Deutschland aus internationaler Sicht [1 ed.] 9783428530670, 9783428130672

Die Gesellschaft für Deutschlandforschung wurde 1978 in Berlin gegründet. Sie schuf für die Deutschlandforschung ein For

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Deutschland aus internationaler Sicht [1 ed.]
 9783428530670, 9783428130672

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Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 96

Deutschland aus internationaler Sicht Herausgegeben von

Tilman Mayer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

TILMAN MAYER (Hrsg.)

Deutschland aus internationaler Sicht

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 96

Deutschland aus internationaler Sicht Herausgegeben von

Tilman Mayer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Fotos: Tobias Chmura, Telgte

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-13067-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Jubiläum, Turbulenzen, Perspektiven – anstelle eines üblichen Vorworts Die Jahrestagung der Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung im Jahre 2008 stand zunächst im Zeichen des Rückblicks. Die Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung wurde vor 30 Jahren von Nonkonformisten in der Entspannungsära gegründet – als Zeichen einer kritischen Deutschland(politik)forschung, die nicht nur den bestehenden Status quo der Teilung Deutschlands nicht hinnehmen, sondern sich auch nicht ihre kritische Sicht auf die Teilung nehmen lassen wollte. Die Tagung stand auch im Zeichen der Stabübergabe von Karl Eckart an Tilman Mayer. Karl Eckart leitete die Gesellschaft über ein dutzend Jahre. Viele Bücher sind durch ihn veranlasst worden, viele Analysen des Prozesses des Zusammenwachsens von Ost und West wurden während seiner Präsidentschaft verfasst. Die Gesellschaft ist ihm zu großem Dank verpflichtet, sie würde wohl ohne ihn nicht mehr bestehen. Die Tagung fand im exklusiven Marie-Elisabeth-Lu¨ders-Haus auf dem Reichstagsareal statt, und zwar in unmittelbarer Nähe zur Spree, im Zentrum des geeinten Berlins. Es ist mir damit gelungen, die Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung erstmals im Regierungszentrum Berlins tagen zu lassen, mit Blick auf das gegenüberliegende Reichstagsgebäude und das Paul-Löbe-Haus sowie auf das große, moderne Kanzleramt als Symbol des wiedervereinigten Deutschlands. Die Perspektiven der nationalen und internationalen Gäste waren sehr eindrucksvolle; sie bedeuteten, dass nach langer Pause die internationale Politik in der Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung besondere Beachtung fand – und zwar nicht, wie erwartbar, aus den dabei üblichen Ländern, sondern bewusst aus Staaten, die sonst nicht ohne weiteres zum Zug kommen. Allen Referenten sei herzlicher Dank gesagt. Zuerst aber dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, der uns ermöglichte, im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus zu tagen. Der Tod einer seiner Vorgängerinnen, Frau Annemarie Renger, hat letztlich verhindert, dass er sein Grußwort selbst halten konnte. Der Direktor beim Deutschen Bundestag, Staatssekretär Dr. Hans-Joachim Stelzl, hat sich erfreulicherweise bereit gefunden, den in- und ausländischen Hörerkreis willkommen zu heißen. Zum 30. Jahrestag der Gründung der Gesellschaft kamen Referenten aus dem Ausland, die wichtige Positionen in der internationalen Deutschlandforschung einnahmen und einnehmen. Ton Nijhuis leitet als wissenschaftlicher Direktor das

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renommierte Deutschland Institut Amsterdam; einmal mehr wird dadurch deutlich, dass der DAAD mit seinem German-Studies-Program eine wichtige kulturdiplomatische Mission übernommen hat, die auswärtige Kulturpolitik einen Beitrag leistet zur Softpower Deutschlands – ein Aspekt, der – leider deutlich nachweisbar – früher vernachlässigt wurde, wenn man etwa an die Schließung von vielen Goethe-Instituten denkt. Joseph Kostiner ist von Haus aus zwar Nahost-Experte in Israel, aber er ist auch als Beobachter der deutschen Nahost-Außenpolitik bekannt – und hat hier auf Deutsch eine analytisch sehr treffende, diplomatisch vorgetragene Analyse vorgelegt über den German juggler . Conrad Schetter, kurzfristig für den unabkömmlichen deutschen Botschafter in Afghanistan, Hans Ulrich Seidt, eingesprungen, wies auf die guten und sehr alten und sich in unterschiedlichen Zeiten bewährt habenden deutsch-afghanischen Beziehungen hin – und die hohen Erwartungen, die sich an Deutschland richten. Insofern verteidigt Deutschland nicht nur seine eigene Sicherheit am Hindukusch, sondern es hilft dort als angesehene, ausländische Macht ohne Eigennutz einem alten außenpolitischen Partner, Verbündeten, ja, einem fernen Freund. Hüseyin Bagci, Schüler von Karl Dietrich Bracher in Bonn, inzwischen führender Politikwissenschaftler in der Türkei, in Ankara, ersparte den in konzentrischen Kreisen sitzenden Zuhörern im Saal keinen Vorwurf: etwa mangelndes konstantes Interesse an der Türkei. Er bedauerte, dass die pro-europäische Orientierung der Türkei auf so viele Vorbehalte stoße. Auch Bagci trug seinen Vortrag in deutscher Sprache vor. Der Vorsitzende der weltweit größten Forschergruppe, die sich mit Deutschland befasst, der German-Studies-Association (GSA), Executive Director David E. Barclay, berichtete von der Rolle Berlins als backburner im Kalten Krieg, über die der Ernst-Reuter-Experte bestens unterrichten konnte. Der langjährige, frühere GSA-Vorsitzende und GSA-Gründer Gerald R. Kleinfeld aus Arizona stellte im amerikanischen Wahljahr 2008 die maßgeblichen Protagonisten des Wahlkampfes vor und beeindruckte durch treffende Bemerkungen, die sich auch nach Jahresabstand als kluge Beobachtungen erweisen und bewähren. Jackson Janes ist der bekannte und verdiente Leiter des American Institute for Contemporary German Studies (AICGS). In seinem Vortrag beschäftigte er sich mit den US-amerikanischen Erwartungen an die deutsche Außenpolitik, jeweils aus der Perspektive der Kandidaten Obama und McCain. Der damals Bonner und jetzt Warschauer Historiker Albert S. Kotowski befasste sich mit den bekanntlich durchaus komplexen deutsch-polnischen Beziehungen. Dabei widmete er sich insbesondere den polnischen Parlamentswahlen vom 21. Oktober 2007 und untersuchte, wie sich die polnische Deutschland- und Europapolitik seither veränderte.

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Dass die sonst üblichen Länder Frankreich, Italien, Großbritannien nicht auf der Tagung vertreten waren, sei besonders vermerkt. In früheren Bänden der Schriftenreihe der Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung wurde mit diesen verbündeten Ländern hauptsächlich aufgewartet. Doch Deutschlands Radius an Wirkung und Beachtung ist weit größer geworden, sodass diese Auswahl als Indiz zu nehmen ist, dass inzwischen viele Länder größere Bedeutung für Deutschland erhalten haben. Vielleicht gelingt es in den kommenden Jahren, den Radius zu vervollständigen – was letztlich auch eine Frage der Förderung der Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung ist. Die 30. Jahrestagung der Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung verlief nicht ohne Turbulenzen. Drei Amerikaner, ein Israeli, ein Türke, ein Niederländer, ein Pole und ein Russe urteilten über Deutschland – aber ein neu-alter Ost-WestGegensatz sollte russischerseits mit starken Tönen, amerikanischerseits durchaus nicht erwartbar, vorgetragen werden. Bizarre Vorwürfe, ja, Anwürfe wurden in den Raum gestellt, und zwar von Moskau aus. Der Vortragende aus Russland fand sich nicht nur in der Minderheit, nein, er stand fast alleine da. Sollte ich im Nachhinein, als Herausgeber und Vorsitzender der Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung, zur Streitschlichtung den russischen Beitrag herauslassen oder durch einen anderen ersetzen, den Vorgang sozusagen kaschieren? Das würde bedeuten, nicht nur Mangel an Courage zu haben, sondern den Tagungsablauf rückwirkend zensieren zu wollen. Hätte ich Wjatscheslaw Daschitschew, den russischen Autor, gar nicht erst einladen sollen? Vielleicht ja. Eingeladen habe ich den renommierten GorbatschowBerater, der seit Mitte der 80er Jahre Gorbatschow auf die offene deutsche Frage verwiesen hat, ja, auf eine mögliche Wiedervereinigung zu sprechen gekommen ist: also einen definitiven Freund Deutschlands. Gekommen ist aber, zwanzig Jahre nach dieser Beratungszeit, ein Mann, Jahrgang 1925, der mit Bitterkeit auf ein Deutschland blickt, das im proamerikanischen Fahrwasser fährt – und keinesfalls darunter zu leiden scheint. Daschitschew hat demonstriert, dass Russland noch nicht seine endgültige Gestalt, noch nicht eine gefestigte Identität gefunden hat. Das war zu bedauern. Wir lernen daraus, dass die deutsch-russischen Beziehungen, die ja gegenüber den amerikanisch-europäischen, amerikanisch-deutschen Beziehungen nachrangig sind, mit großer Aufmerksamkeit zu verfolgen sein werden. Das nachkommunistische Russland erfüllt sicher noch nicht die Erwartungen, die man an ein freies Russland richten kann. Der problematische Text Daschitschews offenbart – unfreiwillig – diesen Weg Russlands zwischen autoritärer Identität und freier Selbstbestimmung. „Russland erhebt sich von den Knien“, hat Jelzin gesagt. Es steht aber noch nicht frei. Der Text Daschitschews trägt revisionistische Züge. Er stützt anti-amerikanische Vorurteile und versucht einen Keil zu treiben zwischen Deutschland und die USA. Er überzeugt nicht, weil er auf Ressentiments gegenüber den USA aufbaut. Muss

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ich ihn deshalb aus dem Band herausnehmen? Oder muss man es aushalten, wenn so „argumentiert“ wird? Das wiedervereinigte Deutschland: Ist es ausschließlich nur „ein großes Verdienst der Gorbatschow-Politik“? Die Welt wird hier schwarz-weiß gezeichnet. Es fehlt nur, dass Bush-Vater die Wende von 1989 verhindert haben soll. Nein, Daschitschew argumentiert einseitig, nur auf Russland bezogen. ER verdient Aufklärung! Die hundertbändige Schriftenreihe der Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung steht für Aufklärung in der deutschen Frage. Und sie beschäftigte sich auch mit der überaus willkommenen Politik Gorbatschows bezüglich Deutschlands. Daschitschew demonstriert – nochmals: unfreiwillig – wie enorm stark die antiamerikanischen Vorurteile in der russischen Elite fortbestehen. Davon muss man wissen, das muss man erlebt haben und eben nachlesen können. Nur dann kann man sich mit dieser Lage auseinandersetzen, ihr gewappnet gegenüberstehen. Daschitschew scheint es enorm zu stören, dass Deutschland mit den USA fest verbündet ist, dass Deutschland sich, Jugoslawien betreffend, am Krieg beteiligte, den der damalige Außenminister Joschka Fischer zu Recht als Versuch ansah, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Die Art der Argumentation Daschitschews macht die Deutschen darauf aufmerksam, dass Russland gefährlich sein kann, jedenfalls ein Russland Daschitschews, das Deutschland Völkerrechtsverletzungen vorwirft. Es fällt einmal mehr auf, wie wichtig ein Gerhard Schröder für derartige antiamerikanische Politikanalysen ist. Aber selbst Gerhard Schröder würde sich vermutlich eine derartige Vereinnahmung verbitten. Ich befürchte, dass Daschitschew die raison d’eˆtre breiter Kreise der russischen Elite verkörpert. Daschitschew analysiert falsch; man kann ihn einfach widerlegen, wie hiermit geschehen. Aber man muss von diesen Vorurteilen wissen. Daschitschew argumentiert, aus meiner Sicht betrachtet, nicht bösartig. Er ist ein Anhänger der deutschrussischen Freundschaft geblieben. Eben deshalb meine ich, dass man gut beraten ist, zu widerlegen, was falsch gesehen wird, meines Erachtens bis hinauf in die Spitze des russischen Staates falsch gesehen wird. Dort sind aber keine Stalinisten mehr am Werk, deshalb ist das freie Wort zu vertreten so wichtig, und auch, es nach Russland hineinzutragen, soweit dies möglich ist. *

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Die Jahrestagung wurde abgeschlossen mit einer zweistündigen Führung durch das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, durch den Europasaal gegenüber und sie führte bis unter die Kuppel des Reichstages – ein Angebot, das insbesondere die ausländischen Gäste gerne angenommen haben und das sozusagen einen krönenden Abschluss dieser wichtigen Tagung darstellte.

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Für die Vorbereitung der Tagung danke ich meinem Bonner Team, unter ihm an erster Stelle Lutz Haarmann wie auch Martina Kortmann, das vor Ort mit aktiv gewesen ist. Tilman Mayer (Vorsitzender der Gesellschaft fu¨r Deutschlandforschung)

Inhaltsverzeichnis Jackson Janes und Ann-Kristin Otto Deutschlands internationale Rolle: US-amerikanische Erwartungen an Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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David E. Barclay On the Back Burner – Die USA und West-Berlin 1948 – 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerald R. Kleinfeld Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen und die transatlantischen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ton Nijhuis „Eine Art europäischer Vertrauensmann“. Das niederländische Deutschlandbild

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Joseph Kostiner und Erik Schechter Deutschland, der Jongleur: Zur Versöhnung divergenter Strategien in der deutschen Nahostpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hu¨seyin Bagci Deutschland von außen gesehen: Die Perzeption der Türkei. Eine Sicht aus Ankara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wjatscheslaw Daschitschew Deutschland aus der Sicht Russlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Albert S. Kotowski Polen zwischen altem und neuem Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Conrad Schetter Die politische Rolle Deutschlands aus afghanischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutschlands internationale Rolle: US-amerikanische Erwartungen an Deutschland Von Jackson Janes und Ann-Kristin Otto

A. Amerikanische Erwartungen an deutsche Außenpolitik Das Medieninteresse am US-Wahlkampf in Deutschland und Europa ist 2008 so stark wie nie zuvor. Jedoch ist die Berichterstattung im ersten Halbjahr des Jahres 2008 stark personenbezogen gewesen und hat sich weniger mit Inhalten und politischen Konsequenzen für Europa beschäftigt. Das Rennen zwischen Barack Obama und Hillary Clinton um die demokratische Kandidatur hat die ersten Monate der Vorwahlen dominiert. Nachdem Hillary Clinton aus dem Rennen ausgestiegen ist, hat sich die Berichterstattung zunehmend auf Barack Obama konzentriert. Dies wurde von der Auslandsreise des Senators aus Illinois und dem Berlin-Besuch am 24. Juli 2008 noch weiter angekurbelt. Während der Kandidat Obama für Medien auf beiden Seiten des Atlantiks viel Stoff für Berichterstattung liefert, scheint John McCain zumindest in Europa als ideologischer Nachfolger von George W. Bush angesehen zu werden und taucht in den Medien nur sporadisch auf. Diese Gewichtung auf Personen ist einerseits natürlich, da die dominanten Themen des US-Wahlkampfes innenpolitischer Natur sind und nicht unbedingt auf großes Interesse der europäischen Öffentlichkeit stoßen. Andererseits wäre es angebracht, wenn sich Europa mit den dominanten außenpolitischen Themen des Wahlkampfes beschäftigen würde und sich hier die Frage stellt: Was wird ein Präsident McCain oder Präsident Obama ab Januar 2009 von uns erwarten? Sind die überwiegend positiven Erwartungen an die Post-Bush-Ära begründet oder kann es sein, dass Europa ein unangenehmes Erwachen nach der US-Wahl droht? Heißt ein stärker multilateral orientiertes Amerika, das sich so viele Europäer herbeisehnen, nicht auch gleichzeitig mehr Handlungsverantwortung für die Partner Amerikas? Wie sieht die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft post-Bush tatsächlich aus?

B. Europa im Dornröschenschlaf – was kommt nach dem 20. Januar 2009? Nimmt man die öffentliche Stimmungslage als Indikator für deutsche Erwartungen an die amerikanische Regierung nach der zweiten Amtszeit von Präsident George W. Bush, kann man eine enorme Verbesserung des transatlantischen Ver-

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hältnisses erwarten. Besonders unter einem Präsidenten Barack Obama erhoffen sich viele Deutsche, dass die Amerikaner wieder kooperativer, dialogfreundlicher und einfühlsamer in ihrer Außenpolitik werden. Zwar haben während und nach dem Besuch von Obama in Berlin im Juli 2008 einige Analysten auch zu Vorsicht und Zurückhaltung gemahnt was die Erwartungen an eine Kehrtwende amerikanischer Außenpolitik angeht, jedoch hat die Euphorie, die auf Berliner Straßen herrschte, die vorsichtigen Töne bei weitem überstimmt. Eine Kehrtwende amerikanischer Politik ist in vielen Punkten sowohl unter einer Präsidentschaft McCains als auch Obamas zu erwarten. Beide Politiker haben die Bush-Regierung vermehrt aufgrund ihrer diplomatischen Grobheit kritisiert und dazu aufgerufen, die USA wieder stärker in die internationale Rechtsgemeinschaft zu integrieren. Es ist mit der Schließung des Gefängnisses von Guantanamo zu rechnen sowie mit einem klaren Folterverbot. Auch werden sich die USA stärker als bisher im internationalen Klimaschutz engagieren. Aber vor allem – und das haben beide Präsidentschaftsanwärter sehr klar formuliert – werden sie die Nähe zu Europa suchen und die transatlantischen Beziehungen reanimieren. Dieses jedoch heißt in der praktischen Politikausführung auch mehr Forderungen an die Alliierten, sich in gemeinsamen Projekten wie beispielsweise beim NATO-Einsatz in Afghanistan, zu engagieren. Aber es kann auch heißen, mehr Verantwortung im Irak zu übernehmen und gegenüber dem Iran mit den Amerikanern gemeinsam Alternativen zu entwickeln, wenn Diplomatie weiterhin fehlschlägt. Diese amerikanischen Forderungen werden sowohl von Seiten einer Obama- als auch einer McCain-Administration kommen. Sie werden aus dem Zusammenhang von amerikanischen Interessen und Zielen und der Notwendigkeit von Problemlösungen entstehen. Diese Forderungen werden an die Bündnispartner gerichtet sein, und vor allem an Deutschland. Die große Herausforderung in diesem Zusammenhang wird sein, ob der US-Präsident Deutschland davon überzeugen kann, dass es auch deutsche Interessen und Ziele sind, aus denen diese Forderungen entstehen. Diese Interessenkonvergenz – wenn sie auch immer schwierig war – scheint in den 90er Jahren existent gewesen zu sein und ist den transatlantischen Partnern in den letzten sieben Jahren abhanden gekommen. Tatsache ist, dass sich die gegenseitigen Erwartungen und Handlungsmaxime beider Länder nicht grundsätzlich ändern werden und dass Konflikte bestehen bleiben. Josef Joffe hat es in der ZEIT sehr gut auf den Punkt gebracht: „Bush geht, Amerika bleibt.“1 Insofern geht es um Erwartungen, die von nationalen Interessen und Bedürfnissen geprägt sind und in einem kooperativen transatlantischen Verhältnis zumeist in politischen Kompromissen enden müssen. Der Regierungswechsel in Washington gibt Anlass zu betrachten, welche Faktoren in Zukunft das transatlantische Verhältnis prägen werden. Mit John McCain oder Barack Obama wird ein anderer Stil ins Weiße Haus einziehen und beide werden sich bemühen, dem globalen Ansehensverlust der USA der letzten Jahre ent1

Josef Joffe, Sheriff im Schafspelz, in: Die ZEIT, Nr. 11 / 2008, S. 1.

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gegenzuwirken. Jedoch werden die Themen auf der Agenda dieselben bleiben. Auf diese Mischung aus Kontinuität und Wandel im transatlantischen Verhältnis muss sich die deutsche und amerikanische Elite bestmöglich vorbereiten.

C. NATO, Kosovo, Russland, Iran – neue Administration, gleiche Probleme Der NATO-Gipfel in Bukarest hat trotz vieler Fortschritte gezeigt, dass es im transatlantischen Sicherheitsverhältnis große Meinungsunterschiede gibt. Die Partner konnten sich nicht zur NATO-Erweiterung um Georgien und die Ukraine einigen. Die transatlantischen Differenzen zur ISAF Mission und die Schwierigkeiten der NATO, mehr Truppen und Ressourcen an den Hindukusch zu bekommen, sind so aktuell wie je zuvor. Der Führungswechsel 2008 in Moskau und die politischen Ungewissheiten, die dadurch hervorgerufen wurden, werden das deutsch-amerikanische Verhältnis auf die Probe stellen: Deutsche und US-amerikanische Ansätze zur Politik gegenüber Russland können auseinanderdriften und werden auch in Zukunft für Spannungen sorgen, je nachdem wie Dimitrij Medwedew seine Politik formulieren und auslegen wird. Ein unabhängiges Kosovo, territoriale Konflikte in Georgien und das Machtmittel Energiezufuhr bieten viele Spannungsfelder, auf die die USA teilweise gänzlich andere Antworten hat als die – uneinheitlichen – Europäer. Der 60. Geburtstag des Staates Israel hat in diesem Jahr die deutsche Regierung immer wieder dazu ermuntert, ihre Solidarität mit Israel öffentlich zu bekunden. Trotz verstärkter Partnerschaft und besonderer Beziehungen steht jedoch die Frage nach Israels Sicherheit weiterhin im Raum und die Bundesregierung wird Fragen beantworten müssen, ob insbesondere beim Thema Iran ihren Worten Taten folgen werden. Sie wird gefragt werden, wie sie einen iranischen Präsidenten, der das Existenzrecht Israels in Frage stellt, als inakzeptabel bezeichnen kann, während Deutschland enge wirtschaftliche Beziehungen zu dem Land aufrecht erhält. Die außenpolitischen Herausforderungen, durch die sich die transatlantische Partnerschaft definieren wird, sind zahlreich und bieten viel Stoff für Konflikte. Die großen Erwartungen an die nächste US-Administration der europäischen Öffentlichkeit, die eine „Alles-außer-Bush“-Linie zu proklamieren scheint, sollten dementsprechend mit realistischen Aussichten abgeglichen werden: Was sind die US-amerikanischen Erwartungen an die internationale Rolle Deutschlands unter den möglichen neuen Präsidenten? Es ist zu erwarten, dass sich beide Kandidaten von der unilateralen Außenpolitik Bushs entfernen werden, wenn sie auch immer eine Möglichkeit der amerikanischen Politik bleiben wird. Beide Kandidaten werden aber gleichzeitig Deutschland und andere Bündnispartner zu stärkeren internationalen Rollen auffordern und hier besonders mehr internationales Engagement in Krisensituationen einfor-

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dern, d. h. auch und vor allem militärisches Engagement. Obama und McCain haben mehrfach betont, dass sie Ihre Bündnispartner aktiv einfordern werden und besonders von den Europäern erwarten, eine größere Last und vor allem internationale Verantwortung zu tragen.

D. Change – Was heißt das? Das Wort „Wandel“ ist in diesem Wahlkampf zu einem sehr beliebten Wort geworden. Schaut man sich jedoch das deutsch-amerikanische Verhältnis einmal genauer an, so muss man zugeben, dass Wechsel nur schwer möglich ist in einem Verhältnis, das von mehr als dem US-Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin abhängt. Man muss sich also eher die Frage nach dem „was KANN sich ändern“ stellen als die Frage nach dem „was WIRD sich ändern“. Diese Frage sollte an den großen außenpolitischen Herausforderungen, die vor Deutschland und der internationalen Gemeinschaft liegen, bearbeitet werden.

E. Liegt die Zukunft der NATO am Hindukusch? Deutschland hat beim NATO-Gipfel 2008 in Bukarest eine klare Linie bezogen: vorerst nicht mehr Soldaten nach Afghanistan und vor allem keine in den Süden. Dieser Standhaftigkeit in Bukarest waren hitzige Debatten zum ISAF-Einsatz der Deutschen und anderer Bündnispartner vorangegangen. Der NATO-Generalsekretär sowie die NATO-Mitgliedsstaaten, die aktiv im Süden kämpfen, haben Deutschland und andere Partner offen dazu aufgefordert mehr zu tun und vor allem ihre nationalen Vorbehalte, was den Einsatz der Soldaten angeht, zu verringern. Zwar ist diese Debatte vorerst verstummt und man konnte Kompromisse in Bukarest erreichen, jedoch steht bereits der nächste Gipfel vor der Tür: im April 2009 wird die NATO ihren 60. Jubiläumsgipfel abhalten. Dies wird der erste Gipfel für den neuen amerikanischen Präsidenten sein und der Ort die Bündnispartner konkret auf die neue, kooperative Linie der amerikanischen Regierung hinweisen: Der Druck, mehr Soldaten und Ressourcen für den ISAF-Einsatz bereitzustellen, wird sich weiterhin erhöhen. Viele Amerikaner fordern von Deutschland, dass es endlich seinem Wunsch nach globaler Verantwortung nachkommen und „erwachsen“ werden müsse. Deutschlands momentane 3200 Soldaten sind zwar geschätzt und werden begrüßt, sehen aber neben 27000 amerikanischen Soldaten und 7800 britischen Soldaten blass aus. Auch eine Erhöhung der Obergrenze für den deutschen ISAF Einsatz auf 4500 Kräfte wird den Druck nicht verringern. Einen Hauch dieser Debatte gab es Anfang Februar 2008 bei dem Verteidigungsministertreffen in Vilnius und auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu spüren. Hier ging es um einen Brief, den Bob Gates an alle europäischen Verteidigungsminister geschickt hat und in dem er zu mehr Engagement aufforderte. Der Brief

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rief eine Welle der Empörung im Bundestag hervor und die Antwort der Bundesregierung war ein kategorisches und sehr schnelles Nein. In Straßburg und Kehl werden die Karten erneut auf den Tisch gelegt. Kanada hat bereits einen Teilabzug seiner Truppen angekündigt, wenn einige Bündnispartner sich weiterhin weigern, ihre Kameraden aktiv zu unterstützen. Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer wirbt aktiv für Bündnissolidarität und warnt eindringlich vor einer NATO, die auf zwei Pfeilern steht (zivilem und militärischem) anstatt eine gemeinsame Strategie zu haben. Hierbei hat er wiederholt betont, dass die NATO ein Militärbündnis sei und keine Entwicklungshilfeorganisation. Die Adressaten für diese Worte sind unschwer zu erkennen. Die Debatte um die ISAF-Mission und das kategorische Nein der Bundeskanzlerin zu einem Einsatz im Süden des Landes wird zum Großteil von den innenpolitischen Verhältnissen in Deutschland bestimmt, der instabilen Lage der Großen Koalition und der Angst vor der Linkspartei, die momentan eine Vetomacht in der deutschen Politik zu besitzen scheint. Die Debatte spiegelt jedoch wesentlich tiefere transatlantische Unterschiede wider: Große Teile Europas und die USA sind weit voneinander entfernt, wenn es um die Art und Weise der Terrorismusbekämpfung geht. Während sich die USA in einem globalen Krieg gegen den Terror befinden – was übrigens keiner der Präsidentschaftskandidaten anzweifelt – sieht sich Europa zwar auch vom islamistischen Terror bedroht, würde aber weder von Krieg noch von einer totalitären Bedrohung sprechen. Fakt ist, dass wir grundsätzlich in unserer Bedrohungswahrnehmung sowie der daraus folgenden Bekämpfungsstrategie als auch bei der Analyse der Wurzeln des Terrorismus nicht übereinstimmen. Hier und auch in der Debatte um Raketenabwehr wird sehr deutlich, dass unser grundsätzliches strategisches Verständnis zum Instrument der Abschreckungspolitik oftmals diametral auseinander liegt. Wie begegnen wir den neuen Bedrohungen des 21. Jahrhunderts? Zu diesen Bedrohungen gehören sicherlich die Verbreitung, Stärkung und Vernetzung nicht-staatlicher Terrorgruppen, der Aufstieg neuer Weltmächte und die Kombination aus beidem, geführt von tyrannischen Machthabern. Außerdem werden wir natürlich konfrontiert von einer Reihe von Sicherheitsbedrohungen, die nicht unserem traditionellen Sicherheitsverständnis entsprechen, wie etwa Konsequenzen des Klimawandels, Migrationsströme, globale Epidemien wie HIV / Aids und viele andere. In dieser multidimensionalen Sicherheitslandschaft mit komplexen Bündnissen und instabilen regionalen Verhältnissen ist das Erarbeiten einer gemeinsamen Strategie wichtiger als je zuvor. Und diese transatlantischen Meinungsverschiedenheiten spiegeln sich in der ISAF Mission wieder, gehen aber weit darüber hinaus zur Frage nach der Zukunft der NATO: Wohin steuert das Sicherheits- und Verteidigungsbündnis in Zukunft? In einem erweiterten Sicherheitsbegriff, wo potentiell alles zur Sicherheitsbedrohung wird, sind welche Bedrohungen Angelegenheiten der NATO? Cyberkriminalität? Energieversorgung? Wie sieht die NATO der Zukunft geografisch aus?

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Wird es eine gemeinsame, kohärente Position zur Frage der Raketenabwehr geben? Werden die Europäer ihren Verteidigungsetat erhöhen? Es kann bezweifelt werden, dass der Jubiläums-Gipfel diese Fragen beantworten wird. Eine starke und politisch geeinte NATO ist von essentieller Bedeutung für das transatlantische Verhältnis. Wir müssen eine offene Diskussion darüber führen, was die NATO in den nächsten 60 Jahren leisten kann und soll. Und wenn wir ein gemeinsames Strategiekonzept verabschieden können, dann müssen den Worten eindeutige Taten folgen. Und hier wird besonders von Deutschland, aber auch von anderen europäischen Mitgliedsländern, mehr Verantwortung und mehr militärisches Engagement eingefordert werden. Sicher ist, dass beide Präsidentschaftskandidaten das US-amerikanische Engagement in Afghanistan weiterführen werden. Es grenzt an Ironie, dass McCain bzw. Obama fraglos wesentlich öfter und eindringlicher als Bush nach der Hilfe der Deutschen fragen werden. Sicher ist auch, dass beide Kandidaten ein Engagement im Irak – trotz viel Wahlkampfrhetorik – nicht abrupt beenden werden und sicher ist ebenso, dass die USA sich verstärkt im israelisch-palästinensischen Konflikt und darüber hinaus in der gesamten Region engagieren werden. Und in all diesen Bemühungen wird man viel Hilfe der Bündnispartner benötigen. Insofern kann, wie Anne Applebaum in der Washington Post schreibt, 2009 die Stunde Europas werden, wenn Europa ernsthafte, substantielle neue Beiträge liefert. Die neue Besetzung im Weißen Haus würde vermutlich nicht nur verstärkt zuhören, sondern eine ganz neue Dimension an leadership und partnership anbieten.2

F. Russlandpolitik – Kooperation oder Konfrontation? Die transatlantischen Beziehungen stehen vor schweren Zerreißproben vis-à-vis Russland. Deutsche und US-amerikanische Vorstellungen, wie mit Russlands aggressiver Außen- und Innenpolitik umzugehen ist, liegen weit auseinander. Auch wenn mit Dmitrij Medwedew ein neuer Präsident im Kreml ist, von dem noch niemand so genau weiß, ob er mehr Chancen als Risiken birgt oder andersherum, so sind doch die ersten Anzeichen für eine Konfrontation mit dem Westen unschwer erkennbar. Zwar unterscheiden sich die beiden Präsidentschaftskandidaten in ihrer Russlandpolitik im Wahlkampf relativ deutlich, jedoch sind diese Unterschiede verschwindend gering, wenn man auf die transatlantischen Differenzen schaut. Während John McCain seine sehr konfrontative Haltung gegenüber Russland offen zeigt, so hat Barack Obama vor einem jubelnden Publikum in Berlin gesagt, dass er die Kooperation in den Bereichen sucht, wo eine Zusammenarbeit möglich ist: „we must reject the Cold War mind-set of the past, and resolve to work with Russia when we can, to stand up for our values when we must, and to seek a partnership that extends across the entire continent.“3 2

Anne Applebaum, The Hour of Europe, in: The Washington Post 29. 7. 2008, A17.

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Diese Worte sind gut beim Berliner Publikum angekommen und hören sich nach Einklang mit deutscher Außenpolitik an. Jedoch können sie vorerst nicht mehr als leere Hülsen bezeichnet werden, die mit den jeweiligen Rahmenbedingungen und Themenkomplexen gefüllt werden. Es ist stark zu bezweifeln, dass sich Amerikaner, Deutsche und andere Europäer momentan darauf einigen könnten, in welchen Bereichen Kooperation möglich ist und in welchen Bereichen sich die westliche Gemeinschaft für ihre gemeinsamen Werte im Notfall auch gegen Russland einsetzten müsste. Die Parameter, die die jeweiligen Verhältnisse bestimmen, werden dieselben bleiben. Deutschland und Europa sind durch die eigene Energieabhängigkeit, aber auch durch die unmittelbare Nachbarschaft zu Russland, viel stärker an einem harmonischen Umgang interessiert, als die USA es sind. Die USA sehen in Russlands Entwicklung unter Putin einen Rückschritt im Bereich Demokratie und Menschenrechte und erwarten von der Europäischen Union, dass sie eine Schutzfunktion für die baltischen Staaten und andere europäische Staaten übernimmt, die von Russland mit dem Instrument der Gaszufuhr oder auch mit Cyberattacken stark unter Druck gesetzt werden. Russlands Rückzug aus dem KSE-Regime (Konventionelle Streitkräfte Europas) stellt das gesamte System der Rüstungskontrolle in Frage und ist ein weiteres Beispiel transatlantischer Unstimmigkeiten im Umgang mit Russland. Bisher sind die europäischen NATO-Staaten der Linie der USA gefolgt und ratifizieren die KSE solange nicht, bis Russland nicht den vollen Truppenrückzug aus Moldawien und Georgien vollzogen hat. Seitdem Russland jedoch das KSE-Regime einseitig ausgesetzt hat, zeigen sich viele Europäer besorgt über die Zukunft des gesamten Rüstungskontrollregimes und sprechen sich für eine Ratifizierung aus. Diese Problematik zeigt einmal mehr, dass die Europäer – auch wenn es so etwas wie eine einheitliche europäische Russlandpolitik nicht gibt – eine Politik der Einbindung und der strategischen Partnerschaft der Konfrontationspolitik der USA vorziehen. Deutschland wird hier beweisen müssen, dass dieser Kuschelkurs nicht nur Deutschlands eigenen Interessen dient, sondern auch den osteuropäischen Nachbarstaaten Sicherheit gewährleistet und Vertrauen in die EU schafft. Viele ehemalige Sowjetstaaten schauen noch immer Richtung Washington, wenn es um Sicherheitsgarantien geht. Europa und den USA wäre geholfen, wenn Brüssel in Zukunft der primäre Ansprechpartner wird. In Brüssel selber müssen die Nachbarn EU und NATO an einem Strang ziehen, um diese Sicherheit zu gewährleisten. Die Hürden für eine effektive NATO-EU-Partnerschaft bleiben jedoch weiterhin bestehen.

3 Barack Obama, A World That Stands as One. Berlin, 24. 7. 2008. Fundstelle: http: // www. barackobama.com / 2008 / 07 / 24 / remarks_of_senator_barack_obam_97.php.

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G. Die Zukunft des Kosovo Beim Thema Kosovo kann man eine ähnliche Problematik erkennen: Sollte es zu stärkeren Spannungen auf dem Balkan kommen, werden die USA von Europa erwarten, geeint und handlungsfähig zu sein. Von Deutschland wird in diesem Zusammenhang erwartet, eine Führungsrolle zu übernehmen und mit anderen Bündnispartnern die Sicherheit des Kosovo zu gewährleisten, wenn es darauf ankommt. Mehr militärisches Engagement ist hier nicht auszuschließen. Den USA und Deutschland wäre gut gedient, wenn sie eine gemeinsame Russlandstrategie finden würden, am besten im Rahmen der NATO. McCain oder Obama werden Deutschland an seine Verpflichtung erinnern, Menschenrechte und Demokratie nicht zurückstellen, wenn es um Kooperation geht. Und Deutschland wird eventuell intensiver als zuvor die USA daran erinnern, dass Konfrontation keine Lösung für Europa sein kann. Die Forderungen hier sind also beidseitig.

H. Israel – Mehr als Lippenbekenntnisse? Entwicklungen im Nahen Osten werden auch nach 2008 das transatlantische Verhältnis beeinflussen. Im Jahr des 60jährigen Jubiläums des Staates Israel ist besonders Deutschlands Verhältnis zu Israel unter die Lupe genommen worden. Der israelisch-palästinensische Konflikt und der Streit um das Atomprogramm des Iran sind unwiederbringlich miteinander verknüpft und bei beiden Themen wird von Deutschland erwartet, eine klare Stellung zu beziehen und die Konsequenzen aus den eingenommenen Positionen zu tragen. Genauso wie die Bundesregierung den Atomkonflikt mit Iran diplomatisch lösen möchte, muss sie aber auch Israel kontinuierlich ihre Solidarität beweisen. Diese Herausforderung benötigt jedoch mehr als nur vorsichtige Diplomatie, vor allem wenn sich die Situation mit Iran verschärfen sollte. Die deutsche Regierung muss überzeugende Argumente sowohl für Israel als auch für die USA finden, warum weiteres diplomatisches Taktieren nicht die Sicherheit Israels gefährdet. Auf seiner Deutschlandreise Anfang Februar 2008 hat Ehud Olmert versucht, Angela Merkel von der Möglichkeit europäischer Sanktionen außerhalb der UN zu überzeugen – eine Idee, die der französische Präsident Sarkozy unterstützt hat. Die deutsche Reaktion war – formulieren wir es vorsichtig – zurückhaltend. Eine der Handlungsmaxime der Bundesregierung ist das Agieren im Rahmen der Vereinten Nationen, und damit könnten sie sogar einen Verbündeten im Weißen Haus ab 2009 bekommen. Jedoch müssen dann sowohl die Bundeskanzlerin als auch der nächste US-Präsident Israel und der Welt beweisen, dass die UN-Mechanismen funktionieren und die nötige Sicherheit für Israel garantieren, die versprochen wird. Es wird von Deutschland erwartet werden, dass es mehr als Lippenbekenntnisse ablegt, wenn es betont, dass ein iranischer Präsident, der das Existenzrecht Israels bezweifelt unter keinen Umständen akzeptabel für eine deutsche Bundesregierung

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sein kann. Besonders die intensiven deutsch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen sind schon lange ein Dorn im Auge der USA und Israels. Und die neu ausgerufene intensivierte Kommunikation zwischen Israel und Deutschland wird eine gewisse Vertrauensbasis benötigen – besonders wenn der Iran an seinem Atomprogramm festhält und die Welt an der Nase herumführt.

I. Globalisierung – globale Lösungen für globale Probleme Die US-amerikanische Wirtschaft steht vor großen Herausforderungen und die Angst vor einer Rezession ist real. Deutschland wird davon nicht unberührt bleiben. Unsere Märkte sind auf besondere Weise abhängig voneinander und daher müssen die transatlantischen Partner an einem Strang ziehen, wenn es um wirtschaftliche Kooperation geht. Der Transatlantische Wirtschaftsrat (Transatlantic Economic Council (TEC)) sollte hier als Forum verstärkt genutzt werden und beide Seiten des Atlantiks sollten sich bemühen, die politischen Hürden, die einer vertieften Kooperation im Weg stehen, zu beseitigen. Dabei stehen Fragen wie die Harmonisierung von technologischen und finanziellen Standards und vor allem die Eliminierung von Handelsbarrieren im Raum. Mit dem neuen bilateralen Steuerabkommen zwischen den USA und Deutschland ist hier bereits ein erheblicher Schritt gelungen. Aber wir können nicht schnell genug agieren. Die Zahlen der anteilsmäßig an der globalen Gesamtbevölkerung schrumpfenden Bevölkerung Europas und den USA sind nicht mehr zu ignorieren. Wirtschaftliche Riesen wie China und Indien werden die westlichen Märkte immer stärker unter Druck setzen. Diese neuen Mächte teilen nicht unbedingt unsere westlichen Werte, die wir als unser gemeinsames Fundament bezeichnen. Hierzu gehören Herausforderungen wie die Verabschiedung globaler und durchsetzbarer Regeln in den Bereichen Arbeitsstandards, Umweltstandards und des technologischen Fortschritts. Es gibt hier kaum ein amerikanisches Problem, welches nicht auch ein deutsches ist und umgekehrt. Wirtschaftsgiganten wie Indien und China zeigen oft sehr unterschiedliche Positionen, wenn es um Produktpiraterie, Kinderarbeit, Umweltressourcen und vieles andere geht. Hier geht es darum, dass wir ein eindeutiges transatlantisches Interesse haben, die Globalisierung und die Zukunft der Weltwirtschaft nach unseren Vorstellungen und angelehnt an unsere Werte zu gestalten. Nur wenn wir gemeinsam für diese Reglementierung einstehen, können wir gegen neue negative Trends erfolgreich ankämpfen. Wenn wir unsere Werte verteidigen möchten, dann müssen wir gemeinsame Lösungen finden, wie wir unsere wirtschaftliche Kooperation ausbauen können. Europa und die USA werden hier entweder gemeinsam gewinnen oder alleine untergehen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, unsere Bevölkerungen und Arbeiter an diesem Prozess teilhaben zu lassen und sie von den positiven Seiten der Globalisierung zu überzeugen. Auf beiden Seiten des Atlantiks sind momentan sehr ähnliche protektionistische Tendenzen zu erleben. Dieser Protektionismus ist Ausdruck der

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Angst, zu den Verlierern der Globalisierung zu gehören und die politische Klasse darf nicht vergessen, diese Stimmen zu hören und mit ihnen gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Hierbei muss deutlich die Agrarpolitik angesprochen werden und wir müssen der Frage begegnen, wie wir unsere Subventionen verringern können und somit den Entwicklungsländern eine Teilhabe an der Globalisierung zu ermöglichen. Hier sind EU und die USA gleichermaßen gefordert. Energiepolitik muss durchdacht und konzertiert sein und wir müssen darauf achten, dass wir regionale Spannungen nicht verstärken, indem wir mehr an unsere Energie als an unsere globale Verantwortung denken. Der TEC ist das richtige Forum, um die stark vernetzten Problematiken zu diskutieren und Lösungsansätze zu erarbeiten. TEC als primär eine von der Bundeskanzlerin Merkel eingeleitete Initiative kann auch Deutschland eine wünschenswerte und glaubhafte Führungsrolle für wirtschaftliche Kooperation verleihen.

J. Wird Deutschland die hohen Erwartungen erfüllen können? Die Welt bekommt im Jahre 2008 sehr eindringlich mit, wie sich die USA in einer Selbstfindungsphase befinden. Amerika analysiert, was in den vergangenen acht Jahren schief gelaufen ist und befindet sich in einer nationalen Debatte über die Ziele und Strategien der USA in einer Post-Bush-Ära. Die Wahl 2008 kann man ohne weiteres als eine Richtungswahl bezeichnen. Die Amerikaner entscheiden – und manchmal scheint es, als ob die Welt mitentscheidet – wo es hingehen soll mit ihnen und der Welt. Es stellt sich die Frage, inwiefern das Wahlergebnis die Europäer beeinflussen wird? Ein neuer Präsident wird anfangen die gesetzten Ziele umzusetzen, er wird sich aber auch in alten Handlungssträngen wiederfinden. Und nachdem Guantanamo geschlossen ist und die USA ihre Überzeugung zur Genfer Konvention betont haben, werden die alten Herausforderungen bleiben. Neue Antworten zu finden ist nicht immer leicht. Fakt ist, dass die USA und Europa die Probleme wie Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Irankonflikt, Kosovo und viele mehr gemeinsam lösen müssen. Dabei werden gemeinsame Werte, die die Partner transatlantisch seit 60 Jahren vereint haben, eine große Rolle spielen. Aber Werte und Vorstellungen ändern sich mit der Zeit und es wichtig zu realisieren, dass wir an entscheidenden Stellen Unstimmigkeiten entdecken werden. Die entscheidende Tatsache ist also, dass wir unsere Probleme nur gemeinsam lösen können, dazu gibt es keine Alternative. Daher müssen wir uns über diese Probleme einig sein und an Lösungen arbeiten. Wir werden unsere sich wandelnden Werte neu definieren, indem wir gemeinsam Probleme lösen und realisieren, von welchen Werten und Ideen wir geleitet werden. Die transatlantische Gemein-

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schaft muss in einer sich wandelnden Welt beweisen, dass sie nicht statisch ist, sondern sich gegenüber neuen Gegebenheiten anpassen kann. Auch wenn wir Meinungsunterschiede im Bereich Terrorismusbekämpfung haben, so bleibt Terrorismus doch unser gemeinsames Problem, das wir lösen müssen und werden. Vertrauen ist ein entscheidender Faktor, wenn es um immer stärkere Zusammenarbeit geht. Vertrauen wird auch durch eine transparente und ehrliche Debatte über nationale Interessen gepflegt. An dieser transparenten Debatte über strategische Ziele und nationale Interessen scheint es in Deutschland oft zu mangeln. Interessen und Ziele müssen regelmäßig in offenen Debatten ausgetauscht werden, um gemeinsame Lösungen finden. Hier ist in den letzten Jahren viel schief gelaufen. Wir haben es nicht geschafft, eine einheitliche Sprache zu entwickeln, wenn es um Probleme wie Terrorismusbekämpfung geht. Die verschiedenen Taktiken, die wir wählen, sollten nicht dem gemeinsamen Ziel im Weg stehen, das Problem zu bekämpfen und es als ein gemeinsames Problem zu bezeichnen. Wir können einen transatlantischen Konsens erzielen, wenn wir unsere Strategien nicht exklusiv formulieren, sondern viele verschiedene nationale Befürchtungen mit einbeziehen. Grundsätzlich erwarten die USA von Deutschland, dass es seinen Weg hin zu einem globalen Akteur weitergeht. Die entscheidende Frage ist, inwieweit Deutschland hierzu bereit ist. Wenn, wie Anne Applebaum schreibt, eine neue US-Administration tatsächlich bereit ist, eine ganz neue Dimension an leadership und partnership anzubieten, dann muss Deutschland entscheiden, ob es dieses Angebot annehmen möchte; mit allen Konsequenzen. Der nächste Präsident wird sicherlich eher bereit sein, den Europäern und den Deutschen zuzuhören. Es muss nur auch etwas zu hören sein.

