jahrhunderten sollte dieses bewährte System aufgegeben werden. Weitere Leitungsbauten in Niederdeutschland stießen gleichfalls die Brauer mit ihrem hohen Frischwasserbedarf an. Für Stralsund wird bereits vor 1250 von einer Fernleitung berichtet, welche von einem Teich am Stadtrand ausgehend die Fließbrunnen speiste. Ein flächendeckendes Freigefälleleitungsnetz wurde wahrscheinlich im späten 13. Jahrhundert in der Stadt angelegt. Eine weitere, zwischen 1418 und 1420 errichtete Quellwasserleitung verdarb jedoch nach kurzer Zeit. Im späten 14. Jahrhundert erfolgte in Lüneburg der Bau von zwei öffentlichen Wasserleitungen, in Bremen der Bau des Wasserrades an der Weserbrücke.82 Eine Ausnahme als technisches Wunderwerk bildete in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Anlage des Salzburger Almkanals, der unter dem Mönchsberg verlief, um die unzureichende Wasserversorgung zu verbessern. Zusätzlich führten die Bauhandwerker dem Kanal ab 1160 das Wasser des Rosittenbachs zu, welches über Holzrinnen durch ein Moos, also ein Moor, geleitet wurde. Allerdings handelte es sich bei den Bauherren auch um das Salzburger Domkapitel sowie das dortige Kloster St.  Peter. Die Verbindung zur namensgebenden Alm (Königsseeache, Berchtesgadener Ache) konnte schließlich 1286 hergestellt werden. Der Bau des städtischen Arms erfolgte hingegen erst in den Jahren zwischen 1356 und 1387. In Luzern musste eine Wasserleitung im Spätmittelalter sogar über eine Brücke geführt werden, um die Quellen der jenseitigen Höhen nutzen zu können, während Krakau den Bau von Wasserleitungen im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts deutlich forcierte.83 82 Gläser: Infrastrukturen, S.  187–190. Vgl. z. B. Falk/Gläser/Moeck-Schlömer: Wasserversorgung, S. 555. Grewe: Wasserversorgung, S. 57 f., 61, 66. Heiko Schäfer: Aquevectores, putei, aqueductus – Wasserfuhrleute, Brunnenschächte und Wasserleitungen, Archäologie unter dem Straßenpflaster. 15 Jahre Stadtkernarchäologie in Mecklenburg-Vorpommern (Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns, 39), Schwerin 2005, S. 249–252, hier S. 251.

223

Spätmittelalter

Für den oberdeutsch-eidgenössischen Raum lassen sich für das 14. Jahrhundert Freiburg im Breisgau, dessen Leitungen vermutlich älter sind, da im Altstadtbereich Tiefbrunnen bisher archäologisch nicht nachgewiesen werden konnten, Nürnberg, Frankfurt, Überlingen, Schaffhausen und Bern nennen, im 15. Jahrhundert folgten weitere Städte. Wiederum nach Endres Tucher verfügte Nürnberg um 1470 zusätzlich über 17 Laufbrunnen. In Regensburg erfolgte der Bau einer öffentlichen Wasserleitung, die mehrere Brunnen versorgte, erst 1551, während die bleierne Leitung des Klosters St.  Emmeram wesentlich älteren Ursprungs war. Die Wasserkünste nahmen im ausgehenden Mittelalter vielerorts an Zahl zu. Jedoch legten wie in Augsburg oder Ulm, wo jeweils eine solche Anlage vor 1340 errichtet worden sein dürfte, immer wieder technische Probleme die Pump- oder Hebewerke vorübergehend lahm. Burkard Zink berichtet für das Jahr 1416, dass der Augsburger Rat sieben Brunnenhäuser bauen ließ, sich dann aber die für die Zuleitung des Wassers aus Eisen geschmiedeten Rohre als zu eng erwiesen, womit das Bauvorhaben zunächst ein Ende fand. Den verantwortlichen Brunnenmeister entließ der Rat, was lang ­andauernde Streitigkeiten nach sich zog. Als grundsätzlich notwendig erwiesen sich Wasserkünste, wenn das innerstädtische Bodengefälle für Fließwasser zu gering war. Um Abhilfe zu schaffen, erfolgte seit der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts verbreitet der Bau von Wassertürmen. Erste derartige Bauwerke waren im oberdeutschen Raum in Ulm (1340), Memmingen (1388) und Augsburg (1416 und 1538) entstanden, aber auch in Niederdeutschland wurden solche Projekte realisiert.84 Das jüngere Augsburger Bauwerk vermerkte Michel de Montaigne in seinen Aufzeichnungen durchaus bewundernd, konnte allerdings in der Stadt „kein einziges schönes Frauenzimmer“ erblicken: 83 Heinz Dopsch: Der Almkanal in Salzburg. Ein städtisches Kanalbauwerk des hohen Mittelalters in Vergangenheit und Gegenwart, in: Sydow (Hg.): Versorgung, S. 46–76, hier S. 53–65. Glauser: Stadt, S.  65. Waldemar Komorowski: Die städtebaulich-architektonische Entwicklung Krakaus intra muros im 14. und 15. Jahrhundert, in: Mühle (Hg.): Breslau und Krakau, S. 241–277, hier S. 274. 84 Dirlmeier: Zuständigkeiten, S. 134. Grewe: Wasserversorgung, S. 57. Hoffmann: Wassernöte, S. 33. Zur Entwicklung vornehmlich in den oberitalienischen Kommunen vgl. Duccio Balestracci: Die Entwicklung der städtischen Wasserversorgung in Italien vom 12. bis 15. Jahrhundert, in: Wasserversorgung Renaissancezeit, S.  61–98. Dallmeier: Ver- und Entsorgung, S.  285. Chronik Zink, S. 144 f. Hoffmann: Stand, S. 123. In Prag wuchs zunächst in der Altstadt ein Wasserturm in die Höhe, der 1489 fertiggestellt wurde und von nun an die Wasserleitung versorgte; die Neustadt folgte nur wenig später. František Šmahel: Prag in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Evamaria Engel/Karen Lambrecht/Hanna Nogossek (Hg.): Metropolen im Wandel. Zentralität in Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Berlin 1995, S. 185–211, hier S. 200.

224

Städtewesen

„An dem Stadttor, durch das wir eingezogen waren, bemerkten wir unter der Brücke eine große Wasserleitung, die von außen kommt, und auf eine hölzerne Brücke unter der Verkehrsbrücke und über dem Fluß, der durch den Stadtgraben zieht, hinweggeleitet ist. Diese Leitung dient dazu, eine bestimmte Anzahl Räder zu treiben, die mehrere Pumpen in Bewegung setzen und durch zwei Bleiröhren das Wasser eines Brunnens, der dort sehr tief liegt, auf die Höhe eines mindestens fünfzig Fuß hohen Turmes heben. Hier ergießt sich das Wasser in einen großen steinernen Behälter, sinkt in verschiedenen Röhren wieder hinunter und verteilt sich von da in die Stadt, die durch dieses eine Kunstmittel mit Brunnen reich versehen ist. Die Eigentümer, die eine Abzweigung davon für den eigenen Gebrauch wollen, haben der Stadt bloß zehn Gulden Rente oder zweihundert Gulden einmalig zu zahlen. Es sind vierzig Jahre her, seit die Stadt mit diesem ansehnlichen Werk verschönert worden ist.“85

Dresden dürfte spätestens 1410 den Kaitzbach durch die Stadt geleitet haben, um die Versorgung mit Trink- und Brauchwasser zu sichern; im 16.  Jahrhundert erfolgte die Wasserzufuhr dann mittels Rohrleitungen. Der um 1320 über eine Entfernung von etwa dreieinhalb Kilometern nach Wittenberg geführte Rischebach diente zunächst dem Betrieb der landesherrlichen Stadtmühle, lieferte zudem das Wasser für einen Teil der Brauer und Brauchwasser für die Handwerker, schließlich leitete er in einer letzten Nutzung die Abwässer in die Elbe ab. Zu den Kosten für die Reinhaltung zog der Stadtherr die anliegenden Hausbewohner heran. 1543 folgte der Bau einer Rohrleitung zur Versorgung von Schloss und Stadt. Die Errichtung einer Wasserkunst in Celle um 1530 stand in enger Verbindung mit dem Ausbau zur Residenzstadt. Dagegen nützte die 1423 privat finanzierte Umleitung des Dieckborn in die Mauern Hannovers nur wenigen zahlungskräftigen Bürgern; 1435 ließen etwa 300 weitere Bürger ein Pumpwerk zu ihrer Versorgung erbauen. 1468 wurde schließlich der Bau eines Schöpfrades vor dem Leinetor mitsamt einer Wasserleitung zum Marktplatz durch den Rat beauftragt; Nebenleitungen versorgten weitere Straßen. Zuvor hatten Wasserfahrer das Wasser aus der Leine in Fässern durch die Stadt transportiert und dort verkauft, daneben waren etliche Ziehbrunnen in Betrieb. In Saarbrücken kamen Laufbrunnen spätestens zwischen 1544 und 1554 auf.86 85 Montaigne: Tagebuch, S. 61 f. 86 Papke: Stadt, S. 308–310. Burkhart Richter: Wittenberger Rohrenwasser. Ein technisches Denkmal aus dem 16.  Jahrhundert, in: 700 Jahre Wittenberg. Stadt, Universität, Reformation, hg. v. Stefan Oehmig, Weimar 1995, S.  457–472, hier S.  457–461. Busch: Wasserversorgung, S.  304. Müller:

225

Spätmittelalter

Eine erste Wasserkunst entstand in Berlin dagegen erst 1572, und auch in diesem Fall auf private Initiative hin. Finanziert wurde sie von einem Zusammenschluss vermögender Bürger, welche als „Gewerkschaft der Wasserkunst“ den ausschließlichen Kreis ihrer Nutznießer bildeten. Freilich eignete sich das derart transportierte Wasser aufgrund seiner Verschmutzung entgegen allen Erwartungen nicht als Trinkwasser – wohl mehr als ein kleines Missgeschick für diesen exklusiven Kreis. Die offensichtliche Reparaturanfälligkeit der Wasserkünste ist bereits angesprochen worden, darüber hinaus erwies sich die Haltbarkeit der hölzernen Leitungssysteme als begrenzt. Der Nürnberger Bauhof musste zu Reparatur­ zwecken stets etwa 100 bis 150 Rohre vorhalten. Den Berner Brunnenmeister verpflichtete der Rat in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts angesichts des hohen Bedarfs an Holz für die Rohrleitungen, im Herbst und Winter Stämme in ausreichender Anzahl einzuschlagen, um genügend Vorräte für das folgende Jahr anzulegen. Allgemein dürften abgeleitete Bäche oder Kanäle zunächst überwiegend dem Betrieb von Mühlen, dann dem von Produktionsstätten gedient haben. Wien stützte seine Wasserversorgung gleichfalls weitgehend auf private Brunnen, wobei in den höher gelegenen Stadtteilen die Gefahr der sommerlichen Austrocknung der Brunnen drohte, bevor die Stadt 1564/65 eine erste öffentliche Wasser­ leitung errichten ließ; den Hofbrunnen der Hofburg versorgte dagegen bereits um 1400 eine Wasserleitung. In welchem Umfang Zisternen zum Auffangen des Regenwassers zur Trinkwasserversorgung beitrugen wie im Fall des Lübecker Heilig-Geist-Spitals, ist nachträglich schwer zu entscheiden; zumindest als Löschwasserreservoirs fanden sie im 16. Jahrhundert weite Verbreitung. Bei der Nutzung zu Trinkwasserzwecken mussten sie vor Verunreinigungen geschützt werden. Zu diesem Zweck dienten Kies- oder Sandschichten oberhalb der bzw. um die eigentliche Auffangvorrichtung; ebenso galt es, die Sonneneinstrahlung zu minimieren, damit das Wasser kühl blieb und nicht verdarb.87

Bürgerstadt, S.  107  f. Zu den durchaus verbreiteten Wasserträgern vgl. Hoffmann: Wassernöte, S. 44–53. Hans-Walter Hermann: Saarbrücken und St. Johann von den Anfängen städtischen Lebens bis zum Niedergang im 30jährigen Krieg, in: Rolf Wittenbrock (Hg.): Geschichte der Stadt Saarbrücken, Bd. 1, Saarbrücken 1999, S. 199–298, hier S. 256. 87 Knut Schulz: Vom Herrschaftsantritt der Hohenzollern bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1411/12–1618), in: Ribbe (Hg.): Geschichte, S. 249–340, hier S. 327. Gerber: Bauen, S. 34. Ruth Koblizek: Lauwarm und trübe. Trinkwasser in Wien vor 1850, in: Brunner/Schneider (Hg.): Umwelt, S. 188–193, hier S. 189 f. Fehring: Stadtarchäologie, S. 53. Auch Alberti unterschied zwischen Zisternen für Trinkwasser und solchen für Brauchwasser; Alberti: Zehn Bücher, S. 563–567. Fuhrmann: Wasserversorgung, S. 107.

226

Städtewesen

Unterirdische Leitungen in Form von gemauerten Rinnen errichteten die Kommunen während des 15. und 16.  Jahrhunderts zwar vergleichsweise selten, doch hielten diese bei höheren Kosten deutlich länger. Dagegen erwies sich der Einsatz von Tonrohren, der überwiegend aus dem Rheinland mit seinen ergiebigen Tonvorkommen überliefert ist, für Druckwasserleitungen als ungeeignet. Kostspielige Bleirohre wiederum sind vorwiegend direkt an den Brunnen oder in Privathaushalten und Klöstern belegt. Sie erfuhren schließlich in der Neuzeit trotz der damit verbundenen Gesundheitsgefahren – deren genaue Gründe dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit unbekannt bleiben mussten – bis in die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts, wenngleich nunmehr deutlich preiswerter, eine breite Verwendung. Als frühe Ausnahme lässt sich London anführen, wo Bleirohre bereits 1236 umfangreich eingesetzt wurden. Daneben finden sich privat finanzierte Wasserrohre zwischen öffentlichen Brunnen und Privathäusern oder geistlichen Instituten.88 Allerdings vereisten in strengen Wintern nicht nur die Flüsse, sondern das Wasser in den Leitungen konnte gleichfalls gefrieren, was eine erhebliche Beeinträchtigung der Wasserversorgung bedeutete. Zudem standen zeitgleich alle Mühlen still, ein die Lebensmittelversorgung beeinträchtigender Faktor. Entsprechendes gilt für Trockenphasen und Überschwemmungen. Der Einfluss der Witterung auf das alltägliche Leben der Menschen ist letztlich in der Geschichtsschreibung im Gegensatz zur zeitgenössischen Chronistik häufig zu gering bewertet worden. Der technische Stand der spätmittelalterlichen Wasserversorgung sollte für lange Zeit maßgeblich bleiben. Grundlegende Veränderungen erfuhr er erst mit dem umfangreichen Wasserleitungsbau und der Errichtung von Talsperren vornehmlich in der Rheinprovinz und in Westfalen im späten 19.  Jahrhundert, dies vor dem Hintergrund gänzlich veränderter Lebensbedingungen und eines gravierenden Umbruchs der Wirtschaftsstrukturen. Seit etwa 1870 entstanden zudem moderne Wasserversorgungsanlagen, die neben filtriertem Grundwasser sukzessive filtriertes Oberflächenwasser nutzten, während zugleich die Schwemmkanalisation mit Kläranlagen für die Entsorgung Verbreitung fand. Immerhin dürfte in der Frühen ­Neuzeit die Zahl der von außerhalb in die Stadt geführten Wasserleitungen zuge­ nommen haben, und selbst die Wasserhebetechniken erfuhren langsame

88 Busch: Wasserversorgung, S. 303. Vgl. z. B. Zürcher Stadtbücher, II, S. 330, 372 f.

227

Spätmittelalter

Fortschritte.89 Leitungen aus Eisen fanden vergleichsweise selten dann im 18. Jahrhundert Verwendung. Auch die Versorgung der verbreiteten und beliebten Badehäuser mit Wasser und Holz musste sichergestellt werden. Diese mit Zubern, teilweise mit Schwitzkammern ausgestatteten Baulichkeiten wurden noch im Spätmittelalter von zahlreichen Besuchern aus wohl allen Schichten häufig aufgesucht und sie galten als beliebte Treffpunkte. Während des 16. Jahrhunderts gerieten diese Einrichtungen zunehmend in die Kritik der Obrigkeiten sowie vor allem des Klerus. Schließungen folgten, nur in Osteuropa wurden die Badehäuser weiter genutzt. Die Forschungsdiskussion über die Ursachen für ihr Ende ist noch nicht abgeschlossen, die u. a. genannte Verteuerung des Heizmaterials Holz in einigen Städten dürfte letztlich nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Wenn Nürnberg noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts den bei der Stadt beschäftigten Bauhandwerkern das wöchentliche Badegeld unverändert auszahlte, weist eine solche Praxis auf eine Verstetigung dieses Lohnbestandteils hin, der eben nicht ohne Weiteres einbehalten werden konnte, nicht aber auf das Weiterbestehen von Bade­ häusern. Die wöchentliche Zahlung von Badegeld verdeutlicht zudem im Spätmittelalter geläufige Hygienestandards, die sich in der Frühen Neuzeit wohl verschlechterten, ihren Tiefpunkt vielleicht sogar erst im 19. Jahrhundert erreichten. Seife dürfte im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts über die Alpen in den Norden gelangt sein, wo rasch Seifensieden in Betrieb gingen; neben parfümierten Seifen fanden im Norden Kaliseifen Verbreitung. Daneben begegnen immer wieder Hinweise auf regelrechte Badekuren in den Wildbädern, die vornehmlich von vermögenderen Bürgern sowie Adligen besucht wurden. Der Augsburger Kaufmann Lucas Rem hielt sich im Jahr 1522 vier Wochen mit seiner Frau in einem solchen Thermalbad auf, klagte aber in der Mitte und gegen Ende seiner Kur über große Übelkeit. Er mochte nichts mehr essen und selbst die Weine schmeckten ihm nicht mehr; ein Schwitzbad und die wohl unvermeidbaren Aderlässe sollten Abhilfe schaffen. Trotz aller Widrigkeiten wiederholte er die Kur 1530.90 Nur knapp sei darauf hingewiesen, dass bei öffentlichen Brunnen das Bedürfnis nach Repräsentativität über die reine Funktionalität hinaus im 89 Dirlmeier: Zuständigkeiten, S.  138  f. Rosseaux: Städte, S.  105. Hoffmann: Wassernöte, S.  39–44. Hoffmann: Stand, S. 101–105, 114–131. 90 Wolfgang Klötzer: Schwerpunkte kulturellen Lebens in der spätmittelalterlichen Stadt, mit besonderer Berücksichtigung von Frankfurt am Main, in: Hans Eugen Specker (Hg.): Stadt und Kultur (Stadt in der Geschichte, 11), Sigmaringen 1983, S. 29–56, hier S. 49. Tagebuch Rem, S. 23 f., 26.

228

Städtewesen

Spätmittelalter an Bedeutung gewann. Etliche Brunnen vornehmlich auf den zentral gelegenen Plätzen verzierten nun steinerne Bildstöcke. So krönten Löwen, hier allerdings als ein Ausdruck wittelsbachischer Stadtherrschaft, seit 1483 den Münchener Stadtbrunnen, der 1511/12 in Marmor neu errichtet wurde. Den 1396 fertiggestellten Schönen Brunnen in Nürnberg, nach Endres Tucher „ein nottorft und auch ein zire“, vergol­ deten Handwerker 1447 für 500 Gulden, belegten ihn also für diese stolze Summe mit Blattgold, bevor 1490 eine Ausbesserung sowie eine erneute Vergoldung beauftragt wurden. In der Folge standen regelmäßige Erneuerungen der unter den Witterungseinflüssen leidenden Vergoldung an; etwa alle 50 Jahre dürfte eine solche fällig gewesen sein. Die Tendenz zur Repräsentation verstärkte sich im 16. Jahrhundert nochmals. In Augsburg ließ der Rat der aufstrebenden Stadt die hölzernen Brunnen systematisch durch Marmorbauten ersetzen. Dass derartige kostspielige Projekte auch scheitern konnten, mussten die Berner in den 1480er-Jahren erfahren, als der sogenannte Küngsbrunnen errichtet werden sollte, aber selbst nach über einjähriger Suche und umfangreichen Grabungsarbeiten keine ausreichende Wasserader entdeckt werden konnte; der Stadt und vor allem ihren Bewohnern verblieben nur die hohen Kosten des Prestigeprojekts. In Bern ersetzten gleichfalls im 16. Jahrhundert Steinbrunnen die zumeist hölzernen Vorgänger. Als der Straßburger Rat den Fischbrunnen am Rand des gleichnamigen Markts im Jahre 1575 reich verziert neu errichten ließ, sollte die Fischerzunft als Hauptnutznießer der dortigen Wasserzufuhr einen nicht unerheblichen Teil der Kosten für Bau und Unterhalt übernehmen. Doch weigerte sich diese mit der aufschlussreichen Begründung, dass das Bauwerk der Stadt zur Zier gereiche und deswegen in dieser aufwendigen Form errichtet worden sei, aber nicht wegen der Fischer. Ihrem Widerstand war nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen schließlich Erfolg beschieden. In Köln fehlten überraschenderweise derartig verzierte oder aufwendig gestaltete öffentliche Brunnen, wenngleich sich die Stadt ausschließlich mittels Brunnen mit Wasser versorgte; allerdings lieferte der nach dem Mauerneubau 1180 teilweise innerstädtisch verlaufende Hürther- oder Duffesbach Brauchwasser für zahlreiche Handwerker.91 Grundsätzlich 91 Endres Tuchers Baumeisterbuch, S. 259. Gerber: Bauen, S. 35. Baeriswyl: Sodbrunnen, S. 60. Liliane Châtelet-Lange: Eine Wasserkunst für die Stadt Straßburg aus den Jahren um 1575, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 156 (2008), S.  195–206, hier S.  201  f. Gechter: Wasserversorgung, S. 221, 228. Leiverkus: Bilder, S. 215.

229

Spätmittelalter

lässt sich wohl seit dem frühen 15.  Jahrhundert eine strikter werdende Trennung von Trink- und Brauchwasserzufuhr erkennen. Allerdings ergab sich beim Wasserbezug aus innerstädtischen Brunnen ein grundlegendes Problem, da Abortgruben oder Kloaken grundwasserführende Schichten stören konnten. Eine entscheidende Rolle spielten hierbei natürlich die Tiefe und die Fließrichtung des Grundwasserspiegels, wobei die von den Gruben ausgehenden Bodenverunreinigungen räumlich relativ eng begrenzt waren und Entfernungen von fünf bis sechs Metern wohl nicht überschritten. Zudem setzten sich die Erdporen mit Partikeln aus den Kloakengruben zu, sodass sich mit der Zeit eine mehr oder weniger undurchlässige Schicht bildete.92 Dass Fäkalien die Wasserqualität beeinträchtigten, war durchaus bekannt, wie die Texte zahlreicher Verordnungen belegen, doch das Wie dieses Vorgangs musste vorerst ungeklärt bleiben. Hier sprachen eben die empirisch gewonnenen Erkenntnisse eine andere Sprache als die gängige theoretische Anschauung, wonach Wasser und besonders größere Flussläufe Unrat verzehrten. Dies galt jedoch nicht für feste Stoffe wie Bauschutt, Schotter, Steine, Hausmüll, Kehricht oder Mist, die an anderen Plätzen deponiert werden mussten. Bereits im frühen 14. Jahrhundert bestimmte der Nürnberger Rat, dass der Abstand zwischen den Privets und dem Fischbach, einem künstlich angelegten Kanal, mindestens zehn Schuh zu betragen habe. Auch durften Bader und andere in diesen Wasserlauf keinen unflat gießen; ebenso war es verboten, dort Häute einzulegen oder Bekleidung zu waschen. Wahrscheinlich war dieser bis zum Deutschordenshaus für die Wasserversorgung benötigte Bach damit besser geschützt als andere innerstädtische Wasserläufe. Konnte der geforderte Abstand aufgrund von Grundstückszuschnitten oder bestehender Bebauung nicht eingehalten werden, so eine wenig später erlassene Ergänzung, mussten die Baumeister zurate gezogen werden. Grundsätzlich verfügte der Rat, dass zu jedem Haus ein Privet errichtet werden müsse, und verschärfte nochmals das Verbot, jeglichen unflat auf die Straße zu werfen.93 Die Münchener Bauordnung des Jahres 1489 legte nicht nur Abstände fest, sondern bestimmte darüber hinausgehend: „Item wer füran hie in der 92 Betty Arndt: Infrastruktureinrichtungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in Göttingen, in: Lübecker Kolloquium, S. 137–149, hier S. 139. 93 Zur Nutzung des Fischbachs und Abständen vgl. Endres Tuchers Baumeisterbuch; S. 216–219, 221– 239. Ernst Mummenhoff: Lutz Steinlingers Baumeisterbuch vom Jahre 1452, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 2 (1882), S. 15–77, hier S. 28–31. Schultheiß: Satzungs­ bücher, S. 62, 146, 152, 307.

230

Städtewesen

stat haimlich gemäche von neuem graben und machen will, der sol durch den letten nit graben lassen, sonder auf oder in dem letten beleiben, also das die guten prunnen daran stossent nit schadhaft noch verderbt werden.“ Ebenso mussten Mist- oder Sickergruben zumindest eineinhalb Schuh vom Nachbargrundstück entfernt liegen und einen halben oder einen Fuß breit mit Letten, einer wasserundurchlässigen Flinzschicht, ausgekleidet werden. Wer sich in dieser Stadt kein Privet leisten konnte oder wem es an Platz dafür mangelte, sollte seinen unflat ohne Zwischenlagerung zur Isar schaffen und in diese entsorgen, keinesfalls aber auf die Straßen werfen, so ein Ratsentscheid noch vor dem Jahr 1365; die Reinigung der Privets erfolgte nachts. Straßburg schrieb 1482 vor, dass zwischen Kloakengrube und einem benachbarten Keller drei Fuß guten Bodens stehen bleiben mussten, bei ­lockerer Beschaffenheit der Erde hatten die Besitzer die Grube zusätzlich mit Letten auszuschlagen. Konstanz kannte ebenfalls Abortgruben mit oder ohne Abdichtung mit Letten.94 Aborterker mit hölzernen Schächten zum Schutz des Mauerwerks als eine weitere Entsorgungsalternative brachten die Stadtbewohner vornehmlich über Flüssen oder Abzugskanälen an. Das Augsburger Stadtrecht von 1276 benannte den Henker als denjenigen, der für das Leeren der Abortgruben zuständig war, den Unrat durfte er aber nur an zwei Stellen in den Lech kippen. Ein späterer, undatierter Zusatz erlaubte es den Bewohnern, den Grubeninhalt auch an weiteren Stellen in den Lech zu entsorgen, doch nur im Winter und bei Nacht; ihre Begründung fand die Neuregelung ausdrücklich in der gestiegenen Einwohnerzahl. Die Nennung des Augsburger Nachrichters 1276 ist übrigens die erste Erwähnung eines Henkers in kommunalen Diensten, der freilich vorerst noch privat entlohnt wurde. Die Nennung ist damit ein Indiz für den Übergang der strafrechtlichen Exekutive an die Städte. Mit dem Reinigen der Gruben sollte dem Mann vermutlich eine weitere Einkommensmöglichkeit verschafft werden. Kloakenreiniger sind als eigenständiges Gewerbe beispielsweise in Wien erstmals für 1370 überliefert.95 Zunehmend innen und außen geteert wurden die hölzernen Brunnenschächte nicht nur in Frankfurt an der Oder, seit dem späten 16. Jahrhun94 Auer: Stadtrecht, S. 138, 185, 213, 216 f. Denkmäler des Münchener Stadtrechts, S. 289, 384, 419, 511. Eheberg: Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, S. 320. Oexle: Versorgung, S. 366. 95 Stadtbuch Augsburg, S. 71 f. Zur Rolle der Scharfrichter in der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Medizin vgl. Andreas Deutsch: Der Henker als Heiler – dargestellt am Beispiel der Schwäbisch Haller Scharfrichter, in: Ärzte, Bader und Barbiere. Die medizinische Versorgung vom Mittelalter bis zum Ende des Alten Reichs, Schwäbisch Hall 2011, S. 44–59. Opll: Leben, S. 441 f.

231

Spätmittelalter

dert zudem gemauert. Aufgelassene Brunnen dienten hier als Abfall- und Fäkaliengruben, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ebenfalls mit Ziegelsteinen ausgekleidet oder gemauert wurden. Das allerdings erst in einer späteren Kodifizierung von 1599 vorliegende Warendorfer Stadtrecht schrieb bei dem Neubau oder der Neuanlage von Schweineställen, Aborten und Mistgruben einen Mindestabstand von drei Fuß zum Nachbargrundstück vor, von fünf Fuß zu dessen Keller sowie von neun Fuß zu einem Brunnen. Insgesamt weisen derartige Vorschriften zur Abdichtung der Kloakengewölbe darauf hin, dass spätestens im 15.  Jahrhundert sich die Einsicht durchzusetzen begann, dass Kloaken eindeutig Gefahren für die Trinkwasserqualität bargen und Grundwasser eben nicht reinigend wirkte. Als Mindestabstand der Gruben zum Nachbargrundstück wird häufig eine Distanz von drei Fuß genannt, also ungefähr einem Meter. Für Freiburg ist ein privater Abort bereits für das 12. Jahrhundert belegt. Die unterirdische Lage der Gruben sollte in erster Linie Geruchsbelästigungen in ihrer Umgebung minimieren. Allerdings zogen die Gruben Ungeziefer wie Ratten und Mäuse an, wurden zu Brutstätten von Fliegen und Mücken. Teilweise erreichten die Gruben ein Fassungsvermögen von 30 bis 40 Kubikmetern, andere wiesen gerade einmal ein oder zwei Kubikmeter auf. In Konstanz betrug das Fassungsvermögen in Einzelfällen immerhin 70 bis 80 Kubikmeter, in Lübeck konnten sogar über 100 Kubikmeter erreicht werden. Die Reinigung der Gruben erwies sich als kostenintensiv, doch konnten die Eigner mittels der großen Gewölbe Reinigungsintervalle von 30 und mehr Jahren erzielen. Der Kölner Jurist und langjährige Ratsherr Hermann Weinsberg berichtete, dass es vier Nächte gedauert habe, eine Grube seines vermieteten Hauses 1565 durch die goltgreber reinigen zu lassen. Als er freilich kurz zuvor die Renovierung des Familiensitzes in Angriff genommen hatte, der nach seiner Angabe 15 Jahre unbewohnt geblieben war, übernahmen die Salpetermacher die getrockneten Fäkalien („war der worst druck worden“) zu weitaus günstigeren Preisen, konnten sie doch den Unrat nach dieser Zeitspanne mit Gewinn verwerten.96 96 Ernst Walter Huth: Die Entstehung und Entwicklung der Stadt Frankfurt (Oder) und ihr Kulturbild vom 13. bis zum 17. Jahrhundert auf Grund archäologischer Befunde, Berlin 1975, S. 35. Siegfried Schmieder: Stadtrecht und Alltagsleben, in: Geschichte der Stadt Warendorf, Bd. 1: Vor- und Frühgeschichte, Mittelalter, Frühe Neuzeit (vor 1800), hg. v. Paul Leidringer, Warendorf 2000, S. 471– 504, hier S. 479. Neben den erwähnten Städten galt die Bestimmung beispielsweise auch in Hannover; Müller: Bürgerstadt, S.  108. Oexle: Versorgung, S.  368. Gläser: Infrastrukturen, S.  191. Buch Weinsberg, 5, S. 52, 57.

232

Städtewesen

Öffentliche Toiletten standen wahrscheinlich zumindest in den größeren Städten Einheimischen und Besuchern offen, doch ist über ihre konkrete Verbreitung wenig bekannt. In Köln dürften Bewohner wie Gäste die Abtritte in öffentlichen Gebäuden mitgenutzt haben.97 Endres Tucher ­notierte für Nürnberg etliche Anlagen und listete penibel die Kosten auf, welche bei der Reinigung der Abortgruben angefallen waren. Ausdrücklich sollten die nachtmeister den Kot nicht in die Pegnitz schütten, wenn „das wasser als klein ist oder mit eis überlegt ist, also das die Pegnitz das kott nit alles verzern mag“. Denn „sonst solich kot ser ubel schmeckt und grausam sicht, das also leit, das das wasser nit verzeren mag“.98 Schon die Geruchsbelästigung (schmeckt) beschwor in zeitgenössischer Vorstellung erhebliche Gesundheitsgefährdungen herauf. Um unnötige Belästigungen durch Gestank möglichst zu reduzieren, untersagte der Rat die Leerung der Gruben von Mai bis Ende September grundsätzlich, zudem durften die dafür zuständigen pappenheimer nicht alle Straßen und Wege für den Abtransport benutzen. Häufig ordneten die Räte wie in Köln oder München die nächtliche Abfuhr des Unrats an, die in Köln jedoch, vielleicht der hohen Einwohnerzahl geschuldet, ganzjährig durch zwei Stadttore zum Rhein erfolgen durfte. Lüneburg platzierte die für ein breiteres Publikum bestimmten öffentlichen Abtritte, die spätestens im 15. Jahrhundert erbaut wurden, überwiegend in der Nähe der Stadttore; weitere derartige Anlagen sind aus München, Hildesheim und Magdeburg bekannt. Der Frankfurter Rat bestimmte 1437 ausdrücklich nur zwei Uferabschnitte, an denen Fäkalien von den heymelichkeitsfegere in den Main gekippt werden durften, um weitere Belästigungen zu vermeiden und die Ufer nicht übermäßig zu verunreynigen. Um die teuren Leerungen der Gruben zu umgehen, ließen die Bewohner Kölns vielfach Fäkalien in Gärten und Höfen oder in kommunalen Bau- und Viehhöfen vergraben, um sie nach einem mehrjährigen Verrottungsprozess als Dünger zu nutzen; diese Praxis lässt sich auch ­andernorts und noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein verfolgen. Oder die Bewohner ließen, falls das Grundstück genügend Platz bot, einfach neue Kloakengruben anlegen, um die gefüllte alte Anlage nicht reinigen lassen zu müssen.99 97 Gechter: Wasserversorgung, S. 245. 98 Endres Tuchers Baumeisterbuch, S. 115. 99 Schultheiß: Satzungsbücher, S. 271. Stein: Akten, II, S. 507 f. Gechter: Wasserversorgung, S. 247 f. Edgar Ring: Archäologische und schriftliche Quellen zur Infrastruktur der Stadt Lüneburg im ­Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: Lübecker Kolloquium, S. 237–247, hier S.  242. Kühnel:

233

Spätmittelalter

Zudem barg die Reinigung der Gruben, aber auch deren Anlage mancherlei Gefahren. Nach der chronikalischen Überlieferung Heinrich Deichslers ließen die Nürnberger Dominikaner auf ihrem Klostergelände, nachdem die Kloakengrube 1469 gefüllt war, direkt daneben eine weitere, tiefere Grube ausheben, um die Fäkalien dorthin abzuleiten. Allerdings erwies sich die von einem Steinmetz gehauene Verbindungsöffnung als zu groß, sodass sich plötzlich erhebliche Unratmengen in die neue Grube ergossen. Als der Steinmetz sich über eine Leiter aus der Grube zu retten trachtete, dominierte nach Auskunft des Autors, offenbar der Miasmatheorie folgend, der Gestank derart, dass den Mann eine Ohnmacht ereilte, woraufhin er abstürzte und nur wenig später in der Grube verstarb. Ein Mönch wagte nun den Weg auf eine Brücke oder einen Steg wohl am oberen Rand der Grube, doch ereilten ihn gleichfalls unverzüglich Ohnmacht und Tod. Dem nächsten Mönch erging es ebenfalls nicht besser, auch sein Rettungsversuch scheiterte mit einem Sturz in die Grube. Erst beim dritten Anlauf banden die verbliebenen Mönche ihren Bruder an einem Seil fest und schützten sein Gesicht mit einer gewürzgefüllten Maske, die dennoch eine Ohnmacht nicht verhindern konnte; das Seil aber rettete sein Leben. Nach vielleicht einer Viertelstunde wagten sie einen weiteren Versuch, und mit einer noch stärker aromatisierten Maske versehen, konnte der Mönch seine beiden verstorbenen Brüder nach oben ziehen lassen. Abschließend schildert Deichsler lakonisch die Bergung des Steinmetzen am nächsten Tag: „und des andern tags bestellten sie die scheisshausfeger, die suchten lang einen halben tag und zugen den stainmitz auß dem grunt herauß, den gab man ein guldein zu lon; und den schadet kain gestank und waren frolich vor den münchen und sangen und sprangen“.100 Dass diese Berufsgruppe über kein hohes Sozialprestige verfügte, muss kaum eigens betont werden, doch zählte sie unzweifelhaft zur städtischen Gesellschaft, war durchaus in diese integriert und galt keinesfalls als unehrlich. Nicht vergessen werden darf, dass zahlreiche Nebenstraßen nicht nur in Klein- und Mittelstädten erst in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts an die Kanalisation angeschlossen wurden, weshalb bis zu dieser Zeit Kloakengruben in zahlreichen Häusern zwingend notwendig blieben.

Gemeinschaft, S. 58. Wolf: Gesetze, S. 318. Frankfurter Amts- und Zunfturkunden, S. 127. Oexle: Versorgung, S. 365. Rosseaux: Städte, S. 106. Fehring: Stadtarchäologie, S. 55. 100 Chronik von Heinrich Deichsler bis 1487, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 10 (Die Chroniken der fränkischen Städte: Nürnberg, 4), Leipzig 1872, ND Stuttgart 1961, S. 45–386, hier S. 313 f.

234

Städtewesen

Neben sauberem Trinkwasser galten die Bemühungen der kommunalen Obrigkeiten der Reinhaltung der Luft, da gemäß der Miasmatheorie unreine Luft massiv zur Verbreitung von Krankheiten beitrug. Gefährlich waren schon nach Einschätzung der antiken Gelehrten insbesondere die Luft über stehenden Gewässern oder Mooren, feuchtschwüles Klima oder Südwinde. Wegen der Ausdünstungen zu meiden galt es weiterhin die Nähe zu Tieren und besonders zu Ställen, zu Kloaken, Latrinen, Friedhöfen oder zu Feldern mit Gemüsen oder sonstigen Pflanzen, die intensiv dufteten; der dichte Wald als potenzielle Gefahrenquelle wurde bereits erwähnt. Die Luft sollte – ähnlich wie das Wasser – gut, rein, klar, hell, dünn sowie bewegt sein, eine Verunreinigung durch Qualm, Dampf oder schädliche Substanzen war möglichst zu reduzieren. Wie sich diese Ziele allerdings in Städten realisieren ließen, wussten die antiken Gelehrten und ihre Nachfolger kaum konkret vorzuschlagen. Im Erdgeschoss galt zudem die Luft als potenziell schwer und dick, was das Wohnen dort ungesund erscheinen ließ. Gelobt wurden Winde aus dem Norden und dem Osten, nach dorthin sollten auch die Fenster liegen.101 Nicht nur in diesem letzten Punkt zeigt sich ganz deutlich die Herkunft der Lehren aus dem Mittelmeerraum mit seinen gänzlich anderen klimatischen Bedingungen als in Nord- und Mitteleuropa.

Abfallbeseitigung und Tierhaltung Nach Ausweis der Überlieferung gestaltete sich die Abfallbeseitigung von Stadt zu Stadt sehr verschieden. Allgemein muss betont werden, dass die Menge des Abfalls schon aufgrund der hohen Wiederverwertungsrate begrenzt blieb. Als Beispiel wählen wir zunächst Frankfurt am Main, wo der Rat seine Bemühungen um die Reinhaltung der Plätze und Straßen stark auf die Altstadt, also den repräsentativen Innenstadtbereich, konzentrierte. 1411 bestimmte der Frankfurter Rat – doch es dürfte sich dabei nicht um die früheste Regelung handeln –, dass Mist, Erde sowie Steine im Sommer binnen acht und im Winter binnen 14 Tagen aus der Stadt zu schaffen seien; in den jeweils darauf folgenden 14 Tagen mussten 101 Vgl. z. B. Pedro Gil Sotres: Regeln für eine gesunde Lebensweise, in: Mirko D. Grmek (Hg.): Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter, dt. München 1996, S. 312–355, hier S. 330–333. Noch zu Innsbruck in der Neuzeit, das wohl kaum einen Sonderfall darstellte, vgl. Lisa Noggler: Die Wahrnehmung von Luft. Das Beispiel einer kleinen Stadt im 19. Jahrhundert, in: Hahn/Reith (Hg.): Umwelt-Geschichte, S. 121–138.

235

Spätmittelalter

diese Plätze dann frei bleiben. Ein Jahr später reduzierte der Rat die Frist drastisch: Mit Ausnahme von Baumaßnahmen war Dreck nun unverzüglich zu entfernen; von anderer Hand wurden drei Tage als Termin eingefügt. 1421 erging die Bestimmung, keine Schweine auf den Straßen und Gassen laufen zu lassen. Nur auf den Wegen zur Tränke, zum Wasser, zum Hirten oder auf die Felder durften sie zügig getrieben werden. Im Jahr 1481 folgte ein weiterer Ratserlass, der die Bedeutung der Stadt als Messestadt ausdrücklich betont und fast ungeschminkt eine gewisse Empörung über den als zu wenig reinlich empfundenen Zustand einer so gewichtigen Reichsstadt durchschimmern lässt: „Angesehen und vermerckt, wie die stat Franckfort sonderlich von andern des heiligen richs kammer zu sin gewydemt mit messen und merten versehen ist und geprucht, auch deszhalb in die zale der erbern des richs kauffstete gezalt wird, ist auch billich, das sie glich andern steten iren genoszen in erberkeit und reynikeit gehalten werde.“ Begründet wurde das Anliegen weiter damit, dass unreynikeit und ubeln gerochs abgesehen von den Unannehmlichkeiten möglicherweise auch die Gesundheit der Bewohner und Besucher beeinträchtigten. Zur Abstellung der Zustände erging an die Bewohner der Altstadt das Gebot, binnen der nächsten knapp drei Monate wegen der Unreinlichkeit und des Gestanks der Tiere ihre ­ Schweine zu verkaufen oder abzustechen und die Schweineställe abzubrechen. Alternativ bot der Rat an, die Tiere in der Neustadt oder in Sachsenhausen zu halten, auch durften die Schweine vor dem Schlachttermin zwei bis drei Wochen im eigenen Haus oder Hof gemästet werden. Das Verbot schloss ausdrücklich die traditionell mit dem Recht der Schweinehaltung begabten Bäcker ein. Für jedes einzelne nach dem Stichtag auf den Gassen der Altstadt vorgefundene Schwein drohte der Rat die hohe Buße von einem Viertelgulden an. Mist und Stroh durften gar nicht erst auf öffentlichen Wegen gelagert werden. Nur während der Messezeiten war den Wirten zugestanden, beides erst nach drei Tagen abzufahren, da es aufgrund der hohen Besucherfrequenz vermutlich an Fuhrmöglichkeiten fehlen konnte. Den Anwohnern oblag das Fegen der Gassen, doch den Abtransport dieses Abfalls übernahm die Stadt. Der Berner Rat konstatierte noch 1580 – darin keinesfalls dem Städtelob folgend – angesichts frei laufender Tiere und des vielen Schmutzes, dass die Stadt eher einem Dorf gleiche und kaum mit einer „ordentlichen“ Kommune gleichgesetzt werden dürfe. Dabei hatte der Rat bereits 1400 die Abfuhr von Mist binnen 14 Tagen angeordnet und 1530 die Schweinemast in der Innenstadt 236

Städtewesen

ebenso untersagt wie das freie Umherstreifen dieser Tiere, doch wohl in allen Fällen nur mit geringem längerfristigen Erfolg.102 In Köln ließ der Rat die Schweinehaltung 1445 verbieten und setzte eine knappe, gerade einmal 14-tägige Frist, binnen derer die Tiere verkauft oder getötet werden mussten. Doch auch hier konnte das Vorhaben schon mittelfristig nicht durchgehalten werden, konkurrierten doch wieder einmal die Reinhaltung der Stadt und die Versorgung der Bewohner mit Fleisch. Die Höhe des spätmittelalterlichen Fleischverbrauchs ist zwar letztlich kaum mehr genau zu bestimmen, zumal Fleisch wesentlich ausgeprägter als Getreideprodukte einkommenselastisch nachgefragt und schichtenspezifisch verzehrt wurde. Vermutlich kann aber für die Städte im Reich bei erheblichen individuellen Abweichungen während des 15.  Jahrhunderts ein durchschnittlicher Fleischverbrauch von 50 Kilogramm im Jahr angenommen werden.103 So verwundert es nicht wirklich, dass 1523 in der niederrheinischen Großstadt doch wieder Regelungen für den Fall getroffen wurden, dass ein Schwein auf den Straßen der Altstadt eingefangen wurde. Erwies es sich, dass seine Besitzer Altstadtbewohner waren, so mussten sie zwar eine Geldbuße leisten, erhielten aber das Tier zurück. War das Schwein jedoch von außerhalb der Altstadt zugelaufen, so durften es die Stadtdiener veräußern und die Hälfte des erlösten Geldes einbehalten, was ihre Motivation bei derartigen nicht immer ungefährlichen Vorhaben ­sicherlich steigerte; der Rest fiel an die Findelkinder. Vier Jahre später, 1527, erging der Beschluss, dass jeder Bürger, der ein Schwein auf der Straße aufgriff, dieses behalten und schlachten durfte. Noch im gleichen Jahr erfolgte allerdings wiederum eine Reduzierung der wohl kaum auf solch drastische Weise umsetzbaren Strafandrohung: Nunmehr sollten die Gewaltrichter die Schweine in die Hospitäler treiben, wo sie beim ersten und zweiten Mal gegen eine Gebührenleistung wieder ausgelöst werden konnten; erst beim dritten Mal kam es zum Einzug des Tieres. Befriedigend lösen ließ sich das Problem nicht nur in Köln, sondern in fast allen Städten bis weit in die Neuzeit hinein eben aufgrund der Konkurrenz 102 Wolf: Gesetze, Nr.  134, 137, 186, 289. Eine ähnliche Bestimmung erließ Zürich 1431, milderte diese zwei Jahre später aber ab. Gänse, die freilich nur selten im Fokus der Überlieferung standen, mussten gleichfalls im Stall gehalten werden. Allerdings hatte die Stadt bereits 1403 die Stallhaltung von Schweinen vorgeschrieben und für frei laufende Schweine Bußen fixiert; Zürcher Stadtbücher, III, S. 57 f. Sutter: Nachbarn, S. 171 f. Gerber: Bauen, S. 30 f. 103 Dirlmeier: Untersuchungen, S. 296–302, 357–364. Vgl. Ramóm A. Banegas López: Consumption of Meat in Western European Cities during the Late Middle Ages: A Comparative Study, in: Food & History 8/1 (2010), S. 63–86.

237

Spätmittelalter

z­ wischen Reinhaltung und Nahrungsmittelversorgung nicht. Ebenfalls aus Gründen der Luftreinhaltung dürfte 1494 ein Verbot des Leimsiedens erlassen worden sein.104 Nürnberg begrenzte die Zahl der Schweine wohl im späten 14. Jahrhundert allgemein auf drei je bürgerlichem Haushalt, für Bäcker dagegen im Sommerhalbjahr auf zwölf, im Winterhalbjahr auf acht Tiere. Für Spitäler und Klöster galten keine Obergrenzen, falls ein Hirte für sie arbeitete. Grundsätzlich untersagte der Rat jedoch das Umherlaufen der Schweine auf den Straßen. Für Nürnberg betonte Ende des 15. Jahrhunderts schließlich Conrad Celtis, in diesem Fall eindeutig dem Städtelob huldigend: „Armenta et pecora, oves et caprae in urbe non sunt.“ In Dresden dagegen liefen Schweine, Ziegen und Gänse noch um die Mitte des 16. Jahrhunderts frei und wohl weitgehend ungestört auf den Gassen umher. Einen durchreisenden kursächsischen Funktionsträger hinderte dies freilich nicht daran, sich über frei laufende Schweine und Mist auf den Gassen Stuttgarts zu beschweren, wo auch Abfälle und tote Tiere in Siedlungsnähe entsorgt wurden. Da zudem Unrat und Kot in den Nesenbach gekippt wurden, muss sich in diesem Bereich bei sommerlicher Trockenheit ein unerträglicher Gestank entwickelt haben. Der Hamburger Rat gestattete 1476 jedem Bürger die Haltung von sechs Schweinen, Bäckern dagegen die Haltung von zehn.105 Die scharfen Zähne der Schweine konnten zu einer Gefahr nicht nur für Kinder werden. Neben den Schweinen bildeten die zahlreichen umherstreunenden Hunde eine weitere, nicht zu unterschätzende Belästigung der Stadtbewohner. Zahlreiche Städte lobten Belohnungen für das Erschlagen der frei laufenden Hunde aus oder bezahlten „Hundeschläger“ pro erlegtem Tier. Gerade für kleinere Städte besitzen wir daneben aber auch Beispiele für die Praxis, dass Zuchtstiere oder auch der oder die Zuchteber sich in kommunalem Besitz befanden. Manche Kommunen bezuschussten auch private Halter, falls sie ihre Tiere für diese Zwecke den anderen Viehhaltern zur Verfügung stellten. Dörfer kannten ein ähnliches Vorgehen.

104 Beschlüsse des Rates der Stadt Köln 1320–1550, Bd. 3: 1523–1530, bearb. v. Manfred Groten (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichte, LXV), Düsseldorf 1988, S. 16 f., 438, 445. Stein: Akten, II, S. 313. 105 Schultheiß: Satzungsbücher, S. 297 f. Zu Nürnberg vgl. Walter Lehnert: Entsorgungsprobleme der Reichsstadt Nürnberg, in: Sydow (Hg.): Versorgung, S.  151–163. Albert Werminghoff: Conrad Celtis und sein Buch über Nürnberg, Freiburg i. Br. 1921, S. 199. Papke: Stadt, S. 310. Paul Sauer: Geschichte der Stadt Stuttgart, Bd.  2: Von der Einführung der Reformation bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, S. 77 f. Kühnel: Gemeinschaft, S. 59.

238

Städtewesen

Seltener als mit Schweinen befassten sich die Verordnungen mit Rindern oder Kühen: Anfang des 15.  Jahrhunderts begrenzte beispielsweise der Straßburger Rat die Höchstzahl der gehaltenen Kühe (milchgebender rynder) auf sechs für diejenigen, welche keinen Pflug besaßen, für Pflugeigner auf acht, für Klöster auf zehn. Kälber zählten erst ab dem Zeitpunkt gesondert, zu dem sie Milch gaben. Die Zahlen lassen für diese spätmittelalterliche Großstadt eine wohl nicht unerhebliche agrarische Voll- oder Neben­ beschäftigung neben dem ohnehin verbreiteten Wein- und Gartenbau vermuten, durchaus nicht untypisch für den klimatisch begünstigten Bereich des Oberrheins mit seinen Gärtnerzünften und den sonstigen agrarisch dominierten Zusammenschlüssen. Vermutlich 1376 erließ der Ulmer Rat eine Obergrenze von zunächst drei Rindern und zwölf Schafen, dann von drei Rindern und sechs Schafen. Müllern wurde die Haltung von zwei Schweinen gleichzeitig zugebilligt, die jährliche Gesamtzahl durfte vier Tiere nicht übersteigen. 1414 erbaten die Bäcker die zusätzliche Haltungserlaubnis für vier Ferkel, falls sie zwölf Schweine fütterten, und für zwei Ferkel bei acht Schweinen. Der Rat stimmte zwar zu, doch durften die Ferkel keinesfalls durch die Gassen streifen. In den Jahren zuvor hatten Regelungen gegolten, die zwischen acht Schweinen und einer unbegrenzten Anzahl pendelten. Ausdrücklich wegen der Schäden und Verwüstungen sogar durch Ferkel folgte 1420 der Erlass, höchstens noch sechs Ferkel im oder beim Haus zu halten; lösten die Besitzer von auf den Straßen aufgegriffenen Ferkeln diese nicht binnen drei Tagen aus, fielen sie an die Findelkinder. Auf breite Akzeptanz dürften hingegen zumindest in der Oberschicht die gleichfalls innerstädtisch in hoher Anzahl gehaltenen Pferde gestoßen sein, die sich freilich ebenso als Gefährdung erweisen konnten. So musste Burkard Zink Augsburg vorübergehend verlassen, nachdem er einen Jungen überritten hatte – ein nicht untypischer Verkehrsunfall dieser Zeit und noch weit darüber ­hinaus. Nun fürchtete er die Vergeltung von dessen Familie und wollte der Zeit Gelegenheit geben, die Gemüter zu beruhigen.106 Esel oder Maultiere dürften im Reich nur in geringerer Zahl gehalten worden sein. Anordnungen zur Straßenreinigung durch die jeweiligen Anlieger sind nicht nur für Köln gleich mehrfach überliefert, um die wohl zunehmend als störend empfundene Verschmutzung der Verkehrswege zu reduzieren. Damit kennt das noch in den 1960er-und 1970er-Jahren oftmals verpflich106 Eheberg: Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, S.  391. Mollwo: Rote Buch, S. 62 f., 66 f., 120, 157–162, 203 f. Chronik Zink, S. 127.

239

Spätmittelalter

tende wöchentliche Kehren der Gehwege eine lange Tradition, die sich in der im Schwäbischen teilweise bis heute tradierten Kehrwoche wohl am längsten erhalten hat. Für die Reinigung zuständig waren laut der Kölner Bestimmung die Bewohner der anliegenden Häuser; die Kontrolle über die ordnungsgemäße Durchführung übertrug der Rat den Wegemeistern, die zu diesem Zweck in der Stadt umherstreiften. Für die Reinhaltung der Rinnen und Bäche hatten gleichfalls überwiegend die Anwohner zu sorgen. Beim Mist wurde zumindest vorübergehend im 14.  Jahrhundert darauf ­geachtet, dass dieser möglichst auf die Felder der Kölner Bürger gelangte; eine Bestimmung des Jahres 1353 untersagte den Handel mit Mist vornehmlich nach außerhalb. Dennoch wuchsen in späteren Jahrzehnten am Rheinufer die Misthaufen derart massiv, dass der Rat diese Form der Ablagerung 1480 wegen des Gestanks und der Unreinlichkeit zum wiederholten Male verbot. Derartige Erlasse könnten wiederum auf eine ausgeprägte Viehhaltung in der Großstadt mit ihren großen Freiflächen noch im 16.  Jahrhundert hindeuten. Auf eine zwischenzeitliche Genehmigung der Lagerung von Erde am Rhein folgte 1482 wiederum ein Verbot. Stattdessen sollte die Erde nunmehr, nach dem Ende der potenziellen Bedrohung durch Karl den Kühnen, am Stadtwall aufgehäuft werden. Wie in anderen Städten lässt sich ein häufiges Lavieren des Rats erkennen, um eine Regelung zu finden, die möglichst vielen Interessen entgegenkam und sich vor allem in der Praxis als handhabbar und damit letztlich als durchsetzbar erwies. Dennoch dürften erneut Probleme aufgetreten sein, denn 1486 wurden die Wegemeister dazu verpflichtet, darauf zu achten, dass niemand in der Umgebung des Gürzenich, auf dem Rathausplatz oder neben dem Dom – also in der unmittelbaren Nachbarschaft repräsentativer Gebäude – Unrat in jeglicher Form entsorgte. Der von 1441 bis 1447 erbaute Festsaal Gürzenich bot als groß dimensioniertes Bauwerk etwa 4000 Menschen Platz, was immerhin einem knappen Zehntel der seinerzeitigen Einwohnerschaft entsprach. 1549 sollten dann die Rentmeister dafür Sorge tragen, dass alle Mistkuhlen am Rhein mit Ausnahme von zweien, welche die Malzmüller altem Herkommen gemäß nutzten, beseitigt wurden. Erwarben Kölner Einwohner krankes Vieh auf den Märkten, erstattete die Stadt ihnen das dafür gezahlte Geld, ließ die Tiere töten und im Umland der Stadt verscharren, um derart Luftverunreinigungen zu vermeiden. Den Kaufpreis sollten übrigens anschließend die Viehverkäufer wiederum an die Stadtkasse entrichten, die eben über erhebliche Druckmittel verfügte, um die Gelder auch tatsächlich einzutreiben. Ebenso durften keine faulen Fische im Rhein 240

Städtewesen

e­ntsorgt werden. Die für die Stadtverteidigung schon lange überflüssige Marspforte, einen dunklen Durchgang innerhalb der Mauern, nutzten die Kölner gern zur Entsorgung ihrer Abfälle: „dan ein jeder schutte sin unflait darunden, dan es gingen gein durren darunder uis, und stank ubel“. 1545 ließ der Rat das Bauwerk wohl aufgrund massiver nachbarschaftlicher Beschwerden abreißen. Nicht nur für die rheinische Metropole wird wohl berechtigt vermutet, dass die im 15. und frühen 16.  Jahrhundert erreichten Entsorgungsstandards während des 17. und 18.  Jahrhunderts wieder zurückgingen.107 Was die Entsorgung von Aas angeht, so sahen die 1231 erlassenen Konstitutionen von Melfi des Königreichs Sizilien noch vor, es in unbewohnten Gegenden verfaulen zu lassen oder es in Gewässer zu werfen, verordneten aber Mindesttiefen für Gräber und verboten, Flachs in Gewässer zu legen. Heilbronn untersagte noch 1489 das Vergraben oder Verbrennen von beanstandetem Fleisch, denn dieses sollte im Neckar entsorgt werden. In Nürnberg musste dagegen schon im 14. Jahrhundert totes Vieh zwei Bogenschüsse weit vor den äußersten Zäunen der Stadt vergraben werden, einen Fuß hoch hatte die Erde das Aas zu bedecken.108 Bereits in den Jahren nach 1129 legte eine Straßburger Artikelliste vergleichsweise präzise fest, dass niemand Unrat oder Kot vor sein Haus werfen dürfe, falls diese nicht umgehend beseitigt würden. Im 13. Jahrhundert gestand der Rat dann eine Dreitagesfrist zur Abfallbeseitigung zu, bei Mist eine auf acht Tage erweiterte Frist; dazu durften in erster Linie aus Gründen der militärischen Sicherheit weder Steine noch Erde in den Stadtgraben geschüttet werden. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts galt erneut die umgehende Entsorgung am gleichen Tag, bei Mist reduzierte sich die Frist gegenüber vorherigen Entscheidungen nunmehr auf drei Tage. München verbot gänzlich, Unflat auf die Straßen zu schütten, Mist hatten die Einwohner noch am selben Tag abzufahren. In Nürnberg galt für Mist im frühen 14. Jahrhundert nach dem von 1302 bis etwa 1315 geführten Satzungsbuch eine Achttagesfrist, später eine von vier Tagen; Mist musste zu einem bestimmten, den Zeitgenossen bekannten Platz fern von der Stadt transportiert 107 Stein: Akten, I, S. 249. Stein: Akten, II, S. 3, 23, 99, 129, 138, 141 f., 361, 565, 569, 590, 592, 623. Beschlüsse des Rates der Stadt Köln 1320–1550, Bd. 5: 1541–1550, bearb. v. Manfred Groten (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, LXV), Düsseldorf 1990, S. 674. Beschlüsse des Rats der Stadt Köln 1320–1550, Bd. 1, S. 75. Zu Rathaus und Gürzenich vgl. z. B. Leiverkus: Bilder, S. 121–140, 151–156. Buch Weinsberg, 1, S. 230 f. Gechter: Wasserversorgung, S. 257. 108 Konstitutionen Friedrichs II., S. 308 f. Wilhelm Steinhilber: Das Gesundheitswesen im alten Heilbronn, 1281–1871 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Heilbronn, 4), Heilbronn 1956, S. 41. Schultheiß: Satzungsbücher, S. 164.

241

Spätmittelalter

­ erden. Zwischenzeitlich bestimmte der Rat, dass der Pflasterer denjenigen w Mist, der mehr als sechs Tage auf der Straße lag, verkaufen und das dafür erzielte Geld einstecken dürfe. Bei Mist handelte es sich eben nicht nur um Abfall, sondern er besaß durchaus einen beträchtlichen Wert vornehmlich als Dünger. Wohl im späten 14.  Jahrhundert ließ der Rat außerhalb der Mauern Markierungssteine setzen, hinter denen der Mist abgelegt werden musste. Zürich gestand den Einwohnern bereits 1314/15 eine Zwischenlagerung von Mist bis zum dritten Tag im Sommer und bis zum achten Tag im Winter zu. Dennoch sind aus dem 15.  Jahrhundert zahlreiche Nachbarschaftsstreitigkeiten um Misthaufen überliefert. In den Auseinandersetzungen ging es, aus heutiger Sicht überraschend, weniger um die Ausdünstungen, sondern darum, dass die Misthaufen den Zugang zu den Häusern behinderten oder sogar aufgrund ihrer Höhe die Lichtzufuhr einschränkten; dies deutet auf eine teilweise beträchtliche Größe der Haufen hin.109 Der Hannoveraner Rat erklärte 1435 die Abfallabfuhr von den Straßen zur kommunalen Aufgabe, an der sich die Bewohner mit einer fixen Abgabe finanziell zu beteiligen hatten. Dresdener Statuten des Jahres 1500 legten fest, dass aus Latrinen ausgetragener Dünger im Sommer nicht länger als drei, im Winter nicht länger als acht Tage auf der Gasse liegen dürfe; vermutlich handelte es sich aber auch in diesem Fall um Mist. Gleichfalls eine Dreitagesfrist nannte das Brixener Stadtrecht von 1380 für das Wegschaffen von Erde und Mist von den Straßen. Weiterhin kannten Ulm und Zürich Abraumhalden für feste Abfälle und damit wohl überwiegend für Bauschutt. Doch ebenso konnten die Färber die Straßen verunreinigen, denen nicht nur in Köln untersagt war, Farbstoffe, Waidfasern oder Laugen auf die Wege zu schütten. Entsprechendes galt vielfach für das Gerbwasser der Hutmacher und Gerber.110 Die Ableitung von solchen Säuren oder von Färbemitteln führte zudem nicht selten innerstädtisch zu Konflikten mit den Fischern, die auf saubere Fließgewässer angewiesen waren und zur Nahrungsmittelversorgung der Städte beitrugen. 109 Quellen zur Verfassungsgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter, ausgewählt u. übersetzt v. Bernd-Ulrich Hergemöller (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, XXXIV), Darmstadt 2000, S. 176 f. Brucker (Hg.): Zunft- und Polizeiverordnungen, S. 409–411. Eheberg: Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, S. 393. Auer: Stadtrecht, S. 185. Schultheiß: Satzungsbücher, S. 56, 139, 296 f., 304. Kühnel: Gemeinschaft, S. 58. Sutter: Nachbarn, S. 131 f. 110 Müller: Bürgerstadt, S. 109. Papke: Stadt, S. 310. Josef Mutschlechner: Alte Brixener Stadtrechte (Schlern-Schriften, 26), Innsbruck 1935, S. 50. Illi/Höfler: Versorgung, S. 363 Loesch: Zunfturkunden, 2, S. 105. Opll: Leben, S. 440. Vgl. Zupko/Laures: Straws, S. 37, 80–82.

242

Städtewesen

Hatte die Reinhaltung der Straßen und Wege zunächst weitgehend als Aufgabe der Anlieger gegolten, übernahmen die Kommunen zunehmend die Abfuhr des Unrats. Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Rein­ haltung bedeutender Plätze und Straßen gerade im Rahmen von Feierlichkeiten gelegt. So hatten die Nürnberger Baumeister dafür Sorge zu tragen, dass vor dem Besuch von Herrschaften, also von Königen oder Hochadligen ebenso wie von dem einzelner Kurfürsten, und ebenso vor hohen Feiertagen Tagelöhner den Bereich um das Rathaus säuberten; für den Markt war hingegen das Neue Spital bzw. das Heilig-Geist-Spital zuständig. Eng verbunden mit der Anlage von Wegen und Straßen war das Aufkommen von Ableitungssystemen für Abwasser und Unrat, nicht aber für Fäkalien, die gesondert zu entsorgen waren. Alternativ konnten häusliche Abwässer innerhalb der jeweiligen Hofstelle versickern; während des 14. und 15. Jahrhunderts häuften sich Bestimmungen, die eine Ableitung auf die Straßen oder in Richtung Nachbargrundstücke untersagten. Dagegen dienten in Köln etliche dieser Gräben, hier als Aduchte bezeichnet, der Ableitung von Oberflächenwasser, aber auch von Fäkalien. In Lübeck dürften erste Entwässerungssysteme bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts angelegt worden sein, die Anfänge des Goslarer Rinnensystems lassen sich auf die Jahre um 1200 datieren. Allerdings mussten für die Zu- und Ableitung des Wassers Stadtmauerdurchbrüche geschaffen werden, welche es zumindest im Belagerungsfall, aber auch nachts, zu schließen galt; als am geeignetsten erwiesen sich für diesen Zweck metallene Gitter. Für Aussätzigenhospitäler oder Gute-Leute-Häuser galten teilweise nochmals schärfere Bestimmungen, um die Verbreitung der Lepra zu verhindern; allerdings lagen diese Gebäude fast immer außerhalb der Stadtmauern.111 Noch heute sichtbar sind solche Ableitungen in Freiburg im Breisgau, wo es sich bei den Bächle um die Nachfolgeeinrichtungen der wahrscheinlich zwischen 1170 und 1180 entstandenen Fließrinnen handelt, für deren Anlage seinerzeit das Straßenniveau deutlich um einen bis drei Meter angehoben werden musste. Ebenfalls seit um 1200 wurde in Köln das Regenwasser teilweise in Rinnen abgeleitet, spätestens im 13. Jahrhundert mussten Straßengemeinschaften für deren Reinhaltung sorgen. Bereits um die Mitte des 12. Jahrhunderts dürfte der Bau eines Tiefkanals zur Abwasserableitung vom Heumarkt zum Rhein erfolgt sein; ein weiterer entstand 1163 zwischen dem neuen 111 Vgl. z. B. Schultheiß: Satzungsbücher, S. 185. Zürcher Stadtbücher, I, S. 22. Gechter: Wasserversorgung, S. 219, 231. Brucker (Hg.): Zunft- und Polizeiverordnungen, S. 51.

243

Spätmittelalter

Haus des bekannten und vor allem reichspolitisch aktiven Erzbischofs Rainald von Dassel, eines engen Vertrauten Kaiser Friedrichs I. Barbarossa, und dem Rhein. Das Eidbuch des Jahres 1341 erwähnte dann zwen Rinmeysteren als für die Überwachung zuständiges Personal und forderte die durchgängige Freihaltung der Rinnen. Nach der Mauererwei­terung des Jahres 1180 konnten die Gräben der älteren Umwallung von 1106 teilweise zur Entsorgung genutzt werden, von denen allerdings der Perl(en)graben erhebliche Probleme aufwarf, leiteten hier doch vornehmlich Gerber und Leimsieder ihre Abwässer ein. Sämtliche Reinigungsmaßnahmen (fegen) waren da vergebens, so wiederum Hermann Weinsberg für das 16. Jahrhundert. Eine mögliche Umleitung des Grabens, der die an den Einleitungen unbeteiligten Nachbarn beträchtlich schädigte, scheiterte an den hohen Kosten, die weder die Anlieger schultern konnten noch der Rat zu übernehmen beabsichtigte. Ständig geflutete Wasserrinnen wie in Freiburg finden sich dann u. a. auch in Straßburg, Schwäbisch Gmünd, Speyer, Erfurt oder Quedlinburg; prinzipiell gestaltete sich die Nutzung eines oder mehrerer Stadtbäche zu diesem Zweck in kleineren Städten einfacher als in größeren.112 Ansonsten lassen sich derartige Systeme vor allem in Oberitalien und im heutigen Nordfrankreich nachweisen. Für Nürnberg sind Abzugsgräben erst für das 14. Jahrhundert belegt. Im 15.  Jahrhundert ließ die Stadt etliche solcher Gräben unterirdisch anlegen, um die Geruchsbelästigungen zu reduzieren. Allerdings, so nochmals Endres Tucher, stanken die Abwassertümpel vornehmlich in trockenen Sommern erbärmlich, was die Wohnqualität der benachbarten Häuser wohl beträchtlich minderte. Gleichfalls über abgedeckte Kanäle und unterirdische Leitungen verfügte Ulm im ausgehenden 15. Jahrhundert. Auch Wien ließ in diesem Jahrhundert in größerem Umfang die Abzugsgräben eindecken. Die Anlieger mussten sich finanziell an den Baumaßnahmen beteiligen sowie für den Unterhalt und teilweise die Reinhaltung der Kanäle s­ orgen, was nicht zuletzt dazu beitrug, dass aufwendige Entsorgungssysteme weniger Verbreitung fanden. Außerdem erfüllten alle diese mehr oder weniger ausgeklügelten Leitungen und Rinnen ihren Zweck nur, wenn sie mit ausreichend Wasser geflutet werden konnten. Dieses gestaltete sich bei adäquater Geländetopografie 112 Hans Schadek/Matthias Untermann: Gründung und Ausbau. Freiburg unter den Herzögen von Zähringen, in: Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum „Neuen Stadtrecht“ von 1520, hg. v. Heiko Haumann/Hans Schadek, 2., erg. Aufl. Stuttgart 2001, S. 57–132, hier S.  110–112. Leonard Ennen/Gottfried Eckertz (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 1, Köln 1860, ND Aalen 1970, S. 18, 22, 28. Gechter: Wasserversorgung, S. 243. Buch Weinsberg, 3, S. 240. Vgl. Keussen: Topographie, S. 178–180. Grewe: Wasserversorgung, S. 78 f.

244

Städtewesen

mit entsprechendem Gefälle oder in der Nähe von Flussläufen am einfachsten, während längere Trockenperioden die Wirksamkeit des Systems massiv beeinträchtigen konnten. Gleiches galt für die bei Ebbe trocken fallenden Fleete in Hamburg, welche ebenso der Abfall- und Unratentsorgung dienten wie die innerstädtischen morastigen und mit Fäkalien verunreinigten Wasserzüge, deren Gestank beträchtlich gewesen sein muss. Im späten 16. Jahrhundert forderte schließlich der seinerzeitige Stadtphysikus das Verfüllen dieser versumpften Gräben. Die Anlage künstlicher Wassergräben findet gelegentlich wie in den Fällen von München oder Aachen Erwähnung. Allerdings konnte München ebenso wie Köln und weitere Städte im Zuge von Stadterweiterungen Bäche vor der damaligen Mauer als erste Stadtgräben nutzen, womit eine Grundlage bereits geschaffen war und das System in der Folgezeit nurmehr ausgebaut wurde. Wie es für den Inhalt der Kloakengruben vorgeschrieben war, so mussten auch die Nürnberger Pergamenthersteller, Kürschner und Schmiede ihre Beizen nachts in die Pegnitz entsorgen, ebenso die Augsburger Färber ihre Abfälle in den Lech. Vielfach unter Strafe gestellt war das Ab- oder Umleiten von Bächen oder Kanälen, erlaubt dagegen die Anlage von Entsorgungsgräben so z. B. in Zürich.113

Straßenpflasterung In Oberitalien erfuhren die Verkehrswege bereits im Hochmittelalter Verbesserungen und auch für das zunehmend Hauptstadtfunktionen einnehmende Paris ordnete Philipp II. August um 1185 die Pflasterung der wichtigsten Straßen an. Im Reichsgebiet ist dagegen der Beginn einer systematischen Pflasterung erst seit dem Ende des 14. Jahrhunderts belegt, wenngleich derartige Maßnahmen vereinzelt schon vorher stattfanden: So lässt sich in Lübeck eine Steinstraße auf die Mitte des 12.  Jahrhunderts datieren. In Duisburg und Hannover dürften erste einfache Pflasterarbeiten, wohl noch wenig umfangreich, um 1200 stattgefunden haben. Verbreitet gingen der Steinpflasterung hölzerne Straßenbeläge wie Bohlen, Knüppel oder Reisig voraus, die nur vergleichsweise kurze Zeit hielten und in den folgenden ­Jahren und Jahrzehnten immer wieder erneuert werden mussten. Derartige Holzwege lassen sich bereits wesentlich früher in ländlichen Siedlungen 113 Vgl. z. B. Schultheiß: Satzungsbücher, S. 239. Dirlmeier: Zuständigkeiten, S. 140. Kühnel: Gemeinschaft, S.  60. Opll: Leben, S.  441. Hilger: Umweltprobleme, S.  121. Grewe: Wasserversorgung, S. 80. Heine: Umweltbezogenes Recht, S. 115. Zürcher Stadtbücher, I, S. 7, 155.

245

Spätmittelalter

oder bei Burgen nachweisen, auch in den Marschgebieten wurden vielfach Bohlenwege angelegt. Daneben fanden verbreitet Sand und Schotter Verwendung. Solche Anlagen und Neuanlagen von Wegen führten ebenso wie die Zerstörungshorizonte infolge von Großbränden oder Kriegseinwirkungen über die Jahrhunderte zu einer teilweise deutlichen Anhebung des Niveaus von Straßen und Plätzen. Beispielsweise liegt die Geländeoberkante des Kölner Heumarkts heute knapp sechs Meter über der Unterkante des Profils. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass auch die Ver- und Entsorgungseinrichtungen gelegentlich neu angelegt werden mussten. In größerem Umfang dürfte in Lübeck die Straßenpflasterung um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Angriff genommen worden sein; in Hamburg wird ihr Einsetzen ebenfalls auf diesen vergleichsweise frühen Zeitraum datiert. Ein überwiegend felsiger Untergrund bedurfte hingegen kaum weiterer Arbeiten außer einer Trassierung, die allerdings in anstrengender und langwieriger Handarbeit zu verrichten war. Die Kiesschüttung des Kölner Heumarkts aus dem 10. Jahrhundert stand den römischen Oberflächen bautechnisch noch deutlich näher als den späteren hoch- und spätmittelalterlichen Pflasterungstechniken. Ein umfangreicher Einsatz von Steinen als Material für die Straßenpflasterung ist in der rheinischen Großstadt erst für das 15. Jahrhundert belegt, zuvor dürften Bohlenwege dominiert haben.114 Die Augsburger Stadtrechnungen verzeichneten bei für den Zeitraum ausgesprochen bruchstückhafter Überlieferung erstmals 1324/25 Aufwendungen für diesen Zweck. Der Stadt München bewilligten die bayerischen Herzöge 1394 die Erhebung eines Pflasterzolls zur Begleichung der anfallenden Kosten, was auf das Einsetzen umfangreicherer Tiefbauarbeiten verweist. Bereits ein Jahr zuvor war zugunsten von Ingolstadt die Gewährung eines Pflasterzolls erfolgt, doch dürfte in diesem Fall ein unmittel­ barer Zusammenhang mit der Landesteilung vom November 1392 anzunehmen sein, die der Kommune vorübergehend Residenzstadtfunktionen verschaffte (bis 1447). Die Einnahmen aus dem Zoll, mit dem alle in die 114 Joachim Ehlers: Geschichte Frankreichs im Mittelalter, Darmstadt 2009, S.  168. Gläser: Infrastrukturen, S. 182. Mit zahlreichen Beispielen zu Bohlenwegen Ingolf Ericsson: Wege, Wegbegleiter, Furten und Brücken. Straßen des Mittelalters im archäologischen Befund, in: Thomas Szabó (Hg.): Die Welt der europäischen Straßen. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, Köln/Weimar/ Wien 2009, S. 155–171. Nico Aten u. a.: Ausgrabungen auf dem Heumarkt in Köln. Erster Bericht zu den Untersuchungen vom Mai 1996 bis April 1997, in: Kölner Jahrbuch 30 (1997), S. 345–404, hier S. 354 f. Hilger: Umweltprobleme, S. 135. Niko Aten u. a.: Ausgrabungen auf dem Heumarkt in Köln. Zweiter Bericht zu den Untersuchungen von Mai 1997 bis April 1998, in: Kölner Jahrbuch 31(1998), S. 481–596, hier S. 513, 519. Grewe: Wasserversorgung, S. 76 f.

246

Städtewesen

Stadt gelangten Handelswaren belastet wurden, konnten freilich ohne weitere Begründung für andere Bauwerke eingesetzt werden. Systematischer wurden die Pflasterarbeiten in Bern seit 1399, in Basel seit 1403 und in Augsburg seit 1416 betrieben. In Wien sollen Pflasterer bereits mit dem Einsetzen der Kammeramtsrechnungen im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts besoldet worden sein. Einen Straßenpflasterer erwähnt die Duisburger Rechnungsüberlieferung für 1391/92, Straßenpflaster sogar bereits früher; abgerechnet wurden allerdings überwiegend Ausbesserungsarbeiten. 1418 gestattete dann König Sigismund der Stadt Augsburg die Erhebung eines Pflasterzolls bzw. erklärte zumindest sein Einverständnis. Auf diese Weise konnten auswärtige Besucher und Kaufleute an den Kosten für die Infrastrukturmaßnahmen beteiligt werden. Bereits aus dem Jahr 1294 ist eine Bestimmung überliefert, wonach König Adolf der Stadt zugestanden hatte, zur Finanzierung der Ausbesserung von Brücken und Stegen ein auf zwei Jahre befristetes Ungeld zu erheben. Esslingen erhöhte den Stadtzoll 1469, um Wege und Brücken zu bessern, Kempten erhielt 1483 einen Zoll zur Pflasterung der Straßen zugesichert, während Leutkirch von Maximilian I. im späten 15. Jahrhundert berechtigt wurde, vornehmlich zur bau­ lichen Erhaltung der Straßen den städtischen Karrenzoll zu erhöhen.115 Alle drei Beispiele deuten darauf hin, dass kleinere Städte diese Maßnahmen tendenziell später als die zuvor erwähnten Kommunen in Angriff nahmen. In städtischen Diensten stehende Pflastermeister nennt die Überlieferung für München gleichfalls 1394, für Ulm drei Jahre später, für Basel 1417. Diese Angaben markieren jeweils den spätestmöglichen Termin für den Übergang der Bauvorhaben in städtische Regie. Allerdings ist in allen Städten vorerst eine Konzentration auf die wichtigen und stark frequentierten Durchgangsstraßen sowie auf die repräsentativen Plätze belegt. Für Augsburg berichtete Burkard Zink zu 1416: 115 Solleder: München, S. 366. Siegfried Hofmann: Geschichte der Stadt Ingolstadt von den Anfängen bis 1505, Ingolstadt 2000, S. 188, 331 f. Susanne C. Pils: Art. „Straßenpflasterung“, in: Historisches Lexikon Wien, Bd. 5, hg. v. Felix Czeike, Wien 1997, S. 366 f., hier S. 366. Margret Mihm/Arend Mihm: Mittelalterliche Stadtrechnungen im historischen Prozess. Die älteste Duisburger Überlieferung (1348–1449), 2. Bde., Köln/Weimar/Wien 2007, S.  265. Chronik von der Gründung der Stadt Augsburg bis zum Jahre 1469, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 4 (Die Chroniken der schwäbischen Städte: Augsburg, 1), Leipzig 1865, ND Stuttgart 1965, S. 265–332, hier S. 320. Nicht nur in diesem Fall lässt sich in der Anordnung Sigismunds ein Rückgriff der Herrscher auf tradierte Regalrechte an Brücken, Wasserläufen und Straßen erkennen, selbst wenn die Stadt mit hoher Wahrscheinlichkeit als die aktive Partei anzunehmen ist. Urkundenbuch Augsburg, Bd. I, S. 107. Karl Wagner: Das Ungeld in den schwäbischen Städten bis zur zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, Marburg 1903, S. 91.

247

Spätmittelalter

„Und also gepot man den leuten überall an den vordersten und fürnemsten gaßen, sie sollten pflastern, des iederman willig was, und muest iederman vor seinem haus pflastern ain ruet herdan von seinem haus, und wo die gaßen weiter waren, das zalet die stat. Und also pflastert man für sich dar und was iederman willig, ie lenger ie geringer, bis es doch von gotts gnaden gar beschehen ist hernach über etwa vil zeit.“116

Auf die anfängliche Begeisterung – „da was es hüpsch und gar zierlich und geviel iedermans wol“ – folgte im Laufe der nächsten Jahre eine gewisse Ernüchterung ob der Langwierigkeit des Vorhabens. Ausgesprochen früh lässt sich die Existenz von Pflastermeistern in Lübeck (1310) und Straßburg (1322) nachweisen sowie in Nürnberg, wo sie nach Ausweis des Satzungsbuchs ebenfalls für die ersten beiden Jahrzehnte des 14.  Jahrhunderts ­anzusetzen sind.117 Allerdings handelt es sich jeweils nur um punktuelle Angaben, da eine Überlieferung von seriellen Quellen wie Stadt- oder Bauamtsrechnungen, die präziseren Aufschluss geben könnten, nur in wenigen Fällen vor dem 15. Jahrhundert einsetzt. Wie Augsburg beteiligten zahlreiche andere Städte die Anlieger an den Kosten der Pflastermaßnahmen, und noch heute zu zahlende (Anlieger-) Gebühren finden hier ihren Ursprung. Ihre Begründung fand diese Vorgehensweise in dem Nutzen für die Anlieger, der höheren Sauberkeit vor ihren Haustüren, auf den Straßen und den Plätzen, die selbst nach Regenfällen nicht mehr aufgeweicht und schlammig waren. Nach Ausweis des Baumeisterbuchs von Endres Tucher blieben die letzten vier Schuh (etwa 1,20 Meter) vom Straßenrand bis zum jeweiligen Haus ungepflastert. Für den direkten Anschluss an das Straßenpflaster mussten die Hauseigentümer selbst die Kosten tragen. Während um die Mitte des 15. Jahrhunderts zwei Pflastermeister in Nürnberg wirkten, erhöhte Tucher ihre Zahl auf drei, die mitsamt Gesellen und Lehrjungen tätig waren. Zusätzlich unterstützt wurden sie durch einen Beschäftigten, der mit Pferd und Karren Steine und Sand transportierte, Abraum und Weiteres aus der Stadt schaffte. Doch selbst wenn der Baumeister oder die Pflastermeister beim Kauf der Steine auf eine ausreichende Qualität achteten, wie nachdrücklich seitens des Rats gefordert, dürften zwei der drei Pflastermeister weit überwiegend mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt gewesen sein. Für Krakau ergaben umfangreiche archäologische Untersuchungen für die Straßen am 116 Chronik Zink, S. 146. 117 Kühnel: Gemeinschaft, S. 60.

248

Städtewesen

Markt als Untergrund hölzerne Bohlen, gesichert durch in den Boden gerammte Pfähle als Randbegrenzungen; die Bohlen bedeckte Sand, und auf diese Schüttung erfolgte die Verlegung der aus Jurakalkstein zugehauenen Pflastersteine. Ein venezianischer Reisebericht des ausgehenden 15. Jahrhunderts schilderte die Straßen von Ulm und München als mit Kieseln gepflastert und betonte die Breite der Straßen, was wiederum auf Hauptverkehrsachsen schließen lässt. Der kastilische Edelmann Pero Tafur erwähnte 1438 u. a. für Basel die Pflasterung sowie die vielen Brunnen, für Köln die sehr hübschen Straßen, während Aeneas Silvius Piccolomini die reine Luft in Basel hervorhob.118 Allerdings muss neben der Tendenz zum Städtelob stets berücksichtigt werden, zu welchem Zeitpunkt ein Fremder die Stadt besuchte, ob nach ausgedehnten Regenfällen oder während einer trockenen Periode oder im zeitlichen Vorfeld von Feierlichkeiten. Wie in Lüneburg wurden auch sonst im Norden häufig Backsteine für die Straßenbefestigung genutzt. In Dresden setzte eine systematische Pflasterung in der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts ein, begleitet von geschlossenen Abflusssystemen. Freilich hielten noch während des 16. und 17. Jahrhunderts nicht wenige Mediziner die Pflasterung der Straßen und Märkte für ungesund, da das Pflaster eine Ausdünstung der Erdoberfläche verhindere und sich derart darunter gefährliche Miasmen bilden könnten. Allerdings verfügte längst nicht jede Stadt über größere Märkte auf Frei­ flächen, sondern in etlichen Fällen handelte es sich wie in Münster nur um Straßenverbreiterungen. Insgesamt dürfte die Straßenpflasterung wie ­andere Infrastrukturmaßnahmen in der Frühen Neuzeit nur wenige Fortschritte gemacht haben; für Berlin wird erst 1823 als das Jahr genannt, in dem die Behörden derartige Maßnahmen intensivieren ließen.119 118 Endres Tuchers Baumeisterbuch, S. 48. In Bamberg blieb eine Dauerbeschäftigung die Ausnahme, da die Stadt besonders im Winter, falls überhaupt, zumeist nur Gehilfen beschäftigte; Sichler: Bauverwaltung, S. 100. Slawomir Dryja/Wojciech Glowa/Waldemar Niewalda/Stanislaw Slawinski: Die Innenbebauung des Krakauer Ringplatzes im Mittelalter, in: Mühle (Hg.): Breslau und Krakau, S. 279–294, hier S. 286. Stein: Akten II, S. 450 f., 659. Henry Simonsfeld: Ein venetianischer Reisebericht über Süddeutschland, die Ostschweiz und Oberitalien aus dem Jahre 1492, in: Zeitschrift für Kulturgeschichte, N. F., 2 (1895), S. 241–283, hier S. 257, 260. Karl Stehlin/Rudolf Thommen: Aus der Reisebeschreibung des Pero Tafur, 1438 und 1439, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 25 (1926), S. 45–107, hier S. 59. Klaus Voigt: Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland. Von Francesco Petrarca zu Andrea de’Franceschi (1333–1492) (Kieler Historische Studien, 17), Stuttgart 1973, S. 84–91. 119 Papke: Stadt, S. 303. Hilger: Umweltprobleme, S. 122 Karl-Heinz Kirchhoff: Stadtgrundriß und topographische Entwicklung, in: Geschichte der Stadt Münster, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Fürstbistums, hg. v. Franz-Josef Jakobi, Münster 1993, S. 47–484, hier S. 466. Ilja Mieck: Von der Reformzeit zur Revolution (1806–1847), in: Ribbe (Hg.): Geschichte, S. 405–602, hier S. 506.

249

Spätmittelalter

Lebensmittelkontrolle Die Fleischschau diente in erster Linie der Aussortierung von schlechtem, finnigem Fleisch, immer vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Kenntnisstandes. Vielfach konzentrierten die Städte zu diesem Zweck den Fleischverkauf auf einen oder wenige Plätze in der Stadt, wo die Metzger dann von der Obrigkeit besser kontrolliert ihr Fleisch verkaufen mussten. In Köln ist sogar eine solche Verkaufsbank für Wildbret belegt, während in Nürnberg Wild öffentlich auf dem Markt angeboten werden musste. Beide Bestimmungen dienten der Qualitätskontrolle. Außerdem zeigen sie, dass Wild zwar als Herrenspeise galt, keinesfalls aber dem Adel vorbehalten blieb. In Frankfurt am Main und Nürnberg durfte finniges Fleisch an einem gesonderten Platz abseits der sonstigen Fleischverkaufsstellen veräußert werden, während Köln den Verkauf von faulem Fleisch 1445 gänzlich untersagte. Bereits 1355 hatte Frankfurt die Veräußerung von finnigem Fleisch als gute Ware mit einer Geldbuße bedroht. Zudem mussten die Kölner Fleischhauer seit 1437 das gesamte Vieh in dem 1360 erstmals belegten Schlachthaus schlachten. Es lag wie die Fleischhallen an einem Entsorgungskanal, da die belästigungsfreie Entsorgung der Metzgereiabfälle früh als ein gravierendes Problem erkannt wurde. 1465 ließ der Rat wohl aufgrund von Kapazitätsengpässen einige Ausnahmen von dem Schlachtgebot zu. Für Ofen begegnet im 15.  Jahrhundert eine ähnliche Bestimmung, konzentrierte der dortige Rat doch die Schlachtungen auf eine Brücke, der gemein slachprugken, und mussten diese am hellen Tag erfolgen. Minderwertiges (stingkund, madessig, phinnod) Fleisch ließ die Stadt beschlagnahmen, Wild durfte nur an einem Platz verkauft werden. Wohl schon im dritten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts ordnete Ravensburg die Schlachtung von Vieh an nur einem Platz, dem schinthuse, an, ebenso die Fleischschau. Luzern verbot den Metzgern wohl noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die Eingeweide der Schlachttiere auf den Gassen zu reinigen.120 Dass sich in den Kloaken zwar archäologisch zahlreiche Einge120 Leonard Ennen (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 6, Köln 1879, ND Aalen 1970, S. 574. Schultheiß: Satzungsbücher, S. 85, 122. Loesch: Zunfturkunden, 2, S. 138–141, 145. Wolf: Gesetze, S. 195. Frankfurter Zunfturkunden, 1, S. 349. Gechter: Wasserversorgung, S. 233, 235. Zum Erstbeleg des Schlachthauses s. Leonard Ennen (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 4, Köln 1870, ND Aalen 1970, S. 464 f. Augsburg konzentrierte die Viehschlachtung gleichfalls auf ein Schlachthaus; Lengle: Handel, S.  167. Das Ofener Stadtrecht. Eine deutschsprachige Rechtssammlung des 15. Jahrhunderts aus Ungarn, hg. v. Karl Molloy, Weimar 1959, S. 101 f. Vgl. Zupko/Laures: Straws, S. 76 f. Oberschwäbische Stadtrechte II: Die älteren Stadtrechte der Reichs-

250

Städtewesen

weidewürmer, deren Bedenklichkeit zeitgenössisch bekannt war, nachweisen lassen, kaum aber gesundheitsgefährdende Bandwürmer, könnte bei allen Unsicherheiten für Erfolge der Fleischschau sprechen.121 München bestimmte im frühen 14.  Jahrhundert, dass Rinder vor der Schlachtung geschaut werden mussten, und belegte Zuwiderhandlungen mit Geldbußen. Unzeitiges oder unreines Fleisch zu verkaufen, war verboten. Bereits 1341/42 und 1342 drohte Würzburg Geldstrafen für den Verkauf von finnigem Fleisch an, erlaubte dann aber im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts, dass finniges Fleisch an einer gesonderten Stelle verkauft wurde; diese Regelung galt unverändert im folgenden Jahrhundert. Als Strafe nannte die Verordnung des Jahres 1376/77 neben einer Geldbuße die Beschlagnahmung des Fleischs, das entweder an die Armen abgegeben werden sollte, falls diese es denn überhaupt wollten, oder in den Main zu werfen war. Beim Verkauf fauler Fische mussten die Händler ebenfalls Geldbußen entrichten. Frankfurt bestimmte 1377, dass Fleisch von krankem oder gebrechlichem Vieh nicht in den Verkauf gelangen dürfe. Falls dies dennoch geschah, sollte das Fleisch zugunsten des Spitals eingezogen werden; das zentrale Schlachthaus erleichterte die Kontrolle. Gemäß einer Bestimmung von um 1350 mussten „bollich adir gesalczen fysche“ gleichfalls generell auf dem Markt veräußert werden, doch 1430 gestand der Rat den Verkauf in den Häusern der Kaufleute zu. In Wien dominierten übrigens bei Süßwasserfischen auf dem über Jahrhunderte ortsfesten Fischmarkt ungarische Händler.122 Das Augsburger Stadtrecht von 1276 verbot den Verkauf von finnigem Fleisch nicht, doch musste der Käufer darüber informiert werden. Leutkirch erließ um 1390 die Bestimmung, dass ein Metzger, der finniges Fleisch für gutes veräußerte, eine Strafe zahlen musste, zudem ein Jahr nicht seinen Beruf ausüben durfte; das Fleisch fiel an die Feldsiechen. Für den Verkauf von „wolfässig flaisch und wurmässigs und anderlei gebrest

stadt Ravensburg. Nebst der Waldseer Stadtrechtshandschrift und den Satzungen des Ravensburger Denkbuchs, bearb. v. Karl-Otto Müller (Württembergische Geschichtsquellen, 21), Stuttgart 1924, S. 61 f. Illi/Höfler: Versorgung, S. 356. 121 Bernd Herrmann: Parasitologische Untersuchung mittelalterlicher Kloaken, in: ders. (Hg.): Mensch, S. 160–169, hier S. 167 f. Vgl. ders.: Parasitologisch-epidemiologische Auswertungen mittelalterlicher Kloaken, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 13 (1985), S.  131–161. Fehring: Stadtarchäologie, S. 94. Vgl. z. B. Prilloff: Tierknochen, S. 27–54, 101–118. 122 Denkmäler des Münchener Stadtrechts, S. 201, 203. Würzburger Polizeisätze, Gebote und Ordnungen des Mittelalters. Ausgewählte Texte, hg. v. Hermann Hoffmann (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, X: 5), Würzburg 1953, S. 47 f., 68, 82, 152, 163. Frankfurter Zunfturkunden, 1, S. 353. Frankfurter Amts- und Zunfturkunden, S. 241 f. Opll: Leben, S. 424.

251

Spätmittelalter

haftigs flaisch“ war die vorherige Zustimmung des Rats zu erwirken. In Bamberg mussten die Metzger spätestens im 15.  Jahrhundert finniges Fleisch gesondert verkaufen („an der tzende, als es von alter her ist komen“), eine auch in Lüneburg für 1413 belegte Praxis. Die Geldbußen, die für den Verkauf von finnigem Fleisch oder das Backen zu kleiner Brote verhängt wurden, fielen in Bamberg ebenso wie die Bußen der Niederen Gerichtsbarkeit je zur Hälfte dem stadtherrlichen Schultheiß und dem kommunalen Bauhof zu. Wohl im frühen 15. Jahrhundert unterwarf der Ulmer Rat die Schweine vor ihrer Schlachtung der Schau und verfügte den Verkauf von finnigem Fleisch in einem abgegrenzten Bereich. Der Rat des elsässischen Schlettstadt bestimmte um 1500 den gesonderten Verkauf von finnigem Fleisch, während schlechte Fische vergraben werden sollten. Mit Blick auf die Kalenderreform des Jahres 1583 gab der schon mehrfach erwähnte Kölner Hermann Weinsberg zu bedenken, dass angesichts der ausgefallenen zehn Tage die Schlachtung im Herbst hinausgezögert werden solle, da sonst ­aufgrund der Wärme noch zu viele Fliegen ihre Eier (maden) in das Fleisch ablegten und dieses dadurch anschließend verderbe. Denn wenige Jahre zuvor, so die Erinnerung, hätten vor Kriegswirren nach Köln geflohene Bauern ihre Ferkel so früh im Oktober geschlachtet und gesalzen, dass deren Fleisch schließlich voller Maden und verdorben gewesen sei.123 Erneut handelte es sich um Erfahrungswerte, die handlungsleitend wirkten, nicht um theoretisches Wissen. Ebenso zeigt sich wieder einmal die Bereitschaft der Zeitgenossen, neue Erkenntnisse umzusetzen, und nicht das der Zeit vielfach unterstellte pfadgebundene und unkritische Handeln. Wenn aber der Kölner Rat 1446 den Metzgern verbot, Lammfleisch in den eigenen Häusern zu verkaufen, zielte er damit auf die ausreichende 123 Stadtbuch Augsburg, S. 183 f. Oberschwäbische Stadtrechte I: Die älteren Stadtrechte von Leutkirch und Isny, bearb. v. Karl-Otto Müller (Württembergische Geschichtsquellen, 18), Stuttgart 1914, S. 36 f. Isny führte im 15. Jahrhundert gleichfalls eine Fleischschau ein; auf den städtischen Wiesen geschlachtetes Vieh musste zur Erhöhung der Versorgungssicherheit in der Stadt verkauft werden; ebd. S. 152, 161, 215. Das Bamberger Stadtrecht, hg. v. Harald Parigger (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, X: 12), S.  188, 190. Johannes Staudenmaier: Fruchtsperren, Fürkaufverbote und der Nahrungsstand der Unterthanen. Die Handels- und Marktpolicey der Stadt und des Hochstifts Bamberg, in: Mark Häberlein/Michaela Schmölz-­ Häberlein (Hg.): Handel, Händler und Märkte in Bamberg. Akteure, Strukturen und Entwicklungen in einer vormodernen Residenzstadt (Stadt und Region in der Vormoderne, 3), Würzburg 2015, S. 51–83, hier S. 74 f. Eduard Bodemann (Bearb.): Die älteren Zunfturkunden der Stadt Lüneburg (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, 1); Hannover 1883, S.  121. Mollwo: Rote Buch, S.  174  f. Schlettstadter Stadtrechte, bearb. v. Joseph Gény (Oberrheinische Stadtrechte, 3. Abt.: Elsässische Rechte), Heidelberg 1902, S. 559–561. Buch Weinsberg, 5, S. 360 f.

252

Städtewesen

Versorgung der Einwohnerschaft. Denn der Beschluss betonte ausdrücklich, dass die Metzger die gesamten Fleischvorräte auf den Markt bringen mussten, damit sich dort Arm wie Reich versorgen könnten; keiner dürfe bevorzugt werden, weil er zahlungskräftiger sei. Das gleiche Motiv steht hinter der 19 Jahre zuvor erlassenen Verordnung, Speck und Schinken nur im Kaufhaus oder auf dem Markt zu veräußern. Mit ähnlichem Tenor bestimmte auch Ulm unter ausdrücklicher Nennung der ärmeren Bewohner, dass die Metzger jedem Fleisch zu verkaufen hätten, und zwar ungeachtet der vom Konsumenten gewünschten oder von ihm bezahlbaren Menge. Weiterhin mussten die Bäcker ihre gemästeten Schweine erst den Metzgern zum Kauf anbieten, bevor sie andernorts veräußert werden durften. Sollten die Metzger aber zukünftig zu wenige dieser Schweine kaufen, werde der Rat in Erwägung ziehen, die Bäcker wieder selbst schlachten zu lassen, um die Fleischversorgung sicherzustellen. Ganz entsprechend betonte das Stadtrecht von Überlingen um 1400 die Pflicht zum Verkauf auch geringer Fleischmengen ohne jegliche Bevorzugung einzelner Käufer; eine Fleischschau fand gleichfalls Erwähnung. Straßburg begrenzte die Zahl der Schweine, die von den Bäckern gehalten werden durften, 1439 auf jeweils zwölf fette und zwölf magere, die zweimal täglich zu bestimmten Zeiten zum Wasser getrieben werden durften. Der Verkauf der Tiere durfte ausschließlich in der Stadt erfolgen, was wiederum den Versorgungsaspekt gegenüber dem der Stadtreinlichkeit betont.124 Ausdrücklich auf vermutete Gesundheitsgefahren verwies dagegen eine an den hessischen Landgrafen gerichtete Beschwerde der Stadt Marburg, welche den Verkauf und die Schlachtung von noch nicht vier Wochen alten Kälbern untersagt sehen wollte. Landgraf Philipp bestimmte, dass der Rentmeister als sein Vertreter diese Praxis zukünftig unterbinden sollte. Aus Nürnberg wird für 1530 berichtet, dass zum Verkauf in die Stadt gebrachte Kälber, welche noch keine acht Zähne hatten, ertränkt wurden. Generell muss betont werden, dass sich besonders beim Rindvieh die Menge der Schlachtabfälle als überschaubar erwies, wurden doch neben dem Fleisch zahlreiche weitere Bestandteile der Tiere verwendet; eine noch heute übliche Praxis, wenngleich in gänzlich anderen Formen. Wiederum der Versorgung 124 Loesch: Zunfturkunden, 2. S. 136, 141. Mollwo: Das Rote Buch, S. 166 f., 175 f. Oberrheinische Stadtrechte, 2. Abt.: Schwäbische Rechte, 2. Heft: Überlingen, bearb. v. Fritz Geier, Heidelberg 1908, S. 101 Brucker (Hg.): Zunft- und Polizeiverordnungen, S. 93. Im 13. Jahrhundert hatte die Höchstzahl noch bei jeweils acht Tieren gelegen; ebd., S. 105. Zu Dresden vgl. Meinhardt: Dresden, S. 75 f.

253

Spätmittelalter

dürfte die Ulmer Bestimmung gedient haben, weder Wiesen in Äcker noch Äcker in Gärten umzuwandeln ohne die Zustimmung des Rats. Ebenso war es den Metzgern verboten, Vieh in der Stadt oder im Umland aufzukaufen, welches ohnehin für die städtischen Märkte bestimmt war.125 Die umfangreichen Regulierungen, die der Fischhandel erfuhr, waren nicht zuletzt darauf ausgelegt, auch auf diesem Sektor Gesundheitsgefährdungen zu reduzieren. So durften Fische in Zürich seit 1431 nur noch auf den Märkten veräußert werden. In Straßburg bestand bereits im 14. Jahrhundert ein Fischmarkt und schon im Jahrhundert zuvor hatte der Rat den Fischern verboten, faule oder verdorbene Fische gemischt mit guter Ware zu verkaufen. Köln ließ spätestens seit 1472 die Qualität der gruene vische kontrollieren, um unzijdige, kranke vische auszusortieren. Fischbeschauer kontrollierten in Wien schon im 15.  Jahrhundert die verderbliche Ware, während eine öffentliche Fleischschau hier erst 1527 einsetzte. Als kontraproduktiv konnte es sich hingegen erweisen, wenn die Fischmarktakzise wie beispielsweise 1415 in Köln verpachtet wurde. Schließlich zielte der Pächter auf möglichst hohe Einnahmen, und das erforderte zur Steigerung des Steueraufkommens vor allem einen hohen Umsatz. Spätestens 1388 konzentrierte der Frankfurter Rat den Verkauf dieser Waren auf den Fischmarkt, was nicht zuletzt die Aufsicht erleichterte.126 Beispielsweise in Zürich verbot der Rat noch vor der Mitte des 14. Jahrhunderts auch den Verkauf von unreifem (unzitig) Obst, etliche Jahre später wurde die Bestimmung ergänzt um faule oder schadhafte Ware. Köln wiederum konzentrierte den Obstverkauf auf den Alten Markt. Die Bierqualität unterlag gleichfalls häufig einer obrigkeitlichen Kontrolle.127 Auch von den diversen Zusätzen, die den Weinen beigegeben wurden, lassen sich 125 Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg, 1. Bd., bearb. v. Friedrich Küch (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, XIII: 1), Marburg 1918, S. 292 f., 298. Müllner: Annalen, Tl. III, S. 619. Vgl. z. B. Mostefa Kokabi: Das Rind als vielseitiger Rohstofflieferant, in: Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300, Zürich/Stuttgart 1992, S. 413–415. Prilloff: Tierknochen, S. 219–222. Mollwo: Das Rote Buch, S. 101 f., 164 f. 126 Vgl. z. B. Zürcher Stadtbücher, I, S. 302–309; III, S. 140 f. Loesch: Zunfturkunden, 2, S. 117 f. Zu Köln vgl. allgemein Bruno Kuske: Der Kölner Fischhandel vom 14.–17. Jahrhundert, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst XXIV (1905), S.  227–313. Brucker (Hg.): Zunft- und Polizeiverordnungen, S. 167, 184 f. Otto Brunner: Die Finanzen der Stadt Wien von den Anfängen bis ins 16. Jahrhundert (Studien aus dem Archiv der Stadt Wien, 1/2), Wien 1929, S. 213. Zur Verpachtung vgl. z. B. Kuske (Hg.): Quellen, Bd.  1, S.  192. Ein gewisses Gegengewicht bildeten die kommunalen Fischunterkäufer, die auch über die Qualität wachen sollten; ebd., Bd. 2, S. 153–156. Frankfurter Zunfturkunden, 1, S. 181. 127 Zürcher Stadtbücher, I, S. 132, 192 f. Kuske (Hg.): Quellen, Bd. 2, S. 85, 106, 329.

254

Städtewesen

längst nicht alle nach modernen Maßstäben als gesund bezeichnen. Eiweiß zur Klärung oder Kalk zur Entsäuerung erwiesen sich sicherlich als unbedenklich, ebenso Zusätze von Salbei oder getrockneten Rosen zur Geschmacksverbesserung, doch dazu später mehr. Das Getreide in den Vorratsspeichern musste mehrfach jährlich umgeschichtet werden, damit es trocken und haltbar blieb. Insbesondere galt es, das Eindringen von Mäusen oder anderen Schädlingen möglichst zu verhindern; zur Bekämpfung der Mäuse wurden neben Katzen auch Wiesel bzw. Marder eingesetzt. Umherziehende Mäuse- oder Rattenfänger boten gleichfalls ihre Dienste an, die sie sich im Stücklohn bezahlen ließen. Zumeist wurde Getreide deswegen von vornherein mit Abstand vom Boden gelagert.128 Eine weitere Gesundheitsgefahr nicht nur für Menschen bildete das zahlreiche Ungeziefer, doch galt die Vorsorge in diesem Bereich als Privatangelegenheit. Als der 70-jährige und damit hochbetagte Hermann Weinsberg im Februar 1588 eines Abends erneut ein Kribbeln an den Beinen verspürte, bat er seinen Neffen, dem nachzugehen, denn „ich kunt nit so scharf sehen“. Dieser entdeckte prompt sechs bis acht Läuse in der gestrickten Hose. Ihre Herkunft konnte Weinsberg sich freilich nicht erklären, zehn Jahre dürften seit dem letzten Befall vergangen sein. Doch schon im vorigen Sommer hatten seine Beine gejuckt und waren angeschwollen, bis er die Hose und andere Kleidungsstücke gewechselt hatte. Eventuell, so werde gesagt, brächten die Frauen das Ungeziefer aus der Jesuitenkirche sowie anderen Kirchen mit nach Hause, wo sich die Läuse dann ausbreiteten. Er selbst komme leider nur selten in die „kirchen oder leusorter“. Vermutlich als Maßnahme gegen die nun wohl schon deutlich spürbare Kleine Eiszeit mit ihrer zunehmenden Kälte hatte Weinsberg jedenfalls einen dickeren Schlafanzug sowie wärmere Bekleidung erworben; zusätzlich trug er nunmehr warme Pantoffeln und, 1588 bis in den Mai hinein, wollene Unterkleidung. Als die Hauptursache der Kölner Wanzen- oder Läuseplage gilt in der Bauforschung das Lehmfachwerk der Häuser, welches erst in der Frühen Neuzeit allmählich durch Ziegel ersetzt wurde.129

128 Zum gerichtlichen Vorgehen gegen Schädlinge vgl. Peter Dinzelbacher: Das fremde Mittelalter. Gottesurteile und Tierprozess, Essen 2006, S. 116–124. 129 Buch Weinsberg, 5, S. 213, 269, 296 f., 377.; 2, S. 377. Rita Wagner: Kölner Profanbauten zwischen Renaissance und Barock, in: Stefan Lewejohann (Hg.): Köln in unheiligen Zeiten. Die Stadt im Dreißigjährigen Krieg, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 31–35, hier S. 35.

255

Spätmittelalter

Raumplanerische Aspekte Ohne in sozialromantischer Verklärung eine Gemeinschaft gleichrangiger Bürger oder gar eine solche der gesamten Einwohnerschaft zu postulieren, muss dennoch betont werden, dass die räumliche Nähe sozialhierarchisch weit getrennter Bewohner ein typisches Merkmal städtischen Lebens blieb, und dies trotz einer im 15. Jahrhundert langsam einsetzenden Trennung der sozialen Schichten. Die Modelle sozialer Schichtung sollen allerdings an anderer Stelle noch thematisiert werden. Allgemein, so ergibt die Auswertung von Steuerverzeichnissen, waren die Bewohner der Vorstädte ärmer als die in den Innenstadtbezirken, und teilweise verfügten sie zudem nur über eine schlechtere Rechtsstellung. Des Weiteren werden im 15. Jahrhundert verstärkt sozialtopografische Konzentrationen von Armut und Anrüchigkeit bzw. Randständigkeit sichtbar, aber eben nicht nur in den Randlagen. So verzeichneten die Steuerbücher Gassen mit gehäufter Vermögenslosigkeit, vielfach handelte es sich in diesen Fällen um Witwen oder um Familien mit vielen Kleinkindern. Dass das Wohnen in diesen Gassen diskriminierend zu wirken begann, kann zwar angenommen, aber eben nicht belegt werden. Sozial nachteilig für die Nachbarschaft erwies sich ­dagegen eine Konzentration von Randständigen oder von zunehmend ­negativ bewerteten Berufen wie Totengräber, Abdecker oder dann auch Bader und Dirnen. Doch verstärkten sich diese Tendenzen deutlich erst im 16. Jahrhundert und besonders in dessen zweiter Hälfte. Die Räte versuchten zumindest im Ansatz, geruchs- oder lärmintensive Gewerbe wie beispielsweise Gerber oder Färber sowie (feuer-)gefährdete Gewerbe wie Schmiede an bestimmten Stellen zumeist am Stadtrand zu konzentrieren, was sich durchaus als raumplanerische Ordnungsmaßnahme unter dem Einfluss funktionaler Standortbedingungen charakterisieren lässt. Derartige Erlasse sind spätestens seit dem frühen 14. Jahrhundert zahlreicher überliefert. Sie kennzeichnet nicht selten ein Abwägen unterschiedlicher Interessen, aber eben auch die Notwendigkeit einer Reduzierung der latenten Brandgefahr durch die Einbeziehung neuer „feuerpolizeilicher“ Erkenntnisse. Selbst Idealstadtentwürfe wie die von Albrecht Dürer (1527) oder Daniel Speckle (1589) folgten weitgehend funktionalen Raumaufteilungen, sozialhierarchische Argumente spielten meist nur eine nachgelagerte Rolle. Stadtplanungen oder Planungen für städtische Räume, die über funktionale Überlegungen hinausgehend auch architektonischkünstlerische Aspekte in größerem Umfang einbezogen, begegnen im Ge256

Städtewesen

biet des späteren Deutschland nur ausgesprochen selten. Selbst für den Ulmer Dominikaner Felix Fabri galt die Ansiedlung lauter oder auf andere Weise störender Berufsgruppen am Stadtrand keinesfalls als diskriminierend, sondern bildete eine gewerbebedingte Notwendigkeit. Bei aller sonstigen Distanz stand Fabri den Handwerkern prinzipiell durchaus positiv gegenüber, bildeten sie doch das Rückgrat der städtischen Wirtschaft. Deutlich wird dieses Ordnungskriterium besonders bei den Gerbern, welche tendenziell zu den vermögenderen Handwerkern zählten, aber dennoch häufig in Randbereichen wirken und wohnen mussten. Dort ließen sie dann auch ihre nicht selten kostspieligen Häuser errichten; die Nörd­ linger Gerberhäuser bilden noch heute ein anschauliches Beispiel. Hinzu kam, dass die Gerber wie andere Handwerker auf fließendes Wasser angewiesen waren und schon von daher an Bächen oder eigens angelegten ­Kanälen ihrer Tätigkeit nachgehen mussten. Die viel Lärm produzierenden Büttner waren in Rothenburg ob der Tauber 1383 gehalten, sich in der ­Außenstadt anzusiedeln. In Frankfurt wurde ihnen in der Altstadt eine Gasse zugewiesen, während für die Neustadt und Sachsenhausen keinerlei Beschränkungen überliefert sind.130 Hermann Weinsberg notierte in seinen Denkwürdigkeiten, dass 1592 der Kölner Stadtsyndikus in der Gasse „Unter Pannenschläger“ – heute ein Teil der Hohen Straße – ein Haus erwarb und bezog. Zu dessen Wohnungswahl bemerkte der Ratsherr: Das Haus sei nicht weit „von der mitten der Stat gelegen aber doch nit an einer lustiger strassen“. Denn Pfannenschmiede und Kesselschläger verursachten Lärm, „das nit so bequeim vur gelerten ist“. Der außerordentlich auf Stand und Ansehen bedachte Weins130 Vgl. z. B. Dirlmeier/Fuhrmann: Aspekte, S. 424–439. Denecke: Sozialtopographie, S. 183. Kersten Krüger: Albrecht Dürer, Daniel Speckle und die Anfänge frühmoderner Stadtplanung in Deutschland, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 67 (1980), S.  79–97, hier S. 81 f., 88. Albrecht Dürer: Etliche underricht zu befestigung der Stett, Schloß und flecken, Nürnberg 1527, ND Unterschneidheim 1969. Gustav Veesenmeyer (Hg.): Fratris Felicis Fabri tractatus de civitate ulmensi, de eius origine, ordine, regimine, de civibus eius et statu, Tübingen 1889, S. 54, 123. Johannes Cramer: Gerberhaus und Gerberviertel in der mittelalterlichen Stadt, Bonn 1981. Zu Dortmund s. Monika Fehse: Dortmund um 1400. Hausbesitz, Wohnverhältnisse und Arbeitsstätten in der spätmittelalterlichen Stadt (Dortmunder Mittelalter-Forschungen, 4), Bielefeld 2005, S. 206–215. In Goslar wirkten und wohnten die Gerber an der Gose; Denecke: Sozialtopographie, S. 177. Das niederländische Leiden konzentrierte hingegen Tuchherstellung und Gerberei erst 1595 in einem Stadtteil; Dam: Städte, S. 98. Ludwig Schnurrer: Die Stadterweiterung in Rothenburg ob der Tauber. Ihre topographischen und sozialen Hintergründe und Folgen, in: Erich Maschke/Jürgen Sydow (Hg.): Stadterweiterung und Vorstadt, Stuttgart 1969, S. 59–79, hier S. 76. Karl Bücher: Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im XIV. und XV. Jahrhundert. Social­ statistische Studien, Bd. 1, Tübingen 1886, S. 301.

257

Spätmittelalter

berg argumentiert also ausdrücklich nicht damit, dass es sich für einen Stadtsyndikus nicht gehörte, unter Schmieden oder anderen Handwerkern zu wohnen. Dieses in Köln übrigens trotz der damit verbundenen Gefahren in recht zentraler Lage konzentrierte Gewerbe störte zwar akustisch, beeinträchtigte aber eben nicht den Sozialstatus der Nachbarschaft – wiederum ein instruktives Beispiel. Daneben begegnet die Praxis, derartige belästigende Betriebe oder solche mit hohem Raumbedarf in der oder den Vorstädten anzusiedeln. So konzentrierten sich beispielsweise die Gerberhäuser in Schwäbisch Hall auf die Katharinenvorstadt; freilich floss hier bei ansonsten ausgeprägter Hanglage der Stadt als zentraler Standortvorteil die Kocher mit dem benötigten Wasser. Auf eine analoge Situation mit Gewerbebetrieben in der Unterstadt, also in Randlage, aber am Flusslauf gelegen, trifft man in Bern, wo die verbliebenen innerstädtischen Gerber durch ihre Umsiedlung 1326 im Südteil der Stadt konzentriert wurden. Im Fall von Würzburg mussten sich die Gerber im 14., vielleicht schon im 13. Jahrhundert in der Vorstadt Pleichach niederlassen, wohin zwei Bäche extra umgeleitet wurden; wohl im frühen 12.  Jahrhundert hatten die bischöflichen Stadtherren die Gerber zunächst in die Nähe der südlichen Stadtmauer umgesiedelt.131 In Einzelfallentscheidungen konnte bestimmt werden, dass Färber nach Beschwerden der Nachbarschaft Abzugsanlagen bauen mussten, damit die Umgebung nicht so sehr durch die Geruchsbelästigung litt, sie aber ihr Handwerk weiterhin am angestammten Platz ausüben konnten. Zürich wollte einen Färbekessel nur dann genehmigen, wenn kein „tâmf davon gân mug“ und die Belästigung der Nachbarschaft „von gesmak und von roches“ wegen minimiert würde. Um 1355 wandte sich der Jurist Philipp von Leyden aus der gleichnamigen Stadt gegen die Ableitung von Färbereiabwässern in für Nutzwasser gebrauchte Kanäle, da diese die Gesundheit beeinträchtigten und den Fischen schadeten – ein neuerlicher Hinweis auf empirisch gewonnene Kenntnisse. Gelegentlich errichteten die Städte wie in München selbst Färbehäuser, deren Standorte sie dann natürlich bestimmen konnten, und verpachteten sie anschließend an die Färber.132 131 Wunder: Stadt, S.  104. Gerber: Bauen, S.  32. Glauser: Stadt, S.  92. Baeriswyl: Sodbrunnen, S.  65. Winfried Schich: Würzburg im Mittelalter. Studien zum Verhältnis von Topographie und Bevölkerungsstruktur (Städteforschung, A: 3), Köln/Wien 1977, S. 155, 192. Vgl. Meinhardt: Dresden, S. 92. 132 Zürcher Stadtbücher, I, S. 409 f. Zürcher Stadtbücher, II, S. 409 f. Solleder: München, S. 262. Dieses Vorgehen konnte weiterhin verhindern, dass die Handwerker in ungewollte verlegerische Abhängigkeiten gerieten. Kühnel: Gemeinschaft, S. 62.

258

Städtewesen

In Köln sollten im 15.  Jahrhundert innerstädtische Blei- und weitere Schmelzöfen wegen der mit ihrem Betrieb einhergehenden Gesundheitssowie Geruchsbelästigungen, vor allem aber wohl wegen der von ihnen ausgehenden Brandgefahr abgebrochen werden; ihr Neubau war seit 1415 gleichfalls per Ratsbeschluss untersagt. Doch noch 1476 setzte der Rat eine Kommission ein, welche weitere solcher Anlagen aufspüren sollte. Konsequent dürfte all dies aber noch immer nicht umgesetzt worden sein, denn nochmals gut 60 Jahre später erhielten 1537 die nunmehrigen Rentmeister den Auftrag, Peter von Bercheim zu untersagen, neben dem Rathaus und damit in hervorgehobener Lage eine Blei- oder Silberschmelze zu betreiben. Als später Nachklapp derselben Problematik wehrten sich 1765 Innenstadtanwohner gegen den Betrieb einer neuen Bleischmelze. Die Kupferschläger durften innerstädtisch gleichfalls nur noch unter der Voraus­ setzung Kupfer oder Blei schmelzen, dass sie die Nachbarschaft nicht belästigten; ansonsten waren die Schmelzen zu verlegen. Eine Pulvermühle (kruytmoilen) musste 1433 ebenfalls geschlossen werden. Neubauten derartiger Anlagen machte der Rat zukünftig von seiner Zustimmung abhängig, um die Nachbarschaft oder sogar die gesamte Stadt aufgrund ihres hohen Brandpotenzials nicht zu gefährden. Das Münchener Stadtrecht forderte von den Schmieden eine Dacheindeckung mit Ziegeln, um die Feuergefahr zu begrenzen. Ebenfalls der Feuerabwehr dienten die zwischen 1302 und 1315 erlassenen Nürnberger Bestimmungen, wonach innerhalb der Ringmauer weder Flachs noch Schmalz zubereitet werden durften. Wenige Jahre später besagte ein Zusatz, dass die Schmalzfertigung drei roslauf von der Vorstadt entfernt zu erfolgen hatte; zudem durfte der Wind die Ausdünstungen nicht in die Stadt treiben. Für Göttingen ist eine derartige ­Bestimmung für das Jahr 1415 überliefert.133 Wenn freilich die Seiler die Herstellung ihrer Waren aus Hanf vor die Mauern der Städte verlegten, geschah dies, weil ein ausreichend großer, freier Platz in den Städten gerade für die Produktion langer Seile nicht vorhanden war. Die unmittelbare räumliche Nähe zwischen kleinen Handwerkern und Vertretern der Oberschicht, das Nebeneinander von Armen und Reichen ist beispielsweise in Basel, Augsburg, Trier, Freiburg im Breisgau oder in Marburg zu beobachten. Spätestens seit der Wende vom 15. zum 16. Jahr133 Stein: Akten II, S. 217, 269, 551. Beschlüsse des Rates der Stadt Köln 1320–1550, Bd. 4: 1531–1540, bearb. v. Manfred Groten (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, LXV), Düsseldorf 1988, S. 474. Rosseaux: Stadt, S. 113 f. Loesch, Zunfturkunden, 2, S. 304 f., 379, 570 f. Auer: Stadtrecht, S. 172. Schultheiß: Satzungsbücher, S. 52, 133. Schütte: Funde, S, 74.

259

Spätmittelalter

hundert ist jedoch eine Entwicklung zur verstärkten Absonderung unverkennbar. Belegen lässt sie sich durch den zahlenmäßigen Rückgang der Vermögenslosen in den bevorzugten zentralen Wohngebieten innerhalb der Mauern so unterschiedlicher Städte wie Augsburg oder Marburg.134 Für das 15. Jahrhundert gilt aber wohl noch durchwegs, dass es zwar Stadtteile und Straßen ohne größere Vermögen gegeben hat, aber keine Straßen und Quartiere ohne Vermögenslose. Das Nebeneinander von Angehörigen sehr unterschiedlicher Sozialschichten auf engstem Raum lässt sich aus dem Tagebuch des Frankfurter Patriziers Job Rorbach nochmals anschaulich belegen. Darin berichtete Rorbach von der Renovierung des Hofs seiner Familie in der Eschersheimer Straße und erwähnte bei dieser Gelegenheit die drei Zinshäuschen im geslin, von denen zwei ebenfalls erneuert wurden. Für Lübeck sind regelrechte Budenreihen schriftlich und archäologisch ­bezeugt. Derartige kleine und selbst nach dem Maßstäben der Zeit unkomfortable Zinshäuser auf den Hinterhöfen oder in den Gängen bildeten eine verbreitete Erscheinung, die wir für ein spezifisches Charakteristikum der spätmittelalterlichen Stadtstruktur halten: Die soziale Rangordnung konnte so auf engstem Raum reproduziert werden, ohne dass die topografische Distanz, die Segregation in Stadtteile, dazu unbedingt erforderlich gewesen wäre. Derartige Phänomene bieten zudem Einblicke in das zeitgenössische Ausmaß von Integration sowie Desintegration.135 Auch zu diesem Thema finden sich bei dem Kölner Hermann Weinsberg wertvolle Belege. Zweimal erörterte er die Nachbarschaft seines Familienstammsitzes, des Hauses Weinsberg an der Ecke Blaubach – Hohe Pforte. Weinsberg, der auf Alter und Ansehen seiner Familie sehr stolz war und, wie gleich zu zeigen sein wird, über strikte Vorstellungen von Ehrbarkeit verfügte, verzeichnete völlig wertneutral, dass direkt neben seinem Geburtshaus nacheinander buddenbender (Büttner), essichmenger 134 Vgl. allg. Ernst Schubert: Gauner, Dirnen und Gelichter in deutschen Städten des Mittelalters, in: Cord Meckseper/Elisabeth Schraut (Hg.): Mentalität und Alltag im Spätmittelalter, Göttingen 1985, S. 97–128, hier S. 125. 135 Job Rorbachs Tagebuch, in: Frankfurter Chroniken und annalistische Aufzeichnungen des Mittelalters, bearb. v. R. Froning (= Quellen zur Frankfurter Geschichte, 1), Frankfurt 1884, S. 237– 313, hier S. 269. Irsigler, Franz/Arnold Lasotta: Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt, ND München 1989, S.  25; Buch Weinsberg, S.  232. Nach Alberti: Zehn Bücher, S. 283, diente das Kellergeschoss zur Aufbewahrung von Vorräten sowie als Wohnquartier Bediensteter, darüber befand sich das „vornehme“ Haus. Zur Bedeutung von Nachbarschaft und sozialen Milieus vgl. Robert Jütte: Das Stadtviertel als Problem und Gegenstand frühneuzeitlicher Stadtgeschichtsforschung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 127 (1991), S. 235–269, bes. S. 249 ff.

260

Städtewesen

(Essighändler), schartzeweffer (Decklakenweber) und bartscherer (Bartscherer) zur Miete gewohnt hatten, dass weiterhin in einem winzigen Eckhaus eine getaufte Jüdin Branntwein und anderes verkaufte, dass ein opperknecht (Handlanger), ein alter Schnitzer, eine Waschfrau und ein Stadtbote in der Nachbarschaft lebten. Und mittendrin stand das Haus Weinsberg, das 1589 immerhin auf einen Steuerwert von 2500 Talern veranschlagt wurde, also zweifellos in eine gehobene Kategorie gehörte. Trotz der erwähnten Tendenz zur verstärkten sozialen Segregation blieb also noch im späten 16. Jahrhundert, das Weinsberg schilderte, eine derart weitgehende Durchmischung möglich und wohl auch üblich. Das räumlich enge Nebeneinander schloss eine deutliche Abgrenzung nach Lebensstandard und Sozialstatus selbstverständlich nicht aus, aber diese Distanzierung lässt sich o ­ ffenbar nicht mit Ausgrenzung gleichsetzen. Dafür galt es allerdings, Mindestanforderungen zu erfüllen, das heißt, in erster Linie einen nach Ansicht der Zeit gesellschaftlich anerkannten Beruf auszuüben. Noch einmal bietet es sich an, auf Hermann Weinsbergs Ausführungen zurückzugreifen: Er unterteilte die weltlichen Einwohner Kölns in drei durch ständische, wirtschaftliche und berufliche Kriterien bestimmte „Grade“, zum dritten und letzten zählte er u. a. „diener, arbeider, … und gutte erliche gemeinsburger“. Danach erst kamen jene, die zu keinem „Grad“ mehr zählten, die „gruntsoppe, heffe des folcks, erlose und verachte leut“.136 Obwohl seit dem 15. Jahrhundert die Zahl der Vermögenslosen in den bevorzugten Lagen im Rückgang befindlich war, verhinderte schon die Kleinheit vorindustrieller Städte eine ausgeprägte Segregation. Zudem blieben die zentralen Märkte, auf denen sich der Verkauf von Nahrungsmitteln konzentrierte, leicht erreichbar, sodass alle Schichten der Einwohner diese weiterhin regelmäßig aufsuchten. Eine grundsätzliche Neuausrichtung mit der Bildung von sozial deutlich geschiedenen Stadtvierteln sollte erst das 19. Jahrhundert bringen, als die Städte teilweise erheblich über ihre alte Größe hinauswuchsen oder neue Städte rasend schnell entstanden. Weit überwiegend wiesen sie freilich selbst in dieser Phase keine derartig scharfe Segregation auf, wie sie aus den USA bekannt ist.

136 Buch Weinsberg, 5, S. 110 ff., 152, 326. Zu Weinsbergs Lebensumfeld vgl. Gerhard Fouquet: Ein privates Milieu im 16.  Jahrhundert. Familie und Haushalt des Kölners Hermann Weinsberg (1518–1597), in: Elkar (Hg.): Maß, S. 347–379.

261

Spätmittelalter

Bauen und Wohnen Bis weit in die Neuzeit hinein schuf die Durchsetzung der Stein- und der Fachwerkbauweise die Grundlage für ein dauerhaftes Bauen nicht nur in den Städten, sondern auch im ländlichen Raum; erst um die Mitte des 19.  Jahrhunderts sollte die Erfindung des Betons das Bauen nochmals grundlegend verändern. Schon aus diesem Grund erfuhren die Bauweisen und -techniken über einen langen Zeitraum hinweg überwiegend nur noch Verfeinerungen. So stieg beispielsweise die Formvielfalt bei der Gestaltung von Fassaden und Dächern, in steigender Zahl lockerten Zwerchhäuser, Gaupen, Giebel, Schaugiebel und Schornsteinköpfe die Dächer auf. Die ­leider zumeist witterungsanfälligen Verzierungen des Fachwerks dürften seit dem 14. Jahrhundert gleichfalls zugenommen haben, Tore und Türen konnten gleichfalls reich und vielfältig verziert sein. Bei Häusern mit mehreren Stockwerken nutzten die Bewohner die oberen Etagen zumeist als Lagerraum, als Speicher, was ihre niedrigere Höhe gegenüber den Wohngeschossen erklärt. Unter den Häusern entstanden zum Teil imposante Keller mit Raumhöhen von bis zu fünf Metern; derartige Größenverhältnisse erlaubte zunächst ein felsiger Untergrund mit seiner natürlichen ­Stabilität. Städte wie Lübeck kannten aber gleichfalls großflächige, hier gemauerte Gewölbekeller. Mächtige Tore in den Häusern der Kaufleute ermöglichten die Einfahrt von großen, beladenen Wagen, um die Waren in Ruhe und geschützt vor Neugierigen sowie Witterungseinflüssen abladen zu können. Idealerweise fanden die Gespanne im Hof ausreichend Raum zum Wenden, was sich allerdings längst nicht in allen Fällen realisieren ließ. Teilweise schrieben die Räte eine Höchstzahl von Stockwerken fest, um die Stabilität der Bauwerke nicht zu gefährden; die Basis derartiger ­Bestimmungen dürften erneut Erfahrungswerte gebildet haben. Fenster und Öfen erhöhten den Wohnkomfort, wenngleich erst der Einsatz von Bleiverbindungen das Zusammenfügen von Scheiben zu größeren Einheiten ermöglichte. Vorerst ließen die trüben Butzenscheiben weniger Licht durch, als es später transparentes Glas ermöglichte, das zunächst noch vereinzelt, bald aber – dies zuerst in Venedig – serienmäßig gefertigt wurde. In der Lagunenstadt hatte die städtische Obrigkeit die Glasproduktion aufgrund der hohen Feuergefahr Ende des 13. Jahrhunderts nach Murano verlegt, einer Inselgruppe nordöstlich der Stadt, wo die Handwerker levantinisches Soda in der Produktion einsetzten. Die in den Glashütten des Reichsgebiets gefertigten Gläser wiesen hingegen zumeist eine grüne 262

Bauen und Wohnen

Verfärbung auf, da es den Glasern aufgrund der vorherrschenden Schmelztechnik überwiegend noch nicht gelang, metallische Verunreinigungen der Vorprodukte zu beseitigen. Gegenüber den gestampften Lehmböden lassen sich weiterhin die Estrichböden als Fortschritt charakterisieren.137 Zwar gestalteten sich schon regional die Bauformen recht verschieden, doch sind grundlegendere Unterschiede zwischen Ober- und Niederdeutschland festzustellen. Schon aufgrund der naturräumlichen Gegebenheiten dominierten im Norden seit dem 12. Jahrhundert zunehmend Backsteinbauten, während im Süden Fachwerk und Naturstein vorherrschten. Im Fachwerkbau stellte der oberdeutsche Raum auf die geschossweise Abzimmerung um, der Norden behielt in der Regel die ältere Ständerbauweise bei. Weiterhin befanden sich in Niederdeutschland Erker im Erdgeschoss vor der Diele, im Süden hingegen handelte es sich überwiegend um Balkone vor einem oder mehreren der Obergeschossräume. Die hohen Dielen der Vorderhäuser dienten nicht nur in Lübeck ganz überwiegend der gewerblichen Tätigkeit, keinen Wohnzwecken. Zeitverschiebungen traten bei der Verbreitung der Stube auf, die als Wohnraum der slawisch-deutschen Kontaktzone entsprossen ist: Sie breitete sich Anfang des 13. Jahrhunderts in Oberdeutschland aus, später im westlichen Münsterland, vermutlich im 15. Jahrhundert schließlich in Schleswig und Holstein. Ihr frühestes Aufkommen ist jedoch für das 11. oder 12. Jahrhundert in Österreich, Böhmen und Mähren sowie Sachsen belegt. Dabei unterschied sich ihre Nutzung, denn im Süden handelte es sich um einen alltäglich genutzten Raum, in Westfalen blieb die „gute Stube“ hingegen bis weit in die Neuzeit eine nur selten betretene Räumlichkeit für besondere Anlässe. Seit der zweiten Hälfte des 14.  Jahrhunderts wurden zahlreiche Wohntürme abgetragen und durch seinerzeit moderne, repräsentative Bauwerke mit einem deutlich höheren Wohnkomfort schon aufgrund der größeren Grundfläche ersetzt, bevor auch diese in den folgenden Jahrhunderten vielfach wiederum Neubauten weichen mussten. Ohnehin erfolgte während des 12. und 13. Jahrhunderts verbreitet der Übergang vom Einraumhaus oder von jeweils einem Wohn- und Schlaf­ bereich zur Aufteilung in mehrere Räume. Allgemein wuchs aufgrund der 137 Fritz Schmidt/Ulf Dirlmeier: Geschichte des Wohnens im Spätmittelalter, in: Dirlmeier (Hg.): Geschichte des Wohnens, S.  229–346. Gerhard Fouquet: „Annäherungen“: Große Städte – kleine Häuser. Wohnen und Lebensformen der Menschen im ausgehenden Mittelalter (ca. 1470–1600), in: ebd., S. 347–501. Vgl. knapp Bernd Fuhrmann: Das Mittelalter, in: ders. u. a.: Geschichte des Wohnens vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2008, S. 9–60.

263

Spätmittelalter

bautechnischen Fortschritte und der damit wahrscheinlich verbundenen geringeren Herstellungskosten der in den neueren Häusern zur Verfügung stehende Wohnraum gegenüber den Vorgängerbauten deutlich an. Damit konnten die Räume für Angehörige der Mittel- und Oberschichten nunmehr verschiedenen Funktionen dienen. In den Häusern der vermögen­ deren Bürger lebten und arbeiteten zudem Hausknechte sowie Mägde, zu Handwerkerhaushalten konnten Lehrlinge und Gesellen zählen. Die Schreibstube oder das Kontor fanden gleichfalls ihren Platz. Allerdings ­zeigen zahlreiche Abbildungen des Spätmittelalters und noch des 16. Jahrhunderts die Kaufleute neben ihren Waren in einem Gewölbe oder einem Erdgeschossraum sitzend, wo sie die Eintragungen in die Bücher vornahmen und den Warenverkehr überwachten. Wann genau sich die Schreibstube vom Gewölbe trennte, bleibt unklar, dürfte aber sehr verschieden gewesen sein. Ob die Ausdifferenzierung der Wohnräume einer Individualisierung Vorschub leistete und die Schamstandards als einen Teil des häufig und widersprüchlich diskutierten Zivilisationsprozesses veränderte, muss offenbleiben. Allerdings dürften die Hygienestandards im späten Mittelalter – von Norbert Elias gänzlich unberücksichtigt – über denen späterer Jahrhunderte gelegen haben. Unabhängig davon lassen schon die räumliche Enge der Städte und das dichte tägliche Nebeneinander es zweifelhaft erscheinen, dass die Privatsphäre – so wie wir sie verstehen, wohl doch erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts – in Spätmittelalter und Früher Neuzeit einen ähnlich hohen Stellenwert besaß wie in der Gegenwart, zumindest vor dem massenweisen Einsatz und Gebrauch sozialer Netzwerke sowie deren potenzieller Überwachung. Doch standen derartigen repräsentativen, ausdifferenzierten Häusern die zahlreichen kleineren vor allem der Handwerker gegenüber, die im Gegensatz zu den Wohnsitzen der Wohlhabenden nur in Ausnahmefällen die Jahrhunderte überstanden haben. Handwerker dürften ihre Häuser verbreitet zweigeschossig errichtet haben, wobei der Keller oder das Erdgeschoss dem Broterwerb diente, das Obergeschoss zu Wohnzwecken genutzt wurde. Darüber hinaus setzte sich eine Trennung von Küche, Wohnraum und weiteren Kammern durch. Als der Nürnberger Rat Ende des 15. Jahrhunderts schwäbische Barchentweber anzuwerben trachtete, ließ er zunächst 15 Häuser fertigstellen, in denen der Keller als Arbeitsplatz diente. Die beiden darüber liegenden Geschosse wiesen eine Wohnfläche von jeweils 45 Quadratmetern auf und beherbergten jeweils eine Familie. Drei Räume mussten nicht nur in diesem Fall genügen: eine Küche mit Herd, 264

Bauen und Wohnen

eine Stube mitsamt einem Ofen sowie die unbeheizte Schlafkammer. Dennoch sollten diese uns heute bescheiden erscheinenden Häuser als Anreiz für Zuziehende wirken. Der Bau von sechs weiteren Häusern erfolgte 1524, und in den bekannten „Sieben Zeilen“ standen jeweils drei dieser Gebäude nebeneinander. Dass keine Verkaufsmöglichkeiten vorgesehen waren, kann für eine Tätigkeit der Weber im Verlagswesen sprechen. Die Wohnflächen in der von den Zeitgenossen wohl viel gelobten Fuggerei, 1531 erstmals so bezeichnet, lagen zumeist ebenfalls bei 45 Quadratmetern pro Etage; in diesem Fall handelte es sich um eine Stiftung. Bis 1522 ließ Jakob Fugger 52 zweistöckige Häuser mit insgesamt 102 Wohnungen errichten, wobei die Bewohner über eine Außentreppe als eigenständigen Eingang in die Obergeschosse gelangten. Bei den Nutznießern dieser Wohnungen zu geringem Mietzins handelte es sich um verarmte, aber ehrbare Hand­ werker, vornehmlich Weber, die aber keine Almosen empfangen durften.138 Um weitere Größenverhältnisse zu nennen, sei auf die Limburger Altstadt verwiesen, in der Fachwerkhäuser über Grundflächen von 26 bis knapp 110 Quadratmetern, Steinhäuser über solchen von 76 bis 144 Quadratmetern errichtet wurden. Etliche Fachwerkbauten lassen sich dendrochronologisch auf das späte 13. Jahrhundert datieren, da die durch einen Stadtbrand des Jahres 1289 zerstörten Gebäude umfangreich durch Neubauten ersetzt werden mussten. Selbst in kleineren Häusern dienten Hallen zumindest seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert Repräsentationszwecken. Die Täfelung von Räumen verbreitete sich, und große Stuben sowie Säle konnten auch von Fresken, Wand- und Deckengemälden verschönert werden. Eine solche Ausstattung beschränkte sich zunächst vor allem auf die Burganlagen der wirtschaftskräftigen Adligen sowie auf öffentliche Gebäude. Die Bildzyklen thematisierten in erster Linie biblische Geschichten, Heiligenviten oder Figuren und Handlungen aus der ritterlich-höfischen Literatur. Großer Beliebtheit erfreuten sich gleichfalls die klassischen ­Alexandergeschichten, dazu mystische Einhörner, weiteres Getier und verschiedene Spielszenen. Auch in den Wohnungen der städtischen Oberschichten hingen vielfach Wandteppiche, oftmals als Bildteppiche gestaltet. Neben dem Schmuckeffekt reduzierten sie die aufgrund des vielfach nicht luftdichten Mauerwerks auftretende Zugluft, die allerdings eine Fäulnis verhinderte. Vorstellungen über eine systematische Einrichtung der Räume 138 Josef Weidenbacher: Die Fuggerei in Augsburg. Die erste deutsche Kleinhaus-Stiftung. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Kleinhauses, Augsburg 1926.

265

Spätmittelalter

durch Mobiliar gehörten wohl noch der Zukunft an. Vielfach verbanden die Handwerker Bänke und Schränke direkt mit der Vertäfelung. Für die Aufbewahrung von Bekleidung, Bettlaken, Handtüchern, Tischdecken etc. blieben aber die oftmals reich verzierten Truhen vorherrschend, denn bei den Schränken handelte es sich weit überwiegend um solche für Lebensmittel, welche diese besser vor Mäusen und Schädlingsbefall schützen. Stühle blieben wegen ihres Raumbedarfs gleichfalls noch Ausnahmen, neben den Bänken dienten in erster Linie unverändert (dreibeinige) H ­ ocker und Schemel als Sitzmöbel. Zum üblichen Mobiliar selbst der Unterschichten zählten einfache Truhen sowie ein Bett mit hölzernem Bettgestell, doch war dessen Qualität kaum mit jener der beeindruckenden Baldachinbetten mitsamt Betthimmel und Vorhängen der Oberschicht zu vergleichen. Für die Bewohner bedeuteten freilich ihre Betten ebenso wie das Zubehör kostbaren Besitz, der nicht selten wie in Basel in Nachlassinventaren seinen Niederschlag fand. Federbetten blieben dagegen ein Luxusartikel, ergänzt um weitere Kissen sowie kleinere Kopf- und Ohrkissen. Während des Konstanzer Konzils (1414–1418) erlassene Vorschriften deuten auf eine höhere Wohnqualität, denn sie forderten eine Ausstattung der Liegestätten mit Laken, Bettdecke und Kissen; wie auch sonst üblich teilten sich während der Kirchenversammlung meist zwei Personen eine Bettstatt. Die Bettwäsche musste jede zweite Woche gewaschen oder gegen saubere ausgetauscht werden, später genügte ein vierwöchiger Reinigungsturnus; beides widerspricht jedenfalls eindringlich dem Klischee eines schmutzstarrenden Spätmittelalters. Außerdem mussten die Vermieter Tisch, Tischdecke, Kessel, Pfannen, Trinkgefäße und Schüsseln ebenso bereitstellen wie Handtücher, wobei Letztere wiederum mindestens alle zwei Wochen ausgetauscht werden mussten. Auf eine wachsende Ausstattung der Haushalte mit metallenen Küchengerätschaften wie Kupfertöpfen, Kesseln, Pfannen und Kannen verweisen Testamente sowie Inventare des 15. Jahrhunderts. Nunmehr erwarben offenbar breitere Bevölkerungsschichten diese Gerätschaften als Bestandteil des alltäglichen Hausrats; für die Jahrzehnte zuvor fehlt die Überlieferung wieder einmal weitgehend. Mit der Verbreitung und Ausdifferenzierung der Handwerke ging eine höhere Formenvielfalt einher, doch wurde unverändert in allen Bevölkerungsschichten Holzgeschirr in großer Menge ­genutzt, ebenso mit steigender Tendenz einfaches irdenes Geschirr sowie Keramikgefäße. Auch die Ausstattung mit teurem Zinn- und Silbergeschirr nahm zu, wobei Silber und das wesentlich seltener verwendete Gold zudem 266

Bauen und Wohnen

als Vermögensreserve dienten, konnten die aus ihnen gefertigten Teile doch jederzeit wieder eingeschmolzen und anschließend vermünzt werden. Dies galt übrigens ebenso für die Silber- und Goldpokale in den Ratsstuben. Gläserne Trinkgefäße fanden gleichfalls Verbreitung, im 13.  Jahrhundert gelangten Gläser aus Italien in den Norden. Allerdings sind die Keramikfunde bei den Ausgrabungen überproportional vertreten, da das Holzbesteck mittlerweile weitgehend verfault ist, unbrauchbares Metallgerät hingegen überwiegend wieder eingeschmolzen oder bei den Händlern mit Neuanschaffungen verrechnet wurde. Eine Neuerung des Spätmittelalters bildete das Steinzeug mit seiner besonderen Härte und Dichte sowie Säurefestigkeit; unter den zunächst im Rheinland konzentrierten Fertigungsorten nahm Siegburg eine Sonderstellung ein. Zwar drang Fayence im 16. Jahrhundert aus Italien nach Oberdeutschland vor, doch blieb ihre Herstellung vorerst noch begrenzt und gewann erst nach dem Dreißigjährigen Krieg an Bedeutung. Ihre Messer führten Reisende oder Gäste im Regelfall mit sich, die Gastgeber stellten neben Schüsseln vornehmlich die Löffel.139 Neben dem Haus spiegeln die in den Inventaren aufgelisteten Einrichtungs- sowie Haushaltungsgegenstände in hohem Maße die Vermögensverhältnisse und die soziale Stellung wider. Der Oberschicht vorbehalten blieben die imposanten Kronleuchter, gefertigt aus Bronze oder Messing sowie Geweihen. Darin brannten eventuell sogar von den Bediensteten angezündete Wachskerzen anstelle der sonst überwiegend verwendeten rußenden und keinesfalls geruchsfreien Talglichter aus tierischen Fetten (Tran). Ebenso konnten dekorativ gestaltete Kachelöfen in den Häusern der Begüterten einen Blickfang bilden, wobei einzelne Ofenkacheln häufig ersetzt werden mussten. Individuellen Sitzkomfort erlaubten verstellbare Rückenwände an den Bänken, zumal Schreiner und Tischler dank neuartiger Techniken wie den Sägemühlen sowie verbesserter Hobel die Qualität des hergestellten Mobiliars erheblich verfeinerten. Erste Verwendung im Geschäftsleben fanden zudem Schreib- und Lesepulte, Schreibtische hingegen blieben noch seltene Ausnahmen. Brettspiele wie Mühle oder Tricktrack, später wohl auch Schach, sowie Karten- und Würfelspiele dienten der Unterhaltung, und es wurde durchaus um höhere Summen gespielt. Mit zahlreichen Verordnungen zielten – mit mehr als wechselndem Erfolg – Stadträte und Territorialherren auf eine Unterbindung dieser geläufigen Praxis, wiede139 Vgl. u. a. Sabine Felgenhauer-Schmiedt: Die Sachkultur des Mittelalters im Spiegel der archäologischen Funde (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXVIII, 42), Frankfurt a. M. u. a. 1993.

267

Spätmittelalter

rum eine Parallele zur Gegenwart. Weite Verbreitung fand zudem das Kegeln. Daneben konnten zumindest in den größeren Städten gegen Entgelt gelegentlich Bären, Affen, Löwen, Giraffen oder andere Wildtiere bestaunt werden, auch missgebildete Menschen wie bucklige Zwerge wurden von Markt zu Markt geführt – eine bis ins 19.  Jahrhundert hinein, teilweise ­darüber hinaus gängige Praxis. Weiterhin boten in der Hoffnung auf Einkünfte und Anerkennung Spielleute, Schauspieler, Gaukler, Seiltänzer, Feuerschlucker, Zauberkünstler, Akrobaten, Musiker, Marionettenspieler oder Scharlatane hier ebenso wie an den Höfen ihre Künste dar; außerdem mischten sich Quacksalber unter das bunte Volk.140 Gerade Märkte oder Messen mit ihrem hohen Publikumsaufkommen boten sich als Gelegenheit an, doch auch sonst bestand Interesse an Unterhaltung. Ebenso erfreuten sich auch Lotterien oder Glückstöpfe größerer Beliebtheit. Fiel schon die Mehrheit der Handwerkerwohnungen und -häuser eher bescheiden aus, so gilt dies umso mehr für die Verschläge und Hütten von Teilen der Unterschicht. So sind für Lübeck neben kleinen, steinernen Mietshäusern für zahlungskräftigere Bewohner in den zahlreichen Gängen regelrechte Budenreihen archäologisch und schriftlich bezeugt, bei denen im Spätmittelalter Holz als Baustoff überwog. Verstärkt noch im 16. Jahrhundert ließen wohlhabende Lübecker Bürger solche Buden vornehmlich im Ostteil der Stadt zur Profitmaximierung als Kapitalanlage errichten, wiederum eine als frühkapitalistisch zu bezeichnende Vorgehensweise. Die Buden waren auf einem kleinen Grundriss errichtet und bestanden meist nur aus einem Raum, doch verfügten sie teilweise immerhin über ein Obergeschoss. Eine offene Herdstelle musste für das Erwärmen der Räumlichkeiten und die Nahrungszubereitung ausreichen. Auf Grundflächen von 17 bis etwa 30 Quadratmetern lebten zumeist mehrere Personen, da­ runter aber nur vereinzelt Handwerker, sondern vornehmlich ungelernte Tagelöhner und „Matrosen“. Zu Beginn des 16.  Jahrhunderts soll in den über 100 Gängen mit ihren Budenreihen ein knappes Drittel der Einwohnerschaft gehaust haben, was im Übrigen tendenziell gegen die Annahme einer generell höheren sozialen Ausgeglichenheit in norddeutschen Städten spricht.141 Zwar vermitteln die heute liebevoll restaurierten Gänge mitsamt ihren Wohngebäuden noch immer ein Gefühl von Enge und Kleinräumig140 Hartung: Spielleute. Vgl. z. B. Landucci: Tagebuch, S. 26, 79 f., 87; II, 279. 141 Michael Scheftel: Gänge, Buden und Wohnkeller in Lübeck. Bau- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zu den Wohnungen der ärmeren Bürger und Einwohner einer Großstadt des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Häuser und Höfe in Lübeck, 2), Neumünster 1988.

268

Bauen und Wohnen

keit, jedoch nicht mehr den ursprünglichen Eindruck der problematischen spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Wohnverhältnisse. Noch schlimmer erging es denjenigen, welche auf zuvor als Lagerräume genutzte Kellerwohnungen zurückgreifen mussten, denn diese Domizile waren überdies feucht, schlecht geheizt und nur ausgesprochen unzureichend belüftet. Untermietverhältnisse sind belegt, was als ein weiterer Hinweis auf die materielle Notlage der Bewohner gelten kann. Wenn hingegen Burkard Zink die Anfangszeit seiner ersten Ehe in einer Augsburger Einraumwohnung Jahrzehnte später durchaus nicht als negativ beschrieb, geschah dies sicher im beschönigenden Rückblick, blieb diese Zeit doch nur eine Episode seines umtriebigen Lebens, bevor ihm der wirtschaftliche Aufstieg gelang. Doch es handelte sich nicht nur um die Ärmeren, die Wohnraum mieteten, sondern das Wohnen zur Miete erfuhr in den spätmittelalterlichen Städten eine weite Verbreitung, wie es für Zürich detailliert belegt ist.142 Ein Grund dafür liegt in einer häufigen Konzentration des innerstädtischen Immobilienbesitzes in der Hand von Kirchen, geistlichen Instituten und Angehörigen der kommunalen Oberschicht. Derart waren in Augsburg noch um die Mitte des 15. Jahrhunderts etwa 200 Häuser dem Bischof zinspflichtig. Jedoch konnten die Besitzer die Häuser mit ihrem Zubehör wie Gärten weiter veräußern, Neu- und Umbauten vornehmen oder die Grundstücke in kleinere Parzellen aufteilen. Damit standen für die ehemaligen geistlichen Stadtherren die Abgaben vom Grundbesitz, weniger die von der jeweiligen Immobilie, im Zentrum. Auch wenn die städtische Wohnkultur in den meisten Darstellungen den breitesten Raum einnimmt, darf nicht vergessen werden, dass die Mehrzahl der Bevölkerung auf dem Land lebte. Jedoch sind wir über deren konkrete Wohnverhältnisse wesentlich schlechter unterrichtet. Im Auge zu behalten ist zunächst, dass sich vor allem im Spätmittelalter in den Dörfern eine erhebliche soziale Differenzierung beobachten lässt und der vermögende Vollbauer sicher anders und wesentlich besser wohnte als ein ländlicher Tagelöhner oder Kleinstellenbesitzer. Zudem stellte das Überwiegen einer Wein-, Vieh- oder Getreidewirtschaft jeweils andere Anforderungen an die Gebäude; dasselbe gilt für Fischerdörfer. Zahlreiche Häuser des ländlichen Raums sind mittlerweile in Freilandmuseen rekonstruiert ­worden, wobei die ältesten Exemplare aus dem Spätmittelalter stammen.

142 Sutter: Nachbarn.

269

Spätmittelalter

Sie bieten einen direkten Einblick zumindest in Bauweise und Aufgliederung sowie teilweise auch Nutzung der Gebäude.143 Seit der Karolingerzeit blieb bis in das Hochmittelalter hinein, um diesen Gedanken nochmals aufzugreifen, die Kombination von Herren- bzw. Fronhof und abhängigen Bauernstellen charakteristisch. Bei den Hintersassen wurde zwischen behausten und unbehausten Hörigen unterschieden. Während die Ersteren über ein bescheidenes Gebäude verfügten und neben Fronleistungen eine eigene Landwirtschaft betrieben, wohnten die Letzteren in Hütten entweder nahe dem oder im Haupthof. Zahlreich gerieten ehemals Freie vom 8. bis zum 11. Jahrhundert in grundherrschaftliche Abhängigkeiten, was für sie eine Nivellierung nach unten bedeutete. Dagegen dürften die Unfreien über eine gegenüber der Spätantike verbesserte Rechtsstellung verfügt haben. Dennoch: Bäuerliches Leben blieb in diesen Jahrhunderten in hohem Maße von den Bedürfnissen und Forderungen der Grundherren bestimmt. Zu den Grundherrschaften zählten ebenfalls Handwerker, die für deren Bedarf arbeiteten. Erst mit der Auflösung der Villikationen seit dem 11. Jahrhundert konnten Dörfer im Rechtssinn überhaupt entstehen, denn die Abhängigkeiten von den Grundherren lockerten sich nun vielfach. Neben Siedlungen mit deutlichen Unterschieden hinsichtlich der Hausgrößen lassen sich solche mit weitgehend einheitlicher Struktur erkennen, wie beispielsweise das im Südharz gelegene Hohenrode. Hier ergibt der Grabungsbefund Wohnstallhäuser von ähnlicher Größenordnung mit Nebengebäuden wie Speicher, Backhaus oder Werkstätten, wobei der Ständerbau der Häuser im Hohenrode des 12. Jahrhunderts auf Steinfundamenten ruhte. Grundsätzlich aber wurde beim ländlichen Bauen vorerst die Pfostenbauweise beibehalten. Ständerbauten, später in der Form von Fachwerkgebäuden, begegnen häufiger in Süd- und Mitteldeutschland seit dem 12.  Jahrhundert, in Nordund Nordwestdeutschland seit dem Ende des 13. Jahrhunderts. Damit erfolgte auch auf dem Land der Übergang zu langlebigen Gebäuden. Zudem eröffnete sich die Möglichkeit des mehrstöckigen Bauens, das sicherlich prestigesteigernd wirkte. Des Weiteren könnte selbst in den Dörfern aufgrund der Umzäunung der Siedlungen die räumliche Enge ein Bauen in 143 Stellvertretend genannt sei vorbildlich Bedal: Häuser. Ders./Hermann Heidrich: Bauernhäuser aus dem Mittelalter. Ein Handbuch zur Baugruppe Mittelalter im Fränkischen Freilandmuseum in Bad Windsheim (Schriften und Kataloge des fränkischen Freilandmuseums, 28), Bad Windsheim 1997.

270

Bauen und Wohnen

die Höhe erfordert haben. Auch in diesen Fällen dürfte das Obergeschoss dem Wohnen gedient haben. Parallel zum Aufkommen der neuen Bauformen verschwanden im länd­ lichen Bereich die Grubenhäuser. In der bei Fritzlar gelegenen Siedlung Holzheim zeigt sich für das späte 11.  Jahrhundert eine deutliche topografisch-­ soziale Trennung: In der Siedlung mit einer Fläche von knapp elf Hektar (450 x 250 Meter) hob sich von den mit Palisadenzäunen umfriedeten Höfen unterschiedlicher Größe im Westen eine Gebäudegruppe ab, deren Mittelpunkt ein steinerner Turm (Innenfläche: ca. 5,5 x 7,0 Meter) bildete. Daneben lag ein großes Gehöft mit vier Pfostenhäusern, Grubenhäusern und einem Backhaus. Dieses Anwesen, eine „Burg“ mit zugehörigem Wirtschaftshof, bewohnten Funktionsträger des Dorfherren, der seine herausgehobene Stellung damit baulich deutlich demonstrierte. Nach der Zerstörung des Turms und der Errichtung einer neuen Burg erfuhr der Fronhof eine Vergrößerung; die bäuerlichen Anwesen sind allerdings nur teilweise ergraben. In Niederdeutschland, belegt beispielsweise an Teltge, setzte sich seit dem 11.  Jahrhundert das dreischiffige Hallenhaus durch. Charakteristischerweise beherbergten diese Häuser neben Stall und Wohnraum über der geschlossenen Decke einen Speicherraum sowie weitere Arbeitsbereiche wie eine Tenne oder eine Webkammer. Die Mittellängsdiele dürfte durch ein großes Tor befahrbar gewesen sein. An beiden Längsseiten befanden sich Abseiten, in denen nicht zuletzt das Vieh eingestellt werden konnte. Der unverändert schiffsförmige Grundriss maß 28 Meter Länge und an der breitesten Stelle ca. zehn Meter bei einer gerüstverstärkten Pfostenbauweise. Derartige Bauwerke setzten den Einsatz gelernter Zimmerleute mit Spezialkenntnissen voraus. Allerdings blieb die Herdstelle unverändert die einzige Wärmequelle. Die Einbeziehung weiterer Nutzflächen erleichterte das Arbeiten: So konnte etwa das Korn nach der Ernte mit dem Wagen ins Haus gebracht, im Speicher eingelagert und erst im Spätherbst/Winter nach dem Abschluss der Erntearbeiten gedroschen werden. Die Tuchherstellung wanderte nun gleichfalls in das Wohnhaus. Im gesamten Reichsgebiet dominierte aber unverändert die Kombination von Wohnraum und Stall unter einem Dach. Eine Trennung von Küche und Wohnraum lässt sich im ländlichen Bereich seit dem 12., verstärkt seit dem 13. Jahrhundert belegen. Mittels der Feuerstelle in der Küche erfolgte nun die Beheizung eines Ofens im Wohnraum. Darüber hinaus erwärmte das Feuer auf dem Speicher gelagertes Getreide und sorgte für dessen Nachtrocknung; über Dachöffnungen 271

Spätmittelalter

konnte der Rauch nach draußen abziehen. Diese Möglichkeit des Trocknens auf dem Speicher erlaubte es überhaupt erst, noch feuchtes Getreide einzulagern. Starke Rußschwärzungen im Dachstuhl deuten immer darauf hin, dass es sich um Rauchhäuser handelte, in denen der Rauch des Herdes zunächst unter das Dach zog; je nach Witterung konnte er jedoch wieder in den Wohnbereich gedrückt werden, was die Wohnqualität vorübergehend deutlich minderte. Im Vergleich zur bereits hochmittelalterlichen Durchsetzung des Hallenhauses im niederdeutschen Bereich verlief die Entwicklung im Süden ungleichmäßiger. Verbreitung fand hier das Mittennenhaus mit einer Aufgliederung in Stall, Tenne und Flur einerseits sowie den Wohnbereich mit Küche, Stube und Kammer andererseits. Bei den Dreiseithöfen umschlossen drei Gebäudeteile einen Innenhof; in diesem Fall blieben der Wohnbereich, die Scheune mitsamt der Tenne sowie der Stall getrennt. Eine Erweiterung erfuhr dieser Typus mit dem Vierseithof. Die Klimaverschlechterung des 14. Jahrhunderts dürfte dazu geführt haben, dass die Bauern mehr Vieh als zuvor in Ställen überwintern lassen mussten. In den Scheunen lagerte wohl überwiegend ungedroschenes ­Getreide, während die Körner auf den Speicherböden aufbewahrt wurden, falls Decken eingezogen waren. Wenngleich für Süddeutschland nur ­wenige Nebengebäude nachgewiesen sind, dürften Brunnen und Vorratshäuser zum Bestand gezählt haben. Generell fanden Pfosten-, Fachwerkund Steinbauweise lange Zeit nebeneinander Verwendung. Unser Wissen über die Möblierung und weitere Inneneinrichtung der Bauernhäuser ist noch fragmentarischer, als es schon für die Städte der Fall war. Im Zentrum standen wieder einmal Bänke und dreibeinige Schemel. An den Wänden zeigen spätmittelalterliche Abbildungen Regale für Hausgeräte und hölzerne Haken, um Kleidung und Arbeitsgeräte daran aufzuhängen. Wiederum Truhen dienten zur Aufbewahrung der Habe. Wie in der Stadt reichte die Bandbreite von grob gezimmertem Mobiliar bis zu solchem mit kunstvollen Verzierungen. Abgesonderte Kammern in spätmittelalterlichen Bauernhäusern wurden vermutlich zum Schlafen genutzt. Die Unterschichten mussten sich mit Strohsäcken und Spannbetten begnügen; durch die Seitenwände der Bettladen gezogene Seile und Gurte sorgten hierbei für die notwendige Formstabilität. Wie weit durchsichtige Glasfenster auf das Land vordrangen, ist unverändert offen. Typisch dürften die schmalen Fensteröffnungen geblieben sein, die zwar nur wenig Licht in die Gebäude ließen, dafür aber in der kalten Jahreszeit aufgrund ihrer leichteren Verschließbarkeit besser vor Kälte schützten. 272

Bauen und Wohnen

Vorsichtige Rückschlüsse von städtischen Befunden können zumindest auf das Mobiliar der ländlichen Oberschicht gezogen werden, denn diese Bauern dürften die spätmittelalterlichen Neuerungen gerne aufgegriffen haben. In ihren Häusern begegnen auch Täfelungen und andere Möglichkeiten gehobener Ausstattung. Ohnehin dürften in den Stuben Decken und Wände sorgfältiger gearbeitet worden sein als in anderen Räumen. Zudem lassen sich Hinweise auf eine bessere Isolierung des zentralen Raums ausmachen. Hier standen wohl auch die seit dem 13. Jahrhundert nachweisbaren Kachelöfen, sodass zumindest die Stuben nach und nach weitgehend rauchfrei blieben. In Norddeutschland sind für die Zeit vor Einführung der Kachelöfen und darüber hinaus mit heißer Glut oder glimmendem Torf gefüllte Becken nachweisbar, über denen beispielsweise die Füße gewärmt werden konnten; zur Verbreitung solcher Becken in süddeutschen Bauernhäusern fehlen konkrete Nachweise. Eine deutliche Priorität gegenüber der Anschaffung von Wohnmöbeln wird für die Mehrzahl der bäuerlichen Bevölkerung allerdings die Beschaffung der notwendigen Arbeitsgeräte gehabt haben. Inventare, die Aufschluss über Kleidung und Einrichtungsgegenstände geben können, liegen für den bäuerlichen Bereich erst aus der Frühen Neuzeit vor. Neben teuren Wachskerzen sorgten vor allem Talglichter oder mit Werg umwickelte und in Harz getauchte Kienspäne für eine unstete Helligkeit. Als Küchengeschirr benutzten die Bewohner Gefäße aus Holz und Keramik. Die Alltagskeramik muss relativ stark im Herdfeuer gelitten haben, sodass häufig Neuanschaffungen notwendig waren. Dies deutet wiederum darauf hin, dass die Keramikgefäße nicht besonders teuer waren und dass Töpfe, Kannen, Krüge, Henkelflaschen und anderes Geschirr massenhaft produziert wurden. Daneben bergen die Funde wiederum ­glasierte Ware. Glasfunde sind bisher selten, doch dürfte zumindest die bäuerliche Oberschicht gläserne und metallene Produkte als in der Stadt gebräuchliche Gerätschaften erworben haben. Kesselhaken und Kessel­ ketten, um die Kessel in unterschiedlicher Höhe über den Herd zu hängen, sind in Nord- und Westdeutschland häufiges Fundmaterial. Doch kehren wir nochmals zurück zum Hausbau, um einige heraus­ ragende Baubefunde aus spätmittelalterlicher Zeit vorzustellen. Für das sogenannte Höfstettener Haus (Landkreis Ansbach) mit Vollwalmdach und Firstöffnungen an den Giebelseiten wurde das benötigte Holz laut dendrochronologischem Befund im Spätherbst/Winter 1367 eingeschlagen und im folgenden Jahr verbaut. Das Haus verfügte über eine Innengrundfläche von 273

Spätmittelalter

ungefähr 14½ x 13 Metern (188 Quadratmeter) und eine Firsthöhe von 11½ Metern, eine noch heute imponierende Größe. Als Räume lassen sich eine Stube (4½ x 4½ Meter) mit Kachelofen, die benachbarte Küche mit Vorratsgrube zur kühleren Aufbewahrung der Vorräte, eine Kammer sowie Stall, Tenne und ein weiterer, wohl als Pferdestall genutzter Raum erkennen; dazu kam ein kleiner Raum mit ungewisser Nutzung. Die Herdplatte war vom Boden erhoben, es dürfte sich in Franken wie andernorts um aufgemauerte Tischherde gehandelt haben. Als Feuersicherung ist ein Funkenschirm und eventuell ein Schlot in den Dachbereich hinein anzunehmen, denn über das Dach hinausreichende Schornsteine sollten erst im 16. Jahrhundert in Franken Verbreitung finden. Eine regionale Besonderheit bildeten hingegen die Sidel, eine Verbindung von Truhe und Bank. Bei dem Höfstettener Haus erfolgte die Unterkellerung erst in einem späteren Jahrhundert, während für die erste Phase eine Errichtung des Hauses als Fachwerkbau wahrscheinlich ist. Selbst wenn bis auf eine Ausnahme keine weiteren derartigen Bauten aus der Zeit bekannt sind, dürfte dieser Typus mit seinen Varianten in Franken weit verbreitet gewesen sein. Er lässt sich als durchschnittlicher Hof mit einer Besitzgröße von 15 bis 20 Hektar einschätzen. Nach Ausweis des ­Salbuches des Klosters Heilsbronn bestand der Weiler Höfstetten 1402 aus sechs Höfen sowie der wesentlich kleineren Behausung des Hirten, 1497 wohnten dann 24 Bewohner im Dorf, die über 14 Jahre alt waren. Für das genannte Haus sind Bauer, Bäuerin und gerade einmal ein Knecht als Erwachsene verzeichnet; über Kinder schweigt die Quelle gänzlich. Dennoch zeigt dieser Beleg wie andere auch, dass eine in sozialromantischer Verklärung angenommene Großfamilie keinesfalls den Regelfall bildete, sondern eine seltene Ausnahme blieb. Zusammen wohnten auch auf dem Land normalerweise Eltern mit ihren Kindern sowie eventuell dem Gesinde, während bei der Hofübernahme die Alten, falls sie noch lebten, quasi ausgesteuert wurden. Teilweise wurde zumindest bis in das 18.  Jahrhundert hinein vor der Übergabe des Hofes genau fixiert, welche Mengen an Lebensmitteln und Getränken den Altenteilern jährlich zustanden. Ein weiterer Baubefund aus dem gleichen Zeitraum in Marienstein (Landkreis Eichstätt) lässt ein etwa 10 x 10 Meter großes Haus mit einer ähnlichen Raumaufteilung erkennen, dessen Bewohner aber sozial den dörflichen Unterschichten zuzurechnen sind. Die Eindeckung des Daches erfolgte mit Kalkplatten anstelle des weitverbreiteten Strohs, was eine geringere Dachneigung erforderte. Hier findet sich der älteste nachgewiesene Keller dieser Region in einem ländlichen Haus, dessen Deckenbalken den274

Bauen und Wohnen

drochronologisch auf 1379/80 datiert werden. Ansonsten hatten die Bewohner den Keller mit in Lehm gemauerten Bruchsteinen errichtet, aus ungeklärten Gründen aber erst gut zehn Jahre nach dem Hausbau. Die Wände des Hauses waren ebenfalls teilweise mit Bruchsteinen gemauert, und in der Mauer steckte das Stabilität verleihende Holzgerüst. Da die Umgebung über umfangreiche Bruchsteinvorkommen verfügt, dürfte deren Preis erschwinglich gewesen sein. Etliche Funde von eisernen Meißeln deuten darauf hin, dass die Bewohner eventuell in den dortigen Stein­brüchen ihren Lebens­ unterhalt verdient haben. Ein weiterer Bau aus der Mitte des 15. Jahrhunderts im eichstättischen Ochsenfeld lässt unverändert den dreischiffigen Grundriss mit einem zweireihigen Innengerüst erkennen; erneut ist die Grund­f läche mit etwa 11 x 12 Metern fast quadratisch. Aus dem Weindorf Matting unweit von Regensburg konnte ein zweistöckiges, unregelmäßig gemauertes Steinhaus aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts rekonstruiert werden (ca. 10 x 10 Meter). Die Nutzung des in zwei gleich große Räume geteilten Erdgeschosses mit seinem Lehm­ estrich bleibt allerdings unklar. Diente es Wohnzwecken oder als Lagerraum? Nur in einer Wand dürften sich zwei größere Fenster befunden haben, ansonsten blieben nur kleine Schlitzfenster ausgespart. Im Ober­ geschoss lässt sich eine Stube belegen. Nach einem Umbau im Jahr 1410 befand sich eine weitere Stube im Erdgeschoss. Zu Heizzwecken erfolgte im Flur die Errichtung einer kleinen gemauerten Küche mit Rauchabzug; außerdem wurden die Räume um eine weitere Kammer ergänzt. Anders als bei den bisher vorgestellten Häusern handelte es sich in Matting bei dem Stall um ein eigenes, an das Haus angelehntes Gebäude, das wohl ebenfalls 1410 in Stein erbaut wurde. Weitere zweistöckige Bauernhäuser mit Wohnbereich im Obergeschoss standen im südlichen Hohenlohe, in ihrer Gestalt und Struktur ähnelten sie wie auch die Häuser in Franken kleineren städtischen Häusern. Ohnehin dürften die Bauweisen sich in Stadt und Land im 14. und 15. Jahrhundert angeglichen haben, nicht aber die Nutzungsformen, was nebenbei einen Hinweis auf vielfältige Stadt-Umland-Beziehungen trotz aller rechtlichen Unterschiede und sonstiger Abgrenzungen gibt. Für Nord- und Nordwestdeutschland hingegen fehlen für das Spätmittelalter ländliche Bauten vor der Mitte des 15. Jahrhunderts. Die ältesten Befunde bilden Speicherbauten der oberbäuerlichen Schicht in Fachwerk-, Ständer- oder Steinausführung. Bei den ältesten bekannten Bauernhäusern handelt es sich um die erwähnten Hallenhäuser. Freilich dürfte die einheitliche Verbreitung des Hallenhauses aus einer weitgehend ähnlichen Wirt275

Spätmittelalter

schaftsführung erwachsen sein, während die Wohnbereiche durchaus eine je nach regionaler Tradition unterschiedliche Gestaltung erfuhren. Gerade beim bäuerlichen Wohnen wird offenkundig, dass die Hausforschung zwar einerseits viele Details über Hausbau und Hausformen hat klären können, doch ist andererseits schon die Nutzung der Räumlichkeiten teilweise nur schwer rekonstruierbar. Besonders über die Innenausstattung, das Mobiliar und die sonstigen Wohnverhältnisse bleiben die Kenntnisse zwangsläufig dünn. Damit lässt sich eine bäuerliche Wohnkultur gerade einmal fragmentarisch erkennen, und in vielen Fällen können nur Analogieschlüsse zum städtischen Wohnen gezogen werden.

Handwerk und Produktion Viele Berufszweige sind bereits angesprochen worden, doch die weiteste Verbreitung fand wie fast überall in Europa die Tuchproduktion in ihren vielfältigen Varianten. Neben der Herstellung von zum Export bestimmten Wolltuchen zunächst mit den westlich gelegenen Zentren Aachen und Köln dominierte im Reichsgebiet vorerst eindeutig die Herstellung von Leinenwaren, denn Flachs und Hanf als erforderliche Rohstoffe wuchsen vielerorts. Der viel Feuchtigkeit, aber nur wenig Wärme benötigende, anspruchslose Flachs gedieh am besten auf Lehm- und Sandböden; Hanf erforderte Sandböden. Das Kölner Wollenamt verfügte bereits 1230 über ein eigenes Verkaufshaus; hier begutachteten ausgewählte Meister die Qualität der Tuche, noch nicht die Stadt. Allerdings setzte die Produktion grober Leinentücher beispielsweise für Bettlaken, Handtücher oder Bekleidung weder ein Spezialwissen noch einen hohen Kapitaleinsatz voraus, sodass die für den Hausgebrauch benötigten Stücke in Stadt und Land noch lange verbreitet in ­Eigenregie hergestellt wurden. Doch wohl schon im 11. Jahrhundert entwickelte sich die Leinenweberei darüber hinaus zu einem berufsmäßigen Gewerbe, und am Ende des 12. Jahrhunderts lassen sich erste Spuren eines internationalen Handels mit deutschem Leinengewebe erkennen. Schließlich kristallisierten sich im Reichsgebiet fünf große Leinwandreviere heraus: der Bodenseeraum mit seinen Hauptproduktionsorten Konstanz, St. Gallen, Ravensburg und Kempten, Westfalen um Bielefeld, Herford, Münster und Osnabrück, das Vogtland mit Chemnitz, Hof und Plauen, die Region Lausitz-Niederschlesien um Bautzen und Zittau sowie vergleichsweise spät (Nieder-)Sachsen mit Göttingen, Braunschweig – wo um 1300 ein Gewandhaus 276

Handwerk und Produktion

erstmals Erwähnung fand –, Hannover, Salzwedel und Uelzen. Zwar galten in Niederdeutschland Leinenweber aus ungeklärten Gründen vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert häufig als unehrlich, doch auch während der Frühen Neuzeit behauptete das Textil- und Bekleidungsgewerbe seine Vorrangstellung in Hinsicht auf die Zahl der Beschäftigten. Insbesondere im Bodenseeraum sowie im weiteren Gebiet des ehemaligen Herzogtums Schwaben mit seinem politischen Vorort Ulm prägte die Leinenherstellung eine ganze Region. Spätestens in der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts begann hier St.  Gallen Konstanz bei der Leinenherstellung deutlich zu überragen. Den überregionalen Vertrieb übernahmen weitgehend die Kaufleute der Städte.144 Wiederum ergab sich die Notwendigkeit einer Normierung der Produkte, um die Absatzchancen zu erhöhen. Eine städtische Schau als Qualitätskontrolle ist für etwa 1280 in Augsburg und Konstanz nachweisbar, bis um 1300 wurde sie flächendeckend in den schwäbischen Kommunen eingeführt, also dem Gebiet des wesentlich älteren Herzogtums Schwaben. Hier hatten sich nach dem Ende der Staufer mehrere Territorialherren nebeneinander etabliert, wodurch das Herzogtum seine Einheit verlor und de facto zu existieren aufhörte. Zunehmende Erwähnungen von Walkmühlen, Färbern oder Färbehäusern sowie von Bleichen und Bleichwiesen belegen ein Wachstum des Gewerbes; die für das Bleichen benötigten großen Flächen lagen oftmals vor den Mauern der Städte. Oberdeutsches Kapital drang verstärkt seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts unter Beibehaltung einer vornehmlich kleingewerblichen Struktur in die östlichen mitteldeutschen Tuchreviere vor, vor allem nach Sachsen und Schlesien, wobei die an diesem Prozess beteiligten Kaufleute gleichzeitig die Absatzgebiete der dort gefertigten Leinentuche beträchtlich erweiterten. Seit dem Ende des 16.  Jahrhunderts erfolgte deren Absatz überwiegend über Hamburg. Den in Oberitalien hergestellten Barchent, ein Mischgewebe aus Baumwolle und Leinen, ließen oberdeutsche Kaufleute zunächst in großen Mengen über die Alpenpässe nach Norden schaffen. Barchent stammte ursprünglich aus dem Nahen Osten, seine Bezeichnung gilt als eine Entlehnung aus dem Arabischen. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts erfolgte seine Herstellung zudem in Sizilien, an der Wende zum 13. auch in Oberitalien. Allerdings nahmen möglicherweise die schwäbischen Kaufleute selbst, so sie denn über genügend technisches Verständnis verfügten, oder sie beglei144 Zu Schwaben vgl. Alfons Zettler: Geschichte des Herzogtums Schwaben, Stuttgart 2003.

277

Spätmittelalter

tende Handwerker die oberitalienischen Produktionstechniken genauer in Augenschein, um anschließend selbst in die lukrative Herstellung des Gewebes einzusteigen und eine eigene Produktion in ihren Herkunftsstädten anzukurbeln. Denkbar ist auch, dass schwäbische Handwerker in die durch die Pest entvölkerten oberitalienischen Kommunen zogen, dort die Technik erlernten und eine Zeit lang dort tätig waren, bevor sie oder ihre Nachkommen mitsamt den neu erworbenen Kenntnissen den Weg zurück nach Schwaben nahmen. Derart entstand in den Jahren zwischen 1363 und 1383 in Schwaben nordöstlich des Bodensees ein Barchentrevier, das bereits bis zum Ende des 14.  Jahrhunderts Importe weitgehend überflüssig werden ließ. Für Augsburg datiert eine allerdings ungesicherte erste Erwähnung einer Barchentschau durch Clemens Jäger aus dem Jahr 1372; für 1377 wissen wir von einer Belastung dieses Stofftyps mit Ungeld. Von hoher Bedeutung für die Produktionsverlagerung dürfte gewesen sein, dass der schwäbische Raum zumindest von der ersten Pestwelle, eventuell auch den folgenden, nicht oder kaum betroffen war, sodass genügend Arbeitskräfte zur Verfügung standen oder sogar ein gewisser Abwanderungsdruck herrschte. Für 1427/28 ist letztmals belegt, dass oberdeutsche Kaufleute Barchentballen in Oberitalien erwarben. Somit war es binnen eines guten halben Jahrhunderts gelungen, die zur Befriedigung der wachsenden Nachfrage nach Barchent benötigten Mengen selbst herzustellen. Die schwäbische Barchentherstellung wurde nicht ohne Grund als erste Industrie auf deutschem Boden bezeichnet, wenngleich mit Einschränkungen. Denn Barchent war schon aufgrund seiner kräftigen Farbgebung „in einer modisch bewußten, farb- und sinnenfreudigen Welt“ beliebt, zumal er im Winter wärmte und im Sommer den Schweiß aufsaugte.145 Erst die Frühe Neuzeit sollte entscheidende Verengungen der Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens und damit der Lebensqualität bewirken, umschrieben mit dem nicht unumstrittenen Begriff der Sozialdisziplinierung. Ihren negativen Höhepunkt erreichte die Entwicklung schließlich in der calvinisti145 Wolfgang von Stromer: Die Gründung der Baumwollindustrie im Spätmittelalter. Wirtschaftspolitik im Spätmittelalter, Stuttgart 1978; hier S. 77. Vgl. Rolf Kießling: Zur Entstehung von Wirtschaftslandschaften im Spätmittelalter, in: Helmut Flachenecker/Rolf Kießling (Hg.): Wirtschaftslandschaften in Bayern. Studien zur Entstehung und Entwicklung ökonomischer Raumstrukturen vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 39), München 2010, S. 15–54. Die Weberchronik von Clemens Jäger (Der erbern Zunft von webern Herkommen, Cronika und Jarbuch 955–1545), in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 34 (Die Chroniken der schwäbischen Städte, 9), Stuttgart/Gotha 1929, ND Göttingen 1966, S. 219.

278

Handwerk und Produktion

schen Sittenzucht, die mit dem Ausbau des Genfer Ehegerichts zu einem Sittengericht seit 1526 einsetzte. Die im Laufe des 16. Jahrhunderts verbreitet erlassenen Policeyordnungen konnten gleichfalls in diese Richtung wirken. Der Begriff „Policey“ dürfte vom griechischen politeia abgeleitet sein, womit eine gewisse Verbindung zur aristotelischen Staatslehre gegeben ist, etwa in der Vorstellung von der Begründung oder Wiederherstellung einer guten Ordnung der Gemeinschaft. Im Gegensatz zur älteren Leinenweberei war das kapitalintensive Barchentgewerbe von Beginn an auf den Export ausgerichtet, der genormte Qualitäten von hochstandardisierter Markenware erforderte. Frühzeitig erfolgte eine verlegerische Organisation, um eine solche Produktion aufzubauen. Allerdings reduzierte sich das Barchentrevier während des zweiten Drittels des 15. Jahrhunderts auf ein Gebiet, das mit den Grenzorten Augsburg, Kaufbeuren, Memmingen, Biberach und Ulm umschrieben ist. Dieser Rückgang war primär exogenen Faktoren geschuldet, insbesondere dem Zweiten Städtekrieg um die Jahrhundertmitte sowie dem Reichskrieg gegen Herzog Ludwig von Bayern-Landshut in den Jahren 1462/63, bevor um 1480 erneut ein Aufschwung einsetzte. Freilich blieb Augsburg vom Zweiten Städtekrieg weitgehend verschont, und dies selbst in Hinblick auf die finanziellen Folgelasten. Daneben kam eine Barchentproduktion in Kulmbach, Bayreuth und Hof auf. Zur Hauptherstellungsregion von reinen Baumwolltuchen entwickelte sich die Lombardei, lombardische Tuche wurden in ganz Europa und im gesamten Mittelmeerraum umgeschlagen, wobei ihnen im Barchent durchaus eine Konkurrenz erwuchs. Die Baumwolle bezogen die Händler aus Kleinasien und der Levante, doch mit der wachsenden Verbreitung des Produkts setzte der Anbau von Baumwollpflanzen auch in Sizilien und Kalabrien ein. Neben der Kombination mit Leinen im Mischgewebe Barchent konnte Baumwolle ebenso mit Seide, Wolle und Hanf verwebt werden. Seit dem 15. und 16. Jahrhundert gewann vornehmlich in Bayern produzierter Loden an Bedeutung, dessen gewalkter und verfilzter Stoff aus Schafwolle gut vor Wind und Nässe schützte. Die Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Handwerke schritt besonders in den Produktionszentren weiter voran, erreichte aber in unterschiedlicher Ausprägung immer mehr Städte. Das ländliche Handwerk im Umkreis der Kommunen wurde zumeist verlegerisch einbezogen, was auch im Rahmen von Nebenbeschäftigungen geschehen konnte. Eine derartige Spezialisierung forderte ihren Preis, denn eine standardisierte Qualität und eine gleichmäßige Produktionsquote konnten die Handwerksbetriebe allein 279

Spätmittelalter

auf sich gestellt kaum erreichen. So entstanden Abhängigkeiten von Kaufleuten, aber auch von vermögenden Handwerkern, in deren Auftrag und unter deren Kontrolle zahlreiche Kleinbetriebe arbeiteten. Zudem stellten die kapitalkräftigen Kaufleute die teilweise teuren Rohstoffe, Halbfertigprodukte und weiteren Materialien zur Verfügung; desgleichen sorgten sie für den Absatz der Fertigwaren. Besonders fand dieses System in der Tuchherstellung und dem Metallsektor Anwendung, wobei der Grad der Spezialisierung nicht zuletzt von der Exportorientierung abhing. Die seit dem 13. Jahrhundert zunehmende Arbeitsteilung förderte allgemein den wirtschaft­ lichen Aufschwung. Allerdings sind Nachrichten über alltägliche Abläufe in den Herstellungsprozessen oder die Beschäftigungsverhältnisse nur dünn gesät, während normative Quellen in höherer Zahl überliefert sind. Abgesehen von den ausgeprägten Produktionszentren überwogen vielerorts weiterhin unverändert die Lebensmittelgewerbe wie Bäcker, Fleischer und Müller mitsamt Weinhändlern und nunmehr zusätzlich Bierbrauern, dazu traten mit stärkerer räumlicher Begrenzung Fischfang, Fischverarbeitung und Fischhandel. Allerdings sollte die Reformation in den protestantischen Gebieten zu einem deutlichen Rückgang des Fischhandels führen. In den größeren Städten differenzierte sich das Bäckerhandwerk aus: Weiß- und Schwarzbäcker verarbeiteten ausschließlich Weizen bzw. Roggen. Weiterhin sind Brezel-, Pfefferkuchen-, Zucker- und Pastetenbäcker ebenso zu nennen wie Lebküchner, Semmler oder Fladner. Doch dürften nicht alle diese Spezialisierungen das ganze Jahr über ausgeübt worden sein, vielmehr wurde manche Leckerei in erster Linie im zeitlichen Umfeld von Festtagen und Feierlichkeiten produziert. Bei den begehrten Nürnberger Lebkuchen handelte es sich allerdings um ein über große Distanzen gehandeltes Gut. Den Honig bezogen die Lebküchner ­übrigens von den Zeidlern der beiden Nürnberger Reichswälder, deren ­Absatz damit weitgehend gesichert war. Im Norden trennten sich die Knochenhauer von den Metzgern. Erstere schlachteten nicht nur, sondern betrieben daneben Viehhandel und verkauften geschlachtetes Vieh. Der Einstieg besonders in den überregionalen Viehhandel konnte sich als ausgesprochen lukrativ erweisen. So investierte beispielsweise eine ganze Reihe von oberdeutschen Metzgern in den Wollund Viehhandel. Häufig zu Gesellschaften zusammengeschlossen, erwarben sie in den Städten große Mengen an Tuchen, um sie in Ungarn oder der Walachei gegen Ochsen „einzutauschen“ und diese wiederum auf den ­Heimatmärkten mit Gewinn zu veräußern. Die Anschubfinanzierung für 280

Handwerk und Produktion

solche Geschäfte sicherten nicht selten Kredite. Dagegen benötigten die Gerber und besonders die Rotgerber aufgrund der erforderlichen großen Häuser ein stattliches Anlagekapital. Zudem erforderte der Gerbprozess erhebliche Zeit, was ihre Zahl tendenziell beschränkte. Im Ergebnis zählten sie überwiegend zu den vermögenderen Handwerkern und betätigten sich vielfach im Lederhandel. Das Lebensmittelgewerbe der Bäcker unterlag einer meist intensiven obrigkeitlichen Reglementierung, wobei im Reichsgebiet wie auch anderswo üblicherweise das Gewicht des Brotes, nicht aber dessen Preis variierte. In Notzeiten erteilten die Räte Weisung, die Brote kleiner auszubacken, vermutlich aus der Furcht heraus, dass Preiserhöhungen eines Grundnahrungsmittels zu Unruhen führen könnten. Gewichtsreduktionen wurden offenbar als unproblematischer eingeschätzt. Die unter verschiedenen Bezeichnungen firmierenden kommunalen Brotmeister kontrollierten das Gewicht und die Qualität der gebackenen Brote; der Verkauf von untergewichtigem Brot war mit Strafen bedroht. Für Fleisch erließen die Räte vielfach Höchstpreise je Gewichtseinheit, in der Regel das ortsübliche Pfund; außerdem sind Ansätze zu einer Fleischschau erkennbar. Gewiss entsprach diese nicht den modernen Standards, doch auch heutiges „Gammelfleisch“ sowie neu- bzw. umdeklarierte Produkte zeigen unverändert Kontrollgrenzen auf. Schuhmacher, von denen die ärmeren Flickschuster zu unterscheiden sind, und Schneider sorgten ebenfalls für die Grundversorgung der städtischen Bevölkerung. Die Nachfrage nach Schuhen blieb hoch, besonders die Ledersohlen litten unter den Wegeverhältnissen. Während des 16.  Jahrhunderts lässt sich ein deutlicher Anstieg der Landschuster erkennen. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Schuhleisten, die den Schustern zur Größenfestlegung dienten, haben sich in größerer Zahl im Boden erhalten. Die Bekleidung fertigten die Schneider noch für lange Zeit mehr oder weniger maßgeschneidert jeweils auf Bestellung an, eine Normierung oder gar Konfektionsgrößen sollten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der industriellen Fertigung aufkommen. Zunächst in Niederdeutschland stiegen seit dem 14.  Jahrhundert die Anzahl und die Bedeutung der Brauer an. Große Teile des alltäglichen Küchengeschirrs wie Schüsseln, Teller oder Löffel bestanden selbst in vermögenderen Haushalten unverändert aus Holz. Zudem produzierten die holzverarbeitenden Gewerbe beispielsweise die für den Transport oder auch die Weinlagerung unentbehrlichen Fässer in hohen Stückzahlen; 1376 wirkten beispielsweise in Hamburg immerhin 104 Böttchermeister. Bei der überwiegenden An281

Spätmittelalter

zahl aller Handwerksbetriebe handelte es sich allerdings um Kleinbetriebe, in denen ein Meister mit höchstens ein oder zwei Gesellen und einem Lehrjungen arbeitete, oftmals auch ganz alleine. Für Frankfurt am Main wurden für das Jahr 1440 immerhin 191 verschiedene Berufsangaben gezählt, und dies ohne Anspruch auf Vollständigkeit, was eine breite Differenzierung belegt.146 Vergleichsweise hoch dürfte angesichts zahlreicher Um- und Neubauten die Zahl der Bauhandwerker wie Steinmetze, Zimmerleute, Dachdecker, Maurer oder Schreiner gewesen sein. Während sich die Schreiner oder Tischler im Laufe des 14. Jahrhunderts zunächst in den größeren Städten von den Zimmerleuten zu lösen begannen, trennten sich wohl seit dem 16. Jahrhundert wiederum die Möbeltischler von diesen. Unterstützung erhielten Meister und Gesellen durch zahlreiche Hilfskräfte. Trotz der teilweise umfangreichen öffentlichen Hoch- und Tiefbauvorhaben kam den privaten Bauaktivitäten wohl eine höhere Bedeutung zu, doch ist deren Umfang kaum mehr zu ermitteln. Allerdings lässt sich unmittelbar nach dem verheerenden Seuchenzug um die Mitte des 14. Jahrhunderts eine gewisse Stagnation der Bautätigkeit erkennen, bevor nach den Untersuchungen der Bauforschung ab etwa 1380/90 die Aktivitäten wieder deutlich anstiegen. Die kommunalen Bauhöfe beschäftigten in den Großstädten und den größeren Mittelstädten teilweise eine Vielzahl von Handwerkern. Aber nur wenige von ihnen fanden das gesamte Jahr über Arbeit, denn die städtischen Baumeister reduzierten die Anzahl der Beschäftigten im Winter oftmals drastisch. Die weiterbeschäftigten Handwerker schlugen beispielsweise in den Bauhöfen Pflastersteine zu, fertigten Holzrohre und bereiteten weitere Tätigkeiten für das Frühjahr vor. Von Schlossern und Schmieden hergestellte Produkte ließen die Städte hingegen meist zukaufen. Erstaunlich ist immer wieder die hohe Anzahl erworbener Schlüssel für Tore, Truhen etc., die für eine geringe Haltbarkeit dieser Gebrauchsartikel spricht. Besonders für im Tagelohn wirkende Meister und Gesellen erließen die Stadträte vielfach Lohntaxen. Dies betraf vor allem das Baugewerbe, den Transportsektor, den Wein- und Gartenbau; Taxen galten daneben auch für im Tagelohn beschäftigte und vielfach im Haus der Kunden tätige Schneider und Lohnweber. Bis in das 16. Jahrhundert hinein begriffen aber nicht nur die Handwerker solche Tarife wohl zumeist als Lohnuntergrenzen. 146 Karl Büvcher: Die Bevölkerung von Frankfurt am Main im XIV. und XV. Jahrhundert. Socialstatistische Studien., Tübingen 1886 , S. 227.

282

Handwerk und Produktion

Gleichfalls als Handwerker galten die Chirurgen, welche ihre Tätigkeit ebenso wie die zunächst nur vereinzelt erwähnten Zahnbrecher überwiegend ambulant ausübten. Als Wanderärzte wirkten zudem Bruchschneider, Steinschneider oder Augenärzte, die uns in den Quellen vornehmlich als Starstecher begegnen. Brillen fertigten Glasmacher in Murano (Venedig) bereits im späten 13. Jahrhundert in großer Anzahl aus Kristallglas, während im Reichsgebiet anschließend eine Konzentration auf Nürnberg sowie Regensburg erfolgte. Wiederum Nürnberg und daneben Augsburg entwickelten sich zu Zentren der Uhrenherstellung, wobei die Uhren kleiner wurden, zunehmend sogar am Körper getragen werden konnten. Erinnert sei an den Nürnberger Uhrmachermeister Peter Henlein, wenngleich das „Nürnberger Ei“ erst um die Mitte des 16.  Jahrhunderts und damit nach Henleins Tod in Produktion ging; dieser Begriff wurde in der Folge fast synonym mit Taschenuhr verwendet. Als Voraussetzung für präzisere Uhren mit genauerer Zeitmessung erwiesen sich die Erfindung und der Einsatz der Unruhe, um 1330 erstmals belegt, sowie von Federzug und Schnecke zur Größenminimierung. Schon vor dem Einsetzen des letzt­ genannten Prozesses zierten die ersten öffentlichen Uhren kommunale ­Gebäude wie Rathäuser oder Stadttürme sowie Kirchenbauten. Mit ihrem Aufkommen begann sich allmählich das Zeitempfinden zu verändern, da die Schläge oder das Geläut der Uhren trotz aller Ungenauigkeit zumindest Teile des Tagesablaufs zunächst der Stadtbewohner regelten und strukturierten; die bisherige ausschließliche Orientierung an Sonnenstand oder Helligkeit fand damit ihr Ende. Eine Dauerbeschäftigung dürften Uhrmacher vorerst nur in Großstädten und einigen wenigen weiteren Kommunen gefunden haben, denn etliche mittlere Städte wie beispielsweise Schwäbisch Hall zogen Uhrmacher noch in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts nur bei Bedarf heran, hier etwa aus Nördlingen oder Heilbronn. Wenige Jahre (1480/95) zuvor hatte sich ein Uhrmacher aus dem gerade einmal eine Tagesreise entfernten Öhringen in der Salinenstadt niedergelassen, fand jedoch dort vermutlich keinen Nachfolger.147 Unterschiedlich hoch war je nach Handelsumfang sowie Waren­umschlag der Anteil derjenigen, welche sich in einem weiteren Sinne dem Transportwesen und dem Unterwegssein zurechnen lassen. Zahlreiche Träger trugen die Lasten, Krane mussten sowohl an den Kaianlagen der Häfen als auch im Bauwesen häufig mittels Treträdern in Gang gesetzt und gehalten 147 Wunder: Bürger, S. 52.

283

Spätmittelalter

­ erden; anstelle von Hamstern bewegten Menschen die teilweise groß diw mensionierten Laufräder. Besonders Hafenkrane konnten im Spätmittelalter beträchtliche Ausmaße erreichen, wie es noch bestehende Anlagen oder zeitgenössische Bilder veranschaulichen. Derartige Uferkrane lösten mit zunehmender Tendenz Schwimmkrane ab, von denen beispielsweise 1380 in Köln noch drei ihre Tätigkeit verrichteten.148 Hufschmiede sicherten die Trittfestigkeit vornehmlich der Pferde, deren Hufeisen in kurzen Abständen ersetzt werden mussten, außerdem verarzteten sie als Spezialisten erkrankte oder verletzte Tiere. Sattler sorgten für ein bequemeres Reiten; oftmals füllten sie die durchgesessenen Sättel neu, wie es Reiseabrechnungen vielfach belegen. Die Reifen der Wagen verstärkte Metall, Fuhrleute erledigten die Landtransporte. Überwiegend fahrend übten auch die Kaltoder Kesselschmiede ihre Gewerbe aus und reparierten in Städten und Dörfern metallene Gerätschaften. Selbst wenn in Schwäbisch Hall die Saline dominierte, verzeichnete hier 1545 eine Aufstellung 530 Handwerksmeister, die mitsamt ihren Familien etwa die Hälfte der Haushaltungen ausmachten. Unter ihnen überwogen zahlenmäßig entgegen dem allgemeinen Trend die lederverarbeitenden Gewerbe (Kürschner, Rotgerber, Weißgerber, Schuhmacher, Sattler, Seckler) mit 129 Meistern noch vor dem Bekleidungssektor unter Einschluss der Tuchproduktion (Tucher, Tuchknappen, Tuchscherer, Weber, Färber, Walker, Schneider, Hutmacher) sowie dem Lebensmittelbereich (Bäcker, Müller, Metzger). Das Metallgewerbe wies zwar eine gewisse Differenzierung auf, doch dürfte die Mehrzahl dieser Betriebe für den lokalen Bedarf produziert haben. Zudem engagierten sich zahlreiche Handwerker daneben oder ausschließlich im Handel, so die Metzger im Vieh- oder Wollhandel. Die Bäcker betätigten sich als Weinschenke, während die Sieder anders als in etlichen sonstigen Salinenorten den Salzhandel in eigener Regie genossenschaftlich betrieben. Innerhalb der Handwerkerschaft bestand ein ausgeprägtes Vermögensgefälle. Wenngleich die „stadtadligen“ Familien über das höchste innerstädtische Vermögen verfügten, reduzierten sich ihre Anzahl und ihre Bedeutung schon im 15. Jahrhundert. Das unweit gelegene Heilbronn stützte seine Wirtschaftskraft dagegen weit überwiegend auf den Weinbau, während das Handwerk sich auf den Bedarf der Einwoh148 Michael Matheus: Hafenkrane. Zur Geschichte einer mittelalterlichen Maschine am Rhein und seinen Nebenflüssen von Straßburg bis Düsseldorf (Trierer Historische Forschungen, 9), Trier 1985, S. 16.

284

Handwerk und Produktion

ner und des nahen Umlands konzentrierte, wobei die Kürschner wahrscheinlich über ein größeres Absatzgebiet verfügten und etliche Kaufleute die Frankfurter Messen besuchten. Weitere Städte an Rhein und Mosel mitsamt ihren Nebenflüssen lebten gleichfalls vornehmlich vom Weinbau, so beispielsweise Trier, dessen Handel bei immerhin günstiger Verkehrslage schwerpunktmäßig einerseits auf Metz, Luxemburg sowie abgeschwächt Saarbrücken, andererseits auf Frankfurt am Main und Köln ausgerichtet war. Die Weber als bedeutendstes Exportgewerbe der Stadt stellten bei eher mittlerer Qualität der Tuche wohl die Mehrzahl der trierischen Besucher der Frankfurter Messen, während die metallverarbeitenden Berufe von den Erzvorkommen der Eifel profitierten. Allerdings lassen sich im Trierer Weinbau bereits im 14. Jahrhundert erste Krisenzeichen erkennen. Im Rahmen einer Umstrukturierung dieses Wirtschaftszweigs gewann dann Rotwein an Bedeutung; die Bierherstellung setzte in größerem Umfang seit 1455 ein.149 Mainz dagegen blieb, obschon durch seine Lage am Zusammenfluss von Rhein und Main verkehrstechnisch noch stärker begünstigt, wirtschaftlich in der Rolle eines Mittelzentrums verhaftet. Dass es sich bei Nürnberg nicht nur um ein Handelszentrum handelte, sondern die Stadt zugleich eine hoch spezialisierte Gewerbeproduktion beherbergte, deren Exportartikel einer ausgeprägten Qualitätskontrolle unterlagen, lässt sich nicht zuletzt an einer ausgesprochen ausdifferenzierten Handwerkerschaft erkennen. Besonders stark zeigte sich wohl in den nicht zünftigen Gewerben die Fähigkeit zu Innovationen, wobei stets deren Durchsetzung und Verbreitung die entscheidenden Faktoren für ihre Bedeutung bildeten, nicht die Erfindung als solche. Zwischen einer Erfindung und ihrem Einsatz in größerem Maßstab konnten Jahre und Jahrzehnte vergehen. In seiner Weltchronik charakterisierte der Nürnberger Hartmann Schedel seine Stadt als ein „berümbts gewerbhaws teutscher land“ und führte diesen Umstand auf die nicht gerade günstigen naturräumlichen Gegebenheiten zurück: „auß dieser ursach alda ein arbaitsams emsigs volck, dann alle die des gemaynen volcks sint, entweder fast [sehr] sinnreich wercklewt, erfinder und maister mancherlay wunderwirdiger subtiler arbait und kunst zum geprauch menschlicher notdurft und zierde dienstlich, 149 Wunder: Bürger, S. 34–69. Hans-Rudi Kahl: Heilbronn. Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte der Reichsstadt Heilbronn im Spätmittelalter. Erstdruck der Dissertation von 1948 (Quellen und ­Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn, 5), Heilbronn 1994, S. 22–25, 76–78, 136–141. Matheus: Trier, S. 32–83. Lukas Clemens: Trier – Eine Weinstadt im Mittelalter (Trierer Historische Forschungen, 22), Trier 1993.

285

Spätmittelalter

oder aber ganz anschlagig kaflewt unnd gewerb treyber“.150 Die schwierigen Bedingungen hatte bereits das Privileg Kaiser Friedrichs II. zugunsten Nürnbergs 1219 betont: Im Urkundentext ist explizit der Mangel an Weinbaumöglichkeiten und Hafenanlagen erwähnt, also der fehlende direkte Zugang zu schiffbaren Wasserwegen, außerdem härteste, kaum bestellbare landwirtschaftliche Böden. An vorderster Stelle der Nürnberger Handwerker stand in Hinblick auf Bedeutung und Anzahl das metallverarbeitende Gewerbe in einem weit gefassten Sinn, und eben nicht die Tuchproduktion. Dieser Sektor erfuhr eine breite Differenzierung sowie eine hohe Spezialisierung, insgesamt sind für Nürnberg über 100 einschlägige Berufe vom 14.  bis ins 16.  Jahrhundert bekannt; um 1450 lassen sich im Nürnberger Metallgewerbe beträchtliche 74 Berufszweige gleichzeitig nachweisen. Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, nun lässt sich genauer differenzieren, betätigten sich über 1300 metallverarbeitende Meister, welche damit immerhin ein knappes Drittel aller Nürnberger Handwerksmeister ausmachten. Weitere 14 Prozent der Handwerker bearbeiteten Nichteisenmetalle. Quantitativ blieb die Messerherstellung am bedeutendsten, wobei die Produktion in verschiedene Fertigungsschritte zerlegt wurde. Zunächst produzierten die Klingenschmiede die Rohklingen, bevor die Schleifer diese polierten und abschließend die Messerer Griffe und Scheiden fertigten. Im Jahr 1537 sollen in der Stadt die Messerer ungefähr 80 000 Klingen wöchentlich beschalt haben. Nach Anbringung des Meister- und des Schauzeichens gelangten die Messer in den europaweiten Handel. Übrigens dürfte auch der Schraubstock in den ersten Jahrzehnten des 16.  Jahrhunderts in Nürnberg entwickelt worden sein. Der Handel begann sich nicht nur mit solchen Massenprodukten weitgehend von der handwerklichen Produktion zu lösen, sodass etliche Bereiche der Metallverarbeitung eine verlagsmäßige Organisation und Kontrolle erfuhren. Teile der Metallwaren erreichten auch ebenjene Qualitätsstufen, die ihnen eine Spitzenposition auf den europäischen Märkten sicherten. Nürnberger Kleineisenteile und weitere Metallwaren wurden europaweit, via Venedig sogar bis in den Orient, schließlich nach Afrika und im 16. Jahrhundert nach Amerika vertrieben. Im frühen 15. Jahrhundert hatte die planmäßig vorangetriebene, vom Rat unterstützte Erfindung der Drahtziehmühle stattgefunden, deren erstes Exemplar 1415 seinen 150 Hartmann Schedel: Weltchronik 1493. Kolorierte Gesamtausgabe, hg. v. Stephan Füssel, Köln 2001, fol. C.

286

Handwerk und Produktion

­ etrieb aufnahm. Bereits drei Jahre später errichteten Handwerker weitere B zehn Drahtziehmühlen im Umland der Stadt, welche die Herstellung von gleichmäßig gezogenem und damit gleich starkem Draht überhaupt erst ermöglichten und die Produktionsmenge von Draht vervielfachten, aber ebenso die von Nadeln und weiteren Fertigprodukten. Die Betreiber der ersten Drahtmühlen behaupteten während des 15.  Jahrhunderts de facto ein Oligopol auf dieses Produkt, da es ihnen gelang, die Betriebsverfahren weitgehend geheim zu halten. Eine Konkurrenz erwuchs ihnen nur in den Drahtrollen des märkischen Sauerlands, aber erst um 1600 geriet Nürnberg schließlich ins Hintertreffen gegenüber diesen Rivalen wie Altena, Lüdenscheid und Iserlohn, die ihr Warenangebot aufeinander abstimmten.151 Die Vorprodukte, häufig in Form von Schienen, lieferte das oberpfälzische Montanrevier, und im 14.  Jahrhundert entstanden unter erheblicher Beteiligung von Nürnberger Kapital in dieser Region zahlreiche Hammerwerke; am dortigen Eisenerzbergbau dürften sich Nürnberger dagegen nicht oder kaum beteiligt haben. Aus dem breit gefächerten Spektrum des Nürnberger Metallgewerbes lassen sich weiterhin nennen: Bechermacher, Blechhandschuher, Blechschmiede, Eimermacher, Feilenhauer, Flaschner, Hammerschmiede, Klingenschmiede, Messerer, Nadler, Nagler, Rohrschmiede, Scherenschmiede, Schlüsselhakenmacher, Sensenschmiede, Zangenschmiede, Zirkelschmiede und viele mehr; doch sollen diese Beispiele genügen. Nicht nur für Nürnberg sind im 15. Jahrhundert als deutliche Wachstumsbranchen das Kunsthandwerk sowie die Herstellung feinmechanischer Gerätschaften erkennbar. Bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts dürfte die Produktion der stark nachgefragten Schusswaffen aufgenommen worden sein. Unter diesen dominierten die umständlich zu handhabenden Handfeuerwaffen, also Handbüchsen und größere Hakenbüchsen, gegenüber den schweren Steinbüchsen, für die vorwiegend Schmiedeeisen und Kupfer Verwendung fanden.152 Nachdem die Technik des gezogenen Laufs noch vor der Mitte des 16. Jahrhunderts zunächst in der Nürnberger Büchsenherstellung Einzug gehalten hatte, setzte sich in der Folge das haltbarere Eisen als Material für Büchsenläufe durch. Zuvor hatte es mit Regensburg und Passau noch zwei weitere Zentren der Waffenproduktion gegeben. 151 Wolfgang v. Stromer: Apparate und Maschinen von Metallgewerben in Mittelalter und Frühneuzeit, in: Handwerk und Sachkultur, S. 127–149, hier S. 137–139. Ders.: Gewerbereviere, S. 87–89. 152 Rainer Stahlschmidt: Die Geschichte des eisenverarbeitenden Gewerbes in Nürnberg von den 1.  Nachrichten im 12.–13.  Jahrhundert bis 1630, Nürnberg 1971, S.  3  f. Volker Schmidtchen: Kriegswesen im späten Mittelalter. Technik, Taktik, Theorie, Weinheim 1990, S. 206–210.

287

Spätmittelalter

In Köln stand trotz breiter Differenzierung bis in das 16.  Jahrhundert hinein eindeutig das Textilgewerbe im Vordergrund; über das Verlagswesen konnte mit zunehmender Tendenz auch das weitere Umland in den Herstellungsprozess nicht nur dieser Produktgattung einbezogen werden. Bis in die 1430er-Jahre bildeten die in Köln und am Niederrhein hergestellten Tuche zudem die wichtigsten Ausfuhrgüter, unter denen zunächst die blau gefärbten Tuche sowie die einfache Sackleinwand mengenmäßig he­ rausragten. Seit dem 14. Jahrhundert und zu Beginn des 15. Jahrhunderts erlangte neben den Wolltuchen Tirtey als ein Mischgewebe aus Wolle und Leinen hohe Bedeutung. Es galt als nur unwesentlich teurer als reine Leinenprodukte, aber qualitativ hochwertiger. Während des 15. Jahrhunderts nahm dann die Bedeutung von Barchent deutlich zu, welcher nunmehr von Kölner Handwerkern gefertigt wurde; diese Neuorientierung verdrängte Teile der Leinen- und Tirteyweberei. Das Gewebe und die zu seiner Herstellung benötigten Techniken dürften oberdeutsche Kaufleute, die sich in Köln niederließen, an den Rhein gebracht haben. An qualifizierten Arbeitskräften mangelte es ohnehin nicht, und die Baumwolle ließ sich unkompliziert in Brügge beschaffen. Für die besondere Bedeutung dieses Zweigs der Tuchherstellung spricht die schließlich hochgradige Normierung des Produkts: Nach dem Bleichen mussten die eine Elle breiten Barchenttuche eine Länge von 52 Ellen aufweisen, ab 1449 betrug die standardisierte Länge 56 Ellen; als Toleranz wurde eine Elle akzeptiert. Zur Orientierung: Das Kölner Ellenmaß betrug knapp 59,4 Zentimeter. Drei Qualitätsstufen sowie eine Sonderklasse als beste Barchentqualität dienten der Klassifizierung der Tuche, und entsprechend der jeweiligen Einstufung erfolgte unter kommunaler Aufsicht die Stempelung der Tuchballen mit einem Bleizeichen. An diesen Zeichen konnten die Käufer die von der Stadt garantierte Qualität erkennen. Solche Bleizeichen oder auf Tonnen eingebrannte Stempelzeichen erfuhren eine weite Verbreitung nicht nur im Tuchgewerbe. Die Kommunen, seltener einzelne Zünfte, traten damit als Garanten der Warenqualität auf; freilich begegneten immer wieder Fälschungen der Zeichen. Bereits am Ende des 14.  Jahrhunderts war Köln auch zum wichtigsten Zentrum für Seidenerzeugnisse nördlich der Alpen aufgestiegen. Im 15.  Jahrhundert wuchs die Kölner Seidenverarbeitung nochmals deutlich an; selbst Paris mit seiner hohen Nachfrage nach Luxuswaren konnte in diesem Sektor überholt werden. Eng verbunden mit der Tuchherstellung war der Handel mit Färbepflanzen sowie den aus ihnen gewonnenen Produkten. 288

Handwerk und Produktion

Den zweiten wichtigen Gewerbesektor der rheinischen Großstadt bildete die Metallverarbeitung: Roheisen, Stahl und Halbfabrikate sowie Fertigwaren erwarben die Kölner vornehmlich im Bergischen Land, dem (märkischen) Sauerland, dem Siegerland, in der Eifel und im Hunsrück. Im Umland fand wohl nicht zuletzt aufgrund der Kölner Dominanz eine Spezialisierung statt: So lieferte Solingen überwiegend Scheren und Messer, deren Fertigung jedoch mindestens bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht, was auf eine eigenständige Herstellungstradition verweist. Sicheln und Sensen produzierten Handwerker in Elberfeld, Kronenberg (Remscheid) oder Lennep (östlich von Remscheid), aus Plettenberg stammten Draht und Eisenschnallen in erster Linie für Schuhschnallen, aus dem Siegerland Nägel, dann ­zusätzlich als Spezialität gusseiserne Öfen. Derart absorbierte Köln große Teile der Eisenwarenproduktion aus dem rechtsrheinischen, nördlichen und östlichen Umland in einer Entfernung von bis zu 100 Kilometern, zudem aus dem linksrheinischen Gebiet. Kölner Schwerter und Klingen gelangten schon im 12. Jahrhundert in größeren Mengen in den Export, doch längerfristig spielten die Produkte der in Köln als Sarwörter bezeichneten Harnischmacher eine bedeutendere Rolle. Insgesamt entwickelte sich eine breite Palette an Eisen- und Buntmetallwaren. Für das Kölner Handwerk lässt sich wie für Nürnberg als das andere große Produktionszentrum im 15.  Jahrhundert eine Tendenz zur Veredelung und Verfeinerung der von auswärts bezogenen Halb- und Fertigprodukte erkennen, um diese, nunmehr aufgewertet, anschließend gewinnbringend zu exportieren. Als vermögendere Handwerker galten auch außerhalb dieser beiden Großstädte tendenziell die Kürschner sowie die Gold- und Silberschmiede, wobei sich das Kunstgewerbe zunächst im Rhein-Maas-Gebiet entfaltete. Bei den Lebensmittelproduzenten stellte sich die finanzielle Situation sehr unterschiedlich dar, die Bauhandwerker gehörten tendenziell zu den ärmeren Zünften. In Städten mit Gärtner- oder Weinbergzünften waren deren Mitglieder ebenfalls, von den genannten Ausnahmen abgesehen, überwiegend am unteren Ende der Lohn- und Vermögensskala angesiedelt. Das holzverarbeitende Gewerbe, Schneider, Bader und Bartscherer lassen sich in ihrer Mehrzahl gleichfalls dort verorten. Möglichkeiten zur nachträglichen Einkommensberechnung bieten allerdings fast ausschließlich kommunale und kirchliche Baurechnungen dank ihrer teilweise langfristigen Überlieferung. Weite Verbreitung fand nicht nur im Bausektor der Tagelohn. Für das 14. und 15.  Jahrhundert ist ein Richtwert von 265 Arbeitstagen im Jahr 289

Spätmittelalter

a­ llgemein akzeptiert, wobei überwiegend vier bis sechs Arbeitstage in der Woche verzeichnet sind, deutlich seltener zwei oder drei. Typisch bis weit in die Neuzeit hinein blieb die Trennung in einen Sommer- und einen niedrigeren Winterlohn, da sich die Arbeitszeit weitgehend nach dem Sonnenlicht und damit nach der natürlichen Helligkeit richtete. Den daran orientierten Rhythmus beendete erst die großflächige Einführung der künstlichen Beleuchtung, zunächst in Form von Gasleuchten und dann, seit dem späteren 19.  Jahrhundert, als elektrisches Licht, gekennzeichnet durch die Verbreitung von Lampen mit Wolframfäden. Als Orientierungswerte lassen sich für das Spätmittelalter 170 bis 175 Sommer- und entsprechend 90 bis 95 Winterarbeitstage nennen. Drei unterschiedliche Lohn­ höhen, wie sie in Nürnberg während des 16.  Jahrhunderts gebräuchlich waren, blieben dagegen Ausnahmen. Hier zahlten die Baumeister für Übergangsphasen im Frühjahr und Herbst für jeweils einige Wochen den sogenannten kleinen Sommerlohn. Die Arbeitszeit schwankte zwischen sieben und bis zu 16 Stunden täglich, im Sommer sahen die einschlägigen Verordnungen in Nürnberg drei einstündige Pausen vor; diese Zahlen lassen sich durchaus auf andere Städte übertragen. Allerdings bereitete es vielerorts Probleme, die Einhaltung der Pausenzeiten zu kontrollieren, zumal wohl nicht nur Gesellen diese nutzten, um andernorts ihr Einkommen aufzubessern. Bereits im späten 15. Jahrhundert konnte bei versäumter Arbeit der Lohn stundenweise gekürzt werden, ebenso war die Entlohnung zusätzlicher Stunden gebräuchlich. Diese Entwicklung ist Ausfluss des veränderten Zeitbewusstseins aufgrund der Verbreitung von Uhren. Nach Einführung der Reformation erhöhte sich in diesen Gebieten die Zahl der ­potenziellen Arbeitstage auf knapp 300, was von einem Teil der Beschäftigten vor dem Hintergrund einer vielfachen Unterbeschäftigung als weitere Einkommensmöglichkeit durchaus begrüßt wurde. Die Meistereinkünfte lagen, jeweils aus der gebräuchlichen Silbermünze umgerechnet, in Nürnberg im kommunalen Bauwesen des späteren 15. Jahrhunderts bei gut 30 Gulden, in Frankfurt am Main oder Straßburg dagegen bei etwa 50 Gulden, was auf ein noch bestehendes West-Ost-Gefälle im Reich bei den Löhnen verweist. Auf vielen anderen Gebieten hatte der Westen seinen ehemaligen Entwicklungsvorsprung weitestgehend verloren oder war sogar in Rückstand geraten. Die sonst teilweise deutlichen Unterschiede in der Entlohnung von Meistern und Gesellen blieben im Bauwesen nur gering oder existierten gar nicht; wohl deswegen kannte das Baugewerbe im Gegensatz zu anderen Handwerkszweigen verbreitet 290

Handwerk und Produktion

v­ erheiratete Gesellen. Als Beispiel für eine ungelernte Kraft lässt sich für Nürnberg ein Johans/Johannes anführen, der beim Chorbau von St.  Lorenz von 1462 bis 1467 als Handlanger in der Steinmetzhütte wirkte.153 Zwischen 260 und 271 Arbeitstage verzeichneten die Baurechnungen in diesem Zeitraum jährlich. Johans Jahreseinkünfte im Niedriglohnsektor lagen bei ungefähr 17 rheinischen Gulden, ausgezahlt freilich in lokaler Silbermünze. Dieser Betrag sicherte zumindest seine Existenz, wobei unklar bleibt, ob noch eine weitere Person in seinem Haushalt lebte. Für das frühe 16.  Jahrhundert sollte dann ein Jahreseinkommen von 17 Gulden allerdings ein Leben am Rand des Existenzminimums bedeuten. Grundsätzlich sanken die Beschäftigungsmöglichkeiten der Bauhandwerker im Winter, selbst größere Städte beschäftigten nur wenige von ihnen durchgängig. Anders war natürlich die Situation bei denjenigen Werkmeistern, welche große und prestigeträchtige Bauvorhaben planten und durchführten. Als gesuchte Spezialisten mit umfassenden Kenntnissen konnten die Baumeister hohe Entlohnungen aushandeln, zumal sie die Aufgaben der späteren Architekten und Statiker gleichfalls übernahmen. Der Anbau von Gemüse, Hülsenfrüchten und Küchenkräutern in Gärten entlastete die Haushaltskasse ebenso wie die Erträge des Ackerbaus, wobei Ackerbau vornehmlich in kleineren Städten betrieben wurde. Die Gärten der Einwohner lagen zumeist vor den Mauern der Städte, hier zogen sie vornehmlich Kohl, Rüben, Erbsen, (Acker-)Bohnen, Zwiebeln, Linsen, Wurzeln, Möhren, Dill, Spinat, Mangold, Rettich, Mohn, Lauch, vielleicht auch Knoblauch und in klimagünstigen Gebieten Lorbeer. In erheblichem Umfang betrieben wurde der Anbau von Kohl, der in eingelegter Form als Sauerkraut während des Winters und des Frühjahrs verzehrt wurde. Für adlige und großbürgerliche Haushalte des 15. und des 16. Jahrhunderts belegen Rechnungseinträge, dass deren Bedienstete im Herbst Kohlköpfe zu Hunderten oder sogar im vierstelligen Bereich erwarben, um sie zu konservieren. Daneben bauten die Einwohner in einem nicht quantifizierbaren Ausmaß Sonderkulturen an, die nicht der Ernährung dienten oder wie Wicken als Pferdefutter Verwendung fanden. Zwar setzte der Erwerb oder die Pacht eines Gartens keine allzu große Finanzkraft voraus, doch selbst dies blieb den Ärmeren verwehrt, wobei hier eher an 153 Ulf Dirlmeier: Zum Problem von Versorgung und Verbrauch privater Haushalte im Spätmittelalter, in: Alfred Haverkamp (Hg.): Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt (Städteforschung, A: 18), Köln/Wien 1984, S. 257–288.

291

Spätmittelalter

Handlanger und Hilfskräfte als an gelernte Handwerker zu denken ist. Weit verbreitet und zwingend notwendig war vielfach die Mitarbeit von Frauen und Kindern oder Heranwachsenden, um das Familieneinkommen zu erhöhen. In den Städten arbeiteten Frauen häufig als Hökerinnen oder Trödlerinnen, die Kleinteile oder Lebensmittel veräußerten. Ohnehin muss für das Spätmittelalter von einer weitverbreiteten Unterbeschäftigung ausgegangen werden, denn die Erträge eines Handwerks oder einer Beschäftigung reichten oftmals nicht aus, sodass die Zwei- oder Mehrberufigkeit eine verbreitete Erscheinung war. Schon Faktoren wie Krankheiten, Unpässlichkeiten oder ein zunehmendes Alter, die letztlich als persönliches Risiko galten, konnten die Erwerbschancen erheblich mindern. Selbst wenn für das 12. und das 13. Jahrhundert kaum Zahlen vorliegen, kann für diesen Zeitraum ebenfalls von einer Unterbeschäftigung ausgegangen werden, da selbst bei Großprojekten im Bausektor sich keine Hinweise auf einen Mangel an Arbeitskräften erkennen lassen. So sollen in Braunschweig von 1160 bis ins Spätmittelalter hinein in reiner Handarbeit über zwei Millionen Kubikmeter Erdreich bewegt worden sein, der Limburger Mauerbau verschlang um 1200 ohne die notwendigen Vorarbeiten etwa eine Million Arbeitsstunden. Als ein weiterer grundlegender Unterschied zur Moderne ist der hohe Wert der Altmaterialien zu erwähnen: Haushaltsgerätschaften, Werkzeuge sowie Bekleidung erfuhren immer wieder Ausbesserungen oder Reparaturen, und wenn metallener Hausrat sich endgültig als unbrauchbar erwies, wurde er beim Neuerwerb in Zahlung gegeben oder eingeschmolzen. Kleidungsstücke wanderten von den Familienmitgliedern zu den Dienstboten, endeten schließlich zerrissen häufig in der Papierherstellung. Der Verbrauch teurer sowie knapper Rohstoffe sollte und musste eben weitgehend begrenzt werden. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprach Karl Bücher in diesem Zusammenhang von der Dominanz des Stoffwerts über den Formwert,154 da der Preis für Arbeit im Vergleich zu manchen Rohstoffen gering ausfiel. Damit lässt sich für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit europaweit durchaus von einer Flick- und Wiederverwertungsgesellschaft sprechen. Beispielsweise wurde noch im 16.  Jahrhundert eine Arbeitskraft damit beschäftigt, alte Decknägel vom abgebrochenen Dach des Siegener Rathauses wieder zu richten, um diese dann erneut einschlagen zu können, wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass der den Hammer 154 Karl Bücher: Die Berufe der Stadt Frankfurt a. M. im Mittelalter, Leipzig 1914, S. 18.

292

Handwerk und Produktion

schwingende Arbeiter immerhin 4000 bis 4500 Nägel gerade klopfen musste, um den Tageslohn eines gelernten Bauhandwerkers zu erzielen. Schon dieses Einzelbeispiel lässt keinerlei Raum für irgendeine Handwerks- oder Sozialromantik.

Zünfte Über Zünfte und Gilden als Organisationsformen der Handwerker, die sich seit dem 13. Jahrhundert auf breiter Front zu eigenständigen Verbindungen entwickelten, sind die Informationen dichter als über die Formen und Bedingungen handwerklicher Arbeit. Zünfte basierten auf einer geschworenen Einung. Ihr Miteinander gründete sich auf gegenseitige Unterstützung, auf Zunftgelage, Totenfolge und Totengedächtnis, verbunden häufig mit der Wahl eines gemeinsamen Patrons und einer Altarstiftung. Dazu kamen ein Satzungsrecht mitsamt begrenzter Gerichtsbarkeit zur Regelung der internen Angelegenheiten, möglichst eine Mitwirkung an der Fortschreibung des Gewerberechts, die Regelung der Ausbildung sowie die Wahl eines Zunftmeisters und weiterer Amtsträger. Derartige Kompetenzen der Zünfte entlasteten im Gegenzug den Rat von der Notwendigkeit, diesen Sektor durch Formulierung eigener Ordnungen zu reglementieren und selbst zeitaufwendige Kontrollen durchzuführen. Für den religiös-kultischen Bereich lassen sich Zünfte daneben als Bruderschaften kennzeichnen, welche auch Zunftfremde und Frauen einbeziehen konnten. Eine Kölner Besonderheit bildeten Frauenzünfte, allen voran im Seidengewerbe; daneben ist die Zunft der Goldspinnerinnen und Garnmacherinnen zu nennen. Überall aber wirkten Frauen zahlreich im Handwerk mit, begünstigt nicht zuletzt durch die verbreitete Nichttrennung von Arbeitsstätte bzw. Werkstatt und Wohnung. In Leiden bestand in den Jahrzehnten um 1400 ein Fünftel der Tuch- sowie Einzelhändler aus Frauen, 1508 wurde ihnen dann jedoch die Mitgliedschaft in der Gewandschneidergilde untersagt – eine Tendenz, die sich auch im Reichsgebiet im 16. Jahrhundert verstärken sollte. Auf Basis der Zünfte konnten die Stadtverteidigung oder das Wehrwesen sowie die Feuerbekämpfung organisiert sein, so in Köln von 1396 bis 1583, bevor dort die Rückkehr zu einer topografischen Gliederung erfolgte, da sich das vorherige System als zu langsam erwiesen hatte. Die Meister zahlenschwacher Handwerke schlossen sich einer anderen Zunft an oder der Rat vereinte sie mit weiteren Berufen zu einer Zunft. Zum Teil prächtige Zunft- oder Gildehäuser wie beispielsweise das wiederaufgebaute 293

Spätmittelalter

Knochenhaueramtshaus in Hildesheim demonstrierten vornehmlich seit dem 15. Jahrhundert die gestiegene Bedeutung der Zünfte ebenso wie ihr gewachsenes Selbstbewusstsein. Daneben dienten Trinkstuben dem Zusammensein und der Geselligkeit. Im Zuge der innerstädtischen Unruhen des 14.  Jahrhunderts fanden nach erfolgreichen Erhebungen gegen die alte Führungsschicht seitens der politischen Zünfte Neuformierungen und Neustrukturierungen der Stadtgemeinden statt. Die Zusammenschlüsse der Handwerker erhielten damit eine neue Qualität, denn sie entwickelten sich zu politischen Institutionen. In Städten mit einer nachträglich so bezeichneten Zunftverfassung mussten zukünftig alle Einwohner Mitglied einer Zunft sein, um überhaupt politisch aktiv werden zu dürfen. Allerdings konnten sich die Angehörigen der Ober- oder Führungsschicht in Herrenzünften verbinden oder ihnen wurden andere Formen der Organisation wie Trinkstuben zugestanden. Deren Distanz zu den gewöhnlichen Handwerkerzünften blieb jedenfalls groß, und nach zumeist nur kurzer Zeitspanne bestimmten deren Mitglieder das politische Geschehen eindeutig, denn sie waren abkömmlich und verfügten über die nötige Zeit sowie die notwendigen finanziellen Mittel. Neben der personellen Zusammensetzung der Räte – zumeist vertraten weitere, dem Handwerk entwachsene Kaufleute die Interessen der Zünfte – ist aber die Beantwortung der Frage entscheidend, ob sich Mitwirkungsrechte der Zünfte verstärkt in den Ratserlassen niederschlugen, ob auf ihre Interessen also grundsätzlich mehr Rücksicht genommen wurde als zuvor.155 In engem Zusammenhang mit dem Streben nach Mitwirkung erfolgte vielfach die Zusammenfassung mehrerer Berufe in einer Zunft, um überhaupt genügend große Einheiten zur Mitwirkung im Rat zu schaffen. Derart bildeten beispielsweise in Köln die Gürtelmacher, die Lederbereiter, die Nadelmacher, die Drechsler, die Beutelmacher und die Handschuhmacher mit weiteren, nicht explizit genannten Handwerken ebenso eine Gaffel wie die Harnischmacher, die Taschenmacher, die Schwertfeger, die Bartscherer und weitere Berufe. Doch beschnitt die Entwicklung zu politischen Zünften teilweise die Mitwirkungsmöglichkeiten von Frauen; daneben dürfte die Ausbildung tendenziell frühkapitalistischer Produktionsweisen ihre Position geschwächt haben. Zunftverfassungen finden sich vornehmlich im Bodenseeraum sowie von Schwaben und dem Elsass ausgehend über das Rheintal bis in die 155 Schulz: Handwerk S. 66.