On the Back Burner – Die USA und West-Berlin 1948 – 1994 Von David E. Barclay Am 5. März 1948 telegraphierte der amerikanische Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius D. Clay, nach Washington, dass ein neuer Krieg in Mitteleuropa durchaus denkbar sei und, wie er meinte, „mit dramatischer Plötzlichkeit“ („with dramatic suddenness“) ausbrechen könne. Im gleichen Monat traf J. W. Stalin in Moskau mit Wilhelm Pieck und anderen führenden SED-Gestalten zusammen. Dabei erwähnte Stalin die Anwesenheit der Westalliierten im Westteil der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin, und wie es möglich wäre, Druck auf sie auszuüben. So sagte er: „Versuchen wir es gemeinsam – vielleicht können wir sie rausschmeißen.“ Und am 20. März kam es zum dramatischen Austritt des sowjetischen Militärgouverneurs aus dem Alliierten Kontrollrat.1 Was danach folgte, ist hinlänglich bekannt, gerade in Berlin: der fortgesetzte Nervenkrieg in und um Berlin, die Währungsreform, die sowjetische Blockade, die Spaltung der Stadtverwaltung, und vor allem natürlich die Alliierte Luftbrücke. Somit begann ein neues Kapitel in der Geschichte dieser Stadt und dieses Landes, das unter anderem von herausragender Bedeutung für die zukünftige Gestaltung der Beziehungen der USA zu West-Berlin und zur Bundesrepublik werden sollte, nicht nur strategisch und weltpolitisch, sondern auch symbolisch. Auch wenn Historiker, vor allem in den letzten Jahren, versucht haben, diese manchmal verklärten Ereignisse zu entmythologisieren, ist es ganz eindeutig, dass die Bereitschaft der Amerikaner, in Berlin zu bleiben, von grundsätzlicher Bedeutung für das zukünftige deutsch-amerikanische Verhältnis wurde. Im Rahmen des Tätigkeitfelds der Gesellschaft für Deutschlandforschung, die sich unter anderem mit Gegenwarts- und Zukunftsaspekten der weltpolitischen Rolle Deutschlands befasst, ist es doch nützlich, uns an die manchmal, gerade in den USA, allzu oft vergessene Binsenweisheit zu erinnern, dass die Außenpolitik doch innerhalb eines historischen Rahmens zu begreifen ist, auch wenn, wie im Fall des deutsch-amerikanischen Verhältnisses, die Rahmenbedingungen sich inzwischen geändert haben. Und gerade die Geschichte der jahrzehntelangen Anwesenheit – oder, wie hier behauptet wird, der „absent-minded presence“, der zerstreuten Anwesenheit – der Amerikaner in Berlin ist ein interessantes Beispiel für 1 David E. Barclay, Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Ernst Reuter, Berlin 2000, S. 235 – 236.

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die Rolle sowohl der Mythenbildung als auch der Gewohnheit in der transatlantischen Beziehung. Und noch mehr: Wie sich weiter unten zeigen wird, ist das, was der Historiker Andreas Daum „Amerikas Berlin“ genannt hat, ein besonders gutes Beispiel dafür, wie der kleine Bündnispartner – oder, in diesem Fall, der abhängige, besetzte Partner – durchaus in der Lage war, die Schutzmacht in seinem Sinne zu beeinflussen, und zwar jahrzehntelang. 2 Ausgangspunkt der jetzigen Betrachtungen ist die schon erwähnte Studie von Andreas Daum, „Kennedy in Berlin“, ein bahnbrechender Beitrag zur Rolle der Symbole, der Emotionen und der Gefühle in der internationalen Politik.3 Daum beschreibt ausführlich wie seit der Zeit der Luftbrücke die amerikanische Politik in West-Berlin durch eine Politik der „Sichtbarkeit“ gekennzeichnet wurde, die unter anderem die emotionalen Verbindungen und das Zusammenhörigkeitsgefühl der USA mit West-Berlin unterstreichen sollte. Der Höhepunkt dieser manchmal bewusst theatralischen Inszenierung war natürlich der Kennedy-Besuch im Juni 1963, auch wenn es Nachwirkungen – man denke an die Reagan-Rede 24 Jahre später – gegeben hat. Dass im Zeitalter des Kalten Kriegs beide Teile der ehemaligen und zukünftigen deutschen Hauptstadt sich für eine symbolträchtige, propagandistische und emotionsgeladene Rolle besonders gut eigneten, liegt auf der Hand, kann kaum überraschen: Es geht ja eben um die berühmte Schaufensterfunktion, die bis zur Wende anhielt, wenn auch nach 1971 / 72 in geänderter Form. Hier denke man z. B. an die beiden getrennten 750-Jahrfeiern 1987. In diesen Betrachtungen geht es nicht in erster Linie um die unumstrittene symbolische Rolle West-Berlins im Zusammenhang mit der Gestaltung der amerikanischen Deutschlandpolitik, sondern vielmehr um die Befürchtungen führender West-Berliner Politiker, dass auf die Amerikaner nicht immer Verlass wäre, dass West-Berlin aus dem amerikanischen Visier verschwinden könnte, insbesondere während der sowjetischen Blockade 1948 und auch nach dem Mauerbau 1961. Es handelte sich um die bekannte amerikanische Rastlosigkeit und Kurzatmigkeit und um das, was man als kollektives Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (attention deficit disorder) im amerikanischen Umgang mit der Außenpolitik beschreiben könnte, zumal führende West-Berliner Politiker sich der Tatsache durchaus bewusst waren, dass die USA weltweite Verantwortungen übernommen hatten, und dass sie West-Berlin allzu leicht aus dem Auge verlieren könnten. Diese Befürchtungen waren durchaus gerechtfertigt. Trotz der Anwesenheit der Amerikaner war West-Berlin für die Amerikaner nicht immer besonders präsent oder aktuell oder von brennender Bedeutung. Abgesehen von Krisenzeiten war West-Berlin für die Amerikaner zwar nützlich und strategisch wichtig, trotzdem häufig „on the back burner“. 2 Andreas W. Daum, America’s Berlin, 1945 – 2000: Between Myths and Visions, in: Frank Trommler (Hrsg.), Berlin, The New Capital in the East: A Transatlantic Appraisal, Washington (D.C.) 2000, S. 49 – 73. 3 Andreas W. Daum, Kennedy in Berlin. Politik, Kultur und Emotionen im Kalten Krieg, Paderborn 2003.

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Auf den ersten Blick mag diese Behauptung absurd erscheinen. Denn die amerikanische Präsenz in West-Berlin war doch eindrucksvoll, vor allem nach der Blockade. Um nur einige bekannten Beispiele zu erwähnen: Rundfunkstationen wie RIAS und AFN, die Freiheitsglocke, der Henry-Ford-Bau an der Freien Universität, der Flughafen Tempelhof, die Kongresshalle, das Amerika-Haus, der Wannseeturm, die Amerika-Gedenkbibliothek, das Deutsch-Amerikanische Freundschaftsfest, nicht zuletzt die Berlin-Brigade und die sonstige US-Garnison selbst, die 1961 über eine Stärke von 4544 und noch 1989 von 3676 Personen verfügte.4 Dazu müßte man auch die wichtigen amerikanischen Schutzpatronen erwähnen, wie z. B. die unermüdliche Eleanor Lansing Dulles oder Shepard Stone und das AspenInstitut, worüber der Historiker Volker Berghahn ein sehr wichtiges Buch geschrieben hat.5 Und nicht wegzudenken waren die bleibenden Eindrücke, die West-Berlin auf Generationen von amerikanischen GIs hinterließ, und umgekehrt. Dies ist ein bislang noch unerforschtes Thema, das man deshalb nur anekdotenhaft erwähnen kann. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich z. B. an den Elektriker, der vor einigen Jahren durch sein Arbeitszimmer lief, um etwas zu reparieren, und verschiedene Geschichtsbücher sah, woraufhin er sagte, er sei als junger Mann Soldat in Berlin gewesen, die schönsten Jahre seines Lebens. Oder etwa an viele, die in West-Berlin geboren und groß geworden waren, die den Verlust von bekannten amerikanischen Einrichtungen, vor allem AFN, nach wie vor bemängeln, wie die Zehlendorferin, die vor kurzem sagte, ihr fehle seit 1994 der Schwung und, wie sie sagte, der „Pep“, den die Amerikaner mit sich brächten. So muß man sagen, wie der Historiker Diethelm Prowe bemerkt hat, dass in West-Berlin die frühesten und stärksten Verbindungen zwischen Amerikanern und Deutschen geschmiedet worden seien, während West-Berlin selbst einen Sonderplatz im amerikanischen öffentlichen Bewusstsein erringen konnte.6 Aber trotz solcher Beispiele des amerikanischen Engagements in West-Berlin ist es klar, dass West-Berliner Behörden immer eine ziemliche Angst hatten, dass im entscheidenden Moment die Amerikaner sie im Stich lassen könnten, und immer wieder, vor allen Dingen in den 20 Jahren zwischen 1948 und 1968, versuchten sie, die Amerikaner an ihre Verpflichtungen zu erinnern und sie an West-Berlin so viel4 Friedrich Jeschonnek / Dieter Riedel / William Durie, Alliierte in Berlin 1945 – 1994. Ein Handbuch zur Geschichte der militärischen Präsenz der Westmächte, 2. Aufl., Berlin 2007, S. 371. Zur Rolle der Alliierten vgl. u. a.: Udo Wetzlaugk, Die Alliierten in Berlin (= Politologische Studien, Bd. 33), Berlin 1988; Michael Bienert / Uwe Schaper / Andrea Theissen unter Mitarbeit von Werner Breunig (Hrsg.), Die Vier Mächte in Berlin. Beiträge zur Politik der Alliierten in der besetzten Stadt (= Schriftenteihe des Landesarchivs Berlin, Bd. 9), Berlin 2007; und die Veröffentlichungen des Alliierten-Museums Berlin. 5 Volker R. Berghahn, America and the Intellectual Cold Wars in Europe, Princeton 2002. 6 Diethelm Prowe, Brennpunkt des Kalten Krieges: Berlin in den deutsch-amerikanischen Beziehungen, in: Detlef Junker (Hrsg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945 – 1990, 2 Bde, Stuttgart 2001, Bd. 1, S. 260 – 270.

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fältig wie irgend möglich zu binden, dass ein amerikanischer Abzug oder Aufgeben der Teilstadt eine besonders schwerwiegende außenpolitische Niederlage für die USA darstellen würde. Tonangebend in dieser Hinsicht war der legendäre West-Berliner Oberbürgermeister bzw. Regierender Bürgermeister Ernst Reuter. Nach seiner Rückkehr Ende 1946 aus dem türkischen Exil hatte Reuter einen gewissen Grund, über die Standhaftigkeit der Amerikaner skeptisch zu sein. Die Amerikaner hatten nichts getan, seine Rückkehr aus Ankara zu ermöglichen, und erst durch die Unterstützung der Briten gelang es ihm, nach Deutschland zurückzukommen. Zwar konnte er, als Berliner Stadtrat für Verkehr, mit amerikanischer Zuneigung rechnen, vor allen Dingen der sowjetischen Seite gegenüber. Aber im Sommer 1947 mußte Reuter mit ziemlicher Verbitterung feststellen, dass die Bereitschaft der USA, ihn zu unterstützen, klare Grenzen hatte, als der amerikanische Militärgouverneur Clay sich nicht in der Lage sah, dem sowjetischen Veto der Wahl Reuters als Berliner Oberbürgermeister entgegenzutreten. Monate später schrieb er einem englischen Freund: „Kurz vor meiner Wahl erklärte sich General Clay im Kontrollrat, der der Alliierten Kommandantur übergeordneten Instanz, bereit, das von den Russen geforderte Prinzip der vorherigen Zustimmung zur Wahl des Oberbürgermeisters zu akzeptieren. Damit war sofort klar, dass es nicht möglich sein würde, eine gut funktionierende Stadtverwaltung aufzubauen. Diese plötzliche Entscheidung General Clays, die uns bisher niemand erklären konnte, war unserer Ansicht nach der absolute Tiefpunkt in der Entwicklung Berlins, das heißt der Punkt, an dem man den russischen Vormachtansprüchen am weitesten entgegengekommen ist, wenn man so will, eine Art ,München‘ in Bezug auf Berlin. So hatten die Russen meiner Einschätzung nach bereits einen wesentlichen Sieg in der Schlacht um Berlin gewonnen.“7 Und in den folgenden Monaten und Jahren versuchte Reuter unermüdlich, die Amerikaner vor vollendete Tatsachen zu stellen. Als es zur sowjetischen Blockade kam, blieb er etwas pessimistisch. Er wusste z. B., dass einige einflussreiche Amerikaner, unter anderem der bekannte Generalstabsvorsitzende General Omar Bradley, etwas skeptisch waren hinsichtlich der Vereteidigung West-Berlins.8 In seinem Treffen mit Lucius Clay Ende Juni 1948 im Berliner Harnack-Haus sagte Reuter, die Berliner würden ihre Pflicht tun, unabhängig von dem, was die Amerikaner vorhätten. Vor allem Reuters besonders berühmte „Schaut auf diese Stadt“-Rede am 9. September 1948 muss als ein ganz offener Versuch betrachtet werden, sich über die Köpfe, wie er sagte, der „Diplomaten und Generäle“ hinwegzusetzen und direkt an die öffentliche Meinung, vor allem in den USA, zu appellieren. In den Monaten und Jahren nach dem Ende der Blockade schienen Reuters Hoffnungen 7 Ernst Reuter an A. L. Barber, 27 April 1948, in: Ernst Reuter, Schriften – Reden, hrsg. von Hans E. Hirschfeld und Hans J. Reichhardt, 4 Bde., Berlin 1972 – 1975 , Bd. 3, S. 375. 8 Donald P. Steury (Hrsg.), On the Front Lines of the Cold War: Documents on the Intelligence War in Berlin, 1946 to 1961, Washington, D. C. 1999, S. 131 – 229; Bennett Woods, Quest for Identity: America since 1945, Cambridge 2005, S. 50.

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sich zu erfüllen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung eines starken antikommunistischen Konsenses in den USA bildete sich auch ein stark ausgeprägtes Mitgefühl und eine Sympathie für West-Berlin als Insel der Freiheit und als Schaufenster des Westens, das es zu schützen und zu verteidigen galt, heraus. Reuter nutzte diese Entwicklung sehr geschickt aus, unter anderem durch seinen Beitrag zu symbolisch wirksamen Aktionen wie dem Bau des Luftbrückendenkmals, dem Zustandekommen des Kongresses für kulturelle Freiheit oder dem außerordentlich publikumswirksamen Feldzug einer Sammelaktion in den USA zugunsten der Fertigstellung der Freiheitsglocke, die 1950 von den USA nach West-Berlin transportiert und im Rathaus Schöneberg aufgestellt wurde. Reuter selbst reiste dreimal zwischen 1949 und seinem frühen Tod 1953 und zunehmend hoch bejubelt in die USA. Dabei trat er nicht nur im Weißen Haus auf, sondern auch im Fernsehen und im Rundfunk. Zudem besuchte er eine ganze Reihe amerikanischer Städte von Nashville und Minneapolis bis Grand Rapids und San Francisco. Dabei gelang es ihm, im sogenannten „Grass Roots America“ Werbung für Berlin zu machen. So wurde der Mensch Reuter selbst zum starken Symbol der engen Beziehungen, oder, wenn man will, der „special relationship“ zwischen den USA und West-Berlin, die Verkörperung dessen, was Andreas Daum „Amerikas Berlin“ nennt, auch wenn Reuter selbst den USA gegenüber nie unkritisch war: im Gegenteil. Porträtiert wurde Reuter auf dem Titelblatt der Nachrichtenzeitschrift „Time“, und 5 Jahre nach seinem Tod im September 1953 wurde er der erste Deutsche nach 1933, dessen Bild auf einer amerikanischen Briefmarke erschien. Bis tief in die 1960er Jahre hatte „Amerikas Berlin“, oder, um die Formulierung des Berliner Historikers Dominik Geppert zu verwenden, der „Mythos Berlin“ eine besonders starke Resonanz in den USA gefunden, wie Meinungsumfragen, oder aber auch die Erzeugnisse der Massenkultur, von Spionageromanen und Filmen bis hin zu Arthur Frommers außerordentlich erfolgreichem, 1957 zum ersten Mal veröffentlichtem Reiseführer „Europe on Five Dollars a Day“, unter anderem mit seiner bekannten Beschreibung gerade der Stadt Berlin, die Frommer ursprünglich als amerikanischer Nachrichtendienstoffizier Anfang der 1950er Jahre erlebt hatte, beweisen.9 Aber die Bereitschaft der USA, für West-Berlin in die Bresche zu springen, hatte klare Grenzen, und darüber blieben die West-Berliner besorgt, schon vor dem Mauerbau 1961. Deshalb kam es im Verlauf der Krise nach dem 13. August 1961 bekanntlich zu einer ernsthaften aber vorübergehenden Erschütterung des WestBerliner Vertrauens in die USA, auch wenn es etwas naiv war, von den USA zu erwarten, die Mauerkrise in eine ernsthafte militärische Konfrontation ausarten zu lassen, auch während der berühmten Episode mit den sowjetischen Panzern am Checkpoint Charlie. Denn, wie viele Historiker unterstrichen haben, interessierten sich die USA in erster Linie für die Aufrechterhaltung der alliierten Rechte 9 Europe on $5 a Day, 4. März 2007, http: // factoids.wordpress.com / 2007 / 03 / 04 / europeon- 5-a-day / .

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in West-Berlin, unter anderem der Zugangsrechte der Alliierten, den Schutz WestBerlins und die Aufrechterhaltung des Viermächtestatus in Gesamt-Berlin, wo es für die Alliierten vorteilhaft war. Der Historiker Diethelm Prowe drückte es folgendermaßen aus: „Doch die Vereinigten Staaten hatten unter dem Viermächtestatus niemals ausdrücklich zugesagt, auch die Rechte der Ost-Berliner oder den Zutritt von Deutschen in den Sowjetsektor zu schützen. Die Garantien der Regierung Kennedy hatten durchweg nur auf West-Berlin gezielt. Weder amerikanische noch deutsche Politiker hatten Wert darauf gelegt, deutlich darüber zu sprechen, und infolge eines gewissen Wunschdenkens hatten die Bürger der alten deutschen Hauptstadt vor dieser Realität die Augen verschlossen. Willy Brandt, West-Berlins Regierender Bürgermeister zu jener Zeit, erinnerte sich später, man habe das Gefühl gehabt, als hätte jemand ,einen Vorhang weggezogen, um uns eine leere Bühne zu zeigen‘.“10 Dass die Amerikaner bereit waren, den Mauerbau hinzunehmen, ja stillschweigend zu begrüßen, war bekanntlich ein riesiger Schock für die Bevölkerung und die Politiker West-Berlins, und es trugen diese Umstände auch unter anderem zu den ersten Anzeichen der künftigen Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs bei. Und man muss hinzufügen, dass die West-Berliner sich einigen Illusionen hingegegeben hatten. Laut einer Meinungsumfrage im Oktober 1961 glaubte die Hälfte der West-Berliner Bevölkerung, die Westmächte hätten die Mauer abreißen können, ohne dass es zu einer ernsthaften militärischen Konfrontation gekommen wäre.11 Die Amerikaner waren wiederum über die heftige Reaktion der West-Berliner auf den Mauerbau überrascht, denn die Demonstrationen an der Mauer nach 1961 oder 1962 im Zusammenhang mit dem Tod Peter Fechters in der Zimmerstraße waren sowohl gegen das Nichtstun der Schutzmächte, vor allem der USA, als auch gegen den Osten gerichtet. So schickte Kennedy den Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson nach Berlin – eine nicht gerade erfolgreiche Reise, wie sich herausstellte, obwohl Johnsons Anwesenheit die DDR-Behörden stark beunruhigte – wie auch den ehemaligen Militärgouverneur Clay und – vielleicht vor allem – seinen jüngeren Bruder, den Justizminister Robert F. Kennedy im Januar 1962, der einen besonders erfolgreichen Besuch abstattete, der wiederum ein Vorspiel auf John Kennedys Aufenthalt anderthalb Jahre später darstellte. Dabei wiederholte Robert Kennedy die besänftigenden Worte, die nach dem Mauerbau von den Amerikanern häufig zu hören waren: „Über die Zukunft Westberlins hegen wir keine Zweifel. Es wird weder wie eine Frucht vom Baum gebrochen werden noch wird es am Stamm verdorren. Seine Zukunft wird größer sein als seine Vergangenheit.“12 Prowe (Anm. 6), Brennpunkt, S. 267. Harold Hurwitz, Berlin Briefing, 27. Mai 1963, Landesarchiv Berlin (künftig: LAB), B Rep. 002 Nr. 4088, Bd. 1. 12 Robert F. Kennedy, Nur das Gesetz kann uns die Freiheit geben. Ansprache vor der Ernst-Reuter-Gesellschaft, 22. Februar 1962, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 5250 – 5254. Vgl. Arthur M. Schlesinger, Jr., Journals: 1952 – 2000, hrsg. von Andrew Schlesinger und Stephen Schlesinger, New York 2007, S. 147 – 148. 10 11

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Aber die Vertrauenskrise des Jahres 1961 war von relativ kurzer Dauer. Die Amerikaner und ihre Allierten waren, wie gesagt, immer bereit, West-Berlin zu verteidigen, und die archivalischen Unterlagen zur Kuba-Krise im Oktober 1962 liefern den Beweis dafür, dass die Kennedy-Administration über die Sicherheit West-Berlins und die Möglichkeit einer sowjetischen Gegenmaßnahme im Zusammenhang mit der Inselstadt besorgt war. Gleichzeitig zeigen Meinungsumfragen, dass die West-Berliner Bevölkerung schon vor dem Kennedy-Besuch im Juni 1963 über die Rolle der Westmächte und vor allem der Amerikaner zuversichtlicher geworden war. Am Vorabend der Kuba-Krise glaubten 56 % der West-Berliner, dass seit 1958 der Westen stärker geworden sei gegenüber dem Ostblock, und nur 8 % waren der Meinung, dass die Sowjetunion mit ihrem Plan, West-Berlin in eine „Freie Stadt“ zu verwandeln, Erfolg haben könnte.13 Der Kennedy-Besuch selbst, wie ihn Andreas Daum meisterhaft dargestellt hat, war der Höhepunkt der West-Berliner Amerika-Begeisterung. Perfekt inszeniert, dramaturgisch ein Riesenerfolg, ein Paradebeispiel der Rolle der Symbole und des Theatralischen in der Politik – auch der Außenpolitik – hatte der Kennedy-Besuch eine ungeheure Nachwirkung und einen langen Nachklang, trug er doch sowohl in den USA als auch in Deutschland zum Berlin-Mythos im Kalten Krieg bei. Und wäre es verfehlt, die jetzige deutsche Begeisterung für Barack Obama unter anderem als ein Zeichen des Nachlebens des Kennedy-Mythos in Verbindung, zumindest teilweise, zu bringen? Die unmittelbare Wirkung auf die West-Berliner Bevölkerung war enorm, 58 % der erwachsenen Bevölkerung der Teilstadt sah Kennedy am 26. Juni 1963, 25 % waren vor dem Rathaus Schöneberg versammelt. Im Herbst 1961 glaubten 61 % der West-Berliner, dass die amerikanische BerlinPolitik zu ihrem Vorteil gereiche; im Frühjahr 1963 waren es 74 %, und unmittelbar nach dem Kennedy-Besuch gar 91 %. Und Kennedy selbst erhielt einen Beliebtheitsgrad in West-Berlin, der höher war als bislang alle anderen auswärtigen ausländischen und westdeutschen Politiker, gerade im Gegensatz zu dem in Berlin eher unbeliebten Konrad Adenauer.14 Und auch nach Kennedys Ermordung, der eine Trauer in West-Berlin auslöste, die nur mit der Trauer um den frühen Tod Ernst Reuters 1953 zu vergleichen wäre, blieben die West-Berliner sicher, dass die amerikanische Schutzmacht standhalten und immer als Garant der Freiheit der Teilstadt auftreten würde. Hierbei kommen wir endlich zur Hauptthese dieser Betrachtungen. Wenn man die Geschichte der westlichen Teilstadt betrachtet, ist es ganz offensichtlich, dass es eine große Zäsur gibt, die mit dem Mauerbau nicht zusammenfällt. Der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Schütz, hat einmal gesagt, diejenigen West-BerlinerInnen, die vor und nach 1961 geboren seien, hätten zwei verschiedene Arten West-Berlins erlebt; für die später Geborenen sei West-Berlin, nach den Worten der Schriftstellerin Kerstin Schilling, eine „Insel der Glück13 14

Harold Hurwitz an Shepard Stone, 1. Februar 1963, LAB, B Rep. 002 Nr. 4088, Bd. 1. Harold Hurwitz (Anm. 11), Berlin Briefing, 6. Juli 1963.

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lichen“, was für die Älteren, die die „heroische“ Zeit West-Berlins erlebt hatten, sicherlich nicht der Fall war.15 So will es scheinen, dass die große Zäsur in der Geschichte West-Berlins irgendwo zwischen dem 2. Juni 1967 und dem Inkrafttreten des Viermächteabkommens 1972 zu datieren sei – Stichworte: VietnamKrieg, Jugendrevolte, Studentenbewegung, Antiamerikanismus, Entspannungspolitik, Ostpolitik, Wandel durch Annäherung. Was die Anwesenheit, die Präsenz der USA in West-Berlin angeht, sollen das Viermächteabkommen und die damit verbundenen Berlin-Vereinbarungen als die richtige und wichtige Zäsur, als Wendepunkt in der Geschichte West-Berlins vor der endgültigen Wende 1989 / 90 gelten. Ab 1971 / 72 gelang es West-Berlin, einen Zustand von „anomaler Normalität“, wie Ann Tusa ihn beschreibt, zu erreichen, und dabei drohte West-Berlin nicht nur durch die Amerikaner marginalisiert zu werden, sondern praktisch in Vergessenheit zu geraten: Also, on the back burner.16 Und damit verschwand „Amerikas Berlin“ allmählich. Das war ein historischer Prozess, der schon in den 1960er Jahren begonnen hatte, und zwar zur Zeit der Johnson-Administration und des amerikanischen Kriegs in Vietnam, aber er setzte sich rasch nach 1971 fort. Im Zeitalter von Normalisierung, Stabilisierung und Entspannung hatte West-Berlin nicht mehr, so schien es, die strategische und symbolische Bedeutung, die es während der „heroischen“ Phase erworben hatte. Der ehemalige amerikanische Botschafter in Deutschland, John Kornblum, meinte in einem Gespräch mit dem Verfasser, ab 1973 habe „das Verständnis der strategischen Bedeutung Berlins innerhalb der US-Regierung praktisch den Nullpunkt erreicht. [ . . . ] Es gab ein falsches, völlig falsches Verständnis der Bedeutung der innerdeutschen Verträge, und innerhalb der US-Regierung gab es eine starke Tendenz, anzunehmen, dies heiße das Ende der Deutschen Frage.“ Kornblum konstatiert „einen allgemeinen Untergang im Verständnis“ innerhalb der USRegierung: „Wir sind sehr schwach, was das Verständnis strategischer Strukturen in der Welt angeht, warum Dinge geschehen. [ . . . ] Es ist in der Tat ein Wunder, dass wir auf diesem Gebiet so erfolgreich waren.“17 Bis Mitte der 1970er Jahre habe eine Reihe von Faktoren, unter anderem Vietnam und Entspannung, dazu beigetragen, dass amerikanische Diplomaten und Politiker „falsche Schlussfolgerungen aus den Entspannungabkommen“ gezogen hätten. Innerhalb der amerikanischen Regierung sei Henry Kissinger eigentlich der Einzige, der in jenen Jahren 15 Klaus Schütz, Interview mit Verfasser, 27. Februar 2007, Berlin; Kerstin Schilling, Insel der Glücklichen. Die Generation West-Berlin, Berlin 2004. 16 Ann Tusa, The Last Division: Berlin and the Wall, London 1996, Kap. 2. 17 John C. Kornblum, Interview mit Verfasser, 22. März 2007, Berlin. Ursprünglicher Wortlaut: „[ . . . ] the understanding of the strategic importance of Berlin in the United States government reached almost zero. [ . . . ] There was a false, totally false understanding of what the inter-German treaties meant, and there was a strong predilection in the US government to assume that was the end of the German question. [ . . . ] We are very weak on understanding strategic structures in the world, why things happen. [ . . . ] It is in fact a miracle that we did as well as we did on this.“

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begriffen habe, was in Europa stattgefunden habe. Ein Urteil, das selbst zu bestätigen ist anhand der Lektüre der neuerlich veröffentlichten, unglaublich wichtigen, bisher geheimen Dokumente zu den bekannten „back-channel“ Verhandlungen vorwiegend zwischen Henry Kissinger und Anatolij Dobrynin 1959 – 1972, wo West-Berlin noch eine bedeutende Rolle spielte.18 1974 / 75, so Kornblum, hätte das amerikanische Interesse in und Verständnis für West-Berlin den Nullpunkt erreicht. Im Frühjahr 1975 veranstaltete Kornblum, damals im Planungsstab des amerikanischen Außenministeriums, ein Seminar für den ehemaligen Senator aus Kentucky und ersten US-Botschafter in der DDR, John Sherman Cooper. Die Besetzung sei hochkarätig gewesen, unter anderem mit Wissenschaftlern wie Hans Morgenthau. Cooper, ein sehr kluger Mann, habe zugehört, und dann habe er gesagt: „Das ist alles sehr interessant. Aber der Krieg endete vor 30 Jahren. Warum sind wir noch in West-Berlin?“ Niemand habe darauf antworten können. Daraufhin hat Kornblum eine Denkschrift verfasst, worin er die strategischen Grundlagen der amerikanischen Präsenz in West-Berlin hervorhob. Dabei erwähnte er vier Hauptpunkte: (1) Berlin sei nach wie vor der Drehpunkt des Ost-West-Konflikts; (2) dieser Konflikt gebe den USA gewisse Ursprungsrechte – originary rights – im Herzen Europas auf einer sehr niedrigen Kostengrundlage; (3) die USA befänden sich deswegen in einer vorteilhaften Lage, um mit den Sowjets zu handeln; (4) nach wie vor hätten die USA die Verpflichtung, Europa zu verteidigen.19 Aber die relative Indifferenz der USA West-Berlins gegenüber blieb bestehen. So musste Kornblum 1980, diesmal als politischer Berater zur US-Mission in West-Berlin, selbst eine noch ausführlichere, 16-seitige Denkschrift schreiben, die er an das Außenministerium in Washington schickte, um seine Kollegen daran zu erinnern, dass West-Berlin immer noch von strategischer und politischer Bedeutung wichtig sei, und dass die amerikanische Rolle in Berlin stabilisierend und ein Zeichen des größeren amerikanischen Engagements in Europa sei. Aber auch in den 1980er Jahren blieb das außenpolitische Establishment in den USA relativ uninteressiert, weder für Berlin noch für die vermeintlich gelöste oder aufgelöste Deutsche Frage, zumal führende westdeutsche Politiker die Ansicht vertraten, dass die Deutsche Frage ohnehin zur Vergangenheit gehöre und jetzt gelte es, ein friedliches europäisches Haus aufzubauen. In diesem Zusaammenhang stelle dieser Ansicht nach die US-Politik, vor allem unter Ronald Reagan, eine Gefährdung der fortgesetzten Entspannungspolitik dar. Hier denke man etwa an die Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre, die SPD / SED-Kommission Ende der 1980er Jahre oder aber an den Bonn-Besuch Honeckers 1987. Deswegen glaubt Kornblum immer noch: „Wären die Russen 1989 nicht zusammengestürzt, wie sie es getan haben, glaube ich persönlich nicht, dass wir unsere Stellung in Berlin politisch noch 10 Jahre hätten behaupten können, vielleicht nicht 5 Jahre.“ Eine Mischung 18 Edward C. Keefer / David C. Geyer / Douglas E. Selvage (Hrsg.), Soviet-American Relations: The Détente Years, 1969 – 1972, Washington, D. C. 2007. 19 Kornblum (Anm. 15), Interview mit dem Verfasser, 22. März 2007.

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aus deutscher Ungeduld und amerikanischem Desinteresse hätte zu einer Anerkennung einer separaten DDR-Bürgerschaft, einer politischen Anerkennung der DDR ohne Vorbedingungen oder Vorbehalte hinsichtlich einer deutschen Wiedervereinigung, ja einem Verzicht auf das Ziel einer Wiedervereinigung, einer Auflockerung der Verbindungen der Bundesrepublik zur NATO und vielleicht einer Art Konföderation zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin, geführt.20 Aber dazu kam es bekanntlich nicht. Ehe wir zum Schluß kommen, zuerst ein paar Bemerkungen. Während der Jahre der relativen Vergessenheit nach den frühen 1970er Jahren hat sich das Verhältnis USA / West-Berlin noch in z. T. ritualisierten Bahnen gehalten, wie z. B. anlässlich des Jahrestages des Endes der Blockade. So kam es auch zu – mehr oder weniger – regelmäßigen amerikanischen Präsidentenbesuchen in Berlin, wovon der Nixon-Besuch 1969 besonders wichtig war, stellte dieser zumindest symbolisch den Ausgangspunkt der amerikanischen Entspannungspolitik in Deutschland dar. Diese Besuche sind bekannt und relativ gut dokumentiert. Weniger bekannt, aber ebenso wichtig, gerade für die Aufrechterhaltung der West-Berliner Präsenz in den USA, und um die Amerikaner an die Existenz und die Bedeutung West-Berlins zu erinnern, waren die obligatorischen Besuche der jeweiligen Regierenden Bürgermeister in den Hauptstädten der Schutzmächte – aber vor allem in Washington, insbesondere unmittelbar nach einem Amtsantritt. Solche Vorstellungsbesuche setzten sich bis zum Vorabend der Wende fort, als Walter Momper im April 1989 die USA besuchte.21 Und selbstverständlich blieben die Alliierten Besatzungsrechte unangetastet, woran die Berliner manchmal erinnert wurden, wie z. B. Anfang der 1980er Jahre anlässlich der polnischen Flugzeugentführungen nach Tempelhof. Aber die amerikanischen Berlin-Besuche, die in der zweiten Phase der Geschichte West-Berlins im Nachhinein von besonderer Bedeutung waren, waren diejenigen von Ronald Reagan. Man erinnert sich hauptsächlich an den Besuch vom Juni 1987, zu dem das Alliierten-Museum 2007 eine ganze Ausstellung widmete, und mit den bekannten Worten „Mister Gorbachev, tear down this wall!“ gekennzeichnet war. Vorangegangen war dieser Besuch von zwei frühreren Reagan-Besuchen nach West-Berlin. Der erste fand schon 1978 statt, als Reagan noch ein Privatmann war und in Ost-Berlin zuschaute, als ein junger Mann von der Volkspolizei mißhandelt wurde, ein Zwischenfall, der auf ihn einen dauerhaften Eindruck machte. Der zweite war 1982, als er schon Präsident war; begleitet wurde dieser Besuch durch z. T. heftige Demonstrationen, die ohnehin seit 1966 immer mehr zum festen Bestandteil des West-Berliner politischen Alltags geworden wa20 Kornblum (Anm. 15), Interview mit dem Verfasser, 22. März 2007. Wortlaut: „Had the Russians not collapsed in ‘89 as they did, I personally don’t think we could have held our position in Berlin politically for ten years, maybe not five years.“ 21 Erklärung des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper über seine politischen Gespräche in Washington, 17. und 18. April 1989, abgegeben vor dem Abgeordnetenhaus von Berlin am 27. April 1989, LAB, E Rep. 300 – 60, Nachlass Walter Momper.

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ren. Im Juni 1987 war die Lage so angespannt, dass während des Reagan-Besuchs anlässlich der 750-Jahrfeier die Polizei große Teile von Kreuzberg mehr oder weniger hermetisch abriegelte; und das Publikum am Brandenburger Tor war nicht mehr das grandiose, große, spontane, das sich 1963 vor dem Rathaus Schöneberg zusammengefunden hatte. Reagans Rede hatte damals keine so dramatische Wirkung wie die Kennedys, und von großen Teilen der deutschen Medien, die sich in Gorbatschow verliebt hatten, wurde Reagans Rede übersehen oder mit Verachtung abgetan, wie vom „Spiegel“, der sie z. B. als „laienhaft“ kritisierte. Aber im Nachhinein lassen sich zwei Dinge über Reagans Rede 1987 sagen: Erstens: Im Laufe der letzten Jahre haben viele amerikanische Schriftsteller und Historiker, auch liberale oder linksgesinnte, wesentlich positiver über die Rolle Reagans im Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Kriegs geurteilt. Reagan sei keineswegs ideologisch borniert und säbelrasselnd und der friedliche Ausgang des Kalten Krieges sei nicht nur das Ergebnis eines angeblich einseitigen, gutwilligen Entgegenkommens Gorbatschows gewesen.22 Zweitens: Mit seinem Engagement für die Überwindung der Teilung der Stadt Berlin und des europäischen Kontinents überhaupt verstand Reagan die nach wie vor gültige symbolische Bedeutung des jahrzehntelangen Engagements der Amerikaner und der anderen alliierten Mächte in WestBerlin. Und hier kommt man zum Fazit dieser etwas disparaten Bemerkungen. Es soll keineswegs behauptet werden, dass die Amerikaner auf ihre Verantwortlichkeiten West-Berlins gegenüber verzichteten oder sie total vergaßen. Wie Kornblum einmal bemerkte, sei im Zeitalter des Kalten Krieges kein anderes ausländisches Engagement der USA so tief im öffentlichen Bewusstsein der Amerikaner verwurzelt gewesen wie das Engagement in Berlin. Aber in der zweiten Phase der Geschichte West-Berlins, in den zwei Jahrzehnten nach dem Zustandekommen der Entspannungspolitik, verlor West-Berlin zunehmend die symbolische und emotionale Rolle, die es als „Amerikas Berlin“ zwischen 1948 und etwa 1967 gespielt hatte. Die amerikanische Rolle in West-Berlin wurde immer zweckrationeller, und dabei geriert es zunehmend aus dem Blicke sowohl der amerikanischen Öffentlichkeit als auch des außen- und sicherheitspolitischen Establishments in den USA. So mussten West-Berliner Politiker und freundlich gesinnte amerikanische Bürger immer wieder versuchen, verschiedene amerikanische Regierungen an ihre Verpflichtungen zu erinnern, auch wenn sich die Amerikaner an Ort und Stelle in Berlin der weiterhin wichtigen Bedeutung der amerikanischen Präsenz bewusst waren. Aber 22 Zum Reagan-Besuch vgl. John C. Kornblum, Reagan’s Brandenburg Concerto, in: The American Interest, Bd. 2. H. 5 (Mai / Juni 2007), S. 119 – 126; Helmut Trotnow / Florian Weiß (Hrsg.), „Tear down this wall“. US-Präsident Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor, 12. Juni 1987, Begleitband zur Ausstellung im Alliierten Museum, Berlin, 29. Juni bis 30. Dezember 2007, Berlin 2007. Vgl. Ronald Reagan, The Reagan Diaries, hrsg. von Douglas Brinkley, New York 2007, S. 506. Ferner u. a. Paul Kengor, The Crusader: Ronald Reagan and the Fall of Communism, New York 2006; John Patrick Diggins, Ronald Reagan: Fate, Freedom, and the Meaning of History, New York 2007, S. 221 – 222, 388 – 389.

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auch in der heroischen Phase der Geschichte West-Berlins, wie wir gesehen haben, waren West-Berliner Politiker nicht immer hundertprozentig sicher, dass die Amerikaner es ernst meinten, und deshalb versuchten sie – wie Reuter und nach ihm Brandt – direkt an die amerikanische Öffentlichkeit zu appellieren. Kurzum: Das Beispiel der amerikanischen Rolle in West-Berlin liefert ein interessantes Beispiel für die komplizierte Wechselwirkung zwischen den Hegemonialmächten und den ihnen untergeordneten Mächten im Kalten Krieg. Neuere Forschungen haben immer wieder bewiesen, dass z. B. die beiden deutschen Staaten keineswegs nur Befehlsempfänger, sondern durchaus in der Lage waren, die Politik der größeren Partner zu beeinflussen, und hierfür ist West-Berlin ein gutes Beispiel. Der tragisch früh verstorbene Historiker Hermann-Josef Rupieper hat vor einigen Jahren ein wichtiges Buch über das deutsch-amerikanische Verhältnis geschrieben unter dem Titel „Der besetzte Verbündete“, das auf diese komplizierten Wechselwirkungen verweist.23 Echte Verbündete reden miteinander und versuchen trotz Reibungen, die anderen durch Argumentation und Präsenz zu überzeugen. Aber was hat dieser historische Rückblick mit dem Interessen- und Aufgabengebiet der Gesellschaft für Deutschlandforschung zu tun, die sich vornehmlich mit Gegenwarts- und Zukunftspolitik befasst? Im Dezember 2004 veranstaltete das Berliner Alliierten-Museum eine Tagung in Washington über das deutsch-amerikanische Verhältnis mit dem Titel „Will It Ever Be the Same Again?“ Die kurze, bündige Antwort ist einfach Nein. Zwar war das Verhältnis nie immer so rosig und ungetrübt, wie der Mythos es darstellen will. Aber Mythen und Symbole, wie Daum und andere gezeigt haben, spielen eine wichtige Rolle in der Außenpolitik, und nicht nur rationelles Interessenkalkül. Eine Frage, die die Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen im Zeitalter des Kalten Krieges aufwirft, ist die, ob die Mythen, die in der spezifischen, ja einmaligen historischen Konstellation des Kalten Krieges entstanden sind, das jetzige, ganz andere deutsch-amerikanische Verhältnis nachhaltig beeinflussen, unter anderem durch Legendenbildung und Nostalgie. In den letzten Jahren konnte man manchmal die Vermutung hegen, dass Deutschland und die USA sich gegenseitig wie enttäuschte Liebhaber verhalten haben und in Extreme der beiderseitigen Polemik und Missverständnisse verfallen sind, was für eine nüchterne Entwicklung unserer weiteren Beziehungen nachteilhaft ist.

23 Hermann-Josef Rupieper, Der besetzte Verbündete. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1949 – 1955 (= Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 95), Opladen 1991.

Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen und die transatlantischen Beziehungen Von Gerald R. Kleinfeld

Das deutsche Publikum verfolgt seit Monaten die amerikanischen Vorwahlen. Die Medien berichten über diese Vorwahlen entweder als Wahlkrimi oder Spektakel. Dass sie das Ergebnis eines Wahlrechts sind, das die Aufstellung der Präsidentschaftskandidaten als basisdemokratisches Bürgerrecht festlegt, spielt in der Berichterstattung nur eine leicht untergeordnete Rolle. Wie in den meisten amerikanischen Präsidentschaftswahlen ist die Mehrzahl der Deutschen für die Demokraten, und die Medien auch. Bill Clinton ist in Deutschland immer noch beliebt. Er hat noch einen guten Ruf in Europa. Aber der / die Lieblingskandidat(in) der Deutschen ist nicht seine Frau und ehemalige First Lady, die Senatorin von NewYork Hillary Clinton, sondern Senator Barack Obama aus Illinois. Seine Kühnheit imponiert, sein Ruf nach Veränderung, und natürlich auch die revolutionäre Tatsache, dass ein Schwarzamerikaner, jemand von afrikanischer Herkunft Präsidentschaftskandidat sein kann, gilt fast als Sensation. Seine rhetorische Gabe, sein Harvard-Juristendiplom und sein spektakulärer Aufstieg als frischgewählter Senator mit seinem jugendlichen Auftritt, sein Charisma und sein dramatischer Ruf nach Veränderung wirken beigeisternd. Man beschreibt ihn als den „schwarzen Kennedy“. Ein deutscher Korrespondent in Washington hat sogar ein Buch mit diesem Titel in Deutschland veröffentlicht. Eigentlich hat man die republikanischen Vorwahlen fast völlig übersehen. Dies sicher auch, weil das deutsche Publikum es anfänglich für aussichtslos hielt, dass ein Republikaner im November gewinnen kann und Nachfolger des sehr unpopulären George W. Bush wird. Ein deutscher Universitätsprofessor und Mitglied der DGAP hat im Februar zugestanden, dass er während seiner Vortragsreise keinen einzigen Amerikaner getroffen habe, der zugeben wollte, dass er 2004 für Bush gestimmt hat. Das Leitmotiv von Obamas Wahlkampagne ist sein Ruf nach Veränderung. Tatsächlich ist Veränderung ein Mantra geworden für die Wahlkämpfe aller Kandidaten. Hillary Clinton hat „Change“ auch übernommen. Gleichzeitig haben sich alle Kandidaten der Republikaner von Präsident Bush distanziert. Stattdessen versuchen sie, sich mit der Ikone der Partei, Ronald Reagan, zu identifizieren. Es war Reagan, der die versammelten Kräfte zusammengebracht hatte, die der Partei Wahlsiege in fast allen Wahlen gebracht haben. Aber es ist auch heute nützlich sich der Worte von Lord Palmerston, dem britischen Außenminister im neunzehnten

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Jahrhundert zu erinnern. Er sagte: „Veränderung, Veränderung, Veränderung, ist die Lage nicht schon schlimm genug?“ Beobachter müssen sich fragen, auch wenn man Obama zustimmt, dass er sich und seinem Volk die „Kühnheit der Hoffnung“ wünscht, was eigentlich auf der Welt sich verändern wird, wenn die Präsidentschaft Bush zu Ende geht. Tatsächlich, just als Obama anfing mehr Stimmen für sich zu sammeln als Hillary, bis Mitte Februar, fingen auch deutsche Journalisten an zu überlegen. Sind wir nicht vielleicht doch zu früh auf den Obama-Bandwaggon aufgestiegen? Haben wir übersehen, was für Veränderungen er vertreten wird? Werden die transatlantischen Beziehungen unter Obama doch eine positive Wende erleben, wenn die Demokraten oder sogar Obama nächster Präsident der USA wird? Standhaft finden wir in deutschen Medien die Meinung, McCain bringe überhaupt keine Veränderung der Politik von Bush. Die „Frankfurter Allgemeine“ führte eine Online-Meinungsumfrage durch und suchte den Lieblingskandidaten ihrer WebleserInnen. Dabei stellte sie keine neutralen Fragen. Sie beeinflusste die möglichen Antworten durch eine „Beschreibung“ neben den Namen des jeweiligen Kandidaten, nach dem sie fragte. Man durfte nicht einfach für John McCain stimmen. Oh nein, nur für John McCain „der Kontinuität bringen würde“ mit der Politik der Bush-Regierung. Sicher nicht nur für mich war klar, was die FAZ wollte: einen Demokraten. McCain bringe keine Veränderung. Das reicht. Er war nicht tauglich, nicht akzeptabel. Vielleicht wäre es weise, wenn man an ein anderes Sprichwort von Lord Palmerston erinnert: „Nationen haben keine permanenten Bündnispartner, sondern permanente Interessen“. Daran denkend sollen wir unsere Analyse realistisch betreiben und versuchen zu verstehen, welche Veränderungen nach Bush überhaupt möglich sind? Zum Beispiel in den transatlantischen Beziehungen, die ja nicht zum Besten stehen. Deutschland und die USA, und auch Europa und die USA, suchen seit der deutschen Einheit eine neue Dynamik in ihren Beziehungen. Seit dem Ende der Sowjetunion und dem dramatischen Zusammenbruch des kommunistischen Osteuropa ist doch nichts mehr so, wie es vorher war! Amerikaner und Deutsche haben eingesehen, wie nützlich es sein kann zusammenzuarbeiten. Niemand, der auch an seine eigenen Interessen denkt, wollte, dass die letzte Supermacht der Welt einsam und allein auf der Weltbühne agieren soll. Als die gemeinsame Bedrohung verschwand, wollte aber auch niemand der Zukunft allein ins Gesicht schauen. Niemand den Anderen völlig freischwebend sehen. Nicht nur „Werte“, was immer sie sein mögen, sondern auch die Suche nach neuen gemeinsamen Interessen drängte zur Kooperation und Verständigung auf eine neue transatlantische Politik, einen neuen Atlantizismus – aber welchen? Nicht nur Deutschland und die USA, bei allen Differenzen in militärische Fähigkeiten, sind in allen Richtungen zur Bewältigung von internationalen Problemen auf weitere Kooperation innerhalb der NATO und auf unzähligen anderen Ebenen zugleich verpflichtet.

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Simultan kamen Anti-Amerikanismus in Deutschland mit dem Aufstieg der Europäischen Union als neuer globaler Wirtschaftsmacht und auch eine neue Selbsteinschätzung in Deutschland zusammen. Nicht nur ist die Präsidentschaft von George W. Bush überschattet vom Irak-Krieg, sondern auch von einer fast unglaublichen und schnellen Umkehr im Amerikabild der Deutschen. Es ist fast unmöglich, den Grad der Antipathie gegenüber Bush und seiner Politik zu überschätzen. Sicher hat Bush seinen Beitrag zur Schubkraft dazu geleistet. Die Meinungsumfragen der Pew Global Trust stellen einen katastrophalen Untergang der bis noch in den neunziger Jahren positiven Beurteilung Amerikas in Deutschland fest. Viele Deutsche sind sich sicher, dass sich diese Beurteilung wieder umkehren wird, gleich nachdem Bush nicht mehr in Amt ist. Mit Geduld erklären sie den erschrockenen Amerikanern – ohne jede Dokumentation – dass dies alles AntiBush, nicht anti-amerikanisch gemeint sei. Aber viele Beobachter versuchen vorsichtig zu beschreiben, dass dieser neue Anti-Amerikanismus schon vor dem Amtsantritt von Bush existierte und dass es nicht nur um eine Ablehnung der amerikanischen Außenpolitik, sondern auch um zentrale Aspekte amerikanischen Lebens – Kultur, Politik, Gesellschaft und (auch) sogar der Religion und Wirtschaft gehe. American life is out. Anders gesagt: der Anti-Amerikanismus hat tiefere Ursachen als Anti-Bush-Ressentiments. Sie können dauerhaft sein, so wie damals die kritische Beurteilung des Vietnamkrieges, die das Amerikabild der 68er geprägt hat. Dieser Generation entstammen viele deutsche Politiker, die heute Verantwortung tragen; Journalisten und führende Kräfte in Kultur und Gesellschaft. Natürlich beeinflussten sie die deutsch-amerikanischen Beziehungen bis weit in die Zukunft. Eine andere Quelle ist das Amerikabild, das Generationen aus der Indoktrination des kommunistischen DDRRegimes in das wiedervereinigte Deutschland gerettet haben. Die sich langsam entwickelnde Nervosität, ob das Ende der Bush-Regierung doch eine Wende, eine Veränderung bringen würde, wurde in einem Artikel der Zeitung „Die Welt“, von Richard Herzinger beschrieben. Er schrieb: es wird keine „Stunde null“ in den deutsch-amerikanischen Beziehungen geben. In den Worten von Tom Wolfe, „man kann nie zweimal in den selben Fluss treten.“ Aber mehr noch: Deutschland und die USA haben sich zu weit auseinanderentwickelt. Vielleicht hätte Herzinger besser einen Blick in die Debatte in Amerika geworfen? Da hätte er, von solch einflussreichen Wissenschaftlern wie Prof. Dr. Stephen Szabo von The Johns Hopkins University in seinem Buch „Parting Ways“, gedruckt 2003, ein Stimmungsbild bekommen, das sich mit seinen Erkenntnissen deckt. Während Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Regierung noch populärer machte, als er den Irak-Krieg kritisierte, sprach er nicht gerade für eine Minderheit des Volkes. Erinnern wir uns: Gleichzeitig betonte er sein Versprechen, er würde nie erlauben, dass „amerikanische Verhältnisse“ auf deutschem Boden Fuß fassen würden. Er sprach nicht von McDonalds, wo die Deutschen gern essen gehen. Auch nicht von Levis Jeans, die auch die Deutschen immer noch gern tragen. Nein, er sprach über die Sozialpolitik in den USA, die amerikanische politische Klasse,

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den Geist der amerikanischen Wirtschaft und die aktuelle Natur der amerikanischen Gesellschaft. Der erste deutsche Bundeskanzler, der nach dem zweiten Weltkrieg volljährig wurde, der zweite Kanzler nach der deutschen Einheit hat den Schlüssel entdeckt, was die Minderheit der Kritiker Amerikas im Westen mit der Mehrheit der Kritiker im Osten zusammenbrachte – die USA sind ein schreckliches Land, mit wenig Sozialhilfe, wo ungebremster Manchester-Kapitalismus regiert. Zum ersten Mal seit 1990 hat diese Meinung in Deutschland eine Mehrheit. Sie wurde selbst im Bundeskanzleramt salonfähig. Das „neue Deutschland“ hat viele neue Mehrheiten, und eine gemeinsame Ablehnung des Anti-Sozialstaates Amerika wurde eine davon. Die Leistungen bei der Integration von Millionen Mexikanern und Menschen aus Lateinamerika, der Karibik und anderen Krisenherden der Welt wurde einfach ausgeklammert, darunter auch eine Million Vietnamesen. Dass Amerika, trotz seiner Zuwanderung von Millionen mit fremder Sprache und schlechter Ausbildung immer weniger Arbeitslose hatte als Deutschland seit den neunziger Jahren, wurde verschwiegen. So kam denn auch die Schaffung von Millionen neuer Jobs in die deutsche Schweigespirale. Die Antwort auf diese Leistung: Nein. Keine amerikanischen Verhältnisse, die Armen haben alle zwei Jobs. Die Realität heute: Laut „Welt am Sonntag“ vom 17. Februar 2008: Dies ist richtig, 7,9 Millionen Amerikaner haben zwei Jobs. Dies sind 5,4 % der beschäftigten Arbeitnehmer. In Deutschland haben 2,1 Millionen einen Zweitjob, dies sind 7,6 % der Beschäftigten. Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse? Eigentlich ist ein Teil der Popularität von Barack Obama in Deutschland darauf zurück zu führen, dass er, wie vielleicht es mit den früheren demokratischen Kandidaten Senator John Kerry möglich gewesen wäre, eine Art europäischen Sozialismus oder Sozialdemokratie in Amerika einführen könnte. Die Erwartung oder die Hoffnung, Amerika könne doch europäischer werden – gesellschaftlich, kulturell, wirtschaftlich – hat in Europa eine lange Tradition. Viele Europäer finden es noch heute schwierig zu verstehen, auch nicht zu akzeptieren, die Wahrheiten, welche von Benjamin Franklin ausgedrückt wurden – dass die BürgerInnen Amerikas sogar ein neues Volk gründeten, mehr als eine neue Nation, und was fast haargenau beschrieben worden war, von einem Vertreter des europäischen Adels 1852, Alexis de Tocqueville, in seinem Buch, „Die Demokratie in Amerika“. Die Sehnsucht nach einem europäischen Amerika vereint in sich die Ostküstenleidenschaft der Europäer und die Harvard-Universität-Schwärmerei, das Vertrauen in die amerikanische „Elite“, welche ihr Volk zurück nach Europa führen könnte. Es ist auch nicht von ungefähr von Bedeutung für seine Popularität, dass Obama in Harvard studierte. Zu seinem Vergnügen sah Bundeskanzler Schröder, ein 68er, dass seine Kritik an den USA nicht nur in den Reihen der Linken Unterstützung fand. Kulturkritik Amerikas war lange ein Merkmal der Mitte, vieler Intellektueller und der Rechten in der deutschen Gesellschaft. Neugemünzte Patrioten quer durch Europa sowie ein neuer Europapatriotismus fürchteten eine mögliche Abhängigkeit von der von

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ihnen so verstandenen minderwertigen amerikanischen Kultur. Die Einführung amerikanischer Universitätsmodelle, wie Bachelor und Master, machte auf die Traditionalisten Druck. Im Ergebnis beschworen sie auch hier deutsche Traditionsnormen. Gerhard Schröder wusste genau für wen er sprach, als er seinen Spruch „der deutsche Weg“ prägte. Das war eine klare Ablehnung der USA und hatte nichts mit dem Irak-Krieg zu tun oder mit Präsident Bush. Auch wenn er auf Reisen ging, nach Beijing oder Neu Delhi oder Brasilien, er hat ein Deutschland vorgeschlagen, welches – in der Innen- sowie der Außenpolitik – seine Unabhängigkeit von Amerika erklärte. Wenn einmal dieser Pfad betreten wurde, gibt es kein Zurück. Es gibt nur die Schaffung neuer Realitäten. Aber, um zu verstehen, wie sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen entwickeln werden, nachdem die neue Administration im Januar 2009 ins Amt kommt, muss man noch eine Realität kennen und beurteilen. Das sind die deutschen Bundestagswahlen im Herbst 2009. Die Große Koalition wird eine Nachfolgerin haben, und welche, das wissen wir noch nicht. Nicht weniger dramatisch im selben Kontext sind die Landtagswahlen, die in Hessen und Hamburg schon stattgefunden haben und neue Realitäten durch strukturelle linke Mehrheiten als ein Ergebnis darstellen. Die Auferstehung der linken Partei im Westen Deutschlands, in Landtagen der alten Bundesrepublik, bietet eine realistische Möglichkeit, rot-rot-grüne Koalitionen zu gründen. Unbestreitbar führte dies auch in Amerika zu Diskussionen über politische Veränderungen in Deutschland – grundsätzliche Veränderungen, vielleicht positiv oder negativ, je nach dem. Zum Beispiel mit Auswirkungen auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik und auf das transatlantische Verhältnis einschließlich der NATO. Während wir jetzt in Berlin tagen, geht die Wahlkampagne in den USA weiter. Bei den Demokraten ist die Entscheidung zwischen Hillary Clinton und Barack Obama noch nicht sicher, obwohl wahrscheinlich Obama siegen wird. Bei den Republikanern steht John McCain fast fest. Deshalb sind einige Worte über diese KandidatInnen notwendig. Hillary Clinton, die Gattin des ehemaligen Präsidenten Bill Clinton, ist Senatorin von New York. Sie erklärt: Sie sei qualifiziert und habe viel Erfahrung. Dabei schließt sie auch ihre Zeit als Präsidentgattin mit ein. Sie ist eine durchaus kompetente Senatorin und hat ab und zu mit den Republikanern zusammengearbeitet, um Gesetze zu verabschieden. Sie hat eine Reihe durchdachter Programmpunkte formuliert für den Fall, dass sie als Präsidentin gewählt wird. In vielen Bereichen ist sie eine Expertin. Ihr Programm schließt auch eine universale staatliche Krankenfürsorge ein. Diese ist ein Kernpunkt ihres Programms. Sie glaubt, dass die staatliche Zwangsversicherung eine wirtschaftliche und soziale Notwendigkeit sei. Auch hat sie außenpolitische Erfahrung. Republikaner sehen Frau Clinton als eine typische, politisch manipulierende Politikerin an, mit keiner eigenen Moral. Ihr größtes Problem ist ihr Popularitätsmangel. Eine CNN-Beraterin hat Hillary Clinton beschrieben als eine „tiefgefrorene Makrele“. Ausserdem, obwohl Bill Clinton einst sehr populär als Präsident war, sehen viele die unangenehme Möglichkeit

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eines Präsidenten-Duos. Wer wird Präsident sein? Auf der anderen Seite würde sie die erste weibliche Präsidentin sein. Viele Frauen sehen das als eine Möglichkeit, das Glasdach zu durchbrechen. Sie will die Truppen aus dem Irak schnell zurückholen, aber nicht unbedingt alle sofort, sondern abhängig von dem, was dort geschieht. Dass Hillary nach unserer Berliner Tagung verloren hat, bedeutet nicht unbedingt, dass Ihre Wähler alle Obama im November wählen werden. Obama ist ein frisches Gesicht, Sohn einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters aus Kenia in Afrika. Anstatt sich als ein Kandidat der Schwarzen Amerikas darzustellen, wie es andere taten, wie beispielsweise Al Sharpton, sucht er das Amt als Amerikaner, der auch Schwarzer ist. Das kommt an, und er hat darum große Mehrheiten bekommen, gerade in Bundesstaaten mit sehr wenig schwarzen Einwohnern. Seine Wahlkampagne ist eine Bewegung, eine Veränderungs-Macht, wie er das selbst beschreibt. Er hat Charisma, und seine Wahlveranstaltungen sind ähnlich einer Sektengruppe, voller Begeisterung und Jubel. Er hat den Bürgerinnen und Bürgern viele verschiedene Meinungen angeboten seine Bewegung zu unterstützen, damit alle Amerikaner in seiner Politik vereinigt sein können. Besonders viele junge AmerikanerInnen und AkademikerInnen sind durch diesen Ruf zur Zusammenarbeit begeistert und laufen hinterher, um ihm zu folgen. Seine Parole, „die Kühnheit der Hoffnung“, bewegt Millionen. Es ist eine durchaus positive und optimistische Redensart. Sie klingt wie die Botschaft vom früheren Präsidenten John F. Kennedy. Darum ist Obama auch oft als der „schwarze Kennedy“ beschrieben worden. Nun hat er das Image erworben durch positive und optimistische Erklärungen von Hoffnung und Zusammenarbeit. Er nimmt für sich in Anspruch, eine neue Antwort geben zu können auf die alte Politik der Differenzen, der Spaltung, des Pessimismus, und der Angst seit dem 11. September 2001. Zudem will er die Kluft zwischen Rechts und Links überwinden. Skeptiker und einige erfahrene Politiker sowie Beobachter beschreiben seine Botschaft als naiv. Seine Außenpolitik zum Beispiel, sieht eine Reihe von Regierungschefs-Treffen vor, mit Freunden wie mit Feinden. Dabei will er auf Konditionen verzichten. Bloß miteinander sprechen ist sein Credo. Worüber, das weiss man nicht, dies bleibt irgendwo im luftleeren Raum. „Wir sollen nicht aus Angst verhandeln, aber auch kein Angst haben zu verhandeln“, sagt er. Nichtsdestoweniger machte er in der letzten Debatte eine kleine Änderung. Er erwarte nicht vor solchen Treffen irgendwelche Zugeständnisse oder Konditionen auf der anderen Seite, aber es solle doch „Vorbereitungen“ geben. Seine größte Schwierigkeit scheint es zu sein, aus schöner Rede und Rhetorik zu Details zu kommen.1 Langsam sieht ein Teil der Medien, was das bedeutet, sowohl in Deutschland als auch in den USA.2 Zu wenige Details, viele Wiederholungen der gleichen Rhetorik. Nun stellt sich die Frage: ab wann sieht das das amerikanische Volk? Charles Krauthammer, ein Journalist und Republikaner, meint, dass 1 2

Malte Lehming, „Auf den Punkt“, in: Der Tagesspiegel vom 20. 2. 2008. Robert J. Samuelson, The Obama Delusion, in: The Washington Post vom 20. 2. 2008.

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dies erst nach seiner Wahl als Präsident offenkundig werden würde, dass wenig oder nichts dahinter stehe3. Kurzum, er wird gewählt werden. Seine kurze Geschichte im Senat zeigt ihn als Angehörigen des linken Flügels seiner Partei. Dies würde es ihm noch schwieriger machen, mit Republikanern gemeinsam Gesetze zu schreiben und durchzusetzen. Krauthammer erwartet daher sein Scheitern bei dem Versuch, den Abgrund zwischen Rechts und Links zu überbrücken. Robert Samuelson sieht den Wirtschaftsplan von Obama als vage an, obwohl er schnell erkannt hat, dass die amerikanische Infrastruktur erneuert werden muss. Dafür aber sieht er nicht vor, die private Wirtschaft zu engagieren, sondern Bundesmittel als Heilmittel einzusetzen. Interessant ist, dass nur er unter allen Kandidaten die Infrastruktur überhaupt im Visier hat. Seine Gesundheitsreform ist weniger universal und weniger zwangsbehaftet als die Clintons. Er selbst glaubt darum, dass sie deshalb eher durchführbar sei. Hillary bezweifelt dies offen. Obama will zudem die USA am schnellsten aus dem Irak herausholen. Dabei beruft er sich immer auf sein „Nein“ zum Irak-Krieg und quält damit Hillary, die bekanntlich „Ja“ gesagt hat. Was nutzt mehr Erfahrung, fragte er, wenn man die falsche Entscheidung getroffen hat? Für mich zählt, dass man die richtigen Entscheidungen treffen muss. Allerdings will er aber einige Soldaten im Irak belassen. Wieviele? Dies bleibt unklar. Wofür? Ebenfalls unklar. Vieles bei Obama ist unklar. Aber der Obama der Vorwahlen gleicht nicht dem Obama der Präsidentschaftskampagne. Die Wählerschaft ist anders. In den Vorwahlen war er der Kandidat des linken Flügels seiner Partei und hat Hillary Clinton von links überholen müssen. So hat er gesiegt. Aber die Wähler Amerikas stehen eher in der Mitte. Um Präsident zu werden, muss er die Mitte beherrschen, und er muss auch sogar mehr als einige republikanische Wähler zu sich ziehen. Die Vorwahlen haben viel länger gedauert als man erwartete, und der normale Marsch des demokratischen Vorwahlsiegers in Richtung Mitte hat bei Obama erst sehr spät begonnen. Seine ersten Wahlkampfreden über den Irak hörten sich ähnlich an wie die von John McCain. Außerdem hat er auch den Irak innerhalb der letzten zwei Jahre nicht besucht und es scheint dort gegenwärtig aufwärts zu gehen, als es seine Vorwahlreden zugelassen hätten. Um pragmatisch zu sein, müsste er das eigentlich endlich zugeben. Außerdem, ein zu schneller Rückzug könnte bedeuten, dass dadurch eine Katastrophe eingeleitet würde, wie damals in Vietnam. Und auch, wie damals in Vietnam, müsste man mindestens anderthalb Million Flüchtlinge – aber dieses Mal verärgerte Muslime – mit nach Hause bringen. Also hat er deshalb schnell diese Rückzugsidee gebremst. Als sich aber die Linken seiner Partei darüber aufregten, machte er nochmals eine Kurskorrektur und versprach – noch vor seinem ersten Irakbesuch seit zwei Jahren – trotz des Resultats dieses Besuches, an seinem Zeitplan für den Rückzug festzuhalten, was dort auch immer geschehe. Michael O’Hanlon, Chefanalyst des Brookings Instituts in Washington, ein Think-Tank, der der demokratischen Partei nahesteht, nannte das „eine politische Entscheidung ersten Ranges, 3

Charles Krauthammer, in: The Arizona Republic vom 19. 2. 2008.

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was nichts mit der Lage im Irak zu tun hat“4. Also: Was wird Obama im Irak tun? Zurückziehen, wie schnell und ganz, dies ist noch nicht erkennbar. Senator John McCain ist ein Veteran des Vietnam-Kriegs, wo er jahrelang Kriegsgefanger war und ständig gefoltert wurde. Er ist wahrhaftig ein Held, und das gesteht auch Obama zu. Nicht nur deswegen, weil die Vietnamesen ihm seine Freiheit angeboten hatten, weil er Sohn eines Admirals war. Er hat das Angebot abgelehnt und seine Haltung damit begründet, dass er nur dann freigelassen werden wolle, wenn seine Kameraden ebenfalls freigelassen würden. Da er nach der Befreiung, am Ende des Krieges, durch seinen gebrochenen Körper nicht selbst auf einen Admiralsrang hoffen durfte, blieb ihm als Patriot seiner Meinung nach nur eine andere Möglichkeit, seinem Land zu dienen – in der Politik. Er wurde zuerst Abgeordneter im Repräsentantenhaus, und danach Senator meines Heimatstaates Arizona. Es ist aber schwierig, McCain politisch einzuordnen. Er hat kein stromlinienförmiges politisches Image. Konservativ, aber nicht zum rechten Flügel seiner Partei gehörend, das kann man bestimmt sagen. Sicher auch, dass er der „Grünste“ aller Kandidaten ist. Er selbst zeigt Unabhängigkeit und nimmt oft auch Positionen der Linken bzw. der Demokraten ein. Er ist der Parteilinie oft nicht gefolgt, hat aber Brücken zu den Demokraten gebaut und viele Gesetze gemeinsam mit ihnen geschrieben – meistens Reformgesetzte, vor allem gegen Korruption. Der konservative Journalist und ehemalige Professor, George Will, beschreibt ihn als einen „situational ethicist“. Das heisst, er weiss ganz genau, was richtig und moralisch ist, aber bei vergleichbaren Dingen kann er auch blind sein. Er sieht nicht immer das Vergleichbare. Sein Vorbild ist US-Präsident Theodore Roosevelt. Er kämpft gegen Korruption, gegen Lobbyisten, für Ehrlichkeit im Regierungshandeln und für Umweltschutz. Massiv will er Amerika vom Öl unabhängig machen. Seine neueste Forderung: Öl kostet Amerika zu viele Dollars jährlich, gefährdet die Wirtschaft des Landes und auch der Umwelt, stärkt die Terroristen und andere Feinde Amerikas und schwächt die Möglichkeit für viele, den amerikanischen Traum zu realisieren. Darum will er die Ölabhängigkeit massiv verringern. Seine persönliche Ehrlichkeit und seine klare Sprache sowie sein Mut gegen alle Gegner machen ihn zum Ungeheuer für BerufpolitikerInnen. Die Motivation für McCain ist einfach, oder besser gesagt, dreifach: Pflicht, Ehre, Vaterland. Er ist ein Gegner aller Verschwendung im Bundeshaushalt und ein Realist in der Innen- sowie Außenpolitik. Seine Außenpolitik wäre zugleich realistisch und kooperativ. Sein größter Nachteil ist sein Alter. Er wäre der älteste Präsident, falls er gewählt würde. Die konservativen Ideologen seiner Partei sehen ihn mit Angst und Furcht. Er ist selbst kein Ideologe. Seine Anhänger sehen ihn als einen Obama mit Erfahrung und Realismus – jemand, der niemals Hoffnung und Optimismus verloren hat, mit festem Glauben an sein Volk und sein Land, ein unaufhaltsamer Gegner aller Privatinteressen, die immer die Macht haben oder suchen und sie zu ihrem Vorteil in einer freien Gesellschaft nutzen. Der edle Ritter, sozusagen. Aber mit 4

Interview in CNN am 14. Juli 2008.

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innen- und außenpolitischer Erfahrung wie kein anderer Kandidat. Wie kein Anderer kennt er auch Deutschland und Europa einschließlich der politischen Akteure. McCain hat für seine politischen Vorstellungen auch immer Stimmen aus den Reihen der Demokraten bekommen, auch Zustimmung von Parteilosen in der amerikanischen Bevölkerung. Das hat er auch im Senat getan. Zum Beispiel: Der Präsident ernennt Richter, aber der Senat hat das Recht die ernannten Richter im Amt zu bestätigen. Seitdem die Demokraten eine Mehrheit im Senat haben, gab es eine gegenseitige Blockade. Bush wollte konservativere Richter ernennen als die Demokraten bestätigen wollten. Keine Seite gab deshalb nach. Also blieben die Richterposten leer. McCain wirkte mit republikanischen und demokratischen KollegInnen zusammen, gründete die sogenannte „14er-Bande“ und schaffte einen Kompromiss. Senator Obama votierte dagegen mit Nein. Darum beschreiben ihn einige Republikaner als den „älteren Obama“, der schon schaffte, was Obama verspricht. Die Obama-Leute deklassieren ihn nun als zu alt und als einen Mann, der seine eigenen guten Meinungen angeblich zu oft kompromittiert hat. Sie beschreiben ihn als eine Kontinuierung von Bush. Er macht das System mit und verändert das System nicht. Er geht mit Lobbyisten um und schafft sie nicht weg. Die Parteirechten bei den Republikanern verlangen, dass er sich mit ihnen identifiziert, sonst würden sie ihn verlassen – und wenn er das tut, verliert er in der Mitte. McCain wird die Truppen aus dem Irak nur dann nach Hause bringen, wenn es möglich ist, dass im Irak Verhältnisse vorherrschen, die zivilisiert sind und Chancen für Sicherheit erkennen lassen bzw. wenn die Regierung des Irak dies verlangt. „In dem Krieg, wo man steht, muss man solange bleiben wie notwendig“ ist sein Credo. Als Realist weiß er, diese Position ist nur gültig, wenn die eigenen Soldaten nicht mehr sterben. Also wie seinerzeit in Südkorea. Man wird jetzt gebraucht, nach dem Krieg, um die Stabilisierung zu garantieren. Er weiß auch, wenn man sich zu früh zurückzieht, wird man vielleicht eine Million Flüchtlinge, wie man dies nach dem Vietnamkrieg tun musste, mit nach Hause bringen müssen, wie auch CNN früher – aber jetzt nicht mehr – schon berichtete. Die Ansiedlung von fast einer Million unfreiwilliger neuer Amerikaner wird zu Hause nicht sehr begrüßt, das weiß McCain, der versucht hatte, im Kongress die vielen Millionen von illegalen mexikanischen Immigranten durch einen Legalisierungsprozess zu amerikanisieren, was aber scheiterte. Es ist nicht überraschend, dass der Irak-Krieg und die Position der Kandidaten heute eine etwas weniger wahlentscheidende Rolle spielt. Dies sicher zum Leidwesen von Obama, der sich unbefleckt fühlt. Zwei Gründe sind jetzt ausschlaggebend: Die Immobilienkrise und die neue Schwäche der amerikanischen Wirtschaft haben Priorität und gelten somit als Problem Nummer Eins. Und die von Bush vor Monaten getroffenen Entscheidungen, vorgeschlagen von Senator McCain und von General Petraeus für eine vorrübergehende Verstärkung der Truppen und eine neue Kooperationspolitik vor Ort, zeigen unzweifelhaft Erfolge. Weniger Ziviltote, weniger Attentate, weniger tote Amerikaner, hin zu mehr Sicherheit und Zusammenarbeit zwischen Armee und Bevölkerung bezeichnen die Situation. Hinzu

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kommt, dass General Petraeus auch bei der Stärkung der Zivilverwaltung und der Ausbildung der irakischen Armee und Polizei auf einem guten Weg ist. Ich möchte versuchen, die Konturen der deutsch-amerikanischen Beziehungen unter jedem Kandidaten zu beschreiben. Dies aber immer mit dem Vorbehalt, dass die deutschen Bundestagswahlen von 2009 noch nicht stattgefunden haben. Das Ergebnis dieser Wahlen wird selbstverständlich auch seinen Einfluss auf die Beziehungen haben, ganz gleich, wer neuer Präsident der USA ist. Trotzdem ist es möglich, unter diesem Vorbehalt einige Themen und Probleme der deutsch-amerikanischen Beziehungen zu betrachten:

Zum Problembereich Anti-Amerikanismus in Deutschland Forscher wie Andrei Markovits sind der Meinung, dass der Anti-Amerikanismus in Deutschland eine relativ lange Geschichte hat und sich ein Anstieg in den 90er Jahren, also schon vor dem Anfang der Präsidentschaft von George W. Bush, diagnostizieren ließ. Markovits schreibt, dass die die kulturellen Anfänge des AntiAmerikanismus ein langsames Erwachen des deutschen Selbstbewusstseins und Nationalstolzes seien. Zwangsläufig wurden so die Unterschiede und Vorurteile zwischen beiden Kulturen betont. Obwohl mein Aufsatz nicht den Anti-Amerikanismus als Thema hat, ist ganz sicher, dass dies ein Thema in den deutsch-amerikanischen Beziehungen auch nach Bush sein wird. Eine kurze Übersicht über die neuesten Veröffentlichungen kann dies beweisen. Zum Vergleich dient das Buch von Jean François Revel, der über die europäische Ansicht des Phänomenons schreibt und dabei insbesondere die Beschreibung der USA als „Hypermacht“ herausstellt; ein Beispiel: Dieses Wort, „Hypermacht“ wurde 1998 vom damaligen französischen Aussenminister, Hubert Védrine, erfunden, also vor dem Irak-Krieg. Védrine, betont Revel, machte auf die überragende Position der Vereinigten Staaten, nicht nur als Weltmacht in der Politik, sondern auch in „Geisteshaltung, Konzepten, Sprache, Lifestyle“, aufmerksam. Dinge, die mit dem späteren Irak-Krieg nichts zu tun haben. Revel schlug vor, dass das „Hyper“, ein griechisches Wort, mit der gleichen Bedeutung wie das lateinische Wort „super“, anstelle von super genutzt werden solle. Nur, Védrine hatte selbstverständlich vor, ein neues Wort einzuführen, das eine negative Betonung haben würde. Supermacht bedeutet das gleiche, hat aber nicht die negative Bewertung von „Hyper“. Ein weiterer Franzose, Emmanuel Todd, schrieb in der ZEHNTEN DEUTSCHEN AUSGABE seines Buches „Weltmacht USA“: Ein Nachruf: „Ein halbes Jahrhundert lang standen die Vereinigten Staaten für politische und wirtschaftliche Freiheit, aber heute erscheinen sie immer mehr als ein Faktor der internationalen Unordnung, und wo sie können, fördern sie Instabilität und Konflikte“. Ulrike Reisach in: „Die Amerikanisierungsfalle“: Kulturkampf in deutschen Unternehmen, mit einem Umschlag mit Abbildung eines Wolkenkratzers mit Cowboy-Hut darauf,

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beweinte: „In deutschen Unternehmen tobt ein Kampf der Kulturen“. Immer mehr Führungskräfte kopieren Managementmethoden aus den USA und orientieren sich einseitig an Aktienkursen und Quartalsergebnissen. Die Folgen: Betriebe stolpern in eine Identitätskrise, bewährte deutsche Stärken wie Qualität und Expertenwissen bleiben auf der Strecke. Mit diesem Verdikt über „amerikanische Methoden“ qualifiziert sie deutsche Manager ab, die auf diese Methoden hereingefallen sein sollen. Gleichzeitig gibt sie keine Erklärung für die Tatsache, dass Deutschland mit diesen Methoden nach wie vor Exportweltmeister und führend im Maschinenbau ist. Der Cowboy-Hut bedeutet nicht nur George W. Bush, sondern beschreibt für solche AutorInnen eine kritische Abbildung der amerikanischen Gesellschaft sowie der amerikanischen Wirtschaft. Die Stärke solcher Kritik ist so evident, dass Olaf Gersemann, Washingtoner Korrespondent einer deutschen Zeitung, sich verpflichtet fühlte, seinen Landsleuten etwas über die Wahrheit zu berichten. Er schrieb ein Buch, das später ins Englische übersetzt wurde und betitelte es „Cowboy Capitalism“. Der Untertitel heiß europäische Mythen, amerikanische Realität. Er unterstrich, dass viele Anklagen gegen Amerika einfach falsch sind. Aber Legenden werden nicht so einfach weg gewünscht. Anders gesagt, es gibt Amerikabilder in Deutschland, die die negativen Perzeptionen der amerikanischen Innen- und Außenpolitik unterstreichen sollen. Das war schon das Thema des Buches von Prof. Dr. Stephen Szabo, „Parting Ways“. Szabo betonte, dass Bundeskanzler Schröder der erste deutsche Bundeskanzler gewesen sei, der für sich in Anspruch genommen habe, nicht nur die amerikanische Politik zu kritisieren, sondern auch die amerikanische Gesellschaft. Er nutzte bewusst das diskriminierende „keine amerikanischen Verhältnisse“, und er versprach seinem Volk, dass solche Verhältnisse nie nach Deutschland kommen würden. Als Bundeskanzler hat er einen viel größeren Einfluss auf die Meinungsbildung als Olaf Gersemann und andere Autoren, die geschrieben hatten, dass dieses Amerikabild ein Mythos sei. Für Schröder war dies kein Mythos, sondern ein Vorurteil, eine selbst empfundene Realität, die er zum politischen Instrument machte. Es hat ihm geholfen, gewählt und wiedergewählt zu werden. Zum ersten Mal im Nachkriegsdeutschland hatte ein Bundeskanzler eine negative Darstellung amerikanischer Außenpolitik und zugleich eine hässliche Karikatur von einem Amerikabild als ein Stereotyp benutzt, um eine Bundestagswahl zu gewinnen. Meinungsumfragen zeigten, dass dies trotz gelegentlicher Gegenstimmung erfolgreich war. Dieses Amerikabild fiel auf fruchtbaren Boden in Ost- und Westdeutschland, es hat Fuß gefasst. Schröders Männerfreundschaft mit Wladimir Putin, die später dazu geführt hat, dass er einen Job bei Gazprom bekam, hat seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auch geholfen, ein positives Russlandbild zu schaffen. Dies, während für jeden Beobachter sichtbar war, dass ein autokratisches, antidemokratisches Russland langsam mehr und mehr wirtschaftlichen und damit politischen Einfluss auf Deutschland bekam. Durch solche Beziehungen wurde es leichter, den Eindruck zu fördern, dass die USA das gefährlichste Land der Welt seien.

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Der Wunsch, Amerika „europäischer“ zu haben ist sicherlich ein unerfüllbarer Traum. Kein Präsident der Vereinigten Staaten kann diesen Wunsch durchsetzen. Aber einige Themen sind trotzdem gut weggekommen. Der amerikanische Kampf gegen AIDS in Afrika hat keine gute Resonanz in Deutschland gefunden, teilweise weil George W. Bush das zu seinem Projekt gemacht hat. In den Händen von Barack Obama wird die weitere Durchsetzung dieses Projekts die positive Resonanz finden, welche sie verdient. Joseph Nye hat von „weicher Macht“ geschrieben, und jede Benutzung von „weicher Macht“ hilft in dieser Sache. Auch jede soziale Reform in Amerika wird begrüßt. Aber ganz sicher: Wenn harte außenpolitische Entscheidungen im Hinblick auf nationales Interesse bevorstehen, werden die Differenzen wieder hoch kommen. Dies muss aber nicht so sein. Wenn nur die normalen Europäer, darunter auch die Deutschen, es verstehen könnten, dass die Zustände in Amerika anders sind und anders bleiben werden. Und dass Gemeinsamkeiten wichtiger sind als Differenzen, dann wird dieses negative Verhalten eher nachlassen. Dafür aber braucht man einen Präsidenten mit gutem Menschenverstand und viel Verständnis für andere Kulturen, der diese Gemeinsamkeiten erklären und gleichzeitig zeigen kann, dass sich die USA in das neue internationale System einarbeiten können. Gleichzeitig braucht man dazu eine deutsche Erkenntnis, dass einige internationale Organisationen wie die UN vielleicht, und wie die Menschenrechtskommission der UN, auf tönernen Füßen stehen und von Diktatoren dominiert werden. Die Misserfolge in Iran, Simbabwe und Darfur dürften als Beweise hierfür ausreichen. Beide, Amerikaner und Deutsche, sollten mehr aufeinander hören und mehr die Möglichkeiten des Anderen erkennen und nicht versuchen zu erwarten, was vom Anderen nicht erfüllt werden kann. Obama und McCain haben unterschiedliche Erfahrungen, aber beide bieten Hoffnungen, dass es jeder besser machen könnte.

Zum Problembereich globale Erderwärmung und Umweltschutz Die neue amerikanische Administration nach dem Januar 2009 wird stärker „grün“ sein, egal ob diese Administration „rot“ oder „blau“ wird, republikanisch oder demokratisch. Dies bedeutet, dass die USA engagierter sein werden bei Problemen der globalen Erderwärmung, des Treibhauseffekts und der Umweltverschmutzung. Das deutsche Publikum und die politische Klasse in Deutschland wird sich darüber freuen können. Auch hier wird die neue Administration die amerikanischen Interessen vertreten, gleich wie der neue Präsident diese Interessen sieht. Obwohl viele Amerikaner, darunter auch Wissenschaftler, die Beweise bezweifeln oder für überzogen halten. Sicher ist aber: Eine überwiegende Mehrheit des amerikanischen Volkes sieht die globale Erderwärmung und die Folgen der Umweltverschmutzung als Tatsachen an. Trotzdem hat der Kyoto-Vertrag immer noch keine Mehrheit, weil dieser Vertrag drei Nachteile hat: Erstens, eine Mehrheit glaubt nicht, dass ein solcher Vertrag effizient und nützlich wäre. Zweitens, dieser Vertrag wirke nicht genügend für den Klimaschutz, sondern eher für anti-amerikanische

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Politik, weil der Vertrag keine Rücksicht auf amerikanische Interessen nehme (obwohl Präsident Clinton mitverhandelt hat bei der Erfindung des Vertrages), und drittens brauche ein globaler Vertrag auch globale Teilnahme. Der Vertrag wirkt in den Augen vieler Amerikaner wie ein Hammer gegen die USA. Kein KlimaschutzVertrag also, eher ein Dokument des Anti-Amerikanismus. Man ist sich dabei bewusst, dass innerhalb der EU die Verhandlungspartner erkennen, dass verschiedene Staaten unterschiedliche Zustände und somit unterschiedliche Interessen haben. Dies führt dazu, dass manche Abkommen für diesen oder den anderen Staat Konzessionen beinhalten, auf besondere Zustände eingehen, besondere Konditionen genehmigen usw. Nichts davon steht im Interesse Amerikas im Kyoto-Vertrag. Im Gegensatz zu vielen anderen Verträgen, zum Beispiel EU-Abkommen, war dies ein „Akzeptiere alles oder nichts“-Vertrag. Zwar haben amerikanische Präsidenten, auch Clinton mit seinem Vizepräsidenten Al Gore, Sonderkonditionen nicht vorgeschlagen, aber es wurden auch keine angeboten. Dies scheint vielen Amerikanern keine freundliche Art von Verhandlungen zu sein, wenn es um die Zukunft auch der nationalen Wirtschaft geht. Es gab auch keine ernsthafte Diskussion darüber, wie man Indien, China, Russland und andere Staaten miteinbauen könnte und welche Sonderkonditionen man vielleicht anbieten könnte. Das amerikanische Volk hat somit den Eindruck, man versuche die USA zu beherrschen, zu diktieren, etwas aufzuzwingen und nicht mit den USA zu verhandeln. Ob das stimmt oder nicht, ist nicht die Frage. Viele Kommentare vermitteln diesen Eindruck. Aus dem Kontinent mit viel diplomatischer Geschichte war dies ein Beweis der undiplomatischen Geschicke. Und nichtsdestoweniger war das ganz anders, wie sich die europäischen Verbündeten untereinander behandeln. Aber es sind seither Jahre vergangen und ein neuer Anfang kann gemacht werden. Die ersten Schritte werden aus Washington kommen. Ich empfehle aber, sich mit der Umweltschutzpolitik Kaliforniens und einiger anderer US-Staaten auseinanderzusetzen. Die Dynamik, die dort praktiziert wird, wird nicht nur Amerika verändern. Ich wundere mich allerdings, wie wenig man in Deutschland und Europa darüber weiß. Von Kalifornien ausgehend war dies schon bei der Einführung des Autokatalysators so; ebenso wird es nach der Führung in der Informationstechnologie, Biotechnologie und Genforschung in den nächsten Jahren auch die weltweite Führung in der Umweltschutztechnologie geben. Kalifornien ist auch Amerika. Und Washington wird, wie immer, dem Druck aus der Provinz nicht ewig standhalten können. Dass Washington oft bei notwendigen Konsequenzen aus Entwicklungen hinterher hinkt, gehört zur Tradition. Schon aus diesem Grund werden Washington und auch Deutschland wieder lernen, dass Amerika mehr ist als die offizielle Politik, an die sich auch Deutschland klammert. Derjenige amerikanische Präsident, der für John McCain immer ein Musterpräsident war, war Theodore Roosevelt – ein Republikaner, der gegen die großen Konzerne gekämpft hat, gegen die Kartelle und für die Umwelt. Es war Roosevelt, der das Nationalparksystem in Amerika etabliert hat. Es war Roosevelt, der am Anfang des 20. Jahrhunderts erster Umweltsstaatschef der Welt war. McCain möchte gerne

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der nächste Umweltpräsident sein. Er hat Schwarzenegger und Kalifornien studiert und im Blick. Er wird seinem Volk beweisen, dass „grün sein“ bedeutet, gute Geschäfte zu machen. Sie dürften wissen, dass er als Umweltpolitiker nicht sehr weit von Reinhard Bütikofer entfernt ist. Erstaunlich, aber wahr. Er ist vielleicht der „grünste“ aller Kandidaten. Alle Kandidaten stehen auch dafür, dass China, Indien und Russland mit in eine globale Umweltschutzpolitik einbezogen werden müssen. Die Mitwirkung Amerikas in der globalen Umweltschutzpolitik wäre effizienter und positiv. Aber es wird auch mehr Pragmatismus und weniger Ideologie in der Diskussion um den richtigen Weg bedeuten. Obama wird sicherlich auch versuchen, genau diese Punkte zu vertreten, und er hat schon signalisiert, er werde die Energiepolitik in Amerika radikal verändern. Die Anfänge einer besseren Kooperation sind schon beim letzten G-8-Gipfel gemacht worden – alle haben verstanden, dass Umweltschutz auch die Zusammenarbeit mit Indien und China braucht, und nichts ohne diese beiden Mächte erreicht werden kann. Diese Erkenntnis, von Amerika lange angestrebt, erweitet Kyoto aufs Wichtigste und bietet gute Voraussetzungen für den nächsten amerikanischen Präsidenten.