294

Handwerk und Produktion

­ iederen Lande. Stellvertretend genannt seien Augsburg (hier besetzten N Geschlechter und Zünfte die Ämter paritätisch), Ulm, Basel, Speyer und Straßburg, während sich u. a. in Nürnberg, Frankfurt und Lübeck die Geschlechterherrschaft durchsetzte. In Utrecht kontrollierten die Zünfte seit 1304 die Wahl des Rats, ein zeitlich frühes Beispiel, nachdem ein erster Griff nach der Stadtherrschaft 1274 zwei Jahre später in einer blutigen Niederlage gegen das bischöfliche Aufgebot geendet hatte. Ihrem Beispiel folgten die Lütticher Zünfte 1312, die nach einem Sieg über die „Patrizier“ kurzerhand die Kirche St. Martin niederbrannten, in welche diese sich in ihrer Mehrheit geflüchtet hatten. Mischformen mit einem begrenzten Einfluss der Handwerkerzünfte auf die Geschicke der Stadt finden sich vornehmlich in Territorialstädten, wo die Zünfte hinfort zumeist im Bündnis mit den jeweiligen Stadtherren gegen die kommunale Führungsschicht vorgingen. So setzte der hessische Landgraf Ludwig 1428 wieder eine verstärkte Beteiligung der zünftigen Handwerker sowie der Bürgerschaft, der Gemeinde, am Stadtregiment Marburgs durch, nutzte die innerstädtischen Spannungen allerdings vornehmlich zum Ausbau seiner eigenen Position in der Stadt. Doch kann für Marburg nur ausgesprochen begrenzt von politischen Zünften die Rede sein, da weite Teile der Einwohnerschaft keiner Zunft angehörten und für die Zünfte der kleinen Mittelstadt die Durch­ setzung ihrer ökonomischen Interessen unter Einschluss von Steuererleichterungen eindeutig im Vordergrund stand. Tendenzen zu Preisabsprachen, zu Wettbewerbsbeschränkungen und zur Abschließung, also zur zahlenmäßigen Begrenzung der Meisterzahlen sowie zur Favorisierung von Meistersöhnen als Nachfolgern, lassen sich zwar bereits im Spätmittelalter erkennen, doch erfuhren derartige Restriktionen im Allgemeinen erst im Lauf des 16. Jahrhunderts vor dem Hintergrund schwierigerer ökonomischer Rahmenbedingungen eine deutliche Ausprägung. Interessanterweise privilegierten in Gent die durchaus wohlhabenden Brauer schon während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und in den folgenden Jahrzehnten fast ausschließlich Meistersöhne bei der Vergabe neuer Meistertitel, was aber auch dem hohen Anlagekapital geschuldet sein mag. Vielfach versuchten die Zünfte den Zunftkauf durchzusetzen, wodurch im Idealfall alle Mitglieder die benötigten Rohstoffe oder Vorprodukte zu gleichen Konditionen erwerben konnten. Ebenso sollten die von den Zünften organisierten Absatzmonopole den Meistern gleiche Chancen beim Verkauf ihrer Produkte ermöglichen. Zuweilen wurden Obergrenzen für Gesellen und Lehrlinge pro Meisterwerkstatt festgeschrieben, daneben konnten die 295

Spätmittelalter

Bestimmungen in ebenfalls egalitärer Tendenz die höchstmögliche Anzahl von Webstühlen oder Feuern und Essen je Meister fixieren. Doch selbstverständlich regten sich innerhalb der Zünfte Widerstände gegen solche Regelungen, denn gerade erfolgreiche Meister sahen dadurch ihre Möglichkeiten entscheidend beschnitten. Ohnehin bildeten solche Beschränkungen, die immer wieder abgeändert wurden, kein festes System, sondern sie galten mehr oder weniger ausgeprägt für einzelne Zünfte mit großen Unterschieden zwischen den Zünften sowie den Städten. Bei den Zünften kann tendenziell vom Vorherrschen des – wenngleich nicht unumstrittenen – „Nahrungsprinzips“ ausgegangen werden, welches verallgemeinert gesagt allen Meistern ein zumindest standesgemäßes Auskommen ermöglichen sollte. Nach Ausweis der Steuerverzeichnisse erwiesen sich freilich trotz aller gegenteiligen Bemühungen die Einkommensund Vermögensunterschiede innerhalb der jeweiligen Zusammenschlüsse als ausgeprägt. Letztlich konnten Konkurrenz und Wettbewerb innerhalb der Zünfte wohl nur verringert, nicht aber ausgeschaltet werden; im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden die Spielräume nochmals enger. Mit zunehmender Tendenz beschäftigten die Meister zur Umgehung der engen Zunftgrenzen Gesellen oder angelernte Mitarbeiter im ländlichen oder kleinstädtischen Umland. Als weiteres Handlungsziel der Zünfte lässt sich in Einzelfällen erkennen, dass sie die Umsetzung technischer Innovationen zu verhindern bestrebt waren, falls diese Arbeitsplätze gefährdeten. Derart verbot der Kölner Rat 1412/13 nach Intervention der einschlägigen Handwerke die Errichtung einer Seidenzwirnmühle, um die Beschäftigungsmöglichkeiten der Seidenspinnerinnen nicht zu mindern; für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts ist der Betrieb einer solchen Anlage wohl tatsächlich auszuschließen. Bezeichnenderweise hatte mit Walter Kesinger ein Faktor der Nürnberger Kammerer-Seiler-Gesellschaft den Antrag auf deren Bewilligung gestellt, während eine eigene Seidenhalle bereits seit 1370 nachweisbar ist. Allerdings erfolgte die Entlohnung eines Teils der Seidenspinnerinnen trotz mehrfacher Verbote durch den Rat im Trucksystem und damit in der Regel zu ungünstigen Bedingungen. Auch in anderen Gewerbebereichen dürfte diese Praxis der Entlohnung in Waren eine noch zunehmende Verbreitung gefunden haben, denn 1470 erneuerte und verschärfte der Rat das Verbot, Handwerker mit Waren zu bezahlen.156 156 Margret Wensky: Die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N. F. XXVI), Köln/Wien 1980, bes. S. 107–122. Beschlüsse des Rates, S. 415.

296

Handwerk und Produktion

Vielfach benötigten die Handwerker zudem Kredite, mussten doch Rohstoffe erworben und absatzschwache Perioden oder längere Herstellungszeiträume ebenso überbrückt werden wie die Zeitspanne bis zum Verkauf. Als Kreditgeber traten vornehmlich die jeweiligen Zünfte, Zunftmitglieder, Kaufleute oder geistliche Institute auf. Seit dem 15. Jahrhundert fassten die Zünfte die Normen der Handwerks­ ehre enger. Für die Aufnahme als Lehrling mussten zumeist drei Kriterien erfüllt sein: eheliche Geburt, persönliche Unbescholtenheit sowie eine ehrliche Herkunft, wobei Letzteres meint, dass die Eltern nicht als unehrlich gelten durften. Eine freie oder in Niederdeutschland eine deutsche, also nicht slawische Herkunft wurde hingegen noch selten gefordert. Die Ursprünge solcher Abschließungstendenzen, die zeitlich parallel zu denen der Oberschichten zu verorten sind, lagen im Norden des Reiches, wo bereits um 1400 erste derartige Bestrebungen zu beobachten sind; nach der Jahrhundertmitte verdichteten sie sich. Allerdings kann aus diesen Tendenzen nicht direkt auf eine mögliche Krise des jeweiligen Handwerks geschlossen werden. Dagegen sollte es am Oberrhein noch bis etwa 1500 dauern, bevor solche Vorstellungen überhaupt an Gewicht gewannen. Spätestens im Laufe des 16. Jahrhunderts drängten dann vermehrt nicht zünftige Handwerker in die Städte, ohne dass die Zünfte stets auf eine Unterstützung durch die Obrigkeiten rechnen konnten. Das gleichfalls anwachsende ländliche Handwerk wurde regional nunmehr vielfach als weitere Konkurrenz begriffen. Es lieferte vermutlich billigere, vielleicht auch einfachere Produkte, die aber nicht zwingend von schlechterer Qualität sein mussten. Die Landhandwerker waren allerdings auch schon zuvor durchaus aktiv aufgetreten, von ihrer grundsätzlichen Beherrschung durch die Städte oder die städtischen Kaufleute sollte trotz teilweise bestehender Abhängigkeiten nicht ausgegangen werden. Das Land fungierte eben nicht nur als Zulieferer oder als Ort einfacher Tätigkeiten im jeweiligen Produktionsprozess.157 Zunftungebunden waren auch die Hofhandwerker tätig, deren Zahl in der Frühen Neuzeit gleichfalls deutlich anstieg. Im Gegenzug zu den Meistern organisierten sich die Gesellen seit dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts wohl zunächst infolge der Zunftverfas157 Knut Schulz: Störer, Stümpler, Pfuscher, Bönhasen und „Fremde“. Wandel und Konsequenzen der städtischen Bevölkerungs- und Gewerbepolitik seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Civitatum communitas. Studien zum europäischen Städtewesen, FS Heinz Stoob, Köln/Wien 1984, S. 683–705. Rolf Kießling: Zur Kommerzialisierung ländlicher Regionen im 15./16. Jahrhundert. Das Beispiel Ostschwaben, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 59/2 (2011), S. 14–36.

297

Spätmittelalter

sungen gleichfalls in eigenen Vereinigungen. Diese reagierten beispielsweise mit Boykotten und Arbeitsverboten, wenn ein Vorgehen der Zünfte oder einzelner Meister als negativ empfunden wurde, und forderten auch höhere Löhne oder bessere Kost ein. Besonders nachdem der Status als Geselle sich nicht mehr nur auf eine kurze Durchgangsphase beschränkte, gewannen die Fragen nach einer angemessenen Entlohnung und der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen deutlich an Bedeutung. Weiterhin engagierten die Vereinigungen sich bei der Arbeitsvermittlung für neu eingetroffene Gesellen. Wirksamer als ein offener Boykott gegen einzelne unliebsame Meister dürfte es gewesen sein, sie in Verruf zu bringen, indem die Gesellen möglichst im Geheimen untereinander absprachen, bei welchem Meister nicht mehr gearbeitet werden sollte. Kam es zu einer Solidarisierung der Meister mit ihrem verrufenen Kollegen, konnte sich der Streit auf das gesamte Gewerbe der Stadt ausdehnen. In der Regel fanden solche Konfrontationen nicht zuletzt wegen der wechselseitigen Abhängigkeiten ein rasches Ende, wobei gewalttätige Aktionen kaum zu verzeichnen sind. Die meisten Konfliktfelder entstanden und verblieben ohnehin im lokalen Rahmen. Städteübergreifende Zusammenschlüsse waren eine seltene Ausnahme, ihre Entstehung hing entscheidend von dem jeweiligen Gewerbe, seinen Arbeitsbedingungen und Löhnen inklusive der Verpflegung im Meisterhaushalt ab. Letztlich mussten die Gesellen eigene genossenschaftliche Organisationsformen erst entwickeln, um ihre Interessen gemeinsam vertreten zu können. Wurden solche Formen des Zusammenschlusses freilich erst einmal an einem Ort erfolgreich praktiziert, dann trug das Gesellenwandern zu ihrer weiteren Verbreitung bei. Eine Pflicht zur Wanderschaft war allerdings von wenigen Ausnahmen abgesehen noch keineswegs festgeschrieben und wurde auch später nicht für alle Berufe verpflichtend. Zur Stärkung des Zusammenhalts fanden gemeinsame Mahlzeiten sowie Feste statt. Bei Krankheit halfen sich die Gesellen untereinander finanziell, eine Parallele zu den Zünften, die hier wohl als Vorbild dienten. Die Gesellen stifteten auch gemeinsam Kerzen und zielten auf eine eigene, interne Gerichtsbarkeit, womit bruderschaftliche Elemente deutlich werden. Im 15.  Jahrhundert konnten im Rheinland vorübergehend Verbote von Gesellenverbindungen durchgesetzt werden. Begriffsgeschichtlich löste übrigens erst um die Wende zum 15. Jahrhundert der Begriff „Geselle“ zunehmend den älteren, vielleicht inzwischen als abwertend empfundenen „Knecht“ ab.158 158 Schulz: Handwerk, S.  233–249. Schulz: Handwerksgesellen. Wilfried Reininghaus: Die Entstehung der Gesellengilden im Mittelalter, Wiesbaden 1981. Kurt Wesoly: Lehrlinge und Hand-

298

Handwerk und Produktion

Mühlen Der Energiegewinnung dienten in großem Ausmaß Mühlen, die freilich die Umwelt deutlich weniger belasteten als etwa die Verbrennung von Holz oder Kohle, wenngleich ihr Bau nicht unerhebliche Mengen an Holz beanspruchte. Tiergetriebene Mühlen, vornehmlich unter Einsatz von Eseln oder Maultieren, erfreuten sich im Mittelmeerraum, genauer gesagt in den Gegenden südlich von Apennin und Loire, großer Beliebtheit. Dies war ­allerdings in erster Linie der dortigen Wasserarmut geschuldet. Wassermühlen, die im Vergleich zu tiergetriebenen Mühlen deutlich leistungs­ fähiger sind, fanden bereits in Früh- und Hochmittelalter breite Verwendung. Ihr Bau beruhte nördlich der Alpen wohl nicht auf einem Techno­ logietransfer aus der Antike. Da häufig die Wasserführung der Flüsse stark schwankte, mussten kleinere Bäche oder künstlich angelegte Kanäle für eine regelmäßigere Wasserzufuhr sorgen. Wassermühlen erforderten zudem teilweise Wassergerechtsame, weshalb ihr Bau ebenso wie ihre Nutzung Streitigkeiten zwischen Nachbarn auslösen konnten. Zumindest im Frühmittelalter überwog die – weniger effektive – Variante der unterschlächtigen Mühle deutlich. Insgesamt dominierten in Zentraleuropa bei der Energiegewinnung eindeutig die verschiedenen Formen der Wassermühlen, zumal sich im Binnenland schon aufgrund der unsteten Windverhältnisse Windmühlen dazu weniger eigneten, was durchaus bekannt war. Eine Darstellung des Wasserlaufs der Pegnitz im Raum Nürnberg innerund außerhalb der Stadtbefestigung aus dem Jahr 1601 zeigt in enger Nachbarschaft zueinander immerhin 131 Wasserräder. Erste Tidemühlen sind bei Venedig und in Dover für das 11.  Jahrhundert belegt, eventuell fanden sie sogar schon im 7. Jahrhundert auf Island Verwendung. Bau und Unterhalt dieser Mühlenart gestalteten sich allerdings kostenintensiv.159 Neben den zuvor vorherrschenden Getreidemühlen kamen seit dem 11. Jahrhundert gewerblich genutzte Mühlen auf, welche die Herstellungsprozesse beschleunigten und derart eine höhere Produktion für eine deutlich steigende Nachfrage überhaupt erst ermöglichten. Die älteste sicher

werksgesellen am Mittelrhein. Ihre soziale Lage und ihre Organisation vom 14. bis ins 17. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1985. 159 Ulrich Troitzsch: Umweltprobleme im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit aus technikgeschichtlicher Sicht, in: Herrmann (Hg.): Umwelt, S. 89–110, hier S. 94. Dieter Hägermann: Technik im frühen Mittelalter zwischen 500 und 1000, in: ders./Helmuth Schneider: Landbau und Handwerk, 750 v. Chr. bis 1000 n. Chr. (Propyläen Technikgeschichte, 1), Berlin 1991, S. 315–505, hier S. 346–373. Lucas: Wind, S. 143–145.

299

Spätmittelalter

­ elegte Walkmühle lässt sich 1176 in Italien im Gebiet von Lucca nach­ b weisen. Die Technik ist indes älteren Ursprungs, ein erstes Exemplar dürfte bereits 1086/87 in der Normandie den Betrieb aufgenommen haben. Walkmühlen reinigten die gewebten Tuche und verfilzten zudem deren Ober­ fläche, was die Tuche geschmeidiger machte und verdichtete. Freilich brachte eine Walkmühle wahrscheinlich etwa 40 Fußwalker um ihren Lohn, was zum Teil zu erbitterten Protesten in den Städten führte. Kurz vor, verbreitet dann nach der Mitte des 13. Jahrhunderts wurden derartige Anlagen im Reich nördlich der Alpen in Betrieb genommen, und zwar wahrscheinlich zunächst in den westlichen Reichsteilen mit Kontakten nach Flandern und in die Champagne. Weiterhin lassen sich für die Folgezeit vielfach Waidmühlen, Lohmühlen, Erzmühlen, Sägemühlen, Papier­mühlen, Schleifmühlen oder Seidenzwirnmühlen nennen sowie, wenngleich seltener, Pulvermühlen. Gleiches gilt für die ebenfalls wassergetriebenen Hammer- und Pumpwerke, denn seit dem 11. und 12. Jahrhundert fanden Nockenwellen, mit deren Hilfe die Energie in eine Aufwärts-abwärts-Bewegung umgesetzt werden konnte, und Kurbeln einen verbreiteten Gebrauch. Wasser lieferte ebenfalls die Antriebskraft für die Blasebälge, welche für höhere Temperaturen in den Schmelzöfen oder etwa auch beim Schmiedebetrieb sorgten. Konkurrenzsituationen konnten beim Bau von Wassermühlen inklusive zuführender Wassergräben vielfach entstehen: um die am besten geeigneten Standorte, mit der Schifffahrt oder mit dem Fischfang. Teilweise mussten komplexe Lösungen zum Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Nutzern gefunden bzw. ausgehandelt werden.160 In den 1180er-Jahren sind Windmühlen mit drehbarem Gesamtgehäuse, die dem Mahlen von Getreide dienten, fast zeitgleich in England, Flandern und der Normandie nachweisbar. In Köln könnte die Technik bereits zuvor angewandt worden sein, eine sichere Ersterwähnung datiert aber erst auf das Jahr 1222; in diesem Fall dienten Windmühlen vermutlich als Reserve für solche Zeitphasen, in denen die Rheinmühlen nicht genutzt werden konnten. Das 13. Jahrhundert gilt in Teilen der Literatur ohnehin nach den Jahrzehnten um 800 als zweite, aber wesentlich intensivere mittelalterliche Verdichtungsphase der technischen Entwicklung. Ihre weiteste Verbreitung dürften Windmühlen in den Niederen Landen gefunden haben. Ein 160 Ludwig: Technik, S. 88–98. Lukas Clemens/Michael Matheus: Die Walkmühle, in: Lindgren (Hg.): Technik, S. 233 f. Lucas: Wind, S. 233–262. Wolfgang v. Stromer: Bemessung der Energie: Wasserkraft, in: Elkar (Hg.): Maß, S. 127–144. Bayerl: Technik, S. 126.

300

Handel

entscheidender Fortschritt fand seit dem ersten Drittel des 16.  Jahrhunderts mit der Einführung der Turmwindmühlen oder Holländermühlen statt, die über ein stationäres Mühlenhaus und eine drehbare Haube mit Windrad verfügten. Allerdings verbreitete sich dieser Typus nur ausgesprochen langsam. Nunmehr konnte die Größe der Mahlwerke wachsen, da im Gegensatz zur Bockwindmühle eben nicht mehr die ganze Mühle in den Wind gedreht werden musste, sondern nur die zur Energiegewinnung benötigte Haube.161

Handel Im Bereich des Handels ist der Fernhandel mit deutlichem Abstand am besten erforscht, während wir über die zahlreichen Kleinhändler oder Höker mit ihrem teilweise begrenzten Warensortiment, über ihre weiblichen Pendants sowie die durch die Lande ziehenden Hausierer nur wenig wissen. Dennoch dürften diese in der Summe ein hohes Warenvolumen umgesetzt haben, da sie im Detailhandel wirkten und das Gros der alltäglichen Geschäfte abwickelten. Der Handel mit Massengütern setzte nach Anfängen im 12.  Jahrhundert im 13.  Jahrhundert schließlich auf breiter Front ein, der Übergang vom Wanderhandel zum sesshaften Fern- oder Großkaufmann lässt sich ebenfalls noch auf die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datieren. Die Sesshaftwerdung zunächst nur eines kleineren Teils der Fernkaufleute stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verschriftlichung des Betriebs und dem zunehmenden Geschäftsumfang der einzelnen Kaufleute oder sich bildenden Handelsgesellschaften. Sowohl mit den auswärtigen Faktoren als auch mit den Geschäftspartnern konnte nunmehr schriftlich verkehrt werden, was mittelfristig zu einer tief greifenden Umstellung der Geschäftspraxis führte. Rechenkenntnisse und Vertrautheit mit den zahlreichen umlaufenden Münzen waren unabdingbare Voraussetzungen für kaufmännisches Handeln, günstig wirkten sich daneben Sprachkenntnisse aus. Selbstverständlich musste auch ein entsprechendes Wissen um die jeweiligen Waren und deren Qualitäten vor161 Ludwig: Technik, S.  98–106. Lucas: Wind S.  101–114. Zu den Kölner Rheinmühlen vgl. Horst Kranz: Die Kölner Rheinmühlen. Untersuchungen zum Mühlenschrein, zu den Eigentümern und zur Technik der Schiffsmühlen (Aachener Forschungen zur älteren Energiegeschichte, 1), Aachen 1991. Dieter Hägermann/Karl-Heinz Ludwig: Verdichtungen von Technik als Periodisierungsindikatoren des Mittelalters, in: Technikgeschichte 57 (1990), S. 315–328, hier S. 321–325.

301

Spätmittelalter

handen sein.162 Parallel zum Anstieg der Zahl der Reisenden entstanden zunächst in Italien im 11. und 12.  Jahrhundert mit ersten Gasthäusern, Herbergen, Schenken sowie Tavernen Frühformen kommerzieller Gastlichkeit, nördlich der Alpen wohl erst im 13. Jahrhundert. Über die Ausbildung, die angehenden Kaufleuten zuteilwurde, schweigen die Quellen in jener Umbruchphase und noch darüber hinaus weitgehend. Jedoch müssen neben den bekannten Lateinschulen, die auf den Universitätsbesuch vorbereiteten, vielfach deutsche Schulen bestanden haben, welche zumindest Grundkenntnisse im Schreiben und Rechnen, aber wohl auch darüber hinausgehendes Wissen praxisnah an angehende Kaufleute sowie Handwerker vermittelten. Eine erste deutsche Schule ist für Lübeck 1252/62 belegt. Der Schulbesuch dürfte vom siebten bis zum 14. oder 15. Lebensjahr gedauert haben, konnte sich aber ebenso auf nur zwei bis drei Jahre beschränken. Für Nürnberg nennt die Literatur, einem chronikalischen Bericht folgend, für das Jahr 1487 etwa 4000 Schüler und Schülerinnen, zu denen weitere 800 auf den Lateinschulen hinzuzuaddieren sind, und dies bei einer Einwohnerzahl von vielleicht 20 000 bis 25 000. In Köln dürfte es sich bei den Elementarschulen überwiegend um Pfarrschulen, daneben nur vereinzelt um deutsche Schulen gehandelt haben. Seine ersten Eindrücke vom Schulbesuch notierte Hermann Weinsberg fast 40 Jahre später so: „Uff disser schollen … eirst angefangen uis und in zu gain und still sitzen und swigen, auch das abcd etc. zu lesen und schreiben geleirt.“163 Still zu sitzen und zu schweigen waren demnach die ersten Forderungen an die jungen Schüler. Selbstverständlich erst seit dem 16. Jahrhundert sind gedruckte Schreib- und Rechenbücher überliefert, unter denen das von Adam Riese wohl weite Verbreitung erfuhr. Der Augsburger Lucas Rem berichtete rückblickend, dass er knapp 13-jährig im Oktober 1494 von seinem Vater zwecks kaufmännischer Ausbildung zu Pferde nach Venedig zu zwei Faktoren der Welser gesandt worden war, wo er sich zunächst in knapp eineinhalb Jahren in erster Linie Sprachkenntnisse aneignete. In den folgenden fünfeinhalb Monaten erlernte er kaufmännisches Rechnen, bevor in weiteren dreieinhalb Monaten die Buchführung folgte. Anfang 1498 weilte Rem bei Anton Lauginger in 162 Zum europäischen Handel des Spätmittelalters vgl., wenngleich mit einer für den angelsächsischen Bereich typischen ausgeprägten Konzentration auf Oberitalien, Flandern und England, Spufford: Handel. 163 Wolfgang Herborn: Kölner Schulen, Schüler und Lehrer an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 77 (2006), S. 53–94, Zitat Weinsberg S. 64.

302

Handel

Mailand, einem weiteren Faktor der Welser, den er von erheblichen Problemen bei der Buchführung erlöste und der Rem deswegen zukünftig förderte. Noch im Frühjahr des gleichen Jahres hieß das Ziel Lyon, und erneut galt es für Rem, zunächst Sprachkenntnisse zu erwerben. Zudem sollte er sich intensiver mit Geld- und Wechselgeschäften vertraut machen. Nach Beendigung dieser Anlernphase nahmen ihn schließlich die Welser in ihren Dienst, wobei Rem vornehmlich in den für die Gesellschaft wichtigen Faktoreien Lissabon, Lyon und Antwerpen eingesetzt wurde.164 Wenn freilich Gelehrte oder Geistliche von den Kaufleuten häufig als illiterari sprachen, dürfte sich dahinter eine Unkenntnis oder eine in ihren Augen mangelhafte Beherrschung der lateinischen Sprache durch die angeblichen Analphabeten verbergen, keinesfalls aber mangelnde Schreib- und Rechenfähigkeiten auf Basis der Muttersprache. Als weiterer zentraler Faktor, den nicht nur Erich Maschke betont, mussten die Fernkaufleute sich auf ein hohes Risiko einlassen und das „Abenteuer“ bewältigen, also Wagemut und Risikobereitschaft als spezifische Merkmale ihrer Eignung mitbringen.165 Zunächst wurden nur wenige bedeutende Fernkaufleute sesshaft. Sie reisten nicht mehr selbst mit ihren Waren zu den verschiedenen Zielorten, sondern korrespondierten schriftlich mit ihren auswärtigen Bediensteten oder Faktoren, welche die Ein- und Verkäufe vornahmen, den Transport der Waren in die Wege leiteten oder ihrerseits auf Reisen gingen. Selbstverständlich duften die Gehilfen oder Handelsdiener – die Bezeichnungen für sie variierten – dabei weder Handelspraktiken noch Geschäftsgeheimnisse verraten. Ob die Bediensteten eng an die Weisungen der Zentrale gebunden waren oder nicht, war unterschiedlich geregelt. Konnten sie weitgehend frei entscheiden, ermöglichte dies eine zügige Reaktion auf Preisentwicklungen oder sich kurzfristig ergebende, günstige Einkaufsmöglichkeiten, barg aber das Risiko von Fehlentscheidungen gerade bei noch unerfahrenen Mitarbeitern. In solchen Fällen von hoher Entscheidungs­ befugnis lässt sich mit Vorsicht von selbstständigen Filialen sprechen. Wenn dagegen häufig Rücksprache mit der Zentrale gehalten werden musste, konnte die zeitraubende schriftliche Kommunikation sich etwa bietende Vorteile wieder entgleiten lassen, selbst wenn eigens engagierte Boten zu diesem Zweck eingesetzt wurden. In Abhängigkeit von den 164 Martin Kintzinger: Eruditus in arte. Handwerk und Bildung im Mittelalter, in: Schulz (Hg.): Handwerk, S. 155–187, hier S. 161 f., 177 f. Tagebuch Rem, S. 5 f. 165 Erich Maschke: Das Berufsbewusstsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns, ND in: Ders.: Städte, S. 380–419.

303

Spätmittelalter

S­ traßenverhältnissen legten solche Boten immerhin etwa 50 bis 60 Kilometer am Tag zurück. Seit dem 16. Jahrhundert konnten zudem regelmäßig verkehrende Postlinien genutzt werden. Verbreitet beteiligten die Kaufleute ihre Mitarbeiter vom gerade eingestellten Lehrjungen bis zum Leiter einer Filiale am Gewinn, um so ihr Interesse an hohen Erträgen sowie ihren Arbeitseifer und ihre Sorgfalt zu steigern. Neben Abenteuersinn und Wagemut gehörten Gewinnstreben und eine ausgeprägte Rechenhaftigkeit zu den Merkmalen erfolgreicher Kaufleute. Prägnant formuliert Wolfgang v. Stromer die an sie gestellten Anforderungen: „Biedermänner mit kleinlichen moralischen Maßstäben oder unentschlossene Weichlinge mußten hier notwendig scheitern. Die Kaufleute waren so wehrhaft wie die Ritter und ihre Methoden waren von gleicher Härte und Bedenkenlosigkeit.“166 Die Sesshaftigkeit der Kaufleute führte zur Anlage und Aufbewahrung von Schriftgut. Dieser Prozess wurde wesentlich erleichtert durch die Verbreitung von Papier als gegenüber dem Pergament deutlich preiswerterem Beschreibstoff, der zunächst noch aus Frankreich oder Norditalien importiert werden musste. Die Technik der Papierherstellung gelangte aus China nach Zwischenstationen über die Iberische Halbinsel und Sizilien nach Europa und verbreitete sich im 13.  Jahrhundert in Italien. Venedig privilegierte die Papiermühlen in Treviso 1366 mit dem Recht zum Lumpensammeln, um so den Nachschub mit diesem wichtigen Basisprodukt der Papierproduktion zu sichern. Schon deswegen entstanden Papiermühlen häufig in Gebieten mit umfangreicher Textilherstellung. Eine erste Papiermühle im Reichsgebiet ließ der schon 61-jährige Ulman Stromer 1390 am südlichen Pegnitzarm vor der Stadtmauer Nürnbergs errichten, wobei diese Mühle sich in ihrer Konzeption von den Vorläufern in Süd- und Westeuropa unterschied, gefolgt von derartigen Anlagen in Ravensburg 1393 und Lübeck 1420.167 Im Zentrum stand die Herstellung von Papier für gewerbliche Zwecke. Genutzt wurde es sicherlich als Beschreibstoff, daneben auch für Verpackungen und Spielkarten. Als erster Betriebsleiter wirkte in Nürnberg der Papierfachmann Jörg Tyrman, mit dem es aber 1398 zum Prozess kam. Der Papierer Clos Obser musste schwören, keinerlei technische Interna 166 Wolfgang v. Stromer: Die Nürnberger Handelsgesellschaft Gruber-Podmer-Stromer im 15. Jahrhundert (Nürnberger Forschungen, 7), Nürnberg 1963, S. 28. 167 Wahrscheinlich ließ ein Italiener bereits 1375 für einige Jahre Papier in Schopfheim unweit von Lörrach produzieren, ohne dies aber fortzuführen oder einen Nachfolger zu finden; Franz Irsigler: Überregionale Verflechtung der Papierer. Migration und Technologietransfer vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, in: Schulz (Hg.): Handwerk, S. 255–275, hier S. 258.

304

Handel

oder sonstige Informationen über die Mühle an Außenstehende weiterzugeben. Um 1600 dürften schließlich im Reich etwa 190 Papiermühlen in Betrieb gewesen sein, die außerordentlich große Mengen an sauberem Wasser benötigten. Bereits im späten 13.  Jahrhundert waren in Oberitalien die Rechen-, Lese- und Schreibfähigkeiten in den Städten vermutlich vergleichsweise breit gestreut und erfassten neben den Kaufleuten auch die Handwerker. Selbst wenn die oberdeutsche Überlieferung dünn ist, kann für diese Region im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts von einer ähnlichen Entwicklung ausgegangen werden. Als weitere entscheidende Faktoren sind das Aufkommen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs sowie Neuerungen in der Buchführung zu erwähnen, die beide ebenfalls zunächst in Oberitalien in Gebrauch kamen. Die Entwicklung des Giralgeldes in Form von Wechseln erhöhte das verfügbare Handelskapital und trug zur Ausweitung des Handels bei. Auch Begriffe wie Konto, Giro oder Kontokorrent entstammen der oberitalienischen Geschäftspraxis. Der Nutzen der doppelten Buchführung, die Ende des 13. Jahrhunderts entwickelt wurde, steht und fällt allerdings mit der korrekten Verbuchung der Geschäftsvorfälle. Nicht nur bei weniger umfangreichen Handelstätigkeiten reichte die einfache Buchführung weiterhin vollkommen aus oder verschaffte sogar einen besseren Überblick. Häufig trennten die Kaufleute zudem zwischen Haupt- und Nebenbüchern. Derartige Neuerungen wurden zunächst von flandrischen und oberdeutschen Kaufleuten übernommen. Außerdem machten sich zahlreiche Kaufleute, so Ulman Stromer, für den eigenen Gebrauch Notizen über Gewichte, Maße, Zölle, Abgaben oder Gebühren beispielsweise für Unterkäufer, für das Packen der Ballen, das Füllen der Fässer oder die Benutzung der Waage und über die lokalen Münzverhältnisse sowie sonstige Besonderheiten an den jeweiligen Handelsorten, ebenso über Transportkosten und Zölle auf den Handelsrouten. Solche Spezialkenntnisse wurden höchstens im Rahmen einer Handelsgesellschaft weitergegeben, potenzielle Konkurrenten sollten gewiss nicht daran partizipieren. Selbst Handlungsgehilfen und in Ausbildung befindliche junge Kaufleute waren schon angewiesen, derartige Informationen schriftlich zu fixieren. Während des 16. Jahrhunderts notierten die Kaufleute in ihren Briefen neben Details zu ihrer Handelstätigkeit zunehmend auch politische Ereignisse, Naturkatastrophen sowie weitere Geschehnisse, welche den Handel befördern oder beeinträchtigen konnten. Lorenz Meder, der 1558 sein Handelsbuch als Lehran­ weisung drucken ließ, schilderte seine Intention wie folgt: 305

Spätmittelalter

„In hoffnung, diese meine mühe und fürgenommene arbeyt, werde menigklichen, sonderlich aber denen, so lust zu arithmetischen künsten haben, zum fordersten aber, den grossen hendlern und kaufleuten behilflich und gefellig sein. Dann dises buch, gleich wie ein register, handbuch, wegweyser, und anleytung ist, in alle hendel, kauf und rechenschaften, etc. Dann es zeyget und lehret was der gebrauch, nit allein in teutschen, sonder auch aller anderer lender, jarmärckten, und handlen seye, was für unkosten auf jede wahren gehen, wie sich allerley müntzen, eln, massen, gewichten etc. gegen einander vergleychen: Mit allerley vortheylen in wechseln, und was dergleychen stücken mehr sind …“168

Die Verlässlichkeit seiner Angaben unterliegt jedoch nicht unerheblichen Zweifeln. Wachstafeln oder Kerbhölzer unterstützten die kurzfristige ­Erinnerung, bevor die Buchungen in einem der Geschäftsbücher erfolgten. Ansonsten fanden Kerbhölzer, von denen Käufer und Verkäufer jeweils ein Exemplar behielten, beim alltäglichen Einkauf bei Bäckern, Metzgern und anderen Handwerkern breite Verwendung. Die Rationalisierung des Geschäftsbetriebs durch die Schriftlichkeit, der Einsatz von Faktoren im Süden, die noch zu thematisierende Widerlegung im Norden und ein raumübergreifender Handel mit Geschäftspartnern quer durch Europa bildeten entscheidende Voraussetzungen für die Entwicklung der Hanse und der oberdeutschen Handelsgesellschaften. Die um 1400 unzweifelhaft bekannten arabischen Ziffern setzten sich hingegen nur zögerlich durch. Dafür lagen durchaus rationale Gründe vor: Die arabischen Ziffern passten schlecht zu den nicht dezimalen Münz- und Gewichtssystemen, die zumeist auf einer duodezimalen Basis beruhten, und die „Null“, den römischen Zahlzeichen fremd, war vorerst gleichfalls schwierig zu vermitteln. Weiterhin galten die arabischen Ziffern – aus welchen Gründen auch immer – als weniger fälschungssicher als die römischen, und schließlich erwiesen sie sich angesichts der verbreiteten Gewohnheiten zunächst noch nicht einmal als sonderlich praktisch. Denn alle vier Grundrechenarten konnten relativ problemlos auf dem Rechenbrett (Abakus) durchgeführt werden, und jedem Rechenstein auf dem Rechenbrett entsprach exakt eine römische Ziffer, was die Übertragung erleichterte. Auch konnten mehrere Personen den Rechenvorgang verfolgen, was die Rechnungsprüfung wesentlich vereinfachte und die Fehler minimierte. Geradezu von dem Auslöser einer media168 Kellenbenz, Hermann (Hg.): Das Meder’sche Handelsbuch und die Welser’schen Nachträge, Wiesbaden 1974, S. 125.

306

Handel

len Revolution lässt sich dann sprechen, als Johannes Gutenberg um 1460 bereits zuvor bekannte Einzelelemente zum Buchdruck mit beweglichen Lettern zusammenfügte und diese neue Methode rasche Verbreitung fand. Für die Entstehung einer nun deutlich breiteren Öffentlichkeit spielten sicherlich Einblattdrucke und Flugschriften, auch Kalender eine wesentlich wichtigere Rolle als ­Bücher, die zunächst noch teuer blieben und nur begrenzte Verbreitung f­ anden.169 Die neue Technik begünstigte bald darauf die Verbreitung der Reformation schon durch die Produktion zahlreicher Druckschriften ­vornehmlich aus der Feder Martin Luthers, aber auch oberdeutscher Reformatoren; Jan Hus oder John Wyclif hatten ein derartiges Medium eben noch nicht nutzen können. In Oberdeutschland entstanden wohl schon im späten 13.  Jahrhundert erste, auf wenige Jahre ausgelegte Handelsgesellschaften; vornehmlich zur Risikominimierung verteilten die Kaufleute ihre Einlagen auf mehrere Geschäfte. Derartige Gesellschaften rechneten in der Regel nicht jährlich ab, sondern nach zwei oder drei Jahren, vielfach auch erst am Ende der vereinbarten längeren Laufzeit. Im Falle der – durchaus nicht seltenen – Fortführung der Gesellschaft musste ein neuer Vertrag geschlossen werden. Verbreitung fanden auch Familiengesellschaften. Beispielsweise gründeten vier miteinander verwandte Nürnberger Holzschuher um 1300 eine Gesellschaft, die u. a. mit Rauchwaren und Tuchen handelte, wobei aufgrund der dünnen Überlieferung nur gelegentliche Einblicke in ihre Aktivitäten möglich sind. Bei Eichhörnchenfellen etwa handelte es sich um eine vergleichsweise preiswerte Massenware, welche die Händler in hohen Stückzahlen umsetzten, während die Felle von Hermelin, Marder oder Zobel zu den Luxuswaren zählten. Eine weitere bekannte Nürnberger Firma waren die Stromer-Ortlieb: Noch vor 1336 engagierten sich die Stromer im oberpfälzischen Montanrevier, um spätestens nach der Mitte des 14.  Jahrhunderts europaweite Handelsaktivitäten zu entfalten, so in Venedig, Mailand, Ofen, Lyon, Breslau und den Niederen Landen. Sie beteiligten sich an der Finanzierung der römisch-deutschen Könige und tätigten hochriskante Wechselgeschäfte. Ulman Stromer erwähnte für die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert als wichtige Handelsplätze der Firma explizit Brügge, Barcelona, Krakau, dazu Asow am Schwarzen Meer sowie die Städte an der Donau. 169 Wolfgang Hess: Rechnung Legen auf Linien. Rechenbrett und Zahltisch in der Verwaltungspraxis in Mittelalter und Neuzeit, in: Maschke/Sydow (Hg.): Städtisches Haushalts- und Rechnungswesen, S. 69–82. Michael North: Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 59), München 2000, S. 5.

307

Spätmittelalter

Als charakteristisch für derartige Gesellschaftsbildungen wird die gesamtschuldnerische Haftung aller Gesellschafter unter Einschluss von deren Privatvermögen gewertet. Durch die im Namen der Gesellschaft getätigten Geschäftsabschlüsse der beteiligten Kaufleute konstituierten sie rechtlich ein Außenverhältnis, was sie zu Vorformen einer Offenen Handelsgesellschaft werden ließ.170 Dass sich derart Gesellschaften quasi zu ­eigenen Rechtspersonen entwickelten, markiert einen höchst bedeutsamen Entwicklungsschritt. Für nicht geschäftlich aktive Teilhaber beschränkte ein 1464 im Namen Friedrichs III. ausgestelltes und an den Nürnberger Rat übergebenes Privileg die Haftung, hierin eventuell dem Florentiner Vorbild folgend. Ob die Fern- oder Großkaufleute auch im Detailhandel, beispielsweise im Gewandschnitt, tätig sein durften, erfuhr in den Städten unterschiedliche Regelungen. Zumindest bei Abwesenheit der Kaufleute führten, wie zahlreiche Hinweise nahelegen, ihre Ehefrauen die Geschäfte. Diese Praxis zeigt eindeutig, dass sie über ausreichende Kenntnisse des ­Geschäftslebens verfügt haben müssen, selbst wenn sie in der Öffentlichkeit zurückstanden. Der selbstständige Handel oder eine eigenständige Geschäftstätigkeit der Frauen ist ebenso belegt wie ihre Funktion als Rentenkäuferinnen, ohne dass – wie fälschlich oft zu lesen ist – ein männlicher Rechtsbeistand Erwähnung finden musste.171 Im 13. Jahrhundert veränderte sich das Ansehen des Kaufmanns, den die Kirchenväter noch allesamt verurteilt hatten, da die Wurzel aller Handelstätigkeit aus ihrer Sicht in der Habgier, einer Todsünde, lag. Der Kaufmann müsse daher lügen, täuschen, übervorteilen und betrügen, was grundsätzlich sein Seelenheil gefährde. Auch seien die sozialen Effekte des Handels katastrophal, so die Argumentation der teilweise wirkungsmächtigen Autoritäten. Da verwundert es nicht, dass sich der Wanderhändler noch prinzipiell dem Vorwurf ausgesetzt sah, ein Räuber oder Seeräuber zu sein. Nun aber gewann sukzessive die Vorstellung an Boden, dass ein Kaufmann Handel treibe, um seine Familie zu ernähren oder um Almosen überhaupt verteilen zu können. Der Handelsgewinn konnte durch die Transportkosten, die Veredelung, die Lagerkosten und das Transportrisiko legitimiert werden, 170 Mechthild Isenmann/Eberhard Isenmann: Das Innenverhältnis einer spätmittelalterlichen Handelsgesellschaft und die Ausweitung interner Konflikte – Hans Arzt und Gesellschaft, Anton Paumgartner und die Reichsstadt Nürnberg (1447–1471), in: VSWG 101 (2014), S. 432–487, hier S. 440–444. 171 Bernd Fuhrmann: Rentenverkäufe der Stadt Nürnberg während des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Hamburg 2016.

308

Handel

und schließlich schaffte der Kaufmann Waren über teilweise lange Distanzen in Regionen, wo sie benötigt wurden. Für den weit überwiegenden Teil der spätmittelalterlichen, vorkapitalistischen Kaufleute bilanziert Franz ­Irsigler auch gewiss zu Recht: „Es gab zweifellos so etwas wie das Gefühl für das rechte Maß …“172 Allerdings blieb ein theoretisches wie praktisches Problem im Spätmittelalter ungelöst, nämlich die Verurteilung des Wuchers und die Unmöglichkeit einer Grenzziehung zwischen Wucher und legitimem Gewinn. Die Theologen malten weiterhin das grausame Schicksal des Wucherers in der Hölle in grellsten Farben aus. Letztlich verschärften die kirchlichen Lehren allerdings nur die schon aus der – von der Kirche abgelehnten – heidnischen Antike bekannten Vorstellungen und übernahmen vornehmlich deren Einschätzung von der Unfruchtbarkeit des Geldes. Was aber verstand die Kirche unter Wucher? Noch das Dekret des Bologneser Rechtsgelehrten Gratian von 1140 – und seine Gesetzessammlung bildete die Grundlage des Kirchenrechts bis ins Jahr 1917 – schloss sich der Definition einer Nimwegener Synode von 896 an, wonach dann gewuchert werde, wenn jemand mehr zurückforderte, als er gegeben hatte. Diese Bestimmung konnte nicht nur auf Gelddarlehen, sondern analog auf jede Art von Profit, also gleichfalls auf Handels- und Pachtgewinne, angewendet werden. Im 13. und 14. Jahrhundert änderten sich diese Vorstellungen nach und nach; Gewinne und Zinsen fanden aus verschiedenen Gründen Gnade vor den Augen der kirchlichen Autoritäten. Als legitimer Grund galt zunächst der Schaden aus einer verspäteten Rückzahlung des Darlehens, ebenso sonstiger entgangener Gewinn, da der Gläubiger für die Laufzeit des Kredits ja auf andere einträgliche Geschäfte verzichtete, weiterhin das Risiko einer Teil- oder Nichtrückzahlung, verschärft durch die allgegenwärtigen Münzverschlechterungen, die Unsicherheit, ob überhaupt ein Profit erzielt werden könne, und schließlich die Entschädigung für entstandene Kosten sowie Arbeit. Alles andere galt kirchenrechtlich weiterhin zumindest tendenziell als Wucher. Was allerdings Kirchen und Klöster nicht daran hinderte, sich entgegen allen klerikalen Theorien in großem Umfang am spätmittelalterlichen Kreditgeschäft zu beteiligen, und dies nicht nur in ländlichen Regionen. An dieser Stelle setzt die von Jacques Le Goff vorgelegte These an, wonach weniger die Entstehung, aber doch die weite Verbreitung der Vorstellung vom 172 Franz Irsigler, Kaufmannsmentalität im Mittelalter, in: Cord Meckseper/Elisabeth Schraut (Hg.), Mentalität und Alltag im Mittelalter, Göttingen 1985, S. 53–75, hier S. 62.

309

Spätmittelalter

Fegefeuer begründet liegt in der Angst des Kaufmanns vor der Hölle und in seiner Suche nach einem möglichen Ausweg. Denn das Fegefeuer als zeitlich begrenzte Strafe minimierte das Risiko. Erst jetzt gewann der Ablass an Bedeutung, konnten doch die Jahrhunderte und Jahrtausende im Purgatorium durch Spenden, fromme Werke oder eben den käuflichen Erwerb von Ablässen entscheidend verkürzt werden. Zahlreiche Firmen oder Handelshäuser, selbstverständlich wiederum zunächst in Oberitalien, führten schließlich ein eigenes Konto für den Herrgott, und über dieses floss ein Teil des Gewinns beispielsweise in Form von Almosen an weniger Begüterte; ebenso galten Hospitalstiftungen und ähnliche Dotationen als ausgesprochen fromme Werke. Des Weiteren wurde durchaus spitzfindig argumentiert, dass Gott auf seinen Teilgewinn eben nicht verzichte, da beispielsweise die Almosen dankend angenommen wurden, und somit müsse die Geschäftspraxis gleichfalls lauter sein – ein himmlisches Donnerwetter war jedenfalls nicht gefolgt. ­Allerdings konnten umfangreiche Stiftungen wie im Fall des Nürnbergers Konrad Groß, der neben einer bedeutenden Spitalfundierung (Heilig-GeistSpital) weitere Dotationen tätigte, zu einem erbitterten, 1349 durch Schiedsleute beigelegten Erbschaftsstreit mit den eigenen Söhnen führen, die angesichts einer solchen Freigiebigkeit um ihr Erbe fürchteten. Dennoch blieb die Grenze zwischen Wucher und gerechtem Zinssatz oder Rentenfuß fließend und gestaltete sich die Suche nach dem gerechten Preis gleichfalls ausgesprochen schwierig. Der gerechte Preis musste nach Auffassung der Scholastiker dem „Wert“ des erworbenen Gegenstandes entsprechen, doch der jeweilige Wert bildete in ihrem Verständnis eine zeitbeständige Eigenschaft, musste also seit der von ihnen vorausgesetzten Schöpfung fix geblieben sein. Dies bedingte seltsame und unlösbare Spekulationen etwa darüber, warum der Preis einer Perle so hoch sei, während eine Maus offenbar gar keinen habe. Als problematisch für das scholastische Gedankengebäude erwies sich, dass die Maus in der Schöpfungsfolge zeitlich nach der Perle geschaffen worden war und ihr schon deswegen ein höherer Preis hätte zukommen müssen. Erst Thomas von Aquin führte mit der Kategorie des Nutzens eine neue Wertbestimmung ein, die das klassische Bild ansatzweise aufweichte. Auch ein Petrus Johannis Olivi zielte auf die Rechtfertigung kaufmännischen Gewinns, was auf ein breiteres Umdenken hindeutet.173 Aber selbst so vermochte man nicht zu erklären, 173 Michael Wolff: Mehrwert und Impetus bei Petrus Johannis Olivi. Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen im späten Mittelalter, in: Jürgen

310

Handel

warum ein Edelstein so viel wertvoller sein solle als ein Stück Brot oder ein anderes für die menschliche Bedürfnisbefriedigung unentbehrliches Gut. In der Realität erwiesen sich derartige Spekulationen ohnehin als kaum brauchbar, und bis ins 15. Jahrhundert verlor auch die thomistische Lehre nach und nach an Bedeutung. Der gerechte Preis blieb dagegen eine Handlungsmaxime. Auf dieser Basis ließ sich etwa der Fürkauf oder Kauf auf dem Halm verbieten, also der Kauf von Getreide, aber auch von Wein weit vor der Ernte. Für Thomas von Aquin blieb trotz aller seiner Überlegungen das Geld „das Weltliche in seiner bösesten und korruptesten Form“.174 1425 erfolgte schließlich kirchenrechtlich mit der Bulle Regimini universalis Papst Martins V. die Legitimation des Rückkaufs von Renten, und damit von Kreditgeschäften, durch die Papstkirche. Vermutlich misst die Forschung jedoch allen diesen gelehrten Spekulationen und Theorien zu viel Bedeutung bei, da derartige Traktate oder Schriften ohnehin nur handschriftlich und in gelehrtem Latein in geringer Zahl zirkulierten. Von der weit überwiegenden Mehrheit nicht nur der Kaufleute dürften sie kaum rezipiert worden sein. Für diese besaßen vermutlich biblische Gleichnisse zum Verhältnis von Reichtum und Armut oder zur Almosenvergabe eine wesentlich höhere Bedeutung. Im Alltag dominierten freilich Kleinkredite, auch wurden Dienstleistungen oder Warenlieferungen mit zeitlicher Verzögerung bezahlt. So war es selbst bei vermögenden Kaufleuten oder Adligen eine übliche Praxis, mit Bäckern, Metzgern oder Kleinhändlern, aber auch mit Schlossern, (Huf-)Schmieden sowie anderen Handwerkern nur an einigen wenigen Terminen im Jahr abzurechnen. Damit mussten die kleinen Händler oder Handwerker oftmals monatelang und gelegentlich noch viel länger auf die Begleichung ihrer Außenstände warten, konnten sich aber wohl kaum gegen diese Vorgehensweise wehren, wollten sie die potenziell zahlungskräftigen Kunden nicht verlieren. Eine solche Praxis ist für viele Länder Europas zumindest noch für das 18. Jahrhundert überliefert.175 Der Nürnberger Nikolaus Muffel begleitete Friedrich III. als Gesandter der Stadt auf seiner Reise zur Kaiserkrönung nach Rom – die seit dem ­frühen 15.  Jahrhundert in Nürnberg aufbewahrten, kostbaren Reichs­

Miethke/Klaus Schreiner (Hg.): Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S.  413–423. Vgl. Karl Pribram: Geschichte des ökonomischen Denkens, Bd. 1, Frankfurt/M. 1992, S. 21–85. 174 Helmut Feld: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, S. 157. 175 Zur Frühen Neuzeit vgl. Beate Sturm: „wat ich schuldich war“. Privatkredit im frühneuzeitlichen Hannover (VSWG Beihefte, 208), Stuttgart 2009.

311

Spätmittelalter

kleinodien durfte der stets von Finanzsorgen geplagte Herrscher eben nur kurze Zeit und unter nürnbergischer Aufsicht tragen. In seinen Aufzeichnungen zu diesem Rombesuch listete er penibel die möglicherweise zu erwerbenden Ablässe in der Heiligen Stadt auf: Tausende und Abertausende von erlassenen Jahren im Fegefeuer sowie diverse Teilerlasse von Sünden fanden so ihren schriftlichen Niederschlag. Nur gelegentlich scheint das Misstrauen des Verfassers angesichts der zahlreichen Heiltümer durch, beispielsweise bei einer Säule, an der Marias Bett gestanden haben soll. In einer weiteren Kapelle des Laterans konnten immerhin 3000 Jahre Ablass sowie die Vergebung eines Drittels der Sünden erworben werden; Frauen blieb der Zugang zu dieser Kapelle jedoch verwehrt. Am Altar mit den Häuptern der Apostel Petrus und Paulus summierte sich der Ablass bei deren Weisung auf 7000 Jahre für Römer, 10 000 für die übrigen Italiener und 14 000 Jahre für Besucher von jenseits des Gebirges, also von nördlich der Alpen; dazu kamen ebenso viele 40-tägige Fastenzeiten sowie erneut die Vergebung eines Drittels der Sünden.176 Zwar ist eine derartig enge Verquickung von weltlicher und geistlicher Sphäre wie in dieser Ablass-Buchführung für uns heute kaum mehr vorstellbar, doch sollte die theoretische Grundlage für ihre striktere Trennung erst die Aufklärung im 18.  Jahrhundert mit ihrem ausgesprochen negativen Mittelalterbild legen: „So hoch Kants Verdienste um eine kritische Philosophie waren, war er wie seine Mitstreiter in Lebensformen, Kunstverständnis und Geschichtskenntnis ein Kind seiner Zeit, und die kannte vom Mittelalter nicht nur nichts, ­sondern wollte von ihm auch nichts wissen.“177 Während des 15. Jahrhunderts sanken die Zinssätze für wiederkäufliche Renten auf breiter Front, aber nicht im gesamten Reichsgebiet einheitlich, auf einen Wert von fünf Prozent (1:20) und darunter. Allerdings setzten sich Prozentangaben in der Praxis nur langsam durch, die Nürnberger Rentenüberlieferung enthält eine solche Angabe erstmals im Jahr 1547; dies bildete einen Schritt auf dem Weg zur Etablierung der Dezimalrechnung und der Null. Vor dem Hintergrund sinkender Zinssätze versuchte beispielsweise der Nürnberger Rat seit etwa 1470, eine relativ konsequente Umschuldungspolitik hin zu Krediten mit geringeren Zinssätzen zu betreiben – die Themenkomplexe Stadtfinanzen und Kreditwesen werden an späterer Stelle noch ausführlich behandelt. In Nürnberg wurde in diesen Jahrzehnten bei 176 Nikolaus Muffels Beschreibung der Stadt Rom, hg. v. Wilhelm Vogt, Tübingen 1876. 177 Fried: Mittelalter, S. 543.

312

Handel

Ewigrenten, also rückkaufbaren und handelbaren Rentenverschreibungen, ein Zinssatz von vier Prozent zur Regel, während der Satz in Lübeck und Hamburg bei etwa sechs Prozent lag. Die lange bevorzugten, in der Regel doppelt so hoch verzinsten Leibrenten, die den zweiten Grundtyp solcher Rentenverkäufe als Instrumente der Kreditaufnahme darstellten, traten seit der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts zunehmend in den Hintergrund, um im 16. fast gänzlich zu verschwinden. Zuvor dürfte diese Kreditform lange als die sicherere Variante eingeschätzt worden sein – sterben musste schließlich jeder. Bei Leibrenten mussten nämlich nach dem Tod des Rentenbeziehers keinerlei Zahlungen mehr geleistet werden, eine Rückzahlung der Kaufsumme fand gleichfalls nicht statt. Der fünfprozentige Zinssatz fand dann auch in der Ordnung des Gemeinen Pfennigs von 1495 zur Errechnung von Kapitalvermögen Verwendung und wurde 1530 als Obergrenze in der Reichspoliceyordnung festgeschrieben. Die Reformatoren bewerteten ihn gleichfalls nicht a priori als wucherisch, sondern als legitimen Höchstwert. Endlich ließen sich Zins und Wucher präziser trennen, wenngleich auch diese Obergrenze in der Praxis keinen Bestand hatte. Derselbe Satz sollte noch im Jahr 1900 Eingang in das Bürgerliche Gesetzbuch finden, seine Streichung erfolgte erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Der schändliche Gewinn, turpe lucrum, als das Pendant zum erlaubten Gewinn entzog sich lange Zeit gleichfalls der genauen Definition und konnte von der Geldgier bis hin zu Spekulationsgewinnen unter Ausnutzung einer Notlage des Käufers oder Verkäufers fast alles umfassen. Besonders hartnäckig hielt sich das Spekulationsverbot von 806: „Wer zur Zeit der Ernte Korn oder Wein, nicht etwa zur Selbstversorgung, sondern aus Habgier, aufkauft und später teuer verkauft, der erzielt einen schändlichen Gewinn“, war seinerzeit formuliert worden. Tatsächlich begegnen solche – später übrigens auch von der Kurie in Avignon betriebenen – Spekulationsgeschäfte am häufigsten bei Getreide und Wein; beim Getreide galt der Kauf auf dem Halm als genauso verwerflich. Das Verbot bezog sich noch im Spätmittelalter theoretisch auf jede Art der Ausnutzung von zeitlichen Preisunterschieden, während die karolingische Vorschrift auf Notzeiten beschränkt gewesen war.178 Allerdings hatten die Verfasser der 178 Vgl. u. a. Bettina Emmerich: Geiz und Gerechtigkeit. Ökonomisches Denken im frühen Mittelalter (VSWG Beihefte, 168), Stuttgart 2004. Harald Siems: Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen (MGH-Schriften, 35), Hannover 1992. Reiner Franke: Die Entwicklung des (Darlehens-)Zinses in Frankreich. Eine rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Unter-

313

Spätmittelalter

karolingischen Wucherverbote vor allem die großen Grundherrschaften der geistlichen und weltlichen Herren mit ihren Möglichkeiten der Bevorratung und des späteren Verkaufs von Getreide oder anderen Naturalien in Regionen mit Ernteausfällen im Blick gehabt. Doch zurück zum Handel: Peter Spufford spricht vom 13.  Jahrhundert als dem Jahrhundert der Handelsrevolution, deren Hauptursache er in der Nachfrage einer zahlenmäßig großen Einwohnerschaft und einer wohlhabenden Oberschicht in den Hauptstädten Europas – ein zweifellos noch ausgesprochen problematischer Begriff – und den sonstigen urbanen Zentren sieht.179 Die von den Städten ausgehende Nachfrage führte seitdem zu einem ausgedehnten Handel mit Massen- und Luxusgütern. Für die Bedürfnisse der großen Städte stellten Handwerker zunächst in den gewerblichen Zentren Oberitaliens und der südlichen Niederen Lande, später in Oberdeutschland, in den Städten am Rhein und weiteren exportorientierten Kommunen gefragte Waren her, während der hansische Küstenbereich eigene Strukturen ausbildete. Nicht zu vernachlässigen als für die Handelsintensivierung förderliche Faktoren sind die Ausweitung der Geldwirtschaft und die Erschließung neuer Edelmetallgruben. Zahlreiche Städte verboten allerdings den Direkthandel fremder Kaufleute untereinander ebenso wie deren Handel mit den stadtsässigen Händlern. Deshalb mussten die Händler vielfach Unterkäufer oder Makler gegen die zwangsweise Zahlung von Gebühren zur Geschäftsvermittlung heranziehen; teilweise bestätigten die Vermittler zudem den Geschäftsabschluss. Verstärkt seit dem 15. Jahrhundert lässt sich vor allem für hochpreisige Importwaren wie Gewürze eine öffentliche Schau erkennen, die von den Kommunen nach und nach auf weitere Warengruppen ausgedehnt wurde. Derart garantierten die Städte nunmehr die Qualität dieser Waren, wie dies zuvor beispielsweise schon für innerhalb der Mauern hergestellte Tuche der Fall gewesen war. Der oberdeutsche Fernhandel konzentrierte sich vermutlich zunächst auf Italien sowie auf Mittel- und Osteuropa, die wichtigste Fernhandelsstadt der Region war im 13. und frühen 14. Jahrhundert Regensburg. Die Stadt lag verkehrsgünstig an der Donau als einem wichtigen Verbindungsweg nach Südosten; über den Inn oder entlang seines Flusslaufes konnten die Alpen und Oberitalien erreicht werden. Schon im 11. Jahrhundert erwarben Regensburger Kaufleute südlich des Alpenhauptkamms Waren

suchung von der kanonischen Usuralehre des 13. Jahrhunderts bis zur Französischen Revolution (Studien zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse des Rechts, 256), Berlin 1996. 179 Spufford: Handel, S. 45–104.

314

Handel

und bezogen überwiegend aus Venedig oberitalienische und orientalische Produkte, welche sie weiträumig absetzten. Während der zweiten Hälfte des 13.  Jahrhunderts erhielten die Regensburger in Ungarn Privilegien. Ihren zunehmenden Reichtum demonstrierten die Kaufleute mit mächtigen Wohntürmen, die oberitalienischen Vorbildern folgten; in Deutschland sind derartige Bauwerke in größerer Zahl nur in Regensburg erhalten geblieben. Für den Handel mit Nordwesteuropa, also mit den Rheinlanden, den Niederen Landen, Flandern und England liegen für das 12. Jahrhundert sichere Quellen vor; dazu traten später als bedeutende Handelsorte Prag und Breslau. Über das schlesische Breslau verliefen im Spätmittelalter bei steigenden Umsätzen wichtige Handelsstraßen aus Westeuropa weiter in Richtung Krakau und Lemberg: Krakau als „Hauptstadt“ des seit 1320 erneuerten Königreichs Polen erlebte seit dem 14. Jahrhundert einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung, der Stadt kam beispielsweise im Handel mit Kupfer aus der Slowakei in den Norden und den Nordwesten eine bedeutende Rolle zu. Seine führende politische Rolle verlor Krakau erst im Verlauf des 16. Jahrhunderts an Warschau. Allerdings schlugen die Regensburger Kaufleute im Transithandel in erster Linie fremde Waren um, weniger die Produkte der eigenen Stadt (Tuche), was sich in Verbindung mit anderen Faktoren wie schweren inneren Unruhen in den 1330erJahren, die mit dem Abzug etlicher vermögender Fernhändler einhergingen, dauerhaft nachteilig auswirken sollte.

Augsburg und Nürnberg Augsburg dagegen bediente im 13.  Jahrhundert in erster Linie noch die Nachbargebiete, eine gewisse Exportorientierung ist höchstens für die lederverarbeitenden Gewerbe und Teile der Tuchherstellung feststellbar. Bei eindeutiger Dominanz des Textilsektors behielten diese beiden Sektoren im weiteren Verlauf ihre Vorrangstellung bei. Augsburger Kaufleute besuchten möglicherweise schon im 13. Jahrhundert die Champagnemessen oder erwarben in Köln Produkte aus dem Nordwesten des Kontinents, wobei das Handelsvolumen wohl vorerst selbst noch hinter dem Münchens rangierte. Gleichfalls im 13. Jahrhundert sind Angehörige von Augsburger Familien wie Lang, Langenmantel oder Lauginger im Handel mit dem Münchener und dem Tiroler Hof belegt. Während des 14.  Jahrhunderts entwickelte sich der Augsburger Handel dann europaweit. So finden sich Fernhändler der Stadt seit 1333 im Fondaco dei Tedeschi, und nach der 315

Spätmittelalter

Mitte des 15. Jahrhunderts gilt für Jahrzehnte die Verbindung von Metallkontrakten mit Kreditgeschäften als Kennzeichen der großen augsburgischen Handelshäuser und Handelsgesellschaften. Entsprechend waren die Augsburger Kaufleute von der Zahlungseinstellung der spanischen und der französischen Krone nach der Mitte des 16. Jahrhunderts ungleich schwerer betroffen als die Nürnberger. Doch konnte sich anschließend eine neue Firmengeneration etablieren, die wieder stärker auf den Warenhandel setzte und den Umfang der Geldgeschäfte reduzierte. Allerdings müssen unterschiedliche Ausrichtungen der Handelshäuser berücksichtigt werden: Die Fugger unter der Leitung Jakob Fuggers des Reichen (1459–1525) und seines Neffen Anton Fugger (1493–1560) agierten vor allem als Montan- und Bankunternehmen, während die Welser bzw. zunächst die Welser-VöhlinGesellschaft mit ihren Geschäftssitzen in Augsburg und Memmingen sich nach Ausweis der Rechnungsfragmente stärker auf den Fernhandel mit Massengütern, besonders mit Barchent, englischen und niederländischen Tuchen, italienischen Samt- und Seidenstoffen, sowie auf den Handel mit Zucker, Pfeffer, Safran, Pastell oder Seife konzentrierten und die Wechselund Geldgeschäfte nur eine Säule ihrer Aktivitäten bildeten.180 Auf eine politische Führungsrolle, sei es im Schwäbischen Städtebund oder anderweitig, verzichtete Augsburg, denn für einen ungestörten Handel war ein zumindest neutrales Verhältnis zu den benachbarten Bayernherzögen schlicht zu wichtig. Besonders bei den Fuggern trafen im 16.  Jahrhundert viele zukunfts­ weisende Elemente zusammen, so die Einbeziehung der Neuen Welt, das Ausgreifen nach Asien und frühkapitalistische Produktions- sowie Geschäftsweisen. Bei der Übersiedlung des Webers Hans Fugger 1367 nach Augsburg – nach späterer Überlieferung stammte die Familie aus einem südlich von Augsburg gelegenen Dorf namens Graben – war der weitere Weg freilich noch nicht vorgezeichnet. Zwar rangierte Hans Fugger 1396 mit einem versteuerten Vermögen von 1 806 Gulden an vierzigster Stelle 180 Lengle: Handel, S.  169. Kießling: Augsburgs Wirtschaft, passim. Rolf Kießling: Der Augsburger Handel und die Wallfahrt nach Compostela. Ökonomische Voraussetzungen und die Kulturtopographie der Stadt, in: Klaus Herbers/Peter Rückert (Hg.): Augsburger Netzwerke zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wirtschaft, Kultur und Pilgerfahrten, Tübingen 2009, S. 7–34, hier S. 13. Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts (Colloquia Augustana, 9), Berlin 1998. Rechnungsfragmente der Augsburger Welser-Gesellschaft (1496–1551). Oberdeutscher Fernhandel am Beginn der neuzeitlichen Weltwirtschaft, hg. u. eingel. v. Peter Geffcken/Mark Häberlein (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit, XXII), Stuttgart 2014, S. XXIII f.

316

Handel

der Augsburger Bürger, jedoch mit beträchtlichem Abstand zu den größten Vermögen. Am Webstuhl kann er dieses Geld nicht verdient haben, wahrscheinlich engagierte er sich bereits im Barchentverlag. Nach seinem Tod 1408 führte seine Witwe Elisabeth die Geschäfte weiter, unterstützt von ihren Söhnen Endres und Jakob. 1448 versteuerten die Brüder immerhin 10 800 Gulden, und das nunmehr fünftgrößte Vermögen in der Stadt lässt auf florierende Geschäfte schließen. Bei beiden lassen Indizien zudem Aktivitäten als Fernhändler vermuten. Unter den Erben von Endres Fugger, den Fugger zum Reh, fallierte ­dieser Familienzweig nach einem von König Maximilian nicht zurückgezahlten Kredit sowie der Zahlungsunfähigkeit einer weiteren Firma. Auf Dauer als erfolgreicher erwiesen sich Jakob Fugger der Ältere und später seine Witwe Barbara Bäsinger, die sogar noch einen Teil des Familienvermögens kontrollierte, als ihre Söhne erwachsen waren; ihre Hinterlassenschaft summierte sich auf 23 000 Gulden. Ulrich, Georg und Jakob versteuerten 1492 jeweils knapp 17 000, 14 000 und 11 000 Gulden, doch lassen sich diese Zahlen nur aus den Steuerbüchern rekonstruieren, denn die familien­ eigenen Aufzeichnungen schweigen fast gänzlich darüber. Das wichtigste Standbein dürfte noch der Barchentverlag gewesen sein. Von den Brüdern wirkte Ulrich in Augsburg, Georg bediente von Nürnberg aus den mittelsowie den ostdeutschen Raum, und Jakob betätigte sich zwischen der Heimatstadt und Venedig. Auf diese Weise konnten die Handelsnetze mehrerer Kommunen zugleich genutzt werden. Sukzessive erfolgte zudem der Einstieg in den Geldhandel. Heiraten in die führenden Familien der Stadt begleiteten den wirtschaftlichen Aufschwung, die sozialen Netze verdichteten sich. Allerdings blieben ihnen als Aufsteiger die wichtigsten Ämter im Stadtregiment verschlossen oder sie wurden gar nicht angestrebt. Einen neuen Gesellschaftsvertrag über sechs Jahre schlossen die Brüder 1500, drangen nochmals verstärkt in den slowakischen (seinerzeit ungarischen) Bergbau ein und intensivierten den dortigen Handel. Jakob, 1459 als zehntes von elf Kindern geboren, leitete nach dem Tod von Georg (1506) und Ulrich (1510) die Gesellschaft alleine. Seinen Beinamen „der Reiche“ rechtfertigte ein versteuertes Vermögen von 258 400 Gulden, womit seine auswärtigen Besitzungen noch kaum erfasst sein dürften. Diese Summe des Jahres 1510 ist die letzte bekannte, denn Jakob vereinbarte mit der Stadt, hinfort unabhängig von der Vermögensentwicklung eine fixierte Steuerpauschale zu zahlen. In der Folge zahlte er die Töchter seiner Brüder ebenso aus wie einen in den geistlichen Stand eingetretenen Sohn. Dagegen 317

Spätmittelalter

nahm er seine vier Neffen in die Gesellschaft auf, zielte derart auf eine Beschränkung der Teilhaber auf männliche Erben, um den Kreis der Gesellschafter auf die Kernfamilien der Brüder zu begrenzen; allerdings verpflichtete er sie zu Gehorsam ihm gegenüber. Als wichtig erwies sich im Nachhinein eine bereits 1485 getroffene Entscheidung: Die Fugger streckten Erzherzog Sigismund von Tirol Mittel vor, die sich sukzessive addierten, während Zinsen und weitere Zahlungen mit Silber aus den Bergwerken Tirols zu begleichen waren. Als der völlig ­verschuldete Erzherzog 1490 zugunsten König Maximilians abdankte, erkannte dieser wohl aufgrund schon bestehender Geschäftsbeziehungen dessen Schulden bei den Fuggern an und nahm seinerseits bei ihnen hohe Kredite auf, die er weiterhin aus den Silberbergwerken mit ihrer wachsenden Förderung bedienen ließ. Zudem stiegen die Fugger mit ihrem Geschäftszentrum in Schwaz in das Kupfergeschäft ein. Nur mit Eigenkapital konnten selbst die Fugger die Summen nicht mehr stemmen und mussten festverzinsliches Fremdkapital aufnehmen. Im zeitlichen Umfeld des Bauernkriegs erhoben sich allerdings 1525 die Schwazer Knappen und wandten sich gegen die dominanten fremden Firmen, bevor sich die Unruhen auf weitere Teile Tirols ausweiteten. Nicht zuletzt warfen die Bergleute den Oberdeutschen vor, ihre Löhne zumindest teilweise in überteuerten Waren auszubezahlen, quasi wie in Köln eine Vorwegnahme des berüchtigten englischen Trucksystems des 19. Jahrhunderts. Forderungen nach Enteignung und Vergesellschaftung der Gruben wurden gleichfalls laut. Bei den Fuggern kamen derweil als neue Betätigungsfelder Geldgeschäfte mit der Kurie und der Einstieg in den von Rom intensivierten Ablasshandel hinzu, doch dürften die Gewinnspannen in diesen Geschäften deutlich unter denen im Montansektor gelegen haben. Im slowakischen Bergbau benötigten die dort schon länger aktiven Thurzo, die über enge Kontakte zum ungarischen Hof verfügten, für Bergbau und Verhüttung weiteres Kapital. Geschäftliche Kontakte wurden von Heiratsverbindungen unterstützt, doch schon 1521 dominierten die Fugger diesen Partner. Allerdings erschütterte 1525 ein Bergarbeiteraufstand auch die Slowakei, und die Fugger konnten ihre Stellung nur nach und nach mithilfe enger Kontakte zur Politik und durch Kreditvergaben zurückgewinnen. Das Eintreffen erster Nachrichten über das geglückte Unternehmen Vasco da Gamas erregte auch in Augsburg großes Aufsehen, hatten doch erstmals europäische Schiffe Indien erreicht. Damit hatten sich die Hoffnungen auf einen segelbaren Seeweg für den Direkthandel erfüllt und 318

Handel

stand der Gewinn von Gewürzen, Gold und Edelsteinen unmittelbar vor Augen. Unermesslich erschienen die Schätze Asiens. Viele der frühen Fahrten kombinierten den Kauf mit der Erbeutung der begehrten Waren. Doch sollten die weiten Reisen so manchem Schiff mitsamt der Besatzung das Verderben bringen, waren die vergleichsweise kleinen Schiffe, Nussschalen gleich, doch den Unbilden der Meere und Stürme ausgeliefert. Als erste Augsburger in Lissabon trafen Faktoren der Welser-Vöhlin-Gesellschaft dort ein, die im Februar 1503 einen Vertrag mit der portugiesischen Krone abschlossen. Im folgenden Jahr kam es zu einem weiteren Vertrag über die Beteiligung an einer Expedition nach Indien, die auch die Fugger und weitere oberdeutsche Handelshäuser einschloss. Als die Flotte 1506 in Lissabon eintraf, verbot der König aber fremden Kaufleuten den Handel mit Pfeffer, weil er fallende Preise befürchtete und zunächst die eigenen Gewürze verkauft sehen wollte; die Streitigkeiten zogen sich über Jahre hin. Da Portugal für den Indienhandel vornehmlich Silber und Kupfer als Zahlungsmittel benötigte, blieben etliche oberdeutsche Kaufleute und besonders die Fugger letztlich im Geschäft. Zum wichtigsten Umschlagplatz für von Portugal importierte Waren wuchs Antwerpen heran. Allerdings dominierte im 16. Jahrhundert noch eindeutig der anwachsende Kontinentalhandel, bevor anschließend der Überseehandel an Gewicht gewann. Enge Kontakte unterhielten die Fugger bei steigendem Umfang der Geschäfte zu den Habsburgern. Maximilian schuldete ihnen 1518 knapp 175 000 Gulden. Die Königswahl Karls V. verschlang immense Handsalben an die Kurfürsten, über 540 000 Gulden investierte nur Jakob der Reiche in diese Wahl. Der 1521 abgeschlossene Vertrag zur Schuldentilgung sah vor, dass gut zwei Drittel der etwa 600 000 Gulden Außenstände mit Tiroler Silber und Kupfer beglichen werden sollten. Doch zielte Jakob Fugger auf eine beherrschende Stellung im Tiroler Bergwerks- und Hüttenwesen, und die Zahlungsunfähigkeit seiner langjährigen Konkurrentin, der Gesellschaft Baumgartner aus Kufstein, ermöglichte den Erwerb weiterer Rechte aus der Konkursmasse. Das letzte Drittel sollte aus den spanischen Einkünften Karls V. beglichen werden, was das Interesse der Fugger an der Iberischen Halbinsel steigerte. Noch während der Verhandlungen über Rückzahlungsmodalitäten betonte Jakob der Reiche selbstbewusst, wem Karl seine Krone zu verdanken habe. Zum Nachfolger Jakobs wurde sein Neffe Anton bestimmt. Der Familiensitz am Augsburger Weinmarkt, der heutigen Maximilianstraße, erhielt unter Jakob und Anton Fugger eine repräsentative Ausstat319

Spätmittelalter

tung. Immerhin erreichte die bemalte Schaufassade durch Zukäufe eine Länge von 68 Metern, für die Dachdeckung ließ Jakob Fugger Kupfer aus Ungarn nach Augsburg transportieren. Das Innere schmückten Marmor, Tapisserien und hölzerne Kassettendecken, ergänzt in den folgenden Jahren um zahlreiche Gemälde und Grafiken sowie die umfangreichen Bibliotheken der Familienmitglieder. Zum Ensemble gehörte weiterhin ein prächtiges Gästehaus, welches Karl V. während seiner Augsburger Aufenthalte 1547/48 und 1551 bewohnte. Als der französische Essayist und Schriftsteller Michel de Montaigne 1580 in der Stadt am Lech weilte, konnte er zumindest Teile des Haupthauses besichtigen: „Die verschiedenen Fugger, die alle sehr reich sind, nehmen die erste Stelle in der Stadt ein. Wir sahen auch zwei Säle in ihrem Haus; der eine war groß, hoch und mit Marmor ausgelegt; der andere ist niedrig, reich an alten und modernen Medaillons und besitzt am Ende ein kleines Zimmer. Es sind die reichsten Zimmer, die ich je gesehen habe.“181 Seit Jakob dem Reichen erwarben die Fugger zudem umfangreichen Landbesitz, vor dem Dreißigjährigen Krieg besaß die Familie etwa 100 Dörfer. 1530 erfolgte ihre Erhebung in den Reichsgrafenstand und damit in den Hochadel, was ihre Königsnähe nochmals betonte; offiziell verwendete die Familie den Titel aber erst seit 1620. Dies beinhaltete zudem eine partielle Befreiung von der Augsburger Gerichtsbarkeit. Der Standeserhöhung folgten Heiratsverbindungen fast ausschließlich mit Familien des Landadels, doch trotz prächtiger Landsitze blieb Augsburg für zahlreiche Familienmitglieder das Lebenszentrum. Als Summe der Vermögenswerte wies die Bilanz der Gesellschaft zum 31. Dezember 1527 etwa drei Millionen Gulden Aktiva auf, wozu allerdings unterschiedlich sicher fundierte Forderungen zählten. Beispielsweise schuldete Ferdinand, 1531 als Bruder Karls zum König gekrönt, 651 000 Gulden. Daneben gab es Ansprüche gegenüber der ungarischen Krone, die bereits als zweifelhaft galten. Noch gering blieben mit 870 000 Gulden die Passiva. Allerdings wuchsen die Schulden bis 1536 auf 1 770 000 Gulden, während von den ca. 3 800 000 Gulden Aktiva 2 350 000 noch eingetrieben werden mussten. Zudem drückte einerseits ein Überangebot an Kupfer auf die Preise, andererseits könnte die Bedeutung des Silbers aus der Neuen Welt seit den 1530er-Jahren zugenommen haben. Zwischen 1521 und 1555 kreditierten die Fugger Karl V. als spanischem König 5 499 156 Gulden und deckten damit etwa 20 Prozent von dessen gesamter Kreditaufnahme 181 Montaigne: Tagebuch, S. 63.

320

Handel

ab. Ihren Höchststand erreichten die Aktiva 1546 mit gut sieben Millionen Gulden, während die Passiva etwa zwei Millionen betrugen. Es folgten Umstrukturierungen; so gaben sie den ungarischen Handel nach dem Einbrechen der Bergwerkserträge auf, Montanunternehmen in Tirol und Kärnten wurden ausgegliedert. Zur Auszahlung von Teilhabern mussten in den nächsten sieben Jahren zwei Millionen Gulden aufgebracht werden. 1553 belief sich das Gesellschaftsvermögen auf 3 250 000 Gulden. 1557 verfügte jedoch König Philipp II. von Spanien die Umwandlung aller Schuldbriefe in königliche Rentenbriefe, die nur noch mit fünf statt wie bisher mit zwölf bis 14 Prozent verzinst wurden. Bereits drei Jahre später erfolgte die nächste Umschuldung. Zusätzlich ließ Philipp eine amerikanische Silberladung in Antwerpen beschlagnahmen, die zur Begleichung von Forderungen der Fugger bestimmt war. Nunmehr zeigten sich Negativfolgen der Finanzierung von Königen – ähnliche Erfahrungen hatten italienische Bankhäuser schon im 13. und 14. Jahrhundert machen müssen. Nach Antons Tod 1560 gelang seinem Sohn Marx nochmals eine Um­ orientierung. Mit ihrer zunehmenden Konzentration auf den Geldhandel wuchs die Familie endgültig aus dem Kreis der Augsburger Handelsunternehmen heraus, die tendenziell stärker am tradierten Warenhandel haf­ teten. Nach dem Rückzug aus Ungarn folgte unter Marx die Schließung der italienischen Niederlassungen, während die Iberische Halbinsel noch ­stärker ins Zentrum rückte. Glänzend verdienten die Fugger hier an Geschäften mit Quecksilber aus dem Bergwerk Almadén, denn die Spanier benötigten große Mengen davon für die Silbergewinnung in Süd- und Mittelamerika. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts zeigten die Aktivitäten in Spanien erneut Krisenzeichen, bevor zu Beginn der 1640er-Jahre der vollständige Rückzug von der Halbinsel folgte, die sich zunehmend als Verlustbringer erwies. Ohnehin gab die Familie bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts weitgehend geordnet Handel sowie Bankgeschäfte auf. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun der Königs- bzw. Reichsstadt Nürnberg zu, denn als solche lässt Nürnberg sich ab 1219, dem Jahr des ­ältesten überlieferten Privilegs, eindeutig bezeichnen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt bildeten die Bewohner auch eine eigene Steuergemeinde mit einer pauschalisierten Gesamtsteuerleistung an das Reich und wurden reichsweit vom Zweikampf befreit. Dieser „Freiheitsbrief“ unterstützte ­sicherlich den weiteren Aufstieg Nürnbergs, doch ist besonders hervorzu­ heben, dass es der Kommune eben gelang, dessen Bestimmungen umzusetzen und in der Folge die wechselseitig zollbefreiten Handelsbeziehungen 321

Spätmittelalter

mit anderen Städten planmäßig auszubauen oder dort zumindest Ermäßigungen zu erreichen. Allerdings dürften erste Befreiungen oder Begünstigungen bereits auf das Jahr 1163 zurückgehen. Derartige wechselseitige Zollbefreiungen sind für das 12. Jahrhundert auch für andere Städte überliefert, erlassen von den jeweiligen Stadtherren teilweise auf Initiative der Kaufleute. Doch nutzte Nürnberg dieses Mittel systematisch und konsequent, um die Handelsbeziehungen und den Aktivhandel auszubauen. Im Ergebnis bevorteilte dieses Beziehungsgeflecht dann im Spätmittelalter in der weit überwiegenden Zahl der Fälle Nürnberg. Das Privileg Kaiser Ludwigs des Bayern aus dem Jahr 1332 führte bereits 72 Kommunen an, in denen die Nürnberger Kaufleute Vorteile genießen sollten, wobei die Umsetzung des Privilegs wiederum der Stadt oblag. Die Urkunde nannte – ­unabhängig von ihrer tatsächlichen Bedeutung für die kaufmännischen Aktivitäten Nürnbergs – beispielsweise die Städte Bern, Solothurn, Besançon, Frankfurt, Friedberg, Heilbronn, Wimpfen, Mosbach, Köln, Aachen, Metz, Verdun, Dinant, Würzburg, Bamberg sowie Regensburg. Unter den genannten Städten dürfte der Handel Nürnbergs mit Köln schon zu Beginn der zweiten Hälfte des 12.  Jahrhunderts eingesetzt haben. Die vertraglichen Regelungen Nürnbergs mit schließlich etwa 90 Städten wurden von zahlreichen Geleitsprivilegien in Süddeutschland sowie im Rheingebiet ergänzt. Augsburg ließ sich 1349 von Karl IV. mit den von 1332 vergleich­ baren Rechten privilegieren. Schon früh hatten sich mit 1163 die Bewohner von Bamberg und Amberg das Recht der Nürnberger Kaufleute durch Kaiser Friedrich I. Barbarossa zusichern lassen, was für bestimmte Vorrechte der Nürnberger bereits zu diesem Zeitpunkt spricht.182 Mit der Intensivierung der Handelsbeziehungen nach Böhmen, wo die Nürnberger Kaufleute seit 1326 Handelsfreiheiten nutzen konnten, und in das südöstliche Europa lag die Stadt zudem im Spätmittelalter verkehrsgünstiger als zuvor. Auch konnte über Böhmen unter Umgehung des risikobehafteten Wiener Stapels Ungarn erreicht werden, zumal sich die politische Lage in Ungarn vor der Mitte des 14. Jahrhunderts wieder zu stabilisieren begann. Für den Aufstieg Nürnbergs lassen sich grundsätzlich drei Pfeiler des Wachstums benennen: erstens der Groß- und Fernhandel, dessen Akteure ihre Interessen zielbewusst bis rücksichtslos durchsetzten, 182 Urkundenbuch Augsburg, Bd. II, S. 25 f. Ebenso stellte Karl IV. die Augsburger Kaufleute 1356 beim Handel in Prag den Nürnbergern gleich; ebd., S. 67 f. Hektor Ammann: Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittelalter (Nürnberger Forschungen, 13), Nürnberg 1970, S. 17.

322

Handel

zweitens die damit eng verbundenen Geldgeschäfte und drittens die hoch entwickelte Gewerbeproduktion. Vor allem seit der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts kann der Montansektor einschließlich des Bergbaus als vierte Säule bezeichnet werden, wobei die Nürnberger umfangreiche Aktivitäten vor allem im Erzgebirge und in Thüringen entfalteten, weniger in Tirol. Im Laufe des 14. Jahrhunderts überflügelte Nürnberg die bisher führende oberdeutsche Handelsstadt Regensburg und konnte diese Stellung im 15. Jahrhundert nicht nur behaupten, sondern sogar ausbauen. Nach innerstädtischen Unruhen in den 1330er-Jahren hatten zahlreiche vermögende Kaufleute die Stadt an der Donau verlassen. Ein Teil von ihnen ließ sich in Nürnberg nieder, und sie brachten nicht zuletzt ihre Geschäftsbeziehungen an den neuen Standort mit. Der als Spitalstifter bekannte Konrad Groß (um 1280–1356) nutzte die Einkünfte aus dem ererbten Grundbesitz als Unternehmer und Finanzhändler. Kaiser Ludwig dem Bayern, der bei seinen Aufenthalten in Nürnberg nicht selten das Groß’sche Haus als Quartier wählte, kreditierte er erhebliche Summen, deren genaue Volumina leider wieder einmal unbekannt sind. Im Gegenzug erhielt Konrad Groß zahlreiche Pfandverschreibungen sowie Handelsvorrechte vornehmlich zugunsten seiner Person, welche er aber zusätzlich zum Nutzen der Stadt einzusetzen wusste. Auf derartigen Wegen nahmen Großkaufleute nicht nur im Reichsgebiet Einfluss auf die Entscheidungen der Herrscher. Auch unter Ludwigs Rivalen und Nachfolger Karl IV. setzten die Großhändler zu einem nicht geringen Teil auf Königsnähe, denn der Herrscher, gleichzeitig König von Böhmen, blieb auf Kredite für seine Territorialpolitik sowie für den Ausbau Prags zur Residenz angewiesen. Nürnberg konnte im Gegenzug seine Position als Handelspartner Böhmens ausbauen. Der König gewährte seinen Gläubigern quasi als Entgelt vornehmlich Privilegien und unterstützte derart die handelspolitischen Aktivitäten Nürnbergs. Wie auch seine Nachfolger schätzte Karl das weitläufige Nürnberger Nachrichtennetz als Informationsquelle und profitierte von den Fachkenntnissen der Kaufleute, die ihn wohl nicht nur in Finanzfragen gelegentlich berieten. In Polen drängten die Nürnberger verstärkt seit dem 15. Jahrhundert den Einfluss der hansischen Städte zurück und dominierten zumindest im Westen des Königreichs den Handel. Umfangreiche Flandernprivilegien konnten 1362 in durchaus ausgeprägter Konkurrenz zu hansischen Interessen während der hansischen Handelssperre gegen Brügge gewonnen werden. In Ungarn und in der Karpatenregion, zunächst bedeutsam vor allem wegen der Edel- und Buntmetallvorkommen, sicherte 323

Spätmittelalter

sich die oberdeutsche Hochfinanz – und ganz besonders deren Nürnberger Vertreter – seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts umfangreiche Vorrechte. Im sonstigen Südosteuropa entfalteten die Kaufleute gleichfalls Aktivitäten, sodass sich schlussendlich die ehemalige Randlage Nürnbergs durch die teilweise Neuorientierung der Handelsbeziehungen nach Osten nunmehr als Vorteil erwies. Bestand auf kommunaler Ebene schon aufgrund der Ratsmitgliedschaft vieler Kaufleute ohnehin eine enge Verschränkung von Politik und Wirtschaft, so erreichte diese besonders bei der oberdeutschen Hochfinanz mit dem Königtum die höchsten politischen Sphären, während sich vornehmlich im Montansektor eine ähnliche Verschränkung zwischen Unternehmern und Adel ausbildete. Johannes Cochlaeus, der 1510 auf Vermittlung von Willibald Pirckheimer das Rektorat der Lateinschule bei St.  Lorenz erhalten hatte, formulierte in Anlehnung an Conrad Celtis ein sicherlich übertriebenes Lob Nürnbergs: „In dieser ‚Beschreibung Deutschlands‘ nimmt die Stadt Nürnberg eine Art Mittelpunkt ein, da sie ja so ziemlich die Mitte bildet, was Lage, Sprache und Leistungsfähigkeit betrifft. Ihrer Lage nach, sage ich, erscheint sie nicht nur als die Mitte Deutschlands, sondern auch des ganzen Europa. Sie liegt nämlich gleich weit von der Adria und von der Ostsee, was die Breite ausmacht. Gleich ist auch die Entfernung zum Don und bis Cadiz, mit der man die (Länge) Europas misst. So behauptet man also mit Recht, dass diese Stadt im Mittelpunkt Europas liegt. Außerdem ist sie fast gleich weit von Wien und Antwerpen der Länge nach, von Laibach in Kärnten und Lübeck in Sachsen der Breite nach. … Der Reichtum der Nürnberger ist nicht nur den Deutschen, sondern auch den am entferntesten wohnenden Spaniern in Lissabon wie den fernsten Skythen am Don, den Polen, Ungarn und ganz Europa wohlbekannt. Wo gibt es denn einen Winkel, in den sie nicht Geld und Ware gebracht hätten? Sie wohnen in Lissabon, Lyon, Venedig, Buda, Krakau, Wien, Köln, Antwerpen und in den übrigen Handelsplätzen Europas, wo sie die Bevölkerung durch gegenseitigen Warenaustausch reich machen und ihre Leute vor dem Mangel bewahren.“183

Vor allem zwei Ursachen lagen dem Erfolg des Nürnberger Handels zugrunde: einerseits eine technologische Überlegenheit, andererseits eine ausgeprägte Innovationsfreudigkeit in zahlreichen Produktionsbereichen, 183 Johannes Cochlaeus: Brevis Germanie descriptio (1512), hg., übersetzt u. kommentiert v. Karl Langosch (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, I), Darmstadt 1976, S. 74–77.

324

Handel

was wiederum auf eine hohe Bedeutung der Handwerker und ihrer Fertigkeiten für das Wirtschaftsleben der Stadt verweist.184 Selbst König Ferdinand I. von Aragón erteilte Nürnberg 1415 ein Privileg für den freien Handel in diesem Teil der Iberischen Halbinsel, was die Dimensionen der Aktivitäten nochmals unterstreicht. Wenn nun die Nürnberger Kaufleute Peter und Sebald Rieter oder ihr Augsburger Kollege Sebastian Ilsung zu dem beliebten Fernpilgerziel Santiago de Compostela ritten, konnten sie ihre frommen Intentionen mit kaufmännischen sowie diplomatischen Interessen verbinden, zumal sie unterwegs vielfach in engen Kontakt zu einflussreichen Hochadligen oder sogar zu Herrschern traten und wohl aus diesen Gründen längst nicht immer den direkten Weg wählten. Weiterhin wissen wir von einer gemeinsamen Handelsgesellschaft der Nürnberger Georg Koler und Georg Kress mit ihrem Mailänder Partner Ambrosius de Saronno, die mindestens von 1497 bis 1511 bestand. In Mailand und auf den Messen von Crema vertrieben sie Metalle sowie Nürnberger Metallwaren und bezogen im Gegenzug Barchent und Samt aus Mailand, dazu Seidenstoffe aus Genua oder Florenz, wobei sich sogar ein Handelsüberschuss der Lieferungen aus Deutschland belegen lässt. Im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts siedelten sich dann verstärkt italienische Kaufleute in Nürnberg an. Allerdings nahm in diesen Jahrzehnten der Umfang des oberdeutschen Transithandels zwischen dem Mittelmeerraum und Westeuropa teilweise drastisch ab, während vornehmlich holländische Schiffe nunmehr direkt die Mittelmeerhäfen anliefen. Überhaupt erfolgte kein stetiger Aufstieg der Stadt und ihrer Kaufleute, sondern es mussten immer wieder Rückschläge verkraftet werden. Und trotz der prinzipiell positiven Entwicklung gab es auch Verlierer, denn selbst bekannte Familien und Gesellschaften fallierten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In Bamberg hingegen behinderten die Bischöfe, in erster Linie jedoch das Domstift und die zahlreichen geistlichen Immunitäten aufgrund ihrer Steuervorteile und eigener, privilegierter Märkte seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts den weiteren Bedeutungsgewinn der Kaufleute und damit zum Teil die städtische Entwicklung, obwohl die Stadt bereits im 10. Jahrhundert Hallstatt als Verkehrsknotenpunkt abgelöst hatte. Zu den wichtigsten Bamberger Handelsgütern zählten noch in der Frühen Neuzeit 184 Michael North: Nürnberg und Antwerpen: Ökonomie und Kunst, in: Jeanette Granda/Jürgen Schreiber (Hg.): Perspektiven durch Retrospektiven. Wirtschaftsgeschichtliche Beiträge, FS Rolf Walter zum 60. Geb., Köln/Weimar/Wien 2013, S. 61–72, hier S. 63.

325

Spätmittelalter

neben Agrarprodukten wie Wein, Getreide, Zwiebelsamen oder Butter in erster Linie Vieh und Leder, was gleichfalls für eine Dominanz des primären Sektors in der Stadt spricht, wenngleich der Bischofshof gewerbliche Produkte in großer Zahl erwarb.185

Messen Den Beginn von europäischen Messesystemen markiert eine Entwicklung, die sich zwischen 1150 und 1200 in drei Regionen Mittel- und Westeuropas abspielte: In hochproduktiven Gewerbegebieten oder an deren Rand entstanden permanente, zeitlich aufeinander abgestimmte Fernhandelsmärkte. Eine erste solche Region findet sich im Süden und Osten Englands zwischen Winchester und Boston, eine zweite in Flandern zwischen Lille und dem erst vergleichsweise spät beteiligten Brügge, und die dritte in der Champagne, wo Messen an sechs Terminen im Jahr in den Städten Lagny, Provins, Troyes und Bar-sur-Aube stattfanden. Dem Turnus von sechs Einzelmessen entwachsen, besaßen die Champagnemessen im 13.  Jahrhundert dann eine alles überragende Bedeutung im europäischen Handel. Neuerungen wie die Abstimmung von Messeterminen und die Verbindung von Warenmesse und Kreditgeschäft – selbst in der Champagne dominierten zunächst Italiener das Geldgeschäft –, aber auch die Garantie einer wertstabilen Regionalmünze und die Gewährleistung einer weitgehenden Sicherheit der Kaufleute auf den Wegen von und zu den Messen unterstützten den Aufstieg. Positive Effekte zeitigten auch Handelsfreiheiten, die den Gästehandel mit nur geringen Marktzöllen belasteten, und die Ausbildung einer eigenen Messegerichtsbarkeit. Kennzeichnend für spätmittelalterliche Messen ist weiterhin die zeitliche Trennung in eine Handels- und eine Abrechnungsperiode: Erst in Letzterer verrechneten die Kaufleute ihre wechselseitigen Forderungen, um derart den Bargeldbedarf möglichst zu reduzieren; auch wurden Zahlungsziele für die erworbenen Waren vereinbart. Trotz der vielen weiteren Besucher bildeten die Großkaufleute für die wirtschaftliche Bedeutung der Messen den entscheidenden Faktor.186 185 Klaus Herbers/Robert Plötz (Hg.): Nach Santiago zogen sie. Berichte von Pilgerfahrten ans „Ende der Welt“, München 1996, S. 68–90. Stromer: Binationale Handelsgesellschaften, S. 157 f. Bernhard Schimmelpfennig: Bamberg im Mittelalter. Siedelgebiete und Bevölkerung bis 1370 (Historische Studien, 391), Lübeck/Hamburg 1964, S. 69–71. 186 Zum Messewesen vgl. die Beiträge in Rainer Koch (Hg.): Brücke zwischen den Völkern – Zur Geschichte der Frankfurter Messe, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1991. Ebenso die in Johanek/Stoob (Hg.): Messen. Rothmann: Messen.

326

Handel

Wenn in diesem Zusammenhang pauschal von „den Italienern“ die Rede ist, rückt freilich leicht in den Hintergrund, dass allgemein zwischen den Kaufleuten und besonders zwischen den Kaufleuten aus verschiedenen Kommunen eine erhebliche Konkurrenz bestand. Das erste bedeutende Messesystem auf Reichsboden entstand am Niederrhein wohl unter Einflüssen aus der Champagne. Es wurde durch die von Friedrich I. Barbarossa in den Jahren 1166 und 1173 an Aachen verliehenen Privilegien begünstigt. Aachen und das ebenfalls auf Reichsland gelegene und vom Kaiser geförderte Duisburg traten zwar in Konkurrenz zu Köln und Utrecht, jedoch verband diese vier Städte nunmehr ein abgestimmter Zyklus regelmäßiger Jahrmärkte. Ein zweites derartiges Jahrmarktsystem entstand nicht zuletzt durch die Privilegierungen Gelnhausens und Frankfurts durch den Staufer Friedrich II. in der Wetterau mit Friedberg als Zentrum. Ergänzt wurde es durch die Gründung der Würzburger Allerheiligenmesse durch den dortigen Bischof Hermann. Friedberg erlebte im 14. Jahrhundert gestützt auf Messen und Tuchherstellung seine Blütezeit, zählte aber kaum mehr als 3000 Einwohner. Ein drittes Messesystem entfaltete sich schließlich am Mittelrhein mit den Jahrmarktprivilegien des letzten Stauferkaisers für Oppenheim, Worms und Speyer. Behaupten konnten sich die Mittelrheinstädte gegenüber der Wetterau auf Dauer nicht. Doch sollten bald die beiden jährlichen Frankfurter Messen den nordalpinen Messehandel dominieren, welche Entwicklung die günstige geografische Lage der Stadt am Main beeinflusst haben dürfte. Die Frankfurter Herbstmesse, bei der es sich ursprünglich wohl um einen Viehmarkt handelte, ist erstmals für 1227 und 1240 belegt. Für die Frühjahrs- oder Pfingstmesse erteilte Ludwig der Bayer 1330 schließlich das entscheidende Privileg, dessen Umsetzung die Stadt energisch in Angriff nahm. In Frankfurt unterlagen die Messebesucher, wie in anderen Messestädten auch, einem besonderen Messerecht, welches ihnen einen befristeten Sonderstatus während der Messen sicherte. Die in der Wetterau vorerst noch konkurrierenden Friedberger Messen konnte die Stadt bis zum Ende des 14. Jahrhunderts weitgehend verdrängen. Im Süden des Reichs kam ein weiteres Messesystem hinzu, basierend wiederum auf älteren Jahrmärkten: jenes zwischen Schwäbischer Alb und Fränkischem Jura mit Schwerpunkten in Nördlingen mit seinen bedeutenden Pfingstmessen im 14. sowie 15.  Jahrhundert und in Donauwörth, ergänzt um kleinere Jahrmärkte. Während des Spätmittelalters dürften die Nördlinger Messen, die im 16. Jahrhundert an Bedeutung verloren, neben den Frankfurter Messen für 327

Spätmittelalter

die Nürnberger Kaufleute eine zentrale Stellung eingenommen haben. Das Scheitern des Ulmer Messevorhabens könnte neben der ohnehin bestehenden Konkurrenzsituation einen weiteren Grund darin gehabt haben, dass die örtlichen Handwerker derartigen Planungen skeptisch gegenüberstanden und das massierte Auftreten fremder Großkaufleute mitsamt ihrem Warenangebot kritisch beäugten.187 In europäischer Dimension ist teilweise schon im 13.  Jahrhundert ein sich bald beschleunigender Veränderungsprozess im Fernhandel festzustellen, der selbst vor den Champagnemessen nicht haltmachte. Dort mussten die Warenmessen seit etwa 1260 erste Rückgänge verkraften, und ihr folgender Verfall gilt als eines der markantesten Phänomene der europäischen Wirtschaftsgeschichte des Spätmittelalters. Als entscheidend für ihren Niedergang lassen sich neben politischen Vorgängen – die Könige von Frankreich griffen nach dem Gebiet, was die Wege unsicher werden ließ – auch wirtschaftliche Faktoren anführen. Zu diesen zählte, allerdings erst etwas später, die Verlagerung der internationalen Verkehrsströme durch die Meerschifffahrt um die Iberische Halbinsel herum in nördliche Gewässer, die erstmals wohl 1277 durch genuesische, dann durch venezianische Schiffe erfolgte; im letzteren Fall sind Galeeren für 1314 belegt. Dies bedeutete die Aufnahme eines terminunabhängigen Direkthandels zwischen Genua sowie Venedig einerseits und den Niederen Landen mit dem Zentrum Brügge andererseits, zumal sich die Seetransporte preiswerter gestalteten als der – wenngleich kürzere – Transport auf dem Landweg. Von Brügge aus gelangten die Waren dann in weitere Städte. Innerhalb der Niederen Lande bestand längst eine Konkurrenz zwischen den aufstrebenden, auf den Tuchexport ausgerichteten Messeplätzen Ypern und Brügge in Flandern einerseits und Antwerpen und Bergen op Zoom in Brabant andererseits. Hier gewann Antwerpen zunehmend an Bedeutung im europäischen Nord-Süd-Verkehr, doch sollte die Stadt erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts Brügge aus seiner führenden Stellung verdrängen, begünstigt durch innere Unruhen in Brügge und die Versandung des Sluis. Antwerpen seinerseits verlor nach der Eroberung durch spanische Truppen 1585 rasch und drastisch an Bedeutung. Brügge dürfte als flandrischer Vorort viele Funktionen der Champagnemessen übernommen haben. Daneben traten anstelle der bisherigen 187 Volker Henn: Mißglückte Messegründungen des 14. und 15.  Jahrhunderts, in: Johanek/Stoob (Hg.): Messen, S. 205–222, hier S. 213.

328

Handel

­ essen in Frankreich als Warenumschlagplatz Chalon-sur-Saône und im M Geldhandel die Pariser Lendit-Messen (St-Denis) in den Vordergrund. Paris sollte aber nur kurzfristig wichtigster Bankplatz nördlich der Alpen bleiben, während Chalon-sur-Saône im Hundertjährigen Krieg zu Schaden kam. An ihrer Stelle etablierten sich die seit 1262 belegten Messen in Genf, günstig am Lac Léman gelegen. Ihr Niedergang setzte wiederum 1462 ein, als der französische König Ludwig XI. nach dem Ende des Krieges mit England den französischen Kaufleuten kurzerhand verbot, die dortigen Messen zu besuchen; auch fremde Händler durften nicht mehr durch Frankreich nach Genf reisen. Im Gegenzug privilegierte er die Lyoner Messen umfangreich, worin sich eine tendenziell frühneuzeitliche, merkantilistisch anmutende Wirtschaftspolitik zeigt. Ähnliche Überlegungen und ihre Umsetzungen vornehmlich des 17. und 18. Jahrhunderts fußen somit auf einer langen Tradition. Zwei Messen jährlich waren erstmals im Jahr 1419 in Lyon eingerichtet worden, erweitert jeweils um eine weitere 1443 und 1463. Ergänzend sei auf die Bozener Messen hingewiesen. Auf diesen Messen im bedeutenden Transitland Tirol lassen sich seit der ersten Hälfte des 13.  Jahrhunderts Kaufleute aus Oberitalien und Oberdeutschland nachweisen. Ein Teil von ihnen erwarb in der verkehrsgünstig gelegenen Stadt mit Zugängen zum Reschenpass und zum Brenner sogar Immobilien, deren große Keller der Lagerung von Waren und Lebensmitteln dienten. Neben dem Messehandel spielte der Transithandel wie auch sonst in Tirol eine wichtige Rolle. Dazu kam das Angebot an Südtiroler Weinen, das Bozen außerhalb der Messezeiten ebenfalls eine bedeutende Rolle im ­Handel einnehmen ließ.188 Ein Aufschwung der Leipziger Messen setzte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein, der Durchbruch erfolgte jedoch erst im 16. Jahrhundert. Eine zentrale Voraussetzung bildete die Durchsetzung der kaiser­ lichen Privilegien von 1497 und 1507, welche eine Bannzone von 15 Meilen (etwa 100 Kilometern) um die Stadt zogen, in denen keine neuen Jahrmärkte oder Messen errichtet werden durften. Mithilfe der Landesherren setzte die Stadt diesen Anspruch in der Folge weitgehend durch. Im 16. Jahrhundert gelang es der Stadt auch, die Landtransporte mit dem östlichen Mitteleuropa als Verkehrsknotenpunkt zu bündeln. Daneben spielte die zunehmende Bedeutung des Bergbaus im Erzgebirge und um Mansfeld, 188 Andrea Bonoldi: Handel und Kreditwesen zwischen Italien und Deutschland. Die Stadt Bozen und ihre Messen vom 13. bis ins 19. Jahrhundert, in: Scripta Mercaturae 42 (2008), S. 9–26.

329

Spätmittelalter

an dem sich Leipziger Kaufleute beteiligten, eine wichtige Rolle für den Aufstieg von Stadt und Messe. Der in Leipzig ansässige Kaufmann und sächsische Rentmeister Hans von Leimbach (um 1455–1513), der überwiegend im Metallgroßhandel tätig war und über Anteile an einer Saigerhütte verfügte, gilt neben Martin Römer als einer der frühesten und erfolgreichsten Bergbauunternehmer am Schneeberg. Der Zwickauer Martin Römer agierte zudem als Metall- und Silberhändler, ließ Silber über Niederlassungen in Augsburg, Nürnberg und Venedig vertreiben, amtierte als Ratsherr und Hauptmann, stand in Diensten der sächsischen Landesherren. Ohnehin nahmen seit dem 13. Jahrhundert die Direktverbindungen der Kaufleute ohne den termingebundenen Umweg über eine Messe zu, begünstigt durch die Etablierung zahlreicher Niederlassungen oder Faktoreien. Dies dürfte ein mitentscheidender Faktor für den Niedergang nicht nur der Champagnemessen gewesen sein, konnte in den Städten der Handel doch ganzjährig erfolgen. Im Messehandel gingen die Kaufleute teilweise dazu über, anstelle von Waren nur noch Warenproben mitzuführen und die Güter erst nach ihrer Rückkehr dem Käufer zuzusenden; Mustermessen bilden durchaus nicht, wie vielfach angenommen, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Frankfurts Aufstieg als Messeplatz begünstigte, dass Köln noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts seine Messen – und damit das gesamte mit den Kölner Messen korrespondierende mittelrheinische Messesystem – aufgab, um den eigenen Markt mit dem forcierten Aufbau eines Stapels zu monopolisieren. Der bereits 1259 errichtete Stapel brachte einerseits erhebliche Gewinne aus dem Zwischenhandel für die ansässigen Kaufleute, andererseits Einkünfte aus indirekten Steuern und sonstigen Handelsabgaben für die Stadtkasse. Denn mit diesem Vorrecht konnte Köln durchreisende Kaufleute bei ausgesprochen verkehrsgünstiger Lage im Netz der umliegenden Straßen und Wasserwege dazu zwingen, ihre Waren zunächst für einige Tage auf den Kölner Märkten anzubieten. Dies schränkte die Entwicklungsmöglichkeiten umliegender Städte teilweise deutlich ein, während einheimische Händler und Einwohner Vorteile genossen. Zudem trug der Stapel in erheblichem Maße dazu bei, die kommunale Versorgung nicht zuletzt mit Lebensmitteln zu sichern. Ebenso begünstigte die bevorrechtigte Stellung der Stadt das Umladen von Waren am Kölner Rheinufer. Hier erfolgte nämlich das Umladen von größeren Schiffen, welche vornehmlich den Niederrhein und die Nordsee befuhren, auf kleinere, die für den engeren Mittelrhein mit seinen Stromschnellen und erschwerten Bedingungen beim Treideln besser geeignet waren; das 330

Handel

Umladen fand auch in der Gegenrichtung hier statt. Zwar handhabte Köln das Stapelrecht im 14.  Jahrhundert noch nicht strikt, versuchte aber den Direkthandel zwischen Nicht-Kölnern in der Stadt mehr und mehr auszuschließen. Nürnberg hingegen bemühte sich ebenso wie Regensburg im 13. und 14. Jahrhundert gar nicht erst um eigene Messen.189

Güter und Waren Der Nürnberger Aktivhandel hatte einen besonderen Schwerpunkt auf Oberitalien, richtete sich aber auch auf Nord-, Ost- und Südosteuropa sowie den Westen des Reichs. In den Buntmetallabbau des Karpatenraums und damit nach Südosteuropa drang das Nürnberger Kapital seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts vor, wenngleich Kaufleute aus Venedig und Florenz vorerst dort noch dominierten. Dazu konnte Nürnberg seit dieser Zeit die Kaufmannsaktivitäten fast ganz Oberdeutschlands in seinem Messegeleit nach Frankfurt bündeln und trug somit wesentlich zum Aufstieg der dortigen Messen bei. Diese dienten auch dem Nord-Süd-Handel, wenngleich sich die direkten Kontakte zwischen oberdeutschen Kommunen und hansischen Küstenstädten im 15.  Jahrhundert intensivieren sollten. Als Nürnberg dennoch im 15. Jahrhundert versuchte, eine eigene Messe einzurichten, war es schlichtweg zu spät, und selbst die Störungen des Geleits nach Frankfurt durch etliche Fehden konnten nicht mehr ausgenutzt werden. Unterhalb des Nürnberger Messegeleits und der Frankfurter Messen erfolgte in Oberdeutschland eine Konzentration auf große Regionalmärkte: Als bedeutende Messeplätze lassen sich auf dieser Ebene Nördlingen, ­Donauwörth und Linz (ab 1382) im Donauraum sowie der kleine Marktflecken Zurzach im Bodenseegebiet (seit 1363) nennen. Außerdem etablierten sich auf regionaler Ebene gleichfalls terminlich abgestimmte kleinräumigere Jahrmarktzyklen. Gerade in Kleinstädten oder Dörfern fanden Märkte häufig in zeitlicher Überschneidung mit Kirchweihfesten statt, welche zudem den Alltag erfreulich auflockerten. Derart fand der ländliche Raum eine Anbindung an den überregionalen Handel, wenngleich nur an ein oder zwei Terminen im Jahr. Im Hinblick auf den reichsweiten Handel gliedert Hermann Kellenbenz das Reichsgebiet in den niederdeutsch-hansischen, den westdeutsch-rhei189 Gerd Schwerhoff: Der Kölner Stapel. Werden und Wandlungen einer alteuropäischen Institution, in: Jahrbuch des kölnischen Geschichtsvereins 80 (2009/10), S. 43–69.

331

Spätmittelalter

nischen sowie den oberdeutschen Raum, ergänzt dann um Mittelostdeutschland. Sicherlich fand zwischen ihnen ein ausgeprägter überregionaler Warenverkehr statt, zumal sich die Grenzräume dieser Großregionen überlappten. So kann im Reich zwar einerseits durchaus von einer Volkswirtschaft gesprochen werden, doch lässt sich andererseits ebenso eine überwiegende Orientierung zahlreicher Kaufleute auf diese Großräume erkennen. Der Befund gilt wohl noch ausgeprägter für die Geldmärkte, auf denen sich die Kommunen Kredite verschafften.190 Mit dem Bestehen einer solchen räumlichen Trennung korrespondiert auch, dass die Infektion mit der verheerenden Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts in den meisten Städten des hansischen Küstengebiets auf dem Seeweg erfolgte, nicht über die Handelswege des Binnenlandes. Als südlicher Pfeiler der Nord-Süd-Achse des europäischen Handels etablierte sich seit dem späten 13. Jahrhundert Venedig, das nach dem Vierten Kreuzzug von 1204 – im eigenen Interesse umgeleitet zur Eroberung von Zadar und Konstantinopel sowie der Gründung des „Lateinischen Kaiserreiches“ – im Levantehandel Genua zurückzudrängen begann. Genua „unterlag“ schließlich der Lagunenstadt 1381 nach der Beendigung des Chioggiakrieges, als das ligurische Zentrum einen an sich günstigen Friedensvertrag aufgrund innerer Unruhen nicht nutzen konnte. Nicht zuletzt ließen der Stapelzwang und das Salzmonopol, begleitet von der lokalen Gewerbeentwicklung mit expandierenden Gewerben wie Schiffbau, Textil- und Glasherstellung sowie Metallverarbeitung, den Rialto zu einer quasi permanenten Messe werden. Zunehmend versuchten die Venezianer, gerade den lukrativen Handel mit Gewürzen aus dem fernen und weitgehend unbekannten Asien zu monopolisieren. Den innerstädtischen Handel kontrollierte Venedig seit 1231 durch eine unter kommunaler Aufsicht stehende Maklerorganisation. Auf diese Weise unterstand selbst der Handel zwischen auswärtigen Kaufleuten der obrigkeitlichen Aufsicht und wurde mit Gebühren zugunsten der Stadtkasse belastet. Im Gegenzug garantierte Venedig Maße und Gewichte sowie teilweise die Qualität der gehandelten Güter. Die Gäste beherbergten die Venezianer zwecks besserer Kontrolle in eigens dafür bestimmten Häusern: So besaßen die deutschen Kaufleute oder präziser gesagt diejenigen Kaufleute, die Venedig unter dieser Bezeichnung zusammenfasste, seit 1222/25 ein Wohn-, Lager- und Kaufhaus direkt an der Rialto­ 190 Kellenbenz: Wirtschaft, S. 178. Vgl. Fuhrmann: Rentenverkäufe, S. 195 f. Martin Körner: Public Credit, in: Bonney (Hg.): Systems, S. 507–538, hier S. 518.

332

Handel

brücke, den bekannten Fondaco dei Tedeschi. Unter den dortigen Kauf­ leuten dominierten in der Frühzeit eindeutig solche aus den südöstlichen Reichsteilen, wahrscheinlich mit Regensburger Händlern an der Spitze. Ihre Handelswaren lagerten im Fondaco, dort fand auch der Verkauf statt, und in dessen Gemäuern lebten die teilweise miteinander rivalisierenden Kaufleute oder ihre Faktoren auch wochen- bis monatelang. Etliche Großkaufleute oder Gesellschaften mit einem Schwerpunkt auf dem Venedighandel mieteten dort sogar über Jahre und Jahrzehnte hinweg eine Kammer, um ständig präsent zu sein. Venedig einmal ausgenommen, besitzen wir für Oberitalien und die Toskana nur noch über den Handel deutscher Kaufleute mit Mailand ausreichende Kenntnisse; schon das Wissen zu Genua ist lückenhaft, und zu den Geschäftsverbindungen mit dem bedeutenden Finanzplatz Piacenza, wo zudem die einzige Brücke über den Mittellauf des Po führte, mit Pisa, Siena oder Florenz liegen kaum Nachrichten vor.191 Wollstoffe unterschiedlicher Qualität wurden während des Spätmittel­ alters unverändert in ganz Europa hergestellt, hochwertige Spitzenstoffe jedoch nur in wenigen Gebieten. In den überregionalen Handel gelangten neben den teuren, schweren Produkten freilich auch solche von geringeren Qualitäten. Eine Hauptregion für die Herstellung hochwertiger Luxuswollstoffe blieben die südlichen Niederen Lande, genauer Brabant und Flandern, wenngleich sich die Zentren verlagerten. Die Produktion der ursprünglich in Heimarbeit hergestellten Stoffe erfolgte nunmehr hochgradig arbeitsteilig, spezielle Berufe im Umfeld der Wolltuchherstellung entwickelten sich. Allerdings brach der Markt für preiswertere Qualitäten aus dieser Region um 1320 zusammen, was beispielsweise Ypern massiv beeinträchtigte. Zudem setzten die politischen Krisen der flämischen Wolltuchherstellung zu. Die flandrischen Städte importierten überwiegend englische Wolle, die dann veredelt in Form von Tuchballen zu hohen Preisen wieder abgesetzt wurde. Als entscheidend für alle Städte mit Exportgewerbe erwies sich eine Qualitätskontrolle der Stoffe, sodass die Abnehmer sich des jeweiligen Standards prinzipiell sicher sein konnten. In der Regel versahen die Städte die Ballen mit einem Siegel, welches Herkunft und Qualitätsstufe markierte. ­Allerdings sorgten die keinesfalls seltenen Fälschungen dieser Qualitätsnachweise immer wieder für Irritationen und massive Beschwerden.192 191 Stromer: Binationale Handelsgesellschaften, S. 138 f. 192 Lukas Clemens/Michael Matheus: Tuchsiegel – eine Innovation im Bereich der exportorientierten Qualitätsgarantie, in: Lindgren (Hg.): Technik, S.  479  f. Reinhold Kaiser: Fälschungen von Be-

333

Spätmittelalter

Als zweite Region, in der die Herstellung von Stoffen in Luxusqualität florierte, ist die Toskana mit Florenz als Zentrum zu nennen. Die Tuch­ herstellung prägte die wirtschaftlichen Strukturen auch von Städten wie Prato, Siena oder Volterra. Nach den Angaben von Giovanni Villani aus der Mitte des 14. Jahrhunderts waren von den etwa 100 000 Einwohnern der Stadt Florenz nicht weniger als 30 000 von der „Tuchindustrie“ abhängig – und von einer „Industrie“ lässt sich mit Abstrichen sicherlich sprechen, wenngleich mit dem Begriff (zu) starke Assoziationen zur Moderne geweckt werden könnten. Bis etwa zu Villanis Zeit hatte die Herstellung billigerer Tuche Vorrang gehabt. Nun aber stellten sich die Kaufleute nach flandrischem Vorbild auf die neuen Herstellungstechniken ein, warben nicht zuletzt nordwesteuropäische Handwerker mit ihren einschlägigen Kenntnissen der Produktionsschritte an und machten ihnen eine Übersiedlung in den Süden schmackhaft, statt weiter Fertigprodukte aus dem Norden zu importieren. Als drittes Zentrum hochqualitativer Tuchherstellung etablierte sich seit dem 15. Jahrhundert England, das verstärkt von der Lieferung des Naturprodukts Wolle auf dessen Verarbeitung umstieg. Mögen in Florenz auch ungefähr 30 000 Menschen von der Wollindustrie gelebt haben, so bestimmten doch gerade einmal etwa 200 vermögende, einflussreiche Kaufleute den gesamten Produktionsprozess. Denn sie waren es, welche die Rohstoffe und Halbfertigprodukte erwarben und viele Monate später die fertigen Stoffe veräußerten. Zwar gehörten ihnen die Produktionsmittel nicht zur Gänze, aber das Material blieb während der Verarbeitungsschritte ihr Eigentum und sie zahlten die Löhne beispielsweise der Wollkämmer, Spinner, Weber, Walker oder Färber. Die teuren Webstühle waren dagegen im Regelfall Eigentum der Weber, und diese agierten damit quasi als Subunternehmer, allerdings abhängig hinsichtlich der von ihnen hergestellten Waren und der geforderten Qualitäten. Von allen Arbeitsschritten der Wolltuchherstellung verlangte wohl das Färben das größte Geschick und darüber hinaus ein erhebliches Kapital – und zwar nicht nur als Anlagekapital für Gebäude und Färbebottiche, sondern gleichfalls als Betriebskapital. Zahlreiche Färbestoffe oder der dringend benötigte Alaun mussten nämlich über große Distanzen herbeigeschafft werden, was deren Preis nochmals beträchtlich erhöhte. Erst 1462 sollten

334

schauzeichen im spätmittelalterlichen Tuchgewerbe, in: Fälschungen im Mittelalter, Tl. V, S, 723– 752. Zur Qualität handwerklicher Arbeit vgl. z. B. Gerhard Jaritz: Handwerkliche Produktion und Qualität im Spätmittelalter, in: Handwerk und Sachkultur, S. 33–49.

Handel

die im Kirchenstaat entdeckten Alaunvorkommen von Tolfa bei Civitavecchia die Abhängigkeit von den ägyptischen und kleinasiatischen Einfuhren beenden, wenngleich die Kurie den Vertrieb des Rohstoffs preis­ treibend als Monopol gestaltete. Durch den Zusatz von Alaun dürften die ­Farben leuchtender geworden sein, daneben benötigten vornehmlich Weißgerber Alaun bei der Fertigung dünner Ledersorten. Auch für Francesco Datini, der aus dem unweit von Florenz gelegenen Prato stammte und dort wohnte, bildeten zwei Tuchproduktionsstätten und eine Färberei in Prato den Kern seines weit gespannten Imperiums. Seinen durch Zufall überlieferten Aufzeichnungen verdanken wir vielerlei, wenngleich nicht immer typische Einblicke in toskanische Verhältnisse um die Wende zum 15.  Jahrhundert.193 Seide, ein weiterer Luxusstoff, wurde überwiegend in Norditalien hergestellt. Zu Beginn des 14.  Jahrhunderts verfügte noch Lucca über die führende Position, bevor etwa 150 Jahre später Venedig, Bologna und Florenz die Produktion von Seidenstoffen dominieren sollten. Aber auch Genua spielte in diesem Sektor eine wichtige Rolle. Soweit der knappe Überblick zum wohl wichtigsten Handels- und Produktionsbereich des Spätmittelalters. Neben den Tuchen besaßen die Metallwaren gleichfalls einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Aus dem eisenverarbeitenden Gewerbe gelangten zunächst vornehmlich Waffen und Rüstungen in den internationalen Handel. Im Reich lag das Zentrum der Waffenproduktion vorerst in Köln, beste Klingen wurden beispielsweise im unweit entfernten Solingen hergestellt – eine Tradition, mit der die Stadt noch heute wirbt. Köln war vom 12. Jahrhundert an für seine Schwerter bekannt, doch schon ein Jahrhundert später fertigten die Handwerker Helme sowie Kettenpanzer oder Kettenhemden, und nach der Entwicklung des Harnischs um 1300 nahmen die Kölner auch dessen Produktion in großem Umfang auf. Wohl schon im 13., sicher aber im 14. Jahrhundert bildeten die Kölner Sarwörter (Harnischmacher), die Schwertfeger und vielleicht auch die Speermacher für die folgenden Jahrzehnte eine eigene Zunft. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert beschossen die Sarwörter nicht nur in Köln die von ihnen gefertigten Brustpanzer, um deren Stabilität zu testen; diese Praxis fand auch bei Einzelanfertigungen Verwendung. Innerhalb der großen Schmiedezunft gab es spezialisierte Gewerbe wie Messer193 Schulte: Geschichte, Bd. I, S. 143. Iris Origio: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini 1335–1410, München 1985.

335

Spätmittelalter

und Haubenschmiede, Sporenmacher, Harnisch- und Scheidenmacher. Im Laufe des 15. Jahrhunderts gingen die Kölner Schwertfeger verstärkt dazu über, rohe Klingen aus dem nahen Bergischen Land, besonders aus Solingen, einzuführen, um diese zu polieren (fegen) und fertigzustellen. Die schwierige Kunst des Polierens, durch welche eine Hiebwaffe erst den letzten Schliff erhielt, also die besondere Härte und Schärfe sowie den bläulichen Glanz, gab dem Schwertschmiedehandwerk in Köln – und auch anderswo – sogar seinen Namen. In der rheinischen Metropole verstärkte sich auch bei der sonstigen Waffenproduktion seit der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts der Übergang von der Urproduktion zur Veredelungstechnik. Hand in Hand damit erfolgte die zunehmende verlegerische Erfassung des ländlichen sowie kleinstädtischen Handwerks in einem weiteren Umland, das im Osten etwa 100 Kilometer weit bis in das märkische Sauerland, den Olper Raum sowie das Siegerland reichte. Allerdings war nicht das Rheinland, sondern Oberitalien der europaweit führende Lieferant für die stark nachgefragten Rüstungen. Den besten Ruf auf dem Kontinent genossen im 14. Jahrhundert Rüstungen aus Mailand und Brescia. In beiden Städten stellten Handwerker zweierlei Qualitäten her: zum einen die standardisierten und vergleichsweise preiswerten Produkte für den gemeinen Kämpfer und zum anderen die aufwendigsten, nach Maß gefertigten Prunkrüstungen für Hochadel und Herrscher. Mailand und Brescia konnten auf die Eisenerzvorkommen am Südhang der Alpen zurückgreifen, hatten Zugang zu großen Holzmengen aus den alpinen Wäldern, um daraus Kohle zu gewinnen, und zu Flüssen, um die Schwarzhämmer und Poliermaschinen anzutreiben. Nachdem Brescia 1355 an Mailand gefallen war, beherrschten die Visconti für drei Genera­ tionen das gesamte Marktsegment und förderten in beiden Kommunen die ansässigen Handwerker. Nach der Eroberung Brescias durch Venedig 1426 wurde dann die Lagunenstadt zum wichtigsten Kunden. So bestellte die Serenissima beispielsweise im Jahr 1478 jeweils 10 000 Brustharnische und Helme mit Nackenschutz. Eine derartige standardisierte Massenfertigung ließ sich nur mit einer hochgradigen Spezialisierung erreichen. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts begannen die süddeutschen Waffenschmiede den Lombarden Konkurrenz zu machen. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden dort eigenständige Rüstungsformen entwickelt, die zunächst die oberitalienischen Produkte aus Oberdeutschland verdrängten, um anschließend auf andere europäische Märkte vorzudringen. Vor Augsburg, Landshut und Innsbruck errang Nürnberg in diesem Wirtschafts336

Handel

sektor eine führende Rolle. Die Nürnberger spezialisierten sich auf tragfertige Harnische für Fußkämpfer, wobei die Herstellung wie bei ihren Konkurrenten in beachtlicher Arbeitsteilung erfolgte. Nicht zuletzt weil die eng gefassten Zunftregeln nur Kleinbetriebe zuließen – so durfte bis 1507 ein Meister nur zwei Gesellen und einen Lehrling gleichzeitig beschäftigen –, produzierten die Nürnberger Handwerker nur Einzelteile wie Panzerhandschuhe, Beinröhren, Brustpanzer oder Armbergen. Diese lieferten sie anschließend an die Händler, welche die Rüstungen komplett zusammensetzen ließen. Höchstwahrscheinlich waren jedoch die Fernkaufleute die ­treibende Kraft, die eine ausgeprägte Spezialisierung auf ebendiese Einzelteile wie Handschuhe, Hauben, Beinröhren, Brustpanzer oder Armteile durchsetzte, um eine gleichbleibende und hohe Qualität in großen Stückzahlen liefern zu können. Dieser Prozess lässt sich mit Blick auf die Handwerker ebenso als eine Spezialisierung wie als eine Dequalifizierung deuten. Dagegen bildete die Herstellung von (Prunk-)Harnischen für überwiegend hochrangige Adlige unverändert das Betätigungsfeld nur einiger weniger Spezialisten. Den überwiegenden Teil des Fernhandels mit Rüstungen wickelten Kaufleute ab, die sich aber in der Regel nicht allein auf dieses durchaus konjunkturabhängige Produkt konzentrierten. Während des 16. Jahrhunderts nannten die Nürnberger Meisterbücher als Meisterrecht der Plattner oftmals nur noch Spezialgebiete der Produktion und nicht mehr den gesamten Bereich dieses Handwerks; während des 17. Jahrhunderts sollte das Gewerbe rapide an Bedeutung verlieren. Die Interessen der Nürnberger Kaufleute dominierten auch den benachbarten Oberpfälzer Bergbau und die dortige Eisenverarbeitung. Als während des Spätmittelalters oberflächennahes Eisen generell knapp wurde, floss Nürnberger Kapital zusätzlich in Bergwerke im Harz und in Böhmen, während die Augsburger stärker in Tirol und Neusohl (Ungarn) investierten. Beide Städte konzentrierten ihre Aktivitäten dabei auf den Bunt- und Edelmetallsektor. Als ein grundsätzliches Problem erwies sich bei immer tiefer werdenden Gruben die Beseitigung von eindringendem Wasser. Wasserkünste erforderten einen hohen Kapitaleinsatz, sodass auch im Bergbau sich die Trennung von Kapital und Arbeit durchzusetzen begann; doch wird der Montansektor noch eigens behandelt. An der Fertigung und am Massenhandel mit Rüstungsgütern beteiligten sich außerdem noch Tournai und Brügge, die seit dem 14. Jahrhundert einfache, standardisierte Rüstungen herstellten; freilich beschränkte der Eisenmangel in der Umgebung das dortige Produktionsvolumen. Im Bereich 337

Spätmittelalter

der Prunkharnische waren es schließlich nicht die Nürnberger, welche Mailand Konkurrenz machten, sondern vornehmlich Augsburger Firmen. Nach der Übersiedlung des burgundischen Hofes in die Niederen Lande in den späten 1430er-Jahren wurden auch in Brügge solche hochwertigen Waren in nunmehr höherer Zahl gefertigt. Zu den wichtigsten gehandelten Massengütern zählte das Getreide, doch blieb der europäische Getreidehandel noch im Spätmittelalter und darüber hinaus prinzipiell zweigeteilt, denn nur in Ausnahmesituationen erfolgte ein Austausch zwischen dem Süden und dem Norden des Kontinents. Die großen Städte blieben stets auf regelmäßige Getreidelieferungen angewiesen, doch die Nachfrage dürfte schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts vor den großen Hungersnöten ihren Höhepunkt erreicht haben, bevor sie dann im 16. nochmals deutlich anstieg. Nicht zuletzt aus Furcht vor Hungerunruhen lagerten die Stadtregimente zumindest seit dem 15.  Jahrhundert ausreichende Reserven in den kommunalen Getreidespeichern ein. Die vermögenderen Bürger hatten selbst Vorräte für ein Jahr oder länger auf eigene Kosten anzulegen. Nur wenige Städte im Reich inklusive ihrer vermögenden Bürger und ihrer Spitäler konnten gemeinsam ein Territorium ihr Eigen nennen, welches die Versorgung halbwegs sichergestellt hätte. Dabei war der Erwerb von Landbesitz für Großkaufleute durchaus typisch, schufen sie damit doch eine relativ sichere Vermögensreserve und näherten sich zugleich einer adelsgleichen Lebensführung an. Bereits in der dritten oder vierten Generation solcher Familien zeigte sich nicht selten die Tendenz, das Leben eines Grundherren statt das eines Kaufmanns zu führen. Über umfangreichen städtischen Landbesitz verfügten beispielsweise Nürnberg mit etwa 1500 Quadratkilometern und Rothenburg ob der Tauber mit 400 Quadratkilometern, wobei den Rothenburger Besitz etwa zur Hälfte ein Graben-Wall-System mit Hecken schützte. Etwa 25 000 bäuerliche Hintersassen dürften Ende des 15. Jahrhunderts die Nürnberger Dörfer bewohnt haben. Insgesamt zählten schließlich im 16. Jahrhundert über 70 Dörfer, sieben Märkte sowie sechs Städte (Altdorf, Betzenstein, Gräfenberg, Hersbruck, Lauf und Velden) zum Nürnberger Territorium. Weiterhin lassen sich Ulm (etwa 830 Quadratkilometer) und Schwäbisch Hall (ungefähr 300 Quadratkilometer) nennen, und im letzten Fall schützte wiederum eine Landheg weite Teile des Gebiets. Dennoch erwies sich die Versorgung mit Lebensmitteln und besonders mit Getreide als ein wachstumslimitierender Faktor, denn angesichts der Transportproblematik zu Lande und der damit verbundenen Kosten wurde nur in ausgesprochenen 338

Handel

Notlagen ein Versorgungsradius von zwei Tagesreisen überschritten, welcher sich auf etwa 35 bis 40 Kilometer beziffern lässt. Nicht zuletzt wegen solcher Versorgungsschwierigkeiten konnte beispielsweise im Niederrheinraum oder im Hellweggebiet kein weiteres Städtewachstum mehr stattfinden und stieg die Einwohnerzahl Kölns, die im 15. Jahrhundert 40 000 bis 45 000 betrug, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht weiter an. Trotz fruchtbarer Böden im Umland benötigte die rheinische Großstadt etwa 1800 Quadratkilometer Anbaufläche, noch ohne den Bodenbedarf für gewerblich genutzte Pflanzen, während für Nürnberg bei mittlerer bis schlechter Bodenqualität ungefähr 5000 Quadratkilometer berechnet wurden.194 Ihre Versorgung sicherten die norditalienischen Städte hauptsächlich mit Getreidelieferungen aus Sizilien und von der Schwarzmeerküste, wo die Händler das Getreide in den Häfen der Flussmündungsgebiete aufkauften. In geringerem Maße bezogen sie Getreide vom süditalienischen Festland, aus Griechenland, Kleinasien und Nordafrika. Das Getreide für die Toskana transportierten genuesische Schiffe, denn nach dem Sieg über Pisa 1284 hatte Genua den dortigen Außenhandel für Jahrzehnte fest in der Hand. Im Ostseeraum handelte es sich um die weiter östlich gelegenen Gebiete an deren Südküste einschließlich des Deutschordensterritoriums die wichtigsten Produzenten des Grundnahrungsmittels. Hier übernahmen zunächst die hansischen Kaufleute die Rolle des Zwischenhändlers. Sie erwarben das Getreide vornehmlich an der Weichsel in Danzig, dessen Hafen und Handel seit dem 16. Jahrhundert deutlich an Bedeutung gewinnen sollten, in Thorn oder Stettin an der Oder, wenngleich der Getreidehandel in fast allen Häfen von Rostock bis Reval über eine nicht zu unterschätzende Bedeutung verfügte. Danzig fiel übrigens 1466 an die polnische Krone, nachdem die Stadt bereits zwölf Jahre zuvor die Schutzhoheit des polnischen Königs anerkannt hatte; an den Deutschen Orden war Danzig nach der Eroberung der Pommerellen zu Beginn des 14. Jahrhunderts gelangt. Diese steigende Einbindung der bisherigen Peripherie ließ die Getreidepreise angesichts des Bevölkerungswachstums und insbesondere der wachsenden Nachfrage der Niederen Lande trotz erheblicher Ausweitung des Anbaus im 16. und 17. Jahrhundert steigen. Die Grundherren in den ostelbischen Gebieten verschärften die Abhängigkeit der bäuerlichen Bevölkerung und erhöhten die Frondienste drastisch. Allerdings sanken im 194 Franz Irsigler: Bündelung von Energie in der mittelalterlichen Stadt. Einige Modellannahmen, in: Saekulum 42 (1991), S. 308–318.

339

Spätmittelalter

Gegenzug wohl gerade aufgrund des Drucks auf die Hintersassen die Ernte­erträge pro Einheit Grundfläche. Die Hauptabnehmer für das Ostseegetreide waren, wie bereits mehrfach angedeutet, die Städte in den Niederen Landen; ihre Nachfrage hatte den Getreideanbau und seine massive Ausweitung in diesen Gebieten überhaupt erst ausgelöst und sie quasi zum eigenen Hinterland werden lassen. Nunmehr wurde die Hauptmenge der polnisch-litauischen Getreideexporte über Danzig und Elbing abgewickelt, im 17. Jahrhundert soll gar ein Drittel der niederländischen Bevölkerung mit Brotgetreide aus dem Ostseeraum versorgt worden sein. Eine derartige Entwicklung lässt sich nicht mit komparativen Kosten erklären, wie es der Ökonom David Ricardo im frühen 19. Jahrhundert an anderen Beispielen zeigt, sondern diese sind vielmehr selbst ein Produkt von politischen und ökonomischen Interessen sowie Machtverhältnissen. Als weiteres Massengut sei hier noch das Salz erwähnt, dessen Verbrauch im Spätmittelalter deutlich über dem heutigen lag, da Salz in großen Mengen für die Konservierung von Fleisch, Fisch oder Kohl unabdingbar war. Immerhin sollte es noch bis zum Jahr 1882 dauern, bevor ein Kühlschiff erstmals tiefgekühltes Fleisch von Neuseeland nach England transportierte, was im Verlauf der folgenden Jahrzehnte zu gravierenden Veränderungen des Konsumverhaltens führte. Allerdings weisen die in der Literatur genannten durchschnittlichen Verbrauchszahlen für die hier interessierende Zeit eine beträchtliche Schwankungsbreite auf, bewegen sie sich doch zwischen siebeneinhalb und 15 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Salzmärkte fanden sich jedenfalls in so gut wie jeder mittleren und größeren Stadt. In vielen Küstengebieten Europas, vom englischen Norfolk bis nach Zypern, lagen Salzsümpfe, die bei entsprechender Bearbeitung in Salzgärten umgewandelt werden konnten. In gewissen Zeitabständen wurden diese Gärten mit Salzwasser geflutet, und nachdem das Wasser verdunstet war, wurden die Salzablagerungen zusammengerecht, um sie anschließend zur Gänze zu trocknen. Im Süden Europas konnte zu diesem Zweck die Sonneneinstrahlung genutzt werden und an den Küsten zusätzlich der Wind, während im mitteleuropäischen Binnenland der Trocknung stark nachgeholfen werden musste, weshalb die Salinen große Holzmengen benötigten. Allerdings reichten die meisten Salzvorkommen gerade einmal für den lokalen bis regionalen Bedarf aus. Die wichtigsten Lieferanten von Meersalz waren die von Venedig kontrollierten Salzgärten der Adria mit Chioggia an der Spitze. Dazu kam die Salzgewinnung an den Küsten des 340

Handel

Languedoc und der Provence, auf Ibiza und Sardinien sowie an der Loiremündung in den Atlantik. Das Salz von der Atlantikküste, neben Cádiz und Setúbal vornehmlich in Baie de Bourgneuf und weiteren Küstensiedlungen wie Brouage gewonnen, vertrieben die Händler bis England und sogar bis Skandinavien; im Norden des Reichs firmierte es häufig unter der Bezeichnung Baiensalz. Die größten binnenländischen Salzlagerstätten des Spätmittelalters, die im Gegensatz zum preiswerteren Meersalz als Steinsalz bezeichnet werden, befanden sich wohl in Lüneburg und in Hallein bei Salzburg. Die in Früh- und Hochmittelalter im Alpenraum führende Saline Reichenhall verlor im späteren 12. Jahrhundert ihre Vorrangstellung an das neu erschlossene Hallein, wobei die Salzburger Erzbischöfe die Stadt Reichenhall 1196 zerstört oder niedergebrannt haben sollen; doch tatsächlich kam Berchtesgaden zu Schaden. In Reichenhall verlor die Salzgewinnung und dadurch auch die Stadt im 16. und noch stärker im 17. Jahrhundert an Bedeutung; erst das Aufblühen der Heilbäder im späteren 19. Jahrhundert sollte zu einer neuen Blüte des Städtchens führen. Außerdem lassen sich mit reichen Vorkommen Schwäbisch Hall, dessen Salzhandel sich in Richtung Westen orientierte, während der Großhandel mit Salz (Scheiben) bereits 1385 in einem Umkreis von drei Meilen um die Stadt untersagt war, und Halle an der Saale anführen.195 Allerdings besaß Salz nur einen relativ geringen Eigenwert – wenngleich der Preis durch Monopole sowie aus fiskalischen Motiven (Zölle) auf den Lokalmärkten drastisch steigen konnte –, weshalb die Kaufleute hohe Umsätze erzielen mussten. Gegenüber dem Frühmittelalter handelte es sich seit dem 12. Jahrhundert bei den meisten Fluss- und Straßenzöllen um Transitzölle. Allerdings belegen die Zolltarife nur fiskalische Wunschvorstellungen der Regalinhaber, so Ulf Dirlmeier, und sagen nichts darüber aus, in welcher Höhe sie sich als durchsetzbar erwiesen. Nicht selten dürfte seit dem 14. Jahrhundert die Warenverfrachtung auf dem Rhein und auf anderen Flüssen aufgrund einer pauschalierten Abmachung zwischen Kaufmann und Frachtschiffer erfolgt sein, welche die Zollleistungen bereits enthielt. Dieses Vorgehen konnte zu mehr als einer Halbierung der nominellen Zollforderung führen. Selbst zwischen Oberitalien und Oberdeutschland hielten sich die Zollbelastungen beim Transport hochwertiger Kaufmannsgüter trotz der zahlreichen Mautstellen in vergleichsweise engen Grenzen, lagen sie doch zumeist insgesamt deutlich unter zehn Prozent des Warenwertes. Für 195 Kuno Ulshöfer: Der hällische Salzhandel, in: ders./Beutter (Hg.): Hall, S. 95–112, hier S. 97–99.

341

Spätmittelalter

­ assengüter wie Wein, Fisch oder Getreide lassen sich hingegen auf dem M Rhein Verteuerungen um ein Viertel erkennen.196 Im Spätmittelalter blieben alle nicht einheimischen Gewürze teuer, und im Handel mit diesen nahm Venedig eine führende Stellung ein. Die exotischen Spezereien gelangten auf dem Land- oder Seeweg aus Asien an die Levanteküste, also die östliche Mittelmeerküste, wo italienische Schiffe die Waren übernahmen. Wahrscheinlich nur zwei- oder dreimal jährlich liefen die Schiffe mit den begehrten Waren in den Hafen der Lagunenstadt ein, wo es für die Kaufleute galt, sich frühzeitig mit den Produkten einzudecken. Wichtigster Konkurrent Venedigs blieb Genua. Das nicht unproblematische Meder’sche Handelsbuch gewährt uns Einblicke in den venezianischen ­Levantehandel: Demnach steuerten zweimal jährlich acht bis neun venezianische Galeeren Syrien an, vornehmlich um Baumwolle zu erwerben, weitere zwei nahmen Kurs auf Beirut, nochmals drei auf Alexandria, schließlich eine auf Zypern. Als wichtigste Handelswaren nennt diese Quelle Zinn, Kupfer, Quecksilber, Rauchwaren, Ingwer, Nelken, Zimt, Nüsse, Muskatnuss, Kümmel sowie Galläpfel.197 Insgesamt dürften etwa drei Viertel aller aus dem Osten nach Europa gelangten Gewürze in den Jahren nach 1400 über Venedig importiert worden sein, doch die umgeschlagenen Mengen bleiben unbekannt. Nach Schätzungen handelte es sich vielleicht um 500 Tonnen jährlich, eventuell auch um die doppelte Menge. Schon aus diesen Zahlen geht hervor, dass Gewürze zwar keinesfalls die wichtigste Handelsware darstellten, doch bei ihnen verband sich ein geringes Gewicht mit hohen Preisen, was sie zu einem idealen Handelsgut werden ließ. So bildete die Aussicht auf einen Direkthandel mit Asien zum dortigen Gewürzerwerb neben der Erwartung unendlicher Edelmetallvorkommen eine wichtige Antriebskraft nicht nur für die portugiesische Expansion. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts sollten schließlich portugiesische Schiffe direkt und in größerer Anzahl diese Märkte ansteuern. Diese Fahrten, die auf die Erstumsegelung des Kaps der Guten Hoffnung folgten, dienten freilich nicht ausschließlich Handelszwecken, sondern sie verbanden je nach Gelegenheit Handel und Überfälle oder Räubereien. Nur knapp schilderte der Augsburger Chronist Wilhelm Rem die bahnbrechende erste Fahrt unter dem Kommando Vasco da Gamas: 196 Dirlmeier: Zoll- und Stapelrechte, S. 29–32. 197 Das Meder’sche Handelsbuch und die Welser’schen Nachträge, hg. u. eingel. v. Hermann Kellenbenz (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit, XV), Wiesbaden 1974, S. 137.

342

Handel

„Anno dni. 1499 da kamen mär her, wie der kunig von Porttigal im 1497. jar 3 scheff auff dem mör ausgesant hab, die solten India und fremde land suchen. Also kamen von den selben 3 scheff wider 2 scheff a die 9. Juio 1499, die brachtem dem kunig gutte mär, daß sie Calacut in India, da spezerei wechst, gefunden haben. Sie brachten pfeffer und ander spezerei mit in, doch nit vil. Und der habtman, der auff disen schiffen was, hieß Don Basgo Digama [Vasco da Gama], dem schanckt der kunig groß gutt, daß er die raiß gefunden hat.“198

Nicht portugiesische oder genauer gesagt oberdeutsche und italienische Kaufleute konnten sich allerdings nur 1505/06 an einer Fahrt nach Indien beteiligen, die immensen Gewinn erbracht haben soll. Danach monopolisierte die portugiesische Krone den lukrativen Gewürzhandel in ihren Händen und schloss auswärtige Firmen davon aus. Ob aber schon im 16. Jahrhundert von einer Weltwirtschaft die Rede sein kann, ist umstritten, zumal der deutsche Begriff sich als ausgesprochen starr erweist, wenn es einen langen Entwicklungsprozess zu beschreiben gilt. Besser geeignet dürfte der französische Begriff économie-monde sein. Die Umsegelung Südafrikas und die Weiterreise nach Indien mitsamt der glücklichen Rückkehr erwiesen sich wie die Wiederentdeckung Amerikas als erste Meilensteine der europäischen Expansion, in der Portugal eine Führungsrolle zukam. Mit der Eroberung von Ceuta 1415 südlich der Straße von Gibraltar hatte ein stückweises, aber planmäßiges Vordringen entlang der afrikanischen Westküste eingesetzt, währenddessen die Schiffs­ besatzungen fürchteten, die Hitze werde irgendwann unerträglich. Keinesfalls aber glaubten sie, von der Erdscheibe zu fallen, denn deren Kugelgestalt war geläufig, und nur aus den planen Karten vor der Erfindung des Globus schlossen spätere Generationen, das Mittelalter habe sich die Erde als Scheibe vorgestellt. 1487 erreichte Bartolomeu Diaz die Südspitze Afrikas, womit die Verbindung von Atlantik und Indischem Ozean als g­ esichert galt. In der Folge sollte sich Antwerpen zu einem neuen Welthandelszentrum entwickeln, wo von Portugiesen und Spaniern herbeigeschaffte Waren in großen Mengen anlandeten. Nach der Eroberung der Stadt 1585 durch Alexander Farnese übernahm dann Amsterdam ihre Rolle. Allerdings er198 Stücke aus der Cronica alter und newer geschichten von Wilhelm Rem aus den Jahren 1495–1509, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 25 (Die Chroniken der schwäbischen Städte: Augsburg, 5), Leipzig 1896, ND Göttingen 1966, S. 271–281, hier S. 273. Vgl. Andreas Erhard/Eva Ramminger: Die Meerfahrt. Balthasar Springers Reise zur Pfefferküste, Innsbruck 1998.

343

Spätmittelalter

folgte die fast vollständige Verlagerung des Gewürzhandels erst mit dem Einstieg der Niederländer in den Ostindienhandel am Ende des 16. Jahrhunderts. Auch der Perlen- und Juwelenhandel nahm diesen neuen Weg, und neben Antwerpen und Lissabon entwickelte sich Frankfurt zu einem Zentrum der Edelsteinschleiferei. Die europäische Expansion thematisieren wir hier freilich nicht weiter, auch wenn Karl Marx sie für einen Eckpfeiler der „ursprünglichen Akkumulation“ hielt: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“199

Auch der Weitervertrieb der Spezereien konnte ein ausgesprochen lukra­ tives Geschäft sein. Dies galt besonders dann, wenn ein Händler die Waren als Erster, noch vor seinen Konkurrenten, auf die heimischen Märkte brachte. Die Versorgung des Nordens erfolgte wiederum in erster Linie über Brügge. Oberdeutsche Kaufleute erwarben dagegen in Oberitalien u. a. Pfeffer aus Indien, Zimt (zeitgenössisch als cannel oder roren bezeichnet), Muskatnüsse sowie die noch teureren Muskatblüten mit ihren ätherischen Ölen (macis), Gewürznelken von den Molukken (nägel, nägelchen), Ingwer, Kapern oder Olivenöl. All diese Waren veräußerten sie, nachdem sie sie in größeren Mengen über die Alpen transportiert hatten, entweder an Endverbraucher oder an Detailhändler. Ausgesprochen teuer blieb der vornehmlich auf der Iberischen Halbinsel und in Italien (Toskana, Apulien, Abruzzen mit dem Zentrum L’Aquila, von den Deutschen vielfach „Adler“ genannt, Lombardei, Marken) angebaute Safran, welcher in mühseliger Ernte gewonnen werden musste; großflächige Anbaugebiete finden sich zudem in Südfrankreich. Im Herbst entwickelten die dem Krokus verwandten Pflanzen dreiteilige Narben von kräftiger roter Farbe mit einer Länge von etwa drei Zentimetern, wogegen sich ihr Durchmesser auf nur wenige Millimeter belief. In Handarbeit mussten die Narben aus den nur wenige Tage geöffneten Blüten geerntet und anschließend getrocknet ­werden, eine wohl aufgrund ihrer höheren Fingerfertigkeit überwiegend 199 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 1. Bd., ND Hamburg 41890, Berlin 1979 (MEW, 23), S. 779.

344

Handel

von Frauen und Kindern ausgeübte Tätigkeit. Schließlich gelangte der ­Safran in gemahlener Form zu den Nachfragern. Vor allem große Handelsgesellschaften unterhielten eigene Niederlassungen auf der Iberischen Halbinsel oder sandten rechtzeitig Agenten, um den Zeitpunkt der Ernte nicht zu verpassen; durch die Umgehung des Zwischenhandels konnte das Gewürz zudem deutlich preisgünstiger erworben werden. Die Erträge dürften sich auf 10 bis 30 Kilogramm je Hektar Anbaufläche belaufen haben.200 Im Reichsgebiet erfolgte im 15. Jahrhundert der Anbau von Safran um Basel, vielleicht auch um Colmar und Freiburg im Breisgau; eine größere Bedeutung als Anbaugebiet erlangte in Mitteleuropa aber nur Niederösterreich. Aufgrund des hohen Preises versuchten Händler immer wieder, gefälschten Safran auf den Märkten zu veräußern. Doch zumindest in größeren Städten wie Nürnberg sollte eine im 15. Jahrhundert eingerichtete Safranschau dies verhindern, die im Namen des Rates durch Kaufleute mit entsprechenden Produktkenntnissen ausgeübt wurde. Daneben fanden nicht unerhebliche Safranmengen als Gelbfärbemittel in der Tuchherstellung Verwendung, was den Preis deutlich steigen ließ. In Oberitalien angebauter Reis gelangte vornehmlich zum Verzehr an Fasttagen auf die Tische der Bessergestellten. Für Zucker mussten die Konsumenten bis weit in das 15. Jahrhundert hinein gleichfalls hohe Preise bezahlen. Gewonnen wurde die begehrte Süße aus Zuckerrohr, das auf den Mittelmeerinseln Zypern, Kreta und Rhodos, zudem auf Sizilien und um Granada angebaut wurde. Dazu trat Ägypten als weiterer Lieferant. Allerdings verloren Zucker und Pfeffer im Zuge der portugiesischen und dann der spanischen Expansion an Wert, weil ein umfangreicher Zuckerrohranbau durch Portugiesen und Kastilier auf den atlantischen Inseln einsetzte, insbesondere auf Madeira, wo die Siedler zudem den Weinanbau einführten, aber auch auf den Kanaren. Dies ließ den Preis für Zucker in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts so weit fallen, dass er zunächst im Mittelmeerraum auch für Angehörige der Mittelschichten erschwinglich wurde. Die Verbindung zwischen Aragón und Kastilien erfolgte übrigens erst 1479 in Form einer Matrimonialunion, ohne dass schon von Spanien die Rede sein konnte. Nach eigener Aussage kaufte der Florentiner Gewürzkrämer, Drogist und Apotheker Luca Landucci am 26. Mai 1471 erstmals in seinem 200 Vgl. den Überblick von Kurt Weissen: Safran für Deutschland. Kontinuität und Diskontinuität mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Warenbeschaffungsstrukturen, in: Westermann/Welser (Hg.): Beschaffungs- und Absatzmärkte, S. 61–78.

345

Spätmittelalter

Leben Zucker – aus der frühesten Lieferung, welche die toskanische Metropole erreichte und in diesem Fall aus Madeira stammte. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts nahmen dann portugiesische Siedler an den Küsten Brasiliens die Anlage von Zuckerrohrplantagen in Angriff, und vornehmlich der Zuckerrohranbau in Mittelamerika seit dem 17. Jahrhundert ließ die Produktion nochmals deutlich steigen. Nördlich der Alpen führte letztlich erst der Zuckerrübenanbau im 19. Jahrhundert dazu, dass breite Bevölkerungsschichten sich Zucker leisten konnten; jedoch musste dafür der Zuckeranteil der Pflanzen durch züchterische Bemühungen deutlich erhöht werden.201 Der von den Zeitgenossen auch als Paradieskörner bezeichnete afrikanische Pfeffer wurde von den Portugiesen in großen Mengen nach Europa geschifft und entwickelte sich im 16. Jahrhundert sogar zu einem Massenprodukt. Nach ihren Eroberungen in Südostasien versuchten die Niederländer im 17.  Jahrhundert, ein Pfeffer- und Gewürz­ monopol zu errichten, scheiterten aber. Ebenfalls nur für wenige Begüterte bezahlbar waren Südfrüchte, und entsprechend fanden Pomeranzen, Granatäpfel, Zitronen, Limonen oder teure Damaszenerpflaumen lediglich in geringer Anzahl ihren Weg über die Alpen. Ohnehin konnten die empfindlichen Früchte auf dem langen Weg leicht Schaden nehmen, was ein entscheidendes Transporthindernis bildete. Stückweise, nicht wie üblicherweise nach Gewicht, bezahlten die Käufer denn auch Zitronen, Limonen oder Pomeranzen, was ihren hohen Wert verdeutlicht – belegen lässt sich diese Praxis beispielsweise an Nürnberger Haushaltsbüchern des frühen 16. Jahrhunderts. Dagegen fanden Rosinen bzw. Weinbeeren, Mandeln und Feigen einen größeren Käuferkreis, sie galten als umsatzstärkste Südfrüchte. Auf die Kölner Märkte gelangten Zitronen spätestens gegen Ende des 15. Jahrhunderts, Orangen zu Beginn des folgenden. Letztlich dürfte der Handel mit Südfrüchten sowie mit aus diesen hergestelltem Latwerg zumindest im 16. Jahrhundert umfangreicher gewesen sein als lange angenommen.202 Essbare Kastanien sowie Datteln ergänzten dieses Angebotsspektrum im mittleren Preisbereich. Dagegen setzte ein Handel mit Tabak erst im frühen 17. Jahrhundert in Amsterdam, Lissabon und Sevilla ein, verbreitete sich dann aber rasch. 201 Landucci: Tagebuch, S. 21. Achilles: Agrargeschichte, S. 230 f. 202 Walter Bauernfeind: Marktinformationen und Personalentwicklung einer Nürnberger Handelsgesellschaft im 16. Jahrhundert – Das Briefarchiv von Anthoni und Linhart Tucher in der Zeit von 1508 bis 1566, in: Westermann/Welser (Hg.): Beschaffungs- und Absatzmärkte, S.  23–60, hier S. 43.

346

Handel

Fisch spielte im Spätmittelalter schon angesichts der Vielzahl kirchlich vorgeschriebener Fasttage eine wichtige Rolle in der Ernährung, denn an gut einem Drittel aller Tage des Jahres blieb der Fleischverzehr aufgrund derartiger Bestimmungen verboten. Heringe aus Ost- und Nordsee, gefangen überwiegend im Herbst, lassen sich für das Spätmittelalter durchaus als ein Massengut charakterisieren. Lübecker Kaufleute transportierten Salz nach dem heute schwedischen Schonen und erwarben auf den dortigen Messen die Fische, um diese über Zwischenhändler bis nach Oberdeutschland zu vertreiben. Jedoch nahm Köln mit seinem Stapelrecht eine Sonderstellung ein: Es übernahm den Handel entlang des Rheins und seiner Seitenflüsse nach Südwestdeutschland und bezog im Gegenzug vornehmlich Wein von Mittelund Oberrhein sowie der Mosel. Derart erfuhren Fisch- und Weinhandel eine enge Verschränkung. Wohl schon im frühen 13. Jahrhundert erlangten die Lübecker Kaufleute Privilegien von den dänischen Herrschern, da sie das dringend benötigte Salz herbeischafften. Weitere Küstenstädte an Nord- und Ostsee folgten, versorgten sie den Norden doch gleichfalls mit den dort begehrten Waren. Während des Spätmittelalters blieb Schonen, wenngleich bei rückläufiger Tendenz, die wichtigste Fischhandelsregion Skandinaviens. ­Allerdings ist seit dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts in Schonen eine Zurückdrängung der Händler aus den Nordseeanrainern zu beobachten, was einerseits das Warenangebot reduzierte, andererseits dazu führte, dass sich England, Flandern und Holland zunehmend auf die Heringsschwärme in der Nordsee konzentrierten. Die starke Stellung der hansischen Ostseestädte beschnitt die dänische Krone dann im 15. Jahrhundert. Selbstverständlich stiegen die Preise für Heringe durch den langen Transportweg sowie damit ­verbundene Zollbelastungen einschließlich des Kölner Stapels an und lagen in Oberdeutschland deutlich über den Preisen im Norden. Während des 15. Jahrhunderts blieb aber der Hering dennoch eine für breite Kreise der Bevölkerung erschwingliche Fastenspeise, bevor sein Preis im 16. Jahrhundert drastisch ansteigen sollte. Das Verhältnis von Heringen zu Salzlake betrug vielfach etwa drei bis vier zu eins, eingesalzen blieben die Fische bis zu zwei Jahre haltbar. Allerdings mussten die in Salzlake konservierten Heringe vor dem Verzehr erst tagelang gewässert werden, damit man das Ursprungsprodukt überhaupt wieder schmecken konnte. Neben Heringen spielten geräucherte Bücklinge gleichfalls eine wichtige Rolle als Fastenspeise.203 203 Zum Fischhandel vgl. Carsten Jahnke: Das Silber des Meeres. Fang und Vertrieb von Ostseehering zwischen Norwegen und Italien (12.–16. Jahrhundert) (Quellen und Darstellungen zur hansischen

347

Spätmittelalter

In großen Mengen erreichte auch luftgetrockneter Stockfisch – überwiegend handelte es sich dabei um Kabeljau bzw. Dorsch – von der norwegischen Küste mit dem Zentrum Bergen das kontinentale Festland; der vor der norwegischen Küste gefangene Fisch galt als der hochwertigste Stockfisch. Die Fanggründe erstreckten sich allerdings bis nach Island sowie den Shetland- und Färöer-Inseln in den rauen, sturmgeplagten Gewässern des Atlantiks im Norden Schottlands, wo der Kabeljau hauptsächlich im Winter und im beginnenden Frühjahr gefangen wurde. Die Fische hingen anschließend an großen Holzgestellen, um zu trocknen. Baskische Fischer hingegen salzten den Stockfisch zunächst auf See, bevor sie ihn an Land trocknen ließen. Mussten die Heringe wegen ihres hohen Salzgehalts gewässert werden, erforderte beim Stockfisch dessen extreme Härte aufgrund des langen Trocknungsprozesses ebenfalls ein mehrtägiges Wässern – oder ein ausgesprochen kräftiges Gebiss. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts wurde der Kabeljaufang auch vor Neufundland betrieben, vornehmlich von England und Frankreich aus, dann von den Niederlanden. In den 1660er-Jahren nahmen Hamburger Schiffer die Grönlandfahrt auf, die dem Walfang diente. Hohe Bedeutung erlangte zudem der Viehhandel, zunächst beschränkt auf die Märkte im Umland der Kommunen. Gerade die großen Städte erwiesen sich angesichts eines steigenden Fleischkonsums auf Lieferungen von auswärts angewiesen, wie dies zuvor bereits beim Getreide der Fall gewesen war. Doch erschloss der europäische Ochsenhandel vornehmlich seit dem 15.  Jahrhundert andere Dimensionen. Ansatzweise seit dem 13. Jahrhundert, verstärkt im 15. Jahrhundert, wurde Vieh, in erster Linie Ochsen, von den Küstengebieten des Nordens einschließlich Dänemarks auf die niederdeutschen Märkte getrieben. Im heutigen Schleswig-Holstein dominierte die Viehzucht zunächst an der Westküste mit ihren Marschen und erfuhr im 15. und 16.  Jahrhundert eine Intensivierung in Schleswig und in Jütland. Erneut konnte Köln sein Stapelrecht weitgehend durchsetzen, und so mussten die dänischen, jütländischen und sonstigen Herden von den Ufern der Nord- und Ostsee zunächst nach Köln geschafft werden, bevor weitere Städte oder Höfe der Region beliefert werden konnten. Als vom Kölner Stapel nicht betroffen erwies sich der Viehtrieb in die Niederen

348

Geschichte, N. F. 49), Köln/Weimar/Wien 2000. Angelika Lampen: Fischerei und Fischhandel im Mittelalter. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchungen nach urkundlichen und archäologischen Quellen des 6. bis 14. Jahrhunderts im Gebiet des Deutschen Reiches, Husum 2000.

Handel

Lande, da dieser auf anderen Routen erfolgte. Der dänische „Ochsenweg“ führte zunächst über Ribe und Flensburg nach Hamburg. Zusätzlich versorgten sich die Kölner auf den Viehmärkten von Groningen, Zwolle, Zutphen, Nimwegen und Münster. Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gelangten dann ungarische Ochsen nach Oberdeutschland; Hauptabnehmer für ungarische Tiere blieben allerdings die oberitalienischen Kommunen, deren Versorgung mit Lebendvieh vornehmlich über Pettau erfolgte. Weiteres Vieh bezog Oberitalien aus der Eidgenossenschaft, besonders aus den ländlich geprägten Urkantonen Uri, Schwyz und Unterwalden, sowie aus den Savoyer Alpen. Schon früh hatte sich die Stadt Pettau (Ptuj) für den Handel zwischen Ungarn und Italien ein Zwischenhandelsmonopol gesichert, welches 1503 König Maximilian I. bestätigte. Etliche Bürger Pettaus gelangten auf diesem Weg zu immensen Vermögen. Von ihnen siedelten beispielsweise die Gebrüder Meichsner sowie Hans Thumer mit dem bezeichnenden Beinamen „der Reiche“ nach Nürnberg über und erwarben dort das Bürgerrecht. Vornehmlich seit dem 16.  Jahrhundert wurden zusätzliche Herden aus Polen und aus weiter östlich gelegenen Regionen, die bis in den Kiewer Raum hineinreichten, herangetrieben. Für Schwaben und Augsburg lässt sich konstatieren, dass die Fleischversorgung im 16.  Jahrhundert auf ungarischem Vieh basierte, ergänzt um Tiere aus Polen. Dazu traten lokale sowie regionale Viehmärkte im Bayerischen Wald, im Böhmerwald sowie in Rosenheim, die gleichfalls einen unverzichtbaren Teil des Bedarfs lieferten.204 Vielköpfige Herden durchquerten weite Teile Europas, wobei ein erheblicher Vorteil darin lag, dass sich die Tiere selbst zu ihren Schlachtplätzen bewegten. Begleitet wurde das ungarische Vieh dabei wahrscheinlich hauptsächlich von halbnomadischen Treibern, einer Art spätmittelalter­ licher „Cowboys“. Die Organisation solcher Transporte blieb allerdings eine komplexe Angelegenheit, denn es galt beispielsweise die Futterbeschaffung während der langen Trecks zu regeln, ebenso die verschiedenen Geleitsrechte sowie die Zollfragen an den zahlreichen Erhebungsstationen. Hier oder an den Raststationen ließen die Anwohner speziell für diese Klientel bestimmte Herbergen errichten. Schon aus den vorgenannten Gründen barg der Viehhandel mit seinen ausgesprochen schwer kalkulierbaren Transak204 Anna-Maria Grillmaier: Ochsen- und Rinderimporte nach Augsburg im Licht bayerischer Zollrechnungen des 15. und 16.  Jahrhunderts, in: Westermann/Welser (Hg.): Beschaffungs- und ­Absatzmärkte, S. 175–203, hier S. 195.

349

Spätmittelalter

tionskosten gerade für Neueinsteiger in diesen Geschäftszweig erhebliche Risiken. Bereits den Zeitgenossen fiel allerdings auf, dass die ungarischen Ochsen während der langen Trecks nur wenig an Gewicht verloren und sich dieses zudem schnell wieder anfraßen. Voraussetzung war natürlich, dass vor den Mauern der Städte genügend Weidemöglichkeiten bestanden. Diese wurden zuweilen als Fettweiden bezeichnet, weil die Tiere dort möglichst kurzfristig ihr Schlachtgewicht erreichen sollten. Generell war das Vieh dieser Jahrhunderte freilich deutlich kleiner und leichter als heutiges, weshalb die Fleischerträge gleichfalls geringer ausfielen: Bei ungarischen Ochsen könnte das Fleischgewicht etwa 250 bis 280 Kilogramm betragen haben, bei einheimischem Vieh dürften nur in seltenen Fällen 200 Kilogramm erreicht oder gar überschritten worden sein. Nur ostfriesisches Vieh galt gleichfalls als groß gewachsen. Da der Viehhandel aufgrund der hohen Einkaufspreise und der Transportkosten einen beachtlichen Kapitaleinsatz erforderte, finanzierten die Städte teilweise ihre ansässigen Metzger vor, damit diese als Fachleute eine möglichst ausreichende Anzahl schlachtreifer Tiere erwerben konnten, um die Fleischversorgung der Kommune zu sichern. Der Fleischverbrauch pro Kopf wird für das Reichsgebiet während des 15. Jahrhunderts mit durchschnittlich etwa 50 Kilogramm jährlich angegeben, allerdings vor dem Hintergrund einer ausgeprägten sozialen Differenzierung im Hinblick auf Menge und Qualität. Zudem ist diese Schätzung wesentlich unsicherer fundiert als der besser dokumentierte Getreideverbrauch. Wohl in geringerer Zahl als Ochsen wurden Schweine über weite Distanzen transportiert. Solche Transporte dürften häufig auf Schiffen erfolgt sein, doch fehlen hierzu weitere Untersuchungen, um den Umfang des Handels überhaupt einschätzen zu können. Im Gegensatz zu heute galt fettes Fleisch jedenfalls gegenüber magerem als höherwertiger, sodass Speck oftmals mehr kostete als sonstiges Rinder- oder Schweinefleisch. Eine wohlgenährte Statur dürften die Mitmenschen in diesem Sinne als ein wichtiges Indiz dafür gewertet haben, dass sich der Besitzer teure Nahrungsmittel mit hohem Nährwert in ausreichender oder eben sogar mehr als ausreichender Menge leisten konnte.

Getränke Großer Beliebtheit erfreuten sich unter den Vermögenden die süßen, schweren Südweine, heutigen Likören nicht unähnlich, mit ihrem vergleichsweise hohen Alkoholgehalt. Zunächst ist der teure und schwere Malvasier zu 350

Handel

­ ennen, der ursprünglich aus Kreta und Griechenland stammte und dann n wahrscheinlich auch in Süditalien angebaut wurde; zudem besaßen die Weine aus Madeira in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen ausgezeichneten Ruf. Gleichfalls aus Griechenland stammte der Romania, ebenso der Muskateller, den dann Weinbauern in Oberitalien und im Etschtal unter günstigen klimatischen Bedingungen ebenfalls anbauten. Der Ulmer Dominikaner Felix Fabri, ein Spross der später in den „Stadtadel“ aufgestiegenen Zürcher Bürgerfamilie Schmid und ein ausgesprochen weitgereister Mann – er kam bis nach Palästina und Ägypten –, schätzte den Muskateller höher ein als den Malvasier. Nach Oberdeutschland mussten die Weine mühsam über die Alpenrouten geschafft werden, während der Nordwesten und der Norden Europas von Brügge aus beliefert wurden, wohin über­ wiegend venezianische Galeeren die Fässer transportierten. Französische Weine, überwiegend aus dem Südwesten und besonders aus der Gascogne, gelangten gleichfalls in den Nordwesten des Kontinents. Sie fanden in Flandern und England eine hohe Wertschätzung, zumal England erst 1453 die Herrschaft über Aquitanien aufgeben musste. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts erreichten westfranzösische Weine (Bordeaux) zudem die deutschen Küstenstädte. Burgund versorgte zunächst den päpstlichen Hof in Avignon, dann Paris. Vornehmlich aus Istrien stammte Rainfal, während aus Oberitalien und Südtirol verschiedene Sorten wie Traminer oder Veltliner ihren Weg zu den Konsumenten nahmen. Die höchste Wertschätzung im Reichsgebiet genoss Elsässer Wein, der ebenso wie Mosel- und Rheinweine über Köln die Konsumenten bis nach Skandinavien und auf die Britischen Inseln erreichte. Das Anbaugebiet umfasste freilich über die Herkunftsbezeichnung hinausgehend auch das rechtsrheinische Oberrheingebiet, also vornehmlich den Breisgau. Daneben verfügten fränkische Weine über einen guten Ruf, entscheidend blieb hier aber die jeweilige, primär von der Witterung abhängige Qualität. Erst im 15. Jahrhundert wurde ansatzweise im Reichsgebiet der Anbau einzelner Rebsorten in einem Weinberg üblich, sodass sukzessive die Sortenbezeichnungen wie Riesling die Herkunftsangaben ablösten. Zahlreiche Abrechnungen benennen Knechtsweine als unterste Qualitätsstufe, was den Kreis derjenigen wohl recht präzise beschreibt, welche sich mit diesen überwiegend sauren Rebensäften begnügen sollten. Das weitere Vorschieben der Anbaugrenzen nach Norden wirkte sich sicherlich nicht qualitätssteigernd aus. Wenn im 14. und 15. Jahrhundert der Weinanbau bei Kassel, Itzehoe, Braunschweig, Bad Wildungen oder am Marburger Schlossberg 351

Spätmittelalter

betrieben wurde, sollte sich niemand Illusionen über dessen Qualität hingeben. Ein Versuch im 14. Jahrhundert, auch in Bremen einen Weingarten anzulegen, dürfte gescheitert sein. Allerdings bildeten sich infolge der hohen Nachfrage seit dem endenden 13. Jahrhundert in den klimabegünstigten Landschaften an Rhein, Main, Mosel und Neckar ausgesprochen marktorientierte Weinbaugebiete heraus, deren Wachstumstendenz erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts durch den Mehrverbrauch von Qualitätsbier gebrochen wurde. Weinbau war und ist extrem witterungsabhängig, denn die Ernte konnte von einem auf das andere Jahr auf das 200-fache steigen oder um den gleichen Faktor sinken. Nicht nur die Winzer, sondern auch die Weinhändler sahen sich schon aus diesem Grund deutlichen Einkommensschwankungen ausgesetzt. Zwar stieg in Jahren mit geringen Ernteerträgen der Preis, sodass auch für mindere Qualitäten höhere Einnahmen generiert werden konnten, doch sorgte dies nur für einen begrenzten Ausgleich. In Köln, dem „Weinhaus“ der Hanse, mussten in den Jahren von 1379 bis 1384 nach den Angaben von Franz Irsigler durchschnittlich 13 830 Fuder zu jeweils ungefähr 875 Litern bei der Einfuhr in die Stadt verzollt werden (insgesamt also gut 12 Millionen Liter pro Jahr), von Mitte September 1390 bis Mitte ­Februar 1391 durchliefen 15 255 Fuder die Zollstellen, von da an bis Mitte Januar 1392 nochmals 16 667 Fuder. Von der Jahreswende 1394/95 bis zum November 1395 wurden 20 650 Fuder verzeichnet, und in einem Jahr zwischen 1410 und 1415 – eine genauere Datierung ist nicht mehr möglich – wurde mit 30 826 Fudern (was fast 27 Millionen Litern entspricht) ein Spitzenwert erreicht. Von 1432 bis 1450 handelte es sich durchschnittlich noch um 12 000 Fuder, zwischen 1510 und 1513 fiel die Zahl auf einen Durchschnittswert von gerade einmal 6 975 Fudern; zumindest die Jahre 1511 und 1512 gelten als fruchtarm. Selbstverständlich konsumierten die Kölner keineswegs den gesamten eingeführten Wein, sondern veräußerten eine nicht mehr bestimmbare Menge nach außerhalb der Mauern; die einschlägigen Quellen verzeichneten eben nur die eingeführten Mengen, da für diese Zoll gezahlt werden musste. Durchaus üblich blieben Fälschungen von Weinen mittels Zusatz­ stoffen. Bereits das Frühmittelalter kannte das Würzen von Wein, indem aromatische Stoffe oder Gewürze zugegeben wurden. Zumindest seit dem Spätmittelalter entfernten die Winzer anschließend die Partikel der Beimischungen oder warteten, bis sich diese gesetzt hatten, damit der Wein wieder an Klarheit gewann und ohne Beanstandung seitens der Käufer 352

Handel

veräußert werden konnte. Ein Ziel scheint dabei gewesen zu sein, den weithin beliebten süß-scharfen Geschmack zu erreichen. Zu diesem Zweck setzten die Winzer oder die Händler Wermut, Salbei oder verschiedene Minzarten zu. Selbst das Pfeffern von Wein ist tradiert, doch die Zugabe des teuren Gewürzes erhöhte den Wert des Weins. Ein Rezept des 15. Jahrhunderts listete als Zusatzstoffe Zimt, Ingwer, Nelken und Safran auf; ­abschließend mussten Honig oder sogar Zucker beigefügt werden. Den Zeitgenossen galten solche Zugaben von Gewürzen oder Zusatzstoffen weniger als Fälschung denn als Qualitätssteigerung. Begünstigt wurden derartige Praktiken vielleicht dadurch, dass der Wein vor dem 17.  Jahrhundert noch nicht in Flaschen abgefüllt und mit einem Korken verschlossen wurde, sodass seine Haltbarkeit sich als begrenzt erwies. Im ungünstigsten Fall schlug er bereits nach einem Jahr um und konnte gerade noch als Essig Verwendung finden. Als eindeutig betrügerisch sind dagegen der Verschnitt des Weins mit Wasser oder schlechteren Weinen sowie die Bezeichnung als höherwertiges Produkt zu bewerten. Um die Haltbarkeit des Weins zu erhöhen und eine mögliche Essigbildung zu reduzieren, schwefelten zahlreiche Winzer oder Weinhändler das Getränk. Zunächst dürften nur die Fässer mit Schwefel gereinigt worden sein, was übrigens Bakterien abtötete, also entkeimend wirkte. Später wurde dem Wein direkt Schwefel beigegeben, der aber bei zu hoher Konzentration gut riechbar ist; die gesundheitlichen Gefahren einer übermäßigen Schwefelbeigabe waren spätestens in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bekannt. Zunehmend verboten die städtischen Obrigkeiten die Beigabe von Alaun, Waidasche, Bleiweiß, Quecksilber oder Vitriol sowie von zahlreichen weiteren, gesundheitlich aber unbedenklichen Zugaben. Quantifizierende Angaben über den Umfang der Weinverfälschungen lassen sich selbstverständlich nicht treffen. Um die Süße zu erhöhen, wurden selbst Blei oder Bleiweiß zugesetzt, und eine Vermischung mit Apfel- oder Birnenmost könnte neben der preiswerten Vermehrung des Weins gleichfalls dessen Süßung gedient haben. Zum Verdecken eines verdorbenen Eigengeschmacks des Weins empfahlen Zeitgenossen die Zugabe von Fenchel, verschiedenen Laucharten, Hopfen, Nesseln, Holunderblüten, Kornblumenblüten oder Rosen. Ordnungsgemäß zubereitete und als ­solche deklarierte Kräuterweine galten ohnehin nicht als Fälschung.205 205 Bettina Pferschy-Maleczek: Weinfälschung und Weinbehandlung in Franken und Schwaben im Mittelalter, in: Christhard Schrenk/Hubert Weckbach (Hg.): Weinwirtschaft im Mittelalter. Zur

353

Spätmittelalter

Ein nur ungesichertes Wissen über die unterschiedlichen Wasserqualitäten und mögliche Gefährdungen begünstigte wohl entscheidend den Konsum von Wein als Alltagsgetränk. Geprüft werden konnte die Güte des Wassers, um dies nochmals zu betonen, nur mit Augen, Nase sowie Mund, doch dürfte die Wasserqualität der Fließgewässer schon angesichts der vergleichsweise dünnen Besiedlung recht gut gewesen sein. Für oberdeutsche Städte ist methodisch sicher fundiert für das 15. Jahrhundert ein Pro-KopfWeingenuss von 1,3 Litern je Erwachsenen täglich belegt, ein Wert, der vor der Verbreitung des Bierkonsums durchaus verallgemeinert werden kann. In welchen Mengen Most getrunken oder gehandelt wurde, bleibt hingegen unklar; unerheblich dürften die Quantitäten jedoch nicht gewesen sein. Vornehmlich in der Form von Aquavit exportierte Italien Branntwein in den Norden, der im 15. Jahrhundert aber oftmals noch als Medizin galt. Vereinzelt finden in der Überlieferung wie im Fall des Adligen Konrad von Weinsberg eigens für dieses Getränk angefertigte Gläser Erwähnung. ­Allerdings hatten dessen Bedienstete bereits 1430/31 Aquavit oder einen vergleichbaren Branntwein vom Schultheißen der Stadt Weinsberg erworben, den dieser selbst gefertigt hatte. Er muss also mit dem Destillationsprozess, der große Holzmengen benötigte, vertraut gewesen sein, wenngleich wohl nicht in allen seinen Feinheiten. Dieser noch seltene Genuss verbreitete sich eventuell schon im 16. Jahrhundert, zumindest aber geriet der Branntweinkonsum nunmehr in das Blickfeld der Obrigkeiten, die ohnehin in der Frühen Neuzeit wesentlich stärker in das Leben und die Lebensführung des Einzelnen eingriffen. Zum Massengetränk sollte sich Branntwein im Reichsgebiet erst im 19. Jahrhundert in der Form von billigem Kartoffelschnaps entwickeln, während in England Kornbranntweine wie Gin oder Whisky, Letzterer in Schottland und Irland produziert, schon früher Verbreitung fanden. Im Lauf des 14. Jahrhunderts begann Bier quasi als Grundnahrungsmittel den Wein in weiten Teilen Deutschlands sowie in den nördlicheren Zonen Europas zu verdrängen, und dies nicht zuletzt wegen seines im Vergleich zum Wein günstigeren Preises und der höheren Nahrhaftigkeit. Die Voraussetzung dafür bildete der mittlerweile verbreitete Zusatz von

354

Verbreitung, Regionalisierung und wirtschaftlichen Nutzung einer Sonderkultur aus der Römerzeit (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn, 9), Heilbronn 1997, S. 139– 178, hier S. 143–146, 150–152. Bettina Pferschy: Weinfälschung im Mittelalter, in: Fälschungen im Mittelalter, Tl. V, S. 669–702. Ulf Dirlmeier: Lebensmittel- und Versorgungspolitik mittelalterlicher Städte als demographisch relevanter Faktor?, in: Saeculum 39 (1988), S. 149–153, hier S. 150 f.

Handel

­ opfen, welcher erst für die notwendige Haltbarkeit sorgte und damit den H Handel über weite Distanzen ermöglichte. Zuvor hatte das leichter verderbliche Grutbier vorgeherrscht, das von süßlichem Geschmack war und mit verschiedenen Kräuterzusätzen angereichert wurde. Zunächst exportierten die hansischen Seestädte mit ihren typischen kleingewerblichen Produktionsformen große Mengen des Hopfenbiers in die Niederen Lande, erst in deren nördlichen, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts dann auch in deren südlichen Teil, an den Niederrhein und nach England. Das zunächst im Bierhandel führende Bremen überflügelten Hamburg und Wismar in den 1370er-Jahren. Als weitere Brauzentren mit umfangreicher Exportproduktion lassen sich Lübeck, Danzig, Rostock sowie im Binnenland Braunschweig, Einbeck und Zerbst nennen. Die Massenproduktion erforderte nun größer dimensionierte Gerätschaften und Brauhäuser. 1369 belieferte Hamburg, das schon im 14.  Jahrhundert als „Brauhaus“ der Hanse galt, Amsterdam mit immerhin etwa 60 000 Hektoliter Bier. Mit einer Ausfuhrmenge von 500 000 bis 1 000 000 Hektolitern erreichte der hansische Bierexport zwischen 1360 und 1400 seinen Spitzenwert, gefolgt jedoch von einem drastischen Rückgang.206 Denn die Niederländer übernahmen zügig die Brautechniken, teilweise schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, und exportierten bald ihrerseits bedeutende Mengen. Bei ihnen dominierte das Keutebier, zunächst unter Verwendung von Weizen und Hafer gebraut, Ende des 15.  Jahrhunderts aus Weizen, Hafer und Gerste hergestellt. In England dauerte es freilich bis ins 16. Jahrhundert, bevor Hopfenbiere das süßliche Ale zunehmend verdrängten, welches von da an eine Einschätzung als Getränk überwiegend für Kranke, Frauen und Heranwachsende erfuhr. 1493 und 1516 schrieben die bayerischen Biersatzordnungen schließlich nur noch Hopfen als Bierzusatz vor und unterbanden damit eine parallele Herstellung von Grutbier; hier liegen die Anfänge des deutschen Reinheitsgebots für Bier. Rasch entwickelte sich die Gerste zum wichtigsten Braugetreide, Weizen fand nur regional und vor allem im oberdeutschen Raum Verwendung, zuweilen wurden auch beide Getreidesorten gemeinsam zum Brauen genutzt. Über einen ausgesprochen guten Ruf verfügte das allerdings teure Einbecker Bier, von dem sich später die Bezeichnung Bockbier 206 Christine von Blanckenburg: Die Hanse und ihr Bier. Brauwesen und Bierhandel im hansischen Verkehrsgebiet (Quellen und Forschungen zur hansischen Geschichte, N. F. LI), Köln/Weimar/ Wien 2001, S. 283.

355

Spätmittelalter

ableiten sollte. Das Münchener Hofbräuhaus wurde 1589 errichtet, und seit 1615 produzierten auch die dortigen Brauer ein „Ainpöckisch Bier“. Immer wieder gelangten fremde Biere unter der Bezeichnung „Einbecker Bier“ in den Handel, um derart an dessen Ruf zu partizipieren. In der niedersächsischen Stadt selbst ging die Produktion bereits seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zurück. Eine öffentliche Probe für zum Export bestimmtes Bier führte der Rat trotz aller teilweise minderwertigen Nachahmungen erst 1636 und damit ausgesprochen spät ein. Gleichfalls hohe Wertschätzung genoss das Hamburger Bier, wobei die Konsumenten in der Regel einen höheren Alkoholgehalt mit besserer Qualität und größerer Nahrhaftigkeit gleichsetzten, weshalb dieser ein zentrales Kriterium beim über­ regionalen Vertrieb bildete. Zumeist diente die Stadt, aus der ein Bier stammte, als Namensgeber und stand für eine bestimmte Qualität. Aus Paderborn, einer der bedeutendsten Braustädte in Westfalen nach Minden, stammte etwa das vermutlich qualitativ hochwertige gleichnamige Bier, das trotz ungünstiger Verkehrslage über die Grenzen Westfalens hinaus exportiert wurde.207 Sogar für Köln, im Gegensatz zu Hamburg weithin als das „Weinhaus“ der Hanse bekannt, lässt sich eine Änderung der Trinkgewohnheiten schon im frühen 14.  Jahrhundert ansatzweise erkennen, als nach einem Maifrost die Weinpreise massiv stiegen. Nach einer chronikalischen Nachricht nutzten Dritte die Gelegenheit, denn in diesem Jahr fuhren die Niederländer das Bier flussaufwärts „…ind machden alle lant beirs voll“. Die vom Chronisten eher als ungebeten eingeschätzten Gäste brachten also ihr wohl seit 1321 nach Hamburger Vorbild gebrautes Hopfen- und Keutebier in die Städte und Siedlungen am Rhein. Es sollte allerdings noch bis in die 1460er-Jahre dauern, bevor sich in Köln eine Trendwende einstellte, dann aber entwickelte sich das Hopfenbier zu einer ernsthaften Konkurrenz für die Weine. 1470/71 gab der Rat schließlich die Produktion des nach niederländischem Muster gefertigten Keutebiers gänzlich frei. Widerstand versuchten zwar die Grutbierhersteller und ihre Lieferanten zu leisten, doch letztlich ohne Erfolg. Bei dem in der Domstadt produzierten Keutebier handelte es sich um eine Mischung aus Gersten-, Weizen- sowie Hafermalz mit hohen Anteilen von Weizen und Gerste. Diese Neuorientierung des 207 Stefan Aumann: … und wird gar weit geführet. Die Geschichte des Einbecker Bieres, Oldenburg 1998, S. 62 f., 81. Volker Henn: Handwerk und Gewerbe im spätmittelalterlichen Paderborn, in: Westfälische Zeitschrift 126/127 (1976/77), S. 259–288, hier S. 275 f.

356

Handel

Getränkekonsums ließ in der Folge den städtischen Weinhandel in eine Krise geraten. Die Vorzüge des Bieres lagen eben auf der Hand und wurden später sogar im Rahmen der Hausväterliteratur, hier aus dem Jahr 1660, festgehalten: „Starke Biere füllen beinahe ebenso gut wie Essen, so das gutes Bier Essen und Trinken zu gleich ist.“ Ein anderer Autor derselben Zeit stellte fest, dass Bier selbst kleinen Kindern gereicht werden könne, denn es sei weder ungesund für sie noch ihnen zuwider wie der (saure) Wein, sondern sie mögen das Bier. Der Preisanstieg für Wein im Laufe des 16. Jahrhundert trug dann sein Übriges zur breiten Durchsetzung des Biers als Massengetränk bei. Selbst in den Nürnberger Oberschichten des 16. Jahrhunderts ging man verstärkt von Wein zu Bier über, wenngleich in diesen Haushalten beide Getränke nebeneinander ihren Platz fanden. Auf die nochmals forcierte Veränderung des Getränkekonsums seit dem späten 16. Jahrhundert dürfte die Kleine Eiszeit mit ihren nicht nur auf den Weinbau beschränkten Folgen in deutlichem Maße eingewirkt haben.208 Für den Bierkonsum lassen sich anders als beim Wein bisher nur Schätzungen beibringen. Für West- und Mitteleuropa werden vorsichtig 300 bis 400 Liter pro Kopf und Jahr genannt, für Nürnberg 220 Liter vermutet. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, ob ausschließlich Bier oder daneben auch Wein getrunken wurde. Für Angehörige der Oberschichten nicht nur in Nürnberg, sondern auch in weiteren süddeutschen Städten ist der Konsum beider Getränke nebeneinander gesichert. Der Alkoholgehalt der Biere bewegte sich – so die Ergebnisse nachträglicher Berechnungen und Brauversuche – zwischen zwei und knapp zehn Volumenprozent, was in etwa der heutigen Spannweite zwischen Light-Produkten und Starkbieren entspricht. Selbst in Weinbaugebieten setzte sich das Bier zunehmend durch, hier jedoch vielfach auf die Unterschichten beschränkt, zumal Bier eben kalorienreicher ist als Wein, was einen nicht zu unterschätzenden Faktor in einer zumindest phasenweisen Mangelgesellschaft bildete. Bierbecher als spezielle Trinkgefäße sind zumindest für Mittel- und Unterfranken sowie für Schwäbisch Hall seit dem 14./15. Jahrhundert überliefert.209 208 Dirlmeier/Fouquet: Konsumgewohnheiten. Franz Irsigler: „Ind machden alle lant beirs voll“. Zur Diffusion des Hopfenbierkonsums im westlichen Hanseraum, in: Wiegelmann/Mohrmann (Hg.): Nahrung, S. 377–397. Gerhard Fouquet: Aspekte des privaten Bierkonsums im Süden und Westen Deutschlands während des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, in: Bijdragen tot de Geschiedenis 81 (1998), S. 171–190. 209 Uwe Groß/Christine Prohaska-Groß: Bierbecher, rote Feinware und Rippenflasche. Mittelalterliche Keramik und Glasfunde, in: Bedal/Marski (Hg.): Baujahr, S. 51–62, hier S. 51.

357

Spätmittelalter

Die Hanse Die Hanse reicht mit ihren Vorläufern bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts zurück und lässt sich bis ins 17. Jahrhundert hinein verfolgen. Dabei bedeutete „Hanse“ zunächst einfach eine Schar von Menschen, erst dann eine Genossenschaft Fernhandel treibender Kaufleute. Eine Hanse bildeten auch die Händler aus nordfranzösischen und flandrischen Städten wie Arras, Cambrai und Ypern, um nicht zuletzt auf den Champagnemessen ihre Interessen gemeinsam vertreten zu können. Als frühe Spuren einer „deutschen“ Hanse gelten die Privilegierungen der Kölner Englandfahrer 1157 und der Lübecker Gotlandfahrer, denen der Sachsenherzog Heinrich der Löwe 1161 Schutz und Zollfreiheit zusicherte.210 Nicht zu vergessen sind die gleichfalls im 12.  Jahrhundert erwähnten Soester Schleswigfahrer, deren nicht überlieferte Anfänge nochmals früher lagen; Schleswig spielte zumindest noch im 12. Jahrhundert eine wichtige Rolle im West-Ost-Handel. Das Bild der Hanse als eines mächtigen Städtebündnisses, welches schließlich aufgrund des Überwiegens von Sonderinteressen sowie weiterer, teilweise exogener Einflüsse wieder an Bedeutung verlor, ist einer differenzierten Anschauung gewichen. Die Literatur betont mittlerweile stärker die regionalen Gegebenheiten, die unterschiedlichen Voraussetzungen und weitere Besonderheiten, das langsame Zusammenwachsen des hansischen Handelsraums sowie die strukturellen ökonomischen Unterschiede zwischen den Städten an der Küste und denen im Binnenland. Erstere ­lebten in hohem Maße vom Handel der Kaufleute, während bei Letzteren der hansische Handel oft nur einen Ausschnitt des Gesamthandels darstellte und zumindest ein Teil der handwerklichen Produktion auf andere Absatzgebiete zielte. Bis zur Mitte des 13.  Jahrhunderts beschränkte sich der hansische Seehandel noch weitgehend auf die Routen zwischen Nowgorod, Visby, Lübeck, Hamburg, Köln, Brügge und London, umfasste also den Nord- und den Ostseeraum sowie die Gebiete am Ärmelkanal. Noch bis etwa 1280/90 bildeten zudem die Lübecker Gotlandfahrer einen Sonderbund, denn sie schlossen nur für ihre Gemeinschaft gültige Handelsund Friedensverträge ab, verfügten über eine eigene Gerichtsbarkeit und führten ein eigenes Siegel. Im letzten Jahrzehnt des 13.  Jahrhunderts 210 Zur vielfältigen Hanseliteratur zuletzt zusammenfassend Rolf Hammel-Kiesow/Matthias Puhle/ Siegfried Wittenburg: Die Hanse, Darmstadt 2009. Bracker u. a. (Hg.): Hanse. Ebenso das völlig neu bearbeitete, klassische Werk von Dollinger: Hanse; knapp Rolf Hammel-Kiesow: Die Hanse, München 2000.

358

Handel

e­ skalierte dann der Streit zwischen Lübeck und Visby um die Vorrangstellung im Ostseehandel, zunächst ohne dass sich eine der beiden Rivalinnen durchsetzen konnte. Um von einem Städtebund sprechen zu können, der den oberdeutschen Zusammenschlüssen vergleichbar gewesen wäre, fehlten neben dem rechtlichen Status weitere konstituierende Elemente.211 Das am Wolchow gelegene Nowgorod konnte sich im 12. Jahrhundert aus dem Kiewer Reich lösen, verfügte seitdem über ein riesiges Territorium sowie ein bis zum Ural reichendes Einzugsgebiet. Ende des 12. Jahrhunderts, nach einer erheblichen Verdichtung der Bebauung und einer Vergrößerung der Stadtfläche, lebten etwa 15 000 Menschen auf einem Raum von gut 120 Hektar. An der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert erstreckte sich das ummauerte Stadtareal sogar über 329 Hektar. Am Ende des 15.  Jahrhunderts dürften hier 25 000 bis 30 000 Einwohner gelebt haben. In der Stadt beteiligten sich neben den Kaufleuten zahlreiche ländliche Grund­besitzer am Handel. Das ausdifferenzierte Handwerk lieferte qualitativ hochwertige Produkte, die sich nicht vor der Konkurrenz aus dem Westen oder dem Osten verstecken mussten. Über Nowgorod gelangten in erster Linie Pelze, Wachs, Fisch- und Walrossbein, Hanf, Flachs sowie Textilien und Gewürze aus Mittelasien in den europäischen Handel. Die Wildtiere wurden überwiegend in den Wintermonaten erlegt, da in dieser Jahreszeit sich die Pelzqualität aufgrund des dichteren Fells als am höchsten erwies. Das bedeutete für die Kaufleute, dass sie ihrerseits möglichst zeitig im Frühjahr in Nowgorod ­eintreffen mussten, um sich die besseren Qualitäten der Rauchwaren zu sichern. Bei den hansischen Kaufleuten unterschied man je nach Jahreszeit, die sie vor Ort verbrachten, zwischen den Sommer- und den Winterfahrern; beide Gruppen blieben strikt getrennt. Im Gegenzug erreichten vornehmlich Tuche, Salz, Buntmetalle und Silber Nowgorod. Der Petershof in Nowgorod dürfte schon gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstanden sein, in den nächsten Jahrzehnten ergänzten weitere Gebäude das Ensemble fast zu einer kleinen Stadt. An der Spitze der Selbstverwaltung stand ein „deutscher“ Ältermann. Während des 15. Jahrhunderts verlor Nowgorod im hansischen Handel jedoch an Bedeutung, denn Städte wie Reval, Riga oder besonders Dorpat lagen verkehrsgünstiger. Allerdings hatten die Kaufleute bereits 1346 den Stapel von Riga für über die Düna gehandelte Ware anerkennen müssen, bevor die Stadt gut 100 Jahre später 1459 den Direkthandel fremder Kaufleute gänzlich untersagte. Nach 211 Vgl. zuletzt Dollinger: Hanse, S. XII.

359

Spätmittelalter

1478 wurde Nowgorod dann endgültig zu einem Teil des Moskauer Reiches, welches der Stadt schon seit Jahrzehnten zugesetzt hatte. 1494 musste die Hanse die Schließung ihrer Niederlassung hinnehmen; mit der Wiedereröffnung zwei Jahrzehnte später konnte nicht mehr an die frühere ­Bedeutung angeknüpft werden. 212 In Konkurrenz zu den Aktivitäten der hansischen Küstenstädte an der Ostsee gewannen in der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts der niederländische und englische Handel mit Narwa sowie der überwiegend niederländische Handel mit Archangelsk an der Südküste des Weißen Meeres an Bedeutung. Selbst an der Ostseeküste galt es, um diesen Entwicklungsstrang wieder aufzugreifen, für die niederdeutschen Kaufleute zunächst, sich Privilegien zu sichern, um die vielfältige Konkurrenz möglichst zurückzudrängen, was erst zu Beginn des 14.  Jahrhunderts gelingen sollte. Zahlreiche werdende Städte des südlichen und östlichen Ostseeraums erhielten im 13. Jahrhundert zudem lübisches Recht. Ein weitgehend einheitliches, zudem geläufiges Stadtrecht, dadurch bedingt auch vergleichbare Geschäftsbedingungen sowie daneben die fortschreitende Christianisierung boten große Vorteile für den Handel und den Aufenthalt der Kaufleute in den meist noch kleinen fremden Städten. Allerdings blieb die Anlage urbaner Siedlungen eine kostspielige Angelegenheit, doch über die Herkunft der Mittel erfahren wir nichts. Ebenso musste die für die Schifffahrt notwendige Infrastruktur errichtet werden, wobei die zunächst eher gering dimensionierten Hafenanlagen in der Folge oft Erweiterungen erfuhren. Zeitlich weitgehend parallel erfolgte die Erschließung des Hinterlands, wo alle möglichen Vergünstigungen den Zuzüglern aus dem Westen winkten, die im Gegenzug aus der alten Heimat bekannte handwerkliche und kaufmännische Techniken dorthin transferierten; die großräumige Besiedlung dieser Regionen durch Städte und Dörfer muss als Gesamtphänomen in den Blick genommen werden. Neben den auswärtigen Privilegien standen im Binnenbereich Verträge zur Sicherung der Handelswege im Vordergrund, so zwischen Hamburg und Lübeck, wenngleich die Haupthandelswege der Lübecker Kaufleute im 12.  Jahrhundert wohl noch nach Süden führten. Die Verbindung nach Hamburg gewann erst nach und nach, in den ersten Jahrzehnten des 13.  Jahrhunderts dann aber zügig an Bedeutung.213 Auf solche Verträge 212 Norbert Angermann/Klaus Friedland (Hg.): Novgorod. Markt und Kontor der Hanse (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N. F. 53), Köln/Weimar/Wien 2002. 213 Carsten Jahnke: Handelsstrukturen im Ostseeraum im 12. und beginnenden 13.  Jahrhundert. Ansätze einer Neubewertung, in: Hansische Geschichtsblätter 126 (2008), S. 145–185.

360

Handel

folgten regionale Bündnisse der Kommunen, deren jeweilige Besonderheiten in die spätere Hanse hineinwirkten und dort nicht zuletzt aufgrund der Wahrung von Sonderrechten für Konfliktpotenzial sorgen konnten. Zumeist über den Zielort definierten sich die Fahrgemeinschaften, deren Kaufleute häufig aus verschiedenen Städten stammten, aber einen Teil des gemenen kopmans, also der Gemeinschaft der Kaufleute, bildeten. Derartige Fahrgemeinschaften sollten sich jedoch mehr und mehr auflösen, und an ihre Stelle trat der Handel des einzelnen Kaufmanns, abgesichert durch die Privilegien und Verträge seiner Heimatstadt. Im Nordseeraum erlangte die Kölner „Hanse“ zunehmend eine ähnliche Stellung wie die Hansen im Osten. Schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts vertrieben die Kaufleute der Ostseestädte ihre Waren allerdings auch direkt in den Westen, zunächst nach England, dann nach Flandern. Hier trafen sie auf ihre Berufskollegen aus dem Niederrheingebiet und aus Westfalen, die dort schon deutlich länger ihren Geschäften nachgingen und die Neuankömmlinge zunächst als Rivalen sowie als Störenfriede betrachteten. Wohl im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts wuchsen beide Handelsräume zwar zusammen, doch blieben die Interessen der jeweiligen Städtegruppen vorherrschend. So nutzten die Kölner und die Westfalen den ­Stalhof in London – und nur für diese gildhalla galten die Privilegien der Kaufleute in England –, konzentrierten sich ansonsten aber auf Ipswich und Colchester, während die Ostseeanrainer einschließlich des ihnen verbundenen Hamburg in erster Linie an der englischen Ostküste Handel trieben. Nur in Nowgorod sowie seit 1253 in Flandern erfolgte eine gemeinsame Privilegierung der niederdeutschen Kaufleute, während ansonsten unverändert Einzelprivilegien für die Fernhändler einer Stadt vorherrschten. Dennoch intensivierten sich die Handelsverbindungen zwischen Nordwest-, Nord- sowie Nordosteuropa, und zwischen 1280 und 1350 entstand ein zunächst loser Gesamtbund, der sich in der Folge weiter verdichtete. Letztlich war das hansische Handelssystem im späten 13. Jahrhundert geografisch weitgehend fertig ausgebildet, Erweiterungen erfuhr es noch um Nordfrankreich und deutlich später um die Iberische Halbinsel. Allerdings beruhten die Geschäfte besonders der Kaufleute aus den Ostseestädten vornehmlich auf dem Transithandel, was sich langfristig als ein Strukturproblem erweisen sollte. Das dortige Handwerk konzentrierte sich in erster Linie auf den Schiffbau, die Ausrüstung der Schiffe, die Herstellung von Fässern und schließlich auf das Brauwesen. Letzteres produzierte in zahlreichen Küstenstädten, darunter Lübeck als dem nach Hamburg zweit361

Spätmittelalter

wichtigsten Brauzentrum des Nordens, und in etlichen Kommunen des Binnenlands in Teilen für den Export und konnte einen erheblichen Umfang erreichen. Auch die Buntmetallverarbeitung spielte im westlichen Hansebereich eine wichtige Rolle, so in Dinant oder Köln sowie weiteren Städten des Maasgebiets. Braunschweig und Hildesheim exportierten gleichfalls derartige Produkte; aus dem Osten gelangten solche Buntmetallwaren aus Breslau oder Krakau in den Handel. Weiterhin erfreuten sich Bernsteinprodukte großer Beliebtheit. Im südlichen Hinterland der Ostsee erfuhr der Getreideanbau eine starke Ausweitung, zudem lieferte es die für die Seifen- und Glasherstellung benötigte Pottasche (Kaliumkarbonat), Holz sowie Teer – allesamt begehrte Rohstoffe oder Vorprodukte, die zunächst vor allem in den Niederen Landen und England Absatz fanden. Weithin bestimmten Genossenschaften, verwandtschaftliche Beziehungen sowie die Landsmannschaften die informellen Strukturen des zunächst lockeren Bündnisses, während vor allem die Kontore in Bergen, Brügge, London und Nowgorod im 14. Jahrhundert auf festere Organisations­formen des weit gefügten Handelsnetzes verweisen. Zunehmend übernahmen die Ratskollegien eine gewisse Organisation des Handels, betätigten sich die Räte der Seestädte doch zumeist selbst zugleich als Kaufleute. Ebenso entwickelte sich der Schutz der Kaufleute bereits im 13. Jahrhundert zu einer Aufgabe der Städte, die ihrerseits Handelsprivilegien erhielten. Dennoch blieb der Landhandel durch Überfälle, der Seehandel durch Piraten gefährdet, zu deren bekanntesten Vertretern sicherlich Godeke Michels und Klaus Störtebeker zählen. Paradoxerweise errichtete man dem wohl aus Mecklenburg stammenden Störtebeker in Hamburg ein Denkmal, denn in romantisierender Umdeutung sah die Nachwelt in dem Seeräuber einen Sozialrebellen, der uneigennützig gegen die reichen Kaufleute gekämpft habe, quasi einen norddeutschen Robin Hood. Weit mehr Opfer als die Seeräuber dürften indes die zahlreichen heftigen Stürme gefordert haben, welche die Schiffe zum Kentern brachten oder an die felsigen Küsten warfen. Wie angedeutet, beanspruchten die Kölner im Londoner Stalhof eine Sonderrolle, durchaus zulasten anderer Hansestädte. Die genossenschaftlichen Selbstverwaltungsrechte verfestigte 1282 die Wahl eines Aldermans, der allerdings Bürger Londons sein musste. 1303 gestand die Krone allen fremden Händlern umfangreiche Rechte zu, um derart die starke Stellung flandrischer und italienischer Kaufleute aufzubrechen, beanspruchte dafür aber als Gegenleistung Zollzahlungen. Schon im späteren 14. Jahrhundert wurden die fremden Kaufleute allerdings von den nunmehr selbst höchst 362

Handel

aktiven Londoner Fernhändlern zunehmend als Konkurrenz empfunden, und immer wieder loderten in der Folge Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen auf.214 Die von der englischen Königin Elisabeth befohlene Schließung des Stalhofs beendete 1598 schließlich eine lange Tradition. Kurz nach der Mitte des 13. Jahrhunderts hatte der hansische Handel in Flandern umfangreiche Privilegien erhalten, doch bereits 1280 kam es zu ersten Konflikten in Brügge und in deren Folge zum Abzug der Kaufleute. Nach der Rückkehr der Händler im Jahr 1282 wurde ihnen unter Führung Lübecks sogar das Recht zugestanden, direkt untereinander zu handeln. Von 1307 bis 1309 blieben die Fernkaufleute Brügge, immerhin ein Zentrum des damaligen Welthandels, erneut fern, bevor die Metropole den Hansekaufleuten genossenschaftliche Rechte wie das Versammlungs- und das Statuarrecht gewährte. Eine Ordnung des Brügger Kontors erfolgte 1347, und bei dieser Gelegenheit ist erstmals eine organisatorische Aufteilung der Städte und ihrer Kaufleute in Drittel belegt, ein weiterer Hinweis auf festere Strukturen. Doch verliefen die Beziehungen in den folgenden Jahrzehnten keinesfalls konfliktfrei, mehrmals wanderten oder vielmehr segelten die Kaufleute vorübergehend aus Brügge ab. Ein eigenes Haus fand 1442 Erwähnung, aber aufgrund des zunehmenden Bedeutungsverlusts der Stadt stand das Kontor um die Mitte des 16. Jahrhunderts wieder leer. Das norwegische Bergen mit seinem Königshof zeigte sich um das Jahr 1200 als in das wachsende Handelsnetz integriert und exportierte überwiegend Stockfisch; gegen Ende des 12. Jahrhunderts war die Anlage von Kais im Hafengebiet erfolgt. Für das 13. Jahrhundert lässt sich wohl von einem planmäßigen Ausbau zu einer Hafen- und Königsstadt sprechen, bevor Bergen im frühen 14. Jahrhundert seine Funktion als politisches Zentrum des Landes verlieren sollte. Da sich das Klima im Norden Europas schon früher ungünstig entwickelte, stieg hier vor allem der Getreidebedarf seit dem späten 13. Jahrhundert an. Bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts begannen hansische Kaufleute in Bergen zu überwintern und kauften oder errichteten zu diesem Zweck Häuser. Denn von hier aus konnten sie im Frühjahr zeitig ihre Waren gen Süden auf den Weg schicken. In Verbindung mit einer Privilegienbestätigung 1343 dürfte auch ein Statut für das Bergener Kontor erlassen worden sein, welches im späten 14. Jahrhundert 214 Nils Jörn: „With money and bloode“. Der Londoner Stalhof im Spannungsfeld der englisch-­ hansischen Beziehungen im 15. und 16. Jahrhundert (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N. F. 53), Köln/Weimar/Wien 2000.

363

Spätmittelalter

unter die Vorherrschaft von Lübeck geriet. 1393 erlebte Bergen Angriffe der Vitalienbrüder, die ihre Beute sogar in Rostock und Wismar veräußerten – und somit im hansischen Handelsbereich. Neben den Kaufleuten siedelten sich Handwerker an, sodass um 1400 rund ein Drittel der etwa 6000 Bewohner Deutsche oder deutscher Herkunft waren. Als besonders lukrativ erwies sich vom späten 14. Jahrhundert bis nach der Mitte des 15. Jahrhunderts der Verkauf von Stockfisch und anderen Waren im ostenglischen Boston, wo die Kaufleute im Gegenzug englische Tuche erwarben, die sie dann in und über Lübeck absetzten. Für einige Jahrzehnte konnten die Hansekaufleute in Boston sogar ihre englischen Konkurrenten aus dem Tuchhandel verdrängen. Ähnlich wie in Brügge kam es in Bergen zu keiner Schließung des Kontors, doch verfügten die hansischen Kaufleute im 16. Jahrhundert dort über keinen Sonderstatus mehr.215 Allerdings verloren die Kontore als Schöpfungen des ausgehenden Hochmittelalters spätestens im 15. Jahrhundert ohnehin an Bedeutung, weil die Kaufleute nun nicht mehr auf den Schutz durch diese Gebäude angewiesen waren, da die Städte ihre persönliche Sicherheit weitgehend garantierten. Andere Handelsniederlassungen vornehmlich im Norden und Nordwesten des Kontinents wiesen ähnliche Strukturen auf. Als wichtigste Elemente einer „Handelspolitik“ lassen sich für die hansischen Städte im jeweils heimischen Bereich Stapelrechte nennen, beim Besuch von auswärtigen Messen und Märkten aber die Gewährung eines möglichst freien Direkthandels. Dazu traten als weitere Elemente die Nutzung möglichst exklusiver Privilegien, partiell verdichtet zu einem „Privilegienpanzer“, um in anderen Städten die Konkurrenz durch nicht hansische Kaufleute zu reduzieren, ferner Handelsmonopole auf bestimmten Routen sowie die Versorgung des Umlands mit Fernhandelswaren.216 Nach und nach verlor Visby im 14. Jahrhundert seine zentrale Mittlerstellung im nordeuropäischen Ost-West-Handel an Lübeck und andere Städte. Allgemein ging die Tendenz dahin, dass sich der Handel auf weniger Kommunen als zuvor konzentrierte. Am stärksten profitierte Lübeck von 215 Mike Burkhardt: Der hansische Bergenhandel im Spätmittelalter. Handel – Kaufleute – Netzwerke (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N. F. 60), Köln/Weimar/Wien 2009. 216 Ernst Pitz: Steigende und fallende Tendenzen in Politik und Wirtschaftsleben der Hanse im 16. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 102 (1984), S. 39–77, hier S. 43 f. Franz Irsigler: Messehandel – Hansehandel, in: Hansische Geschichtsblätter 120 (2002), S. 33–50, hier S. 50. Rudolf Holbach: Die Konkurrenzfähigkeit der Hanse im Spätmittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 102 (1984), S. 21–38, hier S. 21, 23.

364

Handel

der hansischen Expansion und wuchs zum freilich nicht unumstrittenen Haupt der Hanse heran. Gelegentlich meldete Köln diesbezügliche Ansprüche an, verfolgte aber aufgrund seines kommunalen Wirtschaftspotenzials und der damit verbundenen Interessen auch wieder eine eigenständige Politik, die von 1472 bis 1476 sogar zur Verhansung, also zum zeitweiligen Ausschluss, führte. Es war dann auch die Travestadt, die sich um straffere Organisationsformen des Bündnisses bemühte: Eine erste Tagfahrt, ein Hansetag, fand im Jahr 1356 statt. Zum selben Zeitpunkt ist gesamt­ hansisch für alle Kaufleute und Städte eine Dritteleinteilung überliefert, die zwischen dem wendisch-sächsischen, dem westfälisch-preußischen sowie dem gotländisch-livländisch-schwedischen Drittel unterschied. Jedes Drittel sandte acht Abgeordnete in den nunmehr etablierten Kaufmannsrat, um die unterschiedlichen Interessen bei der Entscheidungsfindung möglichst gleichwertig zu berücksichtigen. Gleichfalls 1356 tauchte erstmals der Begriff dudesche hense als Eigenbezeichnung auf. Die Hansetage fanden in nur unregelmäßiger Folge statt; das grundlegende Prinzip der freien Einung stand eben einem festen Bündnis stets entgegen. Zudem waren zahlreiche Kaufleute in Territorialstädten zu Hause, die ihre Interessen mit denen der – ihrerseits teilweise miteinander konkurrierenden – Stadtherren zumindest tendenziell in Einklang bringen mussten. Selbstverständlich begegnen daneben immer wieder Versuche, derartige Bindungen zu unterlaufen. Aber gegen Ende des Mittelalters nahm der Territorialisierungsdruck nochmals zu, und in der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts verloren etliche Städte ihre quasi autonome Stellung. Oftmals blieben die Vollmachten der Ratssendboten auf den Hansetagen ohnehin beschränkt, und bei weitreichenden Beschlüssen mussten vor der Entscheidung unter Umständen erneut die Räte der Heimatstadt befragt werden. Dann erst erfolgte die Publikation der Rezesse, die anschließend in die jeweiligen Stadtrechte Aufnahme fanden, denn nur die Kommunen konnten für ihre Umsetzung vor Ort sorgen. Ansonsten galten die Bestimmungen eben nur für einen Teil der hansischen Städte, auch wenn die Hansetage Beschlüsse stets im Konsens fassten, sich also zumindest kein offener Widerspruch gegen die jeweilige Entscheidung regen durfte. Während des 15. Jahrhunderts gewannen gelehrte Juristen auf den Hansetagen an Bedeutung. Trotz der tendenziell lockeren Verflechtungen erwies sich die Hanse als zu militärischen Aktionen fähig, konnte sie doch Handelssperren gegen Brügge (1280/82, 1307/09) und Norwegen (1284/85) durchsetzen und militärisch gegen Dänemark vorgehen, nachdem der dänische König 365

Spätmittelalter

Waldemar  IV. die Sunddurchfahrt hatte sperren lassen – der Friedens­ vertrag folgte 1370. Bei internen Konflikten konnte zum Mittel der Verhansung gegriffen werden, dem zeitlich beschränkten Ausschluss einer oder mehrerer Städte, der mit einem Handelsverbot mit den dort ansässigen Kaufleuten einherging. Anwendung fand dieses Mittel etwa im Fall Braunschweigs: Auf gewaltsame innere Unruhen des Jahres 1374 folgte hier zunächst die Neubildung des Rats unter Vertreibung etlicher führender Familien. Als Letztere vornehmlich in Hamburg, Lübeck und Lüneburg Klage gegen die Aufständischen und die Stadt erhoben, beschlossen die Räte etlicher hansischer Städte den Ausschluss, die Verhansung, Braunschweigs. Dies geschah wohl aus Furcht vor einer Ausdehnung der Unruhen, schließlich vertrat der neue Rat der Stadt seine Position offensiv nach außen. Die Ausgleichsverhandlungen zwischen Vertretern des alten und des neuen Rats mündeten nach mehreren Jahren in einen zeittypischen Vergleich zwischen den Parteien, verbunden mit der Wiederaufnahme der Stadt in die Hanse. 1386 erfolgte dann die Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse aber nur noch teilweise, da die Geschlechter etliche Ratssitze an nachrückende Familien abtreten mussten. Wie viele Städte zur Hanse zählten, bleibt letztlich unklar; zeitgenössische Listen umfassten 55 bis 80 Städte, die mehr oder weniger ausgeprägt hansische Interessen vertraten. Die auswärtigen Handelsprivilegien nutzten dagegen wohl Kaufleute aus ungefähr 180 bis 200 Kommunen. Die führende Position Lübecks im Transithandel geriet seit der zweiten Hälfte des 14.  Jahrhunderts in Gefahr, denn nun gewann die Direktfahrt zwischen dem Nordwesten Europas und den Ostseeanrainern sukzessive an Gewicht. Bisher fand der Handel zumeist abschnittsweise statt, sodass Lübeck von dem Umladen der Waren profitierte, die über Land und auf Kanälen oder sonstigen Wasserläufen zumeist entweder nach Hamburg verbracht wurden oder von dorther kamen, um dann weiterverteilt zu werden. Die neue Konkurrenz auf dem direkten Wege führte zu einem Anstieg der innerhansischen Spannungen. Endgültig und deutlich beeinträchtigte in der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts das forcierte Eindringen der Niederländer in den Ostseehandel den tradierten Transithandel. Von nun an wurden nicht nur Massengüter direkt durch den Sund auf dem Seeweg von den Niederen Landen in die baltisch-preußischen Gebiete und zurück transportiert. Die wachsende Konkurrenz durch den Direkthandel oberdeutscher Kaufleute mit den Städten der Ostseeküste und Polens trat noch erschwerend hinzu. Der zwischen 1390 und 1398 mit mehreren Schleusen angelegte Stecknitz366

Handel

kanal durfte allerdings nur von Kähnen Lübecker Bürger befahren werden und diente überwiegend dem Salztransport aus Lüneburg. Über Trave, Stecknitz, Möllner See und Delvenau führte nun ein durchgängiger Wasserweg nach Lauenburg an der Elbe, der sich zwar als deutlich länger erwies als der direkte Landweg, aber dennoch den Transport erleichterte. In Antwerpen hatten die hansischen Kaufleute anders als in Brügge nie über Sonderrechte verfügt. Zahlreiche andere Privilegien wurden seit der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts nicht mehr erneuert, so in England, Dänemark oder im reichen Herzogtum Burgund, wozu Flandern und die Niederlande bis zu ihrem Übergang an die Habsburger 1477/82 zählten. Privilegien als wichtigste Stütze des hansischen Handels erwiesen sich aufgrund des Direkthandels der frühmodernen Staaten schließlich als überlebt, galten als längst nicht mehr zeitgemäß. 1629 vertraten nur noch Lübeck, Hamburg und Bremen die Interessen der Hanse, ein letzter Hansetag fand 1669 mit Gesandten aus neun Städten statt. Trotz aller Forschungen zur Hanse und zu oberdeutschen Handels­ häusern des 15. und des 16. Jahrhunderts fehlen eingehende Analysen der wechselseitigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Norden und dem Süden des Reiches weitgehend. Sicherlich erschwerten die erheblich differierenden Dialekte Ober- und Niederdeutschlands die Verständigung, was aber gewiss kein grundlegendes Handelshindernis bildete. Eine stärkere Erschwernis dürfte die große räumliche Distanz dargestellt haben, zumal der Verkehr beispielsweise aus Franken oder Bayern in Richtung Ostseeküste kaum Wasserstraßen nutzen konnte. Werfen wir exemplarisch einen Blick auf die Beziehungen zwischen Lübeck und Nürnberg: Die 1332 erstmals in einer Urkunde Kaiser Ludwigs des Bayern postulierte, in den Jahren 1347 und 1355 durch Karl IV. erneuerte Zollfreiheit Nürnberger Kaufleute in Lübeck gewann mit der 1373 von beiden Städten vertraglich abgeschlossenen wechselseitigen Zollbefreiung an Gewicht, ohne dass Lübeck sofort zum Ziel umfangreicher oberdeutscher Aktivitäten geworden wäre. Ansätze direkter Geschäftstätigkeiten Nürnberger Kaufleute reichen zwar in das 14. Jahrhundert zurück, erfuhren aber erst im 15. Jahrhundert eine Intensivierung. Neue transkontinentale Verkehrsachsen dürften diese Entwicklung gefördert haben, da der Hundertjährige Krieg weite Teile Frankreichs immer wieder unpassierbar werden ließ, weswegen andere Handelswege erschlossen werden mussten, wenngleich zunächst im Westen des Reichs. Für den Raum weiter östlich waren mit dem Ansteigen des Handelsvolumens vermutlich die Verbindungen nach Krakau und Breslau 367

Spätmittelalter

sowie von dort weiter in den Norden und Osten und dann auch der Aufstieg Leipzigs wichtiger. Immerhin lässt die überschaubare Literatur eine Trennung zwischen Groß- und Fernhändlern einerseits sowie dem Detailhandel andererseits erkennen. Denn zunächst handelte es sich um Lübecker Kleinhändler, welche sich 1405 oder 1406 beim Rat beschwerten, dass die in der Travestadt aktiven Nürnberger Kaufleute ihre Existenz bedrohten und sie in das Verderben stürzten. Dieser Vorwurf wurde in den nächsten Jahrzehnten wiederholt vorgetragen. Seit dem zweiten Jahrzehnt begann der Rat, den Forderungen teilweise nachzugeben, und erhöhte die Handelsabgaben auf Waren der Nürnberger, was nunmehr die Großhändler gleichfalls betraf. Allerdings richteten sich die Maßnahmen im weiteren Verlauf des Jahrhunderts erneut vornehmlich gegen den Kleinhandel von nicht hansischen Kaufleuten, um die Position der einheimischen Krämer und Handwerker zu stärken. Doch solche Maßnahmen lassen sich schon aufgrund ihrer beschränkten Zielrichtung nicht als grundsätzliche Handelsbeschränkungen werten.217 Auf der Ebene der Fernhändler dürften sich vorerst weniger Konflikte entwickelt haben, wenngleich eine teilweise scharfe Konkurrenzsituation bestand. Zudem hatte sich das verstärkte Vordringen Nürnberger Kaufleute nach Brügge während der hansischen Flandernblockade Ende der 1350er-Jahre, worauf sie ihrerseits Privilegien erhielten, keinesfalls positiv auf die sich entwickelnden Beziehungen ausgewirkt. Dennoch lässt sich ein Hans Pirckheimer bereits 1357 in Lübeck nachweisen, später vertrat Johann Lange die Interessen der Pirckheimer in der Ostseemetropole. Der aus Oberdeutschland stammende Lange ließ sich um 1380 in Lübeck nieder, heiratete mit Raxedis die Tochter des reichen Lübecker Kaufmanns Hinrich Raad und erwarb das Lübecker Bürgerrecht. Im Geldtransfer aus dem Ostseeraum nach Oberdeutschland sowie nach Oberitalien nahm er eine wichtige Stellung ein. Nach einem Streit mit den Pirckheimern trennte er sich 1405 von diesen und vertrat hinfort die Geschäfte der Nürnberger Kress. Für das frühe 15.  Jahrhundert lassen sich Steffen Volkmeir, Hans Mögenhofer, Ulrich Rotmund oder die Handelsgesellschaft Stromer-Ortlieb nennen, die in Lübeck und weit über dessen Stadtgrenzen hinaus 217 Ulf Dirlmeier: Zu den Beziehungen zwischen oberdeutschen und norddeutschen Städten im Spätmittelalter, in: Werner Paravicini (Hg.): Nord und Süd in der deutschen Geschichte des Mittelalters (Kieler Historische Studien, 34), Sigmaringen 1990, S. 203–217. Claus Nordmann: Nürnberger Großhändler im spätmittelalterlichen Lübeck (Nürnberger Beiträge zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 37/38), Nürnberg 1933.

368

Handel

­ irekthandel im Ostseeraum betrieben. Sicherlich hätte der Lübecker Rat D derartige Aktivitäten zurückdrängen können, doch wären dann Behin­ derungen Lübecker Kaufleute oder eine höhere Belastung ihrer Waren ­mittels Zöllen und weiteren Abgaben in Oberdeutschland zu erwarten gewesen. Zudem dürfte der Rat befürchtet haben, dass die oberdeutschen Fernhändler im Falle von deutlichen Beschränkungen den Handel mit der Ostseeküste über andere Wege weiter östlich und unter Umgehung Lübecks intensivieren würden, wie es im späteren 15. und verstärkt im 16. Jahrhundert dann auch geschah. Im Handel Lübecker bzw. hansischer Kaufleute – unter Ausschluss der Kölner – nach Oberdeutschland betätigten sich zunächst die Gebrüder Veckinchusen218, dazu die Gebrüder Loseking, Hinrich Limper und Dietrich Lampe. Auch wenn in der Literatur von einem Abflauen dieses Südhandels im 15.  Jahrhundert die Rede ist, seien für das späte 15.  Jahrhundert Hans van der Straten, Kunz Rott, ­Thomas Finis und Hans Poteger erwähnt. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts hatten zunächst die Nürnberger Großkaufleute Michel Heider, Hans von Plauen/Ploben sowie Hermann Gronenberg in Lübeck an Gewicht gewonnen, die Teile ihrer Geschäftstätigkeit gemeinsam mit Lübecker Kaufleuten abwickelten. Dies belegt, dass sich einheimische Handelsherren durchaus zur Zusammenarbeit bereit zeigten, falls die Vorteile auf beiden Seiten lagen. Weiterhin erscheinen die Gebrüder Munter in der Überlieferung, von denen sich Claus in Lübeck niederließ, dort heiratete und Immobilien erwarb. Auch er verband sich mit Lübecker Händlern in Gesellschaften. In Lübeck agierten ferner ein weiterer Ulrich Rotmund und Ott Engelthaler, dazu Cuntz Horn, der mit dem Lübecker Hans Ringel zusammenarbeitete. Horn, ein erfolgreicher Aufsteiger, engagierte sich im Tuch-, Ochsen- und Metallhandel, spezialisierte sich aber auf Waffen. Sein Handelsgebiet erstreckte sich von der Ostsee bis Ungarn, wobei ein regionaler Schwerpunkt auf der Steiermark mit ihren reichen Erzvorkommen und ihrer entwickelten Metallproduktion lag. Doch am bekanntesten dürften die Mulich sein angesichts der vielfältigen Handelsaktivitäten, welche die vier Brüder Hans, Kunz, Paul sowie Matthias im Norden entfalteten. Zunächst erwarb Hans 1476 das Lübecker Bürgerrecht und ehelichte dort mit Elsebe Ebeling die Tochter des vermö218 Zuletzt mit neuem Quellenmaterial Matthias Franc Kluge: Zwischen Metropole, Fürst und König: Die Venedische Handelsgesellschaft der Kaufleute Veckinchusen und ihr Niedergang, in: Hansische Geschichtsblätter 131 (2013), S. 33–76.