Zum Problembereich „multilaterale oder unilaterale Politik“ Es ist uns schon klar, dass die Rolle der Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, die Rolle von George W. Bush, in Europa mit Skepsis oder Angst betrachtet wird und wurde. Um zu verstehen was ein Nachfolger erreichen kann, darf man das nicht vergessen. Auch darf man die Politik Charles de Gaulles in Frankreich – den Gaullismus – nicht vergessen. Ein vereinigtes Europa unter französischer Führung sollte eine Gegenmacht bilden zu Amerika und seinen Interessen in der Welt. Der frühere französische Staatspräsident Chirac ist Gaullist. Ob die USA eine „Supermacht“ oder eine „Hypermacht“ sind ist also keine rationale Frage, sondern eine emotionale. Fast alle amerikanischen Präsidenten fangen ihre Regierungszeit mit der Hoffnung an, dass die meisten außenpolitischen Ziele multilateral erreicht werden können. Muss man daran erinnern, dass sogar Bill Clinton nicht nur die UN konsultiert hat, sondern auch ab und zu unilateral engagiert war? Das machen viele Staaten, auch Frankreich. Im Moment im Tschad, ohne UN-Teilnahme. Auch hier sehen viele Deutsche Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern, und sie ziehen deshalb die Demokraten vor. In einem Interview in der „Deutschen Welle“ sah Frau Mildner das einfach so: Für Demokraten heisst es „zusammen wo möglich, alleine wenn nicht.“ Für Republikaner heisst es „zusammen wo wir müssen, alleine wo möglich.“ Viele Amerikaner werden dieser Meinung zustimmen, nicht alle Demokraten. Warum? Hierfür gibt es mehrere Gründe. Erstens: Deutsche haben eine sehr positive Erfahrung mit multinationalen Abkommen in Europa. Diese Erfahrung unter Staaten mit ähnlichen kulturellen, sozialen und politischen Systemen hat die

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Europäische Union geschaffen. Viele Deutsche haben aus dieser Erfahrung multilaterale Leidenschaft von der europäischen auf die globalen Organisationen – ohne zu differenzieren – übertragen. Zweitens: Weil Deutschland immer nur ein Land unter vielen anderen war und nie eine Supermacht kontinentaler Größe mit entsprechenden Verpflichtungen und Bedürfnissen, war es relativ einfach mit etwa gleich großen Staaten zu kooperieren. Man hat auch übersehen, welche Art Regierung diese Staaten haben und hatten und einfach oft deutsche Werte und Formen auf solche Länder übertragen. Dies, ganz gleich ob das dortige Volk irgendwelche Kontrolle über die eigene Regierunge hatte oder hat – oder ob das dortige Volk eine deutsche Art von Demokratie wollte oder verstand. Es herrscht nicht von ungefähr ein „Gutmenschenvertrauen“ in Deutschland. Nicht überall, aber genügend in vielen Schichten. Als einfaches Mitglied hat Deutschland keine besondere Rolle zum Schutz des internationalen Friedens, der Ordnung, der Stabilität oder der Handelsfreiheit zwischen Kontinenten. Eine Mittelmacht in Europa, jahrzehntelang fokussiert auf seine eigene Teilung, europäische Beziehungen und Wirtschaftsbeziehungen, und auf die Möglichkeit eines Angriffs aus Sowjetrussland, sah Deutschland nicht unbedingt eine Führungsrolle in internationalen Gremien. Es kam deshalb nicht von ungefähr, dass viele Deutsche einfach ihre eingeübten Beziehungen innerhalb Europas auf die globalen Zustände übertragen haben. Dies mit großem Glauben an heilende Kräfte auch der UNO. Amerikaner haben eine andere Geschichte, besonders seit 1945, und eine ganz andere Lage innerhalb der NATO. Sie haben eine ganz andere Geschichte mit internationalen Organisationen, der UN inbegriffen. Das darf man nicht vergessen. In der NATO zum Beispiel war die USA die zentrale Stütze für die gemeinsame Verteidigung. Ohne amerikanische Militärmacht, obwohl Frankreich und das Vereinigte Königreich auch nukleare Waffen haben und Deutschland viele Bodentruppen, hätte es keine wirksame Verteidigung gegen der Sowjetunion und ihren Verbündeten gegeben. Letztendlich war die Bereitschaft der Amerikaner, Chicago gegen Hamburg zu opfern, was auch die Freiheit Berlins garantierte, Ausdruck der multilateralen Verantwortung. Die Berlin-Brigaden der USA und der Allierten waren hier, um zu sterben. Das galt auch für Südkorea und anderswo. Sollte Amerika sich da überall heraushalten? Deutschland hatte keine solche Verantwortung über sechzig Jahre hinweg. Und das hat die Außenpolitik sehr geprägt. Wie Michael Mandelbaum in seinem Buch „The Case for Goliath“ oder Niall Ferguson in Çolossus“ oder Robert Kagan in „Of Paradise and Power“ die USA als verpflichtet ansahen, eine internationale Rolle zu erfüllen. Auch wenn andere neue Methoden vorschlagen, wie Joseph Nye Jr. in „The Paradox of American Power“, waren auch diese Vorschläge an vielen unerprobten Methoden (bedingt) orientiert. Die Vereinigten Staaten nahmen die Führung an. Im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler, bei der Verteidigung Südkoreas 1950, in Vietnam und unter dem ersten Präsidenten George H. W. Bush, um Kuwait zu befreien und im Gefolge zu verhindern, dass Saddam Hussein im nächsten Schritt die Ölquellen in den arabischen Staaten in seinen Besitz brachte.

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Die USA betrachten die UN aus guten Gründen immer mit Skepsis. So auch besonders die frischgebackene Schöpfung von Kofi Annan, das UN-Menschenrechtskonzil, Nachfolgerin der UN-Menschenrechtskommission. Sie war bekanntlich mit dem Ruf untergegangen, ihre Arbeit als Vertreterin der Menschenrechtsverächter verrichtet zu haben. Unsere Skepsis beruht aber auch auf der Tatsache, dass die Mehrheit der UN-Mitglieder weit von demokratischen Werten, Menschenrechten und Friedensliebe entfernt ist. Der ehemalige demokratische Senator von New York, Daniel Patrick Moynihan, ein starker Liberaler im amerikanischen Kontext und ein brillianter Redner und Sprecher seiner Partei, erinnerte seiner Zeit als UN-Botschafter in seinen Memoiren mit dem Titel: „Ein gefährlicher Ort“ an die Praxis der UN und das wahre Verhalten seiner Mitglieder. Kein deutscher Politiker, gleich welcher Partei, hätte die UN so beschrieben, besonders damals, in der 70er Jahren nicht. Während der 90er Jahre beobachtete das höchste Mitglied der UN-Bürokratie aus den USA das Treiben innerhalb der UN. Auch er hat seine Memoiren geschrieben. Der Titel: „Die UN-Bande“, eine Erinnerung an die Unfähigkeit, die Korruption, die Spionage, den Anti-Semitismus und islamischen Extremismus im UN-Sekretariat.“ Pedro Sanjuan schrieb bitter über sein Verhältnis zu dem damaligen UN-Generalsekretär, Perez de Cuellar, der ihm an seinem ersten Arbeitstag über seinen ungewöhnlichen spanischen Familienname, Sanjuan, gefragt hatte. Aus iberischer Herkunft stammend und wohlwissend, dass Iberier nicht selten auf die Nase herunter schauen, auf das „Kolonialvolk“ in Lateinamerika, etwa wie einige Briten auf die Amerikaner herunterschauen, erklärte ihm Sanjuan, dass diese Frage auch seinen Vater bewegt habe. Sein Vater habe angenommen, dass seine Vorfahren im 15. Jahrhundert vielleicht jüdisch waren und zum christlichen Glauben konvertierten. Um zu zeigen, wie fromm der neue Katholik war, nahm er den Namen eines Heiligen an, also Sanjuan. Von dem Tag an, bemerkte Sanjuan, wurde er im UNSekretariat oft als „der Jude“ bezeichnet. Diese tiefsitzende und wohlbegründete Skepsis der UN gegenüber einer Organisation, die durch Diktaturen beherrscht und nicht leicht in die Richtung demokratischer Prinzipien zu steuern ist, ist dem deutschen Volke fremd. Darüber wird auch in vielen europäischen Medien nicht berichtet. Aber diese Informationen sind in Amerika total verbreitet, und gute Gründe existieren dafür. Die USA wissen, dass sie in der UN in einer offenkundigen Minderheit sind, in fast allen Gremien, bei fast allen Themen, die in der UN behandelt werden. Dort können Simbabwe oder Venezuela genau so viel bedeuten wie die USA und viel mehr Resonanz finden. Dies natürlich im Besonderen, wenn es über Themen wie Menschenrechte oder Wirtschaft geht. Es ist den Amerikanern bewusst, dass die UN-Menschenrechtserklärung von keinem muslimischen Staat angenommen wurde. Dafür gibt es eine Menschenrechtserklärung der muslimischen Staaten: Die „Kairo-Erklärung“, die sich auf die Scharia gründet und darum zum Beispiel auch die Gleichberechtigung für Frauen ablehnt. Zum Beispiel: Unter dieser Menschenrechtserklärung und der ägyptischen Verfassung wurde die Anerkennung im Februar 2008 abgelehnt, als ein

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ägyptischer Staatsbürger versuchte vom Islam zum Christentum zu konvertieren. Das alles führte in den USA zur Skepsis. In Deutschland dagegen wird der Glaube an eine friedensstiftende und tolerante UN aufrechterhalten. Diese Tendenz in Richtung Unilateralismus wird bleiben. Wird Obama stärker multilateral als McCain wirken? Er spricht offen von Verhandlungen und Staatschefstreffen. Aber McCain hat auch vielfältige Erfahrung durch jahrzehntelange Tagungen der Wehrkundegespräche in München, wo er viele internationale PolitikerInnen kennengelernt hat. Selbst Multilateralismus wird nicht immer angenehm sein. Obama verlangte Ende Februar 2008 von Europa mehr Einsatz in Afghanistan. Die Situation sei untragbar, dass von den USA und Großbritanien verlangt werde, die Drecksarbeit zu machen und niemand sonst sich tatsächlich Feuergefechte mit den Taliban liefern wolle.5 Obama scheint „weiche Politik“ (soft power) zu bevorzugen; vielleicht mehr als McCain, aber die politische Klasse in Amerika, gleich ob Demokrat oder Republikaner, ist sich bewusst, dass jahrelange weiche Politik und Diplomatie gegenüber dem Iran überhaupt keinen Erfolg gehabt haben. Helga Haftendorn hat geschrieben, die Europäer bevorzugten weiche Politik und die Amerikaner stärkere Politik.6 Das hat auch Robert Kagan betont. Aber Michael Mandelbaum und andere haben zugleich unterstrichen, die eine brauche die andere. Die Rolle Amerikas ist auch anders in der Welt. Ist dies nicht so?

Zum Problembereich „Handel und Wirtschaft“ Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Hillary Clinton oder Barack Obama wirtschaftliche Sicherheit und Wohlstand preisgeben werden, bloß um illusorische Ziele anzustreben. Fast jeden Tag spricht Obama in einer seiner Reden über den „Export von Arbeitsplätzen“ und wie er vorhat, das zu bekämpfen. Über 70 % der amerikanischen Bevölkerung glaubten nach einer Pew Global Trust-Meinungsumfrage, dass die USA ernsthafte Probleme in den internationalen Handelsbeziehungen hätten. Die Anzahl der Jobs im Industriesektor geht seit der Clinton-Administration zurück, und schneller noch jetzt bei George W. Bush. Viele Regionen erleben größere Arbeitslosigkeit im Industriesektor. Internationale Konkurrenz und amerikanische Zustände schaffen zusammen immer größere Probleme für die Wirtschaft, und nicht nur im Industriesektor, sondern auch in der Dienstleistungsbranche. Zwar ist die Zahl der Arbeitslosen nicht über 5,5 %, aber das ist schon nach amerikanischen Verhältnissen, wenn ich das sagen darf, relativ hoch und unerträglich. Als Kandidat hat Ex-Senator John Edwards versucht, daraus Wählerstimmen zu bekommen. Obwohl er durchgefallen ist, ist das Thema nicht aus der Welt. Die anderen Kandidaten haben es übernommen. Ein Demokrat im Weißen Haus würde selbstverständlich bedeuten, dass er mehr Interesse auf verlorene Jobs richtet. Damit besteht eine dementsprechend größere Wahrscheinlichkeit, dass 5 6

ZDF, Heute, 29. 2. 2008. Internationale Politik, 2008.

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Washington versuchen wird, hier gegenzusteuern. Senator Obama hat gesagt, eine Obama-Administration würde viele der Handelsabkommen der Bush-Administration überprüfen. Beide, Clinton und Obama, versuchen eine Revision der NAFTA, sind gegen ein TAFTA und sind eher Protektionisten als McCain, der Freihandel präferiert. Verschiedene deutsche Journalisten haben schon darüber spekuliert, dass eine Obama-Administration versuchen wird, die amerikanischen Handelsinteressen ernsthaft zu überdenken. Sie liegen mit ihrer Annahme richtig. In der „Deutschen Welle“ sagte schon Stormy-Annika Mildner, dass Clinton oder Obama für Deutschland schwieriger sein werden als Bush oder ein in dieser Frage als eher freihandelsorientierter McCain. Aber das alles wird nicht dramatisch, wenn die Lage nur weiter so besteht wie jetzt und sich nicht verschlechtert. Die Diagnose von Frau Mildner gilt darum unter Vorbehalt. Bei schlechteren Verhältnissen und einem Kongress mit demokratischer Mehrheit in beiden Häusern wird auch ein Präsident McCain gezwungen sein, die Freihandelsinteressen anders zu beurteilen. Die Umfragen zeigen zugleich eine bedeutende Verschlechterung der amerikanischen Meinung gegenüber den Globalisierungeffekten auf Amerika. Daher also werden unter allen drei Präsidentschaftskandidaten internationale Wirtschaftsverhandlungen schwieriger werden.

Problembereich „Unterstützung der Dritten Welt und der Entwicklungsländer“ Faktisch gibt es auch Unterschiede in der politischen Philosophie und Verfassung zu Fragen der finanziellen und wirtschaftlichen Unterstützung der Entwicklungsländer. Europäische Staaten mit ihren römischen Staatstraditionen sowie ihren ehemaligen Kolonien sind weitaus mehr bereit, direkte Staatsabkommen zu unterschreiben und Staatsförderungen zu geben. Die Vereinigten Staaten mit ihrer germanischen, angelsächsischen Tradition ziehen die individuelle Förderung von Projekten vor und setzen stark auf private Spenden. Ein Land wie Deutschland, wo sogar die Kirchen ihre Finanzierung durch Staatsvermittlung garantiert bekommen, steht im Kontrast zu den USA. Hier sind die Kirchen auf eine totale Finanzierung durch Privatspenden angewiesen. Auch darum sind sie staatsunabhängig. Bush, der sogenannte Konservative, hat die Staatsbeiträge für Entwicklungshilfe und die Finanzierung von Projekten enorm erhöht. Alleine für die AIDS-Bekämpfung hat er für Afrika Milliarden zur Verfügung gestellt und die afrikanischen Völker haben während seines Besuchs im Februar 2008 dementsprechend reagiert. Er ist in Afrika populärer als zu Hause oder sonst in der Welt. Dieser Betrag übertrifft alle Aidshilfen, die zusammen von anderen Ländern und internationalen Organisationen geleistet werden. Aber das amerikanische Publikum, der Kongress, schränkt doch ein, was an Staatsgeldern ausgegeben wird, damit der Staat nicht immer größer, die Regierung in Washington nicht immer mächtiger wird und mehr Einfluss im Lande bekommt. Die philosophischen Sensibilitäten setzen darum auf die immense private Unterstützung amerikanischer StaatsbürgerInnen für solche

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Zwecke, auch in der Entwicklungspolitik. Hinzu kommt, dass die USA im Handel, bei der Produktionsvergabe in Entwicklungsländer die größte Stütze der Entwicklungspolitik sehen. Was würde heute noch in China und in anderen asiatischen Staaten vor sich gehen, wenn die USA dort nicht produzieren ließen und Güter kauften? Ausdruck dieser Entwicklungshilfe ist das gigantische Handesbilanzdefizit gegenüber China und anderen Staaten der Dritten Welt. Dazu gehört auch, dass China nach Russland über die größten Devisenreserven der Welt verfügt und nicht nur in Amerika auf Einkaufstour ist. Bush hat total übersehen, dass die „Sovereign Wealth Funds“ quer durch Amerika auch einkaufen. Im Gegensatz dazu steht Bundeskanzlerin Merkel bereit, ihr Land zu verteidigen. Die Skepsis gegenüber der Zentralregierung wird sich nicht ändern, ganz gleich wer gewählt wird. Es wäre vielleicht hilfreich, wenn die Europäer, darunter auch die Deutschen, es akzeptieren würden, dass es auf dieser Welt unterschiedliche Staatsformen und somit auch unterschiedliche Konzepte der Entwicklungspolitik gibt. Dazu auch unterschiedliche demokratische Staatsformen und internationale Gesetze oder Regeln, die eine Staatsform gegenüber der anderen vorzieht und nicht das fördern, was für Menschenrechtsverstöße belohnt wird. Unterschied ist Unterschied. Dabei wissen wir: Weder Obama noch McCain können große Veränderungen in diesem Bereich der internationalen Hilfe einleiten. Nicht nur deshalb, weil das Geld hierfür nicht mehr zur Verfügung steht. Die beiden Demokraten haben große Pläne für soziale Programme. Sie sehen nicht nur die Ersparnisse beim Ende des Irak-Krieges als Geldquelle, sondern auch neue Steuererhöhungen. Und Senator Obama plant eine Vergrößerung des Militärs und eine neue Ausstattung dafür. Weiteres Geld für die Entwicklungshilfe wäre schwierig.

Problembereich „säkulare Kultur und Religion in der Gesellschaft“ Säkularismus ist das Wahrzeichen des deutschen, sogar des westeuropäischen Lebens. Europa ist mehrheitlich ein post-christlicher Kontinent. Ob es die Einführung der Scharia in England oder Deutschland als zweite Rechtsform gibt und den langsamen Rückzug des allgemeinen Rechts auf freie Meinungsäußerung, das ist die Sache der Europäer. Aber das andauernde Wachstum des christlichen Glaubens in Amerika vermittelt säkularen Europäern den Eindruck von einer christlichen Außenpolitik, besonders bei den Republikanern. Gleichzeitig wird geurteilt, dass die USA eine Außenpolitik betreiben und fördern, die ohne jede Moral ist. Nur so, ohne christlich begründete Moral, sagen viele, kann man Konflikte mit der islamischen Welt vermeiden. Und die USA mit ihrem ausgeprägten Christentum sind ein rotes Tuch für gläubige Muslime. Während Terroristen-Bomben die BürgerInnen in Spanien und des Vereinigten Königreichs gefährden, nehmen die Stimmen zu, die eine moralfreie Außenpolitik und eine unchristliche Innenpolitik als eigentliche Sicherheit gegen muslimische FanatikerInnen ansehen.

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Gerald R. Kleinfeld

Weil die fundamentalistisch-christlichen Stimmen größeren Einfluss in der Republikanischen Partei haben als bei den Demokraten, gibt es auch Ängste, die Deutsche veranlassen, eher demokratische als republikanische Kandidaten zu unterstützen. Obwohl aber die Fundis mehr Einfluss in ihrer Partei haben bei den Demokraten, sollte man nicht erwarten, dass sie großen Einfluss auf die Politik von Senator McCain haben. Seine außenpolitische Richtung ist schon lange klar. Die aber von Senator Obama ist auch in diesem Bereich noch nicht ganz klar, insbesondere hinsichtlich der Konflikte in Afrika.

Problembereich „Irak und Afghanistan“ Die neue Administration wird neben anderen Krisenherden (Darfur, Somalia, Balkan) zwei Kriege gleichzeitig erben – im Irak und in Afghanistan. Während beide Demokraten, Hillary Clinton und Barack Obama versprechen, die amerikanischen Soldaten aus dem Irak schnellstens zurückzuziehen und das Ende der amerikanischen Intervention einzuleiten, ist trotzdem nicht klar, wie und wie schnell dies gehen soll. Es kann sein, dass jeder bereit wäre, je nach Zustand vor Ort, einige Truppen dort über Monate hinweg zu belassen. Beide hoffen auf einen stabilen Irak, aber es ist vielleicht möglich, dass sie auch, wenn alles zusammenbricht, die Truppen trotzdem und vielleicht auch darum schneller zurückziehen. Senator McCain glaubt, dass die Lage im Moment eine Verbesserung aufzeigt und dass dies eine Hoffnung mit sich bringt, dass Stabilität erreicht werden könnte. Er will darum eine angepasste Zahl amerikanischer Truppen in der Region, die zur Stabilität beitragen können, wie etwa in Südkorea. Er wäre bereit, solche Truppen dort jahrelang zu belassen. Vorausgesetzt, dass es keine weitere amerikanische Todesfalle gibt. Kann man diese Stabilität erwarten? Wer kann das wissen? Alle drei Präsidentschaftsbewerber wollen direkte Verhandlungen mit dem Iran. Bei Obama ohne Konditionen, aber gemäß neuestem Stand seiner Position, mit Vorbereitungen. Es ist nicht wahrscheinlich, wie die europäische Verhandlungssituation zeigt, dass irgendwelche Zugeständnisse von der iranischen Seite zu erwarten sind. Die Iraner tun, was sie wollen. Aus amerikanischer Sicht ist es blauäugig anzunehmen, dass der Iran mit seinen expansiven Zielen, wie der Zerstörung Israels, nicht jede Gelegenheit nutzen würde, um an Atomwaffen zu kommen. In Afghanistan sieht man, dass die neue amerikanische Administration und die deutsche Regierung ein gemeinsames Problem haben. Eigentlich hat die ganze NATO dieses Problem. Es wird wahrscheinlich etwas einfacher mit- und untereinander zu verhandeln, weil die Reizfigur, Präsident Bush, nicht mehr da sein wird. Aber das macht eine Lösung nicht einfacher. Die Probleme bestehen fort. Amerika und Kanada fühlen sich zu Recht in einer ungleich schwierigeren Situation als Deutschland. Man denke an die hohen Opfer bei den Soldaten und in der Zivilbevölkerung. Da muss auch Deutschland verstehen, dass ein Bündnis nur funktioniert und eine gemeinsame Basis hat, wenn die Lasten für alle erträglich

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verteilt sind. Ein Bündnis wie die NATO kann doch nur begründet werden, wenn es Ziele mit gleichem Einsatz aller Beteiligten verfolgt. Wie heißt es doch in einem deutschen negativ besetzten Sprichwort: „Hannemann, geh Du voran“. Das ist doch kein Sprichwort für ein Bündnis. In Verneinung dieses Sprichwortes geht es doch um den Willen zur Leistungsfähigkeit im Sinne der Verpflichtungen, die ein Bündnis ausmachen. Da gefällt mir und uns Amerikanern ein anderes deutsches Sprichwort besser für den Bündniseinsatz: „Jeder trage des andern Last“. Das erwarten die Amerikaner und die Bündnispartner, die die größeren Lasten in Afghanistan tragen. Ist dies, so fragen sich auch die Amerikaner, unbillig, wenn es um die Verteilung von Lasten geht? Darum: keine Illusionen im Hinblick auf einen neuen Präsidenten. Auch dieser wird, gleich wer es wird, die Lastenverteilung als amerikanisches und als Bündnisinteresse einfordern. Dies gilt natürlich auch für andere Krisenherde, in denen das Bündnis unausweichlich verwickelt ist und in Zukunft weiter sein wird. Natürlich wird hier der nächste deutsche Wahlkampf eine interessante Lektion für die neue amerikanische Administration darstellen. Zeichnet es sich nicht schon ab, dass auch dieser Wahlkampf wieder ein Wettlauf um die Frage wird: Welche Partei ist die „Friedenspartei“? Vielleicht wird es endlich der Fall sein, dass Deutsche und Amerikaner die nüchternen Tatsachen nach dem Ende des Kalten Krieges verstehen und ihre weiteren Beziehungen auf Wahrheiten und Tatsachen und weniger auf Emotionen und unerfüllbaren Wünschen gründen. Wenn die Reizfigur „Bush“ weg ist, kann man vielleicht doch einander besser verstehen, die Interessen und die Wahrheiten, die Unterschiede sowie die Gemeinsamkeiten, und darauf eine gesunde Basis für die neuen transatlantischen Beziehungen schaffen. Eigentlich genau diese Meinung hat der deutsche Außenminister vor kurzem geäußert.7 „Ich denke deshalb, wir brauchen so etwas wie ein ,relaunch’, einen neuen Aufbruch in den transatlantischen Beziehungen.“ Die neue Agenda muss die Realitäten von heute in Betracht ziehen, aber Deutschland und Amerika brauchen einander, weil es immer noch gemeinsame Ziele und gemeinsame Werte gibt. Diese neue Agenda muss für beide Seiten vieles erwarten lassen. Nicht mehr vom Partner mehr erwarten, als der Partner bereit ist zu erfüllen; dies gilt am Besten für beide Seiten. Nicht den anderen als weniger moralisch, als moralischer, weniger oder mehr findig ansehen, weniger nüchtern betrachten, dafür eine andere, verwandte Kultur akzeptieren und auf dieser Basis die Beziehungen fortsetzen. Die Gesellschaften sind oft verschiedener als wir immer denken oder voneinander wissen, und dies gilt auch für die Interessen. Eine gute Anerkennung dieser Verschiedenheiten führt vielleicht einfacher zu besseren Beziehungen als überzogene Erwartungen und zu viele irreale Gleichheiten.

7 Frank-Walter Steinmeier, Für eine neue transatlantische Agenda, in: Der Tagesspiegel vom 14. Juli 2008, Beilage, S. 1.

„Eine Art europäischer Vertrauensmann“ Das niederländische Deutschlandbild Von Ton Nijhuis A. Einleitung Wenn man über das niederländische Verhältnis zu Deutschland redet, muss man zwischen den politischen Beziehungen auf der einen Seite und dem Deutschlandbild der Bevölkerung auf der anderen Seite unterscheiden. Mit den politischen Beziehungen werde ich mich gleich intensiv beschäftigen, beginnen möchte ich jedoch mit der Entwicklung des Deutschlandbildes in den Niederlanden. Im Gegensatz zu den politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges fast immer gut bis ausgezeichnet waren, war das Deutschlandbild in der niederländischen Bevölkerung jahrelang negativ und kritisch.

B. Die Entwicklung des niederländischen Deutschlandbildes Umfragen, die zu Beginn der 1990er Jahre durchgeführt wurden, zeigten, dass nicht nur diejenigen, die den Krieg miterlebt hatten, schlecht über Deutschland urteilten, sondern vor allem niederländische Jugendliche ein sehr negatives Deutschlandbild hatten. Das niederländische Deutschlandbild wurde tendenziell sogar eher schlechter als besser. Diese Entwicklung nahm die niederländische Regierung zum Anlass, ein Deutschlandprogramm zu entwickeln, in dessen Rahmen auch das DIA (Duitsland Instituut Amsterdam) gegründet wurde. Heute, fünfzehn Jahre später, hat sich die Lage völlig verändert. Deutschland und die Deutschen sind in den Niederlanden beliebter als jemals zuvor. Deutschland ist aus Sicht der meisten Niederländer ein stabiler demokratischer Rechtsstaat, dem man vertrauen kann und die Deutschen werden als ein offenes und herzliches Volk wahrgenommen. Wenn man internationalen Umfragen, zum Beispiel aus Anlass der Fußballweltmeisterschaft 2006, glauben darf, finden Niederländer Deutsche wesentlich sympathischer als z. B. Franzosen oder Polen. Darüber hinaus ist Deutschland seit 2006 das beliebteste Urlaubsziel der Niederländer. Wie kann man diese Trendwende erklären? Zunächst ist festzuhalten, dass Deutschland für die nationale Identität der Niederlande immer sehr wichtig gewesen ist. Deutschland war immer der negative Identifikationspunkt, oder wie

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Anthropologen es formuliert haben: „Der bedeutungsvolle Andere“. Schon der Vater des niederländischen Grundgesetzes Thorbecke hat im 19. Jahrhundert gesagt: „Wir sind Niederländer, weil wir keine Deutschen sind.“ Wie die meisten deutschen Nachbarländer waren die Niederländer immer stark auf Deutschland fixiert und standen dem Land gleichzeitig kritisch gegenüber. In den Niederlanden herrschte die Vorstellung, dass Deutschland zwar größer und reicher ist als die Niederlande, Letztere dafür aber moralisch überlegen sind. Den moralischen Zeigefinger zeigten die Niederlande immer dann gerne, wenn es um Themen wie den Radikalenerlass, Berufsverbote, Rechtsextremismus usw. ging. Anti-deutsche Gefühle konnten in der Vergangenheit immer mit dem Verweis auf den Zweiten Weltkrieg legitimiert werden. Der Krieg war nicht länger Ursache anti-deutscher Gefühle, er wurde hauptsächlich strategisch genutzt. Ab Mitte der 1990er Jahre erlebten die Niederlande eine wirtschaftliche Hochkonjunktur. Die Arbeitslosenzahlen waren niedrig und die Kaufkraft nahm schnell zu. Der deutschen Wirtschaft ging es dahingegen weniger gut. Das beeinflusste das bislang vorherrschende niederländische Bild vom reichen Nachbarn. Aus deutscher Perspektive wurden die Niederlande dahingegen immer mehr zum Vorbildland. Das Interesse am niederländischen Poldermodell sowie an niederländischer Literatur und Architektur nahm zu. Dieses zugenommene Interesse streichelte die niederländische Seele. Das Deutschlandbild wurde dann auch seit dem Ende der 1990er Jahre immer moderater. Ein zweiter Entwicklungsschub im Deutschlandbild wurde durch die Osterweiterung der EU ausgelöst. Im Zuge dieser fanden es viele Niederländer schwierig, sich weiterhin mit den anderen EU-Mitgliedsstaaten zu identifizieren. Die EU war nicht länger die gefühlte Familie; im Haus EU wohnten plötzlich viele Fremde. Das Gefühl der Überfremdung führte letztlich auch dazu, dass eine Mehrheit „Nein“ zum EU-Verfassungsvertrag sagte. Wie schon gesagt war Deutschland traditionell der negative Identifikationspunkt für die Niederländer. Im Zuge der Osterweiterung wurde Deutschland zu einem Land, das dem Eigenen als ähnlich empfunden wurde. Man sieht in Umfragen, dass dort, wo früher eher die Unterschiede genannt wurden, die Befragten jetzt dazu neigten, Ähnlichkeiten zu benennen. Der Krieg hat als Legitimation für anti-deutsche Gefühle endgültig seine Funktion verloren und wird deshalb auch kaum noch erwähnt. Dazu kam, dass das lang gehegte Gefühl moralischer Superiorität seit Srebrenica, Pim Fortuyn und Theo van Gogh an Überzeugungskraft eingebüßt hatte. Deutschland wurde ein Land, das die Niederländer schätzten, da es wenig anfällig für rechtsextreme Parteien und politischen Populismus war.

C. Die politischen Beziehungen Das politische Verhältnis zwischen den Niederlanden und Deutschland war, wie schon gesagt, generell immer gut. Die jeweiligen Säulen der nationalen Außenpoli-

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tik waren in beiden Ländern gleich: europäische Integration auf der einen Seite und transatlantische Beziehungen auf der anderen Seite. Die für die deutsche Außenpolitik weiterhin wichtige Säule nationaler Außenbeziehungen – das Verhältnis zu Frankreich – wurde von den Niederlanden akzeptiert, da sie von einer bilateralen Politik Deutschlands in Richtung der Niederlande begleitet wurde. Die anfänglichen Ängste der Niederlande, dass sich im Zuge der deutschen Wiedervereinigung auch die deutsche Politik ändern würde, erwiesen sich schnell als unbegründet. Es stellte sich heraus, dass in der deutschen Politik die Kontinuität vorherrschte. In der Mitte der 1990er Jahre beschloss die niederländische Regierung, die eigene Außen- und Europapolitik stärker auf Deutschland als der europäischen Zentralmacht zu konzentrieren. „Immer bei Deutschland einhaken“, war die Devise von Außenminister Ben Bot. Anschließen war aus zwei Gründen wichtig: Erstens hatte man den Eindruck, dass die nationalen Interessen der Niederlande eigentlich parallel zu denen Deutschlands verlaufen würden und zweitens wäre an der Seite Deutschlands die Chance auf Einflussnahme auf die europäische Politik größer als wenn man alleine stünde. In den 1990er Jahren haben Deutschland und die Niederlande auf europäischer Ebene intensiv zusammengearbeitet. Die besten Beispiele sind die monetäre Politik der EU und der Stabilitätspakt für den Euro. Gerade weil man in Den Haag davon ausging, dass die deutschen und niederländischen europapolitischen Ziele so gut wie deckungsgleich sind, befürwortete man eine stärkere Führungsrolle Deutschlands innerhalb der EU. Auf jeden Fall war Deutschland besser als Frankreich, und wenn das nicht ging, dann sollte kein Land eine Führungsrolle einnehmen. Die Niederlande hatten ab Mitte der 1990er Jahre mehr Angst vor einem zu schwachen Deutschland als vor einem zu starken. Da ohne Deutschland in Europa gar nichts läuft, war aus niederländischer Sicht ein schwaches oder zögerliches Deutschland schlecht für die europäische Integration. Während der Regierungszeit von Gerhard Schröder und Joschka Fischer änderte sich das Bild radikal. Vor allem in der zweiten Legislaturperiode misstrauten die Niederländer der deutschen Außenpolitik zutiefst. In Den Haag empfand man die deutsche Außenpolitik als extrem instabil und opportunistisch. Die Balance zwischen den zwei Pfeilern NATO / transatlantische Beziehungen und europäischer Integration war verschwunden. Mit Schröders Anti-Bush-Politik schien vielmehr eine Spannung zwischen der EU und den transatlantischen Beziehungen zu entstehen. Die Tatsache, dass Schröder nicht im Vorhinein mit den europäischen Partnern seinen Kurs in der Irak-Frage besprochen hatte, führte zu einem Vertrauensbruch. Den Haag war immer für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wusste jetzt aber, was „gemeinsam“ in der Praxis bedeutete. Aus Sicht der Niederlande handelte die Bundesrepublik unilateralistisch. Die Irakfrage blieb aus Sicht der Niederlande nicht das einzige Ärgernis der Amtszeit Schröders und Fischers. Seit 2002 wurde den Niederlanden das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich zu intim und exklusiv. Den deutsch-französischen

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Plänen für eine gemeinsame Verteidigungspolitik misstraute man und empfand sie als schädlich für die NATO. Man denke z. B. an den so genannten „Pralinengipfel“. Darüber hinaus vernachlässigte die rot-grüne Koalition die traditionelle bilaterale Politik gegenüber den kleinen Ländern. Die Konsultationen, die noch unter Kohl, Genscher und Kinkel üblich waren, fanden nicht mehr statt. Das Desinteresse von deutscher Seite an den Niederlanden war offenkundig. Deutsche Außenpolitik hatte sich von der gemeinsamen europäischen Politik zur Weltpolitik entwickelt. Auch der deutschen Russlandpolitik misstraute man in Den Haag. Die Verletzung des Stabilitätspaktes nahm man Berlin sehr übel, gerade weil der Stabilitätspakt als deutsch-niederländisches Projekt betrachtet wurde. Kurz gefasst: Deutschland war für die Niederlande nicht mehr ein Garant von Stabilität mit einer ausbalancierten Politik, sondern ähnelte jetzt mehr dem Bild eines Pendels. Als Angela Merkel als neue Bundeskanzlerin schon zu Beginn ihrer Amtszeit deutlich machte, dass sie den außenpolitischen Kurs der Bundesrepublik korrigieren würde, war man in Den Haag sehr erleichtert. Merkel stand für weniger Exklusivität bei der Achse Deutschland-Frankreich, für bessere transatlantische Beziehungen, für mehr Balance zwischen der NATO auf der einen und europäischen Initiativen auf der anderen Seite. Die Männerfreundschaft mit Putin hatte ein Ende. Stattdessen schenkte Merkel den kleinen Ländern mehr Aufmerksamkeit und stand für eine bessere Haushalts- und Währungspolitik. Das war das Deutschland, dass die Niederländer kannten und dem sie vertrauten. Schnell hörte man in Den Haag wieder Stimmen, die für eine deutsche Führungsrolle in Europa plädierten. Die Euphorie wurde nach der – als sehr erfolgreich betrachteten – deutschen EU-Ratspräsidentschaft noch größer. Man hoffte, dass Deutschland seine Rolle als Hirte, der die Schafsherde der Mitgliedsstaaten zusammenhält, wieder aufnehmen würde und den Machtkurs Schröders verlassen würde. Für die Niederlande ist wichtig, dass Deutschland in Europa für Disziplin sorgt und dafür, dass Absprachen (z. B. im Hinblick auf Haushaltsdefizite) auch eingehalten werden. Griechenland als Einzelfall kann Europa noch verkraften, aber wenn auch Deutschland nicht mehr diszipliniert ist, dann ist das Risiko groß, dass viele Länder mit den europäischen Regeln zu locker umgehen. Außerdem muss Deutschland aus niederländischer Sicht die Ideen des neuen französischen Staatspräsidenten Sarkozy, z. B. im Hinblick auf ein militärisches Kerneuropa, bremsen und dafür sorgen, dass französische außenpolitische Alleingänge verhindert werden. Diese Rolle für Deutschland klingt bescheidener, kann aber in der Praxis viel effektiver sein als die Außenpolitik der Vorgängerregierung Schröder / Fischer. Diese war letztlich außenpolitisch wenig erfolgreich: nicht im Mittleren Osten, nicht in Europa, nicht in der Irakkrise, bei den Vereinten Nationen oder in den transatlantischen Beziehungen. In den Niederlanden gibt es den Reklamespot einer Bank, bei dem es heißt: „Wir sind groß geworden, weil wir klein geblieben sind.“ Das ähnelt Merkels eigener

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Typisierung des Charakters ihrer Außenpolitik als selbstbewusste Bescheidenheit; bei Schröder war es eher: „The Rising Ambitions of a Nation in Decline“. Ich muss gestehen, dass die Euphorie über Angela Merkel nicht mehr so groß ist wie zu Beginn ihrer Amtszeit. Nach ihrem Blitzstart ist die Politik jetzt doch wieder sehr viel vorsichtiger geworden. Es geht wieder in Richtung einer Kultur der Zurückhaltung. Diese gilt beispielsweise beim Einsatz deutscher Truppen. Einerseits betont man die Zuverlässigkeit Deutschlands und das deutsche Engagement bei Friedensoperationen, andererseits zögert man in Berlin tatsächlich an der Frontlinie zu kämpfen, oder mehr als 1,2 Prozent des nationalen Haushaltes für Verteidigung auszugeben. Für die Niederlande sind Fragen wie: Wie weit will Deutschland sich in wie vielen Krisengebieten engagieren? von zentraler Bedeutung, da die Zahl der Krisengebiete, in denen ausländische Truppen eingesetzt werden müssen, ständig wächst. Nur wenige Länder sind bereit, sich noch mehr zu engagieren. Die Niederlande sind jedoch an einem ausgewogeneren burden sharing interessiert. Die deutsche Politik kennt noch immer ein hohes Maß an Verantwortungsgefühl, ohne das klar wird, wie weit man gehen will, um tatsächlich etwas abzuzwingen. Wenn Deutschland als Zentralmacht die Außen- und Europapolitik mitgestalten will, muss es auch bereit sein, die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen und Führungsverantwortung zu übernehmen. An beidem mangelt es im Moment. Abschließend noch einmal in Stichworten, was für eine Führungsrolle man in den Niederlanden von Deutschland erwartet: (1) Führung, und das heißt nicht Machtpolitik, sondern eine ehrliche Maklerrolle, eine Art europäischer Vertrauensmann. Ein Anwalt der kleinen Länder, mit einem konsensorientierten Stil. Gerade dann kann Deutschland eine Führungsrolle übernehmen. (2) Führung, das bedeutet auch ein Deutschland, das dafür sorgt, dass sich nicht andere Länder wie z. B. Frankreich die europäische Agenda zu eigen machen. (3) Deutschland als Hirte, der für Zusammenhalt sorgt, aber auch für Disziplin, denn sonst kommt das europäische Projekt wirklich in Gefahr. (4) Ein Deutschland, das europäische Außenpolitik nicht als nationale Interessenpolitik betrachtet, so wie z. B. Frankreich. (5) Deutschland soll beitragen zu einer balancierten europäischen und transatlantischen Politik.

Deutschland, der Jongleur: Zur Versöhnung divergenter Strategien in der deutschen Nahostpolitik Von Joseph Kostiner und Erik Schechter* Von Ägypten über Israel bis zum Irak ist der Nahe Osten nach wie vor mit dem überwältigenden Einfluss amerikanischer Politik konfrontiert. Diese diplomatische Hegemonie grenzt wiederum den Handlungsspielraum anderer Staaten in der Formulierung ihrer eigenen Außenpolitik gegenüber dieser Region ein. Deutschland ist ein Beispiel für ein Land, das versucht, seinen eigenen Weg innerhalb der von den Vereinigten Staaten – und zu einem geringeren Grad von der Europäischen Union – aufgestellten Rahmenbedingungen zu finden. Deutschland verfolgt hierbei unterschiedliche Strategien mit unterschiedlichen Akteuren. Die Bundesrepublik pflegt eine Sonderbeziehung zu Israel, sie hält sich an eine Ausgewogenheit gegenüber den Palästinensern, sucht einen kritischen Dialog mit dem Iran sowie Stabilität im Libanon. Seit den 1990er Jahren hat diese Politik einige positive Ergebnisse verzeichnen können; nicht selten wurde sie aber von lokalen Akteuren durchkreuzt. Insgesamt arbeiten die divergenten außenpolitischen Strategien Deutschlands einander ergänzend aufeinander zu. A. Zu den Handlungsprinzipien I. Palästinenser

Die Politik Deutschlands gegenüber den Palästinensern gründet im Prinzip bzw. in der Strategie der Ausgewogenheit, die 1969 unter der Regierung Brandt eingeführt wurde und 1980 in der Erklärung von Venedig kulminierte, in der den Palästinensern das Recht auf Selbstbestimmung zuerkannt wurde.1 Die 1993 im * Übersetzung Jared Sonnicksen. 1 Artikel 6 der Erklärung von Venedig legt fest, dass: „A just solution must finally be found to the Palestinian problem, which is not simply one of refugees. The Palestinian people, which is conscious of existing as such, must be placed in a position, by an appropriate process defined within the framework of the comprehensive peace settlement, to exercise fully its right to self-determination.“ Das Dokument nennt die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als einen notwendigen Verhandlungspartner für jedwedes Friedensabkommen, ein palästinensischer Staat wird dabei aber nicht explizit erwähnt.

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Osloer Friedensprozess (Oslo I) von Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation unterzeichnete Erklärung bot die Gelegenheit für Deutschland, diese Politik im Einvernehmen mit Israel zu betreiben. Danach nahmen z. B. Schweden und Deutschland im Jahr 1994 als erste Länder diplomatische Beziehungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) auf.2 Seit 1994 haben die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten mehr als vier Milliarden Euro der PA und einigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Westjordanland und Gazastreifen bereitgestellt. 3 Unter den EU-Mitgliedstaaten ist die Bundesrepublik bisher die größte bilaterale Geldgeberin. Sie unterstützte finanziell u. a. Verwaltungskörperschaften der PA, Industrieparks, Verkehrs- und Wasserprojekte. Die im Jahr 1960 zwischen dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem israelischen Premierminister David Ben-Gurion getroffene Vereinbarung, wonach Deutschland nicht-reparationenbezogene Finanzhilfe (in der Höhe von 140 Mio. DM jährlich) zahlte, wurde sogar schrittweise eingestellt bzw. an palästinensische und jordanische Infrastrukturprojekte übertragen.4 In der Berliner Erklärung von 1999 forderte die EU – deren rotierende Ratspräsidentschaft von Deutschland bzw. von Außenminister Joschka Fischer geführt wurde – einen explizit demokratischen, existenzfähigen, friedlichen und souveränen palästinensischen Staat. Neben der politischen Anerkennung und der finanziellen Unterstützung für die Palästinenser hat die EU im Jahre 2005 Beobachter sowohl für die Wahlen in der PA als auch für die Grenzkontrolle bei Rafah zwischen Gaza und Ägypten entsandt. Deutschland leistet zusätzlich einen Beitrag durch die Ausbildung von Polizisten im Programm EU COPPS, das 2005 aufgewertet und in EUPOL COPPS umbenannt wurde.5 Wie der Name andeutet, geht mit der Politik der Ausgewogenheit ein politischer Balanceakt in der – zumindest angestrebten – gleichwertigen Berücksichtigung palästinensischer und israelischer Interessen einher. Dies zeigt sich darin, dass die Bundesrepublik (zusammen mit Großbritannien und Italien) 2002 das vom Europäischen Parlament geforderten Waffenembargo gegen Israel ablehnte6, während 2 Friedemann Buettner, Germany’s Middle East Policy: The Dilemmas of a ,Policy of EvenHandedness‘ (Politik der Ausgewogenheit), in: H. Goren (Hrsg.), Germany and the Middle East: Past, Present and Future. (Hebrew University: Jerusalem, 2003), S. 156. 3 Rijk van Dam, Anti-Israeli Bias in the European Parliament and Other EU Institutions, in: M. Gerstenfeld (Hrsg.), European-Israeli Relations: Between Confusion and Change? (Jerusalem Center for Public Affairs, the Adenauer Foundation and Manfred Gerstenfeld Jerusalem, 2006), S. 81. 4 Buettner, S. 156. 5 Shlomo Shpiro, European Peacekeeping and Observer Operations in the Middle East, in: R. Nathanson / Stephan Stetter (Hrsg.), The Middle East Under Fire?: EU-Israel Relations in a Region Between War and Conflict Resolution (Friedrich-Ebert-Stiftung: Israel, 2007), S. 57 – 58. 6 Pól ó Dochartaigh, Philo-Zionism as a German Political Code: Germany and the IsraeliPalestinian Conflict Since 1987, Debatte: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe, Volume 15, No. 2 (August 2007), S. 240.