369

Spätmittelalter

genden Ratsherren Hinrich Ebeling. Matthias Mulich übersiedelte 1490 an die Trave, sicherte sich das Bürgerrecht aber erst 1514. Für Volker Henn und Nils Jörn stehen die Mulich-Brüder für einen neuen Typ des Kaufmanns im Norden219. Ohnehin hatte der Lübecker Rat 1498 die Niederlassung Nürnberger Kaufleute in der Stadt verboten, was in der Folgezeit vermutlich vermehrt zum Bürgerrechtserwerb führte. So erkaufte der Nürnberger Hans Hagenauer 1510 das Lübecker Bürgerrecht; sein Schwiegersohn wurde Paul Wibbeking, der Sohn des mit Oberdeutschland handelnden Cord Wibbeking. Doch erst das Vordringen der Fugger mit ihren durchaus als früh­ kapitalistisch zu bezeichnenden Vorgehensweisen in den hansischen Raum seit den frühen 1490er-Jahren, verstärkt dann im 16.  Jahrhundert, sollte schließlich zu massiven Streitigkeiten mit diesen und anderen fremden Kaufleuten führen. Auch Köln hatte den Direkthandel Fremder unterei­ nander verboten und erwartete von Zugezogenen den Erwerb des Bürgerrechts; seit dem Jahr 1508 zwang der Rat sämtliche Faktoren auswärtiger Handelshäuser zu diesem Schritt oder zum Verlassen der Stadt. Allerdings sollte der Begriff „Oberdeutsche“ im Hinblick auf ihr Vorgehen und die unterschiedlichen Zeiträume künftig stärker differenziert werden, um allzu pauschale Urteile zu vermeiden. Schon die Nürnberger Kaufleute traten in Lübeck keinesfalls als geschlossener Block auf, waren sie doch gleichzeitig Konkurrenten; ebenso wenig darf die innerhansische und die innerstädtische Konkurrenz unterschätzt werden. Etwa von der Mitte des 15. Jahrhunderts an sollen die Frankfurter Messen, die von Lübeckern seit den 1320er-Jahren besucht wurden, den Nord-Süd-Handel dominiert haben, doch fehlen wiederum einschlägige Untersuchungen. Das Einkaufsbüchlein des Paul Mulich für die Fastenmesse des Jahres 1495 kann sicher nicht verallgemeinert werden, denn Mulich erwarb Waren für insgesamt mehr als 7500 Gulden, darunter Perlen, Silberschmuck, Ketten, Ringe und ­Broschen, welche schon mehr als 3000 Gulden verschlangen. Als weitere Einkäufe sind verzeichnet: Pfeffer, Ingwer, Kümmel, Mailänder und Genueser Samt, zusätzlich Waffen, Quecksilber, Messingdraht, Brasilholz, feines ­Papier und weitere Güter eines vornehmlich gehobenen Bedarfs.220 Ange219 Dollinger: Hanse, S. 231. 220 Wilhelm Koppe: Die Hansen in Frankfurt am Main im 14.  Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 71 (1952), S.  30–49. Fritz Rörig: Das Einkaufsbüchlein der Nürnberg-Lübecker Mulichs auf der Frankfurter Fastenmesse des Jahres 1495, ND in: ders.: Wirtschaftskräfte im Mittelalter. Abhandlungen zur Stadt- und Hansegeschichte, 2., durchges. u. erg. Aufl. Wien/Köln/Graz 1971, S. 288–350.

370

Handel

sprochen ist hiermit ein grundsätzliches Problem, nämlich die für quantifizierende Untersuchungen defizitäre Quellenlage, welche das Ausmaß des Güterverkehrs zwischen dem Norden und dem Süden des Reichs höchstens in Konturen erkennen lässt. Eine Konzentration auf Einzelfälle birgt die Gefahr, diese fahrlässig oder bewusst zu verallgemeinern, um auf diese Weise nicht begründbare Trends oder Veränderungen des Handelsvolumens oder des Warenspektrums zu postulieren. Aus Nürnberg dürften überwiegend Gewürze und Metallwaren in den Norden gelangt sein, während Frankfurter Kaufleute bereits im 14.  Jahrhundert Elsässer Wein sowie Rheinwein nicht nur nach Lübeck schaffen ließen und im Gegenzug vornehmlich Heringe und Rauchwaren erwarben. Diesen Austausch zwischen Straßburg und Lübeck schätzt Alexander Dietz, der für seine Arbeit noch auf die reichen Frankfurter Archivbestände vor deren Zerstörung im Zweiten Weltkrieg zurückgreifen konnte, als zentral für die Frankfurter Kaufmannschaft ein. Ein umfangreiches Engagement im Weinhandel zeigten daneben beispielsweise auch Fernhändler aus Lüneburg, Braunschweig oder Hildesheim. Allerdings kam es im Norden häufig zu Klagen über die Qualität der gelieferten Weine. Während des 15.  Jahrhunderts erweiterte sich die Warenpalette der Frankfurter Händler. Im 16.  Jahrhundert verloren die Routen von Frankfurt nach Lübeck dann an Bedeutung, da sich der Pelzhandel nunmehr auf Leipzig konzentrierte, der Gewürz- und Kupferhandel hingegen auf Antwerpen. Zugleich gewannen die von Oberdeutschland ausgehenden Routen in den Osten über Leipzig und Breslau, wo sich im 15. Jahrhundert Nürnberger Kaufleute niederließen, an Bedeutung; diese Routen ließen Lübeck außen vor.221 Noch im 15. und 16. Jahrhundert erschlossen Lübecker Kaufleute indes auch ihrerseits neue Verkehrswege, veränderten ihre Handelspraktiken und Handelswege. So konzentrierte sich der Lübecker Handel im 16.  Jahrhundert verstärkt auf Skandinavien, wobei sich das Gesamthandels­volumen gegenüber dem vorhergehenden wohl nicht reduzierte. Im Ost-West-Handel stieg die Bedeutung des Getreides nochmals an, während sich die Holzausfuhr wohl aufgrund umfangreicher Abholzungen reduzierte. Dazu traten unverändert Pottasche, Pech und Teer, ebenso Hanf und Flachs vornehmlich aus Litauen. 221 Alexander Dietz: Frankfurter Handelsgeschichte, 1. Bd.  Frankfurt/M. 1910; ND Glashütten im Taunus 1970, S. 165, 167, 171, 217. Rothmann: Messen: S. 185 f. Michael North: Die Hanse und das europäische Zahlungssystem: Kreditpraktiken im internationalen Vergleich, in: Rolf HammelKiesow (Hg.): Vergleichende Ansätze in der hansischen Geschichtsforschung (Hansische Studien, XIII), Trier 2002, S. 144–151.

371

Spätmittelalter

Neben dem Eigenhandel bildete die Widerlegung einen zweiten Typus der Gesellschafts- oder Rechtsformen des hansischen Handels. Bei diesem Typus legten zwei Kaufleute ihr Kapital im Verhältnis von eins zu eins oder eins zu zwei in eine Gesellschaft ein, wobei im Regelfall derjenige mit dem geringeren Anteil die Reise unternahm, ohne aber weisungsgebunden zu sein. Den Gewinn teilten beide Partner hälftig bzw. nach dem jeweiligen Beteiligungsverhältnis. Später wurden die Waren von einem Handelspartner zum nächsten gesandt. Auf diese Weise konnten Ketten über den gesamten Handelsraum gespannt und Netzwerke aufgebaut werden. Im frühen 15. Jahrhundert entstanden zudem Außengesellschaften, sodass man schließlich bei Summierung aller Geschäftsbeziehungen durchaus von der Existenz größerer Handelsgesellschaften sprechen kann, wenngleich sie im hansischen Bereich deutlich seltener waren und zudem wesentlich lockerer gefügt als in den oberdeutschen Städten.222 Eine Spezialisierung der Kaufleute auf bestimmte Waren oder Warengruppen ergab sich nicht nur im hansischen Gebiet, sondern ist ein verbreitetes Phänomen, das häufig schon durch die Hauptrichtung des Handels bedingt war. Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf die hansischen Schiffe als unentbehrliche Transportmittel geworfen. Untrennbar mit den Vorstellungen von der Hanse verbunden ist die Kogge, deren typische, einmastige Form durch Funde für das 13. und 14. Jahrhundert sicher belegt ist; Vorgängertypen dürften zeitlich deutlich weiter zurückreichen. Während des 13. Jahrhunderts löste das Heckruder das zuvor gebräuchliche Seitenruder ab, was die Manövrierfähigkeit und die Sicherheit der Schiffe erhöhte sowie bei adäquater Takelung ein Kreuzen gegen den Wind ermöglichte. Einen ausgesprochen seltenen Fund stellt die im Bremer Hafen geborgene Kogge aus dem Jahr 1380 dar, welche in mühseliger Kleinarbeit im Schifffahrtsmuseum Bremerhaven aus etwa 2000 Einzelteilen rekonstruiert werden konnte.223 Ihre Länge betrug gut 23 Meter, die Breite über siebeneinhalb Meter; diese Größenverhältnisse erlaubten eine Zuladung von bis zu 90 Tonnen. Die größte bisher ergrabene Kogge, die in Elbing oder Danzig gefertigt wurde, konnte sogar etwa 200 Tonnen Last aufnehmen. Die Mehrzahl der weiteren Funde blieb jedoch kleiner dimensioniert als diese 222 Albrecht Cordes: Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel im Hanseraum (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N. F. XLV), Köln/Weimar/Wien 1998. Carsten Jahnke: Handelsnetze im Ostseeraum, in: Fouquet/Gilomen (Hg.), Netzwerke, S. 189–212. 223 Klaus-Peter Kiedl/Uwe Schnall (Hg.): Die Hanse-Kogge von 1380. Geschichte, Fund, Bergung, Wiederaufbau, Konservierung, 2., verb. Aufl. Bremerhaven 1989.

372

Handel

beiden Schiffe. Die Geschwindigkeit der Koggen dürfte durchschnittlich vier bis fünf Knoten (gut sieben bis neun Kilometer) in der Stunde betragen haben, theoretisch könnten auch zehn Knoten erreicht worden sein. Entscheidenden Einfluss übten natürlich die Wind- und Strömungsverhältnisse aus, denn Flauten ließen die Schiffe tage- oder sogar wochenlang vor Anker liegen, während Stürme sie weit vom Kurs abtrieben; daneben bildeten Mastbrüche, zerfetzte Segel oder Feuer weitere Fährnisse. Am Heck der Schiffe schützte ein kleines Kastell Kapitän und Steuermann, nicht aber die Besatzung, welche auf den Planken nächtigte. Selbst wenn die Schiffe abends regelmäßig vor Anker gingen, handelte es sich schon angesichts der dortigen Witterungsverhältnisse nicht immer um ein Vergnügen. Im späteren 14.  Jahrhundert lassen sich dann im Achterkastell getrennte Räume mit Schlafbänken an den Wänden für die Seeleute belegen. Im Lauf des 15.  Jahrhunderts löste der Holk mit seinen charakteristischen Kastellen an Bug und Heck die Koggen ab. Zwar war er um 1400 noch kaum größer als diese, erfuhr dann aber Weiterentwicklungen und wurde mit mehreren Masten bestückt. Im Ergebnis erwies er sich vermutlich als seetüchtiger als die Koggen. Durchschnittlich 250 bis 350 Tonnen konnte ein Holk transportieren, im Einzelfall deutlich mehr. Seine Anfänge reichen in England in das 11. oder 12. Jahrhundert zurück, doch erst der im 15. Jahrhundert verstärkte Massentransport vornehmlich von Getreide und Holz erforderte höhere Transportkapazitäten und regte vermutlich zur Vergrößerung der Schiffe an. Die Umstellung auf größere Transportmengen ließ sich beim Holk wohl leichter bewerkstelligen als bei den Koggen, die ihren einstigen innovativen Vorsprung in diesen Jahrzehnten verloren. Seit der Mitte des 15.  Jahrhunderts befuhren zudem Kraweelschiffe als Weiterentwicklung der Karavellen der Iberischen Halbinsel Nord- und Ostsee. Diese großen, dennoch schnellen dreimastigen Schiffe konnten im Einzelfall bereits gegen Ende des Jahrhunderts etwa 800 Tonnen mit sich führen. Beim Bau der Kraweelschiffe fügten die Schiffbauer die Planken nebeneinander, ließen sie also nicht mehr wie zuvor überlappen. Seetüchtigkeit und Schnelligkeit dürften sich durch diese Neuerung erhöht haben, zudem ergab sich ein weiterer Vorteil daraus, dass sie sich besser abdichten ließen. Doch nicht nur diese für die Zeit mächtigen Segelschiffe prägten das Bild der Häfen und Flussmündungen, sondern ebenso die zahlreichen kleineren und kleinen Kähne und Boote nicht nur der Fischer. Die Nutzung des Kompasses und weiterer nautischer Geräte verbreitete sich und ermöglichte die Orientierung abseits der Küstenlinien; 373

Spätmittelalter

S­ eekarten erleichterten das Segeln auf hoher See zusätzlich. Die zuvor gängigen Portolankarten, zunächst bekannt aus dem Mittelmeerraum, hatten sich noch auf die Darstellung von Küstenlinien und Hafenanlagen beschränkt. Während des Spätmittelalters setzte sich zudem der Kauf von Schiffsanteilen durch, um das Risiko beim Verlust eines Schiffes zu reduzieren, aber auch, um die steigenden Kosten für die immer größeren Schiffe aufzufangen (Partenreederei).

Verlagswesen Mit dem schon mehrfach gefallenen Begriff „Verlag“ ist eine bedeutende Innovation des Spätmittelalters angesprochen. Als Verlag oder Verlagssystem wird die dezentrale Herstellung oder Gewinnung von bestimmten Produkten durch in der Regel ohne direkte Beziehung zum Konsumenten arbeitende, rechtlich mehr oder weniger selbstständige Produzenten für einen oder mehrere, zumindest Teile der Finanzierung oder Ausstattung übernehmende ­Abnehmer und Weiterverkäufer bezeichnet. So zumindest definiert Rudolf Holbach das Verlagswesen in seinem grundlegenden Werk knapp und präzise.224 In der älteren Literatur ist auch von Hausindustrie die Rede. Die früheste und weiteste Verbreitung und zugleich den höchsten Entwicklungsstand erlangte das Verlagswesen im Spätmittelalter im Textilund im Metallsektor, eine Schwerpunktsetzung, die auch im 16. und 17. Jahrhundert erhalten blieb. Im Textilbereich ist es in Teilen Nordwesteuropas und Oberitaliens schon im 13., sonst im 14. und 15. Jahrhundert fassbar. Im Reichsgebiet stammt der älteste Beleg für verlegen aus Nürnberg aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts, doch könnte das Verlagswesen hier gleichfalls bereits in die letzten Jahre des vorigen Säkulums zurückreichen. Gelenkt wurde der Produktionsablauf in der Regel durch Kaufleute, in zweiter Linie durch vornehmlich im Handel tätige Handwerker. Aber auch Zünften gelang es gelegentlich, innerhalb einer Stadt die verlegerische Kontrolle über ein Produkt zu erlangen. In Oberdeutschland spielten vor allem Großhändler und Handelsgesellschaften eine führende Rolle. Eine Ursache für die Entstehung und Verbreitung des Verlagswesens dürfte in der Versorgung mit dem Rohprodukt Wolle und der dafür erforderlichen Vorfinanzierung gelegen haben, erinnert sei an die Erfordernis englischer Wolle für hochwertige flandrische Tuche und an den Baum224 Holbach: Frühformen, S. 33.

374

Handel

wollbedarf der oberdeutschen Barchentreviere. Der kostenintensive Bezug von Färbe- und Beizmitteln wirkte sich gleichermaßen positiv auf die Verlagsentstehung aus. Allerdings konnten verlegerische Abhängigkeiten auch aufgrund der Absatzorganisation entstehen, mussten die fertigen Tuche doch zum Teil über weite Distanzen verkauft werden, was manchen kleinen Produzenten überforderte. Denn bis zur Begleichung des Preises für die Fertigprodukte vergingen oftmals ein halbes oder ganzes Jahr. Die freilich nur dünn überlieferten Kaufmannsbücher sind gefüllt mit Notizen über derartige Außenstände. Ohnehin förderte die hohe Arbeitsteilung im Tuchgewerbe den Verlag schon allein aus Gründen der notwendigen Koordination. Dies galt ebenso für Teile der Metallverarbeitung, begleitet auch hier von einer ausgeprägten Produktdifferenzierung und -normierung. Waren städtische Handwerker als Verleger aktiv, konnten sie mit im ländlichen Bereich tätigen Produzenten die innerstädtischen Zunftbeschränkungen umgehen. Ob sich das Verlagswesen für die „Abhängigen“ prinzipiell negativ gestaltete, ist keinesfalls eindeutig zu klären. Bei allen Abhängigkeiten hinsichtlich Rohstoffbezug, Produktion und Absatz stand immerhin ein regelmäßiger Abnehmer für die gefertigten Produkte bereit, der in der Mehrzahl der Fälle für einen sicheren Geldfluss sorgte, während die Kapitalbindung der Handwerker gering bleiben konnte. Für Verleger wirkten sich langfristige Geschäftsbeziehungen mit qualifizierten Handwerkern gleichfalls positiv aus, ohne hiermit eine Idylle zu postulieren, wies das Verlagswesen doch schon aufgrund der Trennung von Kapital und Arbeit frühkapitalistische Strukturen auf. Aus der Zeit des Bevölkerungsanstiegs im 16. Jahrhundert liegen Berichte vor, die auf nunmehr starke und massiv ausgenutzte Abhängigkeiten hindeuten. Die negativen Folgen des Verlagswesens und die Ausbeutung der Leinenweber im Schlesien des 19.  Jahrhunderts schilderte dann eindringlich Gerhard Hauptmann, aber auch Karl May thematisierte in weniger bekannten Bänden diese Problematik; doch erst die zunehmende industrielle Fertigung dieses Jahrhunderts sollte das Verlagswesen weitestgehend obsolet werden lassen. Am deutlichsten zeichnet sich das Verlagswesen im Reichsgebiet in der Barchentherstellung Oberdeutschlands ab, denn hier finanzierten und lieferten die Verleger den Rohstoff, stellten verschiedentlich sogar die Werkzeuge, sorgten für die Qualitätskontrolle und übernahmen den Absatz der Tuche. Nicht selten brachten die Kaufleute sogar das Know-how in Form neuer Webe- oder Färbetechniken mit, bisweilen wussten sie sich für den 375

Spätmittelalter

Aufbau des Gewerbes seitens der Städte Sonderkonditionen zu sichern. Unter solchen Voraussetzungen verfügten sie über eine starke Stellung gegenüber den von ihnen verlegten Handwerkern. Dies galt, wie Wolfgang v. Stromer hervorhob, wohl besonders in kleinen Barchent-Orten, wo möglicherweise ein Verleger das Gewerbe monopolistisch beherrschte. Aber es liegen auch vereinzelte Belege von Handwerker-Verlegern im oberdeutschen Raum vor. Grundsätzlich ist die Unterscheidung in Handwerker- und Kaufleute-Verleger nicht unproblematisch, denn ein reich gewordener Handwerker überragte wirtschaftlich einen ärmeren Kaufleute-Verleger, doch bietet sich bisher keine bessere an. Festzuhalten ist auch, dass der Augsburger Rat auf Druck der Weberzunft bereits 1413 und später noch mehrfach das Verlegen von Landwebern verbieten musste, und zwar in einem Umkreis von drei Meilen um die Stadt (etwa 20 Kilometer). 1467 erfolgte zudem auf Bestreben der ärmeren Meister eine Beschränkung auf vier Webstühle je Meister. Vermutlich hatten die Verleger aber bereits über diesen Nahbereich hinausgegriffen und konzentrierten sich beispielsweise auf den Nördlinger Raum. In Memmingen, wo die wirtschaftliche Entwicklung während der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts einen negativen ­Verlauf nahm, ergriff der Rat zwar Maßnahmen, um die Situation der Weberzunft zu verbessern. Doch die Kaufleute erwarben die Tuche unverändert preiswerter bei den Landwebern, bevor dann auch die städtischen Handwerker ihre zunehmende Einbindung in das Verlagssystem hinnehmen mussten. Im hansischen Gebiet lässt sich das Verlagswesen am stärksten im Binnenland mit Köln an der Spitze nachweisen, weniger in den Seestädten. Dass im Ostseeraum die nordwesteuropäischen Tuche dominierten, erschwerte ebenso wie die erwähnten Leinenreviere den Aufbau einer größeren eigenen, für den Export bestimmten Produktion deutlich. Ansätze eines Verlagswesens finden sich in den Seestädten dagegen im holzverarbeitenden Gewerbe, daneben vereinzelt in weiteren Berufszweigen, wobei überwiegend Handwerksmeister als Verleger in Erscheinung traten. Erst im 16. Jahrhundert erfolgte dann eine Intensivierung des Verlagswesens in diesen Landschaften. Als verbreiteter erwiesen sich Vorschussleistungen, die in erster Linie von Kaufleuten aufgebracht wurden, etwa auf die noch einzubringende Ernte, also der erwähnte Kauf auf dem Halm, sowie für zukünftige Lieferungen von Holz, Asche, Pech oder Teer.225 225 Holbach: Formen, S. 68 f. Kießling: Augsburgs Wirtschaft, S. 176 f. Zur Erfassung des Umlands vgl. Kießling: Stadt.

376

Aspekte der Sozialstruktur

Für den Bergbau sowie das Hütten- und Hammerwesen ist, um hier kurz vorzugreifen, die zunehmende, im 16. Jahrhundert dann weitgehend ausgebildete und im Ergebnis außerordentlich große soziale und wirtschaftliche Differenzierung der daran Beteiligten charakteristisch. Einzelne Personen oder Gruppen gewannen durch ihre Rolle im Produktionsprozess, bei der Rohstoffversorgung oder für den Absatz eine überlegene Stellung und setzten sich als Organisatoren der Produktion durch. Der ganze Prozess beruhte vornehmlich auf der bereits vorhandenen Finanzkraft der Kaufleute-Unternehmer sowie den Regalrechten der Territorialherren. Vor allem bei Hütten- und Hammerwerken kristallisierte sich verschiedentlich eine Gruppe von lokalen Handwerker-Verlegern oder teilweise dem Gewerbe entstammenden, spezialisierten Kaufleute-Verlegern heraus, die die Produktion bestimmten. Die im Spätmittelalter erforderte hohe Kapitalkraft einerseits und die guten Gewinnchancen andererseits riefen in besonderem Maße das Interesse von finanzstarken Kaufleuten und Handelsgesellschaften hervor, die diesen Sektor zu dominieren begannen. Verstärkt noch im 16. Jahrhundert erwarben sie diverse Produktionsanlagen auf verschiedenen Stufen der Fertigung oder Anteile daran und vereinigten diese in ihrer Hand. Manufakturen, deren Bedeutung nicht überschätzt werden sollte, entstanden erst in der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts, zunächst überwiegend auf private Initiative und zur ­Produktion von Luxusgütern.

Aspekte der Sozialstruktur Noch im späteren 13. Jahrhundert setzte eine ausgeprägte soziale Trennung der Stadtbevölkerung ein, oder sie wird zumindest wie andere Entwicklungen auch in diesen Jahrzehnten erstmals deutlicher sichtbar. Anstelle der bisherigen Erblichkeit der Führungsschicht, der Geschlechterherrschaft und einer Grobgliederung der Einwohner in zwei Gruppen lässt sich mit zunehmender Tendenz eine Schichtung der städtischen Gesellschaft anhand mehrerer Kriterien erkennen: Vermögen, Teilhabe an der Macht, berufliche Tätigkeit, Selbst- sowie Fremdeinschätzung oder der Wohnplatz traten nun verstärkt in den Vordergrund. Insbesondere bestimmten nunmehr Vermögen und Reichtum die soziale Stellung, ohne dass deren Vorhandensein von vornherein mit Machtteilhabe gleichgesetzt werden darf, doch dazu gleich. Ohnehin ist der Begriff der Sozialstruktur bis heute 377

Spätmittelalter

k­ eineswegs einheitlich definiert.226 Daneben entwickelte sich die Kleidung zu einem Statusmerkmal, zumal die kommunalen Obrigkeiten seit dem 15.  Jahrhundert Bekleidungsvorschriften erließen, um den sozialen Rang der Bewohner bereits auf diese Weise öffentlich sichtbar zu machen, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu dokumentieren oder nicht zuletzt die eigene, herausgehobene Stellung zu betonen; selbstverständlich kam es immer wieder zu Übertretungen derartiger Bestimmungen. Ein zentrales Gut blieb neben all dem unverändert die persönliche Ehre, welche es möglichst uneingeschränkt zu wahren galt. Zwar fand das Gegensatzpaar „arm“ und „reich“ bereits im Früh- und Hochmittelalter mit dem Wortpaar dives/potens und pauper eine Entsprechung, doch lässt sich dieses besser mit „mächtig“ und „machtlos“ übertragen. Im Spätmittelalter bildete das Begriffspaar „arm“ und „reich“ einerseits die innerstädtischen oder auch ländlichen sozialen Differenzen ab, doch dienten die Begriffe andererseits auch der Beschreibung der gesamten Bürger- oder Einwohnerschaft einer Kommune. Grundsätzlich wird die soziale Ungleichheit neben Alter und Geschlecht zu den drei universalen, fundamentalen Dimensionen der gesellschaftlichen Hierarchisierung gerechnet. Bereits die alttestamenta­ rische Erzählung von Kain und Abel verweist auf massive Spannungen infolge der neolithischen Revolution, in diesem Fall zwischen mittlerweile sesshaften Ackerbauern und nomadisierenden Hirten.227 Eine Kapitalakkumulation gelang fast ausschließlich durch den Einstieg in den Groß- und Fernhandel, während die sonstigen Aufstiegschancen gerade in der handwerklichen Produktion begrenzt blieben. Weitere Möglichkeiten boten das mit dem Handel eng verflochtene Verlagswesen, ­welches beispielsweise in Augsburg etliche Aufsteiger aus der Weberzunft begünstigte, sowie die großgewerbliche Betriebsführung. Doch darf neben den Aufstiegsmöglichkeiten nicht übersehen werden, dass zahlreiche Händler und Handelsgesellschaften fallierten, es eben auch Verlierer oder Absteiger gab. So notierte Burkard Zink über den Augsburger Kaufmann Ulrich Schön lapidar: „was auf dasselb mal ain reicher gewerbiger kramer, wiewol er seider über etwa vil jar verdorben ist und zu armuet kommen was“.228 Für den Norden ließe sich Hildebrand Veckinchusen anführen. 226 Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 4., überarb. u. aktualisierte Aufl. Wiesbaden 2006, S. 17–19, 97–103. 227 Klaus Eder: Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution, Frankfurt a. M. 1976, S. 178. 228 Chronik Zink, S. 126,

378

Aspekte der Sozialstruktur

­ esonders für einen Kaufmann bedeutete eine Ehrminderung zugleich B den potenziellen Verlust von Glaubwürdigkeit, beschränkte die Geschäftsmöglichkeiten sowie die Chancen, Kredite zu erhalten. Auch für einen Handwerker konnten die Folgen verheerend sein.

Soziale Schichtung Für das Spätmittelalter sind mehrere Modelle zur sozialen Schichtung der Stadtbevölkerung vorgeschlagen und diskutiert worden, von denen letztlich keines zwingend überzeugen kann, was seinen Grund nicht zuletzt in den großen ökonomischen und sozialen Unterschieden zwischen den Städten findet.229 Ohnehin bedeutet es eine Einschränkung, die Sozialstruktur vornehmlich an den Kriterien Vermögen und Beruf zu orientieren, doch stehen zu diesen Merkmalen immerhin einschlägige Informationen zur Verfügung. Für die Vermögensverteilung liegen mit den Steuerbüchern aussagekräftige Quellen zur quantitativen Auswertung vor, wenngleich mit Einschränkungen. Denn nicht selten unterlagen mobile und immobile Vermögenswerte unterschiedlichen Steuersätzen, während Kapitalerträge sowie Rentenbezüge mit verschiedenen Faktoren multipliziert und dem Vermögen zugeschlagen wurden. Teile des Hausrats und der Lebensmittelvorräte wie Getreide oder Salz blieben dagegen häufig steuerbefreit. Doch selbst wenn die Steuerverzeichnisse nicht jedem Einzelfall zur Gänze gerecht werden, lassen sich immerhin die grundlegenden Strukturen erkennen, ebenso ermöglichen sie die Bildung einer zumindest relativen Vermögenshierarchie mit aussagekräftigen Näherungswerten. Die Ermittlung der beruflichen Gliederung bereitet rückblickend ebenfalls Schwierigkeiten, da aus einer Zunftzugehörigkeit spätestens seit dem 15.  Jahrhundert nicht mehr unmittelbar auf den ausgeübten Beruf geschlossen werden darf. Dennoch vermitteln derartige Modelle, und um mehr handelt es sich letztlich nicht, kaum zu unterschätzende Orientierungen und Vorstellungen. Den folgenden Ausführungen liegt trotz der Gefahren einer Pauschalierung und zu schematischen Schichtzuweisung das relativ offene Modell von Erich Maschke mit seiner Untergliederung in Ober-, (obere und untere) Mittel- sowie Unterschicht zugrunde.230 Zwischen den Gesellschaftsschichten dürfen jedoch keine zu festen Grenzlinien gezogen werden, denn in 229 Zusammenfassend Isenmann: Stadt, S. 698–727. 230 Erich Maschke: Die Schichtung der mittelalterlichen Stadtbevölkerung Deutschlands als Problem der Forschung, ND in: ders.: Städte, S. 157–169.

379

Spätmittelalter

­ iesem Kontext meint Armut ausschließlich eine steuertechnische Armut. d Gleichwohl verfügte ein verarmter Bürger und Handwerksmeister sicherlich über eine gänzlich andere soziale Stellung als ein mittelloser Handlanger oder ein Armer ohne Bürgerrecht. Ebenso kann der Sohn eines vermögenden Kaufmanns zum Zeitpunkt der Gründung seines Hausstands nur gering zur Steuer veranschlagt worden sein. Vielleicht wohnte er vorerst in einer Mietwohnung statt im repräsentativen Familiensitz, hatte das väterliche oder auch das mütterliche Erbe noch nicht angetreten und begann seine eigenen geschäftlichen Aktivitäten gerade erst. Oftmals betätigten sich junge Kaufleute nach ihrer Grundausbildung auch zunächst noch für einige Jahre als Faktor in einer anderen Gesellschaft oder für einen Kaufmann, um sich weitere Usancen aus der Handelspraxis anzueignen. Die Grenze zwischen Mittel- und Unterschicht wird zumindest für oberdeutsche Kommunen an einem zu versteuernden Vermögensspektrum zwischen 50 und 100 Gulden festgemacht. Wesentlich komplexer ist die Abgrenzung zur Oberschicht, da in diesen Fällen die örtliche Situation berücksichtigt werden muss. Dürfte sich doch ein für Kleinstadtverhältnisse als vermögend eingestufter Oberschichtbürger bei gleicher Vermögenshöhe in einer großen Handelsmetropole an anderer Stelle wiedergefunden haben. An der Wende zum 15.  Jahrhundert verschwand beispielsweise die eingesessene Esslinger Oberschicht fast zur Gänze, und selbst in Memmingen zog der Großteil der späteren Geschlechter von auswärts zu. Nicht nur in dem Schichtenmodell von Erich Maschke zählen die politisch führenden Kaufmannsfamilien zur Oberschicht, deren Mitglieder, in erster Linie ältere Männer, von ihrem Vermögen zehrten und als Rentiers lebten. Doch handelte es sich zumeist um keinen geschlossenen Kreis, wie er uns im Reichsgebiet ausschließlich in Nürnberg nach 1521 begegnet, sondern der Aufstieg in die Oberschicht blieb prinzipiell möglich. Die Grundvoraussetzung dieser Option bildete stets ein entsprechendes Vermögen. Auf dieser Basis stießen Heiratsverbindungen mit einer oder mehreren führenden Familien auf positive Resonanz und konnten sich ebenso vorteilhaft auswirken wie der Zuzug vermögender Neubürger aus einer anderen Stadt. Ein offensives Hineindrängen in den Führungszirkel wirkte dagegen eher kontraproduktiv. Am oberen Ende der Skala begegnen daneben auch Fälle, in denen beispielsweise Adelsgleichheit anstrebende Bürger aus diesem Kreis herauswuchsen und zumindest die Stadt verlassen mussten. Von ­Patriziat als einem geburtsständisch abgeschlossenen Kreis sollte jedenfalls nur mit größter Vorsicht die Rede sein, zumal der Begriff ansatzweise erst 380

Aspekte der Sozialstruktur

seit dem Ende des 16.  Jahrhunderts zur Selbstbezeichnung der jeweiligen politischen Führungsgruppe diente, selbst wenn er auch noch in jüngeren Publikationen fast inflationär Verwendung findet.231 Ohnehin bildeten die Kaufleute keine homogene Gruppe, denn die Unterschiede zwischen einem erfolgreichen Fernhandelskaufmann – der das heutige Bild vom Kaufmann geprägt hat – und den zahlreichen, nicht selten zunftgebundenen mittleren und kleineren Händlern sowie den zumeist ärmeren Hökern erwies sich als beträchtlich. Die mittleren und kleineren Kaufleute zogen mit ihren Produkten, die sie auf Messen, in größeren und mittleren Städten oder bei Großkaufleuten erstanden hatten, vielleicht auf einen der vielen Jahrmärkte, wo sie diese veräußerten. Mit den Erlösen und weiterem Bargeld kauften sie erneut Waren, die sie anschließend im heimischen Raum und darüber hinaus abzusetzen hofften, um sich dann wieder auf den Weg zu machen. Dabei überwanden sie zum Teil mit ihren Fuhrwerken große Entfernungen, während zu Hause möglicherweise die Frau einen Kramladen führte, der gleichfalls bestückt werden musste. Zumeist lebten sie in einfachen Verhältnissen. Zur oberen Mittelschicht lassen sich in grober Vereinfachung die übrigen kommerziellen Berufe zählen, zur unteren vornehmlich die Handwerker. Damit stellten weitestgehend Kaufleute die Angehörigen der oberen Mittelschicht, wobei die Übergänge fließend blieben. Die tendenziell vermögenden Zünfte wurden bereits thematisiert. Eine Besonderheit stellten die Lübecker Paternostermacher dar: Sie erwarben den für ihr Handwerk benötigten teuren Rohstoff Bernstein an der Ostseeküste und setzten die Fertigprodukte auf den internationalen Märkten ab. Dagegen deutet die (nachträgliche) Zusammensetzung der Unterschicht auf eine ausgesprochen heterogene Gruppierung hin, von der höchstens ein Teil über das Bürgerrecht verfügte. Zur Unterschicht zählten – allerdings nur steuertechnisch – allein arbeitende Meister mit geringen Einkommen, deren Sozialprestige und Eigeneinschätzung aber vornehmlich durch ihren Beruf sowie die Zunftzugehörigkeit geprägt waren. Ähnliches galt für die kleinen Händler. In der Regel werden im Haus des Meisters wohnende Handwerksgesellen ebenfalls den Unterschichten zugeordnet, doch müssen die gleichen Einschränkungen wie bei den Meistern beachtet werden; zudem galt die Gesellenzeit zumindest bis ins 15.  Jahrhundert ­hinein überwiegend als eine Übergangsphase bis zum zügigen Erwerb des 231 Zur Verwendung des Patriziatsbegriffs in Nürnberg vgl. Fleischmann: Rat, Bd.  1, S.  226–229, 252–259.

381

Spätmittelalter

Meistertitels. Schon solche Einschränkungen verweisen deutlich auf die Grenzen des Modells sowie auf die Überlappung der verschiedenen Abgrenzungskriterien. Ebenso zählten die männlichen und weiblichen ­Bediensteten der (groß-)bürgerlichen Haushalte zu dieser Gruppe. Die Vielzahl der ungelernten Hilfskräfte musste sich als Tagelöhner verdingen und immer wieder neue Beschäftigungsmöglichkeiten suchen. Normalerweise dürften die Arbeitseinkommen der Tagelöhner oder der ärmeren Meister ausgereicht haben, um deren Lebensunterhalt zu sichern. Doch schon die aus einer Missernte erwachsene Teuerung konnte dazu führen, dass sie auf Unterstützungsleistungen durch die jeweilige Kommune zurückgreifen mussten. Denn eine Ersparnisbildung war ihnen nicht möglich bzw. diente dazu, den Winter mit seinen meist geringeren Beschäftigungsmöglichkeiten zu überbrücken. Auch kehrten im Winter Personen in die Städte zurück, die den Sommer über im Umland gearbeitet hatten. Unter ihnen finden sich vielfach Bauhandwerker, die in kleineren Städten oder in Dörfern ihrer Tätigkeit nachgingen, zumal beispielsweise im Umland Nürnbergs im 16. Jahrhundert teilweise deutlich höhere Tagelöhne erzielt werden konnten als in der Stadt – ein durchaus erstaunlicher Befund. Die große Anzahl der Vagierenden bildete eine differenzierte und kaum einzuordnende Gruppierung, deren Aufenthalt in den Städten zunächst misstrauisch beäugt und dann zunehmend erschwert wurde. Zigeuner erreichten Mitteleuropa zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Doch selbst bei den Randständigen und Außenseitern kam es zu Gruppenbildungen zur Vertretung der gemeinsamen Interessen: So ist für Zülpich 1454 eine Bruderschaft der Bettler, Krüppel, Blinden und anderer Armer belegt, für Frankfurt 1480 eine der Blinden und Lahmen. Auf dem berüchtigten Basler Kohlenberg sammelten sich fahrendes Volk und Unehrliche um eine organisierte Gruppe von Sackträgern und weiteren ungelernten Tagelöhnern, die rechtlich einem Reichsvogt unterstanden. Selbst eine eigene Gerichtsbarkeit der blinden, lammen, giller, stirnstosser ist für den Kohlenberg überliefert. Insgesamt dürften die Bedeutung der Unehrlichkeit und die Anzahl der Unehrlichen für das Spätmittelalter lange überschätzt worden sein, stieg die Zahl unehrlicher Berufe doch erst in der Frühen Neuzeit markant an. Dagegen blieben die „Königreiche“ der Fahrenden, besonders der Pfeifer und der Spielleute, im Reich deutlich seltener als in Frankreich.232 Gefürchtet 232 Maschke: Unterschichten, S. 375. František Graus: Organisationsformen der Randständigen. Die sogenannten Königreiche der Bettler, in: Rechtshistorisches Journal 8 (1989), S.  235–255; hier S. 240. Hartung: Spielleute, S. 287–292.

382

Aspekte der Sozialstruktur

waren beschäftigungslose Landsknechte, gegen welche die Obrigkeiten seit dem 16. Jahrhundert verstärkt vorgingen. Während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gingen etliche oberdeutsche Städte dazu über, Straffällige als Galeerensklaven in oberitalienische Kommunen zu verkaufen, was vielfach der Todesstrafe gleichkam. Um die ärmeren Bevölkerungsschichten bei Versorgungskrisen zu unterstützen und Hungerunruhen vorzubeugen, ließen die Räte in Groß- und Mittelstädten vielfach wie in Oberitalien oder den Niederen Landen Getreidevorräte in Kornspeichern anlegen, die während einer Teuerung verbilligt ausgegeben werden konnten; von einer langfristig angelegten antizyklischen und preisstabilisierenden Vorratspolitik lässt sich allerdings noch kaum sprechen.233 Desgleichen ergingen in Krisenzeiten in zahlreichen Städten Ausfuhrverbote für Getreide, Wein, Vieh und weitere Lebensmittel, aber beispielsweise auch für Unschlitt. Tendenziell dürfte ein Drittel bis zur Hälfte der Einwohnerschaft spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Kommunen an der Grenze des Existenzminimums gelebt haben. Von einem goldenen Zeitalter des Handwerks oder der Lohnarbeit sollte schon aus diesem Grund nicht die Rede sein. Da zudem während des 16. Jahrhunderts die Preise für Getreide und weitere Agrarprodukte wesentlich schneller anstiegen als die Lohneinkünfte der Beschäftigten oder die Erlöse aus Handwerksprodukten, muss zumindest für die zweite Jahrhunderthälfte von erheblichen Reallohneinbußen ausgegangen werden. Schon aufgrund dieser Verengung des Nahrungsspielraums, die nicht mehr nur die Unterschichten betraf, führte die Inflation dieses Jahrhunderts zu einer verbreiteten Krisenstimmung. Dieser Trend verschärfte sich in der Kleinen Eiszeit nochmals, und in den Jahrzehnten um die Wende zum 17. Jahrhundert nahm die Zahl innerstädtischer Unruhen wieder deutlich zu; bäuer­ liche Revolten mehrten sich gleichfalls. Auch erreichten die Hexenverfolgungen in den letzten beiden Jahrzehnten des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Ausgesprochen negativ äußerte sich Aeneas Silvius de Piccolomini, der spätere Papst Pius II., über die Einwohnerschaft Wiens, insbesondere über 233 Ulf Dirlmeier: Lebensmittel- und Versorgungspolitik mittelalterlicher Städte als demographisch relevanter Faktor?, in: Saeculum 39 (1988), S. 149–153, hier S. 152. Zur Verbreitung und Häufigkeit von Versorgungskrisen vgl. Christian Jörg: Teure, Hunger, großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 55), Stuttgart 2008. Vgl. noch immer Fritz Curschmann: Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts, Leipzig 1900, ND Aalen 1970.

383

Spätmittelalter

die Mittel- und Unterschichten, die ihm trotz seines langen Aufenthalts in der Stadt letztlich vollkommen fremd geblieben waren: „Wenn man morgens aufsteht und zur Kirche geht, stößt man oft auf die auf der Straße liegenden Leichen derer, die in der Nacht zuvor getötet worden sind. Wein im Haus zu verkaufen, wird nicht durch Geringschätzung behindert. Dies geschieht vielmehr ringsum aufgrund einer Verfügung der Bürgermeister, und so wird man kaum einen Bürger finden, der das Gewerbe nicht ausübt, wenn ihm Wein verkauft wird, um diesen als Schankwirt weiterzuverkaufen. Sie heizen nämlich Stuben, richten eine Küche ein und rufen Zuhälter, Prostituierte und jede Art von Trinkern durch dafür eingestellte Menschen herbei. Und sie geben ihnen etwas Gekochtes umsonst, aber ein kleineres Maß Wein, so trinkt man, isst, spielt, streitet bis der Weinkeller erschöpft ist. Die Menge widmet sich dem Bauch und ist gefräßig, was sie in der ganzen Woche mit ihren Händen verdient hat, wirft sie am Feiertag hinaus. Ein zerlumptes und unordentliches Volk, träge und arbeitsscheu, zieht durch die Stadt, eine große Zahl von Prostituierten.“234

Seinem Bericht zufolge schenkten die Wirte weniger Wein aus als vorgeschrieben, wahrscheinlich um solcherart zunächst die Kosten für das ausgegebene Essen zu kompensieren. Auch das Studium an der Wiener Universität bedachte er mit scharfer Kritik. Bei den Studenten betonte er toposhaft ihre Vorliebe für Wein und Speisen, doch an den intellektuellen Fähigkeiten der Professoren ließ er ebenfalls kaum ein gutes Haar.

Armut und Bettelei Neben der erwerbstätigen Unterschicht waren zahlreiche weitere Einwohner auf gelegentliche, längere oder gar dauerhafte Unterstützung angewiesen: Zumeist handelte es sich um Kranke und Arbeitsunfähige, Familien ohne Ernährer oder solche mit vielen kleinen Kindern, alte Menschen, häufig Witwen. Die christlichen Autoren der Spätantike und des Frühmittelalters hatten oft noch der Vorstellung Ausdruck gegeben, dass die Armen nicht zuletzt dafür ihr Dasein fristeten, um den Reichen mit der Möglichkeit der Almosenvergabe Chancen zur Befreiung von ihren Sünden zu eröffnen. Doch setzte im Spätmittelalter ein gravierender Wandel im Verhältnis zur Armut und hinsichtlich ihrer Bewertung ein: Galt 234 Aeneas Silvius de Piccolomini: Historia Austrialis. Österreichische Geschichte, hg. v. Jürgen Sarnowsky, Darmstadt 2005, S. 24–27.

384

Aspekte der Sozialstruktur

Armut lange quasi als gottgegeben und wurden Almosen an Arme vor allem unter dem Aspekt gesehen, dass sie für das Seelenheil des Gebers förderlich waren, so rückte wohl seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert zunehmend die Frage nach der Arbeitsfähigkeit der Armen in das Zentrum der Überlegungen. Einen ersten Beleg dafür liefert im Reichsgebiet die Nürnberger Almosenordnung von etwa 1370, die vermutlich sogar ältere Ursprünge aufweist. Sie bestimmte, dass arbeits- oder umzugsfähige Arme kein Anrecht auf ein Bettelzeichen und die damit verbundene Bettelerlaubnis hatten: „da lewt weren, die wol gewandern oder gearbeyten möchten, und die des almusens niht notürftig weren, den sol man nit erlauben zu petteln, noch kein zeichen geben.“ Fremden Bettlern gestand der Rat einen höchstens dreitägigen Aufenthalt zu. Die Umsetzung der Bestimmungen oblag einem Ratsmitglied, dem weitere Kräfte zur Seite gestellt wurden. Über den Grad der Umsetzung schweigen die Quellen freilich wieder einmal weitgehend.235 Parallel zu der geschilderten Tendenz, Arbeitsfähigen das Betteln zu verweigern, erfuhr die Handarbeit eine deutliche Aufwertung gegenüber den Vorstellungen der Antike oder der früh- und hochmittelalterlichen Mönche und sonstiger geistlicher Autoren. Als unterstützungswürdig galten unverändert die Hausarmen, also jene Armen oder Alten, die in ihrem Haus auf den Almosenempfang warteten und nicht öffentlich bettelten. Seit etwa 1400 lässt sich bei Stiftungen und sonstigen Almosenvergaben eine allmähliche Bevorzugung der Hausarmen erkennen. Das öffentliche Betteln erfuhr hingegen im 15.  Jahrhundert eine wachsende soziale Diskriminierung, wobei Berufsbettler tatsächlich vielfältige Tricks anwendeten, um als schwer vom Leben Gezeichnete mehr Almosen einstreichen zu können. Während des 16. Jahrhunderts wurden auf breiter Front Bettelverbote oder zumindest starke Einschränkungen erlassen, ohne aber die Ursachen des Bettelns und der verbreiteten Armut zu bekämpfen. Die offiziell als unterstützungswürdig anerkannten Armen sollten Bettelzeichen tragen, welche aber entgegen der Intention diskriminierend wirken konnten – gute Absichten reichten eben damals wie heute keineswegs aus. Wesentlich stärker als die einheimischen Bettler betrafen die Einschränkungen fremde Bettler. Schüler, die um Brot bettelten oder sangen, gehörten zwar unverändert und selbstverständlich zum städtischen Alltag, doch Burkard 235 Willi Rüger: Mittelalterliches Almosenwesen. Die Almosenordnungen der Reichsstadt Nürnberg (Nürnberger Beiträge zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 31), Nürnberg 1932, S. 68 f.

385

Spätmittelalter

Zink schilderte in seinen autobiografischen Aufzeichnungen anschaulich, welche Überwindung es ihn zunächst gekostet habe, überhaupt zu betteln – was er dann aber durchaus mit Erfolg tat. Ebenso wirkten ­Vorstellungen des römischen Rechts und der Reichspoliceyordnungen prägend auf das Bild des starken Bettlers ein, wobei „stark“ nicht mit großer Körperkraft gleichzusetzen ist, sondern nur mit Arbeitsfähigkeit. Starken Bettlern wurden nun negative Eigenschaften wie Spieltrieb, Trunksucht, Müßiggang, Arbeitsunwilligkeit und das Vortäuschen von körperlichem Leid oder weiteren, prinzipiell anerkennungswürdigen Gründen zugeschrieben. Allerdings vermochten die Torwächter längst nicht in jedem Fall unerwünschte Bettler von anderen Besuchern zu unterscheiden. Als beispielsweise 1518 der Bürgermeister des Städtchens Schelkingen (Alb-Donau-Kreis), Hans Minderer, in ärmlicher Bekleidung („gar übel und zerhudlet war beklaidet, also das er aim bettler vil änlicher, dann ein zunftmaister“) Ulm aufsuchen wollte, verwehrte ihm ein Stadtknecht aufgrund seines Äußeren zunächst den Zutritt („dann er wer der gemainen bettler und landstreicher ainer“), bevor er ihn nach langen Diskussionen doch einließ. Allerdings musste Minderer geloben, nicht zu betteln.236 Zucht- oder Arbeitshäuser zur Zwangsbeschäftigung von Bettlern nach niederländischem Vorbild entstanden im Reich zunächst 1608 in Bremen, 1613 in Lübeck und 1622 in Hamburg; viele weitere Städte folgten nach dem Dreißigjährigen Krieg. Freilich standen der Umsetzung der Vorschriften gegen arbeitsfähige Bettler die städtischen Bediensteten entgegen, die mit ihrer Aufsicht beauftragt wurden. Denn diese Bettelvögte – eine von vielen Bezeichnungen dieser kommunalen Funktionsträger – standen den Armen sozial und auch persönlich weitaus näher als den Ratsmitgliedern. So sollte im Jahr 1612 in Marburg zunächst ein Bettelvogt einen Bettler aus der Stadt vertreiben, dann wurde zusätzlich sein Amtskollege hinzugeschickt. Doch setzten sich alle drei, die sich wahrscheinlich kannten, zusammen und tranken vermutlich den einen oder anderen Schluck. Erst weitere Stadtbedienstete schafften schließlich die drei in einen Turm, wo sie die Nacht verbringen mussten. Am folgenden Morgen wurde den beiden Bettelvögten zwar eine Ermahnung zuteil, doch sie blieben im Amt; der fremde Bettler musste ­allerdings nun die Stadt verlassen. 236 Karl August Barack (Hg.): Zimmerische Chronik, Tl. 3, 2., verb. Aufl. Freiburg i. Br./Tübingen 1881, S. 352.

386

Aspekte der Sozialstruktur

Als der Straßburger Diakon Alexander Berner im Auftrag seines Rats während des Jahres 1531 oberdeutsche und eidgenössische Städte bereiste, um deren Organisationsformen des Armenwesens kennenzulernen und anschließend für Straßburg eine adäquate protestantische Armenordnung zu entwerfen, unterschied er für Nürnberg grundsätzlich vier Gruppen von Armen: zunächst arme Handwerker, deren Einkünfte nach seiner Auffassung zu gering waren, da entgegen seinem Rechtsempfinden die Kaufleute anstelle der Produzenten die Gewinne einstrichen – was sich als ein Hinweis auf das Verlagswesen mit seinen für die Beschäftigten negativen Abhängigkeiten werten lässt –, dann die Alten und Kranken, drittens die Arbeitsunwilligen sowie schließlich diejenigen, die nie etwas anderes als das Betteln gelernt hätten. Bei Letzteren müsse man zuwarten, bis sie gestorben seien, und bis dahin hätten die Städte sie zu unterstützen, so seine Forderung, da bei ihnen keine Verhaltensänderung mehr zu erwarten sei. Die Unterstützung der Hausarmen hielt Berner für in der Armenordnung normativ gut geregelt, doch die Praxis stehe dazu in einem scharfen Kontrast. Berner betonte ausdrücklich die Negativwirkung des Bettelzeichens für Handwerker, denen die Kaufleute-Verleger wegen ihrer offensichtlichen Armut keine Rohstoffe oder andere Produkte mehr vorlegten, da sie befürchteten, dass diese sie nur verkaufen würden – so zumindest seine Begründung und Einschätzung. Positiv hingegen wertete Berner die Anstrengungen, Kinder von Eltern, die sich nicht um eine Lehrstelle bemühten, vonseiten der Stadt bei einem Meister unterzubringen, um sie ein Handwerk lernen zu lassen. Augsburg behandele zwar die stadtsässigen Armen vergleichsweise gut, fremde Bettler hätten dagegen kaum eine Chance, in die Stadt zu gelangen. Die Argumentation, die der Ulmer Rat Berner zufolge gegen die Bargeldvergabe an arme Eltern ins Feld führte, nutzen freilich etliche Politiker noch heute, knapp 500 Jahre später, in nahezu unveränderter Diktion. Die Ulmer Obrigkeit wandte seinerzeit nämlich ein, dass diese Eltern die ohnehin bescheidenen Summen nicht zweckgebunden nutzen würden, sondern sie vertränken oder verschleckten oder in sonstiger Form zu ihrem Vorteil nutzten, während ihre Kinder großen Mangel leiden müssten. In der Eidgenossenschaft, die einst die Schmalzgrube der Bettler gewesen sei, dürfe seit der Einführung der Reformation nicht mehr gebettelt werden, und die Armen erhielten von den Kommunen nur geringe, kaum das Überleben sichernde Mittel; so ein weiteres, durchaus ernüchterndes Fazit des Straßburger 387

Spätmittelalter

­ iakons.237 Eine organisierte Armenfürsorge blieb in der Frühen Neuzeit D nur ansatzweise institutionalisiert. Die Systematik einer solchen Vorgehensweise begegnet erst im 19. Jahrhundert, wenngleich selbst dann noch ortsfremde Arme möglichst von allem Leistungsempfang ausgeschlossen wurden. Den frühneuzeitlichen Armen blieb dennoch nichts anderes übrig, als neben kirchlichen Einrichtungen auf das zunehmend zentralisierte kommunale Almosenwesen zurückzugreifen. Zwar konnten umfangreiche öffentliche Baumaßnahmen Arbeitsmöglichkeiten schaffen, doch nur für begrenzte Zeit. In Augsburg wurden vor allem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts öffentliche sowie private Gebäude in großem Umfang errichtet oder renoviert, den Höhe- und zugleich Schlusspunkt der öffentlichen Bautätigkeit bildete der Neubau des Rathauses von 1615 bis 1620 unter der Leitung des Stadtbaumeisters Elias Holl.238 Doch vor allem ließ der Rat die Stadtbefestigung nochmals verstärken. Gerade bei solchen aufwendigen und langjährigen Baumaßnahmen konnten selbst zahlreiche ungelernte Kräfte Arbeit finden, mussten doch gewaltige Mengen Erde, Steine und andere Materialien transportiert werden. Ganz bewusst sollten bei diesen Vorhaben städtische Einwohner Arbeitsmöglichkeiten finden, während auswärtige Ungelernte außen vor blieben, sodass in einem gewissen Rahmen von einer „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ gesprochen werden kann. Allerdings traf bald darauf der Dreißigjährige Krieg die Stadt schwer: Die Einwohnerzahl halbierte sich, begleitet von einem erheblichen Vermögensrückgang. In Frankfurt dürfte dagegen dem privaten Bausektor um 1600 eine ausgesprochen hohe Bedeutung zugekommen sein. Seit dieser Zeit prägten steinerne Erdgeschosse mit Obergeschossen in Fachwerkbauweise die Innenstadt bis zu ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Ebenso begann 1628 vor der Stadtmauer der Bau eines Kranzes von elf Bastionen nach niederländischem Vorbild, der aber erst 1667 seine Vollendung erfuhr.

Stiftungen Bereits während des Spätmittelalters gelangten zahlreiche Stiftungen unter kommunale Regie, und das heißt, dass die Verwalter von den städtischen 237 Otto Winckelmann: Das Fürsorgewesen der Stadt Strassburg vor und nach der Reformation bis zum Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1922, ND New York/London 1971, Tl. 2, S. 266–283. 238 Jürgen Zimmer: Die Veränderungen im Augsburger Stadtbild zwischen 1530 und 1630, in: Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock, Bd. III: Beiträge, Augsburg 1981, 25–65.

388

Aspekte der Sozialstruktur

Räten bestimmt wurden. Damit sollte erreicht werden, dass bürgerlicher Besitz, der in eine Stiftung einging, nicht mehr an die Kirche fiel. Der vielfach nicht steuerpflichtige und außerhalb der kommunalen Gerichtsbarkeit stehende Besitz der Toten Hand sollte nicht weiter anwachsen, sondern den Städten ungeschmälert zur Verfügung stehen. Zumindest teilweise fielen nun auch bereits bestehende Stiftungen unter die Kontrolle der Räte. Dieser lang andauernde Prozess, der unter der Bezeichnung „Kommunalisierung“ firmiert, führte jedoch keinesfalls zwingend zu einer Auseinandersetzung zwischen den Städten und der Kirche oder den sonstigen geistlichen Instituten. Die Höhe der Stiftungen variierte enorm, kleinen Spenden standen hohe Summen gegenüber. Einem Funktionswandel unterlagen die Hospitäler: Hatten sie zunächst der Krankenpflege und der Unterbringung von Waisen sowie alleinstehenden Frauen, meist Witwen, gedient, entwickelten sie sich seit dem 14. Jahrhundert häufig zumindest teilweise zu Pfründneranstalten und lassen daneben verbreitet eine Tendenz zu einem Wirtschaftsbetrieb erkennen. Die Pfründner sicherten sich gegen eine Einkaufssumme in unterschiedlicher Höhe ihren Lebensunterhalt sowie ihre Bleibe. Ernährung und Unterbringung waren je nach der eingelegten Summe abgestuft; grob lässt sich zwischen Reichen-, Mittel- und Armenpfründen unterscheiden. Beim Eintritt der Pfründner achteten die Spitäler wohl seit dem späteren 15. Jahrhundert in der Regel auf das Alter der Bewerber, des Weiteren behielten sie sich teilweise vor, bei einem aus Sicht des Instituts zu langen Aufenthalt des Pfründners Nachforderungen zu stellen. Leisten konnte sich diese Form der Altersvorsorge aber längst nicht jeder. Derartige Pfründenerwerbungen im Alter bestätigen, dass das Zusammenleben von Drei-Generationen-Familien in einem Haus im Spätmittelalter eine seltene Ausnahme bildete. Als Kernfamilie lebten die Eltern und ihre noch im Haus befindlichen Kinder zusammen, höhere Bewohnerzahlen resultierten auch aus dem Mitzählen von Bediensteten. Für die Herrenpfründner, also die der höchsten Klasse, des Konstanzer Heilig-Geist-Spitals sah die Ordnung des Jahres 1470 fünf Fleischtage mit jeweils zwei Fleischmahlzeiten in der Woche vor, was sich in der Summe auf gut drei Kilogramm belief, wenngleich überwiegend Kochfleisch. Dazu reichten die Bediensteten freitags und samstags Fisch, weiterhin Brot nach Bedarf, etwa 1,8 Liter Wein täglich sowie Morgensuppe und Mus. Die gesunden Armen, die zumindest teilweise in den Wirtschaftsbetrieb eingespannt waren, mussten sich dagegen als Nichtpfründner mit Mus oder Brei begnügen, welche Speise an den beiden Fasttagen um geringe Fischmengen ergänzt 389

Spätmittelalter

wurde. Allerdings profitierten die armen Insassen von (Zu-)Stiftungen oder weiteren Einkünften der Spitäler. Ihr Brotbedarf dürfte in der Regel gedeckt worden sein, bei Fleisch und Wein blieben sie weitgehend auf zusätzliche Stiftungen angewiesen. Derart reproduzierte sich in den Hospitälern die ­soziale Schichtung der Stadt auf kleinem Raum. Das Leben in den Spitälern regelten zunehmend detaillierte Spitalordnungen, wobei das Vorbild der klösterlichen Gemeinschaften oder geistlichen Bruderschaften über Jahrhunderte erhalten blieb, wenngleich mit vielfachen Variationen. So wurde zunächst Enthaltsamkeit oder Ehelosigkeit gefordert, bevor im 14. Jahrhundert auch Ehepaare Aufnahme fanden und sogar Anträge auf Eheschließung Gehör. Erhebliche Unterschiede wies die Insassenzahl auf, wobei sich die Zahl zwölf mit ihrem hohen Symbolwert großer Beliebtheit erfreute. Zu den größten Spitälern im Reich zählten jeweils eine der Einrichtungen in Regensburg, Lübeck, Augsburg, Nürnberg und Biberach mit mehr als 200 Plätzen, während der Durchschnitt größerer Anstalten bei 40 bis 60 Insassen gelegen haben dürfte. Vielfach agierten die Hospitäler, vor allem wenn sie über größeren Besitz verfügten, als Kreditgeber für Stadt und Umland, wobei Mittel- und Kleinkredite dominierten; zuweilen verschafften sich Städte oder Stadtherren bei ihnen auch Zwangskredite. Selbst in Kleinstädten oder Dörfern wurden Hospitäler fundiert. Bei den in Städten angelegten Hospitälern handelte es sich häufig um lang gestreckte Bauten, deren Halle im Erdgeschoss dem Zusammenleben der Insassen diente. Personal und Pfründner bezogen dagegen das oder die Obergeschosse. Zum Hospital gehörten im Regelfall eine Kapelle und mit zunehmender Tendenz auch ein Wirtschaftshof für die Eigenwirtschaft. Die ausgeübten ökonomischen Tätigkeiten variierten, aber schon aufgrund von Landschenkungen und -erwerb lag ein Schwerpunkt im Agrarsektor. Prächtig ausgestaltete und groß dimensionierte Bauwerke dienten zugleich dem Repräsentationsbedürfnis der Stadt. Die medizinische Betreuung übernahmen Ärzte, die aber nur in großen Häusern eine feste Anstellung fanden, so in Nürnberg 1486 oder in Straßburg 1534; beide Anstalten verfügten zudem über eine Apotheke. Ansonsten wirkten neben Stadtärzten Bader, Scherer, Barbiere oder Wundärzte in den Hospitälern. Seit dem 16. Jahrhundert ist eine weitere Professionalisierung in diesem Sektor erkennbar.239 239 Knefelkamp: Pflege, S. 175–194, hier S. 177, 192. Zu den verschiedenen Bautypen vgl. Dankwart Leistikow: Hospitalbauten in Europa aus zehn Jahrhunderten. Ein Beitrag zur Geschichte des

390

Aspekte der Sozialstruktur

Ein knapper Blick sei noch auf Einnahmen, Ausgaben und Eigenbetriebe der Spitäler geworfen, auch wenn eine serielle Überlieferung von Hospitalrechnungen verbreitet erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzt. Bei den wichtigsten Einnahmen der Frühzeit handelte es sich um Stiftungen, welche die Spitäler fundierten. Zusätzliche Stiftungen konnten in der Folge hinzukommen und die Ausstattung erweitern. Solche Stiftungen deckten häufig ein breites Spektrum von Geld bis hin zu Grund­ stücken, ländlichen Liegenschaften sowie Immobilien oder Weinbergen ab. Durchgängig bildeten allerdings noch in der Frühen Neuzeit die bäuerlichen Abgaben auf der Basis von Grundrenten den größten Einnahmeposten. Zu nennen sind zudem Mühlen, Badestuben, Fischteiche, Schank- und Braurechte, Fuhrunternehmungen, Salinenanteile oder die Textilproduktion. Weitere Erträge erwirtschafteten die zum Spital gehörigen Betriebe. Selbst komplette Dörfer erwarben Spitäler oder sie erhielten diese als Stiftung übertragen, wodurch die Spitäler teilweise als Träger einer kommunalen Territorialpolitik in zumeist allerdings kleinerem Rahmen agierten. Gelegentlich, so im Fall von Frankfurt am Main, sprachen die Stadtobrigkeiten Bußen nach Betrugsfällen oder anderen Delikten den Spitälern zu. Derart konnten durchaus größere Mengen untergewichtig ausgebackenen Brots oder auch geraubtes und dann eingezogenes Vieh in die Spitals­ küchen gelangen und die Kassen entlasten.240

Krankenbaues, Ingelheim 1967, bes. S. 51–56. Knefelkamp: Pflege, S. 193 f. Vgl. Robert Jütte: Vom mittelalterlichen Spital zum modernen Krankenhaus – oder: „Die Geburt der Klinik“ in Deutschland, in: Schmauder (Hg.): Macht, S. 9–14, hier S. 11. Für eine vorwiegende Funktion der Spitäler in der Krankenpflege votiert Kuno Ulshöfer: Spital und Krankenpflege im späten Mittelalter, in: Württembergisch Franken 62 (1978), S. 49–68, passim. 240 Oliver Landolt: Finanzielle und wirtschaftliche Aspekte der Sozialpolitik spätmittelalterlicher Spitäler, in: Bulst/Spieß (Hg.): Sozialgeschichte, S. 273–299, hier S. 275 f. Zum breiten Einnahmenspektrum aus Immobilien des Münchener Heilig-Geist-Spitals vgl. Das Salbuch des Heiliggeistspitals in München von 1390, bearb. v. Hubert Vogel (Quellen und Forschungen zur Bayerischen Geschichte, N. F. XVI, 2), München 1966. Für das Wiener Bürgerspital wurden nach einer Verwaltungsreform 1429 übersichtliche Grund- und Einkünfteverzeichnisse angelegt. Zwischen 1336 und 1352 besaß das Spital 26 Häuser, drei Fleischbänke, eine Badestube sowie weitere Wirtschafts­ betriebe in der Stadt; Brigitte Pohl-Resl: Rechnen mit der Ewigkeit. Das Wiener Bürgerspital im Mittelalter (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband, 33), Wien/München 1996, S.  34, 154. Ludwig Ohngemach, Spitäler in Oberdeutschland, Vorderösterreich und der Schweiz in der Frühen Neuzeit, in: Scheutz u. a. (Hg.): Europäisches Spitalwesen, S. 255–294, hier S. 270. Thomas Just/Herwig Weigl: Spitäler im südöstlichen Deutschland und in den österreichischen Ländern im Mittelalter, in: Scheutz u. a. (Hg.): Europäisches Spitalwesen, S. 149–184, hier S. 165 f. Vgl. zum Landbesitz der Spitäler in Nördlingen und Memmingen Kießling: Stadt, S.  38–50, 278–284. Analoges gilt beispielsweise für Lindau, Esslingen, Nürtingen und Biberach; Heinz Muschel, Das Spital der Reichen Siechen zu St. Katharina in Ulm. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung zur Inkorporation von Wohlfahrtsanstalten durch die

391

Spätmittelalter

Ein erheblicher Grundbesitz und eine Vielzahl weiterer Rechte bzw. Pertinenzen vereinten sich beim Nürnberger Heilig-Geist-Spital: Vom 16. bis 18.  Jahrhundert verteilten sich der spitaleigene Besitz bzw. die Rechte auf etwa 280 Ortschaften, und zwar zum großen Teil gleichzeitig. Neben bäuerlichen Anwesen, Zehnten und Frondiensten – im 16. Jahrhundert zunehmend durch Geldleistungen abgelöst – zählten Mühlen, Kupferhämmer, Hirtenhäuser, Wirtshäuser sowie eine Spiegelfabrik zur Ausstattung. Dazu kam, wie teilweise auch bei anderen Spitälern, ein stattlicher innerstädtischer Immobilienbesitz. Ebenfalls über umfangreichen Landbesitz verfügte das Ravensburger Heilig-Geist-Spital; als Eigenbetriebe lassen sich hier je eine Bäckerei, Metzgerei, Küferei, Sennerei, Brauerei, Zimmerhütte, Badestube und ein Torkel (Kelter) anführen, ergänzt um Kalköfen und Mühlen. Der Besitz des Lübecker Heilig-Geist-Spitals, das seine wichtigste Grunderwerbsphase im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts hatte, lag vorwiegend in Holstein, daneben aber auch in Mecklenburg und selbst in Pommern.241 Waldbesitz ergänzte die landwirtschaftlich genutzten Flächen, kostenträchtige Holzkäufe blieben daher selten. Wohl gleichzeitig mit den Dörfern erwarb das Spital Getreidemühlen, weiterhin eine Kupfermühle, eine Köhlerei, Rechte an Torf als weiterem Heizmaterial, Anteile an der Lüneburger Saline sowie in und um Lübeck Häuser und Wohnungen.

Reichtum und Führungsschichten Nach den Armen und den Hospitälern kommen wir nochmals auf die Oberschichten zurück. Hier lässt schon ein kurzer Blick in die Aufzeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts erkennen, dass diese gerade in den Großstädten eine breite Ausdifferenzierung erfuhren. Im Gegensatz dazu

Reichsstadt im ausgehenden Mittelalter (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm, 5), Ulm 1965, S. 163. Vgl. Bernhard Zeller: Die schwäbischen Spitäler, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte XIII (1954), S. 71–89, hier S. 84. Werner Moritz: Die bürgerlichen Fürsorgeanstalten der Reichsstadt Frankfurt a. M. im späten Mittelalter (Studien zur Frankfurter Geschichte, 14), Frankfurt a. M. 1981, S. 178. 241 Ulrich Knefelkamp: Stiftungen und Haushaltsführung im Heilig-Geist-Spital in Nürnberg, 14.– 17. Jahrhundert, Bamberg 1989, S. 64 f., 71–83. Bei der Mehrzahl der klein- und mittelstädtischen Spitäler dürfte der Besitz hingegen wie in Markgröningen überschaubar gewesen sein; Klaus Militzer: Das Markgröninger Heilig-Geist-Spital im 15. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des 15.  Jahrhunderts (Vorträge und Forschungen, Sonderband 19), S.  39  f. Beate Falk: Machtfaktor Spital: Herrschaft und Besitz, in: Schmauder (Hg.): Macht, S. 58–71, hier S. 62 f. Harald Schulz: Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Heilig-Geist-Spitals zu Lübeck, Göttingen 1993, S. 23, 43, 48 f., 69–93.

392

Aspekte der Sozialstruktur

fassten die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren die Handwerkerschaft tendenziell eher zusammen, ohne sie aber in irgendeiner Form herabsetzend zu bewerten. Als Kriterien für die Zugehörigkeit zum obersten Kreis nennen die Quellen Alter und Herkommen der Familie, die persönliche Ehre, eine vornehmlich kaufmännische Berufsausübung unter Ausschluss jeglichen Handwerks sowie eine besondere Eignung für die Teilhabe an der Macht. Letztere galt in der Vorstellung nicht nur des späten Mittelalters überwiegend als bereits durch die Geburt in eine solche Familie erworben, wie dies auch beim Adel vorausgesetzt wurde. Die hohe Bedeutung von Besitz und Finanzmitteln ist zwar offenkundig, doch genügten diese nicht allein, um in den Führungskreis aufgenommen zu werden. Als wichtigstes Aufstiegskriterium lässt sich das Konnubium mit Ange­ hörigen schon führender Familien nennen. Innerhalb der Führungsschichten grenzten sich zuweilen nochmals exklusivere Kreise ab, die nicht selten eine Sonderstellung beanspruchten. So schloss sich in Augsburg ein kleiner Teil der Bürgerschaft nach den Unruhen des Jahres 1368, welche die Macht der bisherigen politischen Führungsschicht beschnitten, keiner Zunft mehr an, vielmehr vereinigten sich wahrscheinlich 51 Geschlechter im folgenden Jahrzehnt zur Gesellschaft auf der Bürgerstube. Sie nannten sich bezeichnenderweise „Bürger“ und äußerten damit nicht zuletzt Führungsansprüche. Ihr Abschluss als Herrenstube ­erfolgte schließlich 1383 bei einem Bestand von mindestens noch 22 Geschlechtern. Knapp 100 Jahre später – eine erste Ordnung datiert auf 1481 – begründeten dann die mit den Geschlechtern versippten, allerdings zünftigen Kaufleute die „Gesellschaft der Mehrer“. Dieser Zusammenschluss bildete künftig ein Bindeglied zwischen den Geschlechtern und den Zünften, seine Mitglieder konnten auf der Bürger- oder Herrenstube verkehren. Außer der Oberschicht der Kaufleutezunft fanden Angehörige der Salzfertiger-, der Kramer- und der Weberzunft Aufnahme in den Kreis der „Mehrer“, wobei die dort verkehrenden Mitglieder der Weberzunft als Verleger tätig gewesen sein dürften. Neben dem Vermögen schufen wiederum Heiratsverbindungen die entscheidenden Beziehungsgeflechte. Nachdem sich die Zahl der verbliebenen Geschlechter im weiteren Verlauf auf acht reduziert hatte, fanden 1538 weitere 39 Familien Eingang in das „Patriziat“ der Stadt, darunter die Fugger, die ihrerseits jedoch nicht nach direkter politischer Machtteilhabe strebten. In Ulm konnten die erstarkten Zünfte mit dem „Großen Schwörbrief“ 1397 eine klare zahlenmäßige Dominanz im Großen Rat durchsetzen, denn die aktuell 14 Zünfte entsandten jeweils 393

Spätmittelalter

z­ wischen einem und drei (Kramer, Kaufleute, Grautucher, Schmiede, Bäcker, Schuster) Ratsherren in dieses Gremium, in dem nur noch zehn unzünftige und nicht handwerklich tätige Mitglieder saßen; die sonstigen Vorrechte der Oberschicht reduzierte das Dokument gleichfalls. Kaiser Karl V. hob allerdings den Schwörbrief nach dem Schmalkaldischen Krieg 1548 auf und beschnitt zudem die Zunftrechte in zahlreichen oberdeutschen Städten massiv. Insgesamt 23 der dortigen Reichsstädte mussten eine Verfassungsänderung hinnehmen, die zwar unterschiedlich ausgeprägt war, aber durchgängig die Rechte der Zünfte zugunsten der Geschlechter beschränkte. Die schärfste Abgrenzung einer städtischen politischen Führungsschicht im Reichsgebiet erfolgte in Nürnberg, wo sich 1521 und in den Folgejahren ein Kreis von 37 Geschlechtern absonderte. Zukünftig besetzten nur noch Mitglieder dieser Familien den Kleinen Rat sowie die wichtigsten städtischen Ämter. Für Nürnberg besitzen wir, wenngleich erst für das Jahr 1620, so doch überhaupt Angaben zur sozialen Schichtung der städtischen Bevölkerung: Etwa sechs bis acht Prozent der Einwohner werden einer reichen Oberschicht zugeordnet, davon jedoch nur noch 1,3 Prozent und damit weniger als ein Viertel den Großkaufleuten. Der Kreis der Handwerksmeister wird auf ungefähr acht bis zehn Prozent geschätzt, der der Handwerksgesellen und Lehrlinge auf weitere zehn Prozent, was auf ein Überwiegen von Kleinbetrieben hindeutet. Ein knappes Drittel der Bewohner suchte als Tagelöhner, Hilfs- und Gelegenheitsarbeiter seinen Lebensunterhalt zu sichern. Dabei muss jedoch im Blick behalten werden, dass die Arbeit als Tagelöhner nicht quasi automatisch eine geringer qualifizierte Tätigkeit bedeutete, da beispielsweise im Bausektor selbst Meister ganz überwiegend im Tagelohn bezahlt wurden. Der Kreis der Handwerker müsste daher vermutlich größer gezogen werden. Nochmals ungefähr zehn Prozent der Einwohnerschaft wirkten als Knechte oder Mägde vornehmlich in den Haushalten der Vermögenden, die verbleibenden gut 30 Prozent stellten die Armen und Ärmsten.242 Mit einem ausgesprochen hohen Vermögen wechselte Hans Thumer mit dem Beinamen der Reiche aus Pettau über einen Zwischenaufenthalt nach Nürnberg, wo er im November 1477 das Bürgerrecht erlangte. Im folgenden August erwarb er von der Familie Stromer ein repräsentatives Haus 242 Michael Diefenbacher: Ratspolitik und Handelsinteressen – Wie attraktiv war die Handels- und Wirtschaftsmetropole Nürnberg in der frühen Neuzeit für Nichtnürnberger, in: Brigitte Korn/Michael Diefenbacher/Steven M. Zahlaus (Hg.): Von nah und fern. Zuwanderer in die Reichsstadt Nürnberg (Schriftenreihe der Museen der Stadt Nürnberg, 4), Nürnberg 2014, S. 15–32, hier S. 15 f.

394

Aspekte der Sozialstruktur

am Hauptmarkt für 5500 Gulden, das er anschließend umzubauen begann, während er gleichzeitig im Handel aktiv blieb. Die Heiratsbindungen seiner Töchter zeigen den zügigen Anschluss an die führenden Familien der Stadt: Katharina ehelichte bereits im Januar 1478 Niklas Groß, nach dessen Tod den in der Montanwirtschaft tätigen Fabian Harsdörffer. Die jüngere Tochter Ehrentraud heiratete Jakob Welser, welcher spätestens 1493 die Nürnberger Niederlassung seiner Familie leitete, im gleichen Jahr das Bürgerrecht erwarb und die Nürnberger Linie der Familie begründete. 1504 folgte die Aufnahme Welsers in den Inneren Rat.243 Ebenfalls 1504 wurde er zum jüngeren Bürgermeister ernannt, amtierte aber wohl aufgrund seiner Geschäftstätigkeit und somit fehlender Abkömmlichkeit vorerst nur ein Jahr. Erst 1523 begegnet er im Rang eines Alten Genannten wieder, was nun definitiv die Ratsfähigkeit des Geschlechts und die Aufnahme in das Patriziat bedeutete. Thumers Reichtum entsprang wohl dem Handel mit ungarischen Ochsen nach Oberitalien, Oberdeutschland und Frankfurt, wo er im Gegenzug Tuche erwarb, also eine tradierte Handelspraxis erfolgreich anwandte. Schätzungen zufolge belief sich sein Vermögen schon in Pettau auf etwa 100 000 Gulden, sein Testament von 1498 lässt ein Vermögen in ebensolcher Höhe vermuten.244 Selbst wenn dieses Vermögen zu den höchsten in Nürnberg zählte, lässt es sich kaum mit den siebenstelligen Summen der Fuggerbilanzen nur wenige Jahrzehnte später vergleichen; doch sind diese Relationen Ausfluss der einsetzenden Veränderungen des Wirtschaftsgebarens und einer zuvor im Reich nördlich der Alpen nicht vorstellbaren Kapitalakkumulation im frühen 16.  Jahrhundert. Bei Hans Thumers gleichnamigen Sohn dominierten freilich andere Interessen: Nach Problemen in Nürnberg erwarb er in Regensburg, wo er sich bereits seit drei Jahren aufhielt, 1512 ein Haus, dann eine Grundherrschaft im Umland, um 1526 das Nürnberger Bürgerrecht endgültig aufzugeben. Immerhin 100 Gulden Steuern musste er zukünftig jährlich zahlen, um seine dortigen Güter ungestört behalten zu können. 1537 erfolgte schließlich seine Nobilitierung durch Karl V. in Ulm. Hans Thumer der Jüngere hatte anders als 243 Fleischmann: Rat, Bd. 2: Ratsherren und Ratsgeschlechter, S. 1075–1078. 244 Richard Klier: Beziehungen Nürnbergs zu Pettau im fünfzehnten Jahrhundert, in: Südostdeutsches Archiv X (1967), S. 83–101, hier S. 93–97; Helmut Frhr. Haller von Hallerstein: Größe und Quellen des Vermögens von hundert Nürnberger Bürgern um 1500, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Bd. I (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, 11/I), Nürnberg 1967, S. 117–176, hier S. 121 f.

395

Spätmittelalter

sein Vater bereits in Nürnberg zu einem adligen Lebensstil tendiert und an Turnieren teilgenommen. Letzteres blieb wie sein aufwendiger Lebensstil nicht ohne Kritik und führte zur Ablehnung durch die Geschlechter. Als Hauptbeschwerdepunkt erwies sich damit nicht sein Vermögen, sondern dessen demonstrative Präsentation sowie die nicht erfolgte Integration in erwartete Verhaltensweisen. Denn ansonsten bewertete nicht nur der Nürnberger Jurist Christoph Scheurl adelsgemäßes Leben keinesfalls grundsätzlich negativ. Zeitlich gingen Hans Thumer die ebenfalls aus der Steiermark stammenden Brüder Heinrich und Peter Meichsner voraus, von denen Peter übrigens der Schwiegervater von Hans Thumer war. Bevor Heinrich Meichsner 1447 das Nürnberger Bürgerrecht erwarb, betätigte er sich bereits längere Zeit als Inwohner im Handel. Sein selbst in dieser rechtlich nachrangigen Stellung erworbener Status in der Stadt geht daraus hervor, dass er im Jahr des Bürgerrechtserwerbs direkt in den Kreis der Genannten des Äußeren Rats aufgenommen wurde und seit 1453 als Mitglied des Inneren Rats amtierte. Seine Bedeutung – und die seines Vermögens – ­dokumentiert zudem ein Beschwerdebrief des Salzburger Erzbischofs über den Wegzug seines bisherigen Bürgers. Peter Meichsner erwarb das Bürgerrecht erst 1474, bei seinem Tod vier Jahre später soll sich das Vermögen der Brüder auf 50 000 Gulden belaufen haben. Heiratsverbindungen der Kinder sicherten wieder einmal die soziale Verortung in der Nürnberger Oberschicht, auch wenn Mitglieder „nichtpatrizischer“ Familien zu den Ehepartnern zählten. Neben den bisherigen Handelstätigkeiten stiegen die Brüder in den potenziell ertragreichen Montansektor ein. Sowohl die Meichsner als auch die Welser gehörten schließlich zum inneren Kreis jener 37 führenden Familien nach dem Tanzstatut von 1521, selbst wenn sie zu den erst zugelaßen Geschlechtern zählten, die nach 1440 die Ratsfähigkeit erlangten. Der Text unterschied sie von den alten Familien und denjenigen Familien, die bereits länger über die Ratsfähigkeit verfügten. Immerhin 16 Geschlechter hatten bereits 1332 und damit nach der ältesten seinerzeit bekannten Ratsliste dem Inneren Rat angehört. Beiden neuen Ratsmitgliedern gemeinsam ist die Herkunft aus einer reichen, auswärtigen Oberschichtfamilie, verbunden mit einer schnellen Aufnahme in die Nürnberger Führungsschicht. Für Nürnberg lässt sich im 15. und verstärkt im 16. Jahrhundert eine andere soziale Stratifikation der Stadtgesellschaft erkennen als die vergleichsweise einfache, darum aber zu Vergleichen geeignete Differenzierung in 396

Aspekte der Sozialstruktur

Oberschicht, obere sowie untere Mittelschicht und Unterschicht. Denn zeitgenössisch erfolgte – verstärkt seit dem erst von Theodor Aign 1961 so bezeichneten Tanzstatut von 1521245 – eine davon ganz verschiedene Gliederung der Stadtnürnberger Einwohnerschaft: Den Rang der patrizischen Familien an der Spitze der Gesellschaftshierarchie und ihre ausschließliche Verfügung über die Ratssitze als dem entscheidenden politischen Machtfaktor der Reichsstadt fixierte diese neue Ordnung für lange Zeit. Auf sie folgten die im Größeren Rat als Genannte vertretenen Großkaufleute mitsamt den führenden Juristenfamilien. Die dritte Gruppe bildeten die weiteren Kaufleute des Größeren Rats sowie die acht Vertreter der Handwerker im Kleinen Rat, die vierte die übrigen Kleinhändler und Handwerker des Größeren Rats. Unterhalb der patrizischen Ebene erwies sich damit die Zugehörigkeit zum Größeren Rat, der in wechselnder Größe während des 15. und 16. Jahrhunderts etwa 300 bis 400 Mitglieder zählte, als zentrales Stratifikationsmerkmal. Die Genannten des Größeren Rats, welcher nur ausgesprochen selten tagte und vor allem problematische oder strittige Ratsentscheidungen gegenüber der Bürgerschaft zusätzlich legitimieren sollte, erscheinen erstmals kurz nach 1300 in der Überlieferung. Sie rekrutierten sich zunächst aus Kaufleuten der ehrbaren Familien, seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kamen – vorerst noch vereinzelt – Gelehrte hinzu. Ihr Kreis lässt sich wirtschaftlich durchgängig der Oberschicht zurechnen. Zu ihnen zählten außerdem die insgesamt acht Genannten von den Handwerkern: Jeweils einen Ratsvertreter stellten die Bäcker, die Bierbrauer, die Blechschmiede (bis 1542, ab 1543 die Goldschmiede), die Kürschner, die Lederer, die Metzger, die Schneider sowie die Tuchmacher. Die gesamte restliche Bürgerschaft zählte ohne weitere Unterscheidung zur fünften Gruppe.246 Darüber hinaus lässt die gesonderte Verzeichnung von Neubürgern in pergamentenen Listen allerdings darauf schließen, dass es sich um tendenziell 245 Theodor Aign: Die Ketzel. Ein Nürnberger Handelsherren- und Jerusalempilgergeschlecht (Freie Schriftenreihe der Gesellschaft für Familienforschung in Franken, 12), Neustadt/Aisch 1961. 246 Vgl. z. B. Michael Diefenbacher: Stadt und Adel – Das Beispiel Nürnberg, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 141 (1993), S. 51–69. Ders.: Massenproduktion und Spezialisierung. Das Handwerk in der Reichsstadt Nürnberg, in: Karl-Heinrich Kaufhold/Wilfried Reininghaus (Hg.): Stadt und Handwerk in Mittelalter und früher Neuzeit (Städteforschung, A: 54), Köln/Weimar/ Wien 200, S. 211–228, hier S. 212–215. Zur im Reichsgebiet in dieser Konsequenz singulären Abgrenzung des Nürnberger Patriziats Hanns Hubert Hofmann: Nobiles Norimbergenses. Beobachtungen zur Struktur der reichsstädtischen Oberschicht, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 28 (1965), S. 114–150, hier S. 123 f. Vgl. allgemein Ann Katherine Isaacs/Maarten Prak: Cities, Bourgeoisies, and State, in: Reinhard (Hg.): Power Elites, S. 207–234, hier S. 217 f.

397

Spätmittelalter

vermögende Zuziehende handelte, vornehmlich also wohl um Kaufleute und Angehörige gehobener Berufe; leider fehlen in dieser Überlieferung die Berufsangaben fast vollständig. Die sonstigen Zuzügler notierte die Verwaltung jedenfalls in papierenen Listen. Scheurl ging noch einen Schritt weiter und differenzierte innerhalb der Oberschicht: „Alles regiment unserer stadt und gemainen nutzes steet in den handen der so man geschlechter nennet, das sein nun soliche leut, dero anen und uranen vor langer zeit auch im regiment gewest und uber uns geherscht haben. Frembdling so allda eingewurtzelt und das gemain völklein hat kainen gewalt.“ Da aber in den letzten Jahrzehnten sehr wohl neue Familien unter Umgehung dieses Grundsatzes Aufnahme in den Rat gefunden hatten, fuhr der Autor zur Absicherung von deren Legitimation fort: „aber dieselben sin von irer eherlichen gepurt und stammens wegen so weit komen, doch also, das sich ir kainer einer hohern wirdigkeit, dann des jungen burgermaisterampts zu versehen hat. Die andern aber können an iren ehern von tag zu tag zunemen, dann auß den jungen werden alte burgermaister, aus den alten burgermaistern entspringen die siben eltern herrn, von welchen hernach hauptmender und zuletzt die losunger erweelt werden. Darumb ists bei uns ein groß ein ratsherr zu sein, vil grosser ists zu sein ein alter burgermaister, aber am grosten ists so einer ein alter herr oder loßunger werden kann. Die Genannten wiederum sein leut eins erbarn lebens und wandels, die ir narung mit eherlichen dapfern gewerben und nicht mit verachtem handwerke uberkomen, außgenomen etlich wenig hantwerksleut, so in ansehenlichen wesen schweben, und gemainer stat durch iro hantierung vor andern greiflichen nutz pringen.247“

Deutlich zeigt sich auch bei Scheurl die Übernahme einer Negativbewertung des Handwerks und der Handarbeit aus den antiken Schriften, die zahlreichen Autoren in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zumindest in der Theorie eigen ist. Die Sozialstruktur Lübecks dürfte wie allgemein im Norden des Reichs ausgeglichener gewesen sein als in Oberdeutschland, auch am Fernhandel beteiligten sich hier prozentual mehr Bürger als dort. Innerhalb der Führungsschicht ragten diejenigen Großkaufleute heraus, welche im gesamten hansischen Raum handelten und über Einkünfte aus Renten, Krediten und Schiffsanteilen sowie über Grundbesitz verfügten. Ihnen nachgeordnet ­lassen sich die mittleren Fernkaufleute nennen, deren Handel zumeist auf 247 Christoph Scheurl’s Epistel, S. 787, 791 f.

398

Aspekte der Sozialstruktur

eine Region beschränkt blieb. Ihnen standen hinsichtlich des Vermögens Schiffsreeder, Besitzer großer Brauereien sowie ein Teil der Gewandschneider aber nicht nach. Und nur aus diesen Gruppen, nicht jedoch aus dem Kreis der übrigen Detailhändler, konnte der Aufstieg in die politisch führende Schicht der Großkaufleute gelingen.248 Den Rat besetzten ausschließlich Kaufleute, und bereits seit dem dritten oder vierten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts kooptierte das Gremium die nachrückenden Mitglieder durchgängig, ergänzte sich also selbst, was die politischen Mitwirkungsrechte der Gemeinde entscheidend begrenzte. Auf eine zweijährige Amtsdauer der Ratsherren musste zunächst eine einjährige Pause folgen, bevor im 14.  Jahrhundert die lebenslange Ratsmitgliedschaft zur Regel wurde. Diese Entwicklung sowie der Anspruch des Rats auf eine obrigkeitliche Stellung führten in den Jahren 1380/84 sowie 1408 bis 1416 zu den Knochenhaueraufständen, in deren Verlauf weitere Kaufleute und Handwerker politische Partizipationsrechte einforderten. Ein Abschluss dieser Schicht erfolgte nicht, sondern Aufsteiger oder Neubürger konnten, zumeist mittels Heiratsverbindungen, in den Rat einrücken. Aus dem Kreis der Oberschicht hob sich die wahrscheinlich am 2. September 1379 gegründete Zirkel-Gesellschaft nochmals ab, deren ursprünglich nur neun Mitglieder einen adligen Lebensstil pflegten. Innerstädtisch wurden diese dementsprechend bald als „Junker“ bezeichnet. Um die Mitte des 15.  Jahrhunderts folgte die Kaufleute-Kompanie, ein Zusammenschluss vermögender Fernhändler, der aber zumindest zunächst nicht in Konkurrenz zur Zirkel-Gesellschaft trat, sondern dessen bedeutendste Mitglieder in die vornehmere Gesellschaft aufgenommen werden konnten. Der aus Dortmund zugewanderte Hinrich Castorp amtierte 1450 als Altermann des Brügger Kontors, 1451 als Ratsmitglied und schließlich von 1462 bis 1488 als Bürgermeister, was für Lübeck die Möglichkeit des Aufstiegs Fremder bis in höchste Stadtämter belegt. Um ebendiesen Castorp hatte sich übrigens zuvor die Kaufleute-Kompanie gebildet. Selbst einige italienische Kaufleute konnten ihre Integration im Norden bewerkstelligen: So heiratete der Florentiner Gerardo Bueri eine Lübeckerin und ist in öffentlichen Ämtern nachweisbar, nicht aber im Rat, und auch die Zirkel-Gesellschaft blieb ihm verschlossen. In den Jahren 1465 und 1466 stellte die 248 Graßmann (Hg.): Geschichte, S. 185–188. Vgl. Carsten Jahnke: Geld, Geschäfte, Informationen. Der Aufbau hansischer Handelsgesellschaften und ihre Verdienstmöglichkeiten (Handel, Geld und Politik, 10), Lübeck 2007.

399

Spätmittelalter

­ irkel-Gesellschaft 19 von 20 Ratsherren, in den 1480er-Jahren besetzte sie Z zumeist noch zwei Drittel der Ratssitze, bis 1509 sank ihr Anteil jedoch auf die Hälfte und bis 1530 gar auf ein Drittel. Insbesondere die Kaufleutesowie die Greveraden-Kompanie vergrößerten dagegen ihre Anteile. In der Greveraden-Kompanie vereinigten sich vermögende Kaufleute, die erst in jüngerer Zeit nach Lübeck gezogen waren. Ihnen blieb die Aufnahme in die Zirkel-Gesellschaft verwehrt, und die Kaufleute-Kompanie rangierte in der sozialen Verortung ebenfalls vor ihnen. Weitere Bruderschaften unterliefen gelegentlich die Grenzen dieser exklusiven Vereinigungen.249 Auch wenn sich in Köln bereits im frühen 15.  Jahrhundert die Herrschaftsstrukturen trotz des nach einem unblutigen Aufstand erlassenen Verbundbriefs aus dem Jahr 1396 wieder deutlich verfestigten, standen Neubürgern, darunter nicht zuletzt vermögenden Goldschmieden und Juwelieren, noch Ratssitze offen. Der Verbundbrief beschnitt nach dem Sturz der Geschlechterherrschaft nicht zuletzt die Handlungsspielräume des Rats, begrenzte dessen Kompetenzen und schrieb die Mitwirkung der Gaffeln am Stadtregiment fest. Zu den Zuzüglern zählte beispielsweise der Goldschmied Johann Breide, der 1435 das Bürgerrecht erwarb, von 1437 bis 1468 Ratsmitglied war und 1456/57 erstmals als Bürgermeister amtierte. Hermann Rinck, ein erfolgreicher Handelsherr, erwarb 1458 das Bürgerrecht, seine erste Wahl zum Bürgermeister datiert auf das Jahr 1480, und seine Töchter verheiratete er gleichfalls in Bürgermeisterfamilien. Die Integration kürzlich zugezogener, vermögender Kaufleute in den Kreis der Führungsschicht lässt sich in ähnlicher Weise in vielen Städten beobachten. Nicht selten gelang es ihnen sogar leichter, Zugang zu finden, als bereits länger ansässigen Familien. Seit dem 15. Jahrhundert begegnet uns dann mit den Gelehrten eine neue Gruppe in der sozialen Schichtung zunächst der größeren Städte. In erster Linie handelte es sich um Juristen und Mediziner, aber unter ihnen waren auch Theologen. Selbstverständlich können sie nicht a priori der ­politischen Führungsschicht zugerechnet werden, und wohl auch nur in Einzelfällen der Oberschicht. Doch sahen sie sich aufgrund ihrer Spezialkenntnisse in der Lage, größere Vermögen zu erwirtschaften, was sie neben ihrem Status als Rechtsgelehrte mit breitem Hintergrundwissen weit über die Masse der Stadtbevölkerung hervorhob. Auch verschaffte ihnen ihre 249 Sonja Dünnebeil: Die Lübecker Zirkel-Gesellschaft. Formen der Selbstdarstellung einer städtischen Oberschicht, Lübeck 1996. Gerhard Fouquet: Ein Italiener in Lübeck: Der Florentiner Gerardo Bueri († 1449), in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 78 (1998), S. 187–220.

400

Aspekte der Sozialstruktur

Tätigkeit aufgrund der häufigen Kontakte zwecks Beratung in Rechtsfragen sowie Formulierung von Rechtsgutachten zugunsten der Stadt zum Teil eine große Nähe zu den Ratsmitgliedern. Grundsätzlich lassen sich die Gelehrten als Funktionselite charakterisieren.250 Die ersten europäischen Universitäten entstanden bereits vor 1200, wenngleich die ältesten überlieferten Statuten für Paris und Bologna erst für die Jahre 1215 sowie 1252 vorliegen. Bologna sollte für lange Zeit eine führende Stellung in der Rechtswissenschaft einnehmen. Auf diese beiden folgten Cambridge, Oxford und das auf Medizin spezialisierte Montpellier, dazu traten weitere hohe Schulen vornehmlich im südlichen Europa. Einen ­deutlichen Aufschwung erlebte das Universitätswesen dann im 14. sowie 15. Jahrhundert, und nunmehr erfolgten erste Gründungen auch im Reichsgebiet: 1347 hatte sich Karl IV. als böhmischer König vom Papst die Zustimmung zur Errichtung eines Generalstudiums in Prag, das er zielstrebig zur böhmischen Metropole ausbauen ließ, zusichern lassen.251 Am 7. April 1348 erfolgte schließlich die Einrichtung der vier Fakultäten – Artisten, Theologie, Jurisprudenz und Medizin –, die Karl IV. Anfang des Jahres 1349 als römischer König und zukünftiger Kaiser bestätigte. Auf die Prager Neuschaffung folgte in Mitteleuropa eine regelrechte Gründungswelle von Universitäten: 1364 Krakau, 1365 Wien, 1367 Fünfkirchen, 1385 Heidelberg, 1388 Köln als erste bürgerliche Universität, 1392 Erfurt, 1402 Würzburg, 1409 Leipzig und 1419 Rostock als früheste Universität im Ostseeraum. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kamen im Reichsgebiet Freiburg, Greifswald, Pressburg, Basel, Ingolstadt, Trier, Mainz, Tübingen sowie Frankfurt an der Oder hinzu. Auch in diesem Bereich zeigt sich, dass die ehemals führende Rheinschiene ihren Entwicklungsvorsprung verlor. 250 Vgl. die Beiträge in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16.  Jahrhunderts (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 18), Berlin 1996, S. 225–267, bes. S. 258–263. Georg Droege: Die Stellung der Städte, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg Christoph v. Unruh (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 177–187, hier S. 184. 251 Um die Mitte des 14. Jahrhunderts erfolgte die planmäßige Anlage der Neustadt unter Einbeziehung bestehender Siedlungen mit bis zu 27 Meter breiten Straßen und zahlreichen Märkten auf einer Fläche von 360 Hektar; der Viehmarkt maß immerhin 130 x 555 Meter, der Neustädter Ring 130 x 580 Meter, der Rossmarkt 60 x 680 Meter. Es folgte der Bau einer neuen Steinbrücke über die Moldau, nachdem die ältere 1342 ein Eisgang zerstört hatte; ihren Namen „Karlsbrücke“ erhielt sie aber erst im 19. Jahrhundert. In Hinblick auf die Ausdehnung zählte Prag zu den größten Städten Europas, bevölkert von etwa 40 000 Menschen zur Blütezeit zu Beginn der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Ebenso ließ der Herrscher den Hradschin zu einer Residenz ausbauen. Vgl. z. B. Dieter-J. Mehlhorn: Stadtbaugeschichte Deutschlands, Berlin 2012, S. 70–72.

401

Spätmittelalter

Zunächst vermittelte die Artistenfakultät die zweijährige wissenschaft­ liche Grundausbildung in den sieben artes liberales, wobei sich die Dauer der Studien häufig erheblich verlängerte, geschuldet beispielsweise der Vorbildung, dem Interesse, der Studienfähigkeit sowie den finanziellen Mitteln der Studenten. Im trivium, einer Fächerkombination aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik, welche nach aristotelischer Definition Logik sowie Metaphysik einschloss, wurde im ersten Jahr das durch die unterschiedlichen Schultypen vermittelte Elementarwissen vertieft. In den folgenden zwölf Monaten wurde es durch das quadrivium, also die Fächer Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, erweitert. Nach dem erfolgreichen Abschluss dieses studium fundamentale mit dem Bakkalaureat konnte anschließend eine der drei anderen Fakultäten besucht werden. Die Territorialherren förderten bevorzugt juristische Studien, da Rechtsgelehrte in den wachsenden Verwaltungen vor dem Hintergrund einer zunehmenden – wenngleich mit der heutigen keinesfalls vergleichbaren – Verrechtlichung in immer größerer Anzahl benötigt wurden. Bei den Juristen erfolgte eine Differenzierung zwischen weltlichem, also römischem Recht und geistlichem, kanonischem Recht. Doch nicht einmal selten schlossen Studenten beide Richtungen ab, um als Doktor beider Rechte in Führungspositionen zu gelangen. Allerdings beruhte das Studium überwiegend auf einem Nachbeten der Schriften antiker Gelehrter und ihrer späteren Glossatoren. Als vorteilhaft erwies sich, dass das römische Recht nicht in komplexen Findungsverfahren gewiesen werden musste, sondern einen Durchsetzungsanspruch formulierte. Das kam den Obrigkeiten entgegen, weil sie auf dieser Basis wesentlich leichter neues Recht setzen und damit herrschaftliche Ansprüche begründen konnten. Entsprechend dem bisher Gesagten ragten auch aus dem Kreis der Nürnberger Gelehrten die führenden Juristen heraus, welche nach 1521 von den Zeitgenossen – oder präziser formuliert von den politisch dominierenden Familien – immerhin der zweithöchsten Schicht der Nürnberger Einwohnerschaft zugerechnet wurden, sozialhierarchisch also neben vermögenden Kaufleuten direkt unterhalb des Patriziats standen. Das Vordringen des ­römischen Rechts vornehmlich im 14. und 15.  Jahrhundert als gemeines Recht (ius commune) in den Städten förderte die Nachfrage nach studierten Juristen mit entsprechenden Qualifikationen sowie Abschlüssen und trug zu ihrem Bedeutungsgewinn bei. Nicht zuletzt durch die Formulierung juristischer Spitzfindigkeiten bewiesen sie ihre hervorragende Eignung, die Städte in ihren Außenbeziehungen zu vertreten, und sicherten sich anbei ihren Status. Ein Ratsjurist ist für Nürnberg erstmals 1366 belegt. Im 402

Aspekte der Sozialstruktur

15. Jahrhundert wurden bei komplexen Rechtsfragen neben den in städtischen Diensten stehenden Ratskonsulenten weitere Rechtsgelehrte hinzugezogen, die Gutachten beibrachten, um die rechtliche Position der Stadt in den zahlreicher werdenden juristischen Auseinandersetzungen zu stärken. In wachsendem Ausmaß beschäftigten auch die Territorialherren, insbesondere solche von fürstlichem Rang, Juristen, um ihrerseits die innere „Staatsbildung“ beispielsweise durch ein einheitliches Territorialrecht vo­ ranzutreiben. Besonders im Hinblick auf das Drängen der Städte, Konflikte auf dem Rechtsweg statt in Form militärischer Auseinandersetzungen, also mittels der häufigen Fehden, auszutragen, erfuhr die Stellung der Juristen eine weitere Aufwertung. Im 15. Jahrhundert entlohnte der Nürnberger Rat seine Juristen zwar noch in gleicher Höhe wie die Stadtschreiber, doch konnten sie ihr Einkommen durch Gutachten und weitere Tätigkeiten stärker als die Stadtschreiber aufstocken. In diesem Zeitraum beschäftigte die Stadt zumeist fünf graduierte Juristen gleichzeitig, während sich ihre durchschnittliche Zahl im folgenden Säkulum verdoppeln sollte; Juristen begleiteten nun auch die kommunalen Delegationen zu Reichstagen. Die ­finanziellen Möglichkeiten etlicher dieser Juristen verdeutlichen nicht zuletzt die teilweise hohen Summen, die sie der Stadt kreditierten. So erwarb Martin Mair 1469 von der Stadt Nürnberg eine Rente in Höhe von 650 Gulden jährlich gegen die Zahlung von 13 000 Gulden.252 Vielfach zeitlich noch vor den Juristen sind Stadtärzte nachweisbar, so in Wismar im ausgehenden 13. Jahrhundert, in Konstanz 1312 und in Straßburg 1328. In Nürnberg sind sie mit 1438 erst spät belegt. In den Residenzstädten der Frühen Neuzeit handelte es sich dann um Angehörige des Hofes, welche die tradierte soziale Hierarchie durchbrachen; die landesherrlichen Funktionsträger konnten, 252 Zu Juristen in städtischen Diensten vgl. besonders Isenmann: Stadt, S. 69–73, 427–432; ders.: Aufgaben und Leistungen gelehrter Juristen im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Orbis Iuris Romani 10 (2005), S. 41–65. Ders.: Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen in Deutschland im 15. Jahrhundert, in: Franz-Josef Arlinghaus/Ingrid Baumgärtner (Hg.): Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, 23), Frankfurt a. M. 2006, S. 305–317. Vgl. allgemein Hilde de Ridder-Symoens: Training and Professionalization, in: Reinhard (Hg.): Power Elites, S. 149–172, hier S. 154–156. Zur Bedeutung gelehrter Juristen als Berater des Rats aus zeitgenössischer Sicht vgl. Christoph Scheurl’s Epoistel, S. 802 f. Die Nichtzulassung promovierter Gelehrter zum Rat kommentierte Scheurl nur knapp: „Kainen doctorn lest man zu Nürmberg in Rath“; ebd., S. 802. Vgl. Peter Fleischmann: Professionalisierung oder Ausschluß von Führungseliten in der Reichsstadt Nürnberg, in: Günther Schulz (Hg.): Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, 25), München 2002, S. 49–71. Zu Nürnberg vgl. Sander: Haushaltung, S. 226.

403

Spätmittelalter

selbst wenn sie dem städtischen Bürgertum entstammten, ein Gegen­ gewicht zu diesem bilden. Wie bereits mehrfach angedeutet, fand rechtmäßig erworbener Reichtum in den Kommunen des Reichsgebiets wie auch sonst in Europa oder in der zeitgenössischen Chronistik weitgehend Akzeptanz. Doch seit dem 15. Jahrhundert, verstärkt im frühen 16. Jahrhundert, wuchs die Kritik an den in kurzer Zeit erzielten hohen Gewinnen der Kaufleute, an dem schnellen sozialen und vor allem wirtschaftlichen Aufstieg sowie an den kapitalkräftigen Handelsgesellschaften vorübergehend massiv. Tatsächlich nahm seit der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts die Vermögenskonzentration in den Händen einer schmalen Oberschicht nochmals zu. Das Wirtschaftsgebaren der Kaufleute veränderte sich, ja erfuhr gegen Ende des Jahrhunderts oft eine regelrechte Neuausrichtung, denn mittlerweile dürfte das Gewinnstreben endgültig ihr Handeln bestimmt haben. An die Stelle von Fernhändlern und ihren Handelshäusern, die daneben auch Geldgeschäfte betrieben, traten verstärkt multifunktionale, horizontal sowie vertikal gegliederte Unternehmen, welche Fernhandel, Bankgeschäfte und unterschiedliche Stufen der Güterproduktion und des Handels (durch das Engagement im Montansektor sowie im Verlagssystem) miteinander verbanden. Dieser Wandel erhöhte jedoch den Kapitalbedarf und verkomplizierte die Organisationsstruktur teilweise erheblich. Für etliche Jahrzehnte dürften diese frühkapitalistischen Unternehmungen oder Kapitalgesellschaften in Europa eine Vorreiter- und Führungsrolle gespielt haben, die anschließend an die Niederlande, England und Frankreich fiel. Allerdings ist das Bild dieser als frühkapitalistisch eingeschätzten Unternehmer stark von modernen Vorstellungen geprägt, wogegen die zeitlich früheren Typen unscharf konturiert erscheinen. Die spätmittelalterlichen Großkaufleute dürften sich noch stärker an den Adel angelehnt haben. Sozialprestige und politische Machtausübung standen für sie, so begründete Annahmen, noch stärker im Zentrum, als dies später der Fall war. Besitzstreben spielte sicherlich auch im Spätmittelalter schon eine wichtige Rolle, aber primär als Mittel zur Steigerung von Macht und Ansehen, noch nicht als Selbstzweck wie dann im Frühkapitalismus.253 Vornehmlich bildeten sich frühkapitalistische Strukturen zunächst 253 Vgl. Michael North: Das Bild des Kaufmanns, in: Michael Schwarze (Hg.): Der neue Mensch. Perspektiven der Renaissance (Eichstätter Kolloquien, 9), Regensburg 2000, S. 233–257, hier S. 243– 248. Reinhard Hildebrandt: Diener und Herren. Zur Anatomie großer Unternehmen im Zeitalter der Fugger, in: Burkhardt (Hg.): Augsburger Handelshäuser, S. 149–174, hier S. 152. Rolf Sprandel, Art. Unternehmer, in: Lexikon des Mittelalters VIII, München 1997, Sp. 1270–1272. Winfried

404

Aspekte der Sozialstruktur

im Montansektor, im Verlagswesen und wohl auch im Geldhandel heraus und waren somit vorerst nur in diesem relativ kleinen Teil des Wirtschaftslebens wirksam, während ansonsten tradierte Strukturen dominierten. Die Wurzeln solcher frühkapitalistischer Strukturen reichen allerdings in das Spätmittelalter zurück und bilden keine Neuerung des 16.  Jahrhunderts. Auch ist zu beachten, dass die Entwicklung in den einzelnen Städten unterschiedlich verlief und diese Neuerungen sich beispielsweise in Augsburg und Nürnberg zeigten, kaum aber in Ulm. Derart stellte der Augsburger Wilhelm Rem 1519 dem ehrlichen Kaufmann vielfachen Betrug und Veruntreuung gegenüber und kritisierte, dass das Geschäftsgebaren der Großkaufleute einfach hingenommen wurde und diese als geschickte Leute statt – aus seiner Sicht zutreffender – als Diebe angesehen wurden. „Die also reich wurden, die hies man geschickt leutt, man sagt nicht, das sie so gros dieb weren“, lautete seine abschätzige Formulierung.254 Denn bei ihnen stand mittlerweile ein von breiten Kreisen in dieser Form nicht mehr tolerierter Eigennutz über dem Gemeinen Nutzen.255 Angesichts des schrankenlosen (Finanz-)Kapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts, der es teils maroden Banken erlaubt, gegen ganze Volkswirtschaften zu spekulieren, ohne staatlichen oder öffentlichen Repressionen ausgesetzt zu sein, während auf der anderen Seite Millionen Menschen im Bereich ihrer Daseinsvorsorge aufgrund der verordneten Niedrigzinsen bluten müssen, würden Rems Worte wohl noch drastischer ausgefallen sein. Zumal bei den heutigen Staaten oder präziser ihren Regierungen ebenso wie bei den supranationalen Organisationen wie der sogenannten Europäischen Zentralbank (EZB) weit überwiegend das Wohlergehen der Banken und Hedgefonds im Zentrum ihrer massiv von Lobbyisten beeinflussten Entscheidungen stehen dürfte. Als Zwischenfazit bilanzierte Ulrich Herbert: „Die Finanzkrise von 2007, die nahtlos in eine Weltwirtschaftskrise und die Schuldenkrise der Euro-Staaten überging, … bestätigte alle pessimistischen Voraussagen über die Auswirkungen der Deregulierung der Finanzmärkte, der ungleichen Einkommensverteilung und der vorwiegend oder ausschließlich auf die Steigerung der Gewinne der Investoren gerichteten

Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S.  591–624. Leonhard Bauer/ Herbert Matis: Geburt der Neuzeit, München 1988, S. 35. 254 Cronica newer geschichten von Wilhelm Rem, 1512–1527, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 25, Leipzig 1896, ND Göttingen 1966, S. 1–265. 255 Isenmann: Notion.

405

Spätmittelalter

­ irtschaftspolitischen Strategie. … Das im Moment der Katastrophe die w Verluste der privaten Unternehmen auf die Staaten abgewälzt wurden, weil die Banken ‚systemrelevant‘, also zu groß waren, als dass die Regierungen die Folgen eines Zusammenbruchs hätten hinnehmen können, widersprach nicht nur allen Kriterien der Gerechtigkeit, sondern bereitete auch den Boden für eine jederzeit mögliche Wiederholung solcher hemmungsloser Risikogeschäfte, da ja im Notfall der Staat einsprang.“256 Für das frühe 16. Jahrhundert benannte Rem insbesondere drei negative Praktiken, nämlich Wucher, Falschmünzerei, also die bewusste Verbreitung schlechter, unterwertiger Münzen, sowie den (betrügerischen) Bankrott.257 Als ein Beispiel für den raschen Erwerb von Reichtum und den schnellen sozialen Aufstieg kann der Augsburger Ulrich Schwarz genannt werden, welcher als Sohn eines Zimmermanns schließlich sogar das Bürgermeisteramt der Stadt bekleiden sollte.258 Er blieb Mitglied der Zimmerleutezunft, betätigte sich aber als Salzhändler und Wirt. Eben die Handwerker wählten ihn in das Amt des Bürgermeisters, das er entgegen allen innerstädtischen Regelungen von 1475 bis zu seinem Sturz 1478 ununterbrochen innehatte. Der gesellschaftliche Anschluss an die Oberschicht gelang ihm nicht – vielleicht unternahm er auch gar keine entsprechenden Versuche –, doch in Lebensstil und Kleidung orientierte er sich eindeutig an dieser; allerdings lehnten die führenden städtischen Geschlechter seine auf breite Einwohnerkreise gestützte Politik ab. 1478 wurde er gestürzt und hingerichtet, wobei die ­Vorwürfe auf Amtsmissbrauch, Unterschlagung sowie bezeichnenderweise Eigennutz lauteten. Immerhin 18 000 Gulden soll sein Vermögen nach einer Inventarisierung des Rats zu diesem Zeitpunkt betragen haben. Gleichfalls bescheidenen Verhältnissen entstammte der Zürcher Hans Waldmann, der unter Störung des eingespielten Wahlturnus im Jahr 1483 in das Bürgermeisteramt gelangte, nachdem er zehn Jahre zuvor in den Rat gewählt worden war. Wie Schwarz fehlten auch ihm verwandtschaftliche Bindungen zur Oberschicht, was sechs Jahre später 1489 unter dem häufig erhobenen Vorwurf des Machtmissbrauchs zu seinem Sturz und seiner 256 Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 1249 f. 257 Mark Häberlein: „Die Tag und Nacht auff Fürkauff trachten.“ Augsburger Großkaufleute des 16. und beginnenden 17.  Jahrhunderts in der Beurteilung ihrer Zeitgenossen und Mitbürger, in: Burkhardt (Hg.): Augsburger Handelshäuser, S. 46–68. 258 Zum Folgenden vgl. Ulf Dirlmeier: Merkmale des sozialen Aufstiegs und der Zuordnung zur Führungsschicht in deutschen Städten des Spätmittelalters, in: Hans-Peter Becht (Hg.): Pforzheim im Mittelalter. Geschichte einer landesherrlichen Stadt (Pforzheimer Geschichtsblätter, 6), Sigmaringen 1983, S. 77–106.