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sie 2002 den Verkauf von Fuchs-Transportpanzern verweigerte, sowie 2004 die Lieferung von Merkava-Panzerteilen und Dingo II-Allschutztransportfahrzeugen verzögerte, um die israelische Armee daran zu hindern, diese Fahrzeuge während der Aqsa-Intifada in den umkämpften Gebieten einzusetzen. Im Jahre 2004 unterstützte Deutschland den Widerstand der EU gegen den Bau der israelischen Sperranlagen im Westjordanland.7 Die Aufrechterhaltung enger Beziehungen zu Israel und den Palästinensern erlaubt es Deutschland, einen – wenngleich geringen – Einfluss auf den Friedensprozess auszuüben. So konnte Joschka Fischer 2001 den PA-Präsidenten Yasser Arafat dazu bewegen, öffentlich den Bombenanschlag vor einer Diskothek in Tel Aviv, bei dem 21 Jugendliche umkamen, zu verurteilen. Dies hielt den israelischen Premierminister Ariel Scharon wiederum von der Anordnung eines militärischen Gegenschlags ab.8 Während der Aqsa-Intifada verfasste Joschka Fischer ein inoffizielles Arbeitsdokument mit Empfehlungen zur Wiederbelebung des zum Stillstand gekommenen Friedensprozesses (z. B. durch Anerkennung eines palästinensischen Staates mit provisorischen Grenzen). Obwohl Letzteres sich nicht durchsetzte, wurden einige seiner Vorschläge in den von der EU mitkontrollierten „Friedensfahrplan“ (Roadmap for Peace) aufgenommen.9 Neben ihrer langjährigen Unterstützung für Selbstbestimmung und ihrer Ablehnung von Gewaltanwendung als Konfliktlösungsmittel hat die Bundesrepublik Deutschland ein starkes Interesse an einem Erfolg im palästinensischen-israelischen Friedensprozess, denn dieser würde: (a) die Sicherheit Israels garantieren, (b) die Ausbreitung des Konfliktes nach Europa, entweder in Form des Terrorismus oder durch zusätzliche arabische Flüchtlinge, verhindern und (c) den sicheren und leichten Zugang zum nahöstlichen Öl und zu regionalen Märkten ermöglichen.10

II. Libanon

Die Europäische Union betrachtet die Hisbollah – eine von Iran aus unterstützte libanesische schiitische Miliz – nicht als terroristische Organisation und Deutschland führte keine eigenständige Liste verbotener Organisationen. Insofern war Deutschland seit Mitte der 90er Jahre in der Lage, mehrmals Gefangenaustausche zwischen Israel und der Hisbollah zu fördern. Zum Beispiel spielte Deutschland 1996 eine unterstützende Rolle als Israel und seine Südlibanesische Armee (SLA) 7 Paul Belkin, Germany’s Relations with Israel: Background and Implications for German Middle East Policy, CRS Report for Congress (January 19, 2007), S. 9. 8 Buettner, S. 157. 9 Martin Beck, German Foreign Policy Towards the Middle East in the 1990s and Beyond, Orient 3:2004, S. 411; along with the US, UN and Russia, the EU is part of the Quartet. 10 Christian Sterzing / Jörn Böhme, German and European Contributions to the Israeli-Palestinian Peace Process, in: V. Perthes (Hrsg.), Germany and the Middle East (German Institute for International and Security Affairs: Berlin, 2002), S. 38.

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mehr als 100 Leichen und mehr als 40 Kriegsgefangene gegen zwei zehn Jahre zuvor getötete israelische Soldaten austauschte.11 Deutschland hat auch versucht, den Verbleib des vermissten Navigators der israelischen Luftstreitkräfte, Ron Arad, zu ermitteln, der 1986 über dem Libanon abgestürzt war.12 Das Engagement Deutschlands in solchen Fällen lässt sich auch als Teil einer breiter aufgefassten humanitären, nicht-militärisch orientierten Politik betrachten.13 Jedoch bleibt offen, ob hinter diesen Bemühungen ein anderes Ziel stand, nämlich das, zu zeigen, dass Deutschland gegenüber Kritikern in Israel und den USA belegen kann, dass die Aufrechterhaltung eines kritischen Dialogs mit Iran (und seinen militärischen Verbündeten im Libanon) mehr als nur den eng gefassten nationalen Interessen Deutschlands dienen könnte. Wie dem auch sei, Deutschland erweiterte seinen Politikansatz im Libanon und fokussierte stärker auf die allgemeine Stabilität im Lande, insbesondere nach dem Krieg im Jahre 2006. Erstens unterstützte Deutschland die UNO-Resolution 1701, die den Konflikt erstmal beendete und von der libanesischen Regierung zum ersten Mal seit Jahrzehnten verlangte, ihre Truppen im Süden des Landes zu stationieren. Zweitens unternahm die Bundesrepublik Maßnahmen zur politischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung des kleinen und zerbrechlichen Landes. Das Interesse Deutschlands am Libanon entstammt seiner Unterstützung für die UNO sowie ihrem multilateralen Konfliktlösungsansatz. Über die Stabilisierung des Libanon versucht Deutschland, wie bei seiner Politik gegenüber den Palästinensern, auch die Gunst der arabischen Welt zu bekommen (deren konservative sunnitische Regierungen insgesamt alles andere als begeistert über die Provozierung eines Krieges im Nahosten durch die pro-iranisch schiitische Miliz waren); die Übertragung des Konfliktes nach Europa zu vermeiden; und Israel bei der Auseinandersetzung mit einem problematischen Nachbarn zu helfen.14

11 Israel, Hezbollah Complete Swap, Talk of More Cooperation, CNN, July 22, 1996 hhttp: // edition.cnn.com / WORLD / 9607 / 22 / israel.lebanon / index.htmli (October 6, 2008). 12 For example, in 1995, Germany is said to have mediated a secret meeting about Arad between Israeli and Iranian diplomats (see Kathryn Westcott, Mid-East Success for German Diplomacy, BBC News Online, January 28, 2004 hhttp: // news.bbc.co.uk / 2 / hi / middle_ east / 3438287.stmi (October 6, 2008)]. In 2004, the Germans gave the Israelis bones, obtained from the Hizbullah and thought to be from Arad. However, they were not his. [Aluf Benn, Bones Sent to Israel by Hezbollah are Not Ron Arad’s, Haaretz, February 3, 2004 hhttp: // www.haaretz.co.il / hasen / pages / ShArt.jhtml?itemNo=390009&contrassID=1i (October 6, 2008)]. 13 Josef Joffe, Germany’s mission is humanitarian, Interview in Bitter Lemons (Edition 7, Volume 2) February 19, 2004 hhttp: // www.bitterlemons-international.org / previous.php?opt= 1&id=28#114i (October 6, 2008). 14 Muriel Asseburg, UN Resolution 1701, UNIFIL-2 and the ,New Greater Middle East Project‘ – a German Perspective, UN Resolution 1701: Horizons and Challenges (The Cultural Movement – Antelias and Friedrich-Ebert-Stiftung, Lebanon: March 2007) hhttp: // www. swp-berlin.org / common / get_document.php?asset_id=3891i (October 19, 2008).

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III. Iran

Im Jahr 1989 starb Ajatollah Ruhollah Khomeini und Ali Akbar Hashemi Rafsandschani wurde Präsident der Islamischen Republik. Dieser Wechsel sowie die Nichteinmischung Irans im ersten Golfkrieg wurden von einigen als Zeichen dafür gewertet, dass die Islamische Republik ihrem revolutionären Eifer langsam entwachsen sei. Im Oktober 1990 wurden wirtschaftliche Sanktionen gegen den Iran von der EU aufgehoben; der Iran hat sogar bis 1991 zu der Befreiung westlicher Geiseln im Libanon beigetragen. Zudem genehmigte Rafsandschani einem UNOSonderbeauftragten für Menschrechte die Einreise in den Iran.15 Darauf folgte die deutsche Politik des kritischen Dialogs, die später in „aktive Einwirkung“ umbenannt wurde. Diese Politik zielte darauf ab, die Gemäßigten in der iranischen Politik zu stärken und das Land wieder in die Weltgemeinschaft der menschenrechtskonformen Staaten einzubringen. Hier spielten wirtschaftliche Interessen in der Unterstützung eines kritischen Dialogs mit Iran sicherlich eine Rolle, aber der Einfluss des Faktors Wirtschaft soll nicht überbetont werden. „Among the 200 countries having a trade relationship with Germany, Iran ranks in position 45 with respect to exports, and in position 49 with regard to imports“, bemerkte ein deutscher Analytiker in den 1990ern.16 Der kritische Dialog sollte gewissermaßen zu einer Art Ostpolitik für den Nahen Osten werden, die für viele Deutsche als ein großer Erfolg im Kalten Krieg gilt. Diese Politik setzte sich jedoch über die neue amerikanische Politik der doppelten Eindämmung (Dual Containment) hinweg, die 1994 initiiert wurde und die die ältere Mächtegleichgewichtspolitik ersetzen sollte, bei der der Iran und der Irak gegeneinander gestellt bzw. ausgespielt wurden. Die Bundesrepublik verfolgte dennoch weiterhin die Politik des kritischen Dialogs bis 1997, als ein Berliner Gericht entschied, dass der Mord an drei iranischkurdischen Dissidenten im Restaurant Mykonos fünf Jahre zuvor von Teheran aus angeordnet worden war. Somit wurde eine diplomatische Krise entfacht, bei der vier deutsche Diplomaten aus dem Iran ausgewiesen wurden und die EU anschließend ihre Botschafter aus dem Iran abbestellte. Im Mai desselben Jahres wurde dann Mohammad Chatami Präsident und in den darauf folgenden Jahren bemühte er sich um eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen und besuchte 2000 die Bundesrepublik. Der Dialog wurde fortgesetzt, bis 2004 eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Attentate in Berlin ausgestellt wurde. Trotz der Höhen und Tiefen in den deutsch-iranischen Beziehungen sind die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den beiden Ländern nicht nur stabil, son15 V. Matthias Struwe, The Policy of Çritical Dialogue‘: An Analysis of European Human Rights Policy towards Iran from 1992 to 1997, Master’s Thesis, July 1998, S. 15 – 17, hhttp: // eprints.dur.ac.uk / archive / 00000142 / 01 / 60DMEP.pdfi (October 6, 2008). 16 Peters Rudolph, Managing Strategic Divergence: German-American Conflict Over Policy Towards Iran, The Iranian Dilemma Challenges for German and American Foreign Policy (Johns Hopkins: Washington), April 21, 1997, S. 14.

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dern auch relativ stark geblieben. Deutschland verbuchte z. B. 2006 5,7 Milliarden US-Dollar aus dem Handel mit der Islamischen Republik. Mit beinahe 5000 Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen mit dem Iran pflegen, ist Deutschland der wichtigste europäische Handelspartner für den Iran geworden. Der Umfang dieser Handelsbeziehungen zeigt sich darin, dass zwei Drittel der gesamten iranischen Industrie auf technische Produkte aus Deutschland angewiesen ist.17 Dies sollte Deutschland theoretisch die Möglichkeit für größeren Einfluss auf den Iran geben, aber dieser EU-Mitgliedstaat weigert sich nach wie vor, jegliche strengere Sanktionsmaßnahmen zur Herbeiführung eines Politikwechsel im Iran zu unterstützen. IV. Israel

Über die Zahlung von drei Milliarden DM an Holocaust-Reparationen im Zuge der Wiedergutmachung hinaus versucht Deutschland im Rahmen seines Einsatzes für das israelische Volk seit dem Zweiten Weltkrieg die Interessen Israels zu schützen. Im Dezember 1994 z. B. unterstützte die Bundesrepublik Israel wirtschaftlich, indem sie Israel einen „privilegierten Status“ mit der Europäischen Union zusicherte. Ebenfalls war Deutschland der einzige EU-Mitgliedstaat, der die im März und im April 1997 von der UNO-Generalversammlung erlassenen Resolutionen, die die Siedlungsaktivitäten Israels rügen sollten, nicht unterstützt hat. Diese umstrittene Position wurde zum Diskussionsgegenstand während des Ägyptenbesuchs von Außenminister Klaus Kinkel im Mai desselben Jahres.18 Der Holocaust übt eine geringere emotionale Wirkung auf die jüngere Generation deutscher Politiker aus als dies beispielsweise noch bei dem verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau der Fall war.19 (Sogar während der Regierung des durchaus gemäßigten Premierministers Shimon Peres kamen vermehrt Forderungen nach einem kritischeren Einsatz gegenüber Israel auf. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, forderte etwa im September 1996, dass die Finanzhilfe an den israelischen Staat an die Bedingung eines echten Einsatzes für den Frieden seitens Israels gekoppelt werden müsse).20 Neben dem Generationswechsel ist die deutsche Gesellschaft dabei, multi-ethnischer zu werden, womit die Last der Geschichte verhältnismäßig weniger wiegt. Nicht zuletzt werden auch die aus dem Holocaust gezogenen Lehren heute neu interpretiert. Neulich haben 25 deutsche Akademiker postuliert, dass die Palästi17 Vgl. Benjamin Weinthal, Germany’s Iranian Secret, Haaretz, October 23, 2007, hhttp: // www.haaretz.com / hasen / spages / 912104.htmli (October 6, 2008). 18 Udo Steinbach, German Foreign Policy and the Middle East: In Quest for a Concept, in: H. Goren (Hrsg.), Germany and the Middle East: Past, Present and Future, S. 91 – 93. 19 Volker Perthes, Germany, the Mediterrenean, and the Middle East: Approaching the Region through Europe, in: H. Goren (Hrsg.), Germany and the Middle East: Past, Present and Future, S. 168. 20 Udo Steinbach, German Foreign Policy and the Middle East: In Quest of a Concept, in: H. Goren (Hrsg.), Germany and the Middle East: Past, Present and Future, S. 92.

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nenser verkappte, sekundäre Opfer von Hitler seien – und, dass sich Israel wegen des Holocausts im Recht wähnt, egal was es tue und deshalb Israel stärker in die Schranken gewiesen werden müsse.21 Dennoch – trotz des Generations- und Interpretationswechsels, trotz des demographischen Wandels – wird kein gegenwärtiger deutscher Politiker in den Verdacht kommen wollen, er unterstütze eine Politik, die Israel oder jüdische Menschen gefährden könnte.22 Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Reparationsabkommens (1952) begann Westdeutschland heimlich, militärische Hilfe an Israel zu liefern. Diese Transfers dauerten bis 1964 an, bevor sie von der regionalen Presse aufgedeckt wurden, was einen Aufruhr in der arabischen Welt auslöste und die Bonner Regierung dazu veranlasste, die Lieferungen einzustellen. 23 Drei Jahre später es jedoch zur erneuten militärisch-relevanten Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern, als sie sich über technische Daten aus der Sowjetunion austauschten, die Israel während der arabisch-israelischen Kriege erfasst hatte.24 Die Öffnung des Eisernen Vorhangs und die Auflösung des kommunistischen Blocks eröffneten neue Möglichkeiten für die Sicherheitszusammenarbeit zwischen Israel und dem wiedervereinigten Deutschland. Im Jahr 1991 entdeckte die Polizei in Hamburg z. B. eine illegale Operation des BND, bei der Waffen aus der DDR an Israel hätten geliefert werden sollen. Von dem Vorfall unbeeindruckt lud die deutsche Luftwaffe kurz danach die IAF (Israeli Air Force) offiziell ein, den Tests von MiG-28 Kampfflugzeugen beizuwohnen.25 Darüber hinaus trugen die gemeinsamen Arbeiten an alt-sowjetischen Waffen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zur Entwicklung der israelischen Python-4 sowie der deutschen IRIS-T Luft-Luft-Lenkwaffen bei.26 Nach Veröffentlichung von blamablen Berichten, nach denen Deutschland bei der Bewaffnung Saddam Husseins mitgewirkt haben soll, veranlasste die Bundesrepublik 1991 den Bau zweier Dolphin-U-Boote sowie die Lieferung einer Batterie Patriot-Flugabwehrraketen als Teil ihres 1,2 Milliarden DM Nothilfepaketes für Israel. Vier Jahre danach wurde der Bau eines dritten Dolphin-U-Bootes bestellt. Die 1999 bzw. 2000 gelieferten U-Boote wurden mit modifizierten Torpedoröhren (à 660 mm und 533 mm) ausgestattet, womit Israel die Kapazität zum Abfeuern von Torpedos mit Atomsprengköpfe erreichte.27 Obwohl diese und spätere U-Boot21 Cnaan Liphshiz, German Intellectuals: Israel’s Creation Made Palestinians Victims of Holocaust, Haaretz, February 19, 2008 hhttp: // www.haaretz.com / hasen / pages / ShArt. jhtml?itemNo=955766&contrassID=1&subContrassID=1i (October 6, 2008). 22 Perthes, S. 168 – 170. 23 Belkin, S. 5. 24 Christopher Steinmetz, German-Israeli Armaments Cooperation (Berlin InformationCenter for Transatlantic Security), Nov. / Dec. 2002 hhttp: // www.bits.de / public / articles / cast06-02.htmi (October 6, 2008). 25 Shlomo Shpiro, German-Israeli Security Cooperation, in: H. Goren (Hrsg.), Germany and the Middle East: Past, Present and Future, S. 326. 26 Steinmetz. 27 Ibid.

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Lieferungen von der Partei der Grünen aus Gründen der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen abgelehnt wurden,28 kann trotzdem festgehalten werden, dass diese Boote keine negative Wirkung auf die Palästinenser in ihren Gebieten hatten. Generell, um ein Waffengeschäft von Deutschland aus zu verhindern, müssen die Gegner eine unmittelbare Verbindung zu gegenwärtigen Menschenrechtsverletzungen in dem Abnehmerland herstellen. Bei den meisten Geschäften im Bereich der Marine lässt sich eine solche Verbindung nicht finden, was zu der Grundeinstellung bei Exportgenehmigungen geführt hat, dass „anything that floats is alright.“29 Und während der 1990er Jahre verkaufte Deutschlande Motoren an die israelische Marine für ihre Saar-Raketen und Super Dvora Patrouillenboote.30 Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich beruht jedoch auf Gegenseitigkeit. Als der fünftgrößte Waffenexporteur der Welt verkauft Israel auch hoch entwickelte Rüstungsgüter an Deutschland. Im Jahr 2004 traf der Waffenriese Rheinmetall Defence Electronics GmbH eine Vereinbarung mit der Israel Aerospace Industries (IAI), die deutsche Panzer mit dem LAHAT Raketensystem ausrüsten sollte.31 Zwei Jahre später erwarb Elbit einen Auftrag zur Lieferung von Thermografen und Laserscannern an deutsche Truppen.32 Und 2007 verbanden Rheinmetall und Israel Aerospace Industries die von der Bundeswehr genutzte unbemannte Drohnentechnik mit der israelischen loitering munition und schufen so ein neues Überwachungs- und Angriffssystem UAV (unmanned area vehicles) Verbundsystem.33

B. Deutsche Theorie trifft Nahostrealität Im Folgenden wird auf die Herausforderungen eingegangen, vor denen Deutschland steht, insbesondere bei der Pflege seiner Sonderbeziehungen zu Israel, der ausgewogenen Haltung gegenüber den Palästinensern, beim kritischen Dialog mit dem Iran und bei den stabilitätsbildenden Maßnahmen im Libanon. Diese Politiken haben einerseits z. T. positive Ergebnisse hervorgebracht; andererseits wurden sie z. T. von regionalen Akteuren vereitelt. Insgesamt laufen sie jedoch aufeinander zu. 28 Ibid., Weapons of Mass Destruction (WMDs): Submarines, Global Security (n / d), hhttp: // www.globalsecurity.org / wmd / world / israel / sub.htmi (October 6, 2008). 29 Christian Sterzing, German Arms Exports: A Policy Caught Between Morality and National Interest, in: V. Perthes (Hrsg.), Germany and the Middle East, S. 173. 30 Steinmetz. 31 Rheinmetall Defence Electronics and IAI Missiles Division Sign Principles of Cooperation for Leopard 1 / 2 MBT, company press release, June 16, 2004 hhttp: // www.rheinmetalldetec.de / index.php?lang=3&fid=2487i (October 3, 2008). 32 Elbit Systems’ Subsidiary Elop Will Supply Portable Lightweight Designator / Rangefinder to the German Armed Forces, company press release, November 5, 2006, hhttp: // www.elbitsystems.com / data / ESLT_GAF.pdfi (October 3, 2008). 33 IAI and Rheinmetall Defence Team Up for Reconnaissance and Strike Systems for the Bundeswehr, company press release, June 28, 2006 hhttp: // www.rheinmetall-detec.de / index. php?lang=3&fid=4128i (October 3, 2008).

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In der Tat wird – angesichts der Verflochtenheit politischer Probleme im Nahen Osten – selten eine spezifische außenpolitische Maßnahme isoliert konzipiert oder ohne Wirkung auf eine andere Gruppe sein. Insofern ist die folgende Aufteilung zu einem gewissen Grad beliebig, dient jedoch der Übersichtlichkeit. I. Israel

In den frühen bis mittleren 2000er Jahren widmete sich Deutschland drei Problemen von großer Relevanz für Israel: (1) der terroristischen Bedrohung (die beispielsweise von einigen palästinensischen Gruppen wie der Hamas, aber auch von der libanesischen schiitischen Miliz Hisbollah ausging); (2) dem laufenden Nuklearprogramm im Iran, einem Erzfeind Israels und (3) der radikalen Rhetorik des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad –, der den Holocaust als „Mythos“ bezeichnete und die Tilgung Israels von der Weltkarte forderte. Die Positionen, die Deutschland einnahm, entsprachen jedoch zum größten Teil denen der anderen westlichen Staaten. Im Mai 2002 erklärte die EU, dass der bewaffnete Flügel des Hamas – die Izzadin al-Qassem-Brigaden – eine terroristische Gruppe sei. Der politische Flügel der Bewegung blieb jedoch weiterhin legal bis zum August 2003, als Deutschland mit der Unterstützung Großbritanniens und den Niederlanden Frankreich überreden konnte, seine Ablehnung gegen das umfassende Verbot der Hamas aufzugeben.34 (Deutschland hatte ein Jahr davor von sich aus eine dort ansässige, mit der Hamas verbundene Wohltätigkeitsorganisation geschlossen). Zudem unterstützte die Bundesrepublik Großbritannien und die Tschechische Republik im August 2006 dabei, eine EU-Verurteilung der Einsätze der israelischen Streitkräfte gegen die Milizen im Gazastreifen zu blockieren.35 Dagegen ist das Verhalten Deutschlands gegenüber der Hisbollah bis jetzt eher ambivalent gewesen. Genau wie die EU weiterhin zögert, die iranisch unterstützte Miliz als terroristische Organisation zu bezeichnen, hat Deutschland bis jetzt wenig getan, um die wachsende Präsenz von Anhängern der Hisbollah dort zu verhindern.36 (Zum Beispiel wurde ein arabischer Medizinstudent im August 2008 von israelischen Behörden gefasst, der mutmaßlich von einem Agenten der Hisbollah, der eine Wohltätigkeitsorganisation in Niedersachsen leitet, rekrutiert wurde.37) Nichtsdestoweniger hat Deutschland – mit Großbritannien zusammen – 34 Ian Black, EU to Ban Hamas Political Wing, The Guardian, September 8, 2003, hhttp: // www.guardian.co.uk / world / 2003 / sep / 08 / eu.israeli (October 6, 2008). 35 Belkin, S. 9. 36 Benjamin Weinthal, Germany: A Hotbed of Hizbullah Activity, The Jerusalem Post, August 7, 2008, hhttp: // www.jpost.com / servlet / Satellite?pagename=JPArticle%2FShowFull &cid=1215331214512i (October 6, 2008). 37 Yaakov Katz / Yaakov Lappin, Israeli Student Indicted for Aiding Hizbullah, The Jerusalem Post, August 6, 2008, hhttp: // www.jpost.com / servlet / Satellite?cid=1215331206199& pagename=JPost%2FJPArticle%2FShowFulli (October 6, 2008).

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einen vorzeitigen Waffenstillstand während des Zweiten Libanonkriegs 2006 abgelehnt, was Israel mehr Zeit verschaffte, libanesische Milizen zu bekämpfen.38 Neben dem Terrorismus hat Deutschland sich auch mit der problematischen Entwicklung des iranischen Nuklearprogramms auseinandersetzen müssen. Im Februar 2003 stellten Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) fest, dass während der letzten 18 Jahre das Land ein heimliches Programm zur Urananreicherung und Plutoniumspaltung betrieb – ein wichtiger Schritt, um Nuklearwaffen herstellen zu können. Nach Veröffentlichung dieses Befundes nahmen die E3 der EU (Deutschland, Großbritannien und Frankreich mit dem Ratsgeneralsekretär der EU Javier Solana) Verhandlungen mit dem Iran auf und im Oktober desselben Jahres bewegten sie den Iran dazu, den Anreicherungsprozess zunächst freiwillig zu stoppen. Anfangs schien der Iran an einer Zusammenarbeit interessiert zu sein, aber im Juli 2005 wurde der Hardliner Mahmud Ahmadinedschad zum Präsidenten des Iran gewählt. Einen Monat später lehnte die Islamische Republik ein lukratives Angebot der E3 / EU ab, wonach ein Handelsabkommen zwischen dem Iran und Europa und eine Garantie für den Iran auf Zugang zu nuklearem Brennstoff für die zivile Nutzung vereinbart worden wäre. Im Gegenzug hätte der Iran lediglich die Anreicherung von Uran einstellen und versprechen müssen, den Nichtverbreitungsvertrag (1968) nicht aufzukündigen. Durch die Ablehnung dieses Angebots entgleiste der Verhandlungsprozess zwischen den E3 / EU und dem Iran. Im September 2005 wurde eine Resolution der IAEA von den Europäern mitverfasst, in der die Politik Irans gerügt wurde – worauf Ahmadinedschad mit einer Wiederaufnahme der Urananreicherung antwortete. Im Februar 2006 bekräftigte Kanzlerin Merkel öffentlich, dass die Welt den Iran an dem Bau einer Nuklearbombe hindern müsse. Ein Jahr später wurde ein iranischer Diplomat aus Deutschland ausgewiesen, weil er versuchte, ein für den Urananreicherungsprozess wichtiges Bauteil zu kaufen. Iran antworte mit der Ausweisung eines deutschen Diplomaten.39 Im August 2006 trafen Israel und Deutschland eine Vereinbarung über den Kauf zweier Dolphin U-Boote für 1,3 Milliarden US-Dollar – wovon ein Drittel die Bundesrepublik zahlen würde. Dieser Vereinbarung zufolge hätte Israel dann insgesamt fünf für das Abfeuern von Nuklearraketen modifizierte Dolphin-U-Boote. Sicherheitsanalytiker werteten diesen Rüstungskauf als deutsche Hilfsmaßnahme gegenüber Israel, damit Letztere ihre Zweitschlagkapazität angesichts der wachsenden Bedrohung durch den Iran ausbauen konnte;40 wobei andere Experten beBelkin, S. 9. Iran Expels German Diplomat, Associated Press, January 6, 2008, hhttp: // www.iht. com / articles / 2008 / 01 / 06 / africa / iran.phpi (October 6, 2008). 40 Ramit Plushnick-Masti, Israel Buys 2 Nuclear-Capable Submarines, August 25, 2006, hhttp: // www.washingtonpost.com / wp-dyn / content / article / 2006 / 08 / 24 / AR2006082401050. htmli (October 6, 2008). 38 39

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zweifelten, dass die israelische Marine mit ihren U-Booten überhaupt in die Nähe des Persischen Golfs kommen könnte.41 Seit Dezember 2006 hat der UNO-Sicherheitsrat mittlerweile gegen den Iran dreimal Sanktionen verhängt, die sich gegen Banken, Technologie mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-use), hohe Regierungsvertreter und militärische Industrien richteten.42 Jedoch bewirkten diese Maßnahmen kaum mehr als ein „blaues Auge“, denn sie haben weder den Iran behindert, noch Israel hinreichend beruhigt. Letzteres glaubt, dass das iranische Programm immer näher an den „point of no return“ – wo Eskalation unausweichlich wird – gelangt und hat schon eine mutmaßliche Nuklearreaktorstätte in Syrien bombardiert. Die Bundesrepublik ist gegen einen Angriff gegen den Iran43, aber es ist nach wie vor unsicher, wie sie den Bau einer iranischen Atombombe verhindern will. Deutschland fällt es im Gegensatz leicht, die beleidigenden Anmerkungen Ahmadinedschads abzuwehren. Im Oktober 2005 hielt der iranische Präsident eine Rede bei einer Teheraner Konferenz, „Die Welt ohne Zionismus“, in der er forderte, dass Israel aus den „Geschichtsbüchern eliminiert werden“ müsse. Dieses wiederverwertete Zitat des verstorbenen Ajatollah Chomeini wurde in den offiziellen iranischen Medien als „Israel müsse von der Weltkarte getilgt werden“ übersetzt. In Antwort darauf verurteilten Deutschland und andere westliche Regierungen die Bemerkungen; das Europäische Parlament nahm im November eine Resolution an, in der der Präsident aufgefordert wurde, den Staat Israel anzuerkennen. Dessen ungeachtet wetterte der iranische Regierungschef einen Monat später, dass der Holocaust nur ein Mythos sei. Er schlug anschließend vor, dass Israel nach Europa oder Nordamerika versetzt werden solle. Wieder erntete Ahmadinedschad heftige Kritik aus der internationalen Gemeinschaft. Der deutsche Außenminister bezeichnete diese Verhetzung als erschreckend und unhinnehmbar.44 Freilich stellte dies keinen Einzelfall dar. Einige iranische Führungspersonen haben bereits in der Vergangenheit mit dem Feuer der Holocaust-Leugnung oder der Androhung einer Auslöschung Israels gespielt. Im Dezember 2000 bezeichnete der Ajatollah Ali Chamenei den jüdischen Staat als „Krebstumor“, der aus der Region herausoperiert werden müsse.45 Eineinhalb Jahre danach bezichtigte er die 41 Dan Williams, Could Israel use submarines against Iran? Reuters, April 17, 2008, hhttp: // www.reuters.com / article / latestCrisis / idUSL1184543i (October 3, 2008). 42 Howard LaFranchi, UN Security Council Passes More Sanctions Against Iran, The Christian Science Monitor, hhttp: // www.csmonitor.com / 2008 / 0304 / p25s04-wome.htmli (October 6, 2008). 43 Ralf Beste / Cordula Meyer / Christoph Schult, ,Mission Doable‘: Israeli Ministers Mull Plans for Military Strike against Iran, Spiegel Online International, June 16, 2008, hhttp: // www.spiegel.de / international / world / 0,1518,559925 – 2,00.htmlh (October 6, 2008). 44 Iranian Leader Denies Holocaust, BBC News, December 14, 2005, hhttp: // news.bbc. co.uk / 2 / hi / middle_east / 4527142.stmi (October 6, 2008). 45 Iran leader urges destruction of çancerous‘ Israel, Reuters, December 15, 2000, hhttp: // archives.cnn.com / 2000 / WORLD / meast / 12 / 15 / mideast.iran.reut / i (October 6, 2008).

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Zionisten einer Übertreibung des Holocausts, die sich dadurch nur Mitleid erhofften.46 Diese Bemerkungen haben Deutschland nicht daran gehindert, den kritischen Dialog mit dem Iran weiterzuführen; diesmal jedoch reagierte Berlin darauf – möglicherweise wegen des Zeitpunkts der anrüchigen Bemerkungen, die vor dem Hintergrund der wachsenden Spannungen um das Nuklearprogramm geäußert wurden. Im Dezember 2006 veranstaltete Ahmadinedschad eine Holocaust-(Leugnungs-) Konferenz in Iran, an der solch intellektuelle Koryphäen wie der ehemalige Ku Klux Klan-Anführer David Duke teilnahmen. Der Präsident des deutschen Bundestages, Norbert Lammert, verurteilte die Veranstaltung – wie die Kanzlerin ebenfalls, die darin eine Verdeutlichung der Gefahr sah, die Israel droht.47 Im September 2007 erklärte der iranische Regierungschef vor der UNO-Generalversammlung, dass mörderische Zionisten die Weltfinanzen kontrollierten. Der deutsche Außenminister Steinmeier bezeichnete dies als Beweis eines eklatanten Anti-Zionismus, aber wie Europa im Allgemeinen hat Berlin trotzdem nicht die diplomatischen Beziehungen zu Iran abgebrochen.48 II. Iran

Während die USA ihre Politik der dualen Eindämmung verfolgten, assistierten deutsche Banken 1994 dem Iran bei seiner Umschuldung und retteten ihn so vor einer Finanzkrise. Ein Jahrzehnt später unterstützte die Regierung Schröder die Ausweitung der Hermesdeckung, sprich Exportkreditgarantie, um den Außenhandel mit der Islamischen Republik zu steigern. Bis 2004 umfasste die deutsche Ausfuhr an den Iran mehr als vier Milliarden Euro, und bis Mai 2007 besaßen deutsche Finanzinstitute Vermögen im Iran im Wert von 6,55 Milliarden Euro.49 Deutsche Politiker beteuern jedoch seit langem, dass die Politik des kritischen Dialogs – das Verhandeln und Handeln mit dem Iran – nicht dem finanziellen Eigeninteresse diene, sondern dazu beitragen sollte, die Gemäßigten in der Islamischen Republik zu stärken und einen positiven Wechsel in den Außenbeziehungen des Irans, ohne Anwendung von Bedrohungen, herbeizuführen. Als 1997 die EU einige diplomatische Sanktionen verhängte aufgrund des Urteils eines Berliner Gerichts, in dem eine Verbindung zwischen dem Iran und Attentaten in Berlin fest46 Bill Samii, Iran: President’s Anti-Israel Statements Reflect the Official Line, Radio Free Europe / Radio Liberty, December 15, 2005, hhttp: // www.rferl.org / content / article / 1063865. htmli (October 6, 2008). 47 Iran Holocaust Conference Condemned, Al Jazeera, December 13, 2006, hhttp: // english. aljazeera.net / NR / exeres / 11372A84-1E7B-400C-9B16-298CDDBDC5CD.htmi (October 6, 2008). 48 Germany: Ahmadinejad Anti-Semitic, Reuters, September 27, 2008, hhttp: // tvnz.co. nz / view / page / 536641 / 2110198i (October 6, 2008). 49 Ralf Beste / Christoph Pauly / Christian Reiermann, US Pressures Germany to Cut Iran Business Ties, Spiegel Online International, July 30, 2007, hhttp: // www.spiegel.de / inter national / business / 0,1518,497319,00.htmli (October 7, 2008).

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gestellt wurde, liefen die Geschäftsbeziehungen dennoch wie gewohnt weiter.50 Tatsächlich hat bis jetzt – abgesehen vom Geschäftsgewinn – der kritische Dialog so gut wie nichts bewirkt. Dieser hat weder eine Verbesserung der Menschenrechtssituation, noch eine Mäßigung der erratischen Außenpolitik Irans hervorgebracht. Während der 1990er Jahre versuchte das Regime, den palästinensischenisraelischen Friedensprozess zu unterminieren, was es wiederum für Deutschland schwieriger machte, die Ausgewogenheitspolitik aufrechtzuerhalten. Der kritische Dialog konnte nicht das Einsickern von Waffen aus dem Iran an die Hisbollah beenden, jene schiitische Miliz, die den zweiten Libanonkrieg 2006 anzündete und weiterhin eine destabilisierende Rolle im Libanon spielt. Obwohl Deutschland den USA ihre „Schikanen“ im Iran übel nehmen mag, waren es die USA, die 1992 deutsche Firmen daran hinderten, einen Auftrag für den Wiederaufbau des im Iran-Irak-Krieg zerstörten Bushehr Kernkraftwerks anzunehmen.51 Somit blieb Deutschland eine gewisse Ironie erspart. Denn hätte die amerikanische Regierung sich damals nicht eingemischt, wäre Deutschland genau im selben iranischen Nuklearprogramm involviert gewesen, welches es heute einschränken will. Zurzeit nehmen die Amerikaner die deutsch-iranischen Geschäftsbeziehungen näher unter die Lupe. Die US-Börsenaufsichtsbehörde (Securities and Exchange Commission, SEC) haben deutsche Banken unter Druck gesetzt und einen Rückzug der Banken aus dem Iran erwirkt.52 Berlin reduziert momentan seine Exportgarantien mit einem Rückgang auf 503,4 Millionen Euro im Jahr 2007 gegenüber 1,16 Milliarden Euro im Vorjahr. Dies hat wiederum zu einem Rückgang deutscher Exporte nach Iran geführt.53 Es bleibt jedoch abzuwarten, inwiefern Deutschland tatsächlich seinen Kurs wechseln wird. Im Februar 2008 z. B. investierte der deutsche Energiekonzern RWE fast 1 Milliarde Euro in ein österreichisch geführtes Konsortium, das an der Entwicklung iranischer Öl- und Gasfelder tätig ist.54

50 Mixed Response From Europe on Ruling Linking Iran to Killings, New York Times, April 30, 1997, hhttp: // query.nytimes.com / gst / fullpage.html?res=9D06EFDC1031F933 A05757C0A961958260i (October 7, 2008). 51 Kenneth R. Timmerman, Opportunities for Change in Iran, in: H. Sokolski (Hrsg.), Fighting Proliferation: New Concerns for the Nineties (Air University: Maxwell Air Force Base, Alabama, 1996), hhttp: // www.fas.org / irp / threat / fp / b19ch12.htmi (October 7, 2008). 52 German Bank Pulling Out of Iran, Critics Claim US Pressure Reason for Move, Associated Press, July 30, 2007, hhttp: // www.iht.com / articles / ap / 2007 / 07 / 30 / business / EU-FIN-Germany-Deutsche-Bank-Iran.phpi (October 7, 2008). 53 Backgrounder: German-Iranian Economic Relations, Realité-EU, March 3, 2008, hhttp: // www.realite-eu.org / site / apps / nl / content3.asp?c=9dJBLLNkGiF&b=2315291&ct=4420179i (October 7, 2008). 54 Weinthal, Benjamin, Analysis: Germany’s Economic Relations with the Mullahs, The Jerusalem Post, February 12, 2008 hhttp: // www.jpost.com / servlet / Satellite?c=JPArticle& cid=1202742141595&pagename=JPost%2FJPArticle%2FShowFulli (October 7, 2008).

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In den 1990er Jahren begrenzte sich das Engagement Deutschlands im Libanon auf eine Schlichterrolle im Gefangenenaustausch und diese Politik wurde weiter in den folgenden Jahren betrieben. Im Jahr 2004 z. B. half Deutschland bei der Aushandlung einer Vereinbarung zwischen Israel und der Hisbollah, in der die Freilassung von mehr als 400 arabischen Gefangenen gegen die Freilassung eines entführten Ex-Obersts und die Überführung von Leichen israelischer Soldaten vorgesehen wurde. Danach warnte der BND-Präsident Ernst Uhrlau die Hisbollah, dass Deutschland nicht bereit sei, bei weiteren Verhandlungen mitzuwirken, wenn die Organisation sich noch mal auf Entführungen verlegen sollte. Dennoch haben die Deutschen 2006 – auf Anfrage von Israel – bei der Freilassung zweier gefangener Soldaten mitgearbeitet. 55 Im Juni 2008 wurden fünf libanesische Milizen für die Leichen von zwei Reservisten ausgetauscht. Nach dem Krieg 2006 baute Deutschland seine Rolle bei der Stabilisierung des Libanons aus. Dabei hat die Bundesrepublik einige positive Beiträge für das Land geleistet – von der humanitären und militärischen Hilfe und den Friedenseinsätzen bis zur politischen Unterstützung für die derzeitige Regierung. Theoretisch bringt dieses Engagement Deutschland in eine schwierigere Position Syrien gegenüber, das seit längerem ungern ein wahrhaft unabhängiges Libanon verwirklicht sehen will, aber auch gegenüber der Hisbollah, die eine Wiederbewaffnung trotz der UNIFIL-Maßnahmen gegen den Waffenschmuggel anstrebt. Nichtsdestoweniger konnte Deutschland bisher einen Konflikt mit beiden Akteuren vermeiden. Deutschland hat im Libanon 135 Million US-Dollar für eine Vielzahl an Wiederaufbauprojekten für die Zeit nach dem Krieg gespendet. Die Bundesrepublik stellte 5 Millionen Euro für den Wiederaufbau von 33 Berufsschulen zur Verfügung und gab 7,8 Millionen Euro für Ausbildungsprogramme aus. Mit seiner Hilfe sind Wasserreservoire wiederhergestellt und Chlorungsanlagen in 30 Wasserwerken installiert worden. Schließlich hat Deutschland eine Zuwendung von 4,5 Millionen Euro bereitgestellt, die zur Bereinigung von im Krieg entstandenen Umweltschäden, z. B. einer Ölpest, die durch einen israelischen Luftangriff resultierte, verwendet werden soll.56 Im Verteidigungsbereich zahlte Deutschland im Februar 2008 1,6 Millionen US-Dollar an den Libanon, um das Küstenradarsystem wiederaufbauen zu können. Dazu arbeitet Deutschland in der Ausbildung des Marinepersonals an den Radarstationen und zwar mit dem Ziel, dass das libanesische Personal anschließend liba55 Georg Mascolo / Holger Stark, Mr. Hezbollah: German Mediates Between Israel and the Shiite Militants, Der Spiegel, October 23, 2006, hhttp: // www.spiegel.de / international / spiegel / 0,1518,444128,00.htmli (October 10, 2008). 56 Germany Funds Environmental Projects in Lebanon, Deutsche Presse-Agentur, February 26, 2008, hhttp: // www.earthtimes.org / articles / show / 188260,germany-funds-environ mental-projects-in-lebanon.htmli (October 10, 2008).

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nesische Kadetten auch ausbilden kann.57 Zudem hilft die Bundesrepublik bei der Ausbildung und Ausrüstung der Libanesen, damit diese ihre eigenen Grenzen schützen können. Bisher ist die Arbeit im internationalen Rafik-Hariri-Flughafen an der Grenze zwischen Syrien und Libanon im Osten und bei mehreren Häfen an der Westküste geleistet worden. Deutschland hat auch Scannergeräte gespendet, damit Lastwagen aus Syrien, die in den Libanon fahren, besser kontrolliert werden können.58 Ein weiterer Beitrag zur Sicherheit des Libanon (aber auch Israels) ist das deutsche Kontingent bei der Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon (UNIFIL). Ursprünglich war die Idee der Stationierung deutscher Truppen an der Grenze zu Israel stark umstritten, sie wurde in der deutschen Presse debattiert und sie war Gegenstand der Diskussion sowohl in der SPD als auch der CDU.59 Letztendlich wurden 1000 Soldaten entsandt, die nur Marinefunktionen wahrnahmen, womit die Chancen auf gleich Null verringert wurden, dass Geschützfeuer zwischen Israelis und Deutschland ausbrechen konnten (und ebenfalls gering war die Möglichkeit, dass deutsche Waffenschmuggler der Hisbollah fassen konnten, da diese eher den Landweg über Syrien nehmen). Zwischen November 2007 und Mai 2008 hatte Libanon keinen Präsidenten – nur einen Premierminister, Fuad Siniora, der die pro-westliche Regierung führte. Jedoch war seine Stellung durch die Hisbollah und ihre von Syrien unterstützten Verbündeten gefährdet. Während dieser kritischen Phase forderte Deutschland Neuwahlen für das Präsidentenamt sowie einen raschen Übergang zu einer stabilen Regierungssituation. Im Februar 2008 ermahnte Bundeskanzlerin Merkel Syrien, eine konstruktive Rolle im Libanon zu spielen, etwas, was Syrien bisher bei weitem nicht genug getan habe.60 Gleichzeitig spendete Deutschland 1 Million USDollar an das UNO-Sondertribunal, das die Ermordung des ehemaligen Premierministers Rafik Hariri untersuchte.61 Syrien und die mit ihnen verbundenen Akteure werden allgemein für die Ermordung verantwortlich gemacht, weshalb die Unterstützung Deutschlands für das Tribunal als subtiler Affront gegen Damaskus interpretiert werden könnte. 57 Germany Hands Over Radar Systems to the Lebanese Navy, Deutsche Presse-Agentur, February 26, 2008, hhttp: // www.earthtimes.org / articles / show / 188285,germany-hands-overradar-systems-to-thelebanese-navy.htmli (October 10, 2008). 58 $135 Million in German Aid Benefits Range of Projects, Daily Star, April 16, 2007, hhttp: // www.lebanonundersiege.gov.lb / english / f / enews / NewsArticle.asp?CNewsID=897i (October 10, 2008). 59 Stephen Mulvey, Lebanon Question Challenges Germany, BBC News, July 26, 2006, hhttp: // news.bbc.co.uk / 2 / hi / europe / 5217438.stmi (October 1, 2008). 60 Merkel Supports Saniora [sic, Siniora] Government, Associated Press, February 22, 2008, hhttp: // www.naharnet.com / domino / tn / NewsDesk.nsf / story / D54D7FD57D6C50D7 C22573F70057CA44?OpenDocumenti (October 1, 2008). 61 Germany Provides 1 Million Dollars to UN Tribunal on Lebanon, Deutsche PresseAgentur, February 14, 2008, hhttp: // www.earthtimes.org / articles / show / 185790,germanyprovides-1-million-dollars-to-untribunal-on-lebanon.htmli (October 1, 2008).

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Joseph Kostiner und Erik Schechter IV. Palästinenser

Bis zur Mitte der 2000er Jahre erreichte die Ausgewogenheitspolitik ihre Grenze. Erstens ermöglichte die laissez-faire-Einstellung der EU in ihren Finanzhilfen an die PA die finanzielle Misswirtschaft und Korruption unter Yasser Arafat. Zweitens bedeutete der Wahlsieg der Hamas über die Fatah im Palästinensischen Legislativrat 2006, dass Deutschland drei schwierigen Optionen zur Auswahl gegenüberstand: (a) eine terroristische Organisation, die sich für die Zerstörung Israels einsetzt, zu unterstützen, (b) der PA gänzlich den Rücken zu kehren oder (c) zu versuchen, irgendwie die Hamas auf eine bessere Zusammenarbeit mit dem FatahNachfolger von Arafat, Mahmud Abbas, umzustellen. Unter der Ägide der EU benutzte Deutschland seine Auslandshilfe – und eine Menge davon – dazu, um das „Wohlwollen“ der Palästinenser zu erkaufen. Zwischen 2000 und 2003 überwies die EU monatlich 10 Millionen Euro ohne nennenswerte Aufsicht an die PA.62 Die Europäer waren in der Tat so zuvorkommend bei Sonderfinanzwünschen der PA (z. B. Überweisung von Geldern auf das Privatkonto von Yasser Arafat), dass der Korruption in der PA keine Grenzen gesetzt wurden. 2004 wurde eine vom Europäischen Parlament zaghaft eingesetzte Untersuchung in Gang gebracht, die feststellte, dass beachtlich hohe Geldsummen einfach verschwunden seien.63 Ironischerweise hat das Geld, das den palästinensischen-israelischen Frieden sichern sollte, schließlich genau das Gegenteil bewirkt. Der Sieg der Hamas bei den Parlamentswahlen war, zumindest teilweise, auf die Korruptionsfälle aus der Fatah – die auch zum Teil Geld in ihren eigenen Taschen steckte – zurückzuführen. Die amerikanische Zeitung New York Times zitierte den Hamasführer Mahmud Zahar, der sagte „All the money from Europe and America went into the pockets of corrupt men. The leaders of these services became multi-millionaires. We are going to reform these services. This is our mission.“64 Nach der Wahl in der PA war Bundeskanzlerin Merkel eine der ersten europäischen Politiker, die die Bedingungen des diplomatischen Quartetts (UNO, EU, Russland und USA) für die Bereitstellung von EU-Finanzhilfen und Verhandlungen mit der Hamas unterstützte. Eine der wichtigsten dieser Bedingungen war nämlich, dass die Hamas Israel anerkennt und terroristische Aktivitäten einstellt. Da die Hamas die gewählten Repräsentanten des palästinensischen Volkes waren und die Partei der internationalen finanziellen Aufsicht zustimmte, schien dieses 62 German Politicians Call for Freezing Palestinian Aid, Deutsche Welle, July 21, 2004, hhttp: // www.dw-world.de / dw / article / 0„1272865,00.htmli (October 7, 2008). 63 Efraim Halevy, How the European Union’s Attitude Toward Israel Evolved, in: M. Gerstenfeld (Hrsg.), European-Israeli Relations, S. 106 – 107. 64 Steve Erlanger / Greg Myre, After Crushing Defeat by Hamas, Fatah Militants Protest in Gaza, New York Times, January 27, 2006, hhttp: // www.nytimes.com / 2006 / 01 / 27 / international / middleeast / 27cnd-hamas.html?hp&ex=1138424400&en=3c179efc1179083a&ei= 5094&partner=homepage> (October 7, 2008).

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Ultimatum dem von der EU gesetzten Ziel der Demokratieförderung zu widersprechen. In der Tat war Frankreich nicht von der Idee der Isolierung der PA sonderlich begeistert, aber die EU schloss sich letztlich der USA-Politik gegenüber der Hamas an.65 Im März 2006 übernahm die Hamas die Macht und, trotz der Warnung des Quartetts, weigerte sie sich, ihre anti-israelische Positionen zu mildern. Demzufolge reduzierten die USA und die EU ihre Finanzhilfe an die PA, wobei sie noch den Zufluss humanitärer Hilfe an lokale Nichtregierungsorganisationen erlaubte. Diese gemeinsame Linie zwischen den USA und der EU wurde im September bröckelig, als die Europäer ihre Unterstützung für eine palästinensische Einheitsregierung aussprach, die sowohl die Hamas als auch die Fatah mit einschließen würde.66 Nach der Bildung dieser lang erwarteten Koalition im Februar 2007, beschloss die EU, dass sie für Treffen mit nicht Hamas-angehörigen Palästinensern bereit sei.67 Bundeskanzlerin Merkel weigerte sich demonstrativ während ihres Israelbesuchs im April 2008, sich mit PA-Politikern außer dem PA-Präsidenten Abbas zu treffen. Jedoch traf sich der deutsche Außenminister im darauf folgenden Monat mit NichtHamas Ministern.68 So lässt sich fragen, ob die deutsche Regierung sich langsam an der Idee einer nationalen Einheitsregierung gewöhnt und ob sie vielleicht bereit sein würde, sich irgendwann doch mit Hamas-Politikern zu treffen. Die Frage kann jedoch nicht beantwortet werden, denn innerpalästinensische Spannungen führten zur Auflösung der nationalen Einheitsregierung sowie zum Entstehen zweier rivalisierender Machtblöcke – Fatah im Westjordanland und Hamas im Gazastreifen. Die Wende erlaubte es dem Westen, noch einmal Geld an die PA zu überweisen. Im Dezember 2007 verpflichteten sich mehr als 90 Länder, 7,4 Milliarden US-Dollar an Finanzhilfe zu geben; der Anteil Deutschlands betrug 200 Millionen USDollar. Entwicklungsminister Heidemarie Wieczorek-Zeul erklärte, dass das Geld auf die Wiederbelebung der palästinensischen Institutionen abzielte, aber sie mahnte, dass das Entwicklungsprogramm nur dann funktionieren könne, wenn die wirtschaftliche Entwicklung Palästinas nicht mehr behindert, der Bau israelischer Siedlungen eingestellt, und die innerpalästinensische Spaltung überwunden wird.69 Jedoch bleibt unklar, ob die deutsche Entwicklungsministerin tatsächlich von Israel erwartet, dass es seine Blockade gegen Gaza aufhebt, während die Hamas noch die 65 Dorotheé Schmid, European Views of the Israel-Palestinian Conflict: The Contribution of Member States to Framing EU Policies, in: R. Nathanson and Stephan Stetter (Hrsg.), The Middle East Under Fire? S. 120. 66 EU to Back Palestinian Unity Government, Reuters, September 15, 2007, hhttp: // www. ynetnews.com / articles / 0,7340,L-3304341,00.htmli (October 3, 2008). 67 EU Agrees to Deal with Non-Hamas Palestinians, Ynetnews, March 31, 2007, hhttp: // www.ynetnews.com / articles / 0,7340,L-3383380,00.htmli (October 10, 2008). 68 German FM Meets Palestinian Leaders, Associated Press, May 5, 2007, hhttp: // www. ynetnews.com / articles / 0,7340,L-3395833,00.htmli (October 10, 2008). 69 EU, Germany, Others Pledge Billions in Aid to Palestinians, Deutsche Welle, December 17, 2007, hhttp: // www.dw-world.de / dw / article / 0,2144,3008791,00.htmli (October 10, 2008).

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Herrschaft über den Streifen behält. Ebenfalls gefehlt haben von der Ministerin irgendwelche Leitlinien für die Fatah zur Lösung der Differenzen mit der Hamas und zwar eine Lösung auf eine Art und Weise, die einen Bürgerkrieg verhindert, aber die die eher regierungsunfähige Islamische Bewegung von politischen Ämtern fernhalten könnte.

C. Reaktionen der regionalen Akteure auf Deutschland I. Israel

Angesichts der Geschichte – des Holocausts – steht Deutschland sehr im Vordergrund und im Zentrum des israelischen politischen Bewusstseins – vielmehr als irgendein anderes europäisches Land mit Interesse an nahöstlicher Diplomatie. Dementsprechend gibt es viel mehr Information über die Ansichten israelischer Bürger und Politiker über Deutschland als bei anderen Akteuren in der Region. Insgesamt gilt Deutschland bei israelischen Politikern als fester Partner und Freund innerhalb der Europäischen Union, wobei Letztere eher als dilettantische Mittlerin in der nahöstlichen Diplomatie betrachtet wird. Efraim Halevy, der ehemalige Botschafter Israels bei der EU in den späten 1990ern, bemerkte, dass – während manche Freie Demokraten im Europäischen Parlament eine problematische Vergangenheit aus dem Zweiten Weltkrieg hätten – sich der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl immer um gute Beziehungen bemüht habe.70 Ähnlich stellte Botschafter Oded Eran fest, dass Deutschland (mit Großbritannien und Italien) mehrmals die im Europäischen Parlament geforderten Sanktionen gegen Israel ablehnte.71 Dennoch scheint es, dass, je mehr Freunde Israel gewinnt, desto weniger „besonders“ Deutschland wird. Mit der Erweiterung der EU, etwa durch die Aufnahme mehrerer osteuropäischer Staaten, stellt Deutschland jetzt nur einen von vielen Freunden Israels dar.72 Da Nicholas Sarkozy zudem einen härteren außenpolitischen Ton gegenüber dem Iran anschlägt, stand die Bundesrepublik – die 2006 als „Retter“ aufgrund der Vereinbarung über den Kauf von Dolphin-U-Booten galt – auf einmal als Zauderer da und wurde aufgefordert, mit Frankreich Schritt zu halten und wirtschaftliche Sanktionen gegen Teheran zu unterstützen.73 Aus einem skeptischeren Blickwinkel gegenüber Deutschland hat Shimon Stein, ehemaliger Botschafter Israels in Berlin von 2000 bis 2007, den Eindruck, dass die Bundesrepublik den Iran wie ein eher theoretisches Problem behandelt. Sie kritisierHalevy, S. 105, S. 109. Oded Eran, Israel in the European Union, in: M. Gerstenfeld (ed.), European-Israeli Relations, S. 92. 72 Ibid., S. 97. 73 Germany’s Transformation, The Jerusalem Post, August 24, 2006, hhttp: // www.jpost. com / servlet / Satellite?cid=1154525933256&pagename=JPost%2FJPArticle%2FShowFulli (October 4, 2008); Germany holds the key, The Jerusalem Post, March 17, 2008, S. 13. 70 71

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te zwar die Bedrohungen des Präsidenten Ahmadinedschad und seine Bagatellisierung des Holocausts, aber sie rief z. B. ihren Botschafter nicht zurück. Hinzu kommt seiner Auffassung nach, dass Deutschland gegenüber einer Kriegsbedrohung geimpft und von demokratischen Nachbarn umgeben sei, weshalb die Deutschen nicht einsähen, weshalb Gewalt gelegentlich zur Problemlösung notwendig sei.74 Innerhalb Israels gibt es wiederum populistische Politiker, die hin und wieder eine Kontroverse schüren, wo gar keine ist. Im Jahr 2005 hat der Gesundheitsminister Danny Naveh (Likud Partei), der Sohn eines Überlebenden des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, Opposition gegen den anstehenden Auftritt des Bundespräsidenten Horst Köhler in der Knesset geleistet. (Als Rau in der Knesset redete 2000, verließen Naveh und einige andere Politiker den Plenarsaal.) Tommy Lapid, der damalige Parteivorsitzende der liberalen Schinui-Partei und selbst HolocaustÜberlebender aus Ungarn, hat im Gegensatz nichts gegen die Sprachwahl der Rede.75 Letztendlich sprach Köhler zuerst auf Hebräisch, bevor er zur deutschen Sprache wechselte. Desgleichen protestierte im Herbst 2007 der stellvertretende Premierminister Eli Yishai (Schas-Partei) gegen die Pläne, von Volvo als offiziellen Lieferanten von Autos für die israelische Regierung zu Audi zu wechseln. Yishai beschwerte sich darüber, dass der Audi A6 einen unnötigen Luxus darstellte und nicht als ministerielles Auto eingesetzt werden sollte.76 Yishai selber wurde 1963 geboren und hatte keine familiäre Wurzeln in Osteuropa, sondern ist ein mizrachimischer Jude. Ingesamt sind die öffentlichen Einstellungen der Israelis gegenüber Deutschland positiv geblieben. Im Februar 2007 wurde eine Umfrage von der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt, wonach 67 Prozent der Israelis eine positive Einstellung gegenüber Deutschland hatten und der gleiche Anteil von Befragten wünschte sich eine stärkere Rolle der Bundesrepublik in der EU. (Dennoch äußerten nur 14 Prozent der Befragten den Wunsch nach einer Beteiligung der EU im Nahost-Friedensprozess.)77 Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung fand heraus, dass das Meinungsbild der Israelis über Deutschland seit 1991 (bei 48 Prozent positiv) kontinuierlich positiver geworden ist und dass nur jeder fünfte Israeli gegen den Einsatz der Bundeswehr im Libanon eingestellt war.78 74 Eldad Beck, Cause for Concern in Germany, Ynetnews, October 10, 2007, hhttp: // www.ynet.co.il / english / articles / 0,7340,L-3458520,00.htmli (October 10, 2008). 75 Germany’s President Visits Israel, BBC News, February 1, 2005, hhttp: // news.bbc.co. uk / 1 / hi / world / europe / 4224837.stmi (October 6, 2008). 76 Itamar Eichner, Shas Opposed to German Car, Ynetnews, October 9, 2007, hhttp: // www.ynetnews.com / articles / 0,7340,L-3447881,00.htmli (October 6, 2008). 77 Haviv Rettig, Poll: Israelis Like and Trust Germany, The Jerusalem Post, February 21, 2007, hhttp: // www.jpost.com / servlet / Satellite?pagename=JPost%2FJPArticle%2FShowFull &cid=1171894487545i (October 6, 2008). 78 Israelis Have a More Positive View of Germans Than They Used to, Press Release, Bertelsmann Foundation, February 12, 2007, hhttp: // www.bertelsmann-stiftung.de / cps / rde / xchg / SID-0A000F0A0004BCB0 / bst_engl / hs.xsl / nachrichten_49445.htmi (October 6, 2008).

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Joseph Kostiner und Erik Schechter II. Palästinenser

Trotz der Ausgewogenheitspolitik Deutschlands hegen die Palästinenser seit langem einen Verdacht gegen die Bundesrepublik aufgrund ihres Philo-Semitismus und ihres besonderen Verhältnisses zu Israel. Im April 2007 z. B. sagte der HamasPolitiker Zahar in der Zeitschrift Risala aus, dass „During . . . Angela Merkel’s office as the president of the European Union, reliance on the European role is diminished, since Germany is imprisoned by a complex of the so-called ,Holocaust‘ and they suffer from it. Therefore, I do not foresee a fundamental change taking place, during her time, regarding the Palestinian issue.“79 In der Tat hat Deutschland mehrmals und insbesondere nach 1993 versucht, auf die Palästinenser einzugehen. Aber sie verurteilen die ihrer Auffassung nach voreingenommene diplomatische Sprache – die sich beispielsweise darin zeige, dass der Außenminister Joschka Fischer die palästinensische Gewalt als „Terrorismus“ bezeichnete, während er bei israelischen Attentaten von „Vergeltungsschlägen“ sprach.80 Angela Merkel wurde ebenfalls kritisiert, weil sie während ihres Besuches in Ramallah April 2007 – so die Kritik – wenig Mitleid mit den Palästinensern zeigte. Sie besuchte z. B. die Sperranlage nicht, die im Westjordanland gebaut wurde, noch kümmerte sie sich um Palästinenser, die in israelischen Gefängnissen gefangen gehalten.81 Die Isolierung der Hamas, als diese von Deutschland und der EU verkündet wurde, wurde als undemokratisch und, noch schlimmer, als kontraproduktiv abgekanzelt, da sie nur die Armut und den Radikalismus unter dem palästinensischen Volk anstacheln würde.82 Ein im Ton zorniger Meinungsartikel in der al-Quds fand sogar Trost in dem Empfang einer palästinensischen Delegation in Moskau 2006, als Oppositionsverhalten gegenüber der gemeinsamen Linie der USA und der EU.83 (Die Palästinenser betrachten die EU im Großen und Ganzen als scheuen, zweitrangigen Akteur, der sich letztendlich dem Willen der USA beugt.84) Und dennoch äußern einige Hamas-Politiker ihre Präferenz für Deutschland als Vermittler in einem Verhandlungsprozess, bei dem Israel Hunderte palästinensischer Gefange79 Quoted in Marcus, Itamar and Barbara Cook, Germany ,Imprisoned‘ by ,So-Called „Holocaust“‘ Complex: Senior Hamas Member, Palestinian Media Watch, April 16, 2007, hhttp: // www.pmw.org.il / Bulletins_Apr2007.htmi (October 6, 2008). 80 Aref Hajjaj, For a Special Relationship with the Palestinians, Qantara, July 17, 2004, hhttp: // www.qantara.de / webcom / show_article.php /_c-476 / _nr-185 /_p1 / i.html?PHPSESSID =a7b8c87ac6575b41b36a7151f054 2252i (October 6, 2008). 81 Khaled Abu Toameh, PA Upset by Merkel’s Pro-Israel Stance, The Jerusalem Post, April 4, 2007, hhttp: // www.jpost.com / servlet / Satellite?pagename=JPost%2FJPArticle%2F ShowFull&cid=1173879239085i (October 6, 2008). 82 Ghassan al-Khatib, A Call for Cool Heads, Bitter Lemons, Edition 15, April 10, 2006, hhttp: // www.bitterlemons.org / previous / bl100406ed15.html#pal1i (October 3, 2008). 83 Naji Sadeq al-Sharab, Khayarat ,Hamas‘ al-Diblumasiya, al-Quds, March 5, 2006, hhttp: // pdf2.alquds.com / 2006 / 3 / 5 / page16.pdfi (October 30, 2008). 84 Schmid, S. 102.

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nen im Austausch für den gefangenen Soldaten Gilad Shalit freilassen sollte. Die Anregung könnte, statt einem ernst gemeinten Vorschlag, freilich vielmehr Ausdruck der Unzufriedenheit mit der aktuellen Führung Ägyptens über die Verhandlungen sein.85 Dabei ist sich die Hamas dessen bewusst, dass möglicherweise nur Deutschland einen Austausch zwischen Israel und der Hamas aushandeln könnte, da die libanesische schiitische Miliz sich nicht auf der Liste terroristischer Organisationen der EU befindet. Dass überhaupt ein solcher Vorschlag eingebracht wurde, zeigt zudem, dass der Missmut unter den Palästinensern gegenüber Deutschland nicht allzu stark sein kann. III. Libanon

Angesichts der konflikthaften Spaltungen dieses Gemeinwesens und der begrenzten Zahl von zu diesem Thema geführten Umfragen lässt sich die Einstellungen der Libanesen gegenüber Deutschland schwer einschätzen. Dennoch ist Deutschland für die Mitglieder der derzeitig pro-westlich eingestellten Regierung ein Retter. Der Präsident des Rates für Entwicklung und Wiederaufbau, Nabil Jisr, hat z. B. die Dankbarkeit des libanesischen Volkes gegenüber der Bundesrepublik öffentlich beteuert. Während seines dritten Besuches in Deutschland Mitte Februar 2008 bedankte sich der Premierminister Siniora ebenfalls bei seinem Gastgeber für die Unterstützung für die Einheit, Unabhängigkeit und Souveränität des Libanon und für die Initiative der Arabischen Liga.86 Mit Hinblick auf andere Umfragen lässt sich nichts Konkretes finden, das in Verbindung mit deutscher Politik steht. Eine im Jahr 2006 von Zogby International geführte Umfrage untersuchte jedoch das Gesamtmeinungsbild über westliche Länder und es wurde ermittelt, dass – wenn vor die Auswahl von Großbritannien, Frankreich, USA und Deutschland gestellt – nur 17 Prozent der Libanesen Deutschland als am stärksten freiheitlich und demokratisch werteten. Frankreich dagegen war das beliebteste der vier zur Auswahl stehenden Länder (63 Prozent wertete die Französische Republik als am meisten frei und demokratisch) und eine relative Mehrheit der Libanesen gab an, dass, wenn sie die Wahl hätte, sie lieber in Frankreich leben würde.87 Dennoch lassen sich diese Ergebnisse gewiss eher auf die beschützende Rolle der Französischen Republik gegenüber Libanon und ihre Kritik gegenüber Israel und den USA zurückführen. Zudem muss berücksichtigt 85 Avi Issacharoff / Amos Harel, Hamas Says Not Interested in Renewing Shalit Negotiations, Haaretz, August 12, 2008, hhttp: // www.haaretz.com / hasen / spages / 1010646.htmli (October 6, 2008). 86 Hussein Abdallah, Moussa Puts Off Latest Effort to End Impasse in Lebanon, Daily Star, February 23, 2008, hhttp: // www.dailystar.com.lb / article.asp?edition_id=1&categ_id=2 &article_id=89234i (March 1, 2008). 87 Anwar Sadat Chair for Peace and Development, University of Maryland / Zogby International 2006 Annual Arab Public Opinion Survey, February 8, 2007, hhttp: // www.brook ings.edu / views / speeches / telhami20070208.pdfi (October 10, 2008).

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werden, dass der Großteil der deutschen Hilfsprojekte zum Zeitpunkt der Umfrage noch nicht initiiert wurde. Eine aktuellere Umfrage untersuchte Einstellungen gegenüber der Europäischen Union. Deutschland und die EU sind, zugegeben, keine Synonyme, aber Ersteres ist ein prominentes Mitglied der Letzteren. Eine Umfrage des Pew Research Centers, die ein paar Monate nach der deutschen EU-Ratspräsidentschaft veröffentlicht wurde, ergab, dass libanesische Christen und Sunnitische Muslime zu 81 bzw. 77 Prozent eine sehr positive Meinung von der EU hatten. Dies war aber nicht der Fall bei den Schiiten, bei denen nur 19 Prozent angaben, ein positives Bild von der EU zu haben. Für sie war Iran dagegen viel beliebter (86 Prozent der Befragten hatten ein positives Bild).88 IV. Iran

In den letzten Jahren hat es zwischen Iran und Deutschland bei zahlreichen Themen Auseinandersetzungen gegeben. Die Iraner halten dabei vielmehr fremde Einflüsse für verantwortlich für die außenpolitischen Positionen, die ihr wichtigster Handelspartner einnimmt. Im September 2008 wurde der deutsche Botschafter für Konsultationen nach Deutschland bestellt, nachdem ein deutscher Militärattaché eine iranische Militärparade besichtigte, bei der ein Banner mit dem Aufruf zur Zerstörung Israels gezeigt wurde. In ihrer Schilderung des Vorfalls merkte die staatliche Presseagentur der Islamischen Republik (Islamic Republic News Agency, IRNA) an, dass „German-Iranian ties have faced a series of ups and downs in recent times as a result of intense Zionist lobbying efforts.“89 Im April 2007 trafen sich neun iranische Journalisten mit Regierungsvertretern und Vertretern der deutschen Medien, die von der Zeitschrift Der Spiegel eingeladen worden waren. Die Reporter aus Iran erzählten, sie hätten den Eindruck, dass Berlin aufgrund einer unspezifizierten Vergangenheit (der Holocaust wurde nicht genannt) pro-israelisch sei. Sie hielten die Opposition Deutschlands gegen ein iranisches Urananreicherungsprogramm für nicht nachvollziehbar – welches als unantastbares, nationales Recht auf friedliche Energienutzung gilt. Als heuchlerisch bezeichneten sie die angeblich vom Weltfrieden motivierten Proteste der Deutschen, aufgrund der früheren Hilfe an Saddam Hussein und des anscheinenden Schweigens zu den Themen Irak und Palästina.90 Die iranischen Medien kritisierten allerdings noch schärfer Bundeskanzlerin Merkel bei ihrem Nahostbesuch. Ein iranischer Journalist rügte die Kanzlerin, wo88 Richard Wilke, Lebanon’s Precarious Politics, Pew Global Attitudes Project, November 15, 2007, hhttp: // pewresearch.org / pubs / 636 / lebanon-politicsi (October 10, 2008). 89 Germany Recalls Ambassador From Iran Over Military Parade, Islamic Republic News Agency, September 28, 2008, hhttp: // www2.irna.ir / en / news / view / line-22 / 08092850730 13803.htmi (October 6, 2008). 90 Iranian Media 7 Day Visit Of German Media, Iranian Students News Agency, April 18, 2007, hhttp: // isna.ir / Isna / NewsView.aspx?ID=News-907600&Lang=Ei (October 10, 2008).

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bei er die palästinensischen Kritikpunkte wiedergab, sie meide die mit der Hamas verbundenen Minister, spreche die Situation der von Israel gefangen gehaltenen Palästinensern nicht an und verzichte auf eine Besichtigung der Sperranlage. Noch schlimmer sei, dass Merkel darauf insistiere, dass die Palästinenser sich einem Gewaltverzicht verpflichten, Israel anerkennen und die früher mit Israel vereinbarten Friedensabkommen einhalten sollten. Mit Bezug auf den Libanon passte sie sich der Linie der USA an, indem sie den Premierminister Fuad Siniora (die von der Hisbollah abgelehnt wird) durch den Einsatz der deutschen Marine zum Schutz der libanesischen Küste unterstützte.91 Dennoch scheinen iranische Politiker davon überzeugt zu sein, dass die Deutschen im Endeffekt ihrem „Geldbeutel“ folgen werden. Im Juli 2008 forderte der Vorsitzende der iranischen Handels-, Industrie- und Bergbaukammer eine verstärkte wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland, und äußerte seine Zuversicht darüber, dass die auf das Nuklearprogramm bezogenen Sanktionen früher oder später aufgehoben würden.92 In ähnlicher Weise äußerste sich Alireza Sheikh Attar, der iranische stellvertretende Außenminister und unlängst ernannte Botschafter in Berlin, indem er anmerkte, dass Deutschland eine zurückhaltende Rolle in einem sonst widerlichen Streit über Nuklearanreicherung spiele.93 D. Das deutsche Nahost-Dilemma Obwohl Deutschland einige außenpolitische Konzepte (Ausgewogenheit, kritischer Dialog, usw.) entwickelt hat, verfügt die Bundesrepublik in Wirklichkeit über wenig Handlungsspielraum im Nahen Osten. Erstens ist sie weder eine strategische Ausgleichs-, noch eine Alleingängermacht. Stattdessen handelt Deutschland innerhalb des Rahmens der EU und der weiteren von den USA angeführten westlichen Welt. Damit geht wiederum ein erheblicher Grad an Resignation einher. Zweitens fehlt der Bundesrepublik ein umfassender Plan oder größeres Ziel für die Region. Die Politikansätze Deutschlands sind wenig systematisch und widersprüchlich zueinander, was sich gerade darin zeigt, dass Deutschland versucht, sich für Israel einzusetzen, aber gleichzeitig gute Beziehungen zu der arabisch-muslimischen Welt aufrecht erhält.

91 Saeid Najar Nobari, Merkel Reaffirms Blind Support For Zionist Regime During Mideast Tour, Islamic Republic News Agency, April 3, 2007, hhttp: // www2.irna.ir / en / news / view / line20 / 0704033028163442.htmi (October 2, 2008). 92 Call for Establishing Iran-German Committee, Islamic Republic News Agency, July 19, 2008, hhttp: / / www2.irna.com / en / news / view / line-22 / 0807203082005751.htmi (October 10, 2008). 93 Deputy FM: Germany Plays Constructive Role in Iran’s Nuclear Issue, Islamic Republic News Agency, September 30, 2008, hhttp: // www2.irna.ir / en / news / view / line-17 / 080930 7116010647.htmi (October 10, 2008).

Vortrag von Gerald R. Kleinfeld (hintere Reihe, 3.v.l.) „Die US-Pra¨sidentschaftswahlen und die deutsch-amerikanischen Beziehungen“. Es ho¨ren zu: T. Mayer, H.-J. Bu¨cking, U. Jaekel, S. Paraskewopoulos, T. Nijhuis (hintere Reihe v.l.n.r.) sowie H. Bagci, D. Rochtus und J. Kostiner (vordere Reihe v.l.n.r.) – Foto: Tobias Chmura.

Vortrag von Hu¨seyin Bagci zum „Verha¨ltnis der Tu¨rkei zu Deutschland und zur EU“, S. Paraskewopoulos (l.) – Foto: Tobias Chmura.

Vortrag von Jackson Janes „Deutschlands internationale Rolle: US-Erwartungen bezu¨glich Deutschland“, U. Jaekel (r.) – Foto: Tobias Chmura.

Vortrag von Wjatscheslaw Daschitschew zum Thema „Deutschland und Russland in der europa¨ischen und globalen Politik“, J. Kostiner (r.) – Foto: Tobias Chmura.

Vortrag von Conrad Schetter zum Thema „Wunschpartner Deutschland? Die politische Rolle Deutschlands aus afghanischer und zentralasiatischer Sicht“, Eckhard Jesse (r.) – Foto: Tobias Chmura.

Gerald R. Kleinfeld (Mitte) tra¨gt vor zum Thema „Die US-Pra¨sidentschaftswahlen und die deutsch-amerikanischen Beziehungen“, H.-J. Bu¨cking (l.), U. Jaekel (r.) – Foto: Tobias Chmura.

Deutschland von außen gesehen: Die Perzeption der Türkei Eine Sicht aus Ankara Von Hüseyin Bagci

Die türkisch-deutschen Beziehungen sowie das Deutschlandbild der Türken haben sich seit dem Ende des Kalten Krieges vor allem in den politischen, gesellschaftlichen sowie den strategischen Bereichen dramatisch verändert. Einer der Hauptgründe dieser sich verändernden Perzeptionen ist natürlich die neue Definition der „Freundschaft“ der beiden Staaten und Gesellschaften. Für die Türken war Deutschland traditionell gesehen immer „ein Anwalt der Türken in Europa“, besonders während des Kalten Krieges. Es ist klar, dass die türkisch-deutschen Beziehungen jetzt unter neuen regionalen und globalen Entwicklungen „changing parameters of partnership“ erleben, und beide Seiten müssen sich die neuen Voraussetzungen der Weltpolitik aneignen.1 Für die Türken war es sehr schwierig zu akzeptieren, dass Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend eine „wichtige Barriere“ in ihren Bemühungen um die Mitgliedschaft in der EU darstelle. Diese Perzeption vom „Anwalt der Barriere“ war doch eine politische Realität und in den türkisch-deutschen Beziehungen wurde, wie zu sehen ist, sicherlich eine neue politische und wirtschaftliche Qualität erreicht, in der doch die Zeit auf ihrem Weg in die EU für die Türkei arbeiten würde. Die Türkei hatte und hat weiterhin eine sehr starke „human tie“ mit Deutschland, wo heute mehr als 2,7 Millionen Türken leben und wo etwa eine Million bereits zu „Deutsch-Türken“ in jeder Hinsicht geworden ist. Es steht außer Frage, wie wichtig diese „Deutsch-Türken“ als ein spezifischer Faktor in den bilateralen Beziehungen beider Länder und zudem schon zu „einem Teil der deutschen Gesellschaft“ geworden sind. In diesem Aufsatz wird untersucht, wie sich seit der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 bis heute das Deutschlandbild der Türkei im gesamten Rahmen entwickelt hat und wie sich die türkisch-deutschen Beziehungen aus Sicht der Türkei in der Zukunft entwickeln könnten. Im akademischen Bereich gibt es keine zufrieden stellende und detaillierte Literatur, um die bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu verstehen. Das 1 Für eine detaillierte Diskussion in dieser Frage, Hüseyin Bagci / Jackson Janes / Ludger Kühnhardt (Hrsg.), Parameters of Partnership, The US-Turkey-Europe, Nomos Verlag, BadenBaden 1999.

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ist eine paradoxe Situation. Den engen politischen, wirtschaftlichen und strategischen Beziehungen steht sehr wenig Literatur, besonders von türkischer Seite, gegenüber. Es gibt einige Bücher, geschrieben in den 70er und 80er Jahren, die besonders das Gebiet der Geschichte behandeln. Nur in den letzten Jahren kann man eine Zunahme von Büchern und Forschungen sehen. Die Tendenz geht dahin, dass man jetzt mehr Interesse im Forschungsbereich zeigt.

Ein Wendepunkt: Der Luxemburger Gipfel 1997 Die Luxemburger Entscheidung der EU von 1997 bildet einen wichtigen Meilenstein in den türkisch-deutschen Beziehungen. Bis dahin glaubten die Türken, dass Deutschland der beste Freund der Türken in Europa gewesen wäre. Ja, es war eine „einseitige Liebe“, wie festzustellen war. Die Türken betrachteten die historische türkisch-deutsche Freundschaft, die bis zum 19. Jahrhundert sowie zum Ersten Weltkrieg zurückgeht, als etwas, was nicht zu verändern sei. In Luxemburg wurde jedoch gesagt, dass die Türkei nicht zu Europa gehöre. Vor allem die Aussage von Bundeskanzler Helmut Kohl, dass er nicht in der Schule gelernt hätte, dass die Türkei geographisch zu Europa gehöre, hatte in der Türkei nicht nur eine Empörung, sondern eine große Enttäuschung ausgelöst. Vor allem die deutschen Türkei-Experten wie Udo Steinbach, Lothar Rühl und Heinz Kramer haben immer wieder in ihren Schriften gewarnt, dass die Türken doch eine einseitige Liebe entwickelt hätten, dass dieses Freundschaftsbild ein „historischer Mythos“ sei und die Deutschen im Gegensatz zu den Türken nicht an diese Freundschaft glauben würden.2 In den neunziger Jahren verstärkte sich diese Wahrnehmung noch, als die deutsche Regierung die kurdische Frage zu einer internen und externen außenpolitischen Thematik für die eigene Außenpolitik machte. Die „politische Lösung“ der Kurdenfrage in der Türkei wurde nun zu einer conditio sine qua non für die TürkeiEU-Beziehungen. Vor allem die Partei der Grünen bereitete der Türkei große Schwierigkeiten. Die Sympathie der deutschen Politiker und Intellektuellen für die Kurdenfrage wurde in der Türkei als eine „feindliche“ Haltung der Deutschen betrachtet. Der PKK-Terrorismus erlebte in der Türkei seinen Höhepunkt in den ersten Jahren der 90er Jahre, in dem Tausende von staatlichen Beamten, Soldaten, Polizisten, Lehrern sowie innerhalb der Zivilbevölkerung ihr Leben verloren hatten. Die Türkei bezahlte mit der Terrorismusbekämpfung nicht nur Menschenleben, sondern sie gab auch Milliarden von Dollar aus, um die Methode der Terrorismusbekämpfung zu stärken. Als Deutschland zweimal in den Jahren 1992 und 1994 der Türkei gegenüber ein Militärembargo verhänge, sank das positive Deutschlandbild der Türken auf den tiefsten Stand. Der türkische Intellektuelle 2 Siehe Hüseyin Bagci, Turkish-German Relations after 1997 Luxemboug Decision of the EU, an analysis from a Turkish domestic and Foreign Policy point of view, in: Bagci / Jackson / Kühnhardt (Hrsg.), Parameters of Partnership.

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und Schriftsteller Aziz Nesin, dessen kritische Ansichten gegenüber dem Militär bekannt waren, hat auch auf dieses Waffenembargo der deutschen Regierung reagiert und kritisiert, dass Deutschland doch keine Waffen produzieren solle!!! Die Türkei habe das Recht, so Aziz Nesin, Waffen zu kaufen, um den Terrorismus zu bekämpfen. Vorher gab es keine „Kurdenfrage“, die ein Thema zwischen den beiden Staaten gewesen wäre. In den 80er Jahren erlebten, im Gegensatz zu den 90er Jahren, die deutsch-türkischen Beziehungen ein goldenes Zeitalter, als sich zum Beispiel der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher sehr darum bemühte, nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 in der Türkei unter General Kenan Evren, die Türkei in die europäischen Institutionen zurück zu holen.3 Die Türken haben die deutsche Haltung in der Kurdenfrage wohl verstanden. Denn Deutschland war auch in den Augen der Türken ein Land der Emigration, obwohl die deutsche Politik und die Politiker es in diesen Jahren keinesfalls akzeptieren wollten, dass der islamische Fundamentalismus ein sicherer Hafen für PKKTerroristen und Asylsuchende aus aller Welt war. Es ist interessant festzustellen, wie die Türken dieses Verständnis gezeigt haben. Die deutsche Presse hatte jeden Tag die Türkei wegen der Kurdenpolitik sowie wegen der Menschenrechtsfragen kritisiert. Die Türkei war jetzt „Topthema“ der deutschen Presse. Der Grund lag nun aber auch darin, dass die PKK ihre Aktivitäten und politischen Aggressionen jetzt nicht nur gegen die in Deutschland lebende türkische Bevölkerung, deren Häuser und deren diplomatische Vertretungen und so weiter richtete. Auch deutsche Autobahnen wurden, z. B. im Jahre 1993 in der Nähe von Dortmund, von PKK-Anhängern blockiert. Der Direktor des Instituts für Außenpolitik in Ankara, Seyfi Tas¸han, sprach sogar von einem „Bosphorus bargain“, in dem er Deutschland vorwarf, mit der PKK heimlich zu einer Verständigung zu kommen, dass die PKK ihre Aktivitäten in Deutschland stoppt. Dies wurde später als „PKK bargain“ bezeichnet.4 Heute sieht es zwar anders aus. Doch in den späten 90er Jahren hatte die Türkei immer wieder die deutsche Regierung darum gebeten, die PKK zu verbieten. Der frühere Botschafter S¸ükrü Elekdag zum Beispiel brachte das Argument auf, man solle den PKK-Terrorismus auf die NATO-Tagesordnung setzen und kritisierte Deutschland wegen seiner weichen Haltung gegenüber dem internationalen Terrorismus. In der Tat hatte der Berliner Senator Heinrich Lummer den PKK-Führer Öcalan getroffen, um die deutschen Städte, wie von den Türken behauptet wurde, vom PKK-Terrorismus frei zu machen.5 3 Für eine detallierte Studie siehe Hüseyin Bagci, Alman D s¸ Politikas ve Türk-Alman Ilis¸kileri: Sorunlar, Beklentiler (German Foreign Policy and Turkish-German Relations: Problems and Expectations), in: Atila Eralp (Hrsg.), Türkiye ve Avrupa (Turkey and Europe), Ankara 1997, S. 277 – 300. 4 Gülistan Gürbey, Die „Europäisierung“ des Kurdenkonfikts. Eine Chance für den Frieden?, in: Internationale Politik, Nr. 2 – 3, Februar / März 1999; Hüseyin Bagci, Germany’s PKK bargain, Turkish Daily News, January 22, 1998. 5 S ¸ükrü Elekdag, Milliyet Daily, 19. Januar 1998.

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Nachdem PKK-Führer Öcalan in Kenia gefasst, in die Türkei ausgeliefert und nach einem Gerichtsverfahren zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt worden war, normalisierte sich die Lage. Man sollte aber betonen, dass die Koalition aus SPD und Grünen unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer Ende 1998 bei den weiteren Entwicklungen in dieser Frage der Türkei zur Seite stand, indem Deutschland dem PKK-Führer Öcalan kein politisches Asyl angeboten hatte. Die türkische Öffentlichkeit hatte von Anfang an für die Schröder / Fischer-Regierung große Sympathien gezeigt. Der Grund hierfür war, dass die neue Regierung im Prinzip für die Mitgliedschaft der Türkei in der EU war. Zumindest hatte die Schröder / Fischer-Regierung diese Ansicht vertreten. Mit anderen Worten: Wenn es nach der Luxemburger Entscheidung einen „großen Vertrauensverlust“ gegeben hätte, so wurde jetzt die neue Periode als eine der „Vertrauensgewinnung“ bezeichnet. Der Besuch von Bundespräsident Johannes Rau Anfang April 2000 bildete dafür einen guten Anlass.6 Denn als ein erfahrener Politiker war Präsident Rau jetzt in die Türkei gekommen, die nun seit Dezember 1999 ein „Kandidatenland“ mit EU-Beitrittsperspektive war. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte im Gegensatz zu Helmut Kohl von der Türkei, was ihre wirtschaftliche sowie strategische Bedeutung betraf, ein anderes Bild. Vor allem hatten Bundeskanzler Schröder und der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit vor dem Kölner EU-Gipfel 1999 das „Vertrauen“ zwischen beiden Ländern wieder hergestellt. Davor hatten sich die Regierung von Helmut Kohl und die türkische Regierung unter Mesut Y lmaz gegenseitig heftig beschuldigt, dass man in der Tat von einem „Kalten Krieg der Beziehungen“ zwischen den beiden Ländern reden konnte. Auch nach den Veränderungen in der regionalen sowie globalen Politik reagierte Gerhard Schröder so, dass Deutschland wiederum als „der Anwalt der Türkei“ in Europa betrachtet wurde. Gerhard Schröder entdeckte auch die potentielle Wirtschaftskraft der in Deutschland lebenden Türken. Allein die in Berlin lebenden 170.000 Türken sind bereits ein „Teil des deutschen Lebens“ geworden. In Berlin gibt jeder Berliner zu, dass Berlin ohne Türken sehr „einseitig und leblos“ wäre und die Türken „eine große kulturelle Bereicherung Berlins“7 seien. Die „Deutsch-Türken“ bezahlen jährlich mehr als 2,5 Milliarden Versicherungsbeiträge und mehr als 8,5 Milliarden Euro Einkommensteuer für die deutsche Wirtschaft. Im Jahre 1975 besaßen etwa 100 Türken ein eigenes Geschäft. Im Jahre 1996 waren es bereits 41.000 und heute sind es über 100.000 Türken. Sie bilden heute ein Geschäftsvolumen von über 50 Milliarden Euro und von mehr als 10 Milliarden Euro Kapitalinvestment. Neben diesem wirtschaftlichen Faktor wurden die „Deutschtürken“ auch inzwischen zu einem politischen Faktor. Und jedes Jahr erhöht sich die Bedeutung der Türken für die deutsche Wirtschafts- und Innenpolitik. Die türkische Öffentlichkeit betrachtet auch diese Türken als „Almanc “ 6 7

Hüseyin Bagci, Welcome President Rau, Turkish Daily News, April 4, 2000. Interviews des Autors mit vielen Bürgern von Berlin in den letzten 10 Jahren.

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(Deutschtürken) und erwartet nicht, dass sie zurückkommen. Im Gegenteil werden sie als „Euro-Türken“ eingestuft. Die Türkei ist daher ein Sendeland und Deutschland ein Immigrationsland. Anfang der neunziger Jahre erlebten nicht nur die Türken, sondern auch alle anderen Ausländer in Deutschland Attacken von Neonazis. Bei einem Brandanschlag verlor eine Familie 5 Kinder. Der Fall der Familie Genç aus Solingen wurde später doch zu einer Brücke zwischen den beiden Gesellschaften. Der Besuch von Präsident Rau Anfang 2000 hatte auch eine Botschaft der gesellschaftlichen Versöhnung, und die Türken in der Türkei hatten jetzt doch ein Bild von Deutschland, das sich allmählich ins Positive wandelte. Man sollte auch in diesem Sinne die Rolle der Geschäftsleute erwähnen, die in der Türkei einen neuen „geoökonomischen Partner“ gesehen haben. Denn sie sahen in der Türkei eine „Schlüsselrolle“ für die Zukunft Europas. Mit anderen Worten: Viele Politiker, die nur die nächsten Wahlen vor Augen haben, nehmen diese Rolle der Türkei nicht wahr, wenige Politiker erkennen die Chance. Deutsche Geschäftsleute haben, besonders seitdem die Türkei den Kandidatenstatus bekommen hatte, immer wieder auf die deutschen Regierungen großen Druck ausgeübt, wie die erste Hälfte des neuen Jahrzehnts bewiesen hat. Die deutsche Geopolitik und jetzt auch die deutsche Geoökonomie dürfe die Türkei nicht vernachlässigen.8 Doch es gab einen weltbekannten deutschen Politiker, der sich gegen die Mitgliedschaft der Türkei öffentlich aussprach und die Türken sehr enttäuschte. Es war der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der in Deutschland zu den Vertretern der „bismarckschen Realpolitik“ gezählt wird. Nach dem Helsinki-Gipfel 1999 wurde die Türkei doch noch „Kandidatenland“ mit dem Ziel, Mitglied der EU zu werden. In der Türkei begann die „EU-Euphorie“ wieder, während in Deutschland eine neue Debatte begann. In seinem Artikel in der „Zeit“ ermahnte der Altkanzler alle EU-Politiker, eine mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei zu überdenken. Er argumentierte wohl, die Türkei, Russland, die Ukraine und Weißrussland seien große Nationen und verdienten auch großen Respekt, aber die EU-Erweiterung um diese Länder könne er nicht akzeptieren, zumal diese Staaten zu einer anderen Kultur gehörten, und diese würde somit nicht in das Konzept Europas passen. Nach den Worten Schmidts gehörte besonders die Türkei nicht zu Europa und sollte auch nie dazu gehören. Eines seiner Hauptargumente war, dass die Türkei ein muslimisches Land sei und historisch gesehen würde die christliche Welt ein Defizit an Sympathie für die Türkei haben. Ein weiteres Argument war, was auch sachlich richtig ist, dass die Größe der türkischen Bevölkerung und die mögliche Emigration der Türken nach Europa eine große Gefahr mit sich bringen würde. Nach Helmut Schmidt würde die Türkei in 35 Jahren etwa 100 Millionen Einwohner haben, was den gesamten Bevölkerungen Deutschlands und Frankreich zusammen entsprechen würde. Für ihn sollte der Türkei Raum für eine bessere Zusam8 Für diese historische Erklarung siehe, Ilber Ortayl , Osmanl Imparatorlugunda Alman Nüfuzu (Der deutsche Einfluss im Osmanischen Reich), Istanbul 2006.