406

Aspekte der Sozialstruktur

Hinrichtung führte. Die Berner Oberschicht bezeichnete Inhaber wichtiger Ämter ohne eigenes, großes Vermögen als stattkelber, welche sich angeblich von der Stadt ernähren ließen oder ihre Stellung und die Verbindungen der Kommune zu ihrem Vorteil nutzten. Gerade die eingesessenen Führungsschichten wandten sich gegen Aufsteiger wie Schwarz oder Waldmann, und schon in der zeitgenössischen Wahrnehmung galt im Fall von Schwarz der steile Aufstieg als der eigentliche Grund für seinen Sturz. Anderen wie dem Rothenburger Heinrich Toppler oder dem Nürnberger Niklas Muffel führte hingegen ihr Herauswachsen aus der kommunalen Oberschicht zu ihrem Verhängnis, im Falle von Muffel noch verstärkt durch seine Kontakte zu Gegnern der Stadt. In den Mittelpunkt der Kritik rückten vornehmlich im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts die Handelsgesellschaften, denen nicht nur auf dem Nürnberger Reichstag der Jahre 1522/23 eine monopolartige Stellung vorgeworfen wurde; die Diskussion auf den Reichstagen hatte 1512 eingesetzt. Der Augsburger Rat intervenierte zwar zugunsten der Gesellschaften und verwies ­darauf, dass ihre Tätigkeit weder durch das Kirchenrecht noch durch das kaiserliche (römische) Recht irgendwelchen Beschränkungen unterworfen sei. Doch plädierten die damit befassten Ausschüsse des Reichstags gegen die Gesellschaften und forderten ihre Auflösung, da sie diese als dem Gemeinen Nutzen abträglich einschätzten. Allerdings hielt Kaiser Karl V. seine schützende Hand über die Gesellschaften, indem er Entscheidungen vertagen und hinauszögern ließ – wieder lassen sich Parallelen zur Gegenwart erkennen. Zu wichtig war für ihn die Rolle der Gesellschaften bei der Geldbeschaffung, um seine weitreichenden politischen Pläne in Angriff zu nehmen; außer dem Kaiser benötigten allerdings auch zahlreiche weitere Fürsten die Kredite der Kaufleute. Um die Diskussion auf den Reichstagen richtig einzuordnen, gilt es zu berücksichtigen, dass der Monopolbegriff im 16. Jahrhundert weiter gefasst war als heute, beinhaltete er doch einerseits das Zielen auf die Ausübung von Marktmacht, sei es als Anbieter oder als Nachfrager, um die Preise bestimmter Produkte massiv beeinflussen zu können, während andererseits schon die Kapitalausstattung und die Gewinne der Handelsgesellschaften für eine Charakterisierung als Monopol ausreichend erschienen – und in dieser letzteren Bedeutung fand der Begriff vornehmlich Verwendung. Letztlich lieferten wirtschaftsethische Aspekte den Kritikern die Argumente, weniger volkswirtschaftliche Überlegungen. Unbeschadet aller Kritik überdauerten zahlreiche mittelgroße Gesellschaften erfolgreich manche Jahrzehnte. Als ein Beispiel können die Grimmel 407

Spätmittelalter

g­ enannt werden, ­welche zunächst in Kempten Aktivitäten entfalteten, dann während der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts aufgrund des Wachstums der Gesellschaft nach Memmingen und Konstanz übersiedelten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg sollte die Bedeutung der großen Kaufleutefamilien zugunsten einer breiteren Verteilung des Handelskapitals zurückgehen, während sich die Kaufleute zugleich stärker spezialisierten. Eine Gegenposition zu den Vorwürfen vertrat Konrad Peutinger mit der Argumentation, dass der Eigennutz dem Gemeinen Nutzen durchaus dienlich sein könne, was die hohen Gewinne rechtfertige. Peutinger hatte übrigens Margarete Welser geheiratet, die beträchtliche Vermögenswerte in die Ehe einbrachte, und wirkte als Augsburger Stadtschreiber. Peutinger führte derart Gedanken ins Feld, die besonders im England des 17. und 18. Jahrhunderts weite Verbreitung finden sollten; erinnert sei an Adam Smith.259 Den Weg in den Frühkapitalismus, der in etlichen Sektoren der Wirtschaft einsetzte, begleiteten solche theoretischen Überlegungen noch vor der Entwicklung und Etablierung einer protestantischen Ethik. Zunehmend zeitigte auch die durch die Verbreitung der Druckerpresse veränderte Medienlandschaft mit zahlreichen Flugschriften und Traktaten Wirkung, konnte doch nun mit prägnanten Abbildungen und Worten eine deutlich breitere Öffentlichkeit in die Diskussionen einbezogen werden. Auf eine hohe Nachfrage stießen auch Eindruck-Jahreskalender, was übrigens dazu führte, dass der 1. Januar als Jahresbeginn deutlich an Bedeutung gewann. Bereits der noch immer unbekannte, wahrscheinlich der Geistlichkeit im Umfeld des Basler Konzils zuzurechnende Verfasser der Reformatio Sigismundi zeichnete wohl im Jahr 1439 ein ausgesprochen negatives Bild der Kaufmannschaft: „Wenn die Kaufherren zusammen kommen, es sei wo es dann sei, so tun sie eins, es seien goldenen Tücher oder etwas anderes, was köstlich ist, oder Gewürze, es seien Ingwer oder welcherlei Gewürz es sei, keines ausgenommen, und so machen sie einen Überschlag, der ihnen füglich ist und überschlagen miteinander, dass einer in Wien weiß, wie es hier zu Basel oder in Straßburg um die Kaufmannschaft steht und diese dort ebenso. Nun dünkt jedermann, es sei teuer, so sagen sie, es wäre auf dem Meer übel gegangen und reden, wie es ihnen passt, und eben sie streichen unrechtlich hohe Gewinne ein.“

Er forderte deswegen sogar dazu auf, die Mitglieder der Gesellschaften und ihre Beschäftigten straffrei zu berauben und diese niederzuwerfen, darin 259 Schulze: Geschichte, S. 120 f.

408

Aspekte der Sozialstruktur

freilich wieder einmal tradierten Vorbildern folgend. Aber auch die überwiegend adligen Zollinhaber kritisierte der Verfasser als Preistreiber massiv: „Also ist es noch und noch dazu gekommen, das man allenthalben Zölle aufgerichtet hat, und verdirbt alle Welt mit den Zöllen; denn wer Zölle anderswo für gebraucht als sie eigentlich bestimmt sind, der betreibt offen Wucher und ist böser als ein Straßenräuber.“260 Martin Luther formulierte in der Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ ebenfalls Kritik an den Gewinnen und Vorgehensweisen der Gesellschaften und vornehmlich der Fugger: „Hie must man werlich auch den Fuckern und dergleychen geselschafften ein zawm ynsz maul legen. Wie ists muglich, das solt gotlich und recht zugehen, das bey eynis menschen leben solt auff einen hauffenn szo grosse kuniglich gutter bracht werdenn? Ich weysz die rechnung nit. Aber das vorstehe ich nit, wie man mit hundert gulden mag des jarisz erwerben zwentzig, ja ein guld den andern, und das allis nit ausz der erden odder von dem fihe, da das gut nit in menschlicher witz, szondern in gottis gebendeyung stehet. … Das weysz ich wol, das viel gotlicher were acker werck mehren und kauffmanschaft myndern, und die viel besser thun, die der schrifft nach die erden erbeytten und yhr narung drausz suchen.“261

Allerdings sollte Luther in der Folge diese Kritik nicht weiter vertiefen. Auch ein Erasmus von Rotterdam stand den Kaufleuten ausgesprochen skeptisch gegenüber.

Burkard Zink – ein Aufsteiger Eindeutig als ein Aufsteiger lässt sich Burkard Zink 262 charakterisieren, der uns schon gelegentlich begegnet ist. Aus seiner Feder stammt als ein ausgesprochen seltener Quellentyp eine autobiografische Aufzeichnung, eingefügt in seine umfangreiche Chronik der Stadt Augsburg. Die Endredaktion nahm er wohl knapp 70-jährig 1466 vor, allerdings dürften in seinen Ausführungen die Jahresangaben nicht immer stimmen. 1396 oder 1397 geboren, verlor er im Alter von vier Jahren seine Mutter, die eine weitere 260 Reformation Kaiser Siegmunds, hg. v. Heinrich Koller (Monumenta germaniae historica, Staatsschriften des späteren Mittelalters, VI), Stuttgart 1964, S. 272, 258 (Übertragung B. F). 261 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Schriften, Bd. 6, Weimar 1888, ND 1966, S. 466 f. 262 Chronik Zink, S. 122–143, 183 f., 313. Erich Maschke: Der wirtschaftliche Aufstieg des Burkard Zink (1396–1474/75) in Augsburg, ND in: ders.: Städte, S. 420–447.

409

Spätmittelalter

Geburt nicht überlebte. Mit seinen drei Geschwistern musste er erleben, dass sich sein Vater, wahrscheinlich ein Eisenhändler mit Kontakten zur Steiermark, wieder verheiratete. Doch die Neue „was uns kinden nit günstig und hett uns hert und tet uns übel“. Über das Motiv seines Vaters ­notierte Zink lakonisch: „sie was unserm vater lieb und geviel im wol, als noch oft und dick alten mannen junge weib wol gevallen, dem sei als im ist“. Nach vierjährigem Schulbesuch, der als Normalfall geschildert wird, verließ er mit elf Jahren sein Elternhaus in Memmingen und zog zu seinem Onkel in die Krain, der ihn sieben weitere Jahre die Schule besuchen ließ. Gerne hätte der Bruder seines Vaters es gesehen, dass Burkard Zink anschließend in Wien ein Studium aufgenommen hätte, doch dieser wollte lieber Geld verdienen. Als er nach Memmingen zurückkehrte, hatten sich Vater und Stiefmutter getrennt und er musste mit Entsetzen feststellen, dass zum einen seine Brüder verstorben waren und zum anderen seine Schwester zur Erhöhung ihrer Mitgift sein mütterliches Erbe erhalten hatte; sie hatte einen Weber geheiratet, der vielleicht verlegerische Aktivitäten entfaltete. Dies war nicht aus böser Absicht geschehen, da seine Verwandten geglaubt hatten, der Onkel würde ihn versorgen, aber dennoch fehlte es ihm nun an Mitteln. Die sicherlich überschaubare mütterliche Erbmasse war vor der Wiederheirat des Vaters von dessen Mitteln getrennt worden. Verbittert musste er erkennen, dass niemand seiner froh war, und er bereute seinen Entschluss, den Onkel verlassen zu haben. Also machte er sich zu Fuß auf den langen Weg zurück in die Krain, doch nur um zu erfahren, dass sein Onkel zwischenzeitlich verstorben und auch dessen Erbe verteilt war. Erneut zu Fuß ging es nun wieder nach Memmingen, wo er sich zunächst für zwei Jungen als Schulmeister betätigte, sich aber dann verliebte und als Handwerker sein Auskommen zu finden trachtete, da der Geselle seines Schwagers aus seiner Sicht stets über Münzen verfügte. Die Verwandten zahlten das Lehrgeld und Zink begann seine Ausbildung bei einem Kürschner, doch mit bescheidenem Erfolg. Nach gerade einmal 14 Tagen schmerzte aus welchen Gründen auch immer der Rücken; zudem brachte er wohl nur wenig zustande, was dem Meister zusagte. Der Abbruch der Lehre folgte unverzüglich. Nun stand eine unruhige Zeit als fahrender Schüler bevor, während der Zink häufig betteln musste, bevor er 1415 nach Augsburg ging und sich in den Dienst des Kaufmanns Ulrich Schön begab. Dies sollte seinen weiteren Lebensweg vorzeichnen, selbst wenn er Augsburg fürs Erste bald wieder verlassen musste, da er einen Knaben während der Fasnacht überritten 410

Aspekte der Sozialstruktur

hatte und den Zorn der Verwandtschaft fürchtete. In Nürnberg trat er für drei Jahre in die Dienste des Händlers Contz Behaim, betätigte sich anschließend in Bamberg und Würzburg vermutlich als Schreiber, bevor er 1419 wieder in Augsburg eintraf. Hier fand Zink bei Jos Kramer eine Anstellung, einem dem Weberhandwerk entwachsenen Fernkaufmann und Verleger, für den er nach eigenen Worten in Venedig, Frankfurt und Nürnberg sowie weiteren Städten Kaufmannschaft trieb. In dieser Zeit lernte er weitere Usancen des Fernhandels kennen, wobei sich seine Schulausbildung sicherlich als förderlich erwies. Die notwendigen Sprachkenntnisse für den Venedighandel eignete sich Zink wohl eher nebenbei an. Ebenfalls im Dienst von Jos Kramer stand als Magd Elisabeth Störklerin, die Zink schätzen und lieben lernte, sodass beide recht formlos heirateten. Ihre Aussteuer umfasste nur wenige Dinge, aber immerhin gehörte ein Bett dazu. Zink selbst, so der Rückblick, verfügte nur über wenig Bargeld, da er seine Einkünfte modebewusst überwiegend in Bekleidung gesteckt hatte. Wesentlich ärger als die nicht untypisch bescheidenen Verhältnisse bei der Gründung eines Hausstands traf die beiden allerdings der Verlust der Huld ihres Herrn. Denn Jos Kramer – ganz den paternalistischen Vorstellungen der Zeit über die familia verhaftet, die eben auch die Bediensteten einschloss – zeigte sich zutiefst verärgert darüber, dass beide vorher nicht seinen Rat eingeholt hatten, und entließ sie aus seinem Dienst. Beschäftigung fand Zink als Schreiber – ein ehemaliger Lehrer in Memmingen, nunmehr Geistlicher am Augsburger Dom, vermittelte die nötigen Kontakte –, während Elisabeth Wolle spann. Jahrzehnte später erschien ihm diese Zeit trotz der Unsicherheiten als wenig kritisch, zumal die beiden, wenn wir auf die von Zink genannten Zahlen zurückgreifen, im Jahr mehr verdienten als ein städtischer Bauhandwerksmeister. Einer der zahlreichen Seuchenzüge ließ zudem die Preise sinken, ein in dieser Situation erfreulicher Nebeneffekt für die Nichterkrankten. Ein gutes Jahr nach der Eheschließung erfolgte die Wiederaufnahme in den Kreis der Bediensteten Jos Kramers, dem wohl die Entschlossenheit seines ehemaligen Zöglings imponierte. Nunmehr konnte Zink mit seinen Auftragsreisen eigene, zunächst noch bescheidene Geschäfte kombinieren und tauchte folgerichtig 1421 erstmals in den Steuerbüchern der Stadt Augsburg auf. Ein an der unteren Grenze der Erfassung gelegenes „Vermögen“ von 25 Gulden verzeichnete die Auflistung. Es folgte eine kurze, durchaus ertragreiche Phase als städtischer Söldner – dieses Mal wohl mit dem Einverständnis Jos Kramers –, die er allerdings als Schreiber in der sicheren 411

Spätmittelalter

Etappe verbrachte. 1428 versteuerte er bereits knapp 300 Gulden, und bis 1431 reiste Zink weiter, überwiegend im Venedighandel für Jos Kramer und nebenbei für sich. Dann „bedaucht mich, ich wär reich und verdruß mich so fast umb die weg ze reiten und gedaucht, ob ich möchte ain anstall haben hie haim in der stat, daß ich nit so ser bedörft arbeiten“, so begründete er den folgenden Ausstieg. Sieben Jahre wirkte er nun als Waagemeister unter Peter Egen. Das bedeutet, dass er die Aufsicht über eine kommunale Waage führte, selbst Hand anlegen brauchte er wohl kaum. Die 53 Gulden Jahreslohn ermöglichten eine sichere Existenz, aber Zink konnte zusätzlich in Venedig Handel treiben. Dazu streckte ihm Egen weitere Mittel vor, die als Kredit sein Handelskapital und damit seine Gewinnchancen erhöhten. Mindestens ein- oder zweimal jährlich machte sich Zink auf den Weg über die Alpen. Wie andere Bürger kaufte, verkaufte und vermietete Zink Häuser, bot der Immobilienbesitz doch im Vergleich zum Einsatz der Mittel im Handel ein höheres Maß an Sicherheit. Auffällig ist dennoch seine Umzugshäufigkeit, die hohe innerstädtische Mobilität. Die Steuerbücher verzeichnen zehn verschiedene Wohnungen in Augsburg, die er nacheinander nutzte, darunter aber nur zwei eigene Häuser. 1438 beendete er diesen Müßiggang und betätigte sich wieder als Fernhändler, ohne sich detailliert darüber zu äußern; konkret nennen die Aufzeichnungen nur Gewürze, Baumwolle und Barchent als Erfolg versprechende Waren. Drei Jahre später wirkte er als Faktor, allerdings unter Einsatz eigenen Kapitals, in einer auf drei Jahre befristeten Handelsgesellschaft, für die er Reisen unternahm. Geleitet wurde diese von Hans Meuting, dem wahrscheinlich reichsten Augsburger Kaufmann jener Jahre. Im Jahr 1448 erreichte Zinks versteuertes Vermögens mit 1 135 Gulden seinen Höchststand, und ansatzweise lässt sich von einem gewissen Wohlstand sprechen, der die bescheidenen Anfänge überdeckte. Von Reichtum kann nicht die Rede sein, doch Burkard Zink dürfte mit dem Erreichten zufrieden gewesen zu sein. Eine Tätigkeit als Kaufmann – wiederum handelte er mit Baumwolle – lassen seine Aufzeichnungen letztmals 1453 erkennen. In diesem oder im folgenden Jahr trat er erneut in städtische Dienste, in denen er bis 1474 nachzuweisen ist, und damit bis ins hohe Alter von 77 oder 78 Jahren. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens begleitete ein Vermögensrückgang; Zahlungen an die Kinder sowie eigene Geldentnahmen lassen sich als Gründe vermuten. Auf einer Rückreise aus Venedig überraschte ein Wintereinbruch Burkard Zink in Mittenwald, zwei Tage und zwei Nächte schneite es laut sei412

Aspekte der Sozialstruktur

nen Aufzeichnungen ununterbrochen, doch er bedauerte zuvorderst die Vögel wie Meisen oder Finken. Diese flogen nämlich in die Häuser, wo sie sich mit den Händen fangen ließen. Zink nun fütterte sie mit Hafer, und gerne hätte er über mehr davon verfügt. In der Kälte und im Schnee erkannte Zink Gottes Strafgewalt an den unschuldigen Vögeln. Jeder solle sich seine ­Sünden vor Augen halten und sein Gewissen befragen, so sein Schluss aus diesen Vorkommnissen. In dieser Episode schimmert ein wenig das Individuum Burkard Zink durch, und es wird deutlich, dass auch damals eben nicht jeder Tiere nur als Nutzvieh oder willkommene Speise betrachtete. Was das Verhalten der Vögel angeht, so finden sich derartige Beobachtungen nur selten in den Quellen, doch dürften sie nicht singulär gewesen sein. Nach dem Tod von Elisabeth Störklerin 1440 nach 20-jähriger Ehe, die Zink als glücklich und von gegenseitiger Achtung getragen einschätzte, heiratete er im folgenden Jahr mit Dorothea eine verarmte Adlige – erneut schaute Zink nicht auf die Mitgift. Auch diese Ehe scheint nur von wenigen Schattenseiten getrübt worden zu sein. Im Haushalt lebten 1441 drei eigene Kinder, zwei weitere waren bereits ausgezogen, fünf verstorben, dazu zwei Kinder aus erster Ehe von Dorothea. Auf den Tod seiner zweiten Frau folgte eine viereinhalbjährige Witwerschaft, begleitet allerdings von einer in der Rückschau wenig erfreulichen Liebschaft mit einer jüngeren Frau: „Das was mir sicher lieb, daran ich doch nit vil gewan, sie tett mir schier mer schaden dann guets, als villeicht oft ainem toreten man noch beschicht“, lautete sein ernüchterndes Fazit zum Abschluss dieser Episode. „Und das freulein was mir gar gefärlich und stal mir das mein; das verdroß mich und wolt sein nit mer.“ Als die Frau dies jedoch erfuhr, zog sie vor ein geistliches Gericht und klagte auf eine bestehende Ehe, die Klage wurde aber trotz zweier gemeinsamer Kinder von dem Gremium zurückgewiesen. Dem Sohn aus dieser Verbindung ließ Zink eine Schulbildung zukommen, die Tochter war am Tag nach ihrer Geburt verstorben. Es folgte eine neue Ehe mit der Kaufmannstochter Dorothea Münsterlerin, die Zink wieder als sehr harmonisch schilderte. In fünf Jahren gebar sie vier Kinder, doch bei der letzten Geburt sollte sie das Kindbett nicht überleben. Mit 64 Jahren heiratete er ein letztes Mal, diesmal eine zornige, trotzige Frau, bei der er nach eigenen Worten nur wegen seiner Kinder blieb. Seine letzten Jahre dürfte Burkard Zink alleine, aber nun wieder unbehelligt, gewohnt haben, doch kaum ohne vielfältige Kontakte. 1474 oder 1475 schloss er nach einem umtriebigen Leben für immer die Augen. 413

Spätmittelalter

Jüdisches Leben und Wirtschaften Städtische jüdische Gemeinden dürften die spätantik-frühmittelalterliche Transformationsperiode wohl nur im Mittelmeerraum, vielleicht sogar ausschließlich in Südfrankreich, überdauert haben.263 Ansätze zu einer Neusiedlung im Reichsgebiet finden sich dann für das 9. und 10.  Jahrhundert (Köln, Mainz, Speyer); jüngere Grabungen auf dem Kölner Rathausplatz lassen eventuell sogar eine Synagoge aus dem späten 8. Jahrhundert vermuten. Ludwig der Fromme (813–840) privilegierte einzelne jüdische Kaufleute, um ihre Betätigung im Fernhandel zu fördern, und gestand ihnen zu, nach ihren Gesetzen zu leben. Im 10. und 11.  Jahrhundert setzten schließlich Gemeinde- oder zunächst Verbandsbildungen vornehmlich um Großhändler und Gelehrte in etlichen Städten oder stadtähnlichen Siedlungen ein, so in den Rheinlanden, der Normandie, der Champagne, an der Elbe, in Regensburg, Prag und London, wobei auf den Britischen Inseln eine Besiedlung erst nach der normannischen Eroberung erfolgte. Die Produkt­palette der jüdischen Händler dürfte sich im 11. Jahrhundert um Güter des täglichen Bedarfs erweitert haben. Seit dem 12. und 13. Jahrhundert trat die Kreditvergabe hinzu, die sich stark auf Geschäfte mit Adligen und der hohen Geistlichkeit konzentrierte, während später Pfandgeschäfte überwogen, bei denen es überwiegend um geringere Summen ging. Neben den Kaufleuten und Geldhändlern wirkte eine große Anzahl von Dienstpersonal in deren Haushaltungen oder in jüdischen Einrichtungen. Diese Bediensteten, die deutlich ärmer waren, tauchen nur selten in der Überlieferung auf; ihr relativer Anteil wuchs während des 15. Jahrhunderts wohl nochmals deutlich an. Auch jüdische Ärzte lassen sich bereits früh belegen. Doch 1290 mussten alle Juden auf Anweisung der Krone England verlassen, nachdem sie zuvor noch mehrfach durch hohe Steuerforderungen ­ausgepresst worden waren. Mit diesen Belastungen und dem daraus resultierenden Vermögensverlust ging ihr finanzieller Nutzen für die Krone ­verloren, wobei religiöse Differenzen gleichfalls eine Rolle spielten. Die Vertriebenen siedelten sich zunächst in französischen Städten und im Reich an. 263 Vgl. den grundlegenden Überblick von Battenberg: Zeitalter. Alfred Haverkamp (Hg.): Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 24), Stuttgart 1981. Christoph Cluse (Hg.): Europas Juden im Mittelalter, Trier 2004. J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 60), München 2001. Vgl. zudem ausführlich die einschlägigen Darstellungen der Reihe Forschungen zur Geschichte der Juden, Abteilung A: Abhandlungen, Hannover 1995 ff.

414

Jüdisches Leben und Wirtschaften

Allerdings ließ der französische König Ludwig IV. mit dem Beinamen der Schöne, der die Staatswerdung Frankreichs energisch sowie skrupellos vo­ rantrieb und den exemten Templerorden mit seinen weitgehenden Autonomierechten zerschlagen ließ, seinerseits 1306 die Juden aus seinem Herrschaftsgebiet vertreiben, von denen ein Teil in das Reichsgebiet oder weiter in den Osten zog. Zwar wurde die Zwangsausweisung bereits 1315 teilweise widerrufen, doch schon 1322 erneuert; die endgültige Durchsetzung erfolgte schließlich 1394/95. Damit konzentrierte sich die Ansiedlung von Juden auf das Reichsgebiet mitsamt Österreich, Böhmen und Mähren, dazu auf Italien und die Reiche der Iberischen Halbinsel. Allerdings beteiligten sich Juden am italienischen Fernhandel schon des Hochmittelalters kaum, bedingt wohl durch die hohe innerstädtische Konkurrenz, sondern sie beschränkten sich auf den lokalen und regionalen Handel abseits der führenden urbanen Zentren. Erst spät gelangten sie in größerer Zahl nach Genua oder Venedig, wurden jedoch in beiden Städte in ihren Betätigungsmöglichkeiten beschränkt, was im Süden Italiens nicht der Fall war. Gerade in Sizilien konnten zahlreiche Judengemeinden bis zu ihrer Vertreibung im Jahr 1492 auf eine jahrhundertelange Tradition zurückblicken, wirkten ihre Mitglieder in den verschiedensten, auch handwerklichen Berufen. Im städtereichen Flandern siedelten sich hingegen keine Juden an. Ausdrücklich schloss mit dem Wormser Privileg von Januar 1074 das erste überlieferte Privileg für eine städtische Einwohnerschaft im Reich die Juden und ihren Handel mit ein; 1090 privilegierte erneut Heinrich IV. die Juden in Speyer sowie Mainz. Der Kaiser stellte die Juden unter seinen persönlichen Schutz sowie den seiner Kammer und bestimmte, „daß in Zukunft niemand, der unter unserer königlichen Macht mit irgendeiner Amtswürde oder Machtbefugnis ausgestattet ist, kein Geringer und kein Großer, kein Freier und kein Sklave, sich unterstehen soll, diese durch irgendwelche falsche Anklagen zu beunruhigen oder anzugreifen. Auch soll niemand es wagen, ihnen irgend etwas von ihrem rechtmäßig ererbten Besitz an Höfen, Häusern, Gärten, Weinbergen, Feldern, Sklaven und sonstigen beweglichen und unbeweglichen Gütern wegzunehmen. Wenn aber irgend jemand ihnen entgegen diesem Edikt irgendeine Gewalttätigkeit zufügt, so soll er gehalten sein, an die Schatzkammer unseres Palastes oder an die Kämmerei des Bischofs [von Speyer] ein Pfund Gold zu zahlen und die Sache, die er ihnen weggenommen hat, doppelt zu erstatten.“264 264 Julius H Schoeps/Hiltrud Wallenborn: Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter, Darmstadt 2001, S. 121.

415

Spätmittelalter

Die Urkunde betonte die anders als in Oberitalien hier noch hohe Bedeutung der Juden für einen funktionierenden überregionalen Handel. Wenn jedoch die Kammer des Speyrer Bischofs genannt wird, verdeutlicht dies, dass ein wirksamer Schutz nur von den Großen am jeweiligen Wohnort erwartet werden konnte, kaum aber vom abwesenden Herrscher. Allgemein garantierten den Juden derartige Privilegien teilweise schon in der Karolingerzeit freie Eigentumsrechte, die ungestörte, aber nicht öffentliche Religionsausübung sowie den Schutz vor Zwangstaufen, ebenso die Nichtbenachteiligung bei Prozessen mit Christen sowie eine eigene Gerichtsbarkeit bei innerjüdischen Streitigkeiten. Doch schon wenige Jahre später sollte sich ihre letztlich dennoch labile rechtliche Stellung äußerst negativ auswirken, denn 1096 – noch vor der Sammlung des ersten Kreuzfahrerheeres – verursachte der Kreuzfahrerhaufen eines Grafen Emicho Massaker u. a. in Speyer, Worms und Mainz, also den drei SchUM-Gemeinden (gebildet aus den hebräischen Anfangsbuchstaben der Ortsnamen Schin für Schpira, Vav für Varmaisa und Mem für Magenza), allesamt wichtige geistige Zentren des jüdischen Lebens, ebenso in Trier und Köln. Der Großteil der Speyrer Judengemeinde wurde allerdings durch den dortigen Bischof gerettet. Nach dem Kreuzzugsaufruf eskalierte die Bedeutung der religiösen Gegensätze, zumal beide Religionen einen Ausschließlichkeitsanspruch vertraten, was ein Nebeneinander von vornherein erschwerte. Bald zielte nicht nur Emicho auf eine Vernichtung der angeblichen Feinde Gottes: Nach dem zunächst betroffenen lothringisch-rheinischen Raum wurden Regensburg und Prag zu den nächsten Zielen. Insgesamt dürften den Verfolgungen mindestens 5000 Menschen zum Opfer gefallen sein. Mit der anschließenden Erholung der jüdischen Gemeinden ging eine Ansiedlung auch in kleineren Städten einher. Juden fanden zunehmend Eingang in die wachsende Anzahl der Landfrieden, welche sie wie Kaufleute und Bauern schützen sollten. Friedrich II. unterstellte schließlich, darin seinem Großvater folgend, die Juden endgültig seiner Kammerknechtschaft, was zwar ihren Rechtsstatus minderte, aber ihre Sicherheit bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts im Allgemeinen erhöhte. Wie die Kammerknechtschaft und ihre Auswirkungen einzuschätzen sind, bleibt im Detail umstritten. Es handelte sich dabei sicherlich nicht um eine Form der Hörigkeit, denn einer solchen Interpretation standen schon die uneingeschränkte Freizügigkeit der Person sowie die freie Verfügungs­ gewalt über ihr Eigentum entgegen. Zudem ließ Friedrich II., der persönlich von der Unschuld der Juden überzeugt war, die sich im 13. Jahrhundert zum 416

Jüdisches Leben und Wirtschaften

Ritualmordvorwurf verdichtenden Anklagen gegen diese 1236 in Augsburg gerichtlich widerlegen. Als Gegenleistung oder Preis für den königlichen Schutz lässt sich die kurze Zeit später belegte reichsweite Judensteuer einschätzen, die freilich im 14. und 15. Jahrhundert häufig zur Gänze oder in Teilen als Pfand diente. Neben dem König beanspruchten in diesem Zeitraum auch Territorialherren, Bischöfe oder Städte aufgrund von Verpfändungen des Judenregals den Oberanspruch über die lokalen Judengemeinden mitsamt den daraus resultierenden Abgaben. Dennoch tauchten immer wieder Ritualmordvorwürfe auf, und schon das Verschwinden eines Kindes konnte gerichtliche Verfolgungen auslösen oder zu lokalen Pogromen führen. So zog etwa ein an Ostern 1287 erhobener Vorwurf gegen die Oberweseler Juden zu Beginn des Jahres 1289 Verfolgungen in 22 Orten am Mittelrhein nach sich. Als weitere zentrale Beschuldigung trat am Ende des 13. Jahrhunderts der Vorwurf des Hostienfrevels hinzu. Als 1298 die Juden des fränkischen Kleinstädtchens Röttingen (Tauber) dieses Frevels bezichtigt wurden, fielen dem sich anschließenden Massaker alle Juden des Orts zum Opfer. In den folgenden – nach ihrem Anführer namens Rindfleisch benannten – Pogromen kamen in Franken, der Oberpfalz, Schwaben, Hessen und Thüringen wohl 5000 Juden um. Die Schwäche der Reichsgewalt sowie der Kampf um die Krone zwischen König Adolf von Nassau und seinem Kontrahenten, dem Habsburger Albrecht als Sohn und potenziellem Nach-Nachfolger seines erfolgreichen Vaters Rudolf, verhinderten jeglichen Schutz durch den Herrscher. Wahrscheinlich wurde gelegentlich der Rindfleisch-Pogrome erstmals der Vorwurf eine Art Kollektivschuld der Juden für eine ihnen zur Last gelegte Einzeltat postuliert. In der sogenannten Armleder-Bewegung, einer weiteren blutigen Verfolgungswelle der Jahre 1336 bis 1338, wurden über 65 jüdische Gemeinden in Franken, Hessen und dem Elsass zum Opfer von Massakern. Vorwürfe des Hostienfrevels und des Ritualmords verbreiteten zudem die Bettel­ orden, besonders wohl der Dominikaner. Um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert dürften etwa 100 000 Juden im Reichsgebiet gelebt haben, wobei die größten Gemeinden in Nürnberg und Erfurt jeweils 1000 Köpfe zählten. Vertreibungen und Morde ließen ihre Gesamtzahl während des folgenden Jahrhunderts auf ungefähr 40 000 sinken. Die jüdischen Häuser und Viertel hatten zunächst vorwiegend an den Hauptverkehrswegen oder im Stadtzentrum gelegen. Längst nicht überall gab es abgeschlossene Judengassen, die – wie wir es zeitlich deutlich später von Frankfurt kennen – von Mauern umgeben und mit Toren versehen 417

Spätmittelalter

waren. Die Entstehung derartiger Sonderbezirke beruhte vereinzelt auf dem jüdischen Wunsch nach erhöhtem, wirksamem Schutz, doch verstärkte sich die Separierung ansatzweise schon während des 13. Jahrhunderts. Rückblickend handelte es sich um einen Schritt auf dem Weg zur späteren unfreiwilligen, weitgehend erzwungenen Gettobildung, denn in der Regel mussten die Juden seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts konzentriert in einzelnen Straßen oder Vierteln wohnen. Nachweisbar ist ein Getto erstmals 1462 für Frankfurt am Main. Teilweise prächtig erbaute und ausgestattete Synagogen, die der Reinigung dienende Mikwe mit der erforderten Quell- oder Grundwasserversorgung, Räumlichkeiten für die Schule sowie – zumindest in größeren Städten – der Judenfriedhof sind als spezielle Immobilien zu nennen. Bei zahlenstärkeren Gemeinden konnten ein koscheres Schlachthaus, ein Backhaus oder öffentliche Brunnen hinzukommen. Der heutige Wormser Judenfriedhof zeugt noch von der ehemaligen Bedeutung und Größe der dortigen Gemeinde. Eigene Tanzhäuser wie in Rothenburg ob der Tauber lassen sich gleichfalls nachweisen. Seit dem 13.  Jahrhundert engte ­allerdings die kirchliche Gesetzgebung, beginnend mit dem IV. Laterankonzil von 1215, jüdisches Leben umfangreich ein, wenngleich sich die Amtskirche zumindest offiziell gegen Verfolgungen oder Tötungen von Juden aussprach. Im weiteren Verlauf fanden die Forderungen des Laterankonzils nur langsam Gehör, aber am ehesten dann, wenn sie den aktuellen Bestrebungen der jeweiligen weltlichen und geistlichen Obrigkeiten nutzten. Die schwersten Verfolgungen des Spätmittelalters fielen in die Pestjahre 1348 bis 1350. Ausgehend vom Südwesten des Reichs und der Eidgenossenschaft waren mindestens 400 jüdische Gemeinden im Reich betroffen, von denen etwa 100 der völligen Vernichtung anheimfielen. In Böhmen schützte Karl IV. zwar als böhmischer König die Juden, nicht aber allgemein im Reich als Römischer König, sodass die Juden nur in Österreich und einzelnen Städten wie Regensburg Sicherheit fanden. Die allgemeine Unsicherheit und Autoritätskrisen trugen das Ihrige zu der instabilen Situation bei. Karl IV. hatte seine Herrschaft im Reich gegen wittelsbachische Widerstände noch nicht zur Gänze etabliert, musste Territorialherren und Städte erst für sich gewinnen. Als zusätzlicher Auslöser der Pogrome fungierte der Vorwurf der Brunnenvergiftung, der erstmals für das Jahr 1321 in Südfrankreich belegt ist und sich nun von Savoyen her ausbreitete. Angesichts des Stands des medizinischen Wissens wurden Vergiftungsvorwürfe bei Todesfällen ohne offensichtlichen Grund vielfach erhoben, nicht zuletzt von Ärzten, um ihr Nichtwissen oder besser ihr Nichtwissenkönnen zu verdecken. 418

Jüdisches Leben und Wirtschaften

Vereinzelt lassen sich spontane Verfolgungen durch eine aufgebrachte Bevölkerung erkennen, schließlich rückte die Kunde eines massenhaften und unerklärlichen Sterbens immer näher, doch in der Regel organisierten Teile der städtischen Führungsschicht oder die kommunalen Räte den Judenmord. In wenigen Fällen kam es auch vor, dass starke Oppositionsgruppen die Vorwürfe gegen die Juden nutzten, um gegen die Räte zu revoltieren, denen sie bezeichnenderweise Judenschutz vorwarfen, so in Straßburg oder Erfurt. Außerhalb der Städte organisierten die Territorialherren die Verfolgungen, um ihrerseits an der jüdischen Habe zu partizipieren, während Karl IV. vor oder nach den Pogromen den Verfolgern gegen Geldleistungen und/oder Immobilienübertragungen Straffreiheit zusicherte. In Nürnberg geschah es noch vor dem dortigen Pogrom, dass Karl IV. 1349 drei der besten Häuser der Juden an seine Parteigänger verschenkte. Die Stadt hatte ihm diese Häuser als Preis zugestehen müssen, „wann die Juden da selbes nu nehst werden geslagen“.265 Ansonsten fand eine Einigung zwischen den Städten oder Territorialherren einerseits und dem König andererseits überwiegend nachträglich statt. Überlegungen zu Rassen und dergleichen spielten dagegen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit keinerlei Rolle, sodass nicht von Vorläufern eines Antisemitismus die Rede sein kann. Bereits zeitgenössische oder wenige Jahrzehnte später schreibende Chronisten bezweifelten durchaus den Wahrheitsgehalt der erhobenen Vorwürfe. Mit seiner Reduzierung der Ursachen alleine auf Geldleihen griff der Straßburger Chronist Jacob Twinger von Königshofen allerdings zu kurz: „Und was man den Juden schuldig war, das war alles wett. Und es wurden alle Pfänder und Schuldbriefe wieder zurückgegeben. Aber das Bargeld, welches sie hatten, das nahm der Rat und verteilte es unter den Handwerkern nach ihrer Zahlenstärke. Das Geld war auch die Ursache, warum die Juden getötet wurden. Wären sie arm gewesen und wären ihnen die Herren nichts schuldig gewesen, wären sie nicht verbrannt worden.“266

Andere Autoren verwiesen darauf, dass die Pest unter den Juden gleichfalls zahlreiche Opfer gefordert habe und diese sich ja sicherlich nicht selbst vergiftet hätten. Der Verfasser der Limburger Chronik notierte dagegen lakonisch, wenngleich in Verdrehung der zeitlichen Reihenfolge: „In demselben Jahr, in 265 Weinrich: Quellen Verfassungsgeschichte, S. 312. 266 Chronik des Jacob Twinger von Königshofen 1400 (1415), Tl. II, in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte, Straßburg, 2 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Bd. 9), Leipzig 1871, ND Göttingen 1961, S. 499–917, hier S. 763 f. [Übertragung B. F].

419

Spätmittelalter

dem das Sterben aufhörte, da wurden die Juden allgemein in den deutschen Landen erschlagen und verbrannt. Das taten die Fürsten, Grafen, Herren und Städte, nur allein der Herzog von Österreich, der behielt seine Juden.“267 Über die Verfolgungen in Thüringen weiß eine Chronik zu berichten: „Im selben Jahr, zwischen Mariä Reinigung und Fastnacht wurden die Juden in allen Städten, Burgen und Dörfern Thüringens erschlagen, nämlich in Gotha, Eisenach, Arnstadt, Ilmenau, Nebra, Wiehe, Tennstedt, Herbsleben, Thamsbrück, Frankenhausen und Weißensee, weil sie Quellen und Brunnen verseucht hatten, wie damals für erwiesen galt, weil viele Säcke voll Gift in den Brunnen gefunden worden sein sollten. Im selben Jahr, am Tag des heiligen Benedikt, der damals auf den Sonnabend vor Lätare fiel, wurden die Juden in Erfurt entgegen dem Willen des Rates von der Bürgergemeinde erschlagen, hundert oder mehr. Die andern aber, mehr als dreitausend, haben sich, als sie sahen, daß sie den Händen der Christen nicht entkommen konnten, aus einer Art Frömmigkeit in ihren eigenen Häusern selbst verbrannt. Nach drei Tagen wurden sie auf Lastkarren zu ihrem Friedhof vor dem ­Moritztor gebracht. Mögen sie in der Hölle ruhn.“268

Selbst wenn der geistliche Autor am Gifteinsatz durchaus Zweifel hegte, wird seine tiefe Abneigung gegenüber den Juden im letzten Satz mehr als deutlich. Eine jüdische Neuansiedlung erfolgte nach den Verfolgungen der Jahrhundertmitte zuallermeist unter ungünstigeren rechtlichen Bedingungen als zuvor. Fast immer blieb das Wohnrecht der Juden zukünftig zeitlich befristet und musste immer wieder neu mit hohen Kosten erworben werden. Die Wohnplätze rückten teilweise an ungünstigere Standorte am Stadtrand oder die Juden mussten gleich mit den Vorstädten Vorlieb nehmen. Parallel setzte eine Ansiedlung in kleineren Städten sowie im ländlichen Raum ein, was ihre bisher eindeutig städtisch geprägte Siedlungsstruktur gravierend veränderte. Weitere Ausweisungen aus Reichstädten folgten seit dem Ende des 14. Jahrhunderts (Basel, Straßburg) und während des 15. und frühen 16.  Jahrhunderts; zwischen 1518 und 1520 mussten die Juden beispielsweise Donauwörth, Regensburg, Weißenburg sowie Rothenburg verlassen. Daneben traten im gleichen Zeitraum territoriale Vertreibungen auf. Teilweise lässt sich 267 Die Limburger Chronik des Tilemann Elhen von Wolfhagen, hg. v. Arthur Wyss, Berlin 1893, ND München 1993, S. 35 [Übertragung B. F.]. 268 Zitiert nach Gisela Möncke: Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte mittel- und oberdeutscher Städte im Spätmittelalter (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, XXXVII), Darmstadt 1982, S. 199.

420

Jüdisches Leben und Wirtschaften

nach der Ausweisung aus einer Stadt eine Niederlassung in Gemeinden des Umlands erkennen, von wo aus der kommunale Markt weiterhin bedient werden konnte. Die wiederholten Pogromerfahrungen ließen jedoch einen Teil der vermögenderen Überlebenden in den europäischen Osten oder auch nach Italien abwandern, was die Finanzkraft der Zurückgebliebenen schwächte. Besonders im frühen 16. Jahrhundert zielten die Könige von Polen-Litauen auf ein finanzkräftiges Gegengewicht zu dem vermögenden städtischen Bürgertum sowie dem Hochadel. Im Reichsgebiet erfolgten Wiederoder Neuzulassungen dann überwiegend seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Das Bürgerrecht blieb den Juden freilich nach 1350 weitgehend verwehrt, während zuvor das jüdische Bürgerrecht dem sonst in einer Stadt gültigen Bürgerrecht im Hinblick auf Pflichten und Rechte weitgehend entsprochen hatte, wenngleich aus religiösen Gründen ohne die Möglichkeit politischer Partizipation. Nach der gängigen Praxis waren Zuzügler als Bürger in die jeweilige Judengemeinde aufgenommen worden, um auf diesem indirekten Weg zu Bürgern der Stadt zu werden. Nur noch Kölner Rechtstexte sprachen nach erfolgter Wiederansiedlung der Juden 1372 diese explizit als Bürger an, doch bereits 1424 erfolgte ihre endgültige Vertreibung aus der Stadt. Allerdings gehören präzisere Überlegungen zu den Bürger- und Stadtrechten in ihrer Mehrzahl ohnehin erst dem 15. Jahrhundert an, als nicht zuletzt mit der Rezeption des römischen Rechts zahlreiche Bereiche des Alltags genauere juristische Regelungen erfuhren, während zuvor vielfach Ad-hoc-Lösungen ­dominiert hatten. Die Pauschalbesteuerung der städtischen Judengemeinden ist früh belegt, doch wuchsen die Steuerlasten nun tendenziell. Der Eintritt in die Zünfte war Juden aber grundsätzlich verwehrt, verstanden sich diese doch auch als christliche Zusammenschlüsse. Jenseits aller genannten Vorwürfe dürften in erster Linie ökonomische Gründe für die Schlechterstellung der Juden verantwortlich gewesen sein. Denn bis um 1300 partizipierten Juden und Christen gemeinsam am allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, in der Folge verschärfte sich aber die Konkurrenz vor dem Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen, auch der klimatischen mit ihren negativen Auswirkungen. Wie bereits mehrfach angeklungen, waren Juden mit ihren weitreichenden kommerziellen Netzwerken und Verbindungen im Handel des Hochmittelalters sowie des 13. Jahrhunderts willkommen gewesen und hatten sich im Geldhandel des Reichsgebiets bis ins 14. Jahrhundert hinein sogar als unentbehrlich erwiesen. Beim Geldhandel konnte wiederum der populäre Wuchervorwurf gegen die Juden ins Feld geführt werden, selbst wenn die kirchenrechtlichen 421

Spätmittelalter

Einschränkungen sie gar nicht betrafen. In diesem Sektor waren sie zunächst wie die mit ihnen konkurrierenden Lombarden führend, einer Sammelbezeichnung für oberitalienische Geldhändler. Die Lombarden waren während der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von etlichen Stadtherren im Westen des Reichs angeworben worden, welche ihnen Schutz für ihre Tätigkeit, ihre Person sowie ihre Familie garantierten. Doch die Konkurrenz verschärfte sich nochmals deutlich, als einheimische Kaufleute noch vor der Mitte des 14. Jahrhunderts in den Geldhandel einstiegen und ihrerseits umfangreiche, direkte Geschäftsbeziehungen zu den europäischen Handelsplätzen aufnahmen. Nunmehr sahen sich die Juden verstärkt gezwungen, sich auf den Nahhandel zu konzentrieren und in Geschäfte mit unsicheren Krediten einzusteigen, was etwa bei verschuldeten Handwerkern, aber auch Adligen und Bauern zu wachsendem Hass führen konnte. Ein Ende des ­jüdischen Geldhandels bedeuteten die Pogrome aber nicht. Wenige Jahre zuvor ließ übrigens die in Geldnöten steckende französische Krone die dort aktiven Lombarden gefangen nehmen und enteignen. Die Rheinlande mussten die Lombarden, soweit sie nicht längst in den dortigen Führungsschichten aufgegangen waren, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gleichfalls verlassen, verdrängt von den einheimischen Kaufleuten. Allerdings verfügten noch um 1400 zumindest zwei Florentiner Bankhäuser über eine Vertretung in Köln, die selbst der Stadtkasse kreditierte.269 Der Judenschutz, wie ernsthaft auch immer ausgeübt, ging besonders unter Karl IV. zunächst pfandweise, aber in der Wirkung zumeist dauerhaft, auf die Territorialherren, seltener auf die Städte über; fiskalische Motive standen auch bei den Pfandinhabern im Vordergrund. Als unter König Sigismund in der ersten Hälfte des 15.  Jahrhunderts Anstrengungen unternommen wurden, die Judensteuern in etlichen Städten einzuziehen, gaben die Stadträte, die Stadtherren oder die Territorialherren fast überall zur Antwort, dass diese längst an sie verpfändet seien, der Herrscher also über keinerlei Ansprüche mehr verfüge. Entscheidend beeinträchtigten bereits zuvor die unter König Wenzel initiierten sogenannten Judenschuldentilgungen die Finanzkraft der Juden. 1385 mussten vorwiegend die Juden in schwäbischen und fränkischen Reichsstädten zahlen, wobei der König im Bündnis mit Pfalzgraf Friedrich, zugleich Herzog von Bayern, dem Konstanzer Bischof Nikolaus von Riesenburg, dem Leuchtenberger Landgrafen und Grafen von Hals, Johann, dem obersten Kämmerer des Königreichs Böhmen, Ulrich von 269 Schulte: Geschichte, Bd. I, S. 343.

422

Jüdisches Leben und Wirtschaften

der Duben, sowie dem Hohenloher Grafen Ulrich vorging, die ihre Juden gleichfalls zu Geldleistungen zwangen. 40 000 Gulden sicherten die mitei­ nander verbündeten Hochadligen und Städte König Wenzel zu, doch alleine Nürnberg konnte mehr als die doppelte Summe einkassieren. Die folgende Aktion des Jahres 1390, wiederum im Bündnis zwischen König, Reichs­ städten und Adligen umgesetzt, fiel noch umfangreicher aus, beraubte große Teile der Juden im Süden und Südwesten des Reichs erheblicher Vermögensteile und betraf zudem erneut landesherrliche Juden. Der Nürnberger Ulman Stromer beschrieb nur wenige Jahre später das Vorgehen: „Anno domini 1390 Jahr da mussten die Juden ihre Schulden lassen. Da waren bei Herzog Friedrich von Bayern, die Bischöfe von Bamberg und von Würzburg und von Augsburg, der Burggraf von Nürnberg, die Grafen von Öttingen, die Grafen von Wertheim, unseres Herrn des römischen Königs Räte von Böhmen, viele Herren; und sie kamen überein aufgrund ihrer vom römischen König verliehenen Gewalt, dass unter den Herren und Städten niemand keinem Juden weder Hauptgut noch Zinsen geben soll und sie mussten alle Pfänder und Briefe wieder hergeben.“270

Den kurzfristigen Einnahmen für die Krone standen allerdings mittel- und langfristig erhebliche Steuerausfälle gegenüber, während die städtischen Kaufleute eine Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet hatten. Nunmehr beschränkte sich die Tätigkeit der Juden im Finanzsektor überwiegend auf kurzfristige Überbrückungskredite sowie Pfandleihgeschäfte mit geringem Volumen, wobei sich Ausnahmen vermögender Juden natürlich weiterhin benennen lassen. Dazu traten mit zunehmender Tendenz der Getreide- und der Viehhandel. Diese deutliche Schlechterstellung als zuvor, immer wieder von lokalen und regionalen Ausweisungen begleitet, dominierte bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, als erneut Verfolgungen einsetzten. So mussten die Juden Nürnberg 1499 und Rothenburg ob der Tauber 1519 verlassen, was mit einem Ende jüdischen Lebens in fränkischen Städten gleichgesetzt werden kann. In der frühen Neuzeit lagen Siedlungsschwerpunkte im heutigen Hessen und am Mittelrhein, während es sich bei den beiden wichtigsten städtischen Zentren jüdischen Lebens um Wien und Prag handelte. 1544 gewährte Karl V. den Juden einen umfangreichen Schutzbrief, der ihnen ihre überkommenen Freiheiten garantierte, wenngleich die Landesherren ebenfalls umfassende Regelungen erließen. Nicht zuletzt konnten der kaiserliche Schutzbrief 270 Ulman Stromers Püchel, S. 26 (Übertragung B. F.). Vgl. Weinrich: Quellen Verfassungsgeschichte, S. 416–418. Stromer: Hochfinanz, S. 155–177.

423

Spätmittelalter

von 1544 und spätere derartige Briefe in Prozessen vor den Reichsgerichten genutzt werden. Ziel der Händler blieben weiterhin die Messen in Frankfurt und in Leipzig, während ansonsten wohl Geldleihen gegen Pfand im Vordergrund standen. Aufgrund des damit verbundenen Risikos durften Juden mehr als die in den Reichspoliceyordnungen von 1548 und 1577 als Höchstgrenze festgeschriebenen fünf Prozent Zinsen einfordern. Im Bereich des Warenhandels rückte während der Frühen Neuzeit der Vieh- und Pferdehandel eindeutig in den Vordergrund. Die Ansätze eines jüdischen Hoflieferantentums sowie eines merkantilistisch geprägten Hofjudentums lagen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, entfalteten sich aber erst nach 1650.

Bergbau und Montansektor Aufgrund der nur dünnen Überlieferung zum hochmittelalterlichen Bergbau sowie seiner letztlich quantitativ noch geringen Bedeutung wird diese Zeitspanne zusammen mit der Entwicklung des Spätmittelalters erst an dieser Stelle ausführlicher behandelt.

Edelmetallbergbau und -verarbeitung Bei den wichtigsten Goldrevieren Europas handelte es sich um Rauris und Gastein bzw. die gleichnamigen Täler der Hohen Tauern im Erzbistum Salzburg, Kärnten (vermutlich schon vergleichsweise früh im Lavanttal), Schlesien, die Slowakei und Siebenbürgen. Für den Silberbergbau sind zunächst die älteren Reviere Goslar (Rammelsberg), Kuttenberg und Freiberg sowie Iglau in Böhmen, Iglesias auf Sardinien und das salzburgische Friesach als eine bis zum Ende des 13. Jahrhunderts aufgrund der benachbarten Edelmetallvorkommen und des Handels mit Italien bedeutsame Münzstätte zu nennen, dazu traten dann das Erzgebirge, Neusohl (Oberungarn, Slowakei), Schwaz in Tirol und das thüringische Mansfeld, die Karpaten, Schweden und Norwegen. Kupfer lieferten in erster Linie Böhmen, das ­slowakisch-oberungarische Revier in den Karpaten, der Harz, die Reviere der Alpen, Schweden (die Blütezeit von Falun dauerte zunächst bis in die 1370er-Jahre, begann dann erst wieder um 1580) sowie Norwegen. Bei dem bedeutendsten Zentrum der Silber- und Kupferproduktion des europäischen Kontinents zwischen 1430 und 1530 handelte es sich um das tirolische Schwaz. Die Bedeutung des Kupfers schätzt Hermann Kellenbenz für 424

Bergbau und Montansektor

das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit als höher ein als die des Eisens: „Kupfer brauchte man im Haushalt in den verschiedensten Formen, als Küchengeschirr vor allem, sei es in reinem Kupfer oder in der Legierung des Messings. Kupfer brauchte man zum Dachdecken, brauchte man für die großen Kessel beim Brauen von Bier, beim Raffinieren von Zucker, beim Destillieren von Branntwein, zum Schiffbau; Kupfer benötigte man in der Legierung Bronze zum Glockenguß, man verwendete es für Grabmonumente und Epitaphien, für Brunnen und Medaillen, dann in der Waffentechnik zum Gießen von Kanonen. Kupfer benutzte man schließlich beim Münzprägen, nicht nur für Kupfermünzen, sondern auch als Zusatz bei ­Silber- und Goldmünzen.“271 Blei wurde vornehmlich im Harz, im Erzgebirge, in der Oberpfalz, in Kärnten, Polen und Derbyshire gewonnen, wobei der Bleiglanz im Harz wiederum Silber enthielt. Der Abbau von Eisenerz erstreckte sich dagegen europaweit auf wesentlich mehr Gebiete. Für das Hochmittelalter lassen sich für die Gewinnung von Raseneisenstein beispielsweise die norddeutsche Tiefebene und für weitere oberflächennahe Erze und deren Verarbeitung Westfalen und das Bergische Land nennen. Besonders in Südwestfalen, in und um Solingen sowie im märkischen Sauerland entstand während des Spätmittelalters eine größere Anzahl von weiterverarbeitenden Betrieben. Dazu traten das linksrheinische Gebiet um Stolberg und Manderscheid, der Harz, Thüringen sowie die Oberpfalz, im Gebiet des heutigen Österreich Tirol und die Steiermark. Neue Techniken wie Hochöfen mit ihren deutlich höheren Erträgen setzten sich zunächst um 1500 in den Mittelgebirgen im Westen des Reichs durch, während in Ostelbien noch im 18.  Jahrhundert Renn- und Luppenfeuer verbreitet waren. Im Laufe des 16. Jahrhunderts dürfte Eisen in einem weitgehend kontinuierlich wachsenden Umfang abgebaut worden sein.272 Der Einsatz von Blasebälgen sowie Wasserrädern in Hammerwerken und Hochöfen mit einer Höhe von vier bis sieben Metern ist zuerst für Franken und das Siegerland belegt. Zwar 271 Hermann Kellenbenz: Europäisches Kupfer, Ende 15. bis Mitte 17. Jahrhundert. Ergebnisse eines Kolloquiums, in: ders. (Hg.): Schwerpunkte der Kupferproduktion und des Kupferhandels in Europa 1500–1650 (Kölner Kolloquien zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3), Köln/Wien 1977, S. 290–351, hier S. 290. 272 Westermann: Silber- und Kupferproduktion, S. 202. In das Bergrevier bei Iglau kamen auch Bewohner des Freiberger Raums und des westlichen Erzgebirges; Petr Hrubý: Die Bergbauanfänge bei ­Jihlava/Iglau und der Einfluss des erzgebirgischen Bergbaus, in: Smolnik (Hg.): Silberrausch, S. 133–142, hier S. 134 f. Zur Verbreitung des Eisengewerbes vornehmlich im Spätmittelalter grundlegend Rolf Sprandel: Das Eisengewerbe im Mittelalter, Stuttgart 1968. Vgl. Schütte: Funde, S. 70.

425

Spätmittelalter

konnte aufgrund der größeren Hitze mehr Roheisen gewonnen werden, doch stieg gleichzeitig der Holzkohleverbrauch an. Wenn der Bergsegen zu einem enormen Größenwachstum der Siedlungen führte, galt es kurzfristig eine zumindest rudimentäre Infrastruktur zu schaffen und diese in der Folge auszubauen. Die Versorgung der Einwohnerschaft ebenso wie die Entsorgung ihrer Abfälle musste organisiert werden, was nicht immer frei von logistischen Problemen gelingen konnte, zumal sich die Verkehrsanbindung vielfach schwierig gestaltete. Das Berggeschrei lockte zahlreiche Menschen – neben Bergknappen viele Glücksritter – mit all ihren Hoffnungen auf raschen Gewinn, märchenhaften Reichtum oder zumindest eine dauerhafte Beschäftigung an. Doch schon die Beschaffung von Unschlitt, also von auf den ersten Blick unwichtigen tierischen Fetten, welche sich zur Beleuchtung sowie als Schmiermittel allerdings als unabdingbar erwiesen, bereitete immer wieder Probleme. Immerhin mindestens 22 400 Kilogramm benötigten nur die Schwazer Gruben im Jahre 1523.273 Binnen kurzer Zeit wuchs die zuvor beschauliche Marktsiedlung Schwaz in Tirol mit der darüber gelegenen Werksiedlung bis um 1500 auf ungefähr 15 000 Einwohner an, ein Vierteljahrhundert später sollen dort sogar 10 000 Bergleute tätig gewesen sein. In der Residenzstadt Innsbruck dürften hingegen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert gerade einmal etwa 5000 Menschen gelebt haben. Allerdings sollte es noch deutlich länger dauern, bis sich urbane Strukturen herauszubilden begannen. Nach bescheidenen Anfängen erfolgte eine erste entscheidende Neuordnung für den Schwazer Bergbau 1427, seit ungefähr 1440 brachten dann Kaufleute und Gewerke die benötigten Investitionsmittel für eine intensivere Ausbeutung auf und organisierten sich vielfach als Gesellschaften. Heftige Konflikte mit den oberhalb von Schwaz ansässigen Herren von Freundsberg folgten, da diese in der Region über umfangreiche Rechte an Waldungen, Gewässern und Grund verfügten, die nun die Gesellschaften zugunsten des privilegierten Bergbaus fast entschädigungslos in Anspruch nahmen. Bereits im Jahr 1430 hatte sich Wolfgang von Freundsberg über die wachsende Zahl der Bergwerke in seinem Gerichtsbezirk beschwert.274 1467 trat schließlich Ulrich von Freundsberg seine Rechte in diesem Gebiet verkaufsweise an den Tiroler Herzog Siegmund 273 Rudolf Palme: Die Unschlittversorgung von Schwaz Mitte der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts, in: Westermann (Hg.): Bergbaureviere, S. 33–45. 274 Erich Egg: Schwaz ist aller Bergwerke Mutter, in: Der Anschnitt 16 (1964), Heft 3, S. 3–63, hier S. 8.

426

Bergbau und Montansektor

ab und erwarb im Gegenzug aus den Erlösen die schwäbische Herrschaft Mindelheim. Sein Sohn Georg von Frundsberg, der bekannte Kriegsunternehmer, sollte später als „Vater der Landsknechte“ hohe Bedeutung gewinnen. Ein erster Spitzenwert bei der Silberausbeute konnte 1485/86 mit etwa 14 500 Kilogramm verzeichnet werden, bevor die Produktion für die folgenden ungefähr 25 Jahre leicht absank. In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts erwiesen sich die relativ leicht zu erschließenden und zugleich vermutlich ergiebigsten Lagerstätten als erschöpft. Darauf vollzog sich wohl ab den 1520er-Jahren aufgrund der nunmehr notwendigen hohen Investitionen ein ausgeprägter Konzentrationsprozess. Erhebliche finanzielle Mittel erforderte auch der Schmelzhüttenbetrieb, sodass zunehmend nur noch Auswärtige wie die Fugger die entsprechenden Summen für den Weiterbetrieb aufbringen konnten. Letztlich beherrschten zumindest im zweiten und dritten Viertel des 16. Jahrhunderts Augsburger Firmen den Bergbau im Alpenraum sowie den Handel mit Kupfer aus dem Alpenraum und aus Ungarn, während Nürnberger Kapital den Betrieb in Thüringen dominierte, aber die Unternehmer auch in Sachsen investierten. Riesige Abraumhalden wuchsen in die Höhe, während die Waldflächen schwanden. Im Schwazer Revier erreichte die Silberausbeute im 16.  Jahrhundert mit 117 000 Kilogramm in dem Jahrzehnt von 1521 bis 1530 ihren Höhepunkt. Im folgenden Jahrzehnt konnten immerhin noch 94 000 Kilogramm gewonnen werden, doch bis zur Jahrhundertmitte sanken die erzielten Mengen langsam weiter. Insgesamt lag für Schwaz im 15. und 16. Jahrhundert die Bedeutung des Silbers weit vor der des Kupfers, während dieser Vorrang im Mansfelder Revier weniger ausgeprägt und in Neusohl noch schwächer gewesen sein dürfte.275 Der Rückgang bei der Ausbeute lässt sich mit einem vorherigen Raubbau statt eines geregelten Abbaus erklären, der ohne Rücksicht auf spätere Nutzungsmöglichkeiten erfolgt sein dürfte. Dazu sank nicht nur der Metallgehalt der erreichbaren Erze, sondern nahm mit zunehmender Tiefe der Gänge auch die Erzführung ab. Selbstverständlich wurden auch andernorts zunächst die leicht erreichbaren Erze abgebaut, doch schon wenige Jahrzehnte später erschien diese zuvor gängige Praxis vor dem Hintergrund nunmehr schwieriger Abbaubedingungen als Raubbau und wurde teilweise heftig kritisiert. Begünstigt worden 275 Vgl. ausführlich Peter Fischer: Die Gemeine Gesellschaft der Bergwerke. Bergbau und Bergleute im Tiroler Montanrevier Schwaz zur Zeit des Bauernkrieges (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 21), St. Katharinen 2001, besonders S. 99–145. Westermann: Silber- und Kupferproduktion, S. 189–193.

427

Spätmittelalter

war diese Praxis noch dadurch, dass die Bergleute sich zunächst auf reiche Erze konzentrierten, die sich vielfach auf linsenartige Zonen beschränkten, bevor seit dem ausgehenden Spätmittelalter der Abbau sonstiger Vorkommen in Angriff genommen werden musste.276 Komplexe und teure Anlagen ließen die Betreiber allgemein erst dann errichten, wenn sich dies aufgrund der gesunkenen Ausbeute als unumgänglich erwies. Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts kennzeichnete in Tirol ein allgemeiner Niedergang des Bergbaus, doch folgte die Entwicklung im Herzogtum damit nur einer gesamteuropäischen Tendenz. Dabei fanden seit der Jahrhundertmitte in Tirol wie im Joachimsthaler Revier sogar wassergetriebene Pumpen Verwendung, was eine noch größere Tiefe der Schächte ermöglichte. Erste größere, jedoch noch keinesfalls den späteren vergleichbare Eingriffe in die erzgebirgischen Wälder durch den Menschen datieren parallel zur Aufnahme des Bergbaus auf die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts. Nachdem 1470 auf dem Schneeberg erste Neufunde gemacht worden waren, dürften in den Zentren des Erzgebirges dann im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert zwischen 50 000 und 70 000 Menschen gelebt haben. Annaberg wuchs binnen weniger Jahrzehnte auf etwa 12 000 Bewohner im Jahr 1540 an, in Joa­ chimsthal auf der böhmischen Seite handelte es sich 1533 um vermutlich 18 000 Einwohner. Neben Annaberg sind als weitere Hauptorte im sächsischen Teil des Erzgebirges die Siedlungen Schneeberg, Marienberg und Buchholz zu nennen. Wieder galt es nicht nur deren Nahrungsmittelversorgung zu sichern, sondern auch die benötigte Infrastruktur herzustellen. In der Städteforschung zur Frühen Neuzeit gelten diese zumeist aus ländlichen Siedlungen erwachsenen Bergstädte übrigens als ein Sondertyp und sind in diesem Fall (anders als bei anderen Städtetypen) auch klar abgrenzbar.277 276 Bartels/Klappauf: Mittelalter, S. 241. 277 Zu den Einwohnerzahlen Herbert Knittler: Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit. Institutionen, Strukturen, Entwicklungen (Querschnitte, 4), Wien/München 2000, S. 76. Zur Schwazer Entwicklung im 15. Jahrhundert Riedmann: Mittelalter, S. 512–516; zur Produktion im 16. Jahrhundert Palme: Frühe Neuzeit, S. 61 f.; Sokoll: Bergbau, S. 35–49, 56–65. Martin Straube: Notwendigkeiten, Umfang und Herkunft von Nahrungsmittellieferungen in das sächsische Erzgebirge zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Westermann (Hg.): Bergbaureviere, S. 203–220. Uwe Schirmer: Ernährung im Erzgebirge im 15. und 16.  Jahrhundert. Produktion, Handel und Verbrauch, in: Landesgeschichte in Sachsen. Tradition und Innovation, hg. v. Rainer Aurig/Steffen Herzog/Simone Lässig (Studien zur Regionalgeschichte, 20), Bielefeld 1997, S. 129–144, besonders S. 140– 143. Eva Břizová: Das Erzgebirge – Umwelt und Bergbau, in: Smolnik (Hg.): Silberrausch, S. 185– 192, hier S. 191. Yves Hoffmann: Silberbergbau des 12. bis 14. Jahrhunderts im sächsischen Erzgebirge und Erzgebirgsvorland, in: ebd., S. 49–56, hier S. 50. Zur Einordnung der Bergstädte z. B. Klaus ­Gerteis: Die deutschen Städte in der Frühen Neuzeit. Zur Vorgeschichte der bürgerlichen Welt, Darmstadt 1986, S. 18–20. Kritisch dazu Michael Mitterauer: Der Bergbau als Faktor der Ver-

428

Bergbau und Montansektor

Das Wissen um die negativen Folgen des Bergbaus sowie die Argumente der Gegner fasste Georg Agricola, freilich damit antiken Vorbildern folgend, kurz nach der Mitte des 16. Jahrhunderts prägnant zusammen: „Durch das Schürfen nach Erz werden die Felder verwüstet, deshalb ist einst in Italien durch ein Gesetz dafür gesorgt worden, daß niemand um der Erze willen die Erde aufgrabe und jene überaus fruchtbaren Gefilde und die Weinund Obstbaumpflanzungen verderbe. Wälder und Haine werden abgehauen; denn man bedarf zahlloser Hölzer für die Gebäude und das Gezeug sowie, um die Erze zu schmelzen. Durch das Niederlegen der Wälder und Haine aber werden die Vögel und andere Tiere ausgerottet, von denen sehr viele den Menschen als feine und angenehme Speise dienen. Die Erze werden gewaschen; durch dieses Waschen aber werden, weil es die Bäche und Flüsse vergiftet, die Fische entweder aus ihnen vertrieben oder getötet. Da aber die Einwohner der betreffenden Landschaften infolge der Verwüstung der Felder, Wälder, Haine, Bäche und Flüsse in große Verlegenheit kommen, weil sie die Dinge, die sie zum Leben brauchen, sich verschaffen sollen, und da sie wegen des Mangels an Holz größere Kosten zum Bau ihrer Häuser aufwenden müssen, so ist es vor aller Augen klar, daß bei dem Schürfen mehr Schaden entsteht, als in den Erzen, die durch den Bergbau gewonnen werden, Nutzen liegt.“278

Agricola zählte noch weitere Vorwürfe der Kritiker auf, aber am Ende überwog nicht nur für ihn der Nutzen des Bergbaus und der Metallverhüttung eindeutig die daraus resultierenden Folgelasten, erwiesen sich doch die aus den verschiedenen Metallen gefertigten Produkte als unabdingbar und rechtfertigten die gängige Praxis. Diskussionen wie die heutige um einen immer stärker ausgeprägten, oftmals jedoch nur vorgeblichen Umweltschutz mit seinen vielen und teilweise höchst widersprüchlichen Facetten kann sich ohnehin nur eine Gesellschaft leisten, für die in weiten Teilen die Sicherung des täglichen Bedarfs nicht mehr im Mittelpunkt steht, weshalb auch der Verzicht auf ein oder zwei Produkte die Lebensqualität eben nicht entscheidend beeinträchtigt, sondern höchstens das „grüne“ Gewissen beruhigt. Allerdings reduzieren heutzutage schon die Monokulturen „nachwachsender Rohstoffe“ die Artenvielfalt deutlich, bedrohen Windkraft­ anlagen selbst an für die Energiegewinnung ungünstigen, aber dennoch geförderten Standorten nicht nur die Vogelwelt.

änderung von Stadt-Land-Beziehungen am Beispiel des Ostalpenraums, in: Markus Cerman/Erich Landsteiner (Hg.): Zwischen Stadt und Land. Wirtschaftsverflechtungen von ländlichen und städtischen Räumen in Europa 1300–1600, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 122–138, hier S. 124. 278 Agricola: Zwölf Bücher, S. 6.

429

Spätmittelalter

Um die zeitgenössische Kritik an den Montanunternehmen, den Gesellschaften und deren Vorgehensweise abzuschwächen, betonte Agricola die Redlichkeit der Bergleute und die Möglichkeit der Erzielung von Reichtum in diesem Sektor, wobei für ihn die bäuerliche Tätigkeit den Bezugspunkt darstellte. Allerdings bezog er sich mit seinen Ausführungen offensichtlich noch auf die Zustände vor dem Eindringen der frühkapitalistischen Gesellschaften: „Um aber endlich diese Erörterung abzuschließen: Die Gewinne des Wucherers, des Kriegsmannes, des Kaufmannes, des Landmannes und des Bergmannes sind alle sehr groß; allein der Wucherer ist verhaßt, die Kriegsbeute ist in grausamer Weise aus dem Vermögen des Volkes geraubt, ohne Schuld der Heimgesuchten, wider Gottes Ordnung; doch der Erwerb des Bergmannes übertrifft an Ehrbarkeit und Anständigkeit des Gewinns des Kaufmanns weit und ist nicht weniger gut als der des Landmannes, nur viel reicher. Somit ist es klar: der Bergbau ist ein durchaus ehrliches Gewerbe. Sicherlich kann, da es eines der zehn größten und besten Dinge ist, viel Geld auf gute Weise zu bekommen, dies ein eifriger und fleißiger Mensch auf keine andere Weise leichter erreichen, als durch den Bergbau.“279

Die Zustände im Bergbau und bei der Versorgung der Bergarbeiter durch die großen, namentlich Augsburger Firmen hatte bereits der Tiroler oberste Feldhauptmann der Bauern Michael Gaismair zur Zeit der Bauernkriege in seinen Landesordnungen heftig kritisiert und den neuen Besitzern quasi eine Vorwegnahme des englischen Trucksystems des 19. Jahrhunderts vorgeworfen. Diese reduzierten nämlich durch den Zwangsverkauf überteuerter Lebensmittel die Löhne, während sie zugleich ihre Einkünfte unberechtigt mehrten. Ansonsten plädierte Gaismair, wenngleich erfolglos, für ein Gemeinwesen der Bauern und Bergarbeiter, während Adel und Bürgertum ihrer Vorrechte weitestgehend verlustig gehen sollten. Selbst die Stadtmauern galt es aus seiner Sicht abzureißen, um die Gleichheit aller Bewohner Tirols zu verdeutlichen. Sämtliche Bergwerke, Schmelzhütten und sonstige Anlagen sollten entschädigungslos an das Land fallen, um den natürlichen Reichtum zum Wohl der Bewohner zu nutzen. Zölle sah Gaismair nur für den Export vor, den Handel mit nicht dem alltäglichen Gebrauch dienen279 Agricola: Zwölf Bücher, S. 21. Vgl. Helmut Lackner: „Es ist die Bestimmung der Menschen, dass sie die Berge durchwühlen.“ Bergbau und Umwelt, in: Hahn/Reith (Hg.): Umwelt-Geschichte, S. 77–98, hier S. 80–83.

430

Bergbau und Montansektor

den Waren wollte er unter obrigkeitlicher Aufsicht auf nur noch einen Markt (Trient) konzentrieren, die kaufmannschaft abschaffen, den Landesausbau aber vorantreiben.280 Der letztlich nur kurzfristige Goldboom im salzburgischen Rauriser und Gasteiner Tal ließ die Waldbestände dennoch binnen kurzer Zeit zwischen 1490 und 1521 weitgehend schwinden: Von den nachträglich geschätzten etwa 1,1 Millionen Stämmen des Rauriser Tals wurden in diesen drei Jahrzehnten mehr als 80 Prozent gefällt, von den etwa 900 000 Stämmen im Gasteiner Tal knapp drei Viertel. Nochmals 20 Jahre später mussten die Schmelzhütten schließlich nach dem weitgehenden Verbrauch der verbliebenen Bestände verlegt werden. Eine Rolle spielte dabei auch, dass die Baumgrenze wahrscheinlich noch höher lag als heute. Nach einer Reihe von schneearmen Wintern zwischen 1516 und 1540 stieg die Bedrohung durch Lawinen erst anschließend an, was zur Aufgabe einiger Gruben führte.281 Abgesehen von der Lawinengefahr für die teilweise als Weide genutzten Hänge und Täler traf der Schmelzhüttenbetrieb die Viehbauern auch dadurch schwer, dass deren Tiere durch das Schwinden der Waldweide immer weniger Futter fanden. Darüber hinaus hatten sie mit der Luftverschmutzung zu kämpfen; Felder und Äcker schädigte der Hüttenrauch gleichfalls. Dass solche Belastungen und ihre Ursachen den Obrigkeiten bekannt waren oder zumindest begründet vermutet wurden, belegen Vorschriften, wonach der Hüttenbetrieb jeweils von Mai bis August auszusetzen war, um die Ernte ohne größere Schädigungen einbringen zu können. Nicht nur hieran wird die Konkurrenz zwischen dem Anbau benötigter Nahrungsmittel und der Edelmetallgewinnung deutlich. Zwar hafteten nach der Salzburger Bergordnung prinzipiell die Hüttenbesitzer als Verursacher etwaiger Umweltschäden für dieselben, doch fanden die Bestimmungen in der Praxis kaum eine Umsetzung. Insbesondere wenn Menschen erkrankten, führten die Hüttenbetreiber dies auf exogene, von ihnen nicht zu verantwortende Ursachen zurück. Dagegen bezeichnete die Bevölkerung die Anlagen trotz des Baus von Flugstaubkammern, die der Gewinnung von nutzbaren Rückständen dienten, als „Gifthütten“. Eine Salzburger Beschwerdeschrift des Jahres 1495 formulierte: „Item von den erst rösten und schmeltzen sy den rohen kiß heraussen bey den feldern, traidt und wismadt, darvon das traidt und alle etz verdirbt. So stürbt das 280 Abdruck in: Günther Franz (Hg.): Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Neuzeit, II), München 1963, S. 285–290. 281 Rohr: Naturereignisse, S. 417 f.

431

Spätmittelalter

vich auch von dem hüträch …“282 Für das Gasteiner Tal hatte allerdings bereits eine Bergwerksordnung des Jahres 1237 den Vorrang des Edelmetallbergbaus gegenüber der landwirtschaftlichen Nutzung festgeschrieben. Gleichwohl ist der Beginn des – zunächst noch wenig umfangreichen – Abbaus wohl erst auf die Jahre um 1340 zu datieren; zuvor wurde weit überwiegend in den Fließgewässern Goldwäscherei betrieben. Zweifellos bildete der Bergbau auf Edel- sowie Buntmetalle, Eisenerze und Salz jedoch die ökonomisch und fiskalisch unabdingbare Basis des Erzbistums Salzburg, und schon dies erklärt die mangelnde Umsetzung der Schutzbestimmungen mehr als ausreichend. Immerhin erfolgte der Abbau hier bis auf eine Höhe von etwa 2500 Metern über dem Meeresspiegel, was sich durchaus als eine technische und logistische Meisterleistung charakterisieren lässt. Ab 1544 musste aufgrund des lokalen Holzmangels Holz aus den Pinzgauer Wäldern herbeigeschafft werden. Das geflößte Holz wurde beim heutigen Lend am Eingang des Gasteiner Tals möglichst vollständig aus der Salzach gezogen und hier auch gleich verkohlt. Trotz der Bedeutung des Edelmetallabbaus dominierten aber eindeutig die Interessen der Halleiner Saline die Forstpolitik der Salzburger Fürstbischöfe, die wohl ab dem Jahr 1524 als systematisch gelten kann – als zu wichtig erwiesen sich die von der Saline erzielten Einkünfte für die Kasse der Landesherren. Die Erzbischöfe drängten die Nutzungsmöglichkeiten vornehmlich der Bauern, aber auch der Grundherren zurück, wobei diese selbstverständlich versuchten, solche Einschränkungen zu umgehen oder zumindest zu reduzieren. Die in der Region einsetzende planmäßige Neusaat zielte vor allem auf ein Wachstum von Tannenwäldern. Wie wichtig der Holzbezug war, erhellt nicht zuletzt daraus, dass in Gastein und Rauris im Jahr 1541 neben 625 Knappen bzw. Bergarbeitern immerhin 202 Holzknechte und Köhler tätig waren; von den 157 sonstigen dort Beschäftigten dürften noch etliche weitere mit der Holzbeschaffung und -verarbeitung befasst gewesen sein. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts reduzierten der Einsatz von Nasspochwerken und das Ausschwemmen tauben Gesteins den Holzkohleverbrauch immerhin erheblich. In den 1560er-Jahren geriet dann der Edelmetallbergbau in beiden Tälern durch eine fallende Ausbeute in eine Krise. In der Blütezeit hatte die Ausbeute 1557 immerhin 3553 Kilogramm erbracht, davon 2723 Kilogramm Silber und 830 Kilogramm Gold. Auch andere Forstordnungen der Frühen Neuzeit im Gebiet des heutigen 282 Sandgruber: Ökonomie, S. 82 f. Zitiert nach Ludwig/Gruber: Gold-und Silberbergbau, S. 95.

432

Bergbau und Montansektor

Österreich beschränkten insbesondere die bäuerlichen Rechte am Wald zum Teil massiv.283 Für Tirol lässt sich spätestens im 16. Jahrhundert eine eindeutige Dominanz der Bergbauinteressen in den Forsten konstatieren, dienten die Wälder doch vornehmlich als Holzlieferant für Bergbau und Hütten. Hingegen kann für Vorderösterreich im 16. Jahrhundert kaum von einem Boom gesprochen werden, denn die Förderung im Schwarzwald blieb deutlich hinter den allzu hoch gesteckten Erwartungen zurück; auch in den Vogesenwäldern sowie im Sundgau erfüllten sich die Hoffnungen nicht. Trotzdem wurde im Sundgau gegen Ende des 16.  Jahrhunderts ein Holzmangel in ­unmittelbarer Umgebung der Hütten beklagt, während in den Vogesen der Kahlschlag wiederum begrenzt blieb.284 Anders gestalteten sich die Verhältnisse in Thüringen, denn nach der Verlagerung vornehmlich der Nürnberger Saigerhütten in diese Region konnten schon in den 1540er-Jahren aufgrund von Bleimangel sowie erheblichen Problemen mit der Holzversorgung nur noch zwei derartige Hütten betrieben werden. Bereits mit der Errichtung dieser Anlagen und dem Einsetzen des Schmelzbetriebs in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte eine rasche Abholzung der dortigen umfangreichen Waldbestände begonnen, ohne dass die Landesherren, die an den Erträgen der Hütten partizipierten, angesichts der scheinbar unerschöpflichen Wälder Produktionsbeschränkungen zugunsten der Walderhaltung durchgesetzt hätten. Der zunehmende Finanzbedarf nicht nur des thüringischen Hofes – letztlich handelte es sich um eine gesamteuropäische Entwicklung – lässt sich als Grund für dieses Verhalten anführen, galt es doch im Zuge einer mehr oder weniger planmäßigen Umwandlung der Herrschaftsstrukturen hin zu frühmodernen (Territorial-)Staaten die dafür benötigten Institutionen aufzubauen und zu erweitern. Daneben wuchsen die Kosten für die Söldnerheere immens, wenngleich dieser Entwicklungsstrang erst im und vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg mit der verbreiteten Einführung stehender Heere vorher ungeahnte Dimensionen erreichen sollte.285 283 Ernst Bruckmüller/Gerhard Ammerer: Die Land- und Forstwirtschaft in der Frühen Neuzeit, in: Dopsch/Spatzenegger (Hg.): Geschichte, S. 2501–2562, hier S. 2548–2554. Ludwig/Gruber: Goldund Silberbergbau, S. 155, 246. Bingener/Bartels/Fessner: Zeit, S. 377. Koller: Innere Entwicklung, S. 633–648. Johann: Wirtschaftsfaktor, S. 36 f. 284 Reith: Umweltgeschichte, S. 48 f. Angelika Westermann: Die Vorderösterreichischen Montanregionen in der Frühen Neuzeit (VSWG Beihefte, 202), Stuttgart 2009, S. 205–223. 285 Wieland Held: Blei und Holz für den Saalfelder Bergbau in der Mitte des 14.  Jahrhunderts, in: Westermann (Hg.): Bergbaureviere, S. 85–110, hier S. 90–99. Vgl. knapp Richard Bonney: Introduction, in: ders. (Hg.): Systems, S. 1–18, hier S. 6, 13.

433

Spätmittelalter

Erhebliche Probleme mit eindringendem Wasser sorgten am Rammelsberg bei Goslar ab etwa 1360 für eine fast 100-jährige Unterbrechung der Förderung, während der nur aus den nicht im Wasser versunkenen Schächten noch geringe Mengen ergraben werden konnten; im Oberharz vergingen sogar über 170 Jahre bis zur Wiederaufnahme des Betriebs. Die tiefsten der abgesoffenen Stollen konnten erst seit 1565 mittels einer neuen Wasserhebetechnik leer gepumpt und wieder in Nutzung genommen werden. Nach dieser Phase des Produktionsrückgangs, die mit einer Verringerung der Umweltbelastungen einherging, ist nach 1470 wieder ein deutlich gesteigerter Abbau zu erkennen. So stieg während des ersten Viertels des 16. Jahrhunderts die Produktion von Frischblei, wie es beispielsweise in den Mansfelder Schmelzhütten benötigt wurde, von 8000 bis 10 000 Zentnern jährlich auf 22 000 Zentner an. Die gesamte Erzförderung betrug 1486 etwa 16 000 Tonnen, knapp zehn Jahre später bereits 37 500 Tonnen, zwischen 1500 und 1540 dann jährlich jeweils noch über 30 000 Tonnen, wobei Bleierze dominierten. Nach 1534 ist schließlich aufgrund des nurmehr geringen Edel­ metallgehalts ein deutlicher Niedergang des Silberbergbaus zu verzeichnen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nahm dagegen der Verkauf von Vitriol, dem Rückstand des Kupferrauchs, erheblich zu. Der Handel mit diesem Gut lag freilich ebenso wie der Bleihandel in den Händen auswärtiger Kaufleute. Die höchste wirtschaftliche Bedeutung im Bergbau am Rammelsberg besaß zwischen 1400 und 1850 eindeutig das Blei.286 Bis 1552 verfügte die Stadt Goslar noch über einen erheblichen Einfluss auf den Bergbau. Mithin fanden auch die sonstigen Interessen der Bürger Berücksichtigung und dienten die Waldungen u. a. der Viehweide. Doch dann übernahm der frühmoderne Territorialstaat zunehmend die Kontrolle. Deutlich leistungsstärkere und ertragreichere landesherrliche Hütten wurden errichtet, die zudem einen höheren Auslastungsgrad aufwiesen und dadurch preiswerter produzierten. Durch diese neuen Hütten und durch die seitens der Landesherren veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen wurden die privaten Hüttenbesitzer binnen zehn Jahren weitgehend aus dem Geschäft gedrängt. Diese Konzentration dürfte sich vorerst positiv auf den Verbrauch von Brennmaterialien ausgewirkt haben. Da aber in der Folgezeit, immerhin wohl bis 1780, im Gegensatz beispielsweise zum Oberharz keine grundlegenden technischen Neuerungen in die Verhüttung Eingang 286 Sabine Graf: Goslar. Von der Marktsiedlung zur Reichsstadt, in: Märtl/Kaufhold/Leuschner (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S.  424–474, hier S.  462–464. Gundelwein: Feuer, S.  175. Kraschewski: Neubeginn, S. 180. Kraschewski: Bergbau, S. 140. Bingener/Bartels/Fessner: Zeit S. 424.

434

Bergbau und Montansektor

fanden, ging dieser Vorteil mittelfristig wieder verloren. Im Oberharz gewannen im 16. Jahrhundert Zellerfeld und Clausthal an Bedeutung, Andreasberg bereits Jahrzehnte zuvor. Mit der Einführung des Sprengens als neuer Abbaumethode ließ sich im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts die Silberausbeute im Harz erheblich steigern; allerdings fand die Technik im Goslarer Raum eine weniger starke Verbreitung als im Clausthaler Revier im Oberharz. Zuvor wurden die Rammelsberger Erze aufgrund ihres hohen Metallgehaltes und der damit verbundenen Härte mittels Feuersetzen abgebaut. In Verbindung mit den durchaus erwünschten Firstbrüchen – so konnte das Erz anschließend ohne große Mühen eingesammelt werden – setzte diese Methode allerdings die Bergleute erheblichen Gefahren aus.287 Erste Einschränkungen des Holzeinschlags beinhaltete zwar schon eine Bergordnung des Jahres 1271, doch stellt sich erneut die Frage nach ihrer Umsetzung. Auch im Harz verdrängte die Fichte zunehmend die verschiedenen Laubbäume. Allerdings lag ihr Heizwert um bis zu 25 Prozent unter dem von Laubhölzern, was ihr schnelleres Wachstum relativierte. Bildliche Darstellungen des Rammelsbergs aus dem 16. bis 18. Jahrhundert lassen einen mittlerweile überwiegend baumlosen Berg mit großen Haldenflächen sowie bergmännischen Einrichtungen wie Göpeln und Schachthäusern erkennen.288 Abbildungen aus früheren Jahrhunderten, welche Rückschlüsse auf das Ausmaß der Veränderungen erlauben würden, fehlen freilich. Als notwendig erwies sich zudem die Anlage von Wegesystemen, um den Transport zu ermöglichen. Die dabei entstehenden Hohlwege mussten wegen zunehmender Unpassierbarkeit ab einer bestimmten Tiefe immer wieder aufgegeben werden, weshalb daneben neue Wege entstanden. Derartige Trassen anstelle einer einzelnen Straße finden sich ebenso in vielen anderen Regionen. Ein Bericht über den Harzer Bergbau des Jahres 1565 zog den eindrücklichen Vergleich, dass in den Gruben des Rammelsbergs mehr Holz verbaut sei als in der durch Fachwerkbauten geprägten Stadt Goslar. Saure, also mit Säure verunreinigte Gewässer hätten sich in den Grubenbauen gesammelt und gelangten von dort in die Gose sowie in die Oker. Das Wasser fresse Löcher in die Bekleidung und noch zwei Meilen nach der Einmündung der 287 Bartels: Geschichte, S. 59, 63 f. Hans-Joachim Kraschewski: Arbeitsorganisation und Sozialstruktur im Rammelsberger Bergbau des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Rammelsberg, Bd. 1, S. 280–291, hier S. 291. Fessner/Bartels: Krise, S. 457. Gundelwein: Feuer, S. 160 f. 288 Kraschewski: Bergbau und Hüttenwesen, S. 696–698. Christiane Bauer: Bergleute verändern das Gesicht einer Landschaft. Der Bergbau und die Topographie des Rammelsberges, in: Rammelsberg, Bd. 2, S. 358–374, hier S. 359 f.

435

Spätmittelalter

Gose in die Oker flussabwärts könnten keine Fische mehr leben. Auch diese Überlieferung bestätigt das Vorhandensein eines bereits mehrfach erwähnten naturwissenschaftlichen Erfahrungswissens der Zeitgenossen um mögliche Kausalzusammenhänge. Außer dem Bergbau auf Erze veränderten auch Steinbrüche die Oberfläche des Rammelsbergs, ergänzt um den nicht zu vernachlässigenden Schieferbergbau. Insgesamt dürften in dieser Region systematische Überlegungen zur Begrenztheit der Holzvorräte und zur Regelung der Zugangsrechte der um das Holz konkurrierenden Kräfte in der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts auf breiterer Basis eingesetzt haben, zumal die Vereinigung von Abbau und Produktion in den Händen der Herzöge hierfür eine Grundlage bot. Die Neuordnung der Bergverwaltung lässt sich sicherlich als ein Teil der allgemeinen Verwaltungsreform charakterisieren, wobei die finanziellen Interessen der Landesherren dominierten, die mittels des Bergbaus ihre Kassen füllen konnten. Um allerdings die Wasserversorgung zum Antrieb der zahlreichen, teilweise mächtigen Mühlräder über die Jahrhunderte dauerhaft zu sichern, mussten in dieser Region über 120 Stauteiche sowie ein umfangreiches ober- und unterirdisches Wasserlaufsystem errichtet werden. Im Gegensatz zum Abbau von Edelmetallen zeigte die Eisenerzförderung im Harz keine Anzeichen einer Krise oder gar eines vorübergehenden Stillstands.289 Eine weitere erhebliche Umweltbelastung zeitigte ein Amalgamationsverfahren, bei dem goldhaltiges Erzmehl mit Quecksilber gemischt wurde, um das Gold zu lösen. Bekannt war diese Technik wohl seit 1369, während sich Erzmühlen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verbreiteten. An der Wende zur Neuzeit verdrängten dann Pochwerke die Erzmühlen, wobei die erwähnten Nasspochwerke mit einem höheren Wirkungsgrad und einer deutlich geringeren Staubbelastung arbeiteten. Solche Pochwerke wurden 1512 im sächsischen Dippoldiswalde oder im gleichen Jahr in Schwaz erbaut. Eine frühe Anwendung des Amalgamationsverfahrens begegnet im schlesischen Gebiet um Reichenstein, wobei das benötigte Quecksilber wohl aus Almadén (Extremadura) auf der Iberischen Halbinsel stammte. Die dort verwendete einfache Technik der Quecksilbergewinnung setzte 289 Christoph Bartels: Mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bergbau im Harz und seine Einflüsse auf die Umwelt, in: Hauptmeyer (Hg.): Mensch, S. 31–51, hier S. 40 f. Roland Wernig: Steinbrüche am Rammelsberg, in: Rammelsberg, Bd. 2, S. 402–415, hier S. 407–412. Peter-Michael Steinsiek: Nachhaltigkeit auf Zeit. Waldschutz im Westharz vor 1800 (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, 11), Münster u. a. 1999, S. 74–84. Kraschewski: Bergbau, S. 134. Bartels: Bergbaukrise, S. 160 f.

436

Bergbau und Montansektor

große Mengen von Quecksilberdämpfen frei, welche vielfach eine Vergiftung der Arbeiter zur Folge hatten, während der Wind die Dämpfe in der ganzen Umgebung verbreitete. Allerdings erfuhr die Quecksilberverhüttung in Spanien in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erhebliche Verbesserungen. Selbst in der Pfalz wurde im 15. und 16. Jahrhundert in unbekanntem, vermutlich nur geringem Umfang Quecksilber gewonnen.290 Im slowenischen Idria begann der Quecksilberabbau 1493 mit seinerzeit durchaus fortschrittlichen, gleichwohl einfachen Techniken. Noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beliefen sich die Hüttenverluste in Idria auf annähernd 50 Prozent, was zu chronischen Vergiftungen bei den Arbeitern führen konnte. Gerne wollte die Betreiber die mittlerweile in Almadén gebräuchlichen Techniken zur Steigerung der eigenen Produktion einsetzen, aber Versuche, Genaueres über die dort eingesetzten Techniken herauszufinden, scheiterten als eine Episode der Frühformen von Industriespionage gänzlich. Im Jahr 1525 erwarb dann die Augsburger Handelsgesellschaft Ambrosius und Hans Höchstetter mitsamt ihren Mitgesellschaftern Idria pachtweise von dem habsburgischen Erzherzog Ferdinand. Doch der Versuch, ein Quecksilbermonopol zu errichten und zu diesem Zweck Almadén gleichfalls in ihrer Hand zu vereinigen, führte zu dem spektakulären Bankrott der Gesellschaft; die Fugger hingegen verloren einen Konkurrenten.291 Folgenschwerer noch als der hohe Brennholzbedarf wirkte sich im zuvor kaum besiedelten Gebiet um Idria die vornehmlich durch die zuziehende Bevölkerung ausgeübte Brandwirtschaft oder Brandrodung auf den Hängen des Kalkgebirges. Zudem lieferten die benachbarten slowenischen Küstengebiete Holz und komplette Schiffe nach Oberitalien, was gleichfalls einen hohen Holzverbrauch implizierte. Alles in allem bleibt die Zahl der Nachrichten über Umweltschäden in der wohl nur dünn besiedelten Region gering, doch liegt für das Jahr 1642 eine Beschwerde von dort lebenden Knappen und Bauern vor, die Missbildungen bei Jungtieren sowie erhebliche Ernteeinbrüche bei Getreide und Obst beklagten. Selbst wenn die Missbildungen seinerzeit kaum zu erklären waren, stellten die Betroffenen sehr wohl Verbindungen her. Obwohl die Bergordnung des Jahres 1580 Entschädigungsleistungen vorsah, lehnten 290 Ludwig/Gruber: Gold- und Silberbergbau, S. 88–90. Rainer Schlundt: Der pfälzische Quecksilberbergbau im 15. und 16. Jahrhundert, in: Der Anschnitt, Beiheft 2, S. 148–151. 291 Thomas Max Safley: Der Konkurs der Höchstetter 1529 in Abhängigkeit von Beschaffungs- und Absatzmärkten für Quecksilber, in: Westermann/Welser (Hg.): Beschaffungs- und Absatzmärkte, S. 273–286.

437

Spätmittelalter

die landesfürstlichen Behörden Zahlungen in jeglicher Form ab, verlegten aber zumindest den Verhüttungsplatz weiter abseits der Siedlung. Bleibergwerke und die Verhüttung des Schwermetalls konzentrierten sich daneben auf die Karawanken und das slowenische Kärnten. In Staré Hory (Altenberg) wie auch in Kuttenberg erfolgte die Verarbeitung der Erze in unmittelbarer Nähe zu den Gruben und den Siedlungen, sodass sich nicht nur die dort Beschäftigten direktem Kontakt mit ausgestoßenen Schwermetallen und weiteren toxischen Substanzen ausgesetzt sahen.292 Eine dem Prozess des Herauslösens von Gold vergleichbare Amalgamation von Silber beschränkte sich in Europa auf nur wenige Versuche im venezianischen Schio und in Kuttenberg zu Beginn und dann wieder gegen Ende des 16.  Jahrhunderts. Ansonsten benötigte vornehmlich noch die Spiegelproduktion Quecksilber. Hochgiftige Gase traten aufgrund der verwendeten Röstverfahren allerdings auch bei der Herstellung von Arsenik sowie Schwefel aus Arsenkies bzw. Schwefelkies aus. Mit den Gefahren, welche durch giftigen Rauch und gefährliche Dämpfe für die Bergleute entstanden, befasste sich bereits 1470 der Arzt Ulrich Ellenbog. Wiederum nach Agricola lockerte Quecksilberdampf in erster Linie die Zähne der Beschäftigten, weshalb die Schmelzer und weiteren Beschäftigten als Vorsichtsmaßnahme mit dem Rücken zum Wind stehen sollten. Allerdings darf bei aller modernen Kritik nicht vergessen werden, dass leicht quecksilberhaltiges Amalgam noch bis ins späte 20.  Jahrhundert für Zahnfüllungen genutzt wurde. Doch insgesamt blieben die Auswirkungen der Schmelzhütten und weiteren Anlagen aufgrund ihrer geringen Anzahl mit lokalen oder regionalen Schwerpunkten begrenzt und dürfen daher im Rückblick nicht überschätzt werden. Eine massive Zunahme der industriell bedingten Belastungen mit Auswirkung auf größere Bevölkerungskreise setzte erst im 19. Jahrhundert ein, was in drastischer, aber wohl kaum übertriebener Form etwa die Briefe des jungen Friedrich Engels über die Zustände in seiner Herkunftsregion, dem Bergischen Land, belegen. Als allgemeine Gefahren, denen Bergleute ausgesetzt seien, führte seinerzeit Agricola zunächst das kalte Wasser in den Gruben an, welches sich trotz aller Gegenmaßnahmen 292 Fred Gestrin: Die westjugoslawischen Länder 1400–1650, in: Kellenbenz (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 1128–1148, hier S. 1134. Maria Wakounig: Von Přemysl Otakar II. bis zu Maximilian. I. von Habsburg, in: Arnold Suppan (Hg.): Zwischen Adria und Karawanken, ND Berlin 1998, S. 53–110, hier S. 91. Petr Hrubý/Petr Hejhal/Karel Maly: Montanarchäologische Untersuchungen in Jihlava – Staré Hory (Iglau, Altenberg, Tschechien), in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 35 (2007), S. 17–60, hier S. 48. Filip Velimský: Wie das Silber in Kuttenberg verarbeitet wurde, in: Smolnik (Hg.): Silberrausch, S. 143–152, hier S. 149.

438

Bergbau und Montansektor

darin sammelte und vor allem mit zunehmendem Alter der Knappen zu erheblichen Beeinträchtigungen führe, desgleichen in anderen Gruben die extreme Trockenheit, welche aufgrund des aufwirbelnden Staubs Lungenerkrankungen verursache. „In den Gruben der Karpathen findet man Frauen, die sieben Männer gehabt haben, welche alle jene unheilvolle Schwindsucht dahingerafft hat. In Altenberg im Meißnischen findet sich schwarzer Hüttenrauch in den Gruben, der Wunden und Geschwüre bis auf die Knochen ausnagt.“ Außerdem verwies er auf schlechte, also schlagende Wetter in den Gruben, auf Stürze und Knochenbrüche, auf Grubeneinstürze sowie weitere alltägliche Fährnisse und Unglücke unter Tage.293

Salinen Da in Mitteleuropa anders als im Süden oder an der Atlantikküste das Salz nicht in Salzgärten ausschließlich durch Sonne, Wärme und Wind getrocknet und gewonnen werden konnte, erwies sich der Holzverbrauch der Salinen hier als enorm. Zudem lag der Salzbedarf deutlich über dem heutigen Verbrauch. Denn Salz wurde in großen Mengen zur Konservierung von Fleisch und Fisch benötigt, daneben in geringerem Maß für Butter und Käse, für die Einlagerung beispielsweise von Kohl vornehmlich in Form von Sauerkraut sowie zur Zubereitung der Speisen. Nachdem die bayerischen Herzöge das Eigentum an fast allen Sieden in Reichenhall Ende des 15.  Jahrhunderts erworben hatten, bauten sie zur Ausschaltung der Konkurrenz sowie aus fiskalischen Interessen seit dem frühen 16. Jahrhundert ein Salzmonopol auf und stellten zugleich die Waldnutzung um. Prinzipiell sollte nur noch so viel Holz entnommen werden, wie an anderen Stellen in den Waldungen der Saline nachwuchs („Ewiger Wald“). Doch konnte der Rückgang selbst unter dieser Vorgabe wohl nur abgeschwächt werden, zumal die Saline ihren Spitzenverbrauch trotz tendenziell bereits rückläufiger Produktion erst 1611 erreichte; daneben sorgte eingetriebenes Vieh für Verbissschäden. Weiterhin bevorzugten die Verantwortlichen für die Nachsaat schneller wachsenden Tannen, Fichten und 293 Helfried Valentinitsch: Idria und Fragen der Umweltgestaltung, in: Kellenbenz (Hg.): Wirtschaftsentwicklung, S. 57–72. Ders.: Quecksilberbergbau, -verhüttung und -handel in der frühen Neuzeit. Forschungsstand und Aufgaben, in: Der Anschnitt, Beiheft 2, S. 199–203, hier S. 201 f. Schmidtchen: Technik, S. 231–246. Alt: Umweltrisiken, S. 226. Friedrich Engels: Briefe aus dem Wuppertal, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 413–432. Agricola: Zwölf Bücher, S. 183–187, 370.

439

Spätmittelalter

Lärchen anstelle der zuvor überwiegenden Buchen. Erst als die neu gegründete Saline Traunstein mit ihren nahe gelegenen Waldbeständen sowie einem Moor zur Torfgewinnung ab den 1620er-Jahren ihre Volllast erreichte, sank die Herstellung in Reichenhall deutlich. Die Sole wurde nunmehr über eine 31 Kilometer lange Leitung von Reichenhall bis Traunstein geführt, da die Sole deutlich leichter zu transportieren war als die ansonsten für Reichenhall benötigten Hölzer. Nach der Erschöpfung der Traunsteiner Energievorräte erfolgte im frühen 19. Jahrhundert der Neubau einer Saline in Rosenheim, wiederum mit reichen Waldbeständen im Umland.294 Für Reichenhall kann trotz aller Gegenmaßnahmen von einer weitgehenden Erschöpfung der Ressourcen ausgegangen werden. Im Salzburger Land dürfte die Saline Hallein der mit Abstand größte Einzelverbraucher an Holz gewesen sein: Hier konnten beispielsweise im Jahr 1530 beeindruckende 22 000 Tonnen Salz gewonnen werden, doch verschlang der Herstellungsprozess im frühen 16.  Jahrhundert ungefähr 130 000 Kubikmeter Holz jährlich; dies entspricht – zur Veranschaulichung – einem Stapel von zwei Meter Höhe, 1,2 Meter Breite und ungefähr 54 Kilometer Länge. Die Saline dürfte im späten 12. Jahrhundert in Betrieb genommen worden sein und erforderte wie andere derart groß dimensionierte Anlagen einen hohen Investitionsaufwand. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts zielten die Salzburger Erzbischöfe zunächst auf eine Vorrangstellung, schließlich auf das alleinige Eigentum an den dortigen Pfannen, was sie bis 1530 auch durchsetzten. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begannen unter hohem Ressourceneinsatz umfangreiche Neuerschließungen am Salzbergwerk Dürnberg, von wo aus die Sole schon zuvor in Holzleitungen nach Hallein geflossen war. Der oben erwähnte Holzstapel wäre im Spitzenproduktionsjahr 1590 sogar etwa 90 Kilometer lang gewesen, und dies ohne das gleichfalls in nicht zu unterschätzenden Mengen benötigte Bau- und Kufenholz.295 Im tirolischen Hall gelangte die Sohle gleichfalls durch ein hölzernes Röhrensystem in die Stadt zu den Salzpfannen; hier sicherten sich die 294 Georg Meister: Der „Ewige“ Wald der Saline Reichenhall, in: Salz macht Geschichte. Aufsätze, hg. v. Manfred Treml/Wolfgang Jahn/Evamaria Brockhoff (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 29/95), Regensburg 1995, S. 179–185. Alfred Kotter: „Holznot“ um 1600. Die Energieversorgung der Saline Reichenhall, in: ebd., S. 186–192. Zu derartigen Soleleitungen vgl. Peter Piasecki: Das deutsche Salinenwesen 1550–1650. Invention – Innovation – Diffusion, Idstein 1987, S. 233–250; zu Produktionszahlen und -kapazitäten ebd., S. 295–299. 295 Sandgruber: Ökonomie, S. 82. Koller: Innere Entwicklung, S. 637–642. Johann F. Schatteiner: Der Salzbergbau Dürrnberg und die Saline Hallein, in: Dopsch/Spatzenegger (Hg.): Geschichte, S. 2631–2711, hier S. 2639, 2682, 2687.

440

Bergbau und Montansektor

­ andesfürsten zunächst den größten Teil der Einkünfte. Knapp 2 800 TonL nen Salz wurden 1296 produziert, Kapazitätserweiterungen sollten folgen. Im 14. Jahrhundert häuften sich Verpfändungen, zudem erwarben nunmehr Haller Bürger Anteile an den Anlagen in Form von veräußerlichen und vererblichen Lehen; selbstverständlich ist der Aufstieg der Stadt eng mit der Saline verbunden. Da die Hauptabsatzgebiete für Haller Salz im Westen sowie Nordwesten von Tirol lagen, musste das Salz vornehmlich über den Fernpass zunächst nach Reutte, weiter durch das Lechtal in Richtung Allgäu (Hindelang, Kempten) und dann erst in die Bodenseegegend, nach Vorarlberg, ins Elsass und nach Vorderösterreich geführt werden. Die Errichtung einer Lechbrücke in Reutte im 15. Jahrhundert erleichterte die Querung des Flusses unabhängig von dessen Wasserstand. In den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts brachte Maximilian I. in seiner Funktion als Graf von Tirol schließlich die Saline und den Salzhandel weitgehend unter die landesfürstliche Herrschaft und regelte auch den Holzbezug neu. Eine Begutachtung der Haller Amtswälder 1569 ergab jedoch, dass großer Holzmangel herrschte und die zukünftige Versorgung keinesfalls als gesichert gelten konnte, da die bestehenden Wälder fast zur Gänze abgeholzt und die neu angelegten Waldungen noch nicht ausreichend nachgewachsen waren. Zwischen 1512 und 1521 belief sich die jährliche Produktion auf gut 9700 Tonnen Salz, zwischen 1522 und 1531 stieg die Produktion auf jährlich mehr als 10 600 Tonnen und erreichte 1548 sogar knapp 12 700 Tonnen. Nach der Erschöpfung der ortsnahen Ressourcen gelangten große Holzmengen aus dem Oberinntal geflößt nach Hall, wo die Stämme auf dem Ufergelände zwischengelagert wurden; bildliche Darstellungen lassen die riesigen Stapel am Ufer noch für den heutigen Betrachter erkennen. Doch überstieg im Herzogtum Tirol bereits im 15. Jahrhundert der Bergbau auf Silber und Kupfer – anders als im Salzburger Land – die Bedeutung der Saline.296 Die Salinen in den Alpen erreichten wie die Saline in Lüneburg und wohl auch die in Schwäbisch Hall einen beträchtlichen Salzgehalt von 20 bis 25 296 Zur Stadt Hall im 14. und 15. Jahrhundert vgl. Klaus Brandstätter: Ratsfamilien und Tagelöhner. Die Bewohner von Hall in Tirol im ausgehenden Mittelalter (Tiroler Wirtschaftsstudien, 54), Innsbruck 2002; zu den wirtschaftlichen Aktivitäten der Oberschicht besonders S. 136–141. Zu den Handelswegen Rudolf Palme: Der Tiroler Salzhandel in die Schweiz und nach Südwestdeutschland im 16. und 17. Jahrhundert, in: Kirchgässner/Becht (Hg.): Stadt und Handel, S. 9–21, hier S. 9. Carolin Spranger: Der Metall- und Versorgungshandel der Fugger in Schwaz in Tirol 1560–1575 zwischen Krisen und Konflikten (Veröffentlichungen der schwäbischen Forschungsgemeinschaft, 4: 31; Studien zur Fuggergeschichte, 40), Augsburg 2006, S. 334. Riedmann: Mittelalter, S. 510–512. Zum 16. Jahrhundert Palme: Frühe Neuzeit, S. 20–22, 64.

441

Spätmittelalter

Prozent. Ansonsten galten zehn bis 20 Prozent als hoch, doch bei den meisten Salinen lag der Salzgehalt nur zwischen zwei und acht Prozent. Das bedeutet, dass bei einer zehnprozentigen Sole zur Gewinnung von einem ­Kilogramm Salz die neunfache Menge Wasser verdampfen musste, bei ungünstigeren Bedingungen entsprechend mehr. Erst das 16.  Jahrhundert kannte verbesserte Möglichkeiten der Soleanreicherung, bevor diese in die Siedepfannen gelangte. Im Gegensatz zu anderen Anlagen stieg die Salzproduktion der Saline in Schwäbisch Hall während der Frühen Neuzeit noch im 17. Jahrhundert deutlich an. Der Großteil des benötigten Brennholzes wurde bei ausreichender Wasserhöhe, zumeist mit dem Frühjahrshochwasser nach der Eis- und Schneeschmelze, auf dem Kocher zur Stadt geflößt; die benachbarten Schenken von Limpurg befürchteten allerdings aufgrund der Holz­ entnahme eine Verödung ihrer Waldbestände. Die Einführung des ressourcenschonenden Gradierverfahrens erfolgte hier angesichts des hohen Salzgehalts der Sole erst im 18.  Jahrhundert, zumal sich die Saline wegen ihrer komplexen Besitzstruktur mit zahlreichen Anteilseignern nur schwerlich straff organisieren ließ. Erst ein Preisrückgang beim Salz und gleichzeitig steigende Holzpreise in den Jahren 1727 bis 1730 führten zu einem Umdenken. Nicht nur hier brachte die Arbeit der Salzsieder und ihrer zahlreichen Hilfskräfte eine hohe körperliche Belastung mit sich.297 In Soest dürfte im Zuge einer Verdichtung der Bebauung spätestens im frühen 13. Jahrhundert die innerstädtische Salzproduktion aufgegeben worden sein, belasteten doch die Salzsiedeöfen die Luft und den Boden erheblich. Zeitlich parallel dazu fand die nahe gelegene Sassendorfer Saline erstmals Erwähnung. Die Bleiverarbeitung endete in Soest ebenfalls um das Jahr 1200.298 Wie in Reichenhall erreichte auch in Lüneburg die Saline in den letzten Jahrzehnten des 16.  Jahrhunderts ihre höchsten Produktionsvolumina: Die durchschnittliche Jahreserzeugung belief sich zwischen 1560 und 1623 auf ein Maximum von 23 000 bis 24 000 Tonnen jährlich. Die Lüneburger Heide war zu dieser Zeit allerdings längst weitgehend abgeholzt, weshalb 297 Hans H. Quentmeier: Salzgewinnung und Salzhandel im Mittelalter, in: Märtl/Kaufhold/Leuschner (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 662–688, hier S. 678–680. Reininghaus: Gewerbe, S. 47. Wunder: Stadt, S. 106–109. Hans Hagdorn: Die Technik der Salzgewinnung, in: Ulshöfer/ Beutter (Hg.): Hall, S. 41–82, hier S. 47. Vgl. Raimund J. Weber: Die Haller Floßmäler. Organisation und Recht der Salineflößerei, in: ebd., S. 83–94. 298 Walter Melzer: Stadtarchäologie in der westfälischen Hansestadt Soest. Ein Überblick, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 23/24 (1995/96), S. 3–39. Ders.: Neue Ausgrabungen mit Funden zu mittelalterlichem Handel und Handwerk in Soest, in: Soest. Geschichte der Stadt, Bd. 2: Die Welt der Bürger. Politik, Gesellschaft und Kultur im spätmittelalterlichen Soest, hg. v. Heinz-Dieter Heimann, Soest 1996, S. 437–458.