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menarbeit und Zollfreiheit gegeben werden, aber nicht die Vollmitgliedschaft. Es sieht so aus, dass der Vorschlag einer „privilegierten Partnerschaft“ von Angela Merkel auf dieser Idee Helmut Schmidts beruhte. Die Türkei lehnte diese Idee jedoch von Anfang an ab und sie ist auch jetzt kein Diskussionsthema mehr.9 Seine Gegenposition hat jedoch am Ende nicht verhindern können, dass sich die Türkei seit dem 4. Oktober 2005 im Prozess der Mitgliedschaft befindet. Für die Türken offenbarte dies doch die „Vernunft der EU-Nationen“, so dass für die Türkei der Brüsseler Gipfel vom 17. Dezember 2004 zum Datum für den Beginn der Mitgliedschaftsverhandlungen wurde. Es bleibt festzuhalten, dass es die Regierung Gerhard Schröder war, die die Notwendigkeit des Beitritts der Türkei zur EU eingesehen hat.10 Bundeskanzler Schröder hatte mit dem türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan eine persönliche und freundschaftliche Beziehung hergestellt und er wurde von der türkischen Öffentlichkeit sehr geschätzt. Zwischen 1998 und 2005 ermöglichte es die Regierung Schröder, die deutsch-türkischen Beziehungen auf eine stabile und vertrauensvolle Basis zu stellen. Es bestanden keine größeren Meinungsunterschiede zwischen den beiden Staaten, verglichen mit den 80er und 90er Jahren. Beide deutsche Politiker (Schröder / Fischer) verstanden die Türkei als einen strategischen Partner und es war auch in der Türkei sehr willkommen, dass jetzt Deutschland in den Augen der Türken als „Motor der EU“ auf das richtige Gleis seiner „Türkeipolitik“ zurückkam. Es gab einige Veränderungen, die unbedingt dargelegt werden müssen. Vor allem verstand die Schröder / Fischer-Regierung die Rolle der Türkei auch als eine wirtschaftliche Brücke in den Mittleren Osten, besonders im Rahmen der Greater Middle East Initiative, wo die Türkei als eine Art Stellvertreter der Vereinigten Staaten von Amerika auftritt. Auch änderte Deutschland gegenüber der Türkei seine Waffenpolitik, im Gegensatz zu den 90er Jahren unter Helmut Kohl. Deutschland lieferte weiterhin Leopard 2-Panzer an die Türkei, viele neue Waffengeschäfte wurden vereinbart. Das Eis war jetzt gebrochen. Daher würde auch die neue Regierung unter Angela Merkel vom September 2005 es einfacher haben, mit der Türkei in dieser Frage zu verhandeln. Der Technologietransfer sollte jetzt keine Frage sein. Die türkische Öffentlichkeit wusste bereits schon, dass Angela Merkels Christliche Demokraten die innenpolitischen Entwicklungen der Türkei ebenfalls mit großer Skepsis betrachteten. Das zeigte sich besonders in der Menschenrechtsfrage. Wie früher Gerhard Schröder so war auch Angela Merkel in der Kurdenfrage an sich zurückhaltend, deshalb erwartete man nun in der Türkei auch, dass die deutsche Regierung in dieser Frage härter werden würde. Man sollte jedoch nicht 9 Hüseyin Bagci, Helmut Schmidt’s Realist view of Turkey, Turkish Daily News, October 19, 2000. Der türkische Ministerpreasident Tayyip Erdogan lehnte diesen Vorschlag während seiner Rede in Münchener Sicherheitskonferenz vom Februar 2008 offiziell ab. Details unter www.securityconference.de. 10 Hüseyin Bagci, Turkey on Board Europe, The New Anatolian, September 19, 2005.

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vergessen, dass die kurdischen politischen Gruppen ihre Karten nur auf SPD und Grüne gesetzt hatten und in der Tat die CDU / CSU „vernachlässigten“. Historisch gesehen sollte betont werden, dass die deutschen Konservativen seit der Ära Konrad Adenauers der türkischen Politik immer sympathisch waren. Dass sich etwas ändern würde, hatte man zwar in der Türkei nicht erwartet. Es war aber auch nicht ausgeschlossen worden. Als Angela Merkel ihr neues Amt als Bundeskanzlerin antrat, wurde dies in der Türkei sogar sehr begrüßt. Denn gerade vor 12 Jahren hatten die Türken in Tansu Çiller ihre erste Ministerpräsidentin. Es stellte eine Revolution in der türkischen Geschichte dar. Jetzt hatten auch die Deutschen ihre „erste Bundeskanzlerin“. Die Türken, so lauteten alle Schlagzeilen der großen Zeitungen, gratulierten ihr und der deutschen Nation. Sie wurde, wie man während ihrer Wahlkampagne es vernommen hatte, sogar zur „Angie der Türken“: sowohl in Deutschland als auch in der Türkei.11 Ihr Besuch in der Türkei ein Jahr später sollte ein großes Spektakel sein. Denn sie kam mit über 100 Geschäftsleuten im Fastenmonat Ramadan. Deutschland war und ist immer noch der größte Handelspartner der Türkei in der EU. Angela Merkel hatte die Politik von Gerhard Schröder fortgesetzt, in der die Türkei weiterhin nicht nur als verlässlicher Partner, sondern auch weiterhin als ein Land, das mit Deutschland „Sonderbeziehungen“ hat, galt und sie begann die Türkei von einer positiveren Position aus zu sehen. Obwohl Angela Merkel weiterhin auf ihrem Vorschlag bestand, der Türkei eine „privilegierte Partnerschaft“ anzubieten, hatte sie doch die Entscheidung der EU vom Oktober 2005 anerkannt und sagte, dass ihre Koalitionsregierung mit der SPD dieser Entscheidung mit pacta sunt servanda treu bleibt. Diese Aussage reichte für die Türken schon!12 Interessanterweise entwickelten sich die türkisch-deutschen Beziehungen in unerwarteter Weise viel stabiler als man erwartet hatte. Vor allem die türkische Regierung unter Tayyip Erdogan war daran interessiert, Deutschland als politischen und wirtschaftlichen Partner zu haben. Vor allem aber kam der AKP-Regierung die religiöse Toleranz der Deutschen zugute. Der Deutschlandberater des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan, der Geschäftsmann und Mitbegründer der AK-Partei, Cüneyd Zapsu, war die wichtigste Person, die jetzt die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland „regelte“. Er hatte diese Aufgabe bis Mai 2008 inne und trat nach der Kölner Rede des Ministerpräsidenten Erdogan von Mitte Februar zurück, wo Erdogan Deutschland sehr stark für die Politik gegenüber den Ausländern kritisierte und Deutschland vorwarf, unter dem Deckmantel einer „Politik der Integration“ in Wahrheit eine „Politik der Assimilation“ zu führen. Diese Rede wurde auch in der Türkei als übertrieben angesehen. Etwa zwei Wochen später versuchte Cüneyd Zapsu in einem Artikel in der Zeitung „Zaman“ sowohl die 11 12

Hüseyin Bagci, Angie of the Turks, in: The New Anatolian, November 21, 2005. Hüseyin Bagci, Fast-breaking Merkel, in: The New Anatolian, October 9, 2006.

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türkische wie auch die deutsche Seite seinerseits zu überzeugen, was eigentlich Ministerpräsident Erdogan zum Ausdruck bringen wollte. Nach Zapsu, der der Hauptinitiator der Kölner Rede war, wurde der türkische Ministerpräsident nur missverstanden! In der Tat hatte diese Rede zum ersten Mal seit Jahren viel Schaden in den türkisch-deutschen Beziehungen verursacht. Die türkische Öffentlichkeit sah jedoch nach einer Brandstiftung in Ludwigshafen, die bis jetzt nicht geklärt werden konnte, wiederum die Gefahr, dass die in Deutschland lebenden Türken wieder wie schon Anfang der 90er Jahren das Ziel von Neonaziattacken werden würden. Kurz nach der Brandstiftung war der türkische Ministerpräsident nach Ludwigshafen gekommen und hatte dort eine sehr versöhnliche und staatsmännische Rede gehalten. Er traf mit Angela Merkel in Berlin zusammen und beide nahmen in einem Gymnasium mit Schülern an einer Diskussion teil. Warum er ein paar Tage später so eine Rede gehalten hat, ist bis heute nicht zu verstehen. Eines war klar: Die in Deutschland lebenden Türken waren nicht nur für die deutsche Parteien, sondern auch für die türkische Regierung, wie bei vorherige Regierungen auch, zu einem innenpolitischen Spielball geworden.13 Die türkische Öffentlichkeit erlebte ab Mai 2008 eine andere Diskussion, die besondere Schlagzeilen verursacht hatte. Der Direktor des Zentrums für Türkeistudien, Prof. Faruk S¸en, war Anfang Juli von seinem Posten als Direktor entfernt worden. Der Hauptgrund dafür war, dass er in einem Artikel für die türkischen Zeitung Referans vom 26. Mai 2008 schrieb, dass die in Europa – aber besonders in Deutschland – lebenden Türken die „neuen Juden Europas“ seien. Das hatte in der deutschen Presse zu großen Diskussionen geführt. Seit Jahren erlebten die türkisch-deutschen Beziehungen nicht so eine „intellectual crisis“, die am Ende auf beiden Seiten großen Schaden angerichtet hat. Prof. Faruk S¸en trat seit 23 Jahren für die Verbesserung der türkisch-deutschen Beziehungen im politischen, im wissenschaftlichen und im gesellschaftlichen Bereich ein und er wurde sogar mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Doch am Ende wurde ihm vorgeworfen, dass er die Geschichte nicht genügend kennen würde, denn ein solcher Vergleich entspreche nicht den historischen und gegenwärtigen Realitäten.14 Der Fall Prof. S¸en ist zwischenzeitlich gelöst; hervorzuheben ist aber auch die türkische Presse, die sehr moderat agierte und ihre Leser in einer sehr neutralen Art und Weise informierte. In den drei Jahren unter der Regierung Angela Merkel haben die Türken ihre sehr positive Meinung über Deutschland trotz bestehender Unterschiede in einigen politischen Fragen beibehalten. 13 Cüneyd Zapsu, Almanya’n n yard m nza ihtiyac var (Deutschland braucht ihre Hilfe), 19. Februar 2008, www.zaman.com.tr / haber.de?haber no=653693. 14 Hüseyin Bagci, Türkiye – Almanya yar finaline stratejik bak s¸ (Eine strategische Sicht für das türkisch-deutsche Halbfinale), in: Stratejikboyut, 4. Temmuz, 2008; Wolfgang Günter Lerch, Der Wortgewandte. Frauk S¸en hat Türken mit Juden verglichen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Juni 2008.

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Wenn man die letzten 18 Jahre resümieren würde, so könnte man sagen, dass Deutschland für die Türken nicht nur der „Exportweltmeister“ ist, sondern auch als ein Land mit offenen demokratischen Strukturen gilt und sich als Freund und Nachbar der Türken empfohlen hat. Abschließend sollte man vielleicht daran erinnern, dass die Türkei die einzige Nation in ganz Europa war, die den Deutschen aus ganzem Herzen gratulierte, als sich am 3. Oktober 1990 die beiden deutschen Staaten vereinigten. Die größten Tageszeitungen hatten an dem Tag auch deutsche Überschriften auf ihre erste Seite gesetzt, die den Satz beinhalteten „Alles Gute für die Zukunft Deutschlands“.15 Auch wenn das als einseitige Liebe angesehen werden müsste, blieben die Türken in all diesen Jahren sehr positiv gegenüber Deutschland und den Deutschen eingestellt und es sieht so aus, als ob diese traditionelle Sichtweise weiterhin aufrechterhalten wird. Manchmal überwiegt Hass, manchmal Liebe, wie eine letzte Studie diese Perzeption der Türken gezeigt hat, aber das ist ein Gefühl gegenüber dem Westen insgesamt.16

15 So zum Beispiel die Tageszeitungen Hürriyet und Milliyet vom 3. Oktober 1990. Für eine neue Bewertung der Türkei siehe Bergedorf Round Table, Istanbul, Turkey as Partner for European Foreign Policy in the Middle East, 136th Bergedorf Protocol, Hamburg 2007. 16 Kudret Bülbül, B. Berat Özipek, Ibrahim Kal n (Hrsg.), As ¸k ile Nefret Aras nda Türkiye’de Toplumun Bat Alg s (Between Hate and Love, Turkish perception of the West), SETAV, February 2008, Ankara.

Deutschland aus der Sicht Russlands Von Wjatscheslaw Daschitschew

Das Thema „Deutschland aus der Sicht Russlands“ setzt ein differenziertes Bild der Wahrnehmung Deutschlands in meinem Land voraus. Man muss unterscheiden zwischen der Wahrnehmung der Deutschen und Deutschlands von der breiten Masse des russischen Volkes, in der herrschenden Elite und der von ihr vertretenen Deutschlandpolitik. Auch innerhalb der nationalen, sozialen, politischen und wissenschaftlichen Gruppen gibt es wesentliche Unterschiede in der Einstellung zur „deutschen Frage“. Zum Beispiel in der Union der rechten Kräfte, wo die Politiker aus der Garde von Jelzin vom Schnitt Gaidar, Tschubais, Nemzow und ihresgleichen die erste Geige spielten und noch jetzt spielen. Sie verhalten sich Deutschland gegenüber mit großen Vorurteilen und Vorbehalten. Die national und patriotisch gefärbten Parteien und Organisationen Russlands sind dagegen durchaus deutschlandfreundlich und setzen sich für die deutsch-russische Zusammenarbeit und Freundschaft ein. Welche Hauptfaktoren prägten und prägen das Deutschlandbild in der russischen Gesellschaft? Vor allem sind folgende zu nennen: 1. Eine lange geschichtliche Periode deutsch-russischer, freundlicher Beziehungen, die bis zum Ersten Weltkrieg dauerte. In dieser Zeit befand sich die russische Gesellschaft unter einem starken und wohltuenden Einfluss der deutschen Literatur, Philosophie, Wissenschaft, Kunst, der technischen Entwicklung und (nicht minder) beeindruckt durch die deutsche Tüchtigkeit. Auch der Einfluss der Russlanddeutschen auf das politische, wirtschaftliche und geistige Leben in Russland war enorm groß. Nicht zu unterschätzen ist ebenso der kulturelle und geistige Einfluss Russlands auf Deutschland. „Die glücklichen Jahre“ – so hat der angesehene deutsche Journalist Dieter Cycon sein Buch über die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu recht genannt. „Die bittere Wahrheit besteht darin“ – schrieb er in seinem Buch –, dass „kaum etwas noch in Gehirnen geblieben war von den langen Perioden fruchtbarer deutsch-russischer Kooperation“.1 2. Zwei Weltkriege, als das russische und das deutsche Volk in den Kampf gegeneinander von den „bösen Kräften“ – so Gorbatschow – getrieben wurden. 1

Dieter Cycon, Die glücklichen Jahre. Deutschland und Russland, Stuttgart 1991, S. 12.

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3. Der Kalte Krieg, in dem ein Teil des deutschen Volkes (die Bundesrepublik) auf der amerikanischen Seite wieder in der globalen Konfrontation gegen Russland (die Sowjetunion) stand. 4. Die „Sturm- und Drangperiode“ der Wiedervereinigung Deutschlands, zu der die russische Politik entscheidend beigetragen hat. 5. Der neue „halbkalte“ Krieg der USA gegen Russland (1991 – 2008), in den Deutschland wieder hineingezogen wurde. Wie wir sehen endeten die glücklichen Jahre in den deutsch-russischen Beziehungen 1914 nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, obwohl es für beide Länder keine politischen und wirtschaftlichen Gründe gab, in einen Feldzug gegeneinander zu ziehen. Ganz im Gegenteil waren sie sehr stark geopolitisch und wirtschaftlich aufeinander angewiesen. Es schien, als ob es nach all den tragischen, grauenhaften Erfahrungen und Erlebnissen des russischen Volkes in zwei Weltkriegen, besonders im Laufe des Ostfeldzuges Hitlers gegen die Sowjetunion, zwischen den Russen und Deutschen zu keiner Verständigung und Versöhnung kommen könnte. Es genügt, an den „Generalplan Ost“ zu erinnern, der im Amt von Himmler auf Anweisung von Hitler 1940 – 1941 ausgearbeitet wurde. Er sah vor: die Liquidierung der russischen Staatlichkeit, die Untergrabung der „biologischen Kraft“ des russischen Volkes, die Vertreibung der Russen hinter den Ural, nach Afrika und Südamerika. Nach den Worten Görings mussten in den ersten Jahren des Krieges 30 Millionen Russen ums Leben gebracht werden. „Generalplan Ost“ – dieses schrecklichste Dokument des 20. Jahrhunderts – hat den Holocaust der Juden weit überschattet. Aber der gesunde Menschenverstand ließ die Russen zwischen den Verbrechen der Hitlerclique und dem deutschen Volk strikt unterscheiden. Die Kollektivschuld der Deutschen an Naziverbrechen wurde in Russland niemals anerkannt. Selbst 1942, als der Krieg in vollem Gange war, wurde an sowjetische Soldaten und Bürger die Ermahnung gerichtet: „Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt“. Man konnte gleichermaßen sagen: „Stalins kommen und gehen, aber das russische Volk bleibt“, denn das Prinzip der „Kollektivschuld“ ist für die Säuberungen und das Genozid am russischen Volk in den 1930er Jahren nicht anwendbar. Dasselbe gilt für Ausschreitungen einzelner sowjetischer Soldatesken in Deutschland am Ende des Krieges und für die Vertreibung von mehreren Millionen Deutschen aus ihrem östlichen Siedlungsareal. Es ist ein erfreuliches Phänomen in den Beziehungen zwischen unseren Völkern: buchstäblich zwei bis drei Jahre nach dem Krieg wurden die Frontgreuel und Verbrechen im Gedächtnis der meisten Russen als Vergangenheitserscheinungen gewertet, die das Verhältnis zu Deutschen nicht belasten dürften. An ihre Stelle kamen normale freundliche Gefühle gegenüber den Deutschen. In einem SpiegelInterview sagte Alexander Solschenizyn: „In der gegenseitigen Anziehung zwi-

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schen Deutschland und Russland ist etwas Vorgegebenes . . .“ Das ist wirklich wahr. Ich versuchte zu diesem erfreulichen deutsch-russischen Phänomen in mehreren Artikeln Stellung zu nehmen. Im Laufe von drei Jahrhunderten wechselten sich also Freund- und Feindbilder in den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland. Eine große Rolle spielten dabei die Außenmächte, besonders die USA und England, für die jede Annäherung zwischen unseren Ländern ganz unerwünscht war und bleibt. Werfen wir einen kurzen retrospektiven Blick auf unsere gemeinsame Geschichte. Die Rückbesinnung auf die Vergangenheit ist wichtig. Aber noch wichtiger ist, die Lehren aus dieser Vergangenheit für die Zukunft zu ziehen und die glücklichen Jahre in den deutsch-russischen Beziehungen wieder zum Gemeingut unserer Völker zu machen. Am 28. März 1740 hat der Staatsminister von Preußen, Heinrich von Podewils, den testamentarischen Wunsch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. an seinen Sohn, den nachmaligen Friedrich den Großen, wie folgt aufgezeichnet: „Mit Russland hätten seine Majestät gute Freundschaft und Harmonie zu halten jederzeit gesucht. Sie empfehlen diese auch dem Kronprinzen, da in einem Krieg mit Russland sehr viel zu riskieren, aber nichts von ihm zu gewinnen wäre . . .“ So hatte Friedrich Wilhelm I. die Staatsräson Preußens für seine Politik im europäischen Umfeld definiert. Die Grundlagen deutsch-russischer Freundschaft reichen zurück bis zu Peter dem Großen, also bis zu jenem Augenblick, als Russland zum ersten Mal die europäische Bühne betrat. Die Staatsräson der deutschen Russlandpolitik, formuliert von Friedrich Wilhelm I., war keine Einbahnstraße. Russland brauchte auch die Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen beiden großen Nationen Europas. Und es ist kein Zufall, dass das Haus Hohenzollern sehr oft in kritischen Perioden sowohl seine Rettung, als auch seine Erhöhung der Politik Russlands verdankte. Die beiden Hohenzollern – der Vater Friedrich Wilhelm I. und der Sohn Friedrich der Große – sorgten für gute Beziehungen zu Russland. Der hervorragende Träger dieser Politik war Otto von Bismarck. Weit bekannt ist sein Spruch: „Man darf niemals den Draht nach Russland abreißen lassen. Das deutsche und das russische Volk profitierten sehr stark von dieser vernünftigen Politik.“ Der Rückversicherungsvertrag von Bismarck und die wohlwollende Neutralität Russlands während des deutsch-französischen Krieges 1870 / 71 haben die ausschlaggebende Rolle bei der Geburt Deutschlands gespielt. Die beiden Völker haben im XVIII. und XIX. Jahrhundert eine große gegenseitige Befruchtung und Beeinflussung in der Literatur, in der Philosophie und in der Wissenschaft miterlebt. Preußen schenkte der Menschheit den hervorragenden Philosophen Immanuel Kant, der das russische philosophische und politische Denken sehr stark prägte und bis jetzt prägt. In den Jahren 2005 und 2006 habe ich im Europäischen Klaus-Mehnert-Institut in Königsberg / Kaliningrad Vorlesungen

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in deutscher Sprache gehalten. Das Thema lautete „Russland und der Westen: die wichtigsten Zäsuren in den Wechselbeziehungen von Stalin bis Putin“. Der Schwerpunkt wurde auf die deutsch-russischen Beziehungen gelegt. Den theoretischen Teil meines Vorlesungskurses begann ich mit der Betrachtung des Traktats von Immanuel Kant „Zum ewigen Frieden“. Es ist erstaunlich, wie Kant – dieser große Sohn Preußens – noch vor zwei Jahrhunderten grundlegende Voraussetzungen für den Frieden richtig definiert und die Prinzipien des Völkerrechts formuliert hatte, die ihre Gültigkeit und ihre Aktualität für die Gegenwart nicht verloren haben. Kant zählte die wichtigsten „Verbotsgesetze“ auf, die die verantwortlichen Politiker in ihrem Verhalten in der internationalen Arena und bei der Gestaltung der Außenpolitik als eine unabdingbare Voraussetzung für den Frieden befolgen müssten. Leider haben die gegenwärtigen Politiker, vor allem in den USA, den völkerrechtlichen Nachlass von Kant ganz vergessen. Sie handeln auf der internationalen Arena seinen weisen Prinzipien zuwider. Das ist ein schlechtes Menetekel. Natürlich setzt die Einhaltung der Kantschen „Verbotsgesetze“ eine hohe Intelligenz, eine hohe Moral und ein hohes Verantwortungsgefühl der Politiker und der Staatsführung voraus. Kant wandte sich gegen die „Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht“, die ihren Niederschlag in der Politik finden. Es ist schlecht, verderblich und verhängnisvoll, wenn die Leitung der Politik in falsche Hände gerät und von der Gesellschaft nicht kontrolliert und nicht unterstützt wird. Kant hielt die Führung von Bestrafungskriegen (bellum punitivum) für unzulässig. Die Politiker in Washington aber betrachten solche Kriege als eine normale und notwendige Praxis (Beispiele: Jugoslawien, Afghanistan, Irak). Die Amoralität in der Politik führt in der Regel zum Krieg. Nach Kant kann der Frieden erzielt werden, wenn die Politik und die Moral im engen Zusammenhang und in der engen Wechselwirkung sind. Der nackte Pragmatismus, der vom Egoismus und Eigennutz ausgeht, ist mit der Friedenssicherung nicht vereinbar. Und Moral stellt Kant mit Recht gleich. Nur das politische Handeln, das auf dem Recht beruht, ist moralisch, sittlich und friedensfördernd. Die Lockerung von Moral im eigenen egoistischen Interesse, besonders ihre Trennung von der Politik, ist für das Gemeinwohl verderblich. Heute sind wir Augenzeuge geworden, wie das Völkerrecht ruiniert wird. Kant, Hegel, Feuerbach, List, Lomonossow, Goethe, Schiller, Puschkin, Tolstoj, Dostojewski, Tschechow, Bach, Beethoven, Tschaikowski, Borodin, abgesehen von zahlreichen anderen geschichtlichen Figuren, bilden einen gemeinsamen geistigen und kulturellen Reichtum Deutschlands und Russlands, der im Laufe des XVIII. und XIX. Jahrhunderts entstand. Es sei auch zu erwähnen, welche enorme Rolle in der russischen Politik, in der Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft Russlanddeutsche spielten. Hier seien nur die Namen der Kaiserin Katharina I., des russischen Ministerpräsidenten Witte, der Admirale Krusenstern und Heller, des Industriellen Mehnert, des Wissenschaftlers Rauschenbach zu nennen. Es war ein großes

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Verbrechen seitens Stalins, während des Krieges die Wolgadeutschen-Republik zu liquidieren und die Russlanddeutschen nach Sibirien und nach Mittelasien zu vertreiben. Das war die Entscheidung eines paranoiden Mannes, die schwere Folgen für die nationalen Interessen Russlands hatte. Im XIX. Jahrhundert traten Deutschland und Russland in den Kreis von Hauptakteuren auf der europäischen internationalen Bühne ein. Sie prägten maßgeblich das Antlitz Europas und seine Geschichte und erlebten Höhepunkte ihrer beiderseits vorteilhaften Zusammenarbeit. Aber die Annäherung zwischen beiden großen Nationen Europas war gar nicht im Interesse Englands und der USA. Im Gegenteil bemühten sie sich, beide Länder zu schwächen und gegeneinander zu treiben. 1935 bewunderte Winston Churchill die Erfolge von Hitler und schrieb über ihn wie folgt: „Die Geschichte ist reich an Männern, die mit Hilfe dunkler Taten an die Macht gekommen sind, die aber, wenn man ihr Leben in seiner Gesamtheit betrachtet, trotzdem als große Gestalten gelten dürfen, die die Geschichte der Menschheit bereichert haben. Ein solcher Mann könnte Hitler sein . . .“ Der deutsche Historiker Leo Sievers hat zu Recht hervorgehoben, dass Churchill dieses Loblied in dem Glauben geschrieben hätte, in dem erklärten Anti-Marxisten Hitler einen Kämpfer gegen die Sowjetunion gefunden zu haben2. Es ist bekannt, wie die transatlantischen und englischen Finanzeliten, beispielsweise die Bankhäuser von Warburg, Rothschild und Rockefeller Hitler finanzierten, um im kontinentalen Europa Gegensätze und Kriege zu schüren. Und sie erreichten ihr Ziel. Es war für das deutsche und das russische Volk ein schicksalhaftes Unglück, in den beiden Weltkriegen gegeneinander kämpfen zu müssen. Das führte zu schwerwiegenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Folgen für beide Länder und für ganz Europa. Im Ergebnis hat Deutschland in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts seine Position als Großmacht in der europäischen Entwicklung eingebüßt. Die Eigenart der Entwicklung Europas im 20. Jahrhundert, in dem Deutschland und Russland agierten, kann man durch den Begriff der Verdammnis kennzeichnen: Spaltung und Konfrontation. Die sie prägende Kräftekonstellation änderte sich in ihrem Charakter je nach Situation. Entscheidend dabei waren das Kräftespiel und die kriegerischen Auseinandersetzungen im Dreieck Frankreich – Deutschland – Russland. Diese traten gegeneinander abwechselnd in den Kombinationen auf: a) Russland und Deutschland gegen Frankreich, b) Frankreich und Russland gegen Deutschland, c) Frankreich und Deutschland gegen Russland. Davon profitierten die USA und England. Für andere Völker Europas wirkte sich der permanente Wechsel der Gegnerschaft in diesem Dreieck unheilvoll aus. Im Zusammenhang mit dieser Hetzpolitik gestatten Sie mir, ein Beispiel aus der jüngsten Zeit anzuführen. Vor einem Monat hat mein Enkelsohn Iwan aus der 2 Leo Sievers, Deutsche und Russen. Tausend Jahre gemeinsamer Geschichte von Otto dem Großen bis Gorbatschow, Hamburg 1991, S. 438.

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Schule ein Computerspiel „Made in USA“ nach Hause gebracht. Es war für die Kinder im Alter von 8 bis 15 Jahre bestimmt. Das Spiel heißt: „Der Kampf der Deutschen gegen die Russen“. So werden bei den russischen und deutschen Jugendlichen Feindbilder geschaffen. Ist diese psychologische Verdummung der Kinder nicht empörend? Nach 1945 wurde über dem Kontinent der Eiserne Vorhang als Menetekel eines drohenden globalen Unheils verhängt. Die Spaltung Europas weitete sich auf Deutschland und die ganze Welt aus, die in zwei rivalisierende sozialpolitische und wirtschaftliche Weltsysteme ausartete. Die Prinzipien der Nachkriegsregelung, die auf den Jalta- und Potsdamkonferenzen festgeschrieben wurden, erwiesen sich für Deutschland viel schwerer und demütigender als der Vertrag von Versailles. Sie brachten ihm die Spaltung, die Besetzung und die Unterordnung unter fremde Interessen, die bis heute andauert. Aus realistisch denkenden wissenschaftlichen und politischen Kreisen Russlands ist jetzt eine scharfe Kritik an den Schöpfern dieser Nachkriegsordnung zu hören. So schrieb das Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Prof. Nikolai Petrakov, am 17. Juli 2007 in der „Literaturnaja Gaseta“ unter anderem wie folgt: „Das Empörung erregende Abkommen – der Pakt Churchill – Roosevelt – Stalin, abgeschlossen praktisch 1945 in Jalta, hat eine einzigartige Umverteilung der europäischen Territorien festgelegt. Vom deutschen Volk (nicht von den Nazis) wurden riesige Teile des Landes in Pommern, Schlesien, Ostpreußen abgenommen. Drei Leaders, zwei von denen „echte westliche Demokraten“, haben vereinbart, eine totale Deportation von 15 Millionen Menschen der deutschen Kernbevölkerung, die Hunderte Jahre lang im Zentrum Europas lebten, durchzuführen. Das waren ein zynischer Kuhhandel und das Komplott der Sieger. [ . . . ] Churchill garantierte die Unverbrüchlichkeit der neuen nördlichen und westlichen Grenzen Polens im Laufe einer Generation der Deutschen und der Polen. Diese Generation, geboren in den Jahren 1943 – 1945, näherte sich jetzt unmittelbar dem Rentneralter. Der dritte Garant der Nachkriegsgrenzen Polens – die UdSSR – hörte de jure auf zu existieren. Dann stellt sich die Frage: bleibt der antidemokratische Pakt zwischen Churchill, Roosevelt und Stalin, errichtet auf der Rechtfertigungsideologie der Nachkriegsannexionen und der Deportation der ethnischen Kernbevölkerung Deutschlands, rechtmäßig in Kraft? Niemand in der Welt kann jetzt diese Frage beantworten. [ . . . ] Die moderne Weltdemokratie denkt nicht daran, eindeutige juristische Normen in dieser wichtigsten Sphäre der internationalen Beziehungen auszuarbeiten.“

Die europäischen politischen und wirtschaftlichen Eliten haben durch ihre konfrontative dumme Gegeneinanderpolitik Europa im XX. Jahrhundert verspielt und den Amerikanern preisgegeben. Zur Zeit und auf absehbare Zukunft bleiben die USA Herrscher in Europa. Sie hatten noch während des Kalten Krieges aus dem Munde des Generalsekretärs der NATO, Lord Hastings Lionel Ismay, die dreifache Aufgabe ihrer Europapolitik verkündet: „die Amerikaner in Europa zu halten, die Deutschen unten zu halten, die Russen außerhalb Europa zu halten“ („to keep Americans in, to keep Germans down, to keep Russians out“). Diese amerikanischen Prinzipien bleiben auch heute in Kraft.

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Einer der Wesenszüge der amerikanischen Politik wurde die Verhinderung jeglicher Annäherung zwischen Russland und Deutschland. Altkanzler Schröder versuchte, diese Annäherung zu vollziehen. Gegen ihn wurde eine gemeine, schmachvolle Diskreditierungs- und Verleumdungskampagne entfacht. Vor kurzem wurde er für seine Russlandpolitik von einem amerikanischen Senator im Kongress als „politische Prostituierte“ bezeichnet. Ein besonderes Kapitel in den deutsch-russischen Beziehungen stellt zweifellos die Wiedervereinigung Deutschlands dar, die mit den Reformen der Innen- und Außenpolitik unter Gorbatschow in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eng verbunden war. Auf die Tagesordnung der sowjetischen Politik rückten damals zusammenhängende Prioritätsaufgaben: die Einstellung des Kalten Krieges, die Eindämmung der Hochrüstung, die Überwindung der Teilung Deutschlands und die Abkehr vom Stalinismus in der Innen- und Außenpolitik. Der Schlüssel zur deutschen Einheit lag damals in Moskau. Vor 1985 war er im Besitz der konservativen Kreise des Politbüros und des ZK. Es kam darauf an, ihnen diesen Schlüssel zu entziehen und in die Hand des deutschen Volkes zu geben und für die deutsche Einheit günstige internationale Bedingungen durch den Ausgleich der Interessen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion zu schaffen. Das war eine außerordentlich schwierige Aufgabe, wenn man fest verwurzelte Stereotypen des konfrontativen Denkens, ideologische Vorurteile, üblich gewordene Feindbilder, die Interessen der Vertreter der Partei- und Staatsstrukturen bedenkt. Es ist eine Tatsache, dass die sowjetische Politik wie übrigens die westdeutsche, abgesehen von der DDR-Führung, durch die breite Volksbewegung unter dem Motto der deutschen Einheit überrascht wurden. Die Volksmassen gerieten in Bewegung, nachdem die sowjetische Gorbatschow-Führung die „Breschnew-Doktrin der begrenzten Souveränität“ der sozialistischen Länder verworfen hatte. Nach dem Fall der Berliner Mauer forderten einige Hitzköpfe in der Internationalen Abteilung des ZK, die Grenze durch Gewaltanwendung wiederherzustellen und die Volksbewegung ähnlich wie beim Arbeiteraufstand in Berlin im Juni 1953 niederzuschlagen. Zum Glück hat Gorbatschow diese Forderungen zurückgewiesen. Andernfalls hätte es zu einem neuen und letzten Weltkrieg kommen können. Die Wiedervereinigung Deutschlands ging friedlich vonstatten. Das war ein großer Verdienst der Gorbatschow-Politik. Die deutsche Wiedervereinigung wurde in der russischen Bevölkerung als eine positive Erscheinung in der Entwicklung Europas wahrgenommen. Man glaubte, sie mache ein Ende mit der Ost-West-Konfrontation und dem enormen Druck auf die sowjetische Wirtschaft und erleichtere die soziale Lage der Bürger. Aber in einem gewissen Teil der russischen Elite wurde Gorbatschow, milde gesagt, vorgeworfen, er habe das strategische Vorfeld Russlands in Zentraleuropa auf- und Deutschland an die Amerikaner preisgegeben. Doch die meisten waren und sind der Einsicht, Deutschland hörte auf, ein Opfer des Kampfes zwischen zwei Supermächten zu sein und würde sowieso seine volle

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Souveränität und Unabhängigkeit von den USA zurückerobern. Keine, selbst die vornehmsten Ideen, keine ideologischen Überlegungen, keine politischen Ziele könnten die Zerstückelung eines Volkes, seiner Kultur, seiner geschichtlichen Traditionen, der Bande, die seine Familien verbanden, rechtfertigen. Die politische Entwicklung und die sozial-wirtschaftliche Umgestaltungen können nur dann einen legitimen und konfliktlosen Charakter annehmen, wenn sie im Rahmen einer geeinten Nation ohne die gewalttätige Aufoktroyierung fremder Werte und ohne fremde Herrschaft vonstatten gehen. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende der offenen Ost-WestKonfrontation bot sich für die Europäer die einmalige Gelegenheit, eine qualitativ neue friedliche Ordnung in Europa nach Prinzipien der Pariser Charta aufzubauen. Nach dem allgemeinen Konsens musste die Wiedervereinigung Deutschlands in die Perspektive einer Einigung Europas münden, eines Europas ohne Trennungslinien und Blockstrukturen, ohne Zwiespalt und Feindschaft. Obsiegen müssten die Zusammenarbeit, die gleiche Sicherheit und Demokratie auf dem gesamten Kontinent. Aber die Entwicklung Europas ging zum Unglück nicht nach diesem Szenario. Die amerikanische Regierung hat den Niedergang der Sowjetunion als eine nie wiederkehrende Chance zur Herstellung der globalen Herrschaft der USA und zur Aufrechterhaltung und Verstärkung ihrer Dominanz in Europa wahrgenommen. Heutzutage ist in Russland die Meinung weit verbreitet, die Bundesrepublik Deutschland sei ein Land mit begrenzter Souveränität, ein Satellit der USA. Es scheint, dass diese Einsicht auch den meisten Deutschen zu eigen ist. Der Altkanzler Gerhard Schröder nannte das delikat: „relative Souveränität unserer Außenpolitik“3. Ich erhalte aus Deutschland viele Briefe, in denen diese Meinung der Russen bestätigt wird. So steht in einem Brief von Herrn Martin Wartenberg geschrieben: „Beim Lesen ihrer Artikel ,Schlacht um Russland‘ und ,Quo vadis, Europa‘ wurde mein inniger Wunsch noch verstärkt, Sie persönlich kennenzulernen und in einen vertiefenden konstruktiven Gedanken- und Informationsaustausch mit Ihnen und vielleicht noch mit anderen wahrhaftigen gutwilligen Persönlichkeiten Russlands zu kommen. [ . . . ] So wie Sie sehe ich mit großer Sorge die weltpolitische Lage und gewisse Pläne, insbesondere die Bedrohung Russlands durch unsere gemeinsamen Feinde. Russland hat gegenüber Deutschland den Vorteil, dass es frei ist. Hierzulande wird in den Medien und bei öffentlichen Äußerungen sehr oft auf die political correctness geachtet. Unsere Völker sind menschheitsgeschichtlich und in ihren wichtigen Aufgaben für die Zukunft eng miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. Zusammenarbeit war immer fruchtbar. Die größte Tragödie der bekannten Geschichte war es, dass es unseren gemeinsamen Feinden mit ihren Agenten gelungen war, dass sich unsere Völker unbeschreibliches Leid und unersetzbare Verluste zufügten. Doch das ist noch nicht alles: die gegenwärtige Zersetzungs- und Unterwanderungspraktiken, insbesondere gegen die Jugend, die Wirtschaft und die einst erreichte hohe europäische Kultur sind Besorgnis erregend.“ 3

Gerhard Schröder, Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg 2006, S. 514.

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Sowohl viele Politiker als auch die breite Öffentlichkeit in Russland sind über die gegenwärtige Lage und die Politik Deutschlands sehr besorgt. Warum sind auf dem deutschen Territorium 17 Jahre nach der Einstellung der offenen Ost-WestKonfrontation die amerikanischen und englischen Truppen mit Atomwaffen stationiert? In den USA betrachtet man sie als eine wichtige angelsächsische militärische Komponente des Systems der Einkreisungspolitik Russlands und daneben als Mittel, „die Deutschen unten zu halten“ (to keep Germans down). Andere Erklärungen kann man dafür nicht finden, denn Europa wird von niemandem bedroht. Und wenn dem so ist, dann stellt sich eine noch wichtigere Frage: wenn Europa nicht bedroht ist, wozu existiert die NATO überhaupt? Warum wird sie nicht umgewandelt in ein effektives System der gesamteuropäischen Sicherheit, Russland inbegriffen? Was steckt eigentlich hinter den Plänen, die NATO aufrechtzuerhalten und nach Osten zu erweitern? Wer verhindert die Schaffung einer neuen friedlichen europäischen Ordnung? Sind das die USA, die gewillt sind, ihr Hauptinstrument der Herrschaft in Europa um jeden Preis beizubehalten? Warum nehmen die Europäer, auch die deutsche Regierung, diesen abnormen und gefährlichen Zustand hin? Es gibt noch mehrere Fragen an die gegenwärtige Außenpolitik Deutschlands, die in Russland kein Verständnis findet. Welche Vorteile, zum Beispiel, zieht die Bundesrepublik für sich, indem sie im Fahrwasser Washingtons segelt und infolgedessen gezwungen ist, im Rahmen der NATO eine gegenüber Russland unfreundliche Politik zu betreiben? Ist das etwa in ihrem Interesse oder im Interesse der Friedenserhaltung in Europa? Das würde ich nicht sagen. Oder will man unter dem Flügel der USA das Statut einer Weltmacht wiedererlangen? Die amerikanischen herrschenden Kreise wollen gar nicht, dass Deutschland – so beispielsweise Brezinski – zu einer Weltmacht emporsteigt. Sie räumen ihm die Rolle einer regionalen Macht ein. Die Architekten der amerikanischen Politik sind sogar gegen die Aufnahme Deutschlands in den Sicherheitsrat der UNO. Dafür braucht Washington die deutschen Soldaten, um nach dem Bedarf die nationalen (Erdöl-)Interessen der USA am Hindukusch und in anderen Regionen zu behaupten. Dazu dient die Globalisierung der NATO, d. h. die Ausweitung ihres Wirkungsbereichs auf die ganze Welt. Zum Sündenfall Deutschlands wurde in Russland die Beteiligung der Bundeswehr am amerikanischen Krieg gegen Jugoslawien. Noch nie gab es in der europäischen Geschichte einen Präzedenzfall, als eine außereuropäische Macht auf dem europäischen Boden einen Krieg entfesseln konnte. Das haben die USA gemacht. Durch die Teilnahme an diesem amerikanischen Krieg verletzte die Bundesregierung die Verträge, die nach der deutschen Wiedervereinigung unterschrieben wurden (vom deutschen Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen). Nicht unbemerkt blieben in Russland die Bemühungen der USA, ihre politische Position in Deutschland durch wirtschaftliche Maßnahmen zu stärken, unter anderem durch die Anwendung der „Strategie der Heuschrecken“, d. h. durch das mas-

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senhafte Aufkaufen der deutschen Unternehmen. So hofft die amerikanische Elite, ihren Einfluss auf die Politik der Bundesrepublik langfristig aufrechterhalten und stärken zu können. Nach der Ansicht vieler russischer Politiker und Wissenschaftler kann die demütigende Lage Deutschlands nicht ewig dauern. An der Leine der USA und Mittäter der amerikanischen globalen Abenteuer zu sein, ist gefährlich und wirtschaftlich und moralisch ziemlich belastend geworden. In diesem Zusammenhang hat der deutsche Politiker Egon Bahr darauf hingewiesen, dass „kein Volk lange knieend leben kann“ und ermahnte die deutschen Politiker „zu lernen, eine normale Nation zu sein“4. In Russland hegt man die Hoffnung, dass die Tendenz der Befreiung Deutschlands aus der amerikanischen Klemme zunehmen wird. Das hat in der Politik des Bundeskanzlers Gerhard Schröder seinen Niederschlag gefunden, besonders bei der Weigerung, an dem Krieg gegen den Irak teilzunehmen und beim ersten Versuch in der Geschichte Europas, im Hinblick auf diesen Krieg mit Russland und Frankreich ein Triumvirat ins Leben zu rufen. Es ist sehr bezeichnend, dass sich 2007 nur 30 Prozent der Deutschen zur positiven Einschätzung der amerikanischen Politik neigten („Deutsche Welle“, 04. 08. 2007). Die erfolgreiche Umwandlung Deutschlands in eine normale, voll souveräne Nation liegt im nationalen Interesse Russlands. Denn eine russlandfeindliche Politik, wie sie die USA führen, liegt gar nicht im Interesse eines unabhängigen Deutschlands. Sie ist auch gar nicht im Interesse Europas. Das bestätigte Gerhard Schröder: „Die Interessen der USA und Europas mit Blick auf Russland seien völlig unterschiedlich. Europa müsse alles unterlassen, was als Eindämmungspolitik gegenüber Moskau verstanden werden könne. Dazu gehören auch Pläne zur Aufnahme der Ukraine und Georgiens in das Verteidigungsbündnis NATO“5. Das bezieht sich auch auf die amerikanischen Alleingänge zur Schaffung des Raketenabwehrsystems in der Tschechischen Republik und in Polen, das gegen Russland gerichtet ist sowie die Sicherheit und den Frieden in Europa stark gefährdet. Ich werde gegen die Wahrheit nicht verstoßen, wenn ich sage und die Meinung der meisten russischen Politiker ausdrücke, dass die nationalen Interessen Russlands und Deutschlands im Hauptsächlichen übereinstimmen: sie brauchen eine friedliche europäische Ordnung ohne Trennungslinien, ohne Feindschaften, ohne Aufrüstung und Raketen, ohne Herrschaft und Diktat, ohne Einflusssphären; ein Europa mit dem hohen Wohlstand aller ihrer Bürger. Europa darf nicht die Rolle eines Dieners oder Juniorpartners Amerikas erfüllen. Was folgt aus dieser kurzen Analyse unseres Themas für Russland? Auf die bilateralen Sonderbeziehungen zu Deutschland zu setzen, wäre nicht realistisch. Die4 Egon Bahr, Die Deutschen müssen lernen, eine normale Nation zu sein, in: Junge Freiheit, 05. 11. 2004, S. 5. 5 Süddeutsche Zeitung, 12. März 2007, S. 5.

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ses Duumvirat würde mit Argusaugen von vielen wahrgenommen. Das Rückgrad der Sicherheit und der Zusammenarbeit in Europa muss eine enge Partnerschaft zwischen Frankreich, Deutschland und Russland bilden. Zu dieser Partnerschaft müssen auch Polen, Italien, Spanien und andere europäische Länder gehören. Dieter Cycon hat in seinem oben erwähnten Buch sehr richtig geschrieben: „Nicht der Kampf mit der europäischen Mitte, sondern die Zusammenarbeit mit ihr muss künftig die Devise in Moskau wie in Paris sein. Nur eine kräftige Mitte, die sich mit West und Ost freundschaftlich fühlt, kann West und Ost Sicherheit geben – das ist das Ergebnis der politischen Fehlkalkulationen, Abenteuer und Katastrophen eines Jahrhunderts. [ . . . ] Das Ziel muss jenes ,Europa von Vaterländern vom Atlantik bis zum Ural‘ sein, das der große Seher de Gaulle angestrebt hatte, ein Europa, das sich in Harmonie mit dem ganzen Globus entwickeln kann.“6

Die Emanzipation Europas von der amerikanischen Dominanz bedeutet nicht irgendwelche Entfremdung von Amerika. Im Gegenteil wird dies bessere Grundlagen für die euroatlantische Zusammenarbeit schaffen. Das müssen die USAEliten endlich begreifen. Zum Schluss möchte ich Sie, meine Damen und Herren, über ein Ereignis informieren, das für Sie überraschend und – ich hoffe – angenehm erscheinen mag. Im vorigen Jahr wurde in Russland eine Umfrage durchgeführt. Die Frage lautete: „Welches Land ist ihnen am liebsten: USA, England, Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien?“ Die Antwort lautete: Deutschland! Das sagt und bedeutet vieles.