442

Bergbau und Montansektor

das Holz von weit her herbeigeschafft werden musste. Schon als der Adlige Konrad von Weinsberg 1436 mit bewaffneten Begleitern die dünn besiedelte Heidelandschaft durchritt, wies die darüber erstellte Abrechnung explizit darauf hin, dass die Gegend als gefährlich galt und schnell durchquert werden müsse, um an einen sicheren Ort, in diesem Fall Lüneburg, zu gelangen. Während der Blütezeit der Lüneburger Salzgewinnung stammte das Holz dann primär aus den Wäldern Mecklenburgs. Schon 1412 hatten die dortigen Herzöge den Lüneburgern zugestanden, dass sie die für den Holztransport benötigten künstlichen Wasserwege auf eigene Kosten in mecklen­ burgischem Territorium anlegen durften. Die Stämme mussten über diese Kanäle zunächst zur Elbe geflößt werden, dann weiter elbabwärts und schließlich durch wiederum eigens angelegte Kanäle zu den Anlagen; das Holz bildete allerdings daneben vielfach die Rückfracht der Salzschiffe. Für den Rückgang der Salzproduktion nach dem Dreißigjährigen Krieg spielten dennoch weder die Brennholzbeschaffung noch die dafür anfallenden Kosten eine bedeutsame Rolle; schon zuvor waren Beschwerden der Salinenbetreiber über Holzmangel stets Ausnahmen geblieben. Auch erwiesen sich die Nutzung natürlicher Wasserwege oder die Anlage künstlicher längerfristig gerade bei schweren und sperrigen Gütern als kostengünstiger als ein Landtransport über größere Entfernungen. Bei allen energieintensiven Anlagen wurden zudem Versuche unternommen, die Energie effektiver zu nutzen oder mittels innovativer Techniken die Produktivität zu erhöhen. Allerdings lag noch Ende des 19. Jahrhunderts – dies nur als Vergleich – der thermische Wirkungsgrad der meisten Dampfmaschinen unter zehn Prozent, der von Ottomotoren betrug weniger als 20 Prozent.299

Kohle Kohle spielte vor dem 19. Jahrhundert in nur wenigen Regionen eine nennenswerte Rolle, so im Raum von Lüttich und dem Gebiet um Aachen, wo der Abbau um 1200 einsetzte und sich etwa 100 Jahre später etablierte, im Ruhrgebiet und in England vornehmlich im Umland von Newcastle sowie 299 Fuhrmann: Oikos, S. 208. Harald Witthöft: Die Lüneburger Saline. Salz in Nordeuropa und der Hanse vom 12.–19. Jahrhundert. Eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte langer Dauer (De Sulte, 22), Rahden/Westf. 2010, S.  116–143, 242. Harald Witthöft: Energy and Large-Scale Industries (1300–1800), in: Economia e Energia, S. 293–304, hier S. 301. Wolfgang König: Massenproduktion und Technikkonsum. Entwicklungslinien und Triebkräfte der Technik zwischen 1880 und 1914, in: ders./Wolfhard Weber: Netzwerke, Stahl und Strom, 1840 bis 1914 (Propyläen Technikgeschichte), Berlin 1990, S. 263–552, hier S. 424.

443

Spätmittelalter

Durham mit oberflächennahen Flözen. Im 14.  Jahrhundert erweiterte der Zwickauer Raum und im folgenden Jahrhundert das Saarland diesen Kreis. Als nutzungslimitierend – mit Ausnahme der Aachener Mager- und Anthrazitkohle – wirkte sich der ausgeprägte Gestank beim Verbrennen der ­ungereinigten Kohle aus, der besonders bei innerstädtischer Nutzung beispielsweise durch Schmiede, Brauer oder Bäcker deren Umgebung erheblich ­belästigte. Dennoch gelangte die Steinkohle aus dem noch bis ins 19. Jahrhundert hinein nur dünn besiedelten Ruhrgebiet in das Hellweggebiet, die Städte am Niederrhein sowie die Niederen Lande. Ebenso wurde englische Kohle, sofern sie nicht in London als dem Hauptabnehmer landete, nach Flandern, Holland, Seeland, Frankreich und in den Ostseeraum exportiert. Schon im letzten Drittel des 14.  Jahrhunderts handelte es sich dabei trotz heute gering erscheinender Mengen um einen keinesfalls zu vernachlässigenden Wirtschaftsfaktor. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stieg die Steinkohlegewinnung in England dann deutlich an, zumal abgesehen von dem enormen und weiter steigenden Bedarf Londons der Montansektor und die Glasherstellung eine Intensivierung erfuhren. Die Entwicklung wurde auch dadurch begünstigt, dass in diesen Jahrzehnten der Aufstieg Englands zur Seemacht seinen Ausgang nahm und der Aufbau der Flotten für Handels- sowie Kriegszwecke große Holzmengen verschlang. Bereits seit dem späten 13. Jahrhundert wurde auf der Insel Steinkohle im gewerblichen Bereich eingesetzt, vornehmlich in den Kalköfen, deren Betrieb in Stadtnähe ebenso wie die Nutzung der Kohle durch die Londoner Brauer zu den erwähnten Geruchsbelästigungen führte.300 Wenig überraschend angesichts der Qualität der im Aachener Revier geförderten Kohle ist, dass dort im 17. Jahrhundert schon ein großer Teil der zur Wärmeerzeugung benötigten Energie aus Kohle bestand. Auch die Stadt 300 Karl-Heinz Spieß: Innovationen in der Energieerzeugung und in der Technik des Spätmittelalters, in: Christian Hesse/Klaus Oschema (Hg.): Aufbruch im Mittelalter. Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, Ostfildern 2010, S. 87–124, hier S. 94 f. Zur Qualität der Aachener Kohle vgl. Jörg Wiesemann: Steinkohlebergbau in den Territorien um Aachen 1334–1794 (Aachener Studien zur älteren Energiegeschichte, 3), Aachen 1995, S. 289 f. Friedrich-Wilhelm Henning: Die zunehmende wirtschaftliche und soziale Differenzierung in einer obersächsischen Gewerbe-Exportstadt (Zwickau) bis zum 16.  Jahrhundert, in: Scripta Mercaturae 1 (1968), S. 23–56, hier S. 26. Zwickau verbot bereits 1348 die Nutzung von Steinkohle durch das Schmiedegewerbe im Umland, um das städtische Handwerk zu fördern. Dieter Scheler: Kohle und Eisen im mittelalterlichen „Ruhrgebiet“, in: Vergessene Zeiten. Mittelalter im Ruhrgebiet, hg. v. Ferdinand Seibt u. a., Essen 1990, Bd. 2, S. 111–117, hier S. 114. Vgl. z. B. Kuske: Quellen, Bd. 2, S. 596. John Hatcher: The History of the British Coal Industry, Vol. I: Before 1700: Towards the Age of Coal, Oxford 1993, S.  25  f. George D. Ramsay: Britische Inseln 1350–1650, in: Kellenbenz (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 502–563, hier S. 518 f.

444

Der Schwarze Tod und andere Seuchen

beheizte seit Langem – erstmals bereits für das Jahr 1338 belegt – das Rathaus und weitere öffentliche Gebäude mit Kohle. Steinkohle sollte auch im Harz im späten 16. Jahrhundert die knapper werdenden Holzbestände schonen, jedoch nur mit wechselndem Erfolg. Bei den 1195 zuerst erwähnten Lütticher Kohlevorkommen gelang im 14. Jahrhundert durch den Einsatz bürgerlichen Kapitals eine deutliche Erhöhung des Produktionsvolumens. Doch waren zu Beginn des folgenden Jahrhunderts zahlreiche oberflächennahe Vorkommen erschöpft, was ein Abteufen tiefer reichender Schächte erforderte. Dabei durften die Anlagen die Versorgung der Stadt mit sauberem (Trink-)Wasser nicht gefährden. Die Maas diente der Verschiffung eines Teils der gewonnenen Kohle, überwiegend mit dem Ziel nördliche Niederlande, daneben ging Kohle über Dordrecht nach Flandern und Brabant. Zudem bildete die Lütticher Steinkohle als Energielieferant die Voraussetzung für eine umfangreiche Metallverarbeitung in der Stadt. Der entscheidende Durchbruch zur gewerblichen Nutzung der Steinkohle stand freilich noch aus, denn erst 1709 gelang in England die Verhüttung von Eisenerz unter Verwendung verkokster Kohle, bevor dann vor allem der Einsatz der Dampfkraft die Fördermengen massiv ansteigen ließ. Rechtlich zählten allerdings der Stein- und der Braunkohleabbau wohl aufgrund der langen Tradition ihrer Gewinnung im Tagebau noch nicht zum Bergbau. Eine Änderung dieser Zuordnung erfolgte erst seit dem 17.  Jahrhundert; Analoges gilt für den umfangreichen Abbau von vulkanischem Tuffstein sowie von Mühlsteinen besonders in der Gegend um Mayen. Seinen Aufschwung und Durchbruch erlebte der Steinkohlebergbau schließlich im späten 18. Jahrhundert sowie insbesondere im 19. Jahrhundert und in den beiden ersten Dritteln des 20. Jahrhunderts.301

Der Schwarze Tod und andere Seuchen Das enge Nebeneinander der Menschen in den Städten begünstigte ebenso wie die vielfältigen Handelsbeziehungen die Verbreitung von Krankheiten 301 Rosseaux: Städte, S. 106. Kraschewski, Hans-Joachim: Bergbau und Verhüttung im Land Braunschweig 1500–1800, in: Karl Heinrich Kaufhold/Jörg Leuschner/Claudia Märtl (Hg.): Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Braunschweigischen Landes, Bd. II: Frühneuzeit, Hildesheim/ Zürich/New York 2008, S. 324–385, hier S. 364 f., 378 f. Zusammenfassend Horst Kranz: Nutzung der Steinkohle im Mittelalter, in: Economia e Energia, S. 423–443. Horst Kranz: Lütticher Steinkohlebergbau im Mittelalter. Aufstieg – Bergrecht – Unternehmer – Umwelt – Technik (Aachener Studien zur älteren Energiegeschichte, 6), Herzogenrath 2000, S. 151–169. Bartels/Klappauf: Mittelalter, S. 111 f. Fessner/Bartels: Krise, S. 558–562.

445

Spätmittelalter

und Seuchen gegenüber dem ländlichen Raum erheblich. Nach den seinerzeitigen medizinischen Kenntnissen, die auf antiken Vorstellungen beruhten, vollendet von Galen (129–199) in der Form der Humoralpathologie, galten Krankheiten als Fehlmischungen der vier Körperflüssigkeiten Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim. Die medizinischen Autoritäten schätzten Blut als heiß und feucht, schwarze Galle hingegen als kalt und trocken, gelbe Galle wiederum als heiß und trocken sowie schließlich Schleim als kalt und feucht ein. Innerhalb dieser groben Aufteilung nahmen die Gelehrten weitere Abstufungen vor, doch kann die Lehre hier nur in vereinfachter Form präsentiert werden. In ihrem Vorstellungssystem bedeutete beispielsweise ein Überschuss des feucht-warmen Bluts die Gefahr einer Fäulnis der inneren Organe, die nach der Überzeugung der damaligen Mediziner den eigentlichen Pestvorgang ausmachte. Der Beseitigung dieser krank machenden Ungleichgewichte der Körpersäfte dienten die verbreiteten Aderlässe. Weiterhin sollten Abführ- oder Brechmittel sowie Einläufe faulige Speisen und Fäulnisgase im Körper eliminieren. Zumeist teure Medikamente konnten in den Apotheken der mittleren und größeren Städte erworben werden, die nördlich der Alpen überwiegend im 14. und 15. Jahrhundert entstanden, während sie in Italien und Südfrankreich bereits ältere Ursprünge aufwiesen. In den für Norddeutschland typischen Ratsapotheken agierten die Apotheker häufig bis in das 16. Jahrhundert hinein quasi als Angestellte der Städte, während im Süden die Kommunen überwiegend nur die Räumlichkeiten stellten. Das humoralpathologische Gedankengebäude fand seine Ergänzung in der Miasmatheorie mit ihrer Vorstellung, dass verunreinigte Luft Krankheiten auslöse. Über die möglichen Ursprünge und die Zusammensetzung der Ausdünstungen oder Miasmen stritten die Mediziner freilich teilweise vehement. Gewarnt wurde allgemein vor feucht-schwülem Klima und Südwinden, vor schlechter Luft über stehenden Gewässern oder Mooren. Durchaus auf Erfahrung beruhte der Hinweis auf den Atem Erkrankter und deren Körperausdünstungen als Gefahrenquelle. Aromatisch riechende Holzfeuer, angereichert z. B. mit Wacholder, sollten die Krankenzimmer reinigen, die Pestmasken der Ärzte wurden gleichfalls mit Aromastoffen bestückt, während Essigwasser Gesicht und Hände desinfizierte. Es muss betont werden, dass im Rückblick die eindeutige Identifizierung einer bestimmten Krankheit längst nicht immer möglich ist, zumal bereits die zeitgenössischen Beschreibungen häufig vage blieben. Über die alltäglichen Erkrankungen oder Infektionen wie beispielsweise die Grippe liegen ohnehin nur wenige Kenntnisse vor. Verbreitet waren jedenfalls Infektionen 446

Der Schwarze Tod und andere Seuchen

durch Eingeweidewürmer, seltener durch Bandwürmer, was wie erwähnt für eine gewisse Wirksamkeit der Fleischschau spricht. Bevor wir die Große Pest der Jahre 1347 bis 1352 ins Zentrum der folgenden Ausführungen stellen, werden zunächst noch weitere Epidemien thematisiert. Gefürchtet blieb vor allem im Süden Europas die durch Mücken über­ tragene Malaria, welche uns in den Quellen beispielsweise unter den Bezeichnungen Wechsel-, Sumpf-, Dreitage- oder Viertagefieber begegnet. Während des Mittelalters drangen frostharte Fiebermücken sogar bis Skandinavien vor, vermutlich durch das wärmere Klima begünstigt. Charakteristisch für die Erkrankung waren periodische Fieberschübe, Kräfteverfall, Milzvergrößerung und möglicherweise Nierenversagen, was zeitgenössisch eine Deutung als Störung des Verhältnisses zwischen schwarzer und gelber Galle erfuhr. Am Mittelmeer legte die durch eine hohe Letalität gekennzeichnete Malaria ganze Küstenstriche lahm, führte sogar zur Aufgabe von Siedlungen. Am schwersten traf die Erkrankung Italien, hier besonders die südlich von Rom gelegene Campagna, die pontischen Sümpfe sowie die Inseln Korsika, Sardinien und Sizilien. Zumindest für diese Regionen gilt die Malaria als stärkster das Wachstum limitierender Faktor überhaupt, da sich hier die endemische Erkrankung, begleitet von hoher Kindersterblichkeit, mit epidemischem Auftreten abwechselte. Erst mit der Verbreitung der neuweltlichen Chinarinde, des Chinins, stand im 16.  Jahrhundert ein wirksames Gegenmittel zur Verfügung. Eine ausgesprochen hohe Formenvielfalt zeigte die schon in der Antike bekannte Lepra – ihre Ursprünge verlieren sich im Nebel der Vorzeit302 –, auch als Aussatz geläufig. In geschätzten 98 Prozent aller Fälle verlief die durch eine Tröpfchen- oder Schmutzinfektion übertragene Krankheit symptomlos, doch im schwersten Fall kam es zunächst zu Knotenbildungen bzw. in minderschweren Fällen zu braunroten Flecken überwiegend im ­Gesicht. Auf die Bildung der Knoten folgte bei deren Aufbrechen eine langsame Narbenbildung, allerdings begleitet von Geschwüren im Nasen-­ Rachen-Raum. Die Narbenbildung führte zu einem Verlust der Mimik, sodass der schwer Gezeichnete mit seinen Gesichtszügen kaum mehr Empfindungen auszudrücken vermochte, während die Kehlkopfveränderungen eine raue Stimme nach sich zogen. Nach Einbruch der Erreger in die Blutbahn kam es schließlich zum Befall der inneren Organe. 302 Zu den Krankheiten vgl. umfassend Stefan Winkle: Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, 2., verb. u. erw. Aufl. Düsseldorf/Zürich 1997, hier S. 3.

447

Spätmittelalter

Für das spätere Reichsgebiet sind erste Leprosenhäuser, später auch als Sondersiechenhäuser oder -spitäler oder Gutleuthäuser bezeichnet, für das 7. Jahrhundert im Westen belegt, so in Metz 636 oder in Verdun 656. Eventuell hatte sich die Krankheit aus dem westfränkischen Gebiet, wo sie bereits seit dem 4. Jahrhundert bekannt ist, nach Osten verbreitet. Während des Hoch- und Spätmittelalters stieg die Zahl der Leprosenhäuser sprunghaft an, wenngleich die Erkrankung im Spätmittelalter an Bedeutung verlor. Das dritte Laterankonzil von 1179 verfügte eine vollständige Abson­ derung der Leprösen von der übrigen Bevölkerung, gestand ihnen aber immerhin eigene Kirchen, Kirchhöfe oder Friedhöfe zu. Dies belegt erneut die weitreichenden Geltungsansprüche des Kirchenrechts, denen allerdings eine äußerst wechselhafte Durchsetzung beschieden war. Vorübergehend erfolgte in Frankreich und im Westen des Reichs eine besondere Form der Ausgrenzung: Nach Feststellung der Erkrankung wurde das Totenamt über dem Aussätzigen verlesen, womit er binnen kurzer Frist aus der Gemeinschaft ausscheiden musste. Lepraverdächtige Personen hatten sich einer „Schau“ zu unterziehen, die beispielsweise in Köln zunächst drei sachkundige Lepröse durchführten. Diese gutachteten am hellen Tag, um Fehldiagnosen samt ihrer gravierenden Folgen möglichst zu vermeiden. Im 15. Jahrhundert ging die Diagnostik auf die medizinische Fakultät der dortigen Universität über; ob dies zu höherer Präzision führte, muss allerdings offenbleiben. Als der kastilische Edelmann Pero Tafur während seiner Europareise 1438/39 das Oberrheingebiet besuchte, fielen ihm die zahlreichen Aussätzigenhäuser in dieser Region auf, die er in solcher Häufung aus seiner Heimat wohl nicht kannte. Deshalb vermutete Tafur, dass übermäßiger Fischgenuss sowie zu wenig Wein und Essig die Krankheit auslösten.303 Die in einem Leprosorium wohnenden Kranken bildeten eine Art Bruderschaft. Sie mussten die jeweilige Leprosenordnung befolgen und wählten ihrerseits einen Leprosenmeister als Leiter der Einrichtung. Im Zuge der spätmittelalterlichen Kommunalisierung ging die Leitung dieser Häuser oder Spitäler überwiegend auf vom Rat eingesetzte, nicht aussätzige Pfleger über. Bereits im Frühmittelalter verfügten die Aussätzigen über das Bettelrecht, welches ihnen aber häufig nur geografisch und/oder zeitlich begrenzt zustand. Die Errichtung von Leprosenhäusern an den Hauptverkehrswegen erleichterte das Betteln, konnten die Kranken dort doch, wie zahlreiche Rech303 Karl Stehlin/Rudolf Thommes: Aus der Reisebeschreibung des Pero Tafur 1438 und 1439, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 25 (1926), S. 45–107, hier S. 55.

448

Der Schwarze Tod und andere Seuchen

nungseinträge belegen, in größerem Umfang Almosen von den Reisenden erlangen, die damit ihr Seelenheil förderten. Überhaupt trug das Almosenwesen erheblich zum Unterhalt dieser Anstalten bei. Nicht selten gelangten spätmittelalterliche Leprosenspitäler auch mittels Schenkungen und Stiftungen zu umfangreichen Besitztümern; den angeschlossenen Wirtschafts­ betrieb bauten sie oftmals deutlich aus. Daneben agierten sie wie andere Spitäler vielfach als Kreditgeber für die Bewohner der Städte und des Umlands. Im Spätmittelalter führte der Rückgang der Lepra zu Erleichterungen. So konnten die Erkrankten nun über ihren Besitz verfügen, wenngleich die Anstalten häufig die Fahrhabe verstorbener Insassen einbehielten. Grundsätzlich aber sollten die Erkrankten kennzeichnende Kleidung tragen oder mit Horn, Glocke oder Klapper akustisch warnen, um die befürchtete Ansteckungsgefahr zu reduzieren. Dazu finden sich Verbote, Schwangeren in die Augen zu schauen, da sonst der Fötus an Lepra hätte erkranken können. Zeitlich parallel zum Rückgang der Krankheit erfolgte vielfach die Umstellung zumindest von Teilen der Leprosenhäuser auf ein Pfründensystem für Nichtinfizierte, analog zu den sonstigen Spitälern. Die ausgesprochen lange Zeitspanne zwischen der Infektion und dem Ausbruch der Krankheit dürfte die Bereitschaft Gesunder, sich dort einzukaufen, vergrößert haben. Handelte es sich doch ohnehin überwiegend um ältere Menschen, die solche Pfründen als Vorsorge erwarben. Derart beherbergte das Kölner Leprosorium Melaten als größtes Sondersiechenhaus Deutschlands um 1300 etwa 100 Insassen, von denen es sich nur um etwa ein Viertel Lepröse handelte. Melaten besaß u. a. das Braurecht und eine stark frequentierte Schankwirtschaft, konnten doch in dem geistlichen Institut Wein und Bier ohne den sonst für Kölner Wirte fälligen Steueraufschlag und somit preiswerter verkauft werden. In Nürnberg erhielten die Kranken aus dem 1394 gestifteten Sondersiechenalmosen in der Karwoche Geld und Kleidung, außerdem wurden sie in diesen Tagen sechsmal gespeist. 1574 fand letztmals eine solche Essensausgabe statt, von der laut einer Chronik 2540 Kranke aus Stadt und Land profitierten, zu denen sich weitere 700 Bettler gesellten. Als Gründe für die Abschaffung der Speisung benannte die Quelle zwar die Furcht vor einer Verunreinigung der Luft durch die Erkrankten sowie sonstiges Ungemach, doch mischte sich nicht zuletzt die Befürchtung darunter, es könnten sich Feinde der Stadt unter die Leprösen mischen und für Unruhe oder Aufruhr sorgen. Geld und Tuche ließ die Stadt weiterhin verteilen, jedoch ab diesem Zeitpunkt vor ihren Mauern.304 304 Müllner: Annalen, II, S. 135–137.

449

Spätmittelalter

Dagegen trat im Spätmittelalter mit seinen erhöhten Niederschlägen und tieferen Temperaturen die Mutterkornvergiftung verstärkt auf, in den Quellen auch als Heiliges Feuer oder Antoniusfeuer bezeichnet. Ein vornehmlich auf Roggenähren schmarotzender Schlauchpilz löste die Vergiftung aus, der jedoch erst im Laufe des 18.  Jahrhunderts eindeutig als Ursache erkannt wurde. Besonders in Feuchtperioden ließ der Pilz die Körner schwarz werden, und schon ein minimaler Anteil des vergifteten und zu Mus verarbeiteten oder zu Brot verbackenen Korns führte zu einer Erkrankung. Vor allem in Hungerzeiten und unter den ärmeren Bevölkerungsschichten forderte der Ergotismus immer wieder Opfer, waren doch gerade diese auf den preiswerteren Roggen angewiesen. Brach die Erkrankung aus, litten zahlreiche Menschen unter Krämpfen, Halluzinationen und Gewebenekrosen, die tödlich enden konnten. Als einschneidende Katastrophe wurde schon von den Zeitgenossen der (Wieder-)Ausbruch der Pest 1347 wahrgenommen. Die letzte davor grassierende Pestepidemie, die sogenannte Justinianische Pest, war wahrscheinlich von 541/42 an bis 746/48 periodisch wiederkehrend als Beulenpest aufgetreten, doch ging das Wissen über diese Seuche in den folgenden Jahrhunderten zur Gänze verloren.305 Somit erschien die Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts als eine vollkommen neuartige Geißel, und nicht nur Kleriker konnten sich keinen anderen Grund für das Sterben als den einer Strafe Gottes vorstellen. Die bis heute geläufige Bezeichnung „Schwarzer Tod“ kam allerdings erst in dänischen und schwedischen Schriften des 16. Jahrhunderts auf, während zeitgenössisch von gros sterbotte oder magna mortalitas die Rede war, vom großen Sterben also. Die Begriffe pestis oder eben „Pest“ fanden dagegen allgemein für Seuchen Verwendung, was sich erst seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert mit präziseren Zuschreibungen der Krankheitsbezeichnungen zu ändern begann. Erstmals konnte der Pestbazillus dann 1894 isoliert und nachgewiesen werden. Bei den Hauptwirten des Pesterregers handelte es sich um kleine Nager, in erster Linie um Ratten, aber als Überträger kamen ebenso zahlreiche andere Tierarten infrage. Nach dem Verenden der zuerst befallenen Ratten sprangen die Flöhe von diesen auf die Menschen über. Allerdings fehlen in 305 Aus der zahlreichen Literatur können hier nur wenige Veröffentlichungen genannt werden. Klaus Bergdolt: Der Schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters, München 2 1994. Manfred Vasold: Die Pest. Ende eines Mythos, Stuttgart 2003. Mischa Meier (Hg.): Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005. Ole J. Benedictow: The Black Death 1346– 1353. The Complete History, Woodbridge 2004.

450

Der Schwarze Tod und andere Seuchen

der zeitgenössischen Chronistik erstaunlicherweise Hinweise auf ein massenhaftes Verenden von Ratten. Auch der Menschenfloh übertrug den Bazillus, sodass bei einer zunehmenden Infizierung der Bevölkerung ein Infektionsmechanismus von Mensch zu Mensch einsetzte, der die Mortalitätsziffer deutlich steigerte. Unklar bleibt, ob und wie viele Mutationen der Erreger seit 1347/52 durchlaufen hat, doch muss seine Virulenz zumindest bei diesem ersten Wiederauftreten deutlich über der späterer Jahrzehnte und Jahrhunderte gelegen haben. Viel spekuliert worden ist in der Literatur zudem darüber, ob weitere hochinfektiöse Krankheiten die Pest begleiteten, doch jüngere archäologische Forschungen verweisen eindeutig auf den Pest­erreger als Auslöser der Epidemie. Das zeitgenössische Wissen über Ursache, Wirkung und Therapie musste gering bleiben, denn nur die Erfahrungen des Alltags sprachen für eine hochinfektiöse Krankheit, welche sich rasend schnell verbreitete. Zur Beulen- oder Bubonenpest führte der klassische Ansteckungsweg über Flohbisse, und nach einer Inkubationszeit von zwei bis fünf Tagen traten Fieber, Erbrechen, toxische Erscheinungen, Milzvergrößerung sowie ein Kreislaufkollaps als Symptome auf. Gleichfalls nach wenigen Tagen schwollen die Lymphknoten an und es bildeten sich die namensgebenden Beulen. Jetzt begann die entscheidende Phase: Falls die Schwellungen aufplatzten, erhöhten sich die Chancen auf ein Überleben und ein vollständiges Gesunden deutlich. Überwanden die Erreger aber die Schwelle der Lymphknoten, war ein tödlicher Ausgang die Regel, denn in diesen Fällen folgte fast immer eine Pestsepsis oder die Entwicklung zur Lungenpest. Als hochgradig infektiös erwies sich die prinzipiell durch den gleichen Erreger übertragene Lungenpest, wobei die Ansteckungsweise den entscheidenden Unterschied bewirkte. Denn bei der Lungenpest handelte es sich um eine Tröpfcheninfektion, sodass schon der als Symptom auftretende Husten oder ein Niesen zur Weiterverbreitung führten. Nach einer Inkubationszeit von ein bis drei Tagen endete für den Erkrankten die Ansteckung mit der Lungenpest nach kurzer Zeit fast zu 100 Prozent tödlich. So berichtete Giovanni di Boccaccio, dessen Decamerone den Hintergrund der Pest widerspiegelt, von jungen und gesunden Menschen, die sich morgens noch des Lebens erfreuten, doch bereits am Abend des folgenden Tages mit ihren Vorfahren in einer anderen Welt tafelten; doch auch Boccaccio folgte antiken Vorbildern. Seinen Ausgang nahm der verheerende Seuchenzug in den trockenen Hochebenen Zentralasiens, durch welche die Seidenstraße führte. Hier war die Pest enzootisch unter den Murmeltieren vertreten. Entlang der Seiden451

Spätmittelalter

straße gelangte die Pest kurz nach 1340 an den Unterlauf der Wolga in das mongolische Khanat der Goldenen Horde mit der Hauptresidenz Sarai. Allmählich begannen erste Gerüchte über eine unheimliche, furchterregende Erkrankung im fernen Asien Europa zu verunsichern. In dem auf der Krim gelegenen Schwarzmeerhafen Caffa (Feodosa), wo die Genuesen seit 1266 einen bedeutenden (Handels-)Stützpunkt unterhielten, kamen die Europäer dann erstmals mit der Pest in Berührung. Denn in den Jahren 1345 und 1346 belagerte ein tatarisches Heer zum zweiten Mal die Stadt, und in diesem Heer brach 1346 die Seuche aus. Nun aber, so der singulär dastehende und nicht unumstrittene Bericht Gabriele de Mussis, eines jungen Notars aus Piacenza, dem die Flucht aus Caffa gelang, änderten die Tataren ihre Taktik: „Als die Tataren, von Kampf und Pestseuche geschwächt, bestürzt und in jeder Hinsicht verblüfft zur Kenntnis nehmen mussten, daß ihre Zahl immer kleiner wurde und erkannten, daß sie ohne Hoffnung auf Rettung sterben mussten, banden sie die Leichen auf Wurfmaschinen und ließen sie in die Stadt Caffa hineinkapitulieren, damit [dort] alle an dem unerträglichen Gestank zugrundegehen sollten. Man sah, wie sich die Leichen, die dort hineingeworfen waren, zu Bergen türmten. Die Christen konnten sie weder beiseiteschaffen noch vor ihnen fliehen, und sich nur dadurch vor den herabstürzenden [Leichnamen] retten, daß sie diese, soweit es möglich war, in den Fluten des Meeres versenkten. Bald war die ganze Luft verseucht und [ebenso] das Wasser durch üble Fäulnis vergiftet.“306

Was uns als eine Frühform biologischer Kriegsführung erscheinen mag, erklärte der Chronist für ihn naheliegend mit der Miasmatheorie. Jedenfalls gelangte die Seuche auf den Schiffen der Fliehenden in das Handelsnetz der Genuesen mit seinen weiten Verzweigungen. Im östlichen Mittelmeerraum verheerte die Seuche noch 1347 Konstantinopel, Zypern, Kairo und Alexandria, im Westen brachten die genuesischen Galeeren ihre tödliche Fracht zunächst nach Messina; noch im gleichen Jahr folgten Reggio Calabria, Sardinien, Korsika, Elba und Genua selbst im späten Dezember. Schon bei den ersten Ausbrüchen 1347/48 zeigte sich das typische Verbreitungsmuster: Außer von einer verseuchten Hafenstadt zum nächsten Hafen gelangte die Pest auch in die jeweils nahe gelegenen Kommunen, worauf eine Pause folgte, bevor das jeweilige Hinterland verheert wurde, um dann auf weitere Städte überzugreifen. 1348 erlagen u. a. in Pisa, Venedig, Florenz, 306 Klaus Bergdolt: Die Pest 1348 in Italien. Fünfzig zeitgenössische Quellen, Heidelberg 1989, S. 20 f.

452

Der Schwarze Tod und andere Seuchen

Bologna, Neapel, Marseille und Barcelona zahllose Opfer der Pest. Gleichfalls auf dem Seeweg erreichte die Epidemie auch Bordeaux sowie Bayonne und aus diesen unter englischer Herrschaft stehenden Städten trugen Schiffe die Seuche weiter auf die Insel, wo sie in England und Schottland wütete. Für das Vordringen nach Calais, Bergen, Oslo, Köln, Kopenhagen, Hamburg, Lübeck, Nowgorod und weiteren Städten gaben hansische Handelswege die Route vor. Im Binnenland folgte die Seuche ebenfalls vornehmlich den Handelswegen, gelangte um und über die Alpen in den Süden des Reichs. Bis 1352 erreichte die Seuche schließlich Moskau und Kiew, bevor sie für wenige Jahre wieder erlosch. Bisher konnte keine Erklärung dafür gefunden werden, warum unter den größeren und großen Städten Würzburg, Nürnberg und Prag ebenso verschont blieben wie weite Teile Böhmens, Schwabens oder die Küstenregionen der Niederlande. Diese Gebiete fielen dann überwiegend der nächsten Pestwelle mit aller Härte anheim, welche ein Teil der Chronisten ansonsten als „Kinderpest“ bezeichnete, da sie vornehmlich Kinder als Opfer forderte. Bei den überlebenden Erwachsenen hatte sich eventuell eine zeitlich befristete Immunität gebildet. Die Erklärungsansätze gipfelten vorerst in dem Pesthauchmodell des umbrischen Arztes Gentile da Foligno, der selbst 1348 der Seuche erlag. Das Modell verband humoralpathologische Aspekte mit solchen der Miasmatheorie sowie astronomischen Überlegungen: Denn nach dieser Vorstellung waren als Folge einer ungünstigen Konstellation der Planten Mars, Jupiter und Saturn am 20. März 1345 krank machende Ausdünstungen von Meer und Land in die Luft geströmt, bevor sie anschließend als verdorbene Winde die Erde wieder erreichten. Atmeten nun Menschen diesen Pesthauch ein, sammelten sich giftige Dämpfe in Herz und Lunge, wo sie sich zu einer Giftmasse verdichteten, welche die Organe befiel. Die von den Angesteckten ausgeatmete Luft konnte weitere Menschen infizieren. Eine Therapie musste daher auf die Stärkung des Herzens und der Hauptorgane sowie die Beseitigung der giftigen Fäulnis zielen. Das im Auftrag des französischen Königs Philipp VI. von den medizinischen Autoritäten der Universität und der Stadt Paris erstellte Pestgutachten des Spätsommers 1348 übernahm weitgehend die Annahmen des umbrischen Mediziners. Als wirksamsten Schutz empfahl das Gutachten wie noch zahlreiche weitere in den nächsten Jahrhunderten die Flucht und folgte damit einem bereits von Galen geäußerten Vorschlag. Doch häufig genug war das Umland nur kurze Zeit später ebenfalls infiziert, verbreiteten doch die bereits Erkrankten auf ihrer Flucht die Seuche in die Dörfer. 453

Spätmittelalter

Es muss ausdrücklich betont werden, dass die spätmittelalterlichen Mediziner weder die Ursachen noch die Verbreitungswege der Pest kennen konnten. Dennoch ergriffen bereits 1348 die Venezianer konkrete Maßnahmen, indem sie binnen kurzer Zeit Massenbestattungen einführten; hier könnten Erfahrungen mit anderen Epidemien als Vorbild gewirkt haben. Eine Quarantäne für Personen, welche von außerhalb der Mauern die Stadt zu betreten beabsichtigten, ist für Reggio d’Emilia 1374 und für Ragusa (Dubrovnik) 1377 belegt. Daneben begegnen früh die Isolierung Erkrankter sowie eine Meldepflicht beim Auftreten erster Symptome. Samuel Pepys erwarb dagegen noch während der Pest 1665, nachdem er in London an unter Quarantäne stehenden Häusern vorbeigegangen war und sich bei deren Anblick ausgesprochen unwohl gefühlt hatte, als Gegenmittel Rolltabak zum Riechen und Kauen, der seinen Zustand nach eigener Aussage besserte.307 Ansonsten galten größere Menschenansammlungen bei Epidemien als prinzipiell gefährlich, konnte doch in diesen Fällen die schlechte Luft eine Vielzahl von Menschen zugleich infizieren. Dies erklärt zudem die ambivalente Haltung der weltlichen Obrigkeiten gegenüber Bittprozessionen in Seuchenzeiten. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert galt eine Krankheitsübertragung durch den Schweiß Erkrankter als möglich, falls dieser auf die Haut einer anderen Person gelangte, wodurch in zeitgenössischer Vorstellung eine Kontamination über die Hautporen erfolgen konnte. In welchem Ausmaß sich Städte untereinander oder mit den Territorialherren über Seuchenausbrüche und eingeleitete Gegenmaßnahmen austauschten, ist umstritten. Nürnberg soll sich mit seinen Pestordnungen an oberitalienischen Vorbildern orientiert haben, während Augsburg einen Bezugspunkt beispielsweise für Nördlingen bildete. Im Laufe der Frühen Neuzeit nahmen Bestimmungen zu, welche den Verkehr mit Bewohnern infizierter Gebiete unterbinden sollten. Doch richten sich derartige Sperren zumeist gegen Dörfer oder kleinere Städte, da ansonsten der Handel und damit auch die Produktion massiv hätten gestört werden können. Dies spricht zudem für eine nachlassende Virulenz der Seuche. Genaue Opferzahlen können weder in absoluten Zahlen noch als relative Größen rekonstruiert werden. Bis in die erste Hälfte des 15.  Jahrhunderts hinein, in welcher Zeit die Einwohnerschätzungen präziser werden, verringerte sich die Bevölkerungszahl durch weitere Pestausbrüche, andere Krankheiten und Hungersnöte noch weiter. Bei den von den Zeitgenossen genann307 Samuel Pepys: Die Tagebücher, Bd. 6: Iovrnal 1665, dt. Berlin 2010, S. 147.

454

Der Schwarze Tod und andere Seuchen

ten Zahlen gilt die übliche Vorsicht, denn auch eine möglichst hohe Zahl an Toten steigerte die Bedeutung der jeweiligen Stadt, ließ die furchtbaren Folgen des Seuchenzugs nochmals größer erscheinen. So weiß die Lübecker Chronistik zu berichten, dass von jeweils 1 000 Einwohnern keine zehn überlebt hätten, spricht von 1 500 Toten täglich oder 40 000 insgesamt. In Konstanz sollen 12 000 Opfer gezählt worden sein und damit wie in Lübeck mehr, als jemals gleichzeitig in der spätmittelalterlichen Stadt gelebt haben. Der Straßburger Priester und Chronist Fritsche Closener, welcher die ­seinerzeitige Überlieferung mit eigenem Erleben verband, fasste die Geschehnisse in seinem 1362 vollendeten Werk zusammen: „Als man das 1349. Jahr zählte, als die zuvor beschriebenen Geisler nach Straßburg kamen, da kam auch ein gemeiner Schelm und ein Sterben unter die Leute, dass sich niemand selbst an ein solches erinnerte noch von den Vorgängern wusste, dass ein so großes Sterben jemals da war. … Das Sterben war so groß, dass es gewöhnlich an allen Tagen in jeglichem Kirchspiel 7 oder 8 oder 9 oder 10 oder noch mehr waren, ohne die, die man bei den Klöstern begrub und ohne die, die man in die Spitäler trug: der waren so unzählbar viele, dass man die Spitalgrube, die sich bei der Kirche befand, in einem weiten Garten neu anlegen musste, weil die alte Grube zu eng und zu klein war. Und die Leute, die starben, die starben alle an Beulen und an Drüsen, die sich erhoben unter den Armen und oben an den Beinen, und wen die Beulen befielen, die dann sterben sollten, die starben an dem vierten Tag oder an dem dritten oder an dem zweiten. Etliche starben auch am ersten Tag. Dies erbte auch einer von dem anderen: denn in welches Haus das Sterben kam, da hörte es selten mit einem auf.“308

Angesichts des massenhaften Sterbens, so der Chronist weiter, sei an Begräbnisse, wie sie zuvor üblich waren, nicht mehr zu denken gewesen. Die Zahl der Toten gab er mit 16 000 an, doch nach seiner Ansicht verlief die Seuche in Straßburg weniger schlimm als in anderen Städten und forderte vergleichsweise weniger Opfer. Closener betonte, dass Erkrankte auch wieder gesund geworden seien. Die oberitalienischen Chronisten schrieben von Tausenden und Abertausenden von Toten, und die Literatur nennt gelegentlich 40 bis 60 Prozent oder noch höhere Werte an der Pest Verstorbener für die dortigen Städte. Hochrechnungen von Medizinern auf der Basis von Pestausbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts lassen hingegen auf eine Quote von höchsten fünf 308 Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Bd. 8 (Die Chroniken der oberrheinischen Städte: Straßburg, 1), Leipzig 1870, ND Göttingen 1961, S. 120 f. [Übertragung B. F.].

455

Spätmittelalter

Prozent Toten schließen, die nun aber keineswegs mit den Untersuchungen der Historiker und noch weniger mit den zeitgenössischen Berichten in Übereinstimmung zu bringen ist. In ihrer Grundtendenz geht die Forschung heute davon aus, dass etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung der Großen Pest 1347/52 erlag, wobei die Verluste in den Städten relativ höher gelegen haben dürften als auf dem Land. Zum Vergleich sei der Zweite Weltkrieg angeführt, der etwa fünf Prozent der europäischen Bevölkerung das Leben kostete. Grundsätzlich ist zu betonen, dass der gerade in der älteren Literatur häufig beschriebene Zusammenbruch des gesellschaftlichen Lebens und der politischen Ordnung sich kaum tatsächlich nachweisen lässt, obwohl sich die Ohnmacht sowohl der weltlichen Obrigkeit als auch der Kirche gegenüber der Seuche offenbarte. Überwiegend Kleriker berichteten toposhaft angesichts des nahenden Todes von einem Hang zu Luxus und Ausschweifungen unmittelbar vor oder auch nach der Pest, der durchaus verständlich wäre. In ihrem Fall diente er aber wohl eher dazu, die Sündhaftigkeit der Menschen für die Strafe Gottes verantwortlich zu machen. Eindeutig in Zusammenhang mit der Pest stehen dagegen das verstärkte Aufkommen des Totentanzmotivs in der Kunst sowie die vor allem im 15. Jahrhundert wachsende Bedeutung der Schutzpatrone Rochus und Sebastian. Die immensen Bevölkerungsverluste brachten die wohl größte Vermögensumschichtung in derart kurzer Zeit mit sich, wechselten doch allerorten große und kleine Erbschaften den Besitzer. Obwohl die Oberschicht sich tendenziell als weniger betroffen erwies und am ehesten über die Möglichkeit zur Flucht verfügte, sind auch hier Umwälzungen zu verzeichnen, da dennoch zahlreiche Geschlechter ausstarben. In den nächsten Jahrzehnten schloss der Zuzug vom Land zwar manche Lücke, doch erreichten viele Städte ihre ehemaligen Bevölkerungszahlen erst wieder im 16. Jahrhundert. Die in den Folgejahren vielfach erlassenen Lohnobergrenzen verweisen auf eine hohe Nachfrage nach Produkten und Tätigkeiten von qualifizierten Handwerkern, Gesellen und Hilfskräften, deren Zahl gleichfalls deutlich gesunken war. Da die Pest das Land ebenfalls verheert hatte und dort zudem eine Landflucht einsetzte, stand der verminderten städtischen Getreidenachfrage ein gleichfalls gesunkenes Angebot gegenüber. Wenn es in der Folge zu krisenhaften Symptomen kam, handelte es sich wohl nur um zeitlich begrenzte Anpassungskrisen. Allerdings gilt es zu bedenken, dass angesichts überwiegend kleinräumiger Märkte, der großen regionalen Differenzen und der verschiedenen obrigkeitlichen Regulierungen von Handel und Produktion, besonders in Teilen des Lebensmittelsektors, moderne 456

Der Schwarze Tod und andere Seuchen

makroökonomische Interpretationsansätze nur von begrenzter Reichweite sind; allerdings sieht es gerade bei Verwendung von rein neoklassischen Modellen zur Erklärung heutiger Entwicklungen kaum besser aus.309 Aus Lohnobergrenzen, einem Anstieg der Löhne und einem befristeten Sinken der Getreidepreise aber ein goldenes Zeitalter der Lohnarbeit abzuleiten, schießt bei ohnehin dünner Überlieferung und problematischer Berechnungsgrundlage weit über das Ziel hinaus, denn zu prekär blieb die Lebenssituation für weite Teile der Einwohnerschaft. Verstärkt erst in der Frühen Neuzeit bedrohten drei weitere Krankheiten die Bewohner nicht nur des Reichsgebiets: Fleckfieber, Syphilis und englischer Schweiß. Das im Vergleich zur Pest oder zur Syphilis nur wenig spektakuläre Fleckfieber lässt sich seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in Europa nachweisen und wurde von den Zeitgenossen als eine neue Krankheitsform angesehen. Dass die Kleiderlaus das Fleckfieber, auch als Flecktyphus bezeichnet, überträgt, konnte erst 1909 eindeutig nachgewiesen werden. Begünstigend wirkten sich bei der Verbreitung gerade in den überproportional betroffenen Unterschichten selbstverständlich Not, Schmutz und ein enges Zusammenleben aus. Nach einer Inkubationszeit von eineinhalb bis zwei Wochen erfolgte ein rascher Fieberanstieg, verbunden mit bohrenden Kopfschmerzen, Schüttelfrost, einer körperlichen Aufgedunsenheit und einer Rötung des Gesichts, dazu traten Hautausschläge in Form der namensgebenden Flecken sowie eine Bindehautentzündung. In der dritten Krankheitswoche folgte entweder ein tödlicher Herzkollaps oder die rasche Genesung, wobei die Letalität – Schätzungen deuten auf eine Sterblichkeitsrate von etwa 20 Prozent der Erkrankten hin – mit zunehmendem Alter deutlich anwuchs. In jedem Fall handelte es sich bei dem Fleckfieber vom Beginn des 16.  Jahrhunderts bis zu den napoleonischen Kriegen um die schlimmste und todbringendste Seuche in Europa. Ebenfalls schon am Ende des 15. Jahrhunderts trat die Syphilis in Europa erstmals epidemisch auf. Ob sie tatsächlich erst nach Entdeckung der Westindischen Inseln von den Mannen des Kolumbus nach Europa eingeschleppt wurde oder hier schon seit langer Zeit heimisch war, ist umstritten und wohl kaum noch zu klären. Vielleicht verlief die Erkrankung nach 1492 auch in einer neuen und nunmehr wesentlich aggressiveren Form. Zwischen 1494 und 1496 verbreitete sie sich jedenfalls in kurzer Zeitspanne in fast ganz Europa. Im Mitteleuropa bezeichneten sie die Mediziner als 309 Hans-Jörg Gilomen: Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, München 2014, S. 97.

457

Spätmittelalter

­ orbus gallicus, „Franzosen“ oder „Franzosenkrankheit“, da sie sich von m Westeuropa her ausbreitete. Die Franzosen hingegen nannten sie in moderner deutscher Übersetzung „spanische Pocken“ oder auch „neapolitanische Krankheit“. Ein Militärchirurg des venezianischen Heeres lieferte während der Belagerung Novaras 1495 eine erste exakte Beschreibung des Krankheitsverlaufs: Das Gesicht, der ganze Rumpf und die Genitalien waren rasch mit Pusteln übersät, es bildeten sich Geschwüre, die Gliedmaßen schmerzten, und die Pusteln blieben wie bei der Lepra ein Jahr oder länger erhalten. Besonders die Entzündungen von Nase, Mund und Hals gaben den Kranken ein furchterregendes Aussehen. Ein anderer Mediziner hielt knapp 40  Jahre später fest, dass die Geschwüre sich bis zu den Knochen in den Körper hineinfraßen und hühnereigroße Wunden verursachten. Für zahlreiche Erkrankte verlief die Krankheit tödlich; wer sie überstand, hatte noch jahrelang mit den Folgen zu kämpfen. Jener zweite Arzt stellte aber auch fest, dass die Virulenz der Krankheit bis 1530 bereits deutlich nachgelassen hatte. Diese wie andere Aussagen sprechen für eine Ansteckung in Form einer Tröpfcheninfektion in den ersten Jahrzehnten des Auftretens der Syphilis, die erst dann zu einer Geschlechtskrankheit mutierte. Ulrich von Hutten beschrieb im Jahr 1519 die qualvollen Leiden während der seinerzeit häufig zur Therapie eingesetzten Quecksilberkuren, von denen er elf während neun Jahren durchleiden musste. Auch dieser Humanist folgte den humoralpathologischen Vorstellungen seiner Zeit. Die Ärzte rieben nach seinen Schilderungen die Kranken zunächst mit einer quecksilberhaltigen Salbe ein und deckten sie zu. Anschließend folgte ein langes Martyrium: „Der Kranke wurde in ein anhaltend überhitztes Zimmer eingesperrt, sei es für zwanzig oder gar für dreißig Tage, manchmal auch länger. Man rieb ihn ein, legte ihn auf das im Zimmer befindliche Bett und zwang ihn durch viele aufgepackte Decken zum Schwitzen. Schon nach der zweiten Einreibung begann der Kranke sehr erschöpft zu sein, so gewaltig war die Wirkkraft der Einreibung, daß sie das Krankheitsgift von der Körperoberfläche in den Magen trieb und von dort wiederum ins Gehirn, wo es durch Hals und Mund herausfloß mit solcher Gewalt, daß die Zähne ausfielen, wenn man den Mund nicht sorgfältig pflegte. Bei allen aber kam es zu Geschwüren im Rachen, auf der Zunge und dem Gaumen, zur Schwellung des Zahnfleischs und zur Lockerung der Zähne. Speichel floß ununterbrochen aus dem Mund, daß allen, die ihn rochen, sofort übel wurde … Es stank überall im Kranken­ zimmer, und diese Behandlungsart war so grausam, daß viele Kranke lieber

458

Der Schwarze Tod und andere Seuchen

s­terben wollten, als sich einer solchen Kur zu unterziehen. Dabei wurde kaum einer von hundert gesund, die meisten bekamen schlimme Rückfälle, so daß diese Behandlung ihnen kaum ein paar Tage half. Obwohl der Patient an unstillbarem Durst litt, fand sich trotzdem kein Getränk, das seinem Magen zugesagt hätte. Viele wurden vom Schwindel, einige vom Wahnsinn betroffen. Durch die Krankheit zitterten nicht nur die Hände, sondern auch die Füße oder der ganze Körper, dazu kam ein Stottern, ein Zungenzittern, das nicht zu heilen war. Viele habe ich mitten in der Kur sterben sehen, und ich kannte einen solchen Salbenschmierer, der drei Bauern an einem Tag elend umbrachte, indem er sie einem viel zu heißen Dampfbad einschloß. Bei anderen sah ich die Kehle bis zum Rachen zuschwellen, so daß der Eiter, der durch den Speichel herausfließen sollte, keinen Ausweg mehr fand; sie bekamen schließlich keine Luft mehr und erstickten. Wieder andere starben an Harnverhaltung. Die allerwenigsten wurden gesund, und selbst wenn, unter was für Gefahren, Qualen und Leiden geschah das.“310

Selbst Salpetersäure diente als Arznei, und deren verheerende Wirkung ist leicht vorstellbar. Als Wundermittel empfahl dagegen nicht nur der Humanist das brasilianische, stark harzhaltige Guajakholz, auch Pockenholz genannt, aus dem ein Sud zubereitet wurde, den die Kranken dreimal täglich trinken mussten. An dem Handel mit dem begehrten Holz beteiligten sich die Fugger rasch. Doch selbst bei dieser im Vergleich zu den vorherigen ungefährlichen Behandlungsmethode mussten die Patienten in den ersten Tagen starke Schmerzen ertragen. Allerdings kritisierte schon Paracelsus das Guajakholz als weitgehend unwirksam, und Hutten sollte vier Jahre später den Folgen der Syphilis erliegen. Abschließend seien noch einige Worte dem englischen Schweiß gewidmet, studor anglicus, einer damals wie heute geheimnisumwitterten Krankheit. Sie äußerte sich zunächst mit Herzschmerzen und Herzklopfen, begleitet von heftigen Kopfschmerzen bis hin zur Ohnmacht, bisweilen sogar einem Delirium. Das auffälligste Merkmal aber bildete der starke, übel riechende Schweiß, der bald nach dem Einsetzen des Fiebers ausbrach. Viele Erkrankte starben innerhalb kürzester Zeit, oftmals während eines Tages oder gar binnen weniger Stunden. Der englische Schweiß wütete wohl erstmals 1485 in England – und zwar am Ende der Rosenkriege, des Kampfes

310 Ulrich Hutten: Die Schule des Tyrannen. Lateinische Schriften, hg. v. Martin Treu, ND Darmstadt 1997, S. 215–217.

459

Spätmittelalter

um den Königsthron – im Heer König Heinrichs VII. In England soll die Erkrankung mit einer ungeheuren Letalität einhergegangen sein, überliefert sind Werte von 80 bis 90 Prozent Verstorbener in kleineren Orten. Auch die folgenden Ausbrüche von 1507 und 1518 blieben auf die Insel beschränkt. Die Zeitgenossen glaubten daher zunächst, die Krankheit raffe nur die Inselbewohner dahin, was ihren Namen erklärt. 1528 brach die Seuche in London erneut mit gewohnter Heftigkeit aus, erreichte im nächsten Jahr aber Hamburg sowie einige Ostseestädte und verbreitete sich von dort aus weiter nach Süden. Schließlich wütete sie wahrscheinlich sogar im türkischen Belagerungsheer vor Wien und soll zu dessen Rückzug geführt haben. Die letzte Epidemie des Jahres 1551 blieb wieder auf England beschränkt, und anschließend sollte die hochgradig todbringende Krankheit spurlos verschwinden.

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft Die öffentlichen Finanzen lassen sich in die Bereiche Reichs-, Territorialund Stadthaushalte untergliedern, wobei die Gelder zumeist, wenn auch nicht durchgängig, in Richtung übergeordneter Instanzen flossen. Von den drei Bereichen sind die Kommunalfinanzen am besten untersucht, wenngleich noch lange nicht in hinreichendem Umfang.

Städte Schon aufgrund von Steuer- und sonstigen Abgabenforderungen der Stadtherren, aber auch mit Übernahme erster öffentlicher Aufgaben und deren folgendem Anwachsen im Prozess der Kommunebildung, mit Herausbildung einer zunächst noch einfach strukturierten, sich dann aber ausdifferenzierenden Verwaltung sowie mit dem Fortschreiten der inneren Urbanisierung und weiterer Anforderungen stellte sich für die Städte die Frage nach den Finanzierungsmöglichkeiten. In einem keinesfalls geradlinig verlaufenden Prozess gewannen Steuern in unterschiedlicher Ausgestaltung und Höhe eine entscheidende Bedeutung, bildeten sie doch eine tragende Säule der kommunalen Haushalte. Bereits das Fragment einer Reichssteuerliste des Jahres 1241, welche noch unter den Reichsfinanzen zu erörtern sein wird, setzte einschlägige Institutionen, seien sie noch so rudimentär ent­ wickelt gewesen, sowie entsprechende Befugnisse des königlichen Vertre460

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

ters oder vielmehr der kommunalen Organe zur Steuererhebung in den im Verzeichnis genannten Städten und Dörfern voraus. Allerdings können wir diese frühen Gremien nicht näher bestimmen; selbst die Ratsbildung war zu diesem Zeitpunkt längst noch nicht überall abgeschlossen. Da der Herrscher aber bereits Pauschalsummen von den Kommunen einforderte und es sich dabei offenkundig um ein schon tradiertes Vorgehen handelte, dessen Ursprünge sich wieder einmal im Dunkel der Nichtüberlieferung verlieren, müssen entsprechende Organe existiert haben. Ebenso benannte bereits 1219 das Privileg zugunsten Nürnbergs die Gesamtheit der Nürnberger Einwohnerschaft als Steuerschuldner, die ihrerseits die Forderungen des Reichsoberhaupts auf die einzelnen Bewohner umlegte. Von einer Mitwirkung des Schultheißen als Vertreter des Stadtherrn ist in diesem Fall nicht die Rede. Allerdings ist die Überlieferung für weitreichende Schlüsse wieder einmal zu dünn. Als primäres Ziel der städtischen Finanzverwaltung ist die Beschaffung von Geldern zur Deckung des öffentlichen Bedarfs anzusehen. Eine der­ artige Dominanz der Ausgaben über die Einnahmen lässt sich als ein Grundkennzeichen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Haushalte einschätzen; allerdings gilt dies trotz grundlegender Strukturwandlungen und gegenteiliger Beteuerungen seitens der heutigen Politiker vielfach noch für die Gegenwart. Neben Steuern können Zölle, Gebühren und Liegenschaftsabgaben als frühzeitig erschlossene Einnahmequellen angeführt werden, während indirekte Steuern, oftmals als Ungeld oder Akzise bezeichnet, wahrscheinlich auf dem älteren stadtherrlichen Zollrecht beruhten. Verleihungen indirekter Steuern an die Städte erfolgten in deren Frühphase vielfach in Verbindung mit dem kostenintensiven Bau steinerner Mauern. Der Mainzer Reichslandfriede des Jahres 1235 setzte indirekt voraus, dass die jeweiligen kommunalen Gremien bei den Stadtbewohnern ein Ungeld für den Befestigungsbau erhoben. Doch konnten die Kommunen diese in den Anfängen oft zweckgebundenen Steuern vergleichsweise rasch von derartigen Beschränkungen lösen, sodass sie sich zu vielfach verwendbaren Einnahmeposten entwickelten. Freilich lassen sich, wie für Lübeck konstatiert wurde, in dieser frühen Zeit kommunale und stadtherrliche Einkünfte nicht immer mit der gewünschten Schärfe trennen. Erst mit dem Übergang zu einer pauschalisierten Abgabe bei gleichzeitiger Einnahmehoheit der Stadt – eine förmliche Rechtsübertragung ist nicht überliefert – wird hier die Situation eindeutiger. Angenommen wird die Erhebung einer direkten Steuer (Schoss) in der Travestadt bereits für das 12. Jahrhun461

Spätmittelalter

dert, doch wird ihr noch für das 13. Jahrhundert keine größere finanzielle Bedeutung zugeschrieben.311 Für das 13.  Jahrhundert bleibt die Überlieferung zu den Kommunalfinanzen noch ausgesprochen dünn, Hinweise auf die Steuererhebung als ein wichtiges Finanzierungsinstrument finden sich in erster Linie in einzelnen Urkunden. So gestattete beispielsweise König Otto IV. 1212 den Kölnern, einen Mahl- und Braupfennig zugunsten des Befestigungsvorhabens einzuziehen. Im Jahr 1262 erfolgte dann eine Aufteilung von Gefällen und Akzisen zwischen der Stadt und dem Erzbischof, während König Rudolf von Habsburg 1274 das überkommene Recht der Stadt bestätigte, von den Waren der weltlichen Bewohner eine Akzise zu erheben. Für München ist das Recht der allgemeinen Besteuerung erstmals für 1265 erwähnt, während das Ungeld bis 1393 eine ausschließlich landesherrliche Steuer blieb. Ein Weinungeld ist in Speyer für 1262 belegt, doch bereits im Vorjahr hatte der Rat das Neue Spital von etlichen Abgaben befreit, speziell von dem im Urkundentext nicht spezifizierten Ungeld, was wiederum auf ältere Ursprünge verweist.312 Allerdings handelt es sich stets nur um Schlaglichter, die uns punktuell Einblicke gewähren. Für zahlreiche Reichsstädte lässt sich seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert von einer Steuerautonomie sprechen, die gekennzeichnet ist durch die Erhebung einer eigenen, teilweise mit einer Kopf- oder Herdsteuer gekoppelten Vermögenssteuer, den Erwerb des Rechts zur Einziehung indirekter Steuern, eine eigenständige Finanzverwaltung durch den Rat oder bestimmte Funktionsträger wie Kämmerer sowie die Durchsetzung des Besteuerungsrechts gegenüber sämtlichen städtischen Einwohnern und Schutzbefohlenen. In den Territorialstädten blieben hingegen vielfach Mischformen der Steuererhebung bestehen oder wurden wieder eingeführt, das heißt, dass sich die Stadtherren in unterschiedlicher Intensität an der Steuererhebung beteiligten und neben einer pauschalierten Stadtsteuer häufig an den Ungeldern partizipierten. In Niederdeutschland erreichten etliche Städte wie Lüneburg einen den Reichsstädten vergleichbaren Status, konnten ebenso wie diese nicht nur ihr Finanzwesen selbstständig ausgestalten. Ihre Begrün311 Ernst Pitz: Schrift- und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter. Köln – Nürnberg – Lübeck. Beitrag zu einer vergleichenden Städteforschung und zur spätmittelalterlichen Aktenkunde (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, 45), Köln 1959, S. 334–342, 395–400. 312 Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 2, hg. v. Leonard Ennen/Gottfried Eckertz, Köln 1863, ND Aalen 1970, S. 41 f., 453–455; Bd. 3, hg. v. Leonhard Ennen, Köln 1867, ND Aalen 1970, S. 59. Solleder: München, S. 191, 197, 219. Urkunden zur Geschichte der Stadt Speyer, gesammelt u. hg. v. Alfred Hilgard, Strassburg 1885, Nr. 98, 102.

462

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

dung fand die Steuerpflicht der Bürger sowie später der gesamten Einwohnerschaft in der im Bürgereid verankerten Pflicht des Mitleidens, also des gemeinsamen Schulterns der kommunalen Aufgaben und Verpflichtungen. Im Gegenzug verfügten die Bürger beispielsweise über eine Teilhabe an den städtischen Freiheiten, an der kommunalen Infrastruktur oder am Schutz durch die Stadt. Bereits früh betonten die einschlägigen Schriftstücke oder Urkunden die Erfordernis der Steuergerechtigkeit, über deren konkrete Ausgestaltung die Meinungen freilich weit auseinandergingen. Zeitgenössisch wird etwa in Augsburg 1291 verlangt, dass die Steuer so eingezogen werden solle, „daz dem armen und dem richen reht gesche“. Zudem sollte die Verwendung der Steuern und weiteren Einnahmen grundsätzlich dem Gemeinen Nutzen mit seinen erheblichen Interpretationsspielräumen als einer zentralen Leitkategorie des Spätmittelalters dienen.313 Ursprünglich dürften die direkten Steuern in vielen Städten nicht regelmäßig erhoben worden sein, doch verdichteten sich während des Spätmittelalters die Abstände bis hin zu einer jährlichen Einziehung. Die Kopfsteuer hatten alle Haushaltsvorstände zu entrichten, während die Vermögenssteuer erst ab einer bestimmten Vermögenshöhe griff; als Grenzwerte begegnen uns in Oberdeutschland seit dem ausgehenden 14.  Jahrhundert oftmals 50 oder 100 rheinische Gulden. Allerdings unterlagen mobile und immobile Vermögen nicht selten unterschiedlichen Steuersätzen, Kapitalerträge sowie Renten wurden zu Steuerzwecken zunächst mit einem von Stadt zu Stadt verschiedenen Faktor multipliziert und anschließend dem Vermögen zugeschlagen. Da die meisten Steuerbücher aber nur die insgesamt zu entrichtende Steuersumme verzeichneten, kann daraus nicht immer auf die absolute Vermögenshöhe geschlossen werden. Ebenso belegen steigende Gesamtsteuereinnahmen keinesfalls zwingend Vermögenszuwächse in der betreffenden Stadt, sondern konnten ebenso gut die Folge einer rigoroser gehandhabten Erhebung oder eines höheren Steuersatzes darstellen. Der kommunalen Steuerpflicht unterlagen selbstverständlich auch Nutzungsrechte oder Liegenschaften, die sich im Besitz Auswärtiger befanden. Die 313 Maschke: Unterschichten, S. 312. In Marburg findet sich 1414 ein ähnlicher Satz: „als glych unde redlich ist dem armen alse dem richen“; Friedrich Küch: Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg, Erster Band (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, 13, 1; Quellen zur Rechtsgeschichte der hessischen Städte, 1), Marburg 1918, Nr. 80, Art. 2. Wolfgang Hartung: Armut und Fürsorge: Eine Herausforderung der Stadtgesellschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, in: Oberdeutsche Städte im Vergleich. Mittelalter und frühe Neuzeit, hg. v. Joachim Jahn/Wolfgang Hartung/Immo Eberl (Regio. Forschungen zur schwäbischen Regionalgeschichte, 2), Sigmaringendorf 1989, S. 158–181, hier S. 169. Isenmann: Notion.

463

Spätmittelalter

Steuersätze muten uns heute gering an, betrugen sie doch zumeist deutlich weniger als ein Prozent des Vermögens, nicht selten ein halbes, ein drittel oder viertel Prozent; allerdings konnten sie in Krisenzeiten steigen. Fast immer galt der Steuerfuß linear für das gesamte Vermögen, doch nahmen die Steuerherren bei kleinen Vermögen gelegentlich Abstriche an der Forderung vor. In umgekehrter Richtung bildete Frankfurt am Main einen Sonderfall, denn hier wurde die höchste zu zahlende Steuersumme auf 9½ Gulden für ein Vermögen von 10 000 Gulden festgelegt, darüber hinausgehende Vermögenswerte blieben gänzlich unberücksichtigt. Selbst wenn zeitgenössisch über die Auswirkungen der Steuertarife ebenso wie über die relativ höhere Belastung durch indirekte Steuern gerade für die Ärmeren diskutiert wurde, dürften in der Regel fiskalische Motive die Praxis dominiert haben. Erhöhungen der direkten sowie besonders der indirekten Steuern führten allerdings in Verbindung mit weiteren Vorwürfen gegen den Rat nicht selten zu innerstädtischen Unruhen. In einer Vielzahl von Städten schätzten die Steuerzahler ihr Vermögen eidlich selbst ein, wobei Selbsteinschätzung und Steuereid nicht zwingend jährlich erfolgen mussten. Aufgrund der hohen Bedeutung des Eides gilt diese Art der Steuerveranlagung als durchaus tragfähig, zumal das gegenseitige Wissen der Bürger über die ungefähren Vermögensverhältnisse sich bei der Deklaration im Interesse der Stadt förderlich ausgewirkt haben dürfte. Auch konnten die vorgesehenen Strafen bei Steuervergehen ein erhebliches Drohpotenzial bergen, denn teilweise forderten die Stadtrechte ein Mehrfaches des Steuerbetrags als Strafzahlung. Für etliche Städte ist belegt, dass der Rat sich vorbehielt, die Güter zu dem eidlich veranschlagten Wert zu erwerben. Eine deutlich zu niedrige Selbsteinschätzung ging derart für die Steuerpflichtigen mit der Gefahr von erheblichen Vermögensverlusten einher. Zudem bedeutete die öffentliche Nennung eines Steuersünders eine Minderung der persönlichen Ehre. In Nürnberg blieb hingegen sogar den Losungern, welche das höchste innerstädtische Amt bekleideten, die Höhe der vom Einzelnen gezahlten Steuersumme unbekannt, warf dieser das Geld doch – nachdem ihm der zu erlegende Betrag mitgeteilt worden war – unbeobachtet in eine Truhe in einem Nebenraum. Hamburg behielt diese Form der Selbsteinschätzung und die unkontrollierte Einzahlung sogar bis in das 19. Jahrhundert bei. Zu berücksichtigen ist allerdings nicht nur, dass gerade für die Vermögenden die Steuersummen letztlich gering waren, sondern auch, dass vielfach die Verwendung der Steuern offensichtlich war, diese weitgehend in der Stadt verblieben 464

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

oder mit Teilen davon die fälligen Zahlungen an den Stadtherrn beglichen wurden. Nachträgliche Überprüfungen führen zu dem Ergebnis, dass zwischen dem Steuersollaufkommen und dem Steuereingang tatsächlich zumeist nur marginale Differenzen bestanden. Nachlassinventare aus Schwäbisch Hall deuten sogar auf eine tendenziell zu hohe Deklaration des steuerpflichtigen Vermögens hin. Grundsätzlich ging die Tendenz zunehmend aber dahin, den Kreis der Steuerpflichtigen möglichst weit zu ziehen und daneben auch die Anzahl der besteuerten Waren zu vermehren. Ebenso war beim Fortzug aus einer Stadt mitsamt der Aufgabe des Bürgerrechts eine Abzugssteuer zu entrichten, die nicht selten bei einem Zehntel des Vermögens lag. In Augsburg galt ab 1376 der dreifache Betrag der letzten Jahressteuer, und der Rat konnte bis zur Begleichung dieser Schuld sich an dem Gut der Abzugswilligen schadlos halten.314 Die Erhebung der Kopfsteuer gestaltete sich vergleichsweise einfach, während bei der Vermögenssteuer höhere Verwaltungskosten anfielen, musste doch individuell die Steuerhöhe bestimmt werden, wofür zuvor die einschlägigen Verzeichnisse zu erstellen und als Kontrolle die Vermögenswerte zumindest zu schätzen waren. Strittig blieb während des Spätmittelalters die Einbeziehung in die Steuerpflicht zum einen bei Klerikern und zum anderen bei den Gütern, Liegenschaften und Wirtschaftsbetrieben geistlicher Institute, welche das Kirchenrecht prinzipiell von Steuerleistungen an die weltlichen Obrigkeiten befreite. Deswegen konnten sie auch Getreide, Wein und weitere Naturalien aus ihren Grundbesitzungen billiger veräußern als andere steuerpflichtige Verkäufer. Schon aus diesem Grund verbot die Mehrheit der Städte spätestens seit dem 14. Jahrhundert Schenkungen an die Tote Hand. Daneben begegnet die Regelung, dass die Steuerbelastung der Immobilien nach dem Übergang an die Kirche bestehen blieb, wie es sich beispielsweise Augsburg 1306 von König Albrecht beurkunden ließ. Oder es konnte bestimmt werden, dass geistliche Institute die ihnen übertragenen Liegenschaften binnen Jahresfrist wieder an Nichtkleriker veräußern mussten. Bereits König Rudolf von Habsburg hatte im letzten Drittel des 13.  Jahrhunderts die Kommunen bei derartigen Vorhaben unterstützt, um seinerseits an den ungeschmälerten Stadtsteuern zu partizipieren. In Köln beschränkte der Rat schließlich 1525 den Weinverkauf und -ausschank der zahlreichen geistlichen Institute auf deren Immunitäten, setzte manche bis zur vollständigen Aufgabe des Verkaufs unter Druck 314 Urkundenbuch Augsburg, Bd. II, S. 193 f.

465

Spätmittelalter

und zog die Steuern rigoros ein.315 In Frankfurt hatte die Ungeldbefreiung der Geistlichkeit bis auf wenige Ausnahmen bereits im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts ein Ende gefunden. Teilweise einigten sich die Kommunen und die dort ansässigen Klöster oder sonstigen geistlichen Institute auf die Zahlung eines Pauschalbetrags, um die direkte Besteuerung der Kleriker zu umgehen, genossen diese wie ihre Gebäude doch den Schutz durch die Stadtmauern, was solche Forderungen begründete. Ein wesentlich uneinheitlicheres Bild bietet die Erhebung von indirekten Steuern (Ungeld, Akzise), welche den Konsum belasteten. Besonders ertragreich fielen sie aus, wenn Grundnahrungsmittel einer intensiven Besteuerung unterlagen. Hier sind in erster Linie Wein, Met, Getreide und Salz zu nennen, dann vor dem Hintergrund seiner steigenden Verbreitung Bier. Nicht selten monopolisierten die Räte den Salzverkauf, um einerseits die Versorgung zu sichern, andererseits die Möglichkeiten zur Steuerverkürzung zu minimieren sowie die teilweise hohen Gewinne mitsamt den Steuern darauf aus dem Verkauf des Produkts zu realisieren – was den Salzpreis oftmals drastisch ansteigen ließ. Daneben erhöhten indirekte Steuern beispielsweise die Preise von Tuchen oder Gewürzen. Das einkommenselastischer nachgefragte Fleisch blieb hingegen häufig steuerbefreit. Die schon zeitgenössisch geäußerte Kritik an der Belastung besonders der Grundnahrungsmittel änderte an der Praxis wohl nur wenig. Der Straßburger Rat formulierte Ende des 15. Jahrhunderts sogar offen, dass indirekte Steuern eben selbst von jenen gezahlt werden mussten, welche bei der direkten Steuer nur wenig oder nichts aufbrachten. Es sollte also die Gesamtheit der Einwohnerschaft die finanziellen Belastungen tragen, was ein solches Vorgehen aus Sicht der Obrigkeit legitimierte. Nicht zuletzt durch die Möglichkeit einer Ausweitung auf weitere potenzielle Steuerobjekte konnten sich die indirekten Steuern als ausgesprochen ertragreich erweisen, wenngleich sich ihr Aufkommen schlechter abschätzen ließ als das der direkten Steuern. Eine umfangreiche Kölner Akziseordnung des Jahres 1399 benannte als steuerpflichtig u. a. Weizen, Roggen, Erbsen, Wicken, Linsen, Hafer, Gerste, Fleisch, Fische, gesalzene Fische, Schinken, Felle, Tuche verschiedenster Qualitäten, Hosen, Perlen, Korallen, Edelsteine, Silber, Gold, Mühlsteine, Kupfer, Blei, Zinn, Blech, Stahl, Eisen, Essig, Alaun, Färbemittel, Kalk, Ziegelsteine, Vieh, Harnische, Schwerter sowie Wein. Alleine die Weinakzise 315 Steuerpflicht Urkundenbuch Augsburg, Bd. I, S. 166; Verbot ebd., S. 194. Marianne Gechter: Kirche und Klerus in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter (Beiträge zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte, 28), Wiesbaden 1983, S. 254–266.

466

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

mitsamt weiteren Abgaben auf den Weinhandel erbrachte in dieser Stadt um 1400 ungefähr ein Fünftel der kommunalen Einnahmen. Hingegen spielten direkte Steuern im 14. und 15.  Jahrhundert in der rheinischen Großstadt keine Rolle und wurden selbst in der Folge nur 1515 und nochmals 1589 wieder erhoben.316 Zusätzliche Einnahmen flossen etwa aus Gebühren, Zöllen, Verkäufen oder Geldstrafen in die städtischen Kassen. Mit der Zunahme der Rechnungsüberlieferung im 15. Jahrhundert werden nicht nur die Anteile der einzelnen Steuern an den Gesamteinnahmen, sondern auch die teilweise differierenden Finanzpraktiken der Kommunen deutlicher. Derart lassen sich drei Hauptvorgehensweisen der Räte erkennen: Die Einnahmen basierten erstens überwiegend auf direkten Steuern oder zweitens auf indirekten Steuern sowie weiteren Handels- und Kon­ sumbelastungen oder drittens, vornehmlich in Krisenzeiten praktiziert, auf Kreditaufnahmen. Die Städte handelten aber keinesfalls stets pfadgebunden, sondern wechselten durchaus mehrfach ihre Strategie, um auf veränderte Herausforderungen oder auf Reaktionen der Bürgerschaft sowie auf zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse zu reagieren. Derart ließ der Nürnberger Rat seit dem späten 15. Jahrhundert die direkten Steuern fast jährlich einziehen und erhöhte zusätzlich die Ungeldbelastungen zum Teil drastisch, um die Kreditabhängigkeit in der Folgezeit deutlich zu reduzieren. Beim Schankwein, also dem von Wirten an ihre Gäste ausgeschenkten Wein, lagen in Nürnberg die Belastungen Mitte des 15. Jahrhunderts bei 27 Prozent und stiegen zu Beginn des 16. Jahrhunderts sogar auf 33 Prozent. In Frankfurt betrug der Satz im 15. Jahrhundert 25 Prozent. Für Nördlingen lassen sich nach einer Ungelderhöhung des Jahres 1505 22 Prozent nennen, während die teuren Südweine mit gerade einmal acht Prozent belastet wurden. Schwäbisch Hall erhöhte zu Beginn des 16.  Jahrhunderts durch eine Maßreduzierung die Schankweinbelastung auf 20 Prozent, in Ulm betrug die Steuerbelastung relativ moderat ein Achtel des Preises, also 12½ Prozent. Die genannten Zahlen lassen zumindest das Ausmaß der Steuerbelastungen auf dieses Alltagsgetränk erahnen. Allerdings suchten besonders nach Steuererhöhungen die Bürger vielfach die Gaststätten des Umlands mit ihrem preiswerteren Angebot auf, was die Räte durch Verbote immer wieder zu unterbinden trachteten. Ebenso belasteten die Räte Getreide oder Brot mit Steueraufschlägen bis zu 30 Prozent. 316 Akten zur Geschichte, bearb. v. Walther Stein, Bonn 1895, S. 92–95. Klaus Militzer: Der Kölner Weinhandel im späten Mittelalter, in: Kirchgässner/Becht (Hg.): Stadt und Handel, S. 23–47, hier S. 36.

467

Spätmittelalter

Ob mittel- oder sogar langfristig von einer steuerpolitischen Strategie gesprochen werden kann oder ob Ad-hoc-Entscheidungen dominierten, muss für jede Stadt gesondert entschieden werden. Sicher darf bei den jeweiligen Entscheidungsträgern ein Wissen über die regelmäßigen Einnahmen und Ausgaben vorausgesetzt werden, wenngleich eine regelrechte Etatplanung wohl noch nicht stattfand. Erschwerend kam hinzu, dass Teile der Steuerrechte nur befristet gewährt sein konnten: Beispielsweise gestattete Kaiser Karl IV. im Fall von Augsburg dem Rat 1364 aufgrund von Finanzproblemen eine zehnjährige Ungelderhebung auf Wein, Bier, Met und sonstige Getränke, um derart die Schuldenlast der Stadt zu reduzieren;317 diese Steuer dürfte allerdings im Jahr 1368 den Aufstand Unzufriedener gegen das Stadtregiment mitverursacht haben. Für die rückblickende Einordnung der Zahlungsvorgänge stellt es ein Problem dar, dass sich die fiskalische Kasseneinheit sowie die Bruttorechnung nur sukzessive durchsetzten und die städtischen Hauptrechnungen deswegen längst nicht in jedem Fall das gesamte kommunale Finanzwesen erfassten. Nebenrechnungen, falls überliefert, müssen dann in die Analysen einbezogen werden. Solche Nebenkassen verrechneten mit der Hauptkasse aber häufig nur die Negativ- oder die Positivsaldi, nicht die gesamten umgesetzten Summen, sodass deren Umfang wie auch der Gesamthaushalt in diesen Fällen nicht mehr rekonstruiert werden können. Im Rückblick überrascht immer wieder die Genauigkeit der kommunalen Haushaltsüberlieferung, die in der Regel, falls überhaupt, nur geringfügige Rechenfehler aufweist. Die Rechnungskontrolle am Rechentisch (Abakus) mit den für alle Beteiligten sichtbaren Rechenvorgängen dürfte sich ausgesprochen positiv ausgewirkt haben. Bei zwei weiteren zentralen Zwecken der Hauptrechnungsführung handelte es sich einerseits um die Ermittlung eines Saldos mittels eines Einnahmen-Ausgaben-Vergleichs sowie andererseits um den Nachweis über die Mittelherkunft sowie die Verwendung der verausgabten Mittel. Insgesamt zeigt sich in den einschlägigen Aufzeichnungen eine Dominanz politisch-pragmatischer Zielsetzungen gegenüber buchungstechnischen Abläufen und Feinheiten. Allerdings ermöglichten die Augsburger Einnehmerbücher – sicherlich keine Ausnahme – als städtische Hauptrechnungen selbst für das Ende des 18. Jahrhunderts noch keinen annähernd kompletten Überblick über das kommu317 Bernd Fuhrmann: Hinter festen Mauern. Europas Städte im Mittelalter, Darmstadt 2013, S. 158. Urkundenbuch Augsburg, Bd. II, S. 80 f.

468

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

nale Finanzgebaren.318 Vorwürfe wegen ungerechter Steuern oder auch schlechter Kassenverwaltung, Misswirtschaft, Bestechlichkeit, Cliquenwirtschaft oder Willkür gehörten aber ohnehin unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Finanzwesens zum festen Repertoire der Unzufriedenen oder einer innerstädtischen Opposition gegen den jeweiligen Rat oder die kommunale Obrigkeit. Der Übergang zu einer steuerfundierten Haushaltspolitik wurde für Nürnberg bereits erwähnt; für Nördlingen lässt sich eine ähnliche Tendenz erkennen. Dagegen konnte sich Frankfurt auf seine beiden Messen und Köln auf das Stapelrecht stützen, um derart mit indirekten Steuern und weiteren Handels- sowie Konsumbelastungen die eigenen Einwohner, aber gleichfalls die Fremden zu belasten. Der direkten Steuer verblieb daneben nur eine geringere Bedeutung oder sie wurde gar nicht eingefordert. Erst ab 1576 erhob die Messestadt in schwieriger finanzieller Lage, ausgelöst durch die Kosten des Schmalkaldischen Krieges und die Zahlungsverpflichtungen aufgrund einer risikoreichen, letztlich fehlgeschlagenen Kupferspekulation des Rats, dauerhaft direkte Steuern. Die Spekulation als Ursache der Verschuldung hielt der Rat wohlweislich geheim, während die innerstädtischen Spannungen zunahmen, sich aber erst im Fettmilch-Aufstand der Jahre 1612 bis 1616 entluden. Dagegen bildeten für die Hamburger Stadtkasse bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die Zölle in vielfältiger Ausgestaltung die wichtigste Einnahmequelle. Eine drastisch steigende Verschuldung ist auch für Nürnberg um und nach Mitte des 16. Jahrhunderts festzustellen, hier bedingt durch den städtischen Landerwerb, den Schmalkaldischen Krieg und vor allem den Zweiten Markgrafenkrieg. Noch 1570 kann der Zustand der Stadtkasse wohl nur als desolat eingeschätzt werden. Dennoch konnten die Schulden überwiegend mittels Steuererhöhungen sowie befristeter Sondersteuern samt Ausweitung des damit belasteten Warenspektrums bis 1618 weitgehend abgebaut werden, bevor der Dreißigjährige Krieg seinen nicht nur finanziellen Tribut forderte. Daneben war es sogar gelungen, erhebliche Mittel für die Erneuerung der Stadtbefestigung sowie für den Rathausneubau bzw. dessen umfangreiche Erweiterung in den Jahren von 1616 bis 1622 aufzubringen. Letzteres Vor318 Ingrid Batori: Die Reichsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert. Verfassung, Finanzen und Reformversuche (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 22), Göttingen 1969, S. 80. Bernd Roeck hält die Erstellung einer schlüssigen Gesamtbilanz für fast unmöglich; ders.: Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 37), 2 Bde., Göttingen 1989, S. 63.

469

Spätmittelalter

haben fand dann allerdings nach massiver Kritik der Einwohnerschaft aufgrund der hohen Kostenbelastung vorerst ein Ende. Den zunächst von 1576 bis 1617 und wieder ab 1633 eingeführten Getreideaufschlag behielt die Stadt nach Kriegsende bei, eines der vielen Beispiele für die Verstetigung zunächst nur außerordentlich erhobener Steuern. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zog der Rat zudem die Bewohner des städtischen Territoriums in wesentlich höherem Maße als zuvor zu Steuerleistungen heran. Allerdings begünstigte das Steuerrecht die Landgüter des Patriziats massiv gegenüber den Kaufmannswaren, in welchem Streitpunkt erst nach langwierigen Konflikten im Jahre 1795 Änderungen erzwungen werden konnten. Letztlich sollte sich die Stadtkasse aber erst von den Kriegen des späten 17. und des 18. Jahrhunderts nicht mehr erholen.319 Die wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung Hamburgs in der Frühen Neuzeit stand in deutlichem Kontrast zu Nürnberg, zumal die Stadt an der Elbe vom Dreißigjährigen Krieg gänzlich verschont blieb. Vielmehr entwickelte sich der Hafen zum wichtigsten im Reichsgebiet, da sämtliche Kriegsparteien die in großen Mengen benötigten Versorgungsgüter über Hamburg bezogen. Als Basis einer soliden städtischen Finanzlage hatte sich Hamburg schon im 15.  Jahrhundert das Stapelrecht für alles die Elbe hinabgeschaffte Getreide gesichert und damit den Getreidehandel mit einem weiträumigen Hinterland monopolisiert, vornehmlich um einen Direkthandel in die Niederen Lande zu verhindern. Es folgte der Stapel für elbabwärts geflößtes Holz, wobei Holz damals das drittwichtigste Exportgut nach Getreide und Bier bildete. Trotz aller Spannungen mit Dänemark profitierte die Stadt von der Verlagerung der Welthandelswege und ihrer Neukonzentration auf den Atlantik; auch Emden oder Bremen sollten eine vorübergehende Blüte erleben. Ferner konnte Hamburg ebenso wie Frankfurt am Main und Amsterdam vom Niedergang Antwerpens profitieren, von dort emigrierte Kaufleute ließen sich in Hamburg nieder. Daneben wirkten sich die Öffnung für Gäste, die Abkehr von überkommenen hansischen Traditionen und zunächst auch 319 Sander: Haushaltung, S. 804–811, 824–833, 881 f. Rudolf Endres: Nürnberg in der Frühneuzeit, in: Kersten Krüger (Hg.): Europäische Städte im Zeitalter des Barock. Gestalt – Kultur – Sozialgefüge (Städteforschung, A. 28), Köln/Wien 1988, S. 143–167, hier S. 145–147. Johannes Müller: Die Finanzpolitik des Nürnberger Rates in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Vierteljahrsschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte 7 (1909), S. 1–63. Bernd Fuhrmann: Taxation and Debt in Early Modern German Cities, in: José Ignacio Andrés Ucendo/Michael Limberger (Hg.): Taxation and Debt in the Early Modern City (Financial History, 19), London 2012, S. 181–196, 229–233.

470

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

die Aktivitäten der englischen Merchant Adventurers positiv aus. Das Gleiche gilt für die Etablierung der Hamburger Bank nach Amsterdamer Vorbild 1619 für Depositen- und Girogeschäfte, wobei die Bank zugleich die Münze kontrollierte, und ebenso für die schriftliche Fixierung des Wechselrechts oder die Übernahme neuer kaufmännischer Gebräuche. Im Ergebnis wurde die Hamburger Stadtschuld als besonders sichere Geldanlage bewertet. Für das 17. und 18.  Jahrhundert verweisen Stich­ proben auf teilweise beträchtliche Haushaltsüberschüsse. Allerdings waren unter den 42 größten Firmen der Stadt – erfasst sind nur Firmen, die Gelder über die Bank abwickelten – nicht mehr als sechs eingesessene hamburgische Unternehmen. Besonders Lübeck protestierte immer wieder gegen die Neuordnung der Hamburger Gewerbepolitik, da die Travestadt im 17. Jahrhundert in Umkehrung früherer Verhältnisse zum „Ostseevorhafen“ Hamburgs absank.320 Im überregionalen Handel verlor Köln hingegen im 17. Jahrhundert an Bedeutung, während das zuvor von der Stadt ökonomisch dominierte Umland an Selbstständigkeit gewann; beide Entwicklungen minderten das städtische Steueraufkommen. Dennoch blieben die indirekten Steuern mitsamt weiteren Handelsabgaben noch im 18. Jahrhundert die mit Abstand ertragreichste Einnahmequelle, denn sie erbrachten durchgängig 70 bis 90 Prozent der Einnahmen. Die wichtigsten Einnahmeposten waren die Weinakzisen, die Brotakzise, die Bierakzise, die Kaufhäuser Gürzenich und Alter Markt, das Fischkaufhaus, die Viehakzisen, die Salzakzise und das Kranengeld. Weitere indirekte Steuern mit geringeren Erträgen verpachtete der Rat zumeist, was Transaktionskosten reduzierte. Direkte Steuern ließen die Ratsherren selbst noch im 17. Jahrhundert zumeist nur in Krisenzeiten erheben. Allerdings konnte Köln schon vor dem Jahr 1700 zahlreiche Kredite nicht mehr bedienen, zudem belief sich der Zinsrückstand der Stadt auf acht bis neun Jahre, nachdem die Zinszahlungen zwischenzeitlich gänzlich ausgesetzt worden waren. Diese Rückstände führten immer wieder zur Beschlagnahmung von Handelsgütern Kölner Kaufleute in der Fremde. Doch 320 Heinz Potthoff: Der öffentliche Haushalt der Stadt Hamburg im 15. und 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte XVI (1911), S. 1–85. Karl Zeiger: Hamburgs Finanzen von 1563–1650, Rostock 1936. Hans-Joachim Bohnsack: Die Finanzverwaltung der Stadt Hamburg. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, 43), Hamburg 1992. Hans Mauersberg: Wirtschafts- und Sozialgeschichte zentraleuropäischer Städte in neuerer Zeit. Dargestellt an den Beispielen von Basel, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover und München, Göttingen 1960, S. 462 f. Dollinger: Hanse, S. 477.

471

Spätmittelalter

trotz aller Probleme sollte sich der Kölner Handel im 18. Jahrhundert nochmals erholen.321 Für Rentenveräußerungen bzw. Kreditaufnahmen standen den Kommunen die beiden Grundformen des Leib- und des Ewigrentenverkaufs mit ihren Varianten zur Verfügung. Der Verkauf solcher Renten als ein Typus der Kreditaufnahme dürfte sich auf das Reichsgebiet, die Niederen Lande und den Norden Frankreichs beschränkt haben. Zwar schrieb wohl schon um die Mitte des 14.  Jahrhunderts das Nördlinger Stadtrecht den beiden Stadtrechnern ausdrücklich vor, dafür Sorge zu tragen, dass die Ausgaben die Einnahmen nicht überschritten. Besonders kurzfristig auftretender, hoher Geldbedarf stellte indes etliche Räte immer wieder vor erhebliche Probleme. Gründe für solchen plötzlichen Bedarf lagen oft in Fehden oder Kriegen oder auch sich plötzlich bietenden Chancen zum Territorial- oder Rechteerwerb, um die eigene Position abzusichern oder auszubauen. In ­derartigen Situationen stieg die Kreditaufnahme nicht selten signifikant an. Freilich mussten zumindest die mittelfristigen Tilgungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, um eine Verschuldungsspirale zu verhindern. Schlussendlich bildeten im Spätmittelalter und darüber hinaus nur Mainz und Wetzlar im Reich nördlich der Alpen Beispiele für eine nicht gelungene Trendumkehr bei der städtischen Verschuldung. Deutlich höhere Verschuldungen traten dann beim Übergang von Reichsstädten in die Territorien am Ende des Alten Reichs zutage.322 In Frankreich gehen erste Rentenverkäufe, für die vor allem Immobilien als Sicherheit dienten, auf die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts zurück, im Reichsgebiet begegnen sie etliche Jahre später. Leibrenten dürften erst im frühen 13. Jahrhundert aufgekommen sein. In diese Jahrzehnte fallen auch 321 Clemens Graf v. Looz-Corswarem: Das Finanzwesen der Stadt Köln im 18. Jahrhundert. Beitrag zur Verwaltungsgeschichte einer Reichsstadt (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, 34), S.  71–123, 128–155, 259–322. Hans-Wolfgang Bergerhausen: Köln in einem eisernen Zeitalter, 1610–1686 (Geschichte der Stadt Köln, 6), Köln 2010, S. 269–287. 322 Dietmar-H. Voges: Die Reichsstadt Nördlingen. 12 Kapitel aus ihrer Geschichte, München 1988, S. 24. Chronik von alten Dingen der Stadt Mainz, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 17 (Die Chroniken der mittelrheinischen Städte: Mainz, 1), Leipzig 1888, ND Göttingen 1968, S. 1–346, hier S. 137–139. Michael Matheus: Vom Bistumsstreit bis zur Mainzer Stiftsfehde: Zur Geschichte der Stadt Mainz 1328–1459, in: Franz Dumont/Ferdinand Scherf/ Friedrich Schütz (Hg.): Mainz. Die Geschichte der Stadt, Mainz 1998, S. 171–204, hier S. 202–204. Eva-Marie Felschow: Wetzlar in der Krise des Spätmittelalters (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 63), Darmstadt/Marburg 1985, S.  128–170. C. Jaco Zuijderduijn: Medieval Capital Markets. Markets for Renten, State Formation and Private Investment in Holland (1300– 1550) (Global Economic History Series, 2), Leiden/Boston 2009, S. 249, der allerdings Rentenverkäufe im Reichsgebiet für auf den Norden und Westen beschränkt hält.

472

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

die ersten Belege für die Übertragbarkeit sowie die Ablösbarkeit von Renten, da sich nicht ablösbare Ewigrenten zu einer extremen Belastung des Schuldners und seiner Erben entwickeln konnten, denn in der Regel dienten bei privaten Rentenveräußerungen Immobilien als Sicherheit; verschiedentlich wurden weitere Sicherheitsleistungen vereinbart. Die potenziell drastischen Folgen umschreibt Bruno Kuske, wenngleich nicht unumstritten, wie folgt: „das Haus des Privatmannes aber konnte abbrennen oder verlassen werden, und so konnte das Recht des Käufers auf die Rente einschlummern, sehr häufig vielleicht, um nie wieder zu erwachen. Niemand wollte ja die Brandstätte neu bebauen oder das leere Haus kaufen oder beziehen; denn wer das unternahm, hatte alle darauf lastenden Rentenzahlungen weiter zu erfüllen. Und nicht einmal einer der dazu gehörigen Rentengläubiger wagte es, das ihm von Rechts wegen zustehende Haus zu übernehmen, weil er dann an seine Mitgläubiger deren Renten zu zahlen hatte. Auf eine nähere Betrachtung der eigentümlichen Erscheinung, dass in den mittelalterlichen Städten zahlreiche Häuser unbewohnt waren, muss hier natürlich verzichtet werden.“323

Während in Köln der Rückkauf von Renten bereits um 1300 gängige Praxis war, setzte sich diese Vorgehensweise im sonstigen Reichsgebiet im Laufe des 14. Jahrhunderts zügig durch. Am Ende des Jahrhunderts verkaufte der Regensburger Rat sogar wiederkäufliche Leibrenten – ein Widerspruch wohl nur in der Begrifflichkeit –, für Köln ist der Rückkauf von Leibrenten 1419 belegt, für Nürnberg hingegen erstmals 1458.324 In Krisenzeiten veräußerten die Kommunen Leibrenten auf zwei oder mehr Leben, und falls die Rentenzahlung nicht von vornherein auf die Bezieher aufgeteilt war, sodass beispielsweise jedem der zwei Rentenerwerber die Hälfte zustand, konnte sich diese Rentenform je nach Alter der Rentenbezieher als ausgesprochen kostenträchtig erweisen. Besonders galt dies, wenn minderjährige Kinder der Rentenerwerber ohne weitere Einschränkungen als Rentenbezieher bestimmt wurden. 1459 beschloss der Nürnberger Rat als Gegenmaßnahme, Leibrenten nur noch zum Vorteil der Stadt zu verkaufen, also das Alter der Rentenerwerber als Entscheidungskriterium einzubeziehen. Ein weiteres Jahr später legte das Gremium fest, dass Leibrentenbezieher zum Zeitpunkt des Rentenerwerbs das 60. Lebensjahr vollendet haben mussten, sodass das 323 Bruno Kuske: Das Schuldenwesen der deutschen Städte im Mittelalter (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Ergänzungsheft XII), Tübingen 1904, S. 62. 324 Eikenberg: Handelshaus, S. 226 f., 230–233.

473

Spätmittelalter

Ende der Zahlungsverpflichtungen sich in den meisten Fällen als absehbar erwies. Ob diese Bestimmung tatsächlich eine Umsetzung erfuhr, lässt sich nicht mehr beantworten, doch zumindest sank die Bedeutung von Leibrenten deutlich. Daneben gewährten Geschäftspartner und Verwandte beispielsweise Einkaufsdarlehen, um Kaufleuten genügend Zeit zu geben, die erworbenen Waren wieder abzusetzen. In diesen Fällen konnten die Zinssätze durchaus unter den sonst stadtüblichen liegen. In Schwäbisch Hall erfolgte der Übergang vom Verkauf von Leibrenten zu dem von Ewigrenten relativ abrupt am Ende des 15. Jahrhunderts. Bereits zuvor waren Fälle aufgetreten, wo bei mehreren Kaufinteressenten dem Ältesten der Erwerb zugestanden werden sollte, was sich als ein Hinweis auf rationale Entscheidungskriterien des Rats sowie auf ein Überwiegen des anlagesuchenden Kapitals werten lässt. Allerdings spielten Kreditaufnahmen mit Ausnahme von wenigen Ausgabenspitzen für den Haushalt der Stadt bis 1540 anders als in Nürnberg oder weiteren Städten eine deutlich nachrangige Rolle. In Köln lag die Summe der Leibrentenschulden 1482 noch über der für Ewigrenten, während 1493 die Ewigrenten schon fast zwei Drittel der Gesamtschulden ausmachten und in der Folge weiter an Gewicht gewannen, wenngleich Leibrentenverkäufe weiterhin keinesfalls zu vernachlässigen blieben. Für Nördlingen lässt sich dagegen im 15. Jahrhundert nicht erkennen, dass einem der beiden Rententypen eine eindeutige Priorität zugekommen wäre, wenngleich bis in die 1460er-Jahre Leibrenten tendenziell überwogen. Bei den Leibrenten, die vielfach auf zwei Bezieher abgeschlossen wurden, bewegte sich die Relation von Einlage zu Rente zwischen 9:1 und 14:1. Dabei lassen die knappen Einträge immer wieder erkennen, dass das Alter der oder des Begünstigten eine in die Vertrags­ modalitäten einbezogene Größe darstellte. Die Überlieferung gibt vor allem Hinweise auf Rentenerwerbungen für die eigenen Kinder oder auf ein junges Alter des Rentenbeziehers, und zwar verbunden mit niedrigeren Rentenjahresleistungen. In Brügge, das seine Vorrangstellung in den Niederen Landen sukzessive an Antwerpen abtreten musste, gewannen Leibrenten im späten 15. Jahrhundert noch einmal an Bedeutung.325 325 Dieter Kreil: Der Stadthaushalt von Schwäbisch Hall im 15./16.  Jahrhundert. Eine finanzgeschichtliche Untersuchung, Schwäbisch Hall 1967, S.  104–113. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, reichsstädtisches Archiv, Steuerrechnungen, 4/a5–4/a25. Diese geringe Bedeutung spiegelt auch die Verbuchungspraxis wider, denn abgesehen von seltenen Ausnahmen wie dem Jahr 1519 tauchen diese Posten in der Rubrik der Gemeinen Einnahmen (Eyn gemains) auf, nicht in einem ­eigenen Konto. Stadtarchiv Nördlingen, Stadtkammerrechnungen. Im ungleich kleineren Essen

474

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

Kredittechnisch kann das Reichsgebiet kaum als eine Einheit gewertet werden, denn die Finanzmärkte Oberdeutschlands, am Oberrhein, im Rhein-Main-Gebiet und diejenigen im Norden erwiesen sich als weitgehend unabhängig, sodass im Finanzsektor gleichfalls Regionalmärkte mit unterschiedlicher Ausdehnung und Reichweite dominierten. Für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts und wohl noch darüber hinaus spielte bei aller Dürftigkeit der Quellenüberlieferung wahrscheinlich Speyer eine wichtige Rolle als Geldmarkt, und dies wohl über den Südwesten des Reichs hinaus. Zumindest für das 15.  Jahrhundert und die erste Hälfte des 16.  Jahrhunderts fällt dann das Rentenverkaufsgebiet der Stadt Nürnberg durch seine Größe auf. Es reichte im Süden bis Innsbruck, Schwaz, Graz sowie Villach, für den Südosten lassen sich Pettau/Ptuj, Ljubljana oder Ofen anführen, während der Westen mit Köln und Frankfurt nur eine marginale Rolle spielte, der sonstige hansische Bereich keine. Tendenziell vermieden Kommunen es, Renten an Bürger der regional politisch führenden Kommunen zu verkaufen, so Nördlingen weitgehend in Nürnberg oder Esslingen in Ulm. Vereinzelt tauchen in der Nördlinger Überlieferung dennoch Nürnberger Rentenbezieher auf, während ansonsten bei der Stadt im Ries Gläubiger aus München, Augsburg, Schwäbisch Hall und Dinkelsbühl überwogen und nur um die Mitte des 15. Jahrhunderts vorübergehend Frankfurter Bürger verstärkt Renten erwarben. Die Münchener Rentenkäufer befürchteten wohl Begehrlichkeiten ihrer Stadtherren bei einer Anlage in der Stadt selbst; Thorner Kaufleute wiederum reagierten auf Beschneidungen ihrer

dürften Leibrenten im 15. Jahrhundert bei einer insgesamt wohl nur geringen Anzahl der Rentenverkäufe dominiert haben; Thomas Lux: Essener Stadtrechnungen des 14. und 15, Jahrhunderts. Analyse und Edition, Essen 1993, S. 137–141. Knipping: Schuldenwesen, S. 369, 377. Dieser errechnete für Köln rückblickend ein aus Sicht der Stadt sinnvolles Mindestalter von 45 Jahren für Leibrentenkäufer, ohne dass ein solches damals umgesetzt worden wäre; ebd., S.  371. 1459 hatte der Kölner Rat beschlossen, Leibrenten nur an über Dreißigjährige zu veräußern; Beschlüsse des Rats, S. 264. Für Rothenburg ob der Tauber dürfte das Alter der Leibrentenkäufer gleichfalls kaum eine Rolle gespielt haben, ebenso im Hamburg des späten 15.  Jahrhunderts; Jürgen Uwe Ohlau: Der Haushalt der Reichsstadt Rothenburg o. T. in seiner Abhängigkeit von Bevölkerungsstruktur, Verwaltung und Territorienbildung (1350–1450), Diss. Erlangen-Nürnberg 1965, S. 211. Gabrielsson: Struktur, 75. Dagegen dürfte bei den Basler Leibrentenkäufern das Alter zumindest in einigen Fällen den Zinsfuß mitbestimmt haben, während das eidgenössische Bern während des 15. Jahrhunderts gänzlich auf Leibrentenverkäufe verzichtete; Gilomen: Anleihen, S. 175 f. Laurence Derycke: The Public Annuity Market in Bruges at the End of the 15th Century, in: Mark Bonne/Karel Davids/Paul Janssens (Eds.): Urban Public Debts. Urban Government and the Market for Annuities in Western Europe, 13th to 18th centuries, Turnhout 2003, S. 165–181, hier S. 165 f. Umfangreiche Leibrentenverkäufe hatten in den Niederen Landen im 14. Jahrhundert eingesetzt, und beispielsweise Dordrecht tätigte diese im folgenden Säkulum in ausgesprochen hoher Zahl; Bas van Bavel: Manors and Markets: Economy and Society in the Low Countries, 500–1600, Oxford 2010, S. 186 f.

475

Spätmittelalter

kaufmännischen Gestaltungsmöglichkeiten mit umfangreichen Rentenerwerbungen in Breslau. Für etliche eidgenössische Städte bildete Straßburg eine nur selten nach Norden überschrittene Grenze. Köln veräußerte Renten im 15. Jahrhundert zwar nach Lübeck, in das Rhein-Main-Gebiet oder nach Augsburg, doch bei den wichtigsten Geldgebern handelte es sich um Kölner Bürger. Während des letzten Viertels des 15. Jahrhunderts zeigt sich bei einem mehr als eindeutigen Überwiegen der eigenen Bürgerschaft eine regional doch begrenzte Reichweite der sonstigen Rentenbezieher: Neben Rentengeschäften mit Geldgebern aus den Städten Koblenz, Siegburg, Münstereifel, Bonn, Essen, Dortmund und Aachen fand einzig ein Rentenverkauf nach Trier statt. Damit überwog bei einer nur geringen Anzahl auswärtiger Gläubiger das Kölner Einflussgebiet. Ob dieses Vorgehen aus politischen Gründen gewünscht war, lässt sich im Rückblick kaum noch klären. Leibrenten verkaufte die Domstadt wohl letztmals 1701.326 Wenn wir einen Blick auf den Norden werfen, bietet sich ein nochmals anderes Bild: Vornehmlich im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts nahm Hamburg Kredite weit überwiegend in Lübeck auf, und zwar von den dortigen Bürgern sowie von geistlichen Instituten. Zwischen 1471 und 1490 erfolgte dann eine deutliche Reduktion der nach Lübeck fließenden Renten, während im Gegenzug die innerstädtischen Rentenverkäufe anstiegen. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lebten die Erwerber von Hamburger Rentenbriefen ganz überwiegend im niederdeutschen Raum, ohne dass sich bei relativ breiter räumlicher Streuung eine klare Schwerpunktbildung erkennen lässt, bevor sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts der holsteinische Adel zum wichtigsten Geldgeber der Hansestadt entwickelte. Die Abkopplung von den Lübecker Rentenkäufern während der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts kann durchaus auch politisch als Emanzipationsprozess vom seinerzeitigen hansischen Vorort bewertet werden. Während der 326 Bernhard Kirchgässner: Zur Frühgeschichte des modernen Haushalts. Vor allem nach den Quellen der Reichsstädte Esslingen und Konstanz, in: Maschke/Sydow (Hg.): Städtisches Haushaltsund Rechnungswesen, S.  9–44, hier S.  40. Bernhard Kirchgässner: Zur Neuordnung der Währungsräume Südwestdeutschlands und der angrenzenden Eidgenossenschaft 1350–1500, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, FS Hektor Amman, Wiesbaden 1965, S. 312–337, hier S. 317 f. Mateusz Golinski: Zu den Beziehungen zwischen dem Krakauer und Breslauer Patriziat im Mittelalter, in: Mühle (Hg.): Breslau und Krakau, S. 227–240, hier S. 230. Hans-Jörg Gilomen: Raum und Kommunikation, zwei Kategorien in der Erforschung des städtischen Haushaltswesens vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit, in: Harm v. Seggern/Gerhard Fouquet/Hans-Jörg Gilomen (Hg.): Städtische Finanzwirtschaft im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 25–74, hier S. 27–34. Knipping: Schuldenwesen, S. 349 f. Kuske: Quellen, Bd. 3, S. 159–179.

476

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

z­ weiten Jahrhunderthälfte stieg der Kieler Umschlag, zunächst handelte es sich um einen Freimarkt für Warengeschäfte, zum wichtigsten Kreditmarkt im hohen Norden auf. Die Kreditvergaben des holsteinischen Adels wiederum überraschen gegenüber den Usancen in Oberdeutschland, wo Geldgeschäfte zwischen Kommunen und Adligen weithin Ausnahmen bildeten.327 Für Nürnberg lässt sich beobachten, dass im Zuge der einsetzenden Umorganisation und Neustrukturierung der städtischen Finanzpolitik seit den 1470er-Jahren eine Bevorzugung hoher Hauptsummen erfolgte. Auf diese Weise konnten einerseits Transaktionskosten gesenkt werden, mussten doch an weniger Gläubiger Renten ausgezahlt werden, und andererseits sank die Gefahr, eine fällige Rentenzahlung zu übersehen. Eine mögliche Abhängigkeit von Gläubigern mit hohen Investitionssummen dürfte als wenig kritisch eingeschätzt worden sein. Lagen die durchschnittlichen Rentenhauptsummen in dem Jahrzehnt von 1441 bis 1450 bei gut 492 Gulden, stiegen sie in dem Zeitraum von 1491 bis 1500 auf 1 648 Gulden, erreichten zwischen 1541 und 1550 einen Durchschnittswert von knapp 1 751 Gulden, wenngleich es sich nicht um einen linearen Anstieg handelte, sondern die Summen zwischenzeitlich wieder unter 1 000 Gulden fielen. Dagegen nahm in Köln während des 15. Jahrhunderts die Zahl der Renten mit Erträgen von einem bis fünf Gulden jährlich deutlich zu, wie sie beispielsweise von Handwerkern oder sogar Dienstboten erworben wurden.328 Vermutlich macht sich in den unterschiedlichen Praktiken der Rentenvergabe die jeweilige politische Struktur der beiden Städte bemerkbar. Die Kölner Zünfte verfügten über einen weitaus größeren Einfluss und der Rat der rheinischen Großstadt musste auf ihre artikulierten Forderungen stärker Rücksicht nehmen, wenngleich es sich vornehmlich um Kaufleute handelte, welche die Interessen der Handwerker in diesem Gremium vertraten. Der Rentenfuß sank im 15.  Jahrhundert zumindest in Oberdeutschland und im Rheingebiet von zunächst fünf auf vier Prozent, dann nochmals darunter; vielfach dürfte im 16. Jahrhundert aber wieder ein Zinssatz von fünf Prozent an Bedeutung gewonnen haben. So belief sich die Ewigrentenverzinsung in Köln bereits 1443 auf nur noch 3¼ Prozent, 1472 auf 3½ und im Fol327 Gabrielsson: Struktur, S. 76, 87 f., 93. Klaus J. Lorenzen-Schmidt: Umfang und Dynamik des Hamburger Rentenmarktes zwischen 1471 und 1570, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 65 (1979), S. 21–52, hier S. 28, 38–41. Vgl. Heinrich Reincke: Die alte Hamburger Stadtschuld der Hansezeit 1300–1563, in: Städtewesen und Bürgertum als geschichtliche Kräfte, Gedächtnisschrift für Fritz Rörig, hg. v. Ahasver v. Brandt/Wilhelm Koppe, Lübeck 1953, S. 489–511. 328 Knipping: Schuldenwesen, S. 380.

477

Spätmittelalter

gejahr schließlich auf drei Prozent. Erst die enormen Rüstungsanstrengungen wegen einer möglichen militärischen Auseinandersetzung mit dem Burgunderherzog Karl dem Kühnen führten dann trotz einer Zwangsanleihe bei den eigenen Bürgern 1475 zu einer fünfprozentigen Verzinsung, bevor die Stadt 1478 wieder vier Prozent durchsetzen konnte. Die Gelegenheit günstiger Konditionen – die Entwicklung verlief hier wie andernorts nicht gerad­ linig – nutzte die Stadt ansonsten im 15.  Jahrhundert zu Umschuldungen, zahlte bei Einverständnis des Gläubigers sogar die Hauptsumme in Silbermünzen zurück.329 Nürnberg konnte den Zinssatz dagegen erst in den 1480er-Jahren auf drei bzw. 3½ Prozent drücken, und dies vornehmlich bei auswärtigen Rentenbeziehern sowie bei geistlichen Instituten innerhalb und außerhalb der Mauern; als Gegenleistung gestand der Rat diesen Steuerfreiheit für ihre Rentenerträge zu. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Städte wie Köln oder Nürnberg zumeist in der Lage waren, die Zinssätze über lange Jahrzehnte zugunsten der Stadtkasse zu beeinflussen. Auch seitens des Nürnberger Stadtrates und der Losunger wurden zur Reduzierung der finanziellen Belastungen gezielte Maßnahmen ergriffen wie die reduzierte Aufnahme von Rentenkapital, die Umstellung der Steuerpraxis oder Umschuldungen zu für die Stadtkasse günstigeren Konditionen, die sich durchaus als eine frühe Form des Debt-Managements charakterisieren lassen. Vor allem versuchten die Verantwortlichen, das Heft des Handelns selbst in der Hand zu behalten, zu agieren statt zu reagieren, um so die Konditionen aktiv zu beeinflussen, was über weite Teile des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch gelang. Für Köln kann zumindest bis zum Neusser Krieg von einer ähnlichen Situation ausgegangen werden. Auch dürfte es den Kommunen – abgesehen von wenigen Ausgabenspitzen und Ausnahmefällen – kaum Probleme bereitet haben, die benötigten Kreditmittel zu beschaffen. Nicht nur gab es wahrscheinlich genügend überschüssiges Kapital im Besitz von städtischen Bürgern oder Auswärtigen, für das Anlagemöglichkeiten gesucht wurden, sondern zudem boten die Städte ein hohes Maß an Sicherheit.

Territorien Hinsichtlich der Reichsfinanzen und der Territorialhaushalte können wir uns deutlich knapper fassen. Besonders im Spätmittelalter konnten die Lan329 Knipping: Schuldenwesen, S. 361, 366, 368. 1475 musste die Stadt zusätzlich sogar den Leibrentenverkauf auf zwei Personen wieder zugestehen; Stein: Akten, S. 526.

478

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

desherren auf Einkünfte verschiedenster Art zurückgreifen, doch standen zunächst diejenigen aus den eigenen Besitzungen mitsamt den landwirtschaftlichen Betrieben (Domänen) im Zentrum. Ergänzung fanden diese durch die häufig pauschalisierten jährlichen Steuerleistungen der Kommunen, ferner durch Landsteuern, deren zunächst fallweise Erhebungen in das 13. Jahrhundert zurückreichten, vereinzelt noch weiter, und bei wachsender Bedeutung im 15.  Jahrhundert zunahmen, und die Erhebung von Ungeldern, teilweise in Verbindung mit der jeweiligen Stadt. Besonders an den großen Flüssen spielten die Zolleinnahmen eine ausgesprochen wichtige Rolle. Trotz aller potenziellen Rivalitäten dürften die städtischen Vorbilder spätestens im 15. Jahrhundert anregend auf die weitere Ausgestaltung und Ausweitung der Steuerpraxis durch die Territorialverwaltungen gewirkt haben. Der Gemeine Pfennig von 1495 sowie die Matrikularumlagen des 15. und 16.  Jahrhunderts lieferten weitere Muster für die Gestaltung von Steuererhebungen; die gleichzeitig zunehmende Zahl städtischer Bürger und Einwohner in den Territorialverwaltungen dürfte ebenfalls einen Beitrag zum Ausbau des Finanz- und Steuerwesens geleistet haben. Während des Spätmittelalters wurden zuweilen auch Sondersteuern eingefordert. Als Notstände, die dies rechtfertigten, galten vornehmlich Kriege bzw. Fehden, die Gefangenschaft des Landesherrn mitsamt den damit verbundenen Lösegeldforderungen sowie die Ausstattung von dessen Kindern, ergänzt in der Folge um den Befestigungsbau oder die Auslösung entfremdeter, also verpfändeter Domänenteile. Allerdings mussten vielfach die Landstände die Steuererhebung billigen, was teilweise umfangreiche sowie nachvollziehbare Begründungen erforderte. Wie bereits angedeutet, bildeten für die rheinischen Kurfürsten die Flusszölle die wichtigste Finanzierungsquelle des Spätmittelalters; die Einkünfte aus diesen Regalrechten konnten mehr als die Hälfte der Gesamteinnahmen ausmachen. Von 1339 an versuchten zunächst die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier, seit 1371 zudem unter Einschluss der Pfalzgrafen, gemeinsam potenzielle Mitbewerber um die Rheinzolleinkünfte zu verdrängen. So erwarb der Kölner Erzbischof Dietrich von Moers 1424 um nominell 100 000 rheinische Gulden Kaiserswerth als wichtigste niederrheinische Zollstelle von den Grafen von Jülich. Zur Erhebung der Zölle musste aber der Schiffsverkehr relativ ungestört von Fehden, Kriegen und sonstigen Behinderungen ablaufen. Seit dem 15. Jahrhundert, vornehmlich dessen zweiter Hälfte, lässt sich allerdings eine Trendwende erkennen, denn nunmehr setzten diese Kurfürsten häufiger das Mittel der Rheinsperre zu 479

Spätmittelalter

politischen Zwecken ein. Finanziell gewannen die direkten Steuern zeitlich parallel zu dieser Entwicklung an Gewicht und lösten die Zölle sukzessive als wichtigste Einnahmegattung ab.330 Als ein zentraler Aspekt ist dann für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts und das 16. Jahrhundert der sich mit großen regionalen und zeitlichen Unterschieden allmählich vollziehende Übergang vom Domänenstaat zum Finanzstaat anzuführen. Die Hoffinanzen entwickelten sich in jenem Zeitraum zu einem Teil der Staatsfinanzen, wenngleich mit erheblichen Abgrenzungsproblemen und Unschärfen schon in den Augen der Zeitgenossen und noch stärker im Rückblick. Als entscheidend sollte sich schließlich der Zugriff auf indirekte Steuern erweisen, welche der frühmoderne Territorialstaat bzw. der Landesherr ohne Einschaltung der Landstände erheben konnte. In diesem Bereich bot sich, wie schon für die Städte konstatiert, neben der Erhöhung des Steuersatzes die Möglichkeit, den Kreis der besteuerten Waren beträchtlich auszuweiten, um weitere Einnahmen zu generieren. Doch beispielsweise Jean Bodin stand Verbrauchssteuern skeptisch gegenüber und favorisierte aus Gerechtigkeitsgründen Vermögenssteuern. Ähnlich verlockende Möglichkeiten der Einnahmensteigerung boten sich, wenn es der Landesherrschaft gelang, die direkte Besteuerung der Einwohnerschaft durchzusetzen. Dies implizierte ein hohes Maß an Staatlichkeit mit Zugriffsmöglichkeiten bis zur Ebene des individuellen Steuerobjekts ohne Mitwirkung von Mediatgewalten. Zuallererst erforderte diese Praxis 330 Dirlmeier: Zoll- und Stapelrechte, S. 23, 37. Hermann Droege: Spätmittelalterliche Staatsfinanzen in Westdeutschland, in: Öffentliche Finanzen und privates Kapital im späten Mittelalter und in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts, hg. von Hermann Kellenbenz (Forschungen zur Sozialund Wirtschaftsgeschichte, 16), 1971. S.  5–13, gibt für die beiden geistlichen Kurfürstentümer, allerdings für das 16.  Jahrhundert, die Einnahmen der Zentrale mit 90 000 Gulden an, für die Kurpfalz mit 80 000. Bereits im 15. Jahrhundert nahmen nur die Ämter dieser drei Territorien in gleicher Reihung 60 000, 25 000 und 100 000 Gulden ein, von denen allerdings ein großer Teil direkt in den Kellereien wieder verbraucht wurde. Zu den Einkünften des Mainzer Erzbistums steuerten allein die Zolleinkünfte in Oberlahnstein 1436 und 1437 jeweils über 14 500 Gulden bei; Otto Volk: Die Rechnungen der mainzischen Verwaltung in Oberlahnstein im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 47), Wiesbaden 1990, S. XXVII. Das Trierer Erzstift verfügte Ende des 15. Jahrhunderts über etwa 40 000 Gulden jährlicher Einnahmen, war aber wie beispielsweise auch Würzburg hoch verschuldet; Dieter Kerber: Herrschaftsmittelpunkte im Erzstift Trier. Hof und Residenz im späten Mittelalter (Residenzenforschung, 4), Sigmaringen 1995. S.  119  f. Sogar auf eine Last von zweieinhalb Millionen Gulden summierten sich die Schulden des Bistums Würzburg zu Beginn des 15.  Jahrhunderts; Ernst Schubert: Die Landstände des Hochstifte Würzburg, 1967, S. 57. Maulhardt: Grundlagen. Winfried Reichert: Finanzpolitik und Landesherrschaft. Zur Entwicklung der Grafschaft Katzenelnbogen vom 12. bis zum 14. Jahrhundert (Kleine Schriften zur Geschichte und Landeskunde, 1), Trier 1985. Umfassend Friedrich Pfeiffer: Rheinische Transitzölle im Mittelalter, Berlin 1997.

480

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

aber hohe Transaktionskosten für die detaillierte Erfassung der Menschen und ihres Vermögens.331 Derart konnten Besteuerungsmaßnahmen mittels der Abschaffung von Immunitäten sowie lokalen Besonderheiten den inneren Ausbau des Territorialstaats gleichfalls vorantreiben. Zunehmend ließen sich die direkten Steuern von der Zweckgebundenheit lösen, und so musste beispielsweise in Bayern Ende des 17. Jahrhunderts die Notwendigkeit der Steuererhebung nicht mehr eigens inhaltlich begründet werden. Der Gemeine Nutzen spielte auf Reichsebene erst nach 1500 eine Rolle als Legitimation, ebenso in den frühneuzeitlichen Territorialstaaten im Rahmen der guten Policey; als gesellschaftliche Leitkategorie hatte er sich allerdings bereits überlebt und musste mit neuen Inhalten gefüllt werden. Ebenso wie in den Städten bestand an den Höfen im 15. Jahrhundert eine vergleichsweise genaue Kenntnis über die regelmäßigen Einkünfte und Ausgaben in Geld; von einem Etat lässt sich indes auch hier nicht sprechen. Schwieriger einzuschätzen blieben die stark den Witterungseinflüssen unterliegenden Naturaleinkünfte. Dass es für Fürsten als unwürdig galt, sich mit Geld­ fragen auseinanderzusetzen, kann für diesen Zeitraum trotz mancher Ausnahmen nur noch als realitätsfernes Ideal oder als Anachronismus bewertet werden. Kaum rückblickend zu ermessen ist der Einfluss von Beratern, Günstlingen und weiterem Hofpersonal auf die jeweiligen Entscheidungen. Als signifikant erwies sich jedenfalls auf territorialer Ebene wie auf der des Reichs die immense Steigerung des Steueraufkommens im Lauf des 16. Jahrhunderts, die von einem – allerdings nicht dem Gerichtswesen vergleich­ baren – Wachstum der zuständigen Institutionen begleitet wurde.332 331 Kersten Krüger: Finanzstaat Hessen 1500–1567. Staatsbildung im Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, XXIV,5), Marburg 1980. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S.  157–161. Rainer A. Müller: Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 33), München 1995, S. 17–32. Joachim Bahlcke: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 91), München 2012, S. 20–32. Vgl. mit zahlreichen Einzelnachweisen Bernd Fuhrmann: Stadtfinanz und Hoffinanz – welches Verhältnis?, in: Städtisches Bürgertum und Hofgesellschaft. Kulturen integrativer und konkurrierender Beziehungen in Residenz- und Hauptstädten vom 14. bis ins 19. Jahrhundert, hg. v. Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Residenzenforschung, 25), Ostfildern 2012, S. 43–69. 332 Rudolf Schlögl: Bauern, Krieg und Staat. Oberbayerische Bauernwirtschaft und frühmoderner Staat im 17. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 89), Göttingen 1988, S. 209. Den bayerischen Herzögen gelang es erstmals 1542, eine indirekte Steuer auf Getränke zu erheben, welche in der Folge ohne Zustimmung der Stände verwaltet und auf andere Lebensmittel ausgedehnt werden konnte. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts trugen diese Einnahmen mehr als 40 Prozent zum offiziellen Staatsetat bei. Dieter Albrecht: Das Steuerwesen, in: Max

481

Spätmittelalter

Der repräsentative Ausbau der Residenzen vor allem in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts sowie zunehmend der Residenzstädte, die deutliche zahlenmäßige Vergrößerung und Differenzierung der Verwaltungen einschließlich der Justiz und damit auch der Höfe, der Aufbau stehender Heere anstelle der ohnehin schon kostspieligen Söldnertruppen vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg sowie die teilweise barocke Prachtentfaltung weltlicher wie geistlicher Herren ließen den Finanzbedarf drastisch anwachsen. Dennoch fehlt bisher ein generalisierender Überblick über das Wirtschaften der Höfe. Ebenso ist das Wissen über die ökonomische Struktur der Höfe in vielen Fällen zu gering, nicht zuletzt weil zahlreiche Darstellungen zu Adel und Hofleben die ökonomischen oder spezieller die finanziellen Belange weitgehend ausblenden oder nur am Rande streifen. Richard Bonney konstatiert zusammenfassend, dass das Wachstum der Finanzstaaten die Notwendigkeit zur Erschließung neuer Einkünfte begründete, seien es nun Steuern oder Kredite.333 Vor allem die Kosten des Militärs ließen die wie auch immer konkret ausgestaltete Maximierung der Einkünfte zum zentralen Ziel der Staatsfinanzen werden. Doch schon zuvor vermochten Hofordnungen oder Verordnungen der Stände die Kosten höchstens vorübergehend zu beschränken. In der zeitgenössischen Bewertung nahm der Hof bei den Kameralisten, den Vertretern einer vornehmlich in Österreich und im Reich gepflegten, erweiterten Form des Merkantilismus – bei dem es sich seinerseits letztlich um eine Bezeichnung für ein ­lockeres, unterschiedlich ausgestaltetes Maßnahmenbündel handelte –, eine ambivalente Stellung ein: Einerseits galt das Hofleben als traditioneller und unumstrittener Ausdruck des Fürstenrangs, andererseits war der Hof eine unter mehreren kostenintensiven Institutionen, welche zumindest ansatzweise einer Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen werden mussten.

Spindler (Hg.): Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18.  Jahrhunderts (Handbuch der Bayerischen Geschichte, 2), verb. ND München 1974, S. 588–590, hier S. 589. Vgl. zur Frühen Neuzeit Martin Körner: Steuern und Abgaben in Theorie und Praxis im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Eckart Schremmer (Hg.): Steuern, Abgaben und Dienste vom Mittelalter bis zur Gegenwart (VSWG Beihefte, 114), Stuttgart 1994, S.  53–76. Andreas Schwennicke: „Ohne Steuern kein Staat“. Zur Entwicklung und politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs (Ius Commune, Sonderhefte: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 90), Frankfurt a. M. 1996. Michael Stolleis: Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1983. Werner Buchholz: Geschichte der öffentlichen Finanzen in Europa in Spätmittelalter und Neuzeit. Darstellung ∙ Analyse ∙ Bibliographie, Berlin 1996. Hermann Schulz: Das System und die Prinzipien der Einkünfte im werdenden Staat der Neuzeit, dargestellt anhand der kameralwissenschaftlichen Literatur (1600–1835) (Schriften zum Öffentlichen Recht, 421), Berlin 1982. 333 Bonney, Richard, Introduction, in: ders. (Ed.), Economic Systems, S. 1–18, hier S. 6, 13.

482

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

Beispielsweise Johann Joachim Becher (1635–1682)334 oder etliche Jahrzehnte später Veit Ludwig von Seckendorff (1673–1763)335 betonten in aller Deutlichkeit die Prunkentfaltung der Höfe als den entscheidenden Grund für die Zerrüttung der Territorialfinanzen. Sparsamkeit und höfische Repräsentation ließen sich eben kaum vereinen, selbst wenn Becher für einen Mittelweg zwischen Pfennigfuchserei sowie allzu prunkvoller Entfaltung des Hoflebens plädierte und eine ausgeprägte Verschwendung nur für eine Minderheit der Landesherren konstatierte. Jedenfalls lagen die Kosten für die meisten Höfe im Reich über dem im frühneuzeitlichen Europa üblichen Zehntel der Staatsausgaben, wahrscheinlich schon der Kleinheit vieler Territorien sowie ihrer wechselseitigen Konkurrenz um Ansehen und Reputation geschuldet. Ausnahmen bildeten lediglich Österreich und Preußen mit allerdings hohen Militärausgaben. In Preußen trugen die Einkünfte von den Domänen selbst noch im Rechnungsjahr 1765/66 ein knappes Drittel zu den Gesamteinnahmen bei, was auf die ökonomische Rückständigkeit der Region und ein wenig ausgeprägtes Gewerbe hinweist. Schon die Schätzungen zu Einnahmen und Ausgaben einzelner Territorien differieren teilweise gravierend, was Einordnungen nochmals deutlich erschwert. Abgesehen 334 Johann Joachim Becher: Politische Discurs, ND d. Ausgabe Frankfurt 1688, Glashütten im Taunus 1972, S. 5: „dann wann mehr Burgermeister als Bürger in eyner Stadt seyn, mehr Prediger und Beichtvätter als Zuhörer und Beichtkinder, mehr Schulmeister als Schüler, mehr Doctorn als Krancken, mehr Soldaten als Bürger und Bauern, mehr Edelleut als Unterthane, so stets kahl umb selbig Land, und ist kein Zweiffel, daß ein solch Land oder Statt bald verderben müsse. Dessen wir dann klare Exempel haben an denen, welche mehr Diener annehmen als sie ernehren können oder vonnöthen haben, ich auch darfür halte, daß kein Ding seye, welches die Potentaten samdt Land und Leuten mehr verderbe und ehender ruiniere, als eben diese gar grosse unnöthige Hoffhaltung.“ Thomas Winkelbauer: Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter (Österreichische Geschichte 1522–1699), Wien 2003, S. 456, charakterisiert Becher als Alchemisten und Wirtschaftsberater. 335 Veit Ludwig von Seckendorf: Teutscher Fürstenstaat. Samt des Autors Zugabe sonderbarer und wichtiger Materien. Verbessert, mit Anmerkungen, Summarien und Register versehen von Andreas Simson von Biechling, Jena 1737, ND Aalen 1972, S. 649 f.: „Die erfahrung bezeugt, daß wenn in diesem stück das werck zu hoch gespannet, die hofstatt mit dienern überlegte oder übel versehen, daß tractament in küchen und keller, fütterung und dergleichen, so wohl auch an geld-besoldung, überflüssig und höher, als mans erschwingen kann, gestellet und eingerichtet, oder darbey kein maasse und ordnung gemacht wird, oder wenn man allzu viel auf lust und ergetzlichkeiten, köstliche mobilien, grosse und übermäßige gebäude, unnöthige reisen, überflüssige leib-guarden, und dergleichen sachen, die man entrathen kann, wendet, daß dadurch zuförderst das fürstliche cammer-wesen gantz zerrüttet, kein auskommen mehr aufgebracht, aller ertrag der ämter verzehret, und mit grossen unstatten nach Hof geschaffet, schulden und schimpflicher borg gemacht, der credit verlohren, neue beschwerungen auf die unterthanen gewirckt, und allerley nothwendige ausgaben, wodurch der stand, hoheit, macht und ansehen, vielmehr als durch grossen pracht und aufgang bey hof behauptet wird, unterlassen werden müssen.“

483

Spätmittelalter

von der Zunahme des Steueraufkommens sowie steigender Abgabenlasten für weite Teile der Bevölkerung lassen sich kaum allgemeine Trends erkennen, denn als zu heterogen erweisen sich die Glieder des Reiches und ihr jeweiliges Vorgehen. Ebenso fehlen jüngere Untersuchungen über die Ausgewogenheit der Steuereinnahmen und die Belastung, die sie für die Wirtschaft darstellten, sowie zur längst nicht immer konfliktfreien Konkurrenz zwischen fiskalischen Interessen und wirtschaftspolitischen Intentionen.336 Die Merkantilisten zielten auf eine positive Handelsbilanz, um Edelmetallvorräte anzuhäufen, da in ihrer Sicht im Handelskreislauf die Gesamtsumme stets gleich blieb. Gewinne in diesem Nullsummenspiel konnten in ihren Augen nur auf Kosten von Verlusten anderer Staaten, Territorien oder Städte erzielt werden.

Das Reich Kommen wir noch kurz auf die Reichsfinanzen zu sprechen. Das Fragment einer Reichssteuerliste des Jahres 1241 lässt zweierlei durchblicken: Kommunale Steuerleistungen, ergänzt um die Leistungen einiger Reichsdörfer, hatten zu diesem Zeitpunkt eine gewisse, anteilsmäßig aber nicht fassbare Bedeutung für die Herrscher, und es existierte in diesem Zeitraum bereits eine wohl mehr als nur ansatzweise verschriftlichte Verwaltung. Als Vorläufer, wenngleich mit anderer Zielrichtung, lässt sich eine 1207 auf einem Reichstag in Nordhausen beschlossene Kreuzzugssteuer einschätzen, während Otto IV. wenige Jahre später auf die Erhebung einer Pflugsteuer, also einer Abgabe vom Landbesitz, zielte. Eventuell spielten bei den Steuerforderungen des letzten Stauferkaisers normannische Einflüsse eine Rolle, ­vermittelt über das Königreich Sizilien, wo die Staufer im letzten Jahrzehnt des 12.  Jahrhunderts das Erbe der normannischen Könige angetreten 336 Walter Bauer: Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus (Frühneuzeitstudien, N. F. 1), Wien u. a. 1997, S. 46 f. Peter Claus Hartmann: Monarch, Hofgesellschaft und höfische Ökonomie. Wirtschaft und Gesellschaft in neuzeitlichen Residenzen, in: Kurt Andermann (Hg.): Residenzen – Aspekte hauptstädtischer Zentralität von der Frühen Neuzeit bis zum Ende der Monarchie (Oberrheinische Studien, 10), S. 73–82, hier S. 79–81. Enno Bünz: Hofwirtschaft. Zusammenfassung und Ausblick, in: Hofwirtschaft. Ein ökonomischer Blick auf Hof und Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Gerhard Fouquet/Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (Residenzenforschung, 21), Ostfildern 2008, S. 487–503. Rainer Gömmel: Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 46), München 1998, S. 24 f., 41 f., 70. Vgl. exemplarisch Maximilian Lanzinner: Fürst, Räte und Landstände. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern 1511–1598 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 61), Göttingen 1980.

484

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

­ atten. In jedem Fall handelt es sich um eine Momentaufnahme, bei der die h Zahlungsverpflichtungen wohl mit der aktuellen Wirtschaftskraft der Städte korrelierten; wie häufig Neufestsetzungen vorgenommen wurden, muss offenbleiben. Laut dem Fragment von 1241 mussten die höchsten Summen Frankfurt (250 Mark), Gelnhausen, Hagenau, Basel und die Straßburger Juden (jeweils 200 Mark) aufbringen. Die Nichterwähnung von Kommunen im Norden und auch im Osten des Reichsgebiets verweist ebenso wie das Fehlen der rheinischen Bischofsstädte auf eine eben nur begrenzte Reichweite kaiserlicher Herrschaft, zumal für Friedrich II. seine italienischen Pläne politisch im Zentrum standen. Überraschenderweise fehlt hingegen auch Nürnberg. Es wird sichtbar, dass Stadtbrände und der Bau steinerner Stadtmauern zu einer Reduktion der Steuer oder ihrem vorübergehenden Erlass führen konnten; ohnehin kannten die Staufer aus Italien ganz andere potenzielle Einkünfte. Einen nicht unerheblichen Teil der Einnahmen im Reich nördlich der Alpen verpfändeten Friedrich II. bzw. seine Vertreter zudem zeitweise. Immerhin gilt als weitgehend gesichert, dass zumindest Rudolf von Habsburg aufgrund der teilweise erfolgreich gestalteten Revindikation noch über große Anteile des staufischen Reichsguts verfügen konnte, dazu über beträchtliche Teile des staufischen Allodialbesitzes. Diese erwiesen sich jedoch als hochgradig verwoben, was eine konkrete Zuordnung im Rückblick häufig erschwert. Die Gebiete lagen vornehmlich im Südwesten des Reichsgebiets, also dem ehemaligen Herzogtum Schwaben, aber auch in Franken oder am Mittelrhein und Untermain. Während des 14. Jahrhunderts erfolgten dann aber immer wieder umfangreiche, sich teilweise verfestigende Verpfändungen von Reichsgut einschließlich der Steuerleistungen, am stärksten ausgeprägt wohl unter Karl IV. Denn schon die Konkurrenz sowie die Rivalitäten zwischen den führenden Familien oder Dynastien ließen eine reichsweite Steuerausschreibung kaum mehr zu. Zum entscheidenden Faktor für die Regierungsfähigkeit entwickelten sich jedenfalls die Territorien der Herrscher mitsamt den dort zu erzielenden Einnahmen, was zugleich den Kreis der potenziellen Königskandidaten im Wesentlichen auf nur noch wenige Familien reduzierte. Die vielfachen Bemühungen des Reichserbkämmerers Konrad von Weinsberg, seit dem zweiten Jahrzehnt des 15.  Jahrhunderts im Auftrag König Sigismunds die Reichssteuern zu reaktivieren, scheiterten weitgehend. Nach dem von Konrad von Weinsberg Anfang 1418 erstellten Verzeichnis war dem Reich aufgrund der zahlreichen Verpfändungen nur noch ein minimaler Ertrag aus den reichsstädti485

Spätmittelalter

schen Steuerleistungen verblieben.337 Bei dem Versuch, 1427 im Zuge der Hussitenkriege eine außerordentliche Reichssteuer zu erheben, erlangten die Kurfürsten zwar die Zustimmung des Reichstags, dennoch fanden die ohnehin nur spärlich geleisteten Zahlungen ein schnelles Ende. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Auseinandersetzungen mit den Hussiten vornehmlich als ein Problem Sigismunds als böhmischer König, nicht aber als ein Problem des Reichs und seines Oberhaupts bewertet wurden. Der Entwurf sah neben einer Kopfsteuer eine Vermögenssteuer vor, wobei Adel und Klerus keine Ausnahme bildeten, sodass prinzipiell alle Einwohner des Reichs hätten zahlen müssen. Grundlegenderen Vorschlägen zu einer Reform der Reichsfinanzen durch Konrad von Weinsberg verschloss sich der Herrscher weitgehend; ob eine solche im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts noch Chancen auf Umsetzung gehabt hätte, darf bezweifelt werden. Als weitere Geldquelle nutzten die Herrscher die Juden, welche seit 1236 durch einen Entscheid Kaiser Friedrichs II. zum königlichen Fiskus zählten. Allerdings ging das Judenregal bereits zu dessen Zeit vereinzelt auf die Territorialherren über, wenngleich auch dieser Prozess erst unter Karl IV. größere Ausmaße erreichte. In der Folge brachte dieser Rechtsanspruch dem Reich kaum noch Mittel ein. Dennoch gewann im 14. Jahrhundert die Vorstellung wieder an Gewicht, dass alle Juden unabhängig von ihrem sonstigen Status direkt dem Herrscher unterstanden. Erstmals ließ Ludwig der Bayer 1342 den sogenannten Goldenen Opferpfennig erheben: Als Gegenleistung für den mehr oder weniger erbrachten Judenschutz musste jeder erwachsene Jude, sprich jeder über Zwölfjährige beiderlei Geschlechts, mit einem Vermögen von mindestens 20 Gulden einen Gulden Steuer entrichten. Da die Steuer als direkte konzipiert war, hing ihr Ertrag nicht zuletzt von der Durchsetzungsfähigkeit des Königs ab; bei den sonstigen Besteuerungen musste die jeweilige Judengemeinde eine Gesamtsumme aufbringen. In königsfernen Regionen wie dem Norden des Reichs erfolgte daher häufig eine Verpachtung des Goldenen Opferpfennigs, um überhaupt Einnahmen zu erzielen; spätere Herrscher führten diese Praxis fort. König Wenzel bediente sich dann in Verbindung mit einigen Reichsstädten, Fürsten und weiteren Hochadligen der bereits thematisierten Judenschuldentilgungen, um als Teilhaber seiner Partner die eigenen Kassen zu füllen. Die oberdeutschen Judengemeinden verloren Ende des 14. Jahrhunderts durch dieses Vorgehen hohe Summen. Seine Nachfolger strebten erneut den 337 Weinrich: Quellen Verfassungsgeschichte, S. 446–448.

486

Öffentliche Finanzen und Kreditwirtschaft

­ usbau der seinerzeitigen Besteuerungspraxis an, deren Einnahmen sich zu A Beginn des 15. Jahrhunderts auf etwa 16 000 Gulden summieren konnten. Vor allem Sigismund versuchte nochmals, die Judenschaft im Reich mit weiteren Krönungs- und Reichssteuern sowie Konzilssteuern zu belasten, forderte sogar den dritten Pfennig, also ein Drittel des verbliebenen Gesamtvermögens, als Steuerleistung. Zudem ließ er sich Privilegien zugunsten von Juden oder ihrer Gemeinden teuer bezahlen. Punktuell gelang es derart, vergleichsweise hohe Summen der stets klammen königlichen Kasse zuzuführen, wenngleich teilweise erst nach langwierigen und zähen Verhandlungen sowie einer nicht unerheblichen Reduktion der Ansprüche. Mit zunehmender Tendenz verweigerten Territorialherren, aber auch Städte indes die Steuererhebung mit dem Argument, dass sie über das Judenschutzrecht verfügten, die Gelder somit ihnen zustünden. 1495 beschloss schließlich der Wormser Reichstag auf Basis älterer Überlegungen und Modelle zur Besteuerung den gemeinen Pfennig als allgemeine Reichssteuer für vorerst vier Jahre. Er sollte weitgehend zweckgebunden zur Finanzierung des Ewigen Landfriedens und des Reichskammergerichts dienen, das nicht zuletzt zu Zwecken der Friedenswahrung installiert werden sollte; die Erfolge blieben vorerst begrenzt. Als Erfolg versprechender erwiesen sich schließlich die auf Vorbilder des 15. Jahrhunderts zurückgehenden Matrikularbeiträge ab 1521, als der Reichstag für das kommende Jahr eine Romzugshilfe zugunsten Karls V. beschloss. Den Basiswert bildeten die monatlichen Kosten für ein fiktives Aufgebot von 4000 Reitern und 20 000 Fußsoldaten (Römermonat), welche nach einer zu diesem Zweck angefertigten Matrikel von Territorien und Städten anteilsmäßig aufzubringen waren. Insbesondere die Kriegsfinanzierung gewann derart für die Habsburger in den folgenden Jahrzehnten eine sicherere Basis, wenngleich der konkrete Bedarf, also die Anzahl der „Monate“, immer wieder zwischen Herrscher und Reichsständen neu ausgehandelt werden musste. Da pro Reiter zehn (ab 1551 zwölf) und pro Fußkämpfer vier Gulden zur Anrechnung gelangten, ergab sich eine Summe von 120 000, dann von 128 000 Gulden je Monat, das sogenannte Simplum, welches mit dem angenommenen Bedarf multipliziert wurde.338 Allerdings nutzten Territorialherren vielfach die 338 Andreas Christoph Schlunk: Königsmacht und Krongut. Die Machtgrundlagen des deutschen Königtums im 13.  Jahrhundert – und eine neue historische Methode, Stuttgart 1988. Peter Schmid: Der Gemeine Pfennig von 1495. Vorgeschichte und Entstehung, verfassungsgeschichtliche, politische und finanzielle Bedeutung (Schriftenreihe der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 34), Göttingen 1989. Michael North: Finances and power

487

Spätmittelalter

Möglichkeit, auf die Reichssteuern einen teilweise erheblichen Aufschlag zugunsten der eigenen Kasse zu erheben, da den Steuerpflichtigen die Forderungshöhe seitens des Reiches nicht bekannt war und die Herren einfach Herrscher und Reichstag als Verantwortliche für die gesamte Belastung ­benannten. Seit dem ausgehenden 16.  Jahrhundert ist dann auch eine ­Zunahme des Schrifttums zu den Staatsfinanzen zu erkennen, was auf deren generell gestiegene Bedeutung verweist.

Ernährung Belastbare Belege zur Qualität von Essen und Trinken auf Basis sich wechselseitig ergänzender archäologischer sowie schriftlicher Nachweise finden sich seit dem 14. Jahrhundert. Zwar waren wahrscheinlich schon im Frühmittelalter, sicher seit dem Hochmittelalter Quantität und Qualität des Essens ausgeprägte Statusmerkmale, doch ist es erst ein Phänomen des Spätmittelalters, dass kaum an all der Nahrungsfülle partizipierende Bedienstete bei opulenten Festessen wesentlich mehr auftrugen, als die Anwesenden überhaupt verzehren konnten; hier könnten römische Vorbilder Einfluss genommen haben. Eine Ernährungsgeschichte für Deutschland ist unverändert ein Desiderat der Forschung, allerdings liegt eine Vielzahl kleinerer Beiträge zu diesem Thema vor. Gegenüber der älteren Literatur muss aber zunächst betont werden, dass solche Schilderungen von Verbrauchsexzessen des 15. und 16. Jahrhunderts unzulässig verallgemeinert worden sind, eine Charakterisierung der Zeit als ein „Fress- und Saufzeitalter“ mithin grundsätzlich falsch ist.339 Insgesamt verbleiben trotz aller bisherigen Forschungsbemühungen im Hinblick auf die Quantitäten erhebliche Unsicherheiten. Der Grund dafür ist nicht zuletzt in den Eigenheiten des Quellenmaterials zu suchen, wie beispielsweise Verbrauchssteuerverzeichnisse, Verpflegungsordnungen, Provi

in the German state system, in: Bartolomé Yun-Casalilla/Patrick K. O’Brien (Hg..): The Rise of Fiscal State. A Global History, 1500–1914, Cambridge 2012, S. 145–163. North (Hg.): Aktie. Walter Schomburg (Hg.): Lexikon der deutschen Steuer- und Zollgeschichte. Abgaben, Dienste, Gebühren, Steuern und Zölle von den Anfängen bis 1806, München 1992. Heinrich Troe: Münze, Zoll und Markt und ihre finanzielle Bedeutung für das Reich vom Ausgang der Staufer bis zum Regierungsantritt Karls IV. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsfinanzwesens in der Zeit von 1250 bis 1350, Stuttgart/Berlin 1937. Battenberg: Zeitalter. 339 Vgl. mit weiterer Literatur Dirlmeier/Fouquet: Konsumgewohnheiten. Wiegelmann/Mohrmann (Hg.): Nahrung. Ernst Schubert: Essen und Trinken im Mittelalter, Darmstadt 2006.

488

Ernährung

antverzeichnisse, Vorratserhebungen, Versorgungsverträge, Abrechnungen geistlicher und weltlicher Großhaushalte. Private Haushaltsbücher sind selten und bilden zumindest bis einschließlich des 16. Jahrhunderts fast eine Rarität in der Überlieferung. Seit dem 14. Jahrhundert sind darüber hinaus diätetisch-medizinische Traktate und Kochbücher überliefert. Die Verbrauchssteuerverzeichnisse ermöglichen zwar Berechnungen zum Durchschnittskonsum größerer Bevölkerungsgruppen, doch bleiben diese Werte ohne jeglichen Bezug zur Sozialstruktur der einzelnen Städte, sodass sie letztlich eine nur fiktive Größe darstellen. Detaillierte Haushaltsrechnungen betreffen in der Regel nur kleine Gruppen aus der Oberschicht, was grundlegende Probleme hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit aufwirft. Zudem enthalten derartige Aufzeichnungen nur Informationen über Einkaufs­ mengen und -summen, während Auskünfte über die anschließende Verarbeitung der Produkte fehlen; Gleiches gilt für die Einkünfte aus der Eigenwirtschaft von Adel und Klerus, aber auch mancher Großbürger, sowie für die Erträge aus den Gärten der Einwohner. Im Hinblick auf die Ernährung der ländlichen Bevölkerung, also der Bauern und deren Hilfskräfte, bleibt die Forschung vielfach auf Vermutungen und Indizien angewiesen. Für die Mehrheit der Bevölkerung dürften im Hochmittelalter dunkleres Brot, Mus sowie mit etwas Schmalz gekochter Brei aus Getreide und Hülsenfrüchten die Grundlage einer tendenziell relativ abwechslungsarmen Ernährung gebildet haben; dies galt unverändert für die folgenden Jahrhunderte. Ohnehin handelte es sich tendenziell um eine Mangelgesellschaft mit immer wiederkehrender Bedrohung durch Hunger. Als wichtigstes Brotgetreide ist der Roggen zu nennen, während im Südwesten der Anbau von Dinkel fortgeführt wurde. Dazu traten Gerste, Weizen vornehmlich für das teurere Weißbrot sowie für Semmeln, die weitgehend den kaufkräftigeren Konsumenten vorbehalten blieben, seltener Hirse. Im Vergleich zum Weizenbrot lag der Backertrag der dunklen Brote in Relation zum Ausgangsgewicht des Getreides deutlich höher, so sind bei gutem Roggenbrot Werte von 80 Kilogramm und mehr ausgebackenem Brot aus 100 Kilogramm Getreide eine realistische Annahme. In Teuerungszeiten konnten durch die Zugabe weiterer Substanzen über 100 Kilogramm Brotertrag erzielt werden. Bei feiner Qualität lagen die Vergleichszahlen für Weizenbrot bei 32 bis 49 Kilogramm, bei normalem Ausbacken bei 54 bis 62 Kilogramm. Neben Hülsenfrüchten wurden vermutlich archäologisch nur schwer nachweis­ bares Gemüse und einheimische Gewürze, in erster Linie Zwiebeln und Senfmehl, verzehrt. Wildobst diente der Nahrungsergänzung. Gerade die 489

Spätmittelalter

archäologischen Befunde zeigen ein unerwartet breites Nahrungsspektrum, wenngleich die Nachweischancen für einzelne Pflanzen oder Früchte deutlich differieren und schon deswegen keine relativen Anteile berechnet werden können. Ohnehin folgte die Zubereitung der Speisen zahlreichen lokalen und regionalen Besonderheiten. In den Obstgärten wuchsen in erster Linie Apfel-, Birn-, Kirsch- und Pflaumen- sowie Zwetschgenbäume. Am Rhein lässt sich im späten 14. Jahrhundert ein Handel mit leicht verderblichen Früchten bis etwa 50 bis 60 Kilometer flussabwärts nachweisen. Hermann von Goch, der Siegler des Kölner Erzbischofs, Großbürger und einer der reichsten Finanzmänner der Stadt, bezog gegen Ende dieses Jahrhunderts in den letzten Maitagen Kirschen und frische Erbsen vom Mittelrhein. Die Kirschbaumkulturen am Oberrhein lieferten seit dem 17. Jahrhundert jene schwarzen Kirschen, aus denen das Schwarzwälder Kirschwasser gebrannt wurde, genutzt beispielsweise als Arznei gegen den Schlagfluss (Schlaganfall); wie beim Aquavit im frühen 15.  Jahrhundert war die Verwendung zunächst eine überwiegend medizinische. Birnen, Äpfel und Pflaumen wurden häufig vor dem Verkauf und Verzehr zuerst getrocknet. Ein Nürnberger Stadtphysikus des 15. Jahrhunderts, der schon erwähnte Johannes Lochner, lehrte sogar, damit wie­ derum antiken Autoritäten folgend, dass der Genuss von frischem Obst schädlich sei, da es im Magen Fäulnis verursache; weitere diätetische Schriften verbreiteten diese Vorstellung gleichfalls. Im Speyrer Umland lassen sich zudem umfangreiche Mandelpflanzungen nachweisen. Durch den Vergetreidungsprozess seit dem 11. Jahrhundert war der Viehbestand im Verhältnis zur wachsenden Bevölkerung drastisch zurück­ gegangen. Damit ging eine Verschlechterung der Ernährungssituation einher, da tierische Eiweiße und Fette nun vielfach fehlten. Grabungen auf dem Zürcher Münsterhof mit Befunden aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und dem 13.  Jahrhundert belegen, dass hier das Schwein der wichtigste Fleischlieferant war, gefolgt von Rindern sowie Pferden, Schafen und Ziegen. Ob Pferde allerdings überhaupt verzehrt wurden und wenn ja, in welchen Mengen, muss allerdings offenbleiben, da nachträglich nur der Knochenanteil der einzelnen Tierarten im jeweiligen Befund gewichtet werden kann, nicht aber die Verwendung des Fleischs. Dass die Bewohner des Zürcher Münsterhofs hingegen Jungtiere und damit Fleisch besserer Qualität in nicht geringer Anzahl verzehrt haben, verweist auf einen gewissen Wohlstand. Wildtiere wie Rothirsch, Reh, Wildschwein oder Hase trugen kaum zur Ernährung bei. Ergänzt wurde das Fleischangebot mit Geflügel, 490

Ernährung

Gänsen, Enten, Reb- und Haselhühnern, zumal die Geflügelhaltung eine weite Verbreitung erfuhr; aber auch Wachteln oder Krammetsvögel (Wacholderdrosseln) und Drosseln kamen auf den Tisch, ebenso Eichhörnchen und Biber. Eier dürften vielfach den Speiseplan bereichert haben. Die unterste Qualitätsstufe beim Fleisch bildete das gekochte Suppenfleisch, das überwiegend nicht von Mastvieh, sondern von älteren Nutztieren stammte, also von Tieren, die ihr bisheriges Dasein beispielsweise als Zug­ ochse oder Milchkuh verbracht hatten und nun altersbedingt ihrer Restverwertung zugeführt wurden. Als höherwertig galten in aufsteigender Linie Braten, Geflügel und ganz besonders Wildbret als ausgesprochene Herrenspeise. Dessen herausragende Stellung wird beispielsweise daraus deutlich, dass Bedienstete des Reichserbkämmerers Konrad von Weinsberg in der ersten Hälfte des 15.  Jahrhunderts diesem einen Hirsch, der ihm an seinem Stammsitz unweit Heilbronn zum Geschenk gemacht worden war, nach Frankfurt lieferten, wo das sicherlich nicht mehr ganz frische Tier vermutlich im Rahmen eines Festessens mit hochrangigen Besuchern verzehrt wurde. Archäologische Untersuchungen auf Adelsburgen lassen darauf schließen, dass der Anteil von Wild in Form von Hasen, Rot- und Rehwild oder Wildschweinen in der Regel bei unter fünf Prozent des Fleischverbrauchs lag; Bären bildeten eine ausgesprochen seltene Ausnahme. Grundsätzlich gilt beim Fleischverzehr, dass der mehr als gelegentliche Genuss von jungem Vieh als ein Anzeichen für einen gehobenen Lebensstandard zu werten ist. Der großbürgerliche Kölner Haushalt des Hermann von Goch sei hier als konkretes Beispiel angeführt: Aus dem in großen Mengen erworbenen Rindfleisch bereiteten die Bediensteten unter der Anleitung eines Kochs, den ein Unterkoch unterstützte, in großer Stückzahl Pasteten zu, gefüllt vermutlich mit reichlich Fleisch. Der eigene Viehbestand trug mit Schweinen und Hammeln bzw. Schafen zur Ernährung bei; über Stückzahlen erfahren wir in derartigen Fällen leider nur etwas, wenn ein Metzger die Tiere gegen Lohn schlachtete, denn nur solche Ausgaben verzeichneten die Rechnungen. Daneben gelangte das allgemein beliebte Geflügel auf die Tafel, in erster Linie Hühner, aber ebenso Tauben, Rebhühner, Schnepfen oder Fasane. Beim Einkauf von Fisch bildeten Heringe den Löwenanteil, gefolgt von Hechten, Schellfisch (bollich), Lachs sowie allgemein Rheinfisch und Karpfen. Die verwendeten Importgewürze deckten das bekannte Spektrum ab.340 340 Franz Irsigler: Ein großbürgerlicher Kölner Haushalt am Ende des 14. Jahrhunderts, in: Studien zur Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte. FS Matthias Zender, hg. v. Edith Ennen u. a., Bonn 1972, S. 635–668.

491

Spätmittelalter

Trotz aller sich langsam vollziehenden Veränderungen blieb Getreide im Spätmittelalter der wichtigste Kalorienlieferant. Abgesehen von der weiten Verbreitung des – auf fast allen Böden möglichen – Kartoffelanbaus seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sollte sich dies grundsätzlich erst mit den massiv gewandelten Verbrauchsgewohnheiten nach der Industrialisierung und vor allem seit den 1950er/1960er-Jahren ändern. Der Mais­ anbau, der gleichfalls im späten 18. Jahrhundert in Europa an Bedeutung gewann, spielte im Reich kaum eine Rolle. Trotz der prinzipiell einheitlichen Ernährungsgrundlage verstärkten sich im Verlauf des Spätmittelalters die regionalen Differenzen. Landschaftlich sowie überwiegend durch die Anbau- und Produktionsmöglichkeiten bedingt, die ihrerseits von den natürlichen Rahmenbedingungen wie Klimazone und Bodenqualität abhingen, unterschieden sich beispielsweise Regionen mit ausschließlichem oder dominierendem Anbau von Roggen bzw. Weizen und solche mit vorherrschendem Wein- bzw. Bierkonsum. An dieser Stelle werfen wir einen Blick auf den Getränkekonsum einer Kaufleutegesellschaft, nämlich der Lübecker Greveraden-Brüder, einer Trinkstubengemeinschaft ähnlich den nochmals luxuriöseren Zirklern. Die Gelagekampagne begann bei all diesen Gesellschaften an Martini (11. November) und endete an Palmsonntag, also am Sonntag vor Ostern, dauerte also je nach Datierung des Osterfestes zwischen 18 und 23 Wochen. Die winterlichen Gelage folgten den Ruhezeiten des Kaufmanns, denn für die Schiffe galt von Martini bis Petri Stuhlfeier (22. Februar) ein Fahrverbot. Für die Greveraden-Brüder gestaltete sich die allabendliche Anwesenheit in der Trinkstube als eine Verpflichtung, auch „Schwestern“ wurden zugelassen. Anhand des von 1489 bis 1537 geführten Kompaniebuchs lässt sich der Konsum errechnen, denn darin verzeichneten die Mitglieder genau, wer Abend für Abend dort weilte, wer nur zeitweilig anwesend sein konnte und wer Gäste mitbrachte. In der Trinkkampagne 1496/97 konsumierten die Brüder 119 Tonnen hochwertiges Hamburger Bier, umgerechnet ca. 20 670 Liter. Die zusätzlich erworbenen 13 Tonnen Lübecker Bier (1 976 Liter) dürften ausschließlich für das Dienstpersonal und die Spielleute verwendet worden sein. 29 Brüder nun waren in jenem Winter während der gesamten 21 Wochen jeden Abend anwesend, fünf weitere nur teilweise. Werden diese fünf mit der Hälfte der Zeit angesetzt, so ergibt sich ein Pro-Kopf-Konsum von 4½ Litern täglich, ein durchaus staunenswerter Dauerkonsum gerade im Hinblick auf das alkoholreiche Hamburger Weißbier. Bei diesem Weißbier handelte es sich aber entgegen heutiger Braupraxis noch nicht um 492

Ernährung

­ efeweizen. In den Kampagnen 1498/99 sowie 1500/1501 wurden durchH schnittlich 4 1/3 Liter Weißbier pro Kopf konsumiert.341 Aus einer ausgesprochen breiten Warenpalette konnten die Besucher des Konstanzer Konzils (1414–1418) wählen: Das Angebot der einheimischen Bäcker ergänzten fremde, die fahrbare Öfen durch die Stadt schoben oder zogen, in denen sie Brezeln und Pasteten backten. Letztere waren mit Hühnerfleisch, verschiedenen Vogelarten, Gewürzen, sonstigem Fleisch oder Fisch gefüllt, sodass jeder die Zutaten seiner Pastete auswählen konnte, wie der Chronist des Konzils, Ulrich Richental, berichtete. An Fleisch notierte der Beobachter ausreichende Mengen von Rindern, Schafen, Ziegenkitzen, Schweinen, Kälbern sowie Hühnern und sonstigem Geflügel. Wacholderdrosseln, Drosseln und Amseln ergänzten wieder einmal das Angebot, das der Chronist als im Preis erschwinglich bewertete. Ebenso gelangten Wildschweine, Hirsche, Rehe, Dachse, Fischotter, Biber, Hasen, Hasenalbinos, Reb- und Steinhühner auf die Märkte der Bodenseestadt. Jedoch spiegelt diese außergewöhnlich breite Angebotspalette nicht den alltäglichen Marktverkehr wider, sondern verschwand mit dem Abzug der Konzilsteilnehmer teilweise wieder vom Markt. Die Weinverkäufer boten das ganze Spektrum vom Knechtswein bis hin zu Malvasier und weiteren teuren Südweinen feil. Bei Fröschen und Schnecken verwies der Autor ausdrücklich darauf, dass diese ausschließlich von den „Welschen“ gekauft worden seien, denn diese Art von Speisen scheint Richental suspekt gewesen zu sein. Beim Fisch unterschied der Chronist zunächst allgemein zwischen frischem, gesalzenem und geräuchertem Fisch, bevor u. a. Stör, Forellen, Schellfisch, junger Barsch, Stockfisch, Heringe, Brassen und Gründlinge Erwähnung fanden. Gebackene Fische gelangten sogar aus der Lombardei und vom Gardasee in die Konzilsstadt.342 Kandierte Früchte und Konfekt galten als Bestandteile einer sozial gehobenen Ernährung. Weiterhin fehlte Butter oder Anken in besseren Haushalten nicht, obschon der Butterpreis im 16. Jahrhundert nochmals anzog. Das Konservierungsproblem lösten die Produzenten unterschiedlich, im ­Norden durch Salzen, während im Süden die Butter überwiegend zu Schmalz gesotten wurde. Auch beim Käseverbrauch erwiesen sich die sozialen Unter341 Gerhard Fouquet: Nahrungskonsum und Öffentlichkeit im Späten Mittelalter. Beobachtungen zum Bierverbrauch der Lübecker Oberschicht, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-holsteinische Geschichte 124 (1999), S. 31–47. 342 Ulrich Richental: Chronik des Konzils zu Konstanz, 1414–1418, Faksimile der Konstanzer Handschrift, Darmstadt 2013, fol. 23r–25v.

493

Spätmittelalter

schiede als ausgeprägt: In der bäuerlichen Hauswirtschaft blieb wahrscheinlich der leicht verderbliche Sauermilchkäse vorherrschend, der zusammen mit Brot und den Nebenprodukten der Käserei, vornehmlich in Form von Käsesuppe, die Grundnahrung in viehwirtschaftlich bestimmten Regionen bildete. Den haltbareren, aber aufgrund seiner aufwendigen Herstellung wesentlich teureren Lab- oder Süßmilchkäse konsumierten seit dem 13. Jahrhundert fast ausschließlich Angehörige der gehobenen Mittelund Oberschichten. Als ausgesprochen hochwertiges Handelsgut galten die quer durch Europa vertriebenen Hartkäse. Kirchliche Vorschriften beeinflussten die Ernährung stark, und Verstöße gegen Fastenverbote konnten Strafen der weltlichen Obrigkeiten nach sich ziehen. Zwei Wochentage, Freitag und Samstag, galt es fleischfrei zu gestalten, doch durfte Fleisch durch Fisch und Eier ersetzt werden. Besonders der Fleischgenuss in den Fastenzeiten spielte dann in der Frühphase „der“ Reformation eine wichtige Rolle, um die Abkehr von der alten Kirche zu demonstrieren. In den strikt einzuhaltenden vorösterlichen Fastenzeiten blieb sogar der Genuss von Eiern und Butter verboten. Allgemeine Fastendispense gewährten freilich die päpstliche Kurie oder eigens bestellte Legaten, selbstverständlich gegen Geldzahlungen. Mit den sogenannten Butter­ briefen erkauften zudem Territorialherren oder Städte seit dem 15.  Jahrhundert das Recht, Butter in Fastenzeiten zu verzehren, denn zuvor war nur das mediterrane Olivenöl, nördlich der Alpen häufig als Baumöl bezeichnet, von dem Verbot ausgenommen gewesen. Und im Süden mit seinen anderen Ernährungsgewohnheiten hatten eben auch die Fastenbestimmungen des Kirchenrechts ihren Niederschlag gefunden. Insgesamt kann mit etwa 150 Fasttagen im spätmittelalterlichen Jahr gerechnet werden, an denen die Bevölkerung das Fleisch häufig mit relativ preisgünstigem, konserviertem Fisch ersetzte. Auch im Binnenland standen getrocknete, geräucherte oder eingesalzene Seefische wie Hering oder Bückling, mit denen der Massenhandel im 13. Jahrhundert einsetzte, sowie luftgetrockneter Stockfisch hoch in der Gunst der Verbraucher. Der Preis für Heringe sollte erst während des 16. Jahrhunderts drastisch steigen. Neben Lübeck, das im Handel mit norwegischem Stockfisch lange eine Führungsrolle behauptete, bildete Köln aufgrund seines Stapels einen wichtigen Umschlagplatz für Seefisch. Köln etablierte eine funktionierende Qualitätskontrolle, und auch in Lübeck garantierte der Rat die Güte der Heringe, indem Beschauer die Fässer mit eingebrannten Stempeln versahen, die den Standard für die Käufer ersichtlich machten. Freilich begegnen immer wieder Fälschungen dieser Zeichen, 494

Ernährung

oder die Händler füllten in betrügerischer Absicht die Tonnen nur oben und unten mit guten Fischen, während sie in der Mitte die faulen Exemplare versteckten. Soweit die Haushalte es sich leisten konnten, erwarben sie daneben teure Süßwasserfische. Hier reichte die Preisspanne von hochbegehrten Karpfen- oder Hechtsorten über Lachs bis hin zu den preiswerten Flusskrebsen. Trotz hoher Anfangsinvestitionen entstand eine expandierende Teichwirtschaft, in der Forellen, Karpfen und Hechte gezüchtet wurden. Teichwirtschaft wurde zunächst vornehmlich durch die Klöster betrieben, dann aber auch von Privatpersonen. In Württemberg betätigte sich vornehmlich der Adel in diesem Sektor und erschloss sich damit eine neue Einkommensquelle. Die Überschüsse gelangten zumeist mit beträchtlichem Gewinn auf die städtischen Märkte. In Städten wie Augsburg, Bamberg, Basel, Trier oder Soest ließen hingegen die Räte Teiche und Stadtgräben bzw. Teile von diesen mit Fischen besetzen oder zu diesem Zweck verpachten. Weiterhin zählte Reis bei den Oberschichten zu den beliebten Fastenspeisen, ließ er sich doch gut zu vorgeblichen Fleischgerichten formen. Eine Besonderheit und keineswegs alltäglich blieben ausgesprochene Festessen, bei denen das Personal immense Mengen von Essensgenüssen – ob wir sie heute noch durchweg als solche einschätzen, darf angesichts geänderter Konsumgewohnheiten bezweifelt werden – in mehreren Gängen auftrug.343 Als beispielsweise der Speyrer Bischof Matthias von Rammung mit dem Stadtrat zusammentraf – die Speyrer wollten ihre Privilegien erneuert sehen, der Bischof seinerseits die Huldigung der Stadt entgegennehmen –, zeigte sich Rammung trotz vorangegangener schwieriger Verhandlungen als edel und freigiebig, wie es die fürstliche Etikette verlangte. Den Abschluss der Feierlichkeiten, die wir ansonsten übergehen,

343 Zum Folgenden vgl. Gerhard Fouquet: „Wie die kuchenspise sin solle“ – Essen und Trinken am Hof des Speyerer Bischofs Matthias von Rammung (1464–1478), in: Pfälzer Heimat 39 (1988), S.  12–27. Maximilian Buchner: Die Amberger Hochzeit (1474). Ein Beitrag zur politischen und kulturellen Geschichte des ausgehenden Mittelalters, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F. 25 (1910), S. 584–604; 26 (1911), S. 95–127. Ders.: Quellen zur Amberger Hochzeit von 1474, in: Archiv für Kulturgeschichte 6 (1908), S. 386–438. Joseph Seemüller: Friedrichs III. Aachener Krönungsreise, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 17 (1896), S. 584–665, hier S. 637 f. Uta Löwenstein: „Ein wissen Swan mit eym gulden Snabel zu eym Schaweessen“. Festessen am hanauischen Hof im 15. und 16.  Jahrhundert, in: Hanauer Geschichtsblätter 31 (1993), S. 35–90.

495

Spätmittelalter

bildete ein Bankett, zu welchem die Mitglieder des amtierenden Rates und der beiden Vorgängerräte geladen waren. Als ersten Gang servierten die Bediensteten des ansonsten eher knauserigen Bischofs mit Ingwer gewürzte Rehkeulen und Malvasier – der schwere Südwein diente wohl als Appetitanreger. Es folgten im zweiten Gang gesottene Wurst mit Erbsenmus und Senf, dazu mit Rosinen gefüllte Hühner in Mandelmilch sowie gezuckerte Fladen. Im dritten Gang konnten sich die Gäste an Wildschweinbraten mit schwarzem Pfeffer, an Presskopf mit Kreuzkümmelsoße, an gekochtem Hecht und an Karpfen laben. Als Nächstes gelangten Kapaune, also kastrierte Masthähnchen, sowie Kalbsbraten mitsamt gezuckertem Reis und Krapfen (Gebäck) auf den Tisch, Letztere gefüllt mit Morcheln und Röhrlingen. Mit dem fünften und abschließenden Gang erreichte das Essen seinen Höhepunkt, denn nun wurde die beliebte Gallrey aufgetragen, einer Sülze vergleichbar, mit erlesenen einheimischen Zutaten wie Karpfen, Hecht und Mandeln. Dazu ließ der Bischof Kuchen und Käse reichen. Getrunken wurden nicht näher spezifizierte Rot- und Weißweine. Zum Schluss folgten fast zwangsläufig die Leckereien in Form von Zuckerkonfekt, kandierten Früchten und Branntwein, vermutlich Aquavit. Ein Hauptkennzeichen solcher Speisefolgen bei spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Festmählern bildeten die Menge und die bunte Vielfalt der dargebotenen Speisen. Ein sicher außergewöhnliches Beispiel für die benötigten Warenmengen bietet die Amberger Hochzeit des Jahres 1474, als Pfalzgraf Philipp mit Herzogin Margarethe von Bayern-Landshut vermählt wurde. Aus diesem Anlass bestellten die Herzöge schier unglaubliche Lebensmittelmengen in den Ämtern: 11 000 Hühner, 200 Kapaune, 400 Schweine, 1 045 Kälber, 50 Frischlinge, 30 Kühe, 50 Ochsen, 26 200 Eier, 80 Zentner Butter, dazu Unmengen an Heringen, Stockfischen, Wildbret und Speck. Weiterhin standen auf den Beschaffungszetteln fünf Zentner Mandeln, 13 Körbe Feigen, drei Zentner Rosinen, 60 Pfund Senfmehl sowie zahlreiche andere Gewürze. In den Kellern der Burg mussten die Bediensteten griechischen Malvasier, istrischen Rainfal, weitere italienische Weine und rund 110 000 Liter fränkischen Landwein einlagern. Der Grund für die riesigen Quantitäten der Speisen lag indes weniger in der Gier der Esser, sondern eher in den sozialen Pflichten der Freigiebigkeit und der Gastfreundschaft sowie in dem Verlangen nach Repräsentation. Denn es gehörte seit dem 13.  Jahrhundert zu den vornehmlich (hoch-)adligen festlichen Tischsitten, den Gästen prinzipiell mehr aufzutischen, als sie zu sich 496

Ernährung

­ ehmen konnten. Italienische Reisende zeigten sich immer wieder äußerst n erstaunt über diese nordalpinen Gepflogenheiten, die sich als demonstrativer Konsum bezeichnen lassen. Die Aachener Krönungszeremonien für König Friedrich III. von 1442 zelebrierten gleichfalls diesen demonstrativen Konsum: Von Handwerkern – vermutlich des kommunalen Bauhofs – wurde ein Brunnen errichtet, aus dem vom Morgen bis zum Abend Wein floss. Auch Gebratenes, für die niederen Bevölkerungsschichten geradezu ein Festessen, ließ der König der gesamten Stadtgemeinde reichen. Vor seiner Herberge in Aachen brieten Bedienstete einen Ochsen, gefüllt mit einem Kalb, einem Schwein und einer Henne. Der Chronist berichtete aber auch über die fast zwangsläufigen heftigen Streitereien, als es daranging, die Bratenrationen auszugeben. Zu den oben genannten Motiven trat hier freilich ein weiteres hinzu: Mit Weinbrunnen und Bratochsen als Garanten des Glücks präsentierte sich der König in den Symbolen des Schlaraffenlandes, das in der Vorstellungswelt des 15. Jahrhunderts bereits verbreitet präsent war. Das einem solchen Herrschaftsantritt implizite Versprechen lautete, dass am Schlaraffenland prinzipiell alle Reichsbewohner zukünftig teilhaben sollten – Erwartungen dieser Art erfüllte der Habsburger trotz langer Herrschaftszeit später freilich nicht. Der für die Fest- und Schauessen getriebene Aufwand steigerte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts nochmals. Für den Hanauer Hof konstatiert Uta Löwenstein, dass eine Abstimmung der Speisen aufeinander nur insoweit ersichtlich ist, als die Herrschaft schlicht alles präsentieren ließ, was sich irgendwie als vorrätig, beschaffbar und bezahlbar erwies. Wiederum enorme Lebensmittel- und Getränkemengen ergänzten im 16. Jahrhundert zunächst vereinzelt exotische Produkte der Neuen Welt wie Truthähne, die uns als indianische Vögel in den Quellen begegnen. Auch kredenzten die Köche Schaugerichte wie ein vergoldetes Reh oder einen vergoldeten Schwan, welche einzig Repräsentationszwecken dienten. All dies verdeutlicht die extremen Unterschiede in der Ernährung zwischen den – quellenmäßig kaum fassbaren – eintönigen und weitgehend fleischlosen Gerichten der Unterschichten und dem Konsum der vermögenden Schichten. Damit spiegelte das Essen die soziale Schichtung der Bevölkerung in hohem Maße wider, wenngleich Festmähler grundsätzlich eine Ausnahme bildeten. Neuere Untersuchungen betonen, dass die Ernährung der Unterschichten mit ihrem hohen Getreideanteil hinsichtlich der Vitamin-, Mineralien- und Spurenelementaufnahme gesünder gewesen 497

Spätmittelalter

sein könnte als das fleischreiche Essen der Oberschichten, doch müsste dies noch eingehender untersucht werden. Wahrscheinlich ist nicht nur in diesem Fall der Wunsch der Vater des Gedankens, und vielleicht spielen hier vegetarische oder vegane Überzeugungen von Autoren und Autorinnen eine Rolle, die sich derartige Notlagen kaum mehr vorstellen können.344

344 Zu Nährwertberechnungen vgl. Daniela Schlettwein-Gsell: Zum Nährwertgehalt von „core“ und „fringe“, in: Martin Schafner (Hg.): Brot, Brei und was dazugehört. Über sozialen Sinn und physiologischen Wert der Nahrung, Zürich 1992, S. 45–66.

498

Rückblick Im Rückblick auf das Mittelalter lassen sich in ausgesprochen knapper Zusammenfassung gravierende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, selbstverständlich in Verbindung mit den politischen Geschehnissen sowie den jeweiligen Rahmenbedingungen, konstatieren, doch können während dieser Jahrhunderte erheblich verdichtete Phasen von solchen mit nur langsamen Wandlungsprozessen unterschieden werden. Die Spanne vom 3. bis zum 8. Jahrhundert lässt sich als tief greifende Transformationsperiode charakterisieren, der Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert verlief dagegen – abgesehen von „der“ Reformation – ohne schwerwiegende Einschnitte, doch die neue Konfession musste sich in ihren Glaubenszweigen über Jahrzehnte erst noch formieren. Während einzelne Wirtschaftszweige eine hohe Dynamik entwickelten, konnten andere stagnieren oder sogar einen Abschwung durchlaufen. Gewichtige Entwicklungsimpulse erlebten eben nicht alle Sektoren zur gleichen Zeit. Auch auf dem Land stand die Zeit nicht still. Hier markierten zunächst die Etablierung und dann die Auflösung der Villikationen tief greifende, wenngleich sich über längere Zeiträume erstreckende Einschnitte. Nach der verheerenden Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts erfolgte mit der Anlage von Sonderkulturen eine breite Ausdifferenzierung des Agrarsektors, auch die Viehzucht nahm zu, um die gesunkene Getreidenachfrage aufzufangen. Obwohl die Veränderungen im ländlichen Raum überwiegend schleichender als andernorts verliefen, ermöglichten die entstehenden Dorfgemeinden doch auch in Teilen eine Selbstverwaltung der Bewohner. Die Urbanisierung des Hochmittelalters erwies sich unbestritten als eine Neuerung mit weitreichenden Folgen bis zu den massiven Überlagerungen des 19. Jahrhunderts, und im Verbund mit dem Ausbau der ländlichen Gemarkungen erfolgte sukzessive der Übergang von einer Natur- zu einer Kulturlandschaft, wenngleich die menschliche Eingriffsdichte in die Natur noch beschränkt blieb. Die vom 11. bis zum 13. Jahrhundert entstandene Siedlungsstruktur sollte unter Schwerpunktverlagerungen in ihren Grundzügen immerhin bis zum Ende des Alten Reichs Bestand haben. Fachwerksowie Steinhäuser setzten sich ebenso wie größere Ständerbauten durch, während der Bau mächtiger, steinerner Höhenburgen in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts aufkam. 499

Rückblick

Zwar blieb das Reich eine Ständegesellschaft, in der sich der Adel im 12./13. Jahrhundert neu formierte, doch mit dem Bürgertum trat ein neues Element hinzu, das nicht nur die Gesellschafts- und die Wirtschaftsstruktur erheblich bereicherte und veränderte. Das Handwerk erfuhr in zahl­ reichen Tätigkeitsfeldern eine breite Ausdifferenzierung; neben zuvor unbekannten Spezialisierungen entstanden gänzlich neue Berufsfelder. Als Leitsektoren der Produktion lassen sich das Tuchgewerbe sowie der Metallsektor anführen, während die Lebensmittelgewerbe einschließlich des Weinhandels bei partieller Ausdifferenzierung eine weite Verbreitung fanden und das Brauwesen seit dem 14. Jahrhundert an Bedeutung gewann. Infolge der Handelsrevolution wuchsen immer weitere Teile Europas ­zusammen, erschlossen und verbanden die nunmehr weitgehend sesshaften Fernhändler weite, ihnen zuvor teilweise kaum bekannte Räume. Ebenso entstanden in Oberdeutschland Handelsgesellschaften, überwiegend im Norden unter Einschluss vornehmlich von Köln sowie westfälischer Städte formierte sich die Hanse. Bei wichtigen, europaweit vertriebenen Handelsgütern handelte es sich um Tuche, Metallwaren, Wein oder Gewürze, wie ohnehin ein verbreiteter Übergang zum Handel mit Massengütern einsetzte; der Handel mit Getreide, Holz- sowie Töpferwaren erfolgte überwiegend regional. Der bargeldlose Zahlungsverkehr lässt sich ansatzweise bis in das späte 12. Jahrhundert zurückverfolgen, in Deutschland wohl bis in das 14., und zudem lässt sich eine Ausweitung von Kredit- oder Rentengeschäften erkennen. Das Münzwesen bereicherten als Neuerung Goldmünzen. Viele ökonomische und technische Innovationen des Spätmittelalters behielten ihre Bedeutung ohnehin bis weit in die Neuzeit hinein, bevor weitere Neuentwicklungen stattfanden. Mit der deutlichen Zunahme des Handels sowie des sonstigen Verkehrs gewannen auch die Alpenpässe wieder an Bedeutung, was zu der Erschließung und dem Ausbau von Wegen und Pässen führte. Ebenso erfuhr vor allem die kommunale Infrastruktur im Laufe des Spätmittelalters vielfache Verbesserungen, gewannen Ver- und Entsorgung an Bedeutung – die innere Urbanisierung des Spätmittelalters. Die vielfältigen Veränderungen und alles Neue erforderten allerdings Regelungen. So galt es adäquate Institutionen zu schaffen und auszubauen sowie rechtliche Rahmenbedingungen zu setzen, um das Miteinander, den Alltag und Produktion oder Handel sowie nicht zuletzt die Herrschaftsverhältnisse zu regeln. Die Ausweitung der obrigkeitlichen Befugnisse sowie Aufgaben setzte wiederum ein breiteres Einnahmespektrum voraus, unter 500

Rückblick

denen direkte sowie indirekte Steuern und weitere Handelsbelastungen wie Zölle herausragten. Entscheidende Impulse gingen hier erneut von den Städten aus. Erfindungen und technische Innovationen lassen sich gleichfalls als Faktoren anführen, welche die wirtschaftlichen und gesellschaft­ lichen Prozesse vorantrieben; erwähnt seien stellvertretend die Ausdifferenzierung des Mühlenwesens, neue Verhüttungs- und Fertigungsmethoden oder die Uhren. Druckerpressen revolutionierten die Medienlandschaft seit der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts, und gerade Einblattdrucke oder knappe Traktate beeinflussten eine weitaus breitere Öffentlichkeit als zuvor. Frühkapitalistische Strukturen begegnen zeitlich am frühesten im Montansektor sowie im Verlagswesen, hier besonders in der Tuch- sowie Metallproduktion, ohne aber – und dies noch auf lange Zeit – schon zu ­dominieren. Erst die europäische Expansion, an der eine deutsche Betei­ ligung aber kaum erfolgte, und ihre Folgen sollten dann zu noch tiefer greifenden Veränderungen führen.

501

Literatur Aberth, John: An Environmental History of the Middle Ages. The Crucible of Nature, London/ New York 2013. Achilles, Walter: Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993. Agricola, Georg: Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen, Basel 1556, ND Düsseldorf 1961. Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst, dt. Darmstadt 22005. Alt, Kurt W.: Umweltrisiken durch den Bergbau: Krisenfaktor für mittelalterliche Bevölkerungen?, in: Daim/Gronenborn/Schreg (Hg.): Strategien, S. 215–229. Der Anschnitt, Beiheft 2. Montanwirtschaft Mitteleuropas vom 12. bis 17.  Jahrhundert. Forschungsprobleme, Bochum 1984. Auer, Franz: Das Stadtrecht von München nach bisher ungedruckten Handschriften mit Rücksicht auf die noch geltenden Rechtsätze und Rechtinstitute herausgegeben, München 1840, ND Aalen 1969. Baeriswyl, Armand: Sodbrunnen – Stadtbach – Gewerbekanal. Wasserversorgung und -entsorgung in der Stadt des Mittelalters und der frühen Neuzeit am Beispiel von Bern, in: Dorothee Rippmann/Wolfgang Schmid/Katharina Simon-Muscheid (Hg.): … zum allgemeinen statt nutzen. Brunnen in der europäischen Stadtgeschichte, Trier 2008, S. 55–68. Bartels, Christoph: Die Geschichte des Bergbaus am Rammelsberg, in: Rammelsberg, Bd. 1, S. 40–83. Bartels, Christoph: Zur Bergbaukrise des Spätmittelalters, in: ders./Markus A. Denzel (Hg.): Konjunkturen im europäischen Bergbau in vorindustrieller Zeit, FS Ekkehard Westermann zum 60. Geb. (VSWG Beihefte, 155), Stuttgart 2000, S. 157–172. Bartels, Christoph/Lothar Klappauf: Das Mittelalter. Der Aufschwung des Bergbaus unter den karolingischen und ottonischen Herrschern, die mittelalterliche Blüte und der Abschwung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, in: Geschichte Bergbau, S. 111–248. Battenberg, Friedrich: Das europäische Zeitalter der Juden. Bd.  I: Von den Anfängen bis 1650, Darmstadt 1990. Bavel, Bas van: Manors and Markets. Economy and Society in the Low Countries, 500–1600, Oxford 2010. Bavel, Bas J. P. van/Richard W. H. Hoyle (Hg.): Rural Economy and Society in North-Western Europe, 500–2000. Social Relations: Property and Power, Turnhout 2010. Bayerl, Günter: Technik in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 2013. Bayerl, Günter/Norman Fuchsloch/Torsten Meyer (Hg.): Umweltgeschichte – Methoden, Themen, Potentiale (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, 1), Münster/New York/München/Berlin 1996. Beck, Rainer: Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2003. Bedal, Albrecht/Ulrike Marski (Hg.): Baujahr 1337. Das Haus Pfarrgasse 9 in Schwäbisch Hall (Schriftenreihe des Vereins Alt Hall e. V., 15), Schwäbisch Hall 1997. Bedal, Konrad: Häuser aus Franken. Museumshandbuch für das Fränkische Freilandmuseum in Bad Windsheim, 6., völlig neu bearb. Aufl. Bad Windsheim 2007. Behre, Karl-Ernst: Landschaftsgeschichte Norddeutschlands. Umwelt und Siedlung von der Steinzeit bis zur Gegenwart, Neumünster 2008. Behringer, Wolfgang: „Kleine Eiszeit“ und Frühe Neuzeit, in: ders./Lehmann/Pfister (Hg.): Konsequenzen, S. 415–508. Behringer, Wolfgang/Hartmut Lehmann/Christian Pfister (Hg.): Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“. Cultural Consequences of the „Little Ice Age“ (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, 212), Göttingen 2005. Below, Stefan v./Stefan Breit: Wald – von der Gottesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherr und Untertanen um den Wald in der frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 43), Stuttgart 1998.

502

Literatur Beschlüsse des Rats der Stadt Köln 1320–1550, Bd. 1: Die Ratsmemoriale und ergänzende Überlieferung 1320–1543, bearb. v. Manfred Huiskes (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, LXV), Düsseldorf 1990. Binding, Günther: Baubetrieb im Mittelalter, Darmstadt 1993. Bingener, Andreas/Christoph Bartels/Michael Fessner: Die große Zeit des Silbers. Der Bergbau im deutschsprachigen Raum von der Mitte des 15. bis zum Ende des 16.  Jahrhunderts, in: Geschichte Bergbau, S. 317–452. Richard Bonney (Ed.): Economic Systems and State Finance (The Origins of the Modern State in Europe, B), Oxford 1995. Bracker, Jörgen/Volker Henn/Rainer Postel (Hg.): Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos, Lübeck 1989. Brucker, Johann Carl (Hg.): Strassburger Zunft- und Polizeiverordnungen des 14. und 15. Jahrhunderts, Strassburg 1889. Brunner, Karl/Petra Schneider (Hg.): Umwelt Stadt. Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien (Wiener Umweltstudien, 1), Wien/Köln/Weimar 2005. Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Bde. 1 u. 2, hg. v. Konstantin Höhlbaum (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, III u. IV), Leipzig 1886–1887; Bde. 3 u. 4, hg. v. Friedrich Lau, Bonn 1897–1898; Bd. 5: Kulturhistorische Ergänzungen, bearb. v. Josef Stein (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, XVI), Bonn 1926. Bulst, Neithard/Karl-Heinz Spieß (Hg.): Sozialgeschichte mittelalterlicher Hospitäler (Vorträge und Forschungen, LXV), Ostfildern 2007. Burgard, Friedhelm u. a. (Hg.): Hochfinanz im Westen des Reiches 1150–1500 (Trierer Historische Forschungen, 31), Trier 1996. Burger, Daniel: Die Nürnberger Waldämter, in: May/Rodenberg (Hg.): Reichswald, S. 26–39. Burkhardt, Johannes (Hg.): Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils (Colloquia Augustana, 3), Berlin 1996. Busch, Ralf: Die Wasserversorgung des Mittelalters und der frühen Neuzeit in norddeutschen Städten, in: Meckseper (Hg.): Stadt, 4, S. 301–315. Capelle, Torsten: Die Frühgeschichte (1.–9. Jahrhundert ohne römische Provinzen), in: Jens Lüning/Albrecht Jockenhövel/Helmut Bender/Torsten Capelle: Deutsche Agrargeschichte. Vorund Frühgeschichte, Stuttgart 1997, S. 375–460. Christoph Scheurl’s Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg aus dem Jahre 1516, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 11 (Die Chroniken der fränkischen Städte: Nürnberg, 5), Leipzig 1874, ND Göttingen 1961, S. 785–804. Chronik des Burkard Zink, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 5 (Die Chroniken der schwäbischen Städte: Augsburg, 2), Leipzig 1866, ND Göttingen 1965, S. 1–330. Daim, Falko/Detlef Gronenborn/Rainer Schreg (Hg.): Strategien zum Überleben. Umweltkrisen und ihre Bewältigung (RGZM-Tagungen, 11), Mainz 2011. Dallmeier, Lutz-Michael: Ver- und Entsorgung in der mittelalterlichen Stadt, in: Regensburg im Mittelalter. Beiträge zur Stadtgeschichte vom frühen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, hg. v. Martin Angerer/Heinrich Wanderwitz, 2., verb. Aufl. Regensburg 1998, S. 285–292. Dam, Petra J. E. M. van: Frühmoderne Städte und Umwelt in den Niederlanden, in: Schott/ToykaSeid (Hg.): Stadt, S. 83–103. Denecke, Diedrich: Sozialtopographie und sozialräumliche Gliederung der spätmittelalterlichen Stadt. Problemstellungen, Methoden und Betrachtungsweisen der historischen Wirtschaftsund Sozialgeographie, in: Josef Fleckenstein/Karl Stackmann (Hg.): Über Bürger, Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Kl., 3. Folge, 121), Göttingen 1980, S. 161–202. Denkmäler des Münchener Stadtrechts, 1. Bd.: 1158–1403, bearb. und eingeleitet v. Pius Dir (Bayerische Rechtsquellen, 1), München 1934. Dilg, Peter/Gundolf Keil/Dietz-Rüdiger Moser (Hg.): Rhythmus und Saisonalität, Sigmaringen 1995.

503

Literatur Dirlmeier, Ulf: Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Mitte 14. bis Anfang 16. Jahrhundert) (Abhandlungen der Heidelberger Akademie des Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., Jahrgang 1978, 1. Abhandlung), Heidelberg 1978. Dirlmeier, Ulf: Die kommunalpolitischen Zuständigkeiten und Leistungen süddeutscher Städte im Spätmittelalter (vor allem auf dem Gebiet der Ver- und Entsorgung, in: Sydow (Hg.): Versorgung, S. 113–150; ND in: Dirlmeier: Menschen S. 235–271. Dirlmeier, Ulf: Mittelalterliche Zoll- und Stapelrechte als Handelshemmnisse?, in: Hans Pohl (Hg.): Die Auswirkungen von Zöllen und anderen Handelshemmnissen auf Wirtschaft und Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart (VSWG Beiheft 80), Stuttgart 1987, S. 19–39; ND in: Dirlmeier: Menschen, S. 37–55. Dirlmeier, Ulf: Die Ernährung als mögliche Determinante der Bevölkerungsentwicklung, in: Herrmann/Sprandel (Hg.): Determinanten, S. 143–154. Dirlmeier, Ulf: Historische Umweltforschung aus Sicht der mittelalterlichen Geschichte, in: Siedlungsforschung. Archäologie-Geschichte-Geographie 6 (1988), S.  97–111; ND in: Dirlmeier: Menschen, S. 219–233. Dirlmeier, Ulf: Friedrich Barbarossa – auch ein Wirtschaftspolitiker, in: Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers, hg. v. Alfred Haverkamp (Vorträge und Forschungen, XL), Sigmaringen 1992, S. 501–518. Dirlmeier, Ulf (Hg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 2: 500–1800. Hausen – Wohnen – Residieren, Stuttgart 1998. Dirlmeier, Ulf: Menschen und Städte. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Rainer S. Elkar/Gerhard Fouquet/Bernd Fuhrmann, unter Mitarbeit von Christian Hagen (Kieler Werkstücke, E: 11), Frankfurt a. M. 2012. Dirlmeier, Ulf/Gerhard Fouquet: Ernährung und Konsumgewohnheiten im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 504–526. Dirlmeier, Ulf/Gerhard Fouquet/Bernd Fuhrmann: Europa im Spätmittelalter 1215–1378 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 8), München 2003. Dirlmeier, Ulf/Bernd Fuhrmann: Räumliche Aspekte sozialer Ungleichheit in der spätmittelalterlichen Stadt, in: VSWG 92 (2005), S. 424–439. Dollinger, Philippe: Die Hanse. Neu bearb. v. Volker Henn u. Nils Jörn, Stuttgart 2012. Dopsch, Heinz (Hg.): Geschichte Salzburgs. Bd. I: Vorgeschichte – Altertum – Mittelalter, 3., verb. Aufl. Salzburg 1999. Dopsch, Heinz/Hans Spatzenegger: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd.  II; Neuzeit und Zeitgeschichte, 4. Tl., Salzburg 1991. Economia e Energia Secc. XIII–XVIII (Istituto Internazionale di Storia Economica „F. Datini“, Serie II, 34), Florenz 2003. Eheberg, Karl Theodor (Hg.): Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Strassburg bis 1681, I. Bd.: Urkunden und Akten, Strassburg 1899. Eikenberg, Wiltrud: Das Handelshaus der Runtinger zu Regensburg. Ein Spiegel süddeutschen Rechts-, Handels- und Wirtschaftslebens im ausgehenden 14. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 43), Göttingen 1976. Eißing, Thomas: Der Nürnberger Reichswald – Wiege der Forstwirtschaft, in: May/Rodenberg (Hg.): Reichswald, S. 10–25. Elkar, Rainer S. u. a. (Hg.): „Vom rechten Maß der Dinge“. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. FS Harald Witthöft zum 65. Geb. (Sachüberlieferung und Geschichte, 17), St. Katharinen 1996. Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464–1475), mit einer Einleitung und sachlichen Anmerkungen von Dr. Friedrich von Weech, hg. v. Matthias Lexer (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, LXIV), Stuttgart 1862, ND Amsterdam 1968. Epperlein, Siegfried: Waldnutzung, Waldstreitigkeiten und Waldschutz in Deutschland im hohen Mittelalter. 2. Hälfte 11. Jahrhundert bis ausgehendes 14. Jahrhundert (VSWG Beihefte, 109), Stuttgart 1993.

504

Literatur Falk, Alfred/Manfred Gläser/Cornelia Moeck-Schlömer: Wasserversorgung und Abfallbeseitigung, in: Bracker/Henn/Postel (Hg.): Hanse, S. 553–559. Fälschungen im Mittelalter, Tl. V: Fingierte Briefe, Frömmigkeit und Fälschung, Realienfälschungen (Monumenta Germaniae Historica Schriften, 33, V), Hannover 1988. Fehring, Günter P.: Stadtarchäologie in Deutschland, Stuttgart 1996. Fessner, Michael/Christoph Bartels: Von der Krise am Ende des 16. Jahrhunderts zum deutschen Bergbau im Zeitalter des Merkantilismus, in: Geschichte Bergbau, S. 453–590. Fleischmann, Peter: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert (Nürnberger Forschungen, 31/1–3), Nürnberg 2008. Fouquet, Gerhard/Hans-Jörg Gilomen (Hg.): Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters (Vorträge und Forschungen, LXXII), Sigmaringen 2010. Frankfurter Amts- und Zunfturkunden, 2. Tl.: Amtsurkunden, hg. u. eingeleitet v. Karl Bücher (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Stadt Frankfurt a. M., VI), Frankfurt a. M. 1915. Frankfurter Zunfturkunden bis zum Jahre 1612, hg. u. eingeleitet v. Benno Schmidt, 1. Bd., Frankfurt/M. 1914, ND 1968. Franz, Günther: Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes im Mittelalter (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, XXXI), Darmstadt 1967. Fried, Johannes: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München 2008. Fuhrmann, Bernd: Konrad von Weinsberg – Ein adliger Oikos zwischen Territorium und Reich (VSWG Beihefte, 171), Stuttgart 2004. Fuhrmann, Bernd: Art. Wasserversorgung, in: Werner Paravicini (Hg.): Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe, Teilbd. I: Begriffe (Residenzenforschung, 15.II), Ostfildern 2005, S. 106–108. Fuhrmann, Bernd: Die Rentenverkäufe der Reichsstadt Nürnberg vom Beginn der Überlieferung bis zur Mitte des 16.  Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 98 (2011), S. 163–196. Fumagalli, Vito: Mensch und Umwelt im Mittelalter, dt. Berlin 1992. Gabrielsson, Peter: Struktur und Funktion der Hamburger Rentengeschäfte in der Zeit von 1471 bis 1490. Ein Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der nordwestdeutschen Stadt (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, 7), Hamburg 1971. Gechter, Marianne: Wasserversorgung und Entsorgung in Köln vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit, in: Kölner Jahrbuch für Vor- und Frühgeschichte 20 (1987), S. 219–270. Gerber, Roland: Öffentliches Bauen im mittelalterlichen Bern. Verwaltungs- und finanzgeschichtliche Untersuchung über das Bauherrenamt der Stadt Bern 1300 bis 1550 (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, 77), Bern 1994. Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 1: Der alteuropäische Bergbau. Von den Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, hg. v. Christoph Bartels/Rainer Slotta, Münster 2012. Gilomen, Hans-Jörg: Städtische Anleihen im Spätmittelalter. Leibrenten und Wiederkaufsrenten, in: Personen der Geschichte – Geschichte der Personen. Studien zur Kreuzzugs-, Sozial- und Bildungsgeschichte, FS Rainer C. Schwinges, Basel 2003, S. 165–185. Gläser, Manfred: Die Infrastrukturen der Stadt Lübeck im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Lübecker Kolloquium IV, S. 173–196. Glaser, Rüdiger: Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2008. Glauser, Fritz: Stadt und Fluß zwischen Rhein und Alpen, in: Maschke/Sydow (Hg.): Stadt, S. 62–99. Gleitsmann, Rolf-Jürgen: Der Einfluß der Montanwirtschaft auf die Waldentwicklung Mittel­ europas. Stand und Aufgaben der Forschung, in: Der Anschnitt, Beiheft 2, S. 24–39. Goldenberg, Gert: Umweltbeeinflussung durch das frühe Montanwesen. Beispiele aus dem Schwarzwald, in: Jockenhövel (Hg.), Bergbau, S. 231–246. Gottlieb, Gunther u. a. (Hg.): Geschichte der Stadt Augsburg. 2000 Jahre von der Römerzeit bis zur Gegenwart, 2., durchges. Aufl. Stuttgart 1985.

505

Literatur Graßmann, Antjekathrin (Hg.): Lübeckische Geschichte, 3., verb. u. erw. Aufl. Lübeck 1997. Grewe, Klaus: Wasserversorgung und -entsorgung im Mittelalter – Ein technikgeschichtlicher Überblick, in: Wasserversorgung Mittelalter, S. 9–86. Gundelwein, Andreas: Feuer und Wasser. Bergbautechnik zur Zeit Agricolas, in: Rammelsberg, Bd. 2, S. 160–171. Hahn, Sylvia/Reinhold Reith (Hg.): Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder • Forschungsansätze • Perspektiven, Wien/München 2001. Handwerk und Sachkultur im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Instituts für mittelalter­ liche Realienkunde Österreichs, 11), Wien 1988. Hartung, Wolfgang: Die Spielleute. Gaukler, Dichter, Musikanten, Düsseldorf/Zürich 2003. Hasel, Karl/Ekkehard Schwartz: Forstgeschichte: Ein Grundriß für Studium und Praxis, 2., aktual. Aufl. Remagen 2002. Hauptmeyer, Carl-Hans (Hg.): Mensch – Natur – Technik. Umweltgeschichte in Niedersachsen. Aspekte der Umweltgeschichte in Niedersachsen und angrenzenden Gebieten (Materialien zur Regionalgeschichte, 2), Bielefeld 2000. Heine, Günter: Umweltbezogenes Recht im Mittelalter, in: Herrmann (Hg.), Umwelt, S. 111–128. Helmold von Bosau: Slawenchronik/Chronica Slavorum, Darmstadt 51990. Herrmann, Bernd (Hg.): Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986. Herrmann, Bernd: Anthropologische Zugänge zu Bevölkerung und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, in: ders./Sprandel (Hg.): Determinanten, S. 55–72. Herrmann, Bernd (Hg.): Umwelt in der Geschichte, Göttingen 1989. Herrmann, Bernd: Umweltgeschichte. Eine Einführung in die Grundbegriffe, Berlin/Heidelberg 2013. Herrmann, Bernd/Rolf Sprandel (Hg.): Determinanten der Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, Weinheim 1987. Hilger, Marie-Elisabeth: Umweltprobleme als Alltagserfahrung in der frühneuzeitlichen Stadt? Überlegungen anhand des Beispiels der Stadt Hamburg, in: Die alte Stadt 11 (1984), S. 112– 138. Hoffmann, Albrecht: Wassernöte und technischer Wandel in der Frühen Neuzeit, in: Wasserversorgung Renaissancezeit, S. 9–59. Hoffmann, Albrecht: Zum Stand der städtischen Wasserversorgung in Mitteleuropa vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Wasserversorgung Renaissancezeit, S. 99–144. Holbach, Rudolf: Formen des Verlags im Ostseeraum vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 103 (1985), S. 41–73. Holbach, Rudolf: Frühformen von Verlag und Großbetrieb in der gewerblichen Produktion (13.–16. Jahrhundert) (VSWG Beihefte, 110), Stuttgart 1994. Illi, Martin/Edgar Höfler: Versorgung und Entsorgung im Spiegel der Schriftquellen, in: Stadtluft, S. 351–364. Irsigler, Franz: Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. Strukturanalyse einer spätmittelalterlichen Exportgewerbe- und Handelsstadt (VSWG Beiheft 65), Wiesbaden 1979. Irsigler, Franz: Die Gestaltung der Kulturlandschaft am Niederrhein unter dem Einfluß der städtischen Wirtschaft, in: Kellenbenz (Hg.): Wirtschaftsentwicklung, S. 173–195. Irsigler, Franz: Messehandel – Hansehandel, in: Hansische Geschichtsblätter 120 (2002), S. 33–50. Isenmann, Eberhard: Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien/Köln/Weimar 2012. Isenmann, Eberhard: The Notion of the Common Good, the Concept of Politics, and practical Policies in late medieval and early modern German Cities, in: Elodie Lecuppre-Desjardin/ Anne-Laure van Bruaene (Hg.): De Bono Communi. The Discourse and Practice of the Common Good in the European City (14th–16th c.). Discours et pratique du Bien Commun dans les villes d’Europe (XIIIe au XVIe siècle), (Studies in European Urban History, 22), Turnhout 2010 S. 107–148. Jenks, Stuart: Von den archaischen Grundlagen bis zur Schwelle der Moderne (ca. 1000–1450), in: North (Hg.): Wirtschaftsgeschichte, S. 15–111.

506

Literatur Jockenhövel, Albrecht (Hg.): Bergbau, Verhüttung und Waldnutzung im Mittelalter. Auswirkungen auf Mensch und Umwelt (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 121), Stuttgart 1996. Johanek, Peter/Heinz Stoob (Hg.): Europäische Messen und Märktesysteme in Mittelalter und Neuzeit (Städteforschung, A: 39), Köln/Weimar/Wien 1996. Johanek, Peter/Franz-Joseph Post (Hg.): Vielerlei Städte. Der Stadtbegriff (Städteforschung, A: 61), Köln/Weimar/Wien 2004. Johann, Elisabeth: Wirtschaftsfaktor Wald am Beispiel des österreichischen Alpenraums, in: Das Mittelalter 13/2 (2008), S. 28–38. Jütte, Robert: Klimabedingte Teuerungen und Hungernöte. Bettelverbote und Armenfürsorge als Krisenmanagement, in: Behringer/Lehmann/Pfister (Hg.): Konsequenzen, S. 225–237. Kellenbenz, Hermann: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. I: Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 1977. Kellenbenz, Hermann: Wirtschaft und Gesellschaft Europas 1350–1650, in: ders. (Hg.): Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 1–387. Kellenbenz, Hermann (Hg.): Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom ausgehenden Mittelalter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 3), Stuttgart 1986. Kellenbenz, Hermann (Hg.): Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung (14.–20.  Jahrhundert) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 20), Wiesbaden 1982. Keussen, Hermann: Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, 1. Bd. (Preis-Schriften der Mevissen-Stiftung, II), Bonn 1910, ND Düsseldorf 1986. Kießling, Rolf: Augsburgs Wirtschaft im 14. und 15.  Jahrhundert, in: Gottlieb u. a. (Hg.): Geschichte, S. 171–181. Kießling, Rolf: Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (Städteforschung A 29), Köln-Wien 1989. Kirchgässner, Bernhard/Hans-Peter Becht (Hg.): Stadt und Handel (Stadt in der Geschichte, 22), Sigmaringen 1995. Knefelkamp, Ulrich: Über die Pflege und medizinische Behandlung von Kranken in Spitälern vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Michael Matheus (Hg.): Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich (Geschichtliche Landeskunde, 56), Stuttgart 2005. Knipping, Richard: Das Schuldenwesen der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst XIII (1894), S. 340–397. Koller, Fritz: Die innere Entwicklung, in: Dopsch (Hg.), Geschichte Salzburgs, S. 594–661. Die Konstitutionen Friedrichs II. von Hohenstaufen für sein Königreich Sizilien, hg. v. Hermann Conrad (†)/Thea von der Lieck-Buyken/Wolfgang Wagner (Studien zur Welt Kaiser Friedrichs II., 2), Köln/Wien 1973. Körber-Grohne, Udelgard: Nutzpflanzen in Deutschland. Kulturgeschichte und Biologie, Stuttgart 1987. Kraschewski, Hans-Joachim: Der Bergbau des Harzes im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Stand und Aufgaben der Forschung, in: Der Anschnitt, Beiheft 2, S. 134–143. Kraschewski, Hans-Joachim: Neubeginn und Blütezeit. Der Rammelsberg zwischen 1456 und 1552, in: Rammelsberg, Bd. 1, S. 172–183. Kraschewski, Hans-Joachim: Bergbau und Hüttenwesen, in: Märtl/Kaufhold/Leuschner (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 689–735. Kraschewski, Hans-Joachim: Das Spätmittelalter. Die Zeit des Aufbruchs, in: Geschichte Bergbau, S. 249–316. Kühnel, Harry: Die städtische Gemeinschaft – Probleme und Lösungen, in: ders. (Hg.): Alltag im Spätmittelalter, Graz/Wien/Köln 1984, S. 49–91. Kühnel, Harry: Forstkultur im Mittelalter. Die Anfänge der Laubholz- und Nadelwald-Saat, in: Lindgren (Hg.): Technik, S. 121–123. Kuske, Bruno (Hg.): Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im Mittelalter, 4 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, XXXIII), Bonn 1917– 1934, Bde. 1–3 ND Düsseldorf 1978.

507

Literatur Küster, Hansjörg: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, München 1995. Küster, Hansjörg: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München 1998. Lamprecht, Karl: Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. Untersuchungen über die Entwicklung der materiellen Kultur des platten Landes auf Grund der Quellen zunächst des Mosellandes, Bd. I,1, Leipzig 1885/86, ND Aalen 1969. Landsteiner, Erich: Wenig Brot und saurer Wein. Kontinuität und Wandel in der zentraleuropäischen Ernährungskultur im letzten Drittel des 16.  Jahrhunderts, in: Behringer/Lehmann/ Pfister (Hg.): Konsequenzen, S. 87–147. Landucci, Luca: Ein florentinisches Tagebuch 1450–1516, übersetzt, eingeleitet u. erklärt v. Marie Herzfeld, Düsseldorf/Köln 1978. Leiverkus, Yvonne: Köln. Bilder einer spätmittelalterlichen Stadt, Köln/Weimar/Wien 2005. Lengle, Peter: Handel und Gewerbe bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Gottlieb u. a. (Hg.): Geschichte, S. 166–170. Lindgren, Uta (Hg.): Europäische Technik im Mittelalter. Tradition und Innovation. Ein Handbuch, Berlin 1996. Loesch, Heinrich v. (Bearb.): Die Kölner Zunfturkunden nebst anderen Kölner Gewerbeurkunden bis zum Jahre 1500, 2. Bd., Bonn 1907. Lohrmann, Dietrich: Energieprobleme im Mittelalter: Zur Verknappung von Wasserkraft und Holz in Westeuropa bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, in: VSWG 66 (1979), S. 297–316. Lorenz, Sönke: Wald und Stadt im Mittelalter. Aspekte einer historischen Ökologie, in: Bernhard Kirchgässner/Joachim B. Schultis (Hg.): Wald, Garten und Park. Vom Funktionswandel der Natur für die Stadt (Stadt in der Geschichte, 18), Sigmaringen 1993, S. 25–34. Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum IV: Die Infrastruktur, hg. v. Manfred Gläser, Lübeck 2004. Lucas, Adam: Wind, Water, Work. Ancient and Medieval Milling Technology (Technology and Change in History, 8), Leiden/Boston 2006. Ludwig, Karl-Heinz: Technik im Hohen Mittelalter zwischen 1000 und 1350/1400, in: ders./ Schmidtchen: Metalle, S. 9–205. Ludwig, Karl-Heinz/Fritz Gruber: Gold- und Silberbergbau im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit: Das Salzburger Revier von Gastein und Rauris, Köln/Wien 1987. Ludwig, Karl-Heinz/Volker Schmidtchen: Metalle und Macht 1000 bis 1600 (Propyläen Technikgeschichte, 2), Berlin 1992. Mantel, Kurt: Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch, Alfeld/Hannover 1990. Märtl, Claudia/Karl Heinrich Kaufhold/Jörg Leuschner (Hg.): Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Braunschweigischen Landes, Bd. I: Mittelalter, Hildesheim/Zürich/New York 2008. Maschke, Erich: Die Unterschichten der mittelalterlichen Städte Deutschlands, ND in: ders.: Städte, S. 306–379. Maschke, Erich: Städte und Menschen. Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und Gesellschaft 1959–1977 (VSWG Beiheft 68), Wiesbaden 1980. Maschke, Erich/Jürgen Sydow (Hg.): Städtisches Haushalts- und Rechnungswesen (Stadt in der Geschichte, 2), Sigmaringen 1977. Maschke, Erich/Jürgen Sydow (Hg.): Die Stadt am Fluß (Stadt in der Geschichte, 4), Sigmaringen 1978. Matheus, Michael: Trier am Ende des Mittelalters. Studien zur Sozial-, Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte der Stadt Trier vom 14. bis 16. Jahrhundert (Trierer Historische Forschungen, 5), Trier 1984. Mathis, Franz: Die deutsche Wirtschaft im 16. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 11), München 1992. Mauelshagen, Franz: Klimageschichte der Neuzeit, 1500–1900, Darmstadt 2010. Maulhardt, Heinrich: Die wirtschaftlichen Grundlagen der Grafschaft Katzelnbogen im 14. und 15.  Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 39), Darmstadt/ Marburg 1990.

508

Literatur May, Herbert/Markus Rodenberg (Hg.): Der Reichswald. Holz für Nürnberg und seine Dörfer, Bad Windsheim/Lauf an der Pegnitz 2013. Meckseper, Cord (Hg.): Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150–1650, Bde. 3 u. 4: Aufsätze, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985. Meinhardt, Matthias: Dresden im Wandel. Raum und Bevölkerung der Stadt im Residenzbildungsprozess des 15. und 16. Jahrhunderts (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 4), Berlin 2009. Meyer, Werner: Besiedlung und wirtschaftliche Nutzung hochalpiner Zonen in der mittelalter­ lichen Schweiz, in: Konrad Spindler (Hg.): Mensch und Natur im mittelalterlichen Europa. Archäologische, historische und naturwissenschaftliche Befunde (Schriftenreihe der Aka­ demie Friesach, 4), Klagenfurt 1998, S. 231–260. Mollwo, Carl (Hg.): Das Rote Buch der Stadt Ulm (Württembergische Geschichtsquellen, 8), Stuttgart 1904. Montaigne, Michel de: Tagebuch einer Reise durch Italien, die Schweiz und Deutschland in den Jahren 1580 und 1581, dt. Frankfurt a. M. 1988. Mühle, Eduard (Hg.): Breslau und Krakau im Hoch- und Spätmittelalter. Stadtgestalt – Wohnraum – Lebensstil (Städteforschung, A: 87), Köln/Weimar/Wien 2014. Müller, Siegfried: Die Bürgerstadt. Von 1241 bis zur Residenznahme 1636, in: Geschichte der Stadt Hannover, Bd.  1: Von den Anfängen bis zum Beginn des 19.  Jahrhunderts, Hannover 1992, S. 67–135. Müllner, Johannes: Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623, Tl. II: Von 1351–1469, hg. v. Gerhard Hirschmann (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, 11), Nürnberg 1984. Müllner, Johannes: Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623, Tl. III: 1470–1544, bearb. v. Michael Diefenbacher (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, 32), Nürnberg 2003. North, Michael (Hg.): Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995. North, Michael: Von der Atlantischen Handelsexpansion bis zu den Agrarreformen 1450–1815, in ders. (Hg.): Wirtschaftsgeschichte, S. 112–196. North, Michael (Hg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, 2., völlig überarb. u. aktualisierte Aufl. München 2005. Oexle, Judith: Versorgung und Entsorgung nach dem archäologischen Befund, in: Stadtluft, S. 364–374. Opll, Ferdinand: Leben im mittelalterlichen Wien, in: Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt, Bd.  1: Von den Anfängen bis zur Ersten Türkenbelagerung (1529), Wien/Köln/Weimar 2001, S. 411–494. Palme, Rudolf: Frühe Neuzeit (1490–1665), in: ders. (Hg.): Geschichte des Landes Tirol, Bd. 2: Die Zeit von 1490 bis 1848, Bozen 1986, S. 1–287. Papke, Eva: Die Stadt als Lebenseinheit im späten Mittelalter, in: Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, hg. v. Karlheinz Blaschke, Stuttgart 2005, S. 279–340. Pfeiffer, Gerhard: Wasser und Wald als Faktoren der städtischen Entwicklung in Franken, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 32 (1972), S. 151–170. Pfister, Christian, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800, München 1994. Prada, Valentin Vázquez de: Spanien 1350–1600, in: Kellenbenz (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 706–776. Prilloff, Ralf-Jürgen: Tierknochen aus dem mittelalterlichen Konstanz. Eine archäozoologische Studie zur Ernährungswissenschaft und zum Handwerk im Hoch- und Spätmittelalter (Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg, 50), Stuttgart 2000. Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, aktualisierte u. erw. Aufl. München 2002. Der Rammelsberg. Tausend Jahre Mensch-Natur-Technik, hg. v. Reinhard Roseneck, 2 Bde., ­Goslar 2001.

509

Literatur Regnath, R. Johanna: Das Schwein im Wald. Vormoderne Schweinehaltung zwischen Herrschaftsstrukturen, ständischer Ordnung und Subsistenzökonomie (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, 64), Ostfildern 2008. Reinhard, Wolfgang (Ed.): Power Elites and State Building (The Origins of the modern State in Europe, 13th to 18th Centuries, D), Oxford/New York 1996. Reininghaus, Wilfried: Gewerbe in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 3), München 1990. Reininghaus, Wilfried/Reinhard Köhne: Berg-, Hütten- und Hammerwerke im Herzogtum Westfalen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung. Wirtschafts- und Sozialgeschichtliche Gruppe, 18), Münster 2008. Reith, Reinhold: Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 89), München 2011. Rem, Lucas s. Tagebuch des Lucas Rem. Ribbe, Wolfgang (Hg.): Geschichte Berlins, 1. Bd.: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München 1987. Riedmann, Josef: Mittelalter, in: Josef Fontana u. a. (Hg.); Geschichte des Landes Tirol, Bd. 1, Von den Anfängen bis 1490, Bozen/Innsbruck/Wien 1985, S. 265–661. Rohr, Christian: Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit (Umwelthistorische Forschungen, 4), Köln/Weimar/Wien 2007. Rösener, Werner: Bauern im Mittelalter, München 1985. Rosseaux, Ulrich: Städte in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. Rothmann, Michael: Die Frankfurter Messen im Mittelalter (= Frankfurter Historische Abhandlungen, 40), Stuttgart 1998. Sablonier, Roger: Innerschweizer Gesellschaft im 14. Jahrhundert. Sozialstruktur und Wirtschaft, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft. Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Bd. 2: Gesellschaft – Alltag – Geschichtsbild, Olten 1990, S. 11–233. Sander, Paul: Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs dargestellt auf Grund ihres Zustandes von 1431 bis 1440, Leipzig 1902. Sandgruber, Roland: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995. Schenk, Winfried: Waldnutzung, Waldzustand und regionale Entwicklung in vorindustrieller Zeit im mittleren Deutschland. Historisch-geographische Beiträge zur Erforschung von Kulturlandschaften in Mainfranken und Nordhessen (Erdkundliches Wissen, 117), Stuttgart 1996. Scheutz, Martin u. a. (Hg.): Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und früher Neuzeit. Hospitals and Institutional Care in medieval and early modern Europe (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 51), Wien/ München 2008. Schmauder, Andreas (Hg.): Macht der Barmherzigkeit – Lebenswelt Spital (Historische Stadt Ravensburg, 1), Konstanz 2000. Schmidtchen, Volker: Technik im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zwischen 1350 und 1600, in: Ludwig/Schmidtchen: Metalle, S. 207–598. Schott, Dieter/Michael Toyka-Seid (Hg.): Die europäische Stadt und ihre Umwelt, Darmstadt 2008. Schröder-Lembke, Gertrud: Waldzerstörung und Walderneuerung in Deutschland in der vorindustriellen Zeit, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 35 (1987), S. 120–137. Schubert, Ernst: Der Wald: wirtschaftliche Grundlage der spätmittelalterlichen Stadt, in: Herrmann (Hg.): Mensch, S. 257–274. Schubert, Ernst/Bernd Herrmann (Hg.): Von der Angst zur Ausbeutung. Umwelterfahrung zwischen Mittelalter und Neuzeit, Frankfurt a. M. 1994. Schulte, Aloys: Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluss von Venedig, 2 Bde., Berlin 1900. Schultheiß, Werner (Bearb.): Satzungsbücher und Satzungen der Reichsstadt Nürnberg aus dem 14. Jahrhundert, 1. Lieferung: Einleitung (1. Teil), Abdruck der Texte, Personen- und Ortsregister (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, 3), Nürnberg 1965.

510

Literatur Schulz, Knut: Handwerksgesellen und Lohnarbeiter. Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts, Sigmaringen 1985. Schulz, Knut: Handwerk, Zünfte und Gewerbe. Mittelalter und Renaissance, Darmstadt 2010. Schulz, Knut (Hg.): Handwerk in Europa. Vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, 41), München 1999. Schulze, Winfried: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1987. Schütte, Sven: Nordwestdeutsche Funde und Befunde zu Metall-, Textil- und Bauhandwerk im städtischen Bereich, in: Handwerk und Sachkultur, S. 69–93. Schwinges, Rainer Christoph (Hg.): Straßen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen, LXVI), Ostfildern 2007. Sichler, Johann Georg: Die Bamberger Bauverwaltung (1441–1481) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 41), Stuttgart 1990. Sieferle, Rolf Peter: Nachhaltigkeit in universalhistorischer Perspektive, in: Siemann (Hg.): Umweltgeschichte, S. 39–60. Siemann, Wolfram (Hg.): Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven, München 2003. Smolnik, Regina (Hg.): Silberrausch und Berggeschrey. Archäologie des mittelalterlichen Bergbaus in Sachsen und Böhmen, Langenweißbach 2014. Sokoll, Thomas: Bergbau im Übergang zur Neuzeit (Historisches Seminar, N. F. 6), Idstein 1994. Solleder, Fridolin: München im Mittelalter, München 1938, ND Aalen 1962. Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525, Aufsatzband, hg. v. Sönke Lorenz/Thomas Zotz, Ostfildern 2001. Sporhan, Lore/Wolfgang v. Stromer: Die Nadelholz-Saat in den Nürnberger Reichswäldern zwischen 1469 und 1600, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 17 (1969), S. 79– 106. Sprandel, Rolf: Die Konkurrenzfähigkeit der Hanse im Spätmittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 102 (1984), S. 21–38. Spufford, Peter: Handel, Macht und Reichtum. Kaufleute im Mittelalter, Darmstadt 2004. Das Stadtbuch von Augsburg, insbesondere das Stadtrecht vom Jahre 1276, hg. v. Christian Meyer, Augsburg 1872. Stadtlexikon Nürnberg, hg. v. Michael Diefenbacher/Rudolf Endres, 2., verb. Aufl. Nürnberg 2000. Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300, Stuttgart 1992. Stein, Walther (Bearb.): Akten zur Geschichte und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, X), 2 Bde. Bonn 1893–1895. Stephan, Hans-Georg (Hg.): Der Solling im Mittelalter. Archäologie – Landschaft – Geschichte im Weser- und Leinebergland. Siedlungs- und Kulturlandschaftsentwicklung. Die Grafen von Dassel und Nienover, Dormagen 2010. Stromer, Ulman s. Ulman Stromers Püchel Stromer, Wolfgang v.: Oberdeutsche Hochfinanz 1350–1450 (VSWG Beiheft 55–57), 3 Tle., Wiesbaden 1970. Stromer, Wolfgang v.: Gewerbereviere und Protoindustrien in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: Hans Pohl (Hg.): Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1978, S. 39–111. Stromer, Wolfgang v.: Binationale deutsch-italienische Handelsgesellschaften im Mittelalter, in: Kommunikation und Mobilität im Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.–14. Jahrhundert), hg. v. Siegfried de Rachewiltz/Josef Riedmann, Sigmaringen 1995, S. 135–158. Sutter, Pascal: Von guten und bösen Nachbarn. Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich, Zürich 2002. Sydow, Jürgen (Hg.): Städtische Versorgung und Entsorgung im Wandel der Geschichte (Stadt in der Geschichte, 8), Sigmaringen 1981. Szabó, Thomas: Die Straßen in Deutschland und Italien im Mittelalter, in: Schwinges (Hg.): Straßen- und Verkehrswesen, S. 71–118.

511

Literatur Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494–1541. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der Stadt Augsburg, mitgetheilt mit erläuternden Bemerkungen und einem Anhange von noch ungedruckten Briefen und Berichten über die Entdeckung des neuen Seewegs nach Amerika und Ostindien versehen v. B. Greiff, Augsburg 1861. Tucher, Endres s. Endres Tuchers Baumeisterbuch Ulman Stromers „Püchel von meim geslecht und von abentewr“ 1349 bis 1407, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 1 (Die Chroniken der fränkischen Städte: Nürnberg, 1), Leipzig 1862, ND Göttingen 1961, S. 25–106. Ulshöfer, Kuno/Herta Beutter (Hg.): Hall und das Salz. Beiträge zur hällischen Stadt- und Salinengeschichte, Sigmaringen 1982. Urkundenbuch der Stadt Augsburg, hg. v. Christian Meyer, 2 Bde. Augsburg 1874–1878. Volk, Otto: Wirtschaft und Gesellschaft am Mittelrhein vom 12. bis zum 16. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 63), Wiesbaden 1998. Die Wasserversorgung im Mittelalter (Geschichte der Wasserversorgung, 4), Mainz 1991. Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit (Geschichte der Wasserversorgung, 5), Mainz 2000. Weinrich, Lorenz (Hg.): Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, XXXII), Darmstadt 1977. Weinrich, Lorenz (Hg.): Quellen zur Verfassungsgeschichte des Römisch-deutschen Reiches im Spätmittelalter (1250–1500) (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, XXXIII), Darmstadt 1983. Westermann, Angelika/Stefanie v. Welser (Hg.): Beschaffungs- und Absatzmärkte oberdeutscher Firmen im Zeitalter der Welser und Fugger, Husum 2011. Westermann, Ekkehard: Das Eislebener Garkupfer und seine Bedeutung für den europäischen Kupfermarkt 1460–1560, Köln 1971. Westermann, Ekkehard: Zur Silber- und Kupferproduktion Mitteleuropas vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert. Über Bedeutung und Rangfolge der Reviere von Schwaz, Mansfeld und Neusohl, in: Der Anschnitt 38 (1986), Heft 5–6, S. 187–211. Westermann, Ekkehard (Hg.): Bergbaureviere als Verbrauchszentren im vorindustriellen Europa. Fallstudien zu Beschaffung und Verbrauch von Lebensmitteln sowie Roh- und Hilfsstoffen (13.–18. Jahrhundert) (VSWG Beihefte 130), Stuttgart 1997. Wiegelmann, Günter/Ruth-E. Mohrmann (Hg.): Nahrung und Tischkultur im Hanseraum (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 91), Münster/New York 1996. Willerding, Ulrich: Paläo-ethnobotanische Befunde über die Lebens- und Umweltverhältnisse im Mittelalter, in: Herrmann/Sprandel (Hg.): Determinanten, S. 109–125. Wolf, Armin (Hg.): Die Gesetze der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, XIII), Frankfurt a. M. 1969. Wunder, Gerd: Die Bürger von Hall. Sozialgeschichte einer Reichsstadt 1216–1802 (Forschungen aus Württembergisch Franken, 16), Sigmaringen 1980. Wunder, Gerd: Die Stadt am kleinen Fluß: Schwäbisch Hall, in: Maschke/Sydow (Hg.): Stadt, S. 100–109. Zink, Burkard s. Chronik des Burkard Zink Zupko, Ronald Edward/Robert Anthony Laures: Straws in the Wind. Medieval Urban Environmental Law – The Case of Northern Italy, Boulder 1996. Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts, Bde. I u. II hg. v. H. Zeller-Werdmüller, Leipzig 1899–1901; Bd. III hg. v. Hans Nabholz, Leipzig 1906. Zwölfer, Helmut: Grundlagen der Bevölkerungsentwicklung aus ökologischer Sicht, in: Herrmann/Sprandel (Hg.): Determinanten, S. 37–54.

512

Informationen zum Buch Bernd Fuhrmanns umfassende Darstellung verbindet erstmals systematisch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit der Umweltgeschichte, die heute mehr denn je im Fokus steht. Ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und gesellschaftliche Entwicklung sind von großer Bedeutung. Schon der Einfluss des Klimas etwa auf die Getreideernte und die Weinlese beeinflusste die Ernährungslage weiter Teile der Bevölkerung. Entsprechenden Niederschlag fand der Rückgang der siedlungsnahen Wälder. Auch die Belastungen durch den Bergbau waren spätestens im 15. Jahrhundert bekannt. Die Entwicklungen von Agrarsektor, Handel, Handwerk, Städtewesen und sozialen Strukturen sind in den (chronologisch aufgebauten) Hauptkapiteln thematisiert und werden so für Früh-, Hoch- und Spätmittelalter vergleichbar. Der zeitliche Rahmen reicht vom 7./8. bis ins 17. Jahrhundert, wobei der Schwerpunkt auf dem Spätmittelalter liegt. Geographisch steht das Reichsgebiet nördlich der Alpen im Zentrum.

Informationen zum Autor Bernd Fuhrmann lehrt mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte an der Universität Siegen. Seine Forschungsschwerpunkte und -interessen liegen in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie der Landesgeschichte des Mittelalters und des 16. Jahrhunderts, dazu treten die Stadtgeschichte mit ihren vielfältigen Aspekten, Fragen nach dem alltäglichen Lebensumfeld der Menschen und ihren Lebensbedingungen sowie eine breit verstandene Kultur- und auch Konsumgeschichte. Im Theiss Verlag, einem Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt, erschien von ihm zuletzt: Hinter festen Mauern. Europas Städte im Mittelalter