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Dieter Cycon (Anm. 1), S. 18 – 19.

Polen zwischen altem und neuem Europa Von Albert S. Kotowski

Am Sonntag, dem 21. Oktober 2007 fanden in Polen Parlamentswahlen statt, die insbesondere in Deutschland sehr aufmerksam und mit Spannung beobachtet wurden. In den Nachrichten aller Sender und in der Presse nahmen die Informationen aus Warschau an diesem Sonntag einen erstrangigen Platz ein. Noch nie seit dem Fall der Mauer und dem Untergang des kommunistischen Systems in Osteuropa wurde soviel Aufmerksamkeit und Sorge der politischen Entwicklung und dem bevorstehenden Machtwechsel in einem der ehemaligen Ostblockstaaten gewidmet. Die Ursache dafür war die Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen seit dem Amtsantritt der Zwillingsbrüder Kaczynski, die im Jahr 2005 die Ämter des Staatspräsidenten und des Ministerpräsidenten übernommen hatten. Der Wahlsieg der liberalen Bürgerplattform und ihres Vorsitzenden, Donald Tusk, am 21. Oktober 2007 wurde durch die deutsche Regierung sehr begrüßt und in den deutschen Medien gefeiert. Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete am Tag nach der Wahl über ein „enormes Interesse an guten Beziehungen“ und verwies auf die Äußerung von Bundeskanzlerin Merkel, die den Wahlsieg der Bürgerplattform begrüßte und die Hoffnung auf gute Zusammenarbeit in Europa und eine Entspannung des deutsch-polnischen Verhältnisses zum Ausdruck brachte. Die Zeitung berichtete: „Bundeskanzlerin Merkel setze auf Entspannung im deutsch-polnischen Verhältnis und auf einen Schulterschluss in der Europapolitik. Die Bundesregierung hoffe, dass die neue polnische Regierung des liberalen Spitzenkandidaten Donald Tusk das Angebot zum Dialog und zum Ausgleich aufgreifen werde.“

Zu Wort meldeten sich auch führende deutsche Politiker. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz (CDU), rechnete mit einer spürbaren Verbesserung der bilateralen Beziehungen. Für Polens Außen- und Europapolitik erwartete er auch einen Neuanfang und wies darauf hin, dass man auf das aufbauen könne, was Persönlichkeiten wie Ex-Außenminister W adys aw Bartoszewski und andere erreicht hätten. Auf deren Erbe – sagte Polenz – hat sich die bisherige Regierung des Ministerpräsidenten Jaros aw Kaczyn´ski eher weniger bezogen. Ähnlich äußerte sich Gesine Schwan, Koordinatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit. Im ersten Interview nach den Wahlen rechnete sie ebenfalls mit einer Entspannung der politischen Verhältnisse zwischen Berlin und Warschau. Schwan wies darauf hin, dass Donald Tusk angekündigt

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habe, sowohl das Verhältnis zur Europäischen Union als auch zu Deutschland verbessern zu wollen. Nach ihrer Meinung werde Tusk stark genug sein, nationale Interessen zu vertreten, ohne dies zu Lasten Deutschlands oder Europas zu tun. Dies unterscheide ihn vom bisherigen Regierungschef Kaczyn´ski. Im Wahlergebnis sah Schwan auch einen Beleg dafür, dass es nicht gerechtfertigt sei, von einer deutschfeindlichen Stimmung zu sprechen: „Die Umfragen zeigen alle, dass die Polen mehrheitlich sowohl gegenüber Deutschland als auch gegenüber Russland eher eine positive Beziehung haben wollen.“1 In der deutschen Öffentlichkeit herrschte eine Aufbruchstimmung, man gab sich allerseits zuversichtlich, dass die neue Regierung von Donald Tusk die inzwischen sehr zerfahrenen deutsch-polnischen Beziehungen reparieren würde. Was ist eigentlich zwischen Berlin und Warschau in den vergangenen Jahren passiert, dass man deutscherseits auf einen Durchbruch hoffen musste? Wenn man die Äußerungen deutscher Politiker von Ende Oktober 2007 liest, kann man sich der Vermutung nicht entziehen, an der Verschlechterung der Beziehungen seien allein die Polen, und namentlich die Gebrüder Kaczynski, verantwortlich. Diese Meinung verfestigte die in Polen berühmt-berüchtigte Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach (MdB), die in der ersten Reaktion auf das Wahlergebnis in Warschau ihre Genugtuung zum Ausdruck brachte und zugleich bemerkte: „Das, was an Ressentiments vorhanden ist, das kam von polnischer Seite.“2 Stefan Raabe, Leiter des Warschauer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, analysierte in seinem Länderbericht vom Januar 2008 die außenpolitische Lage Polens insbesondere im Hinblick auf die deutsch-polnischen Beziehungen. Er betonte, dass es in der Tat im Laufe des Jahres 2007 Divergenzen mit Deutschland gegeben habe bei Themen wie der Gaspipeline durch die Ostsee, der Europapolitik, dem Umgang mit der Geschichte, den Entschädigungsansprüchen einiger Vertriebener, vertreten durch die Preußische Treuhand und deutschen Kulturgütern in Polen. Diese Divergenzen führten durch die Art und Tonlage der Behandlung von Seiten der polnischen Regierung zu einer Verschärfung der Krise in den bilateralen Verhältnissen. Der im Außenministerium angesiedelte Deutschlandbeauftragte der polnischen Regierung Mariusz Muszyn´ski (inzwischen von Tusk längst abgesetzt) goss mit aggressiven publizistischen Einlassungen und Vorwürfen gegenüber Deutschland wiederholt Öl ins Feuer des Streites. Bedingt durch die deutsche EURatspräsidentschaft, die im Gegensatz zu Polen eine Entscheidung in der Frage der Reform des Verfassungsvertrages der EU herbeiführen wollte und durch das Problem des Abstimmungsmodus im Europarat, bei dem Deutschland durch seine Größe exponiert ist, entstand in der polnischen Öffentlichkeit der Eindruck eines Interessenkampfes zwischen Deutschland und Polen. Das polnische Parlament unterstützte ohne die Zustimmung der Linken die Verhandlungsposition der Regierung, die ein „Quadratwurzelsystem“ bei der Stimmengewichtung durchsetzen 1 2

Süddeutsche Zeitung v. 22. 10. 2007. Die Welt v. 23. 10. 2007.

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wollte. Der Vorschlag wurde von der Regierung u. a. damit begründet, dass eine Stärkung Polens zur Verhinderung einer deutschen Hegemonie in der EU notwendig sei. Es müsse verhindert werden, dass Polen wieder einmal Opfer deutscher Interessen werde. Bis zuletzt drohte Premier Kaczyn´ski von Warschau aus unter dem Motto „Quadratwurzel oder Tod“ mit einem Veto. Erst nach äußerst harten Verhandlungen kam es in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 2007 in Brüssel zu einem Kompromiss. Der polnische Premier bewertete den EU-Gipfel anschließend als Erfolg für Polen. Doch auf beiden Seiten ist von politischer Erpressung die Rede gewesen. Vizepremier Roman Giertych klagte, Deutschland habe Polen wie in früheren Zeiten die Pistole auf die Brust gesetzt. Das konservative Politikmagazin „Wprost“ stellte Kanzlerin Merkel auf dem Titelblatt als „Stiefmutter Europas“ dar, die lächelnd Jaros aw und Lech Kaczyn´ski an ihrer Brust stillte. Der polnische Ethikrat kritisierte das Titelblatt als geschmacklos. Die Bild-Zeitung titelte halbseitig: „Polen verhöhnen deutsche Kanzlerin“. Auslöser der „Presseschlacht“ war die Schlagzeile des Spiegels: „Wie die Polen Europa nerven“ und ein Bild, dass die polnischen Staatszwillinge auf Angela Merkel reitend darstellte. Letztendlich scheiterte der Versuch der Kaczyn´skis auf dem Hintergrund der Geschichte durch ein populistisch instrumentalisiertes Misstrauen gegenüber Deutschland europapolitisch Kapital zu schlagen. „Der Schaden, den diese Politik anrichtete – so Raabe in seinem Länderbericht – wurde in der Sache zwar durch das Einschwenken in letzter Minute auf den Kompromiss, der den Erfolg des Gipfels ausmachte, begrenzt.“ Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bemerkte am Rande der Berichterstattung über diesen Gipfel: Es ist „der Dämon einer anderen, vergangen geglaubten Zeit, dessen giftiger Atem da plötzlich durch Europa streicht“.3 Die von der FAZ aufgerufenen „Dämonen der Vergangenheit“ beschäftigen, natürlich umgekehrt, auch die Polen. Der bereits erwähnte ehemalige polnische Regierungsbeauftragte Muszyn´ski schrieb in der Einleitung einer opulenten Studie der Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ und des polnischen Außenministeriums, die Ende 2007 in Deutsch, Englisch und Polnisch veröffentlicht wurde, Folgendes: „Seit einiger Zeit reicht eine Lappalie, um das deutsch-polnische Verhältnis zu stören. Manchmal reicht ein Wort, eine Zeichnung oder eine Fotomontage und sogleich verlieren die Toleranz, Verständigung und Versöhnung ihre Bedeutung. Der Geist der Geschichte, die nicht vergehen will, schwebt über allem“. Muszyn´ski warf den Deutschen vor, seit dem 18. und 19. Jahrhundert habe sich in der deutschen Öffentlichkeit nichts geändert. Es gäbe dort ein zweipoliges Bild von Polen und seiner Bewohner. Einerseits werden die Gastfreundschaft und die Vielfalt Polens betont, andererseits wird immer wieder das Stereotyp des Polen als Bürger eines armen und schlecht regierten Staates verbreitet, das am Rande Europas liege und kaum in die zivilisierte Europäische Union passt.“4 3 Länderbericht Polen: Politische Chronik 2007, hrsg. von Stefan Raabe, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau vom 28. 01. 2008, S. 4 – 5. 4 Mariusz Muszyn ´ ski / Przemys aw Sypniewski / Krzysztof Rak (Hrsg.), Die Deutschen über Polen und die Polen. Polen in den deutschen Medien in den Jahren 2006 – 2007, Warszawa 2007, S. 9 – 10.

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Den „Geist der Geschichte“ und den „Dämon der Vergangenheit“ mitten in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts heraufzubeschwören erscheint auf den ersten Blick obsolet, ja fast lächerlich, wenn man bedenkt, wie musterhaft die deutschfranzösische „historische Gegnerschaft“ nach dem Zweiten Weltkrieg überwunden wurde. Dabei schienen noch vor fünf Jahren der politische Wandel am Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und der epochale Transformationsprozess eine grundlegende qualitative Wandlung der deutsch-polnischen Beziehungen zu ermöglichen. Die Annäherung und Versöhnung sowie die gutnachbarschaftlichen Beziehungen, die in den letzten Regierungsjahren des Bundeskanzlers Helmut Kohl aufgebaut wurden, hätten eine feste Grundlage für die weitere Entwicklung einer Freundschaft und erfolgreichen Partnerschaft beider Nationen bilden können. Zwischen den Versöhnungsgesten und -beteuerungen von Bundeskanzler Kohl und dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki während des Treffens beider Staatsmänner in Kreisau sowie dem Vorwurf des Ministerpräsidenten Jaros aw Kaczyn´ski an den ehemaligen Außenminister und Brückenbauer der deutsch-polnischen Versöhnung, W adys aw Bartoszewski, er betreibe eine „Politik des Kniens vor den Deutschen“, liegen weniger als sechs Jahre. Die heutigen deutsch-polnischen Debatten und nachbarschaftlichen Streitigkeiten lassen sich aber ohne einen Rückblick auf die Geschichte der deutsch-polnischen Nachbarschaft nicht erklären. Gehen wir also auf eine kurze Reise in die deutsch-polnische Vergangenheit: Der Bonner Jurist, Professor Marcus Lutter, der am 16. Mai 2003 die Doktorwürde honoris causa der Warschauer Universität erhielt, sprach in seiner Dankesrede über die glücklichen, goldenen Zeiten der deutsch-polnischen Geschichte und spannte einen Bogen von der Reise des Kaisers Otto III. zum slawischen Herzog Boles aw Chrobry nach Gnesen im Jahre 1000 über die Vermählungen der polnischen Herrscherhäuser mit deutschen Prinzessinnen im Mittelalter, u. a. von Oda von Meißen und Königin Richeza, bis zum polnischen König Johann Sobieski, dessen Sieg über die Türken bei Wien 1683 eine unglückliche Wende der europäischen Geschichte verhinderte.5 Man kann diesen Bogen noch weiter spannen: Deutschpolnische Gemeinsamkeiten und friedliche Zeiten sind in der Geschichte leicht aufzufinden. Jan Józef Lipski, eine der führenden und in Deutschland populärsten Persönlichkeiten der demokratischen Opposition im kommunistischen Polen, schrieb in seinem Essay „Polen, Deutsche und Europa“ aus dem Jahre 1989, dass die Grenze zwischen dem Königreich Polen und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Jahrhunderte lang, vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, die ruhigste Grenze Europas war, die unverändert blieb und um die keine Kriege geführt wurden.6 5 Rafa Sikorski (Hrsg.), Uroczystos ´c´ wreczenia dyplomu Doktora Honoris Causa Uniwersytetu Warszawskiego profesorowi Marcusowi Lutterowi 16 maja 2003 roku, Warszawa 2003, S. 12 – 13. 6 Jan Józef Lipski, Wir müssen uns alles sagen . . . Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, hrsg. von Georg Ziegler, Deutsch-Polnischer Verlag Warschau 1996, S. 254.

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An dieser Stelle kann man die Liste der Beispiele einer friedlichen Nachbarschaft fast beliebig erweitern: Sächsische Kurfürsten herrschten als gewählte Könige der Adelsrepublik und es musste keine schlechte Herrschaft gewesen sein, wenn man bedenkt, dass die polnischen Monarchisten dem heutigen Nachkommen der sächsischen Wettiner vor wenigen Jahren die polnische Krone zugesprochen haben, sollte Polen irgendwann zum Königreich erklärt werden. Erwähnenswert ist das Bündnis deutscher und polnischer Demokraten im 19. Jahrhundert, die deutsche Polenfreundschaft in den 1830er Jahren und die Waffenbrüderschaft auf den Barrikaden der Revolutionen von 1848 / 49 mit der Parole „Für Eure und Unsere Freiheit“. Diese friedliche Entwicklung und die positiven Traditionen erlitten einen Bruch in der Zeit der Reichsgründung 1870 / 71, wobei sich die Wende zum preußischpolnischen Antagonismus bereits in der Debatte abzeichnete, die im Juli 1848 im Frankfurter Parlament geführt wurde. Als die Polen die Aufrechterhaltung der Sonderrechte für die Provinz Posen verlangten, trat der deutsche Abgeordnete Wilhelm Jordan mit einer Rede in der Paulskirche auf, in der er die Deutschen zu einem „gesunden Volksegoismus“ in ihrem Verhältnis zu den Polen aufrief und „deutsche Eroberungen in Polen“ zu einer „Notwendigkeit“ erklärte. Beide Nationen strebten dasselbe Ziel an: Die Gründung eines Nationalstaates; aber nur den Deutschen schien es zunächst gelungen zu sein, dieses Ziel erreicht zu haben. Die Gesetzgebung des Kulturkampfes mit ihrer antipolnischen Tendenz und Bismarcks Kampf gegen die polnische Kirche und den polnischen Adel schufen ein neues Bild der deutsch-polnischen Beziehungen, das immer mehr den Charakter eines erbitterten Nationalitätenkonfliktes zeigte. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, mit der verschärften Germanisierungspolitik im preußischen Teilgebiet, ließen die Ausnahmegesetze des Reichskanzlers von Bülow gegen die preußischen Polen Vorurteile und Stereotypen auf beiden Seiten entstehen, die bis heute noch eine Rolle spielen und den Annäherungsprozess nachhaltig beeinflussen. Der Reichskanzler Bismarck gilt im heutigen Polen oft als Symbol negativer preußischer Polenpolitik.7 Die nationalsozialistische Besetzung Polens, die durch Terror und Vernichtungspolitik gekennzeichnet war, schließlich die Vertreibung der Deutschen aus Polen nach 1945, verursachten eine Kluft zwischen den beiden Nationen, die noch heute nicht ganz überwunden ist. Die deutsch-polnischen Beziehungen erreichten nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Tiefpunkt und wurden durch Hass, Vorbehalte und Leidgefühle überschattet. Es kam hinzu, dass zwischen den Staaten, die nach 1945 jeweils Mitglieder antagonistischer Bündnisse waren, Jahrzehnte lang keine diplomatischen Beziehungen existierten. Die Bundesrepublik verweigerte die Aufnahme von Beziehungen mit Staaten, die – wie die Volksrepublik Polen – völkerrechtliche Beziehungen mit der DDR unterhielten. Sie lehnte auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ab. 7 Albert S. Kotowski, Zwischen Staatsräson und Vaterlandsliebe. Die Polnische Fraktion im Deutschen Reichstag 1871 – 1918, Düsseldorf 2007, S. 21 – 30.

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Für die Polen dagegen war deren Anerkennung die erste Voraussetzung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Die kommunistischen Machthaber im Lande nutzten diese Situation und schürten die antideutsche Stimmung in Polen, um durch die Bildung einer Front gegen die „revisionistische Bundesrepublik Deutschland“ die Bevölkerung von den innerpolitischen Problemen abzulenken. Immerhin aber konnten 1963 in Warschau und Köln Handelsmissionen eingerichtet werden und das, was in der Politik fehlte – nämlich die Bereitschaft zum Dialog – wuchs langsam in den privaten Kontakten über die Oder-Neiße-Grenze hinaus. Erst in den 1970er Jahren begann sich das trübe Bild zu ändern – nicht zuletzt deshalb, weil die Bundesrepublik mit ihrer Ostpolitik neue Wege ging; der berühmte Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal an der Gedenkstätte des Warschauer Gettos war dafür symbolhaft. Grundlegend für die Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen waren die Verträge mit Moskau und Warschau aus dem Jahre 1970, die die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen in Europa anerkannten. Dennoch blieb die weitere Entwicklung immer noch geprägt von den Erfahrungen des Kalten Krieges und der Weg zu konstruktiver Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschen schien noch sehr lang zu sein. Die Furcht der Polen vor der Umklammerung und einem Wiedererwachen des antipolnischen Geistes bei den großen Nachbarn war noch zu groß und die Erinnerungen an die preußische Germanisierungspolitik und an die NS-Herrschaft noch zu frisch. Auch auf deutscher Seite war die Bereitschaft zum Dialog und zur Annäherung durch die innerpolitische Auseinandersetzung über die Prinzipien der deutschen Ostpolitik und durch Leidgefühle der Vertriebenen gehemmt. An dieser Stelle muss betont werden, dass dem politischen Wandel durch die Annäherung ein gesellschaftlicher voraus eilte. Die „Pioniere der Versöhnung“ und die „Brückenbauer“,8 wie sie der ehemalige polnische Außenminister W adys aw Bartoszewski,9 Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels10 nennt, waren zunächst weniger die Politiker, vielmehr aber die Kulturschaffenden, Intellektuellen und Vertreter der Kirchen und der Wirtschaft. Die ersten Signale kamen von deutschen Katholiken und Protestanten, deren Weg zur Versöhnung nach dem Krieg nach Auschwitz führte. Hier haben sich vor allem die 1953 von jungen Protestanten gegründete „Aktion Sühnezeichen“ und die katholische Friedensbewegung „Pax Christi“ hervorgetan. Besonders wichtig war die Rolle der Kirchen als Vorreiter des Dialogs. Hier sind beispielhaft das „Tübinger Memorandum“ evangelischer Wissenschaftler von 1962 sowie die Vertriebenen-Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands und der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965 zu erwähnen. 8 „Ehrendoktorwürde für ,Brückenbauer’“ – so titelte der Uni-Journal den Bericht über die Verleihung der Ehrendoktorwürde für Wladyslaw Bartoszewski an der Phillip-Universität in Marburg im Juni 2001. 9 Andrzej K. Kunert, Brückenbauer zwischen Ost und West. Wladyslaw Bartoszewski. Publizist, Geschichtsforscher, Staatsmann, Warschau 2000, 199 S. 10 Im Jahre 1986.

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Die Stunde der Politik schlug zur Zeit der großen Wende 1989 / 90: Die Wahl der ersten nichtkommunistischen Regierung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg, der Fall der Berliner Mauer, die Wiedervereinigung Deutschlands und später der Rückzug der sowjetischen Truppen aus Ostmitteleuropa bildeten eine feste Grundlage für qualitativ völlig neue Beziehungen zwischen Deutschen und Polen. Durch diese Ereignisse wurden die Traditionslinien der russisch-preußischen Hegemonie über Polen seit Ende des 17. Jahrhunderts durchtrennt und neue Bedingungen der deutsch-polnischen und polnisch-russischen Beziehungen geschaffen. Einer der „Brückenbauer“ im Sinne Bartoszewskis, der Historiker Klaus Zernack, langjähriger Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission, die beispielhaft für die Annäherung durch Wissenschaft steht, fasste die Ereignisse der 1990er Jahre folgendermaßen zusammen: „So sehen sich Deutsche und Polen heute von der Last der Erbschaft negativer Polenpolitik befreit und stehen an einem neuen Anfang ihrer Beziehungen. Die Grenze zwischen Deutschland und Polen, um die es im 20. Jahrhundert soviel Streit und Konfrontation gegeben hat, ist durch ihre völkerrechtliche Sicherung zum ersten Mal nicht Trennungslinie, sondern diese Grenze beginnt die Völker zu verbinden. In den offiziellen staatlichen Beziehungen sind sich Deutschland und Polen heute in der Zusammenarbeit in allen Fragen der europäischen Einigung so nahe gerückt wie nie zuvor in ihrer Geschichte“. Aus der heutigen Perspektive scheint die Meinung Zernacks doch viel zu optimistisch gewesen zu sein, obwohl die Oder keine Grenze mehr im weiteren Sinne dieses Wortes ist, und Deutschland und Polen sich gemeinsam in der Europäischen Union wieder gefunden haben. Verlassen wir nun die Schlachtfelder der Geschichte und widmen uns der Gegenwart. Kurz nach der Übernahme der Regierung in Warschau gab Donald Tusk Anfang November 2007 der führenden polnischen liberalen Zeitung „Gazeta Wyborcza“ ein Interview, in dem er seine Position gegenüber Deutschland als Ministerpräsident offen legte. Der Journalist erinnerte Tusk daran, dass er durch seine politischen Gegner in der Kaczyn´ski-Partei als „germanophil“ bezeichnet wird und angeblich „an einer ungesunden Faszination gegenüber dem Deutschtum“ leiden soll. Ferner hielt ihm die damals regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ vor, sein Großvater habe bei der Wehrmacht gedient. Tusk entgegnete, bei diesen Behauptungen handle es sich nicht um eine Frage der deutsch-polnischen, sondern der polnisch-polnischen Beziehungen. Die Wahl-Landkarte habe gezeigt, dass die Polen aus ihrem Komplex gegenüber den Deutschen heraustreten; je näher der östlichen Grenze, desto mehr antideutsche Phobien, denn diese erwachsen aus Vorurteilen und dem Mangel an Wissen über die Nachbarn. Auf die entscheidende Frage, ob Donald Tusk und Angela Merkel eine neue Etappe der polnisch-deutschen Versöhnung beginnen werden, gab Tusk eine Antwort, die die WahlsiegEuphorie in der deutschen Öffentlichkeit eindämmen musste: „Die Zeit der Politik solcher Gesten, wie sie Kohl und Mazowiecki in Kreisau ausgeführt haben, ist zu Ende. Es hat die Zeit der Interessenpolitik begonnen, und wir müssen unsere Interessen verteidigen.“ Tusk pointierte hier seine Rede in Berlin am 29. März 2007

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während der Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung zum 85. Geburtstag von W adys aw Bartoszewski, in der er sagte: „Ich bin mir dessen bewusst, dass die Zeit der Politik der Gesten vorbei ist. Die große Öffnung, die Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki in Kreisau vollzogen haben, wird in den gegenseitigen Beziehungen als Wegweiser für die Zukunft gelten. Heute ist jedoch die Zeit der Interessenpolitik gekommen. Im Geiste jenes Ereignisses müssen wir uns deshalb über die Dinge unterhalten, die uns trennen. Man kann den Stil oder die Effizienz der Außenpolitik ändern, aber die Probleme in den gegenseitigen Beziehungen verschwinden nicht nur deswegen, weil sich die Regierungsmannschaft in Warschau oder Berlin ändert.“11 Damit wurden die Weichen für die gegenwärtige polnische Deutschlandpolitik gestellt, und – das kann man wohl sagen – nicht ganz so, wie es sich die deutschen Politiker vorstellten. Aus den anfangs zitierten Stellungnahmen der deutschen Politik auf das Wahlergebnis in Warschau strahlte Zufriedenheit und Entspannung: Nun würden die Polen wieder zur Vernunft der vergangenen Jahre zurückkehren und in die Bahn der konstruktiven Europapolitik zurückgeführt. Der polnische „Patient“ würde wohl bald genesen. Eine vollständige Emanzipation des östlichen Nachbarn auf der internationalen politischen Bühne, dessen Beitritt zur Europäischen Union durch die Bundesregierung stets befürwortet und forciert wurde, wurde zwar begrüßt, aber das polnische Bestreben, als Vorsprecher der neuen EUMitglieder aus Osteuropa vorzutreten, wurde in Berlin sehr distanziert und misstrauisch wahrgenommen.12 Die Gründe dafür sind vielseitig und liegen sowohl im fehlenden Verständnis bei der deutschen Politik für die Ängste und Motive der polnischen EU- und Außenpolitik gegenüber den beiden mächtigen Nachbarn, Deutschland und Russland als auch bei der Befürchtung, die Vorbehalte Polens gegenüber Russland könnten die deutsch-russischen Beziehungen trüben. Widmen wir uns also zunächst den Motiven der polnischen EU- und Deutschlandpolitik. Einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der polnischen Europapolitik zur Zeit der Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit hatten Veränderungen in der Art der Formulierung ihrer Ziele und Strategie. Der außenpolitische Schwerpunkt verschob sich deutlich in Richtung der Kanzlei des Staatspräsidenten; für die Ausarbeitung der polnischen Position zum Verfassungsvertrag war das Präsidialamt verantwortlich. Alle Fäden der polnischen Außen- und Innenpolitik befanden sich in den Händen der Zwillingsbrüder Kaczyn´ski; das Außenministerium hatte so gut wie keine Bedeutung, weil dessen Leiterin, Außenministerin Fotyga, zum Kreis der engsten Mitarbeiter des Staatspräsidenten Lech Kaczyn´ski gehörte und nur seine politische Direktiven ausführte. Es gab drei Problemfelder der Europapolitik, auf denen die deutsch-polnischen Kontroversen am deutlichsten hervor11 Donald Tusk, Was für eine Union braucht Polen, was für eine Gemeinschaft braucht Europa?, in: „Dialog“. Deutsch-Polnisches Magazin, Nr. 80 – 81 (2007 / 2008), S. 13. 12 Mateusz Fa kowski / Agnieszka Popko, Polen und Deutsche. Gegenseitige Wahrnehmungen nach der Osterweiterung der Europäischen Union, Warszawa 2006, S. 7.

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traten – und mehr oder weniger immer noch Bestand haben: der Verfassungsvertrag, die Energiepolitik und die Nachbarschafts- bzw. Ostpolitik. Polen gehört zu jenen Staaten, die ein sehr skeptisches Verhältnis zur Reaktivierung des Verfassungsvertrags haben. Staatspräsident Lech Kaczyn´ski schrieb in einem programmatischen Artikel zu Zukunft Europas im April 2006 folgendes: „Wir müssen Lösungen suchen, die das Funktionieren des heutigen Europa verbessern, die ihm eine neue Dynamik verleihen, die viele gemeinsame Unternehmungen erlauben, aber die nicht das derzeitige Wesen der europäischen Integration verändern.“13 Es geht um nichts anderes als darum, eine Einschränkung der Rolle von Nationalstaaten in Europa zu verhindern. Die Polen haben fast 130 Jahre um die Wiederherstellung ihres Nationalstaates gekämpft und die im Jahr 1918 wiedergewonnene Unabhängigkeit zwanzig Jahre später an Deutschland und die Sowjetunion wieder verloren. Es kann nicht verwundern, dass gerade rechte und rechtspopulistische Parteien in Polen die enge Anbindung ihrer Bürger an die Geschichte der „gepeinigten“ Nation, der „Opfernation“ der großen europäischen Mächte, für eigene Zwecke instrumentalisieren. Die nationale Komponente spielt auch im heutigen Polen eine große Rolle und es ist von der derzeitigen Regierung auch nicht zu erwarten, dass sie diese Sichtweise wesentlich ändern wird. Deshalb kann als sicher gelten, dass Donald Tusk den Protest der Brüder Kaczyn´ski gegen die Einrichtung einer „europäischen Föderation“ nicht mildern und das polnische Konzept der Europäischen Union als das eines Staatenbundes übernehmen wird. Allerdings nennt die Bürgerplattform andere Prioritäten in der Europapolitik, wie die Stärkung der gemeinsamen Verteidigungspolitik, die Entwicklung einer gemeinsamen Energiepolitik und den Kampf gegen den Terrorismus. Eine zentrale Stellung nimmt in der Außenpolitik aller bisherigen Regierungen die Frage der Sicherheit Polens ein – sie resultiert vor allem aus der geopolitischen Lage und der historischen Erfahrung. Insbesondere die Energiesicherheit ist stark durch den hohen Grad der Abhängigkeit Polens von Rohstoffimporten bedingt: 95 % des Erdöls für die polnische Wirtschaft kommen aus Russland. Zudem kommen etwa zwei Drittel des polnischen Gasverbrauchs aus Importen, davon wiederum über 65 % aus Russland und 26 % aus Zentralasien – über die von Gazprom kontrollierte Gesellschaft RosUkrEnergo. Zugleich sind über 90 % des Gasimports von der Kooperation mit Moskau abhängig. Polen verbraucht zwar wenig Gas, die Bedeutung dieses Rohstoffs wird jedoch in den nächsten Jahrzehnten wachsen. Ein zweiter Faktor, der das Verhältnis Polens zur Energiepolitik bestimmt, ist die Rolle Polens als Transitland. Über die Pipeline Jamal I werden jährlich ca. 30 Mrd. m3 Gas an westeuropäische Abnehmer geliefert. Insgesamt sollten durch beide JamalLeitungen 67,5 Mrd. m Gas im Jahr transportiert werden. Trotz eingegangener 13 Lech Kaczyn ´ ski, Solidarnos´c´ Europy, „Dziennik“ v. 28. 04. 2006, nach Piotr Buras, Gelingt Europa gemeinsam? Polens Europapolitik und die deutsche EU Ratspräsidentschaft, Warszawa 2007, S. 16.

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Verpflichtungen hat jedoch die russische Seite den Bau der zweiten Pipeline mit den polnischen Partnern nicht aufgenommen und sich stattdessen im Projekt der Ostsee-Pipeline engagiert. Polen kritisiert dieses Projekt und stellt sich (gemeinsam mit den baltischen Staaten) erfolgreich gegen die Kreditvergabe durch die Europäische Investitionsbank. Die daraus resultierende Furcht vor dem Verlust seiner strategischen Bedeutung als Transitland sowie davor, seitens Russland einer Energieerpressung ausgesetzt zu sein, ist prägend für die polnische Herangehensweise in der Frage der Energiesicherheit. Während also der Begriff der „Energieaußenpolitik“ in Deutschland erst seit Anfang 2006 zunehmend an Bedeutung gewinnt, wird die Frage einer weit gehenden Abhängigkeit im Bereich der Gasimporte aus Russland seit langem in Polen als eines der wichtigsten Probleme der Energiesicherheit wahrgenommen. Das Ergebnis dieser Wahrnehmung ist Polens Einspruch gegen die Ostsee-Pipeline. Das erstrangige Ziel der polnischen Energiepolitik ist gegenwärtig die Diversifizierung der Gaslieferungen. Die Priorität der Diversifizierung ist auch das Argument gegen die eventuelle Anbindung Polens an die Ostsee-Pipeline. Polen ist nicht daran interessiert, noch mehr Gas als heute schon aus Russland zu beziehen, was die Folge einer solchen Anbindung wäre. Außerdem würde dies die Bedeutung der Jamal-Pipeline schmälern. Nicht der Gasmangel, sondern die Abhängigkeit vom Import ausschließlich von einem Partner ist das Hauptproblem der polnischen Energiepolitik. Als zusätzliches Argument dient die Tatsache, dass das Gas, das mit vereinten Kräften von Gazprom und deutschen Konzernen vertrieben werden soll, vermutlich sehr teuer sein wird, um die enormen Kosten dieser Investition zu kompensieren. Umso mehr wird in Warschau die Beteiligung an diesem Vorhaben als unrentabel angesehen. Darüber hinaus liegt nach Auffassung Polens die Ostsee-Pipeline nicht im europäischen Interesse, bedeutet sie doch die weiter bestehende Abhängigkeit Europas von Lieferungen aus Russland.14 Ein weiterer Fragenkomplex, in dem deutliche Divergenzen zwischen Deutschland und Polen bestehen, ist die Bewältigung der Vergangenheit. Ende der 1990er Jahre schien die deutsch-polnische Versöhnung so weit fortgeschritten zu sein, dass man dies- und jenseits der Oder von einem „Versöhnungskitsch“ sprach. Doch zwei Initiativen, die am Ende des vergangenen Jahrhunderts vom Bund der Vertriebenen ausgegangen bzw. unterstützt waren, sorgten für Spannungen, die man nicht erwartet hätte und die bis heute nicht abgebaut worden sind. Zum einen handelt es sich um ein Projekt der Vorsitzenden des BdV, Erika Steinbach, in Berlin ein Zentrum gegen Vertreibungen einzurichten, das vor allem an die Vertreibung von Millionen Deutschen aus Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern und dieselbe als Denkstätte dokumentieren soll. Polnische Medien und auch Politiker starteten einen Sturm der Entrüstung und Protestaktionen. Viele deutsche Politiker zeigten Unverständnis oder hielten sich zurück. Seit etwa drei Jahren bemühen sich beide Seiten einen Kompromiss zu finden; inzwischen sind die Debatten ruhiger 14

Buras (Anm. 13), S. 26 – 35.

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geworden, obwohl ein Konsens noch längst nicht in Sicht ist. Das Hauptproblem liegt in der geschichtlichen Interpretation der Vertreibung. Für die Polen ist heute noch der Begriff „Vertreibung“ nicht akzeptabel. Man betont, dass die Mehrheit der Deutschen aus den früheren deutschen Ostgebieten noch vor dem Einmarsch der Roten Armee geflüchtet sei. Nach der Besetzung dieser Gebiete wurde eine in Jalta 1944 beschlossene und durch internationale Bestimmungen abgesicherte Aussiedlung der deutschen Bevölkerung organisiert und durchgeführt, die mit einer Vertreibung nicht zu vergleichen sei. Eine kurze Periode von wilden Vertreibungen soll auf die Rechnung der Roten Armee gehen. Nicht selten gibt es Stimmen in der polnischen Öffentlichkeit, die den Transfer der deutschen Bevölkerung aus dem Osten mit der Schuld des Dritten Reiches an der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und das Nazi-Verbrechen an den Polen zu erklären versuchen und ihn als eine Rechtfertigung interpretieren. Für die Deutschen ist Flucht und Vertreibung ein Trauma, das eine Würdigung der Millionen von Zivilopfern verlangt. Für Unmut der Polen sorgt zudem seit einigen Jahren die sogenannte „Preußische Treuhand“, eine private Organisation von Vertriebenen, die Rechtsansprüche auf verlorenen deutschen Besitz im Osten stellt und gerichtlich durchzusetzen versucht. In der Treuhand sind auch Funktionäre des Bundes der Vertriebenen tätig. Diese Tätigkeit schürt polnische Ängste vor einem deutschen Revisionismus, mit dem die polnische Bevölkerung insbesondere in den polnischen Westgebieten seit 1945 permanent zur „Verteidigung des Vaterlandes“ mobilisiert wird. In Zeiten des Kommunismus galt dies als Ablenkung von innenpolitischen Problemen und der Abschottung vom Westen. Nach der Wende der 1980er und 1990er Jahre wird der vermeintliche deutsche Revisionismus vor allem durch populistische Parteien und Gruppierungen instrumentalisiert, um die Anhängerschaft zu mobilisieren. Nach dem Machtwechsel in Warschau im Oktober 2007 haben sich die Verhältnisse grundsätzlich geändert, da die nunmehr an die Macht gekommene Bürgerplattform mit dem Ministerpräsidenten Donald Tusk die Führungsansprüche in der polnischen Außenpolitik zu einem der Hauptziele seiner Regierungszeit erhoben hat. Es kam, wie es kommen musste, zu Spannungen und Missverständnissen zwischen dem Staatspräsidenten – der die Außenpolitik in seinem eigenen Einflussbereich behalten wollte – einerseits und dem neuen Ministerpräsidenten mit seinem starken und im Lande sehr populären Außenminister Rados aw Sikorski andererseits. Die Zusammenarbeit in den Europafragen gestaltet sich sehr schwierig, und nach den ersten hundert Tagen der Tusk-Regierung sind die außenpolitischen Ziele zwar klar formuliert, aber in vielen Bereichen haben sie noch zu keinen bahnbrechenden Änderungen geführt. Ein deutlicher Durchbruch ist in der polnischen Russlandpolitik zu verzeichnen. Der Besuch Tusks in Moskau im Dezember 2007 führte zur direkten Aufhebung des russischen Embargos auf polnische Fleischprodukte und zu sichtbaren Verbesserungen der unter Kaczyn´ski eingefrorenen polnisch-russischen Beziehungen. Dagegen wurde das Treffen mit Bundeskanzlerin Merkel in Berlin am 16. November 2007 in polnischen Medien

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als freundlich, aber ohne Ergebnisse bezeichnet. Deutlich kritisiert wurde das Fehlen tatsächlicher Ergebnisse in den problematischen Fragen bezüglich der Gaspipeline, dem Zentrum gegen Vertreibungen und den Restitutionsansprüchen von Deutschen. In diesen Fragen bleiben die Polen in ihren früheren Positionen beständig und erwarten ein Entgegenkommen der deutschen Regierung. Der anfangs zitierte Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau, Stephan Raabe, schrieb treffend in seinem Länderbericht Ende 2007 wie folgt: „Nachdem man von polnischer Seite in den letzten zwei Jahren mit einer Strategie konfrontativer Härte die polnischen Interessen gegenüber Deutschland durchsetzen wollte, versucht es die neue Regierung mit konzilianter Freundlichkeit. Nach wie vor ist allerdings aber bei der großen Mehrheit der politischen Klasse und der medialen Meinungsführer offensichtlich die Überzeugung vorherrschend, dass Deutschland in den strittigen Fragen der Europapolitik seine Politik substantiell ändern müsse, also zu einer Erfüllung der polnischen Forderungen zu bewegen sei.“

Raabe bemerkte, vielleicht habe man es von deutscher Seite mit Rücksicht darauf, den „Patienten“ Polen nicht zusätzlich zu erregen und extremen politischen Kräften im Lande nicht Nahrung zu geben, versäumt, die Fakten und politischen Motive bezüglich der Gaspipeline, der Vertriebenengedenkstätte und den Restitutionsforderungen in hinreichender Deutlichkeit darzustellen. Gespräche selbst mit führenden Politikern in Polen machten immer wieder die Unkenntnis und das Unverständnis für die Vorgänge in Deutschland deutlich, was zu einer eher unrealistischen Erwartung dessen führt, was man von polnischer Seite tatsächlich erreichen kann.15 Sicherlich muss man dem Kommentator recht geben; allerdings mit einer wichtigen Ergänzung: Auch in Deutschland herrscht Unkenntnis und ein Unverständnis für polnische politische Motivation; zudem kann man ein fehlendes Interesse der Medienwelt für den Nachbarn jenseits der Oder feststellen; in der Berichterstattung erscheinen oft Nachrichten, die Nahrung für das Aufleben alter Stereotype liefern.16 Noch zu oft werden alte Stereotypen und Vorurteile herbeigerufen, ohne den Kern der deutsch-polnischen Kontroversen zu erforschen. Der Weg zu einer reibungslosen Zusammenarbeit in den Europafragen sowie zu einer guten Nachbarschaft scheint noch lang zu sein.

15 Freundlich, aber ohne Ergebnisse. Länderbericht Stephan Raabe, Leiter des Auslandsbüros der KAS in Warschau v. 13. 12. 2007. 16 Dazu sagte z. B. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern in seiner Rede beim Deutsch-Polnischen Dialoggespräch der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Instituts für Strategische Studien am 3. November 2006 in Krakau: „Ich bin überzeugt, dass die deutschpolnischen Beziehungen besser sind, als es gelegentlich in den Medien berichtet wird“, in: Rapporte der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen, Nummer 3, 2007, S. 2.

Die politische Rolle Deutschlands aus afghanischer Sicht Von Conrad Schetter

„Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“. Mit diesen markanten Worten machte der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck 2002 deutlich, welche Rolle Afghanistan aus deutscher Sicht einnimmt. Wenngleich bis heute dieses Zitat viele Ungereimtheiten aufwirft, steht es für das gegenwärtige politische Interesse Deutschlands an Afghanistan, das aus dessen instabiler Lage resultiert. So wird in Afghanistan ein Sicherheitsrisiko erblickt, das sich in Form terroristischer Aktivitäten äußert, die sich auch gegen Deutschland richten könnten und bekämpft werden müssten. So postuliert das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung aus dem Jahr 2007, dass die „Stabilisierung und Konsolidierung Afghanistans ( . . . ) zu unseren vitalen Interessen . . .“ gehört.1 Jedoch ist das Interesse Deutschlands an Afghanistan weit diffuser, als es mit dem Slogan des „Kampf gegen den Terrorismus“ gefasst werden kann. Weitere Motive sind zu nennen, die das deutsche Interesse an Afghanistan bedingen: So tat sich Deutschland 2001 / 2 pro-aktiv in den Diskussionen um die politische Neuordnung Afghanistans hervor und zeigte sich gerade mit der Petersbergkonferenz und mit der Beteiligung an ISAF (International Security Assistance Force) bereit, militärisch und politisch Verantwortung zu übernehmen. Hiervon erhoffte es sich Erfolge auf dem diplomatischen Parkett, um seine Ansprüche auf einen Sitz als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) zu stärken.2 Auch werden geopolitische wie ökonomische Gründe für Deutschlands Interesse an Zentralasien im Generellen und Afghanistan im Besonderen immer wieder genannt.3 Schließlich zeigen die engen deutsch-afghanischen Beziehungen, die sich nahezu über den gesamten Verlauf des 20. Jahrhunderts erstrecken, dass es auch historisch gewachsene Verbindungen gibt, die das deutsche Interesse an Afghanistan beeinflussen. Weit weniger wird sich dagegen mit der Frage beschäftigt, welche politische Rolle denn die Afghanen selbst Deutschland beimessen. Diese Frage scheint mehr 1 Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung (2007), Online unter: http: // www.auswaertiges-amt.de / diplo / de / Aussenpolitik / RegionaleSchwerpunkte / Afghanistan / Downloads / AFG-Konzept2007.pdf. 2 Glassner / Schetter (2007). 3 Seidt (2004).

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als legitim und längst überfällig. So verschleiert das starke internationale Engagement in Afghanistan seit 2001, dass auch die Afghanen ein Recht darauf haben, den einzelnen Akteuren in der internationalen Gemeinschaft eine politische Rolle zuzuweisen. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass die internationale Gemeinschaft zwar immer wieder von Afghan Ownership oder gar Afghanisierung der politischen Prozesse spricht,4 gleichzeitig aber die afghanische Regierung als eine willenlose Marionette der internationalen Gemeinschaft, respektiv der USA, erscheint, der gar nicht die Befugnisse zugestanden werden, eine eigenständige Außenpolitik zu formulieren.5 Gleichwohl ist es recht schwierig eine Antwort darauf zu geben, welche Rolle Afghanistan Deutschland beimisst. So gibt es kaum offizielle Verlautbarungen, und die afghanischen Politiker setzen unterschiedliche Präferenzen. Bevor ich daher die politischen Sichtweisen der Afghanen auf Deutschland darstellen möchte, will ich zunächst die engen Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan nachzeichnen. Dies erscheint mir notwendig, da beide Länder trotz ihrer großen räumlichen Entfernung voneinander und trotz ganz unterschiedlicher historischer und gesellschaftlicher Prägungen durch ihre bilaterale Geschichte eines diplomatischen, ökonomischen und kulturellen Austauschs miteinander verbunden sind wie kaum zwei andere Länder der Erde. Anschließend will ich auf die Situation nach der Intervention 2001 eingehen, um die gegenwärtigen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu beleuchten. So stellt Deutschland in Afghanistan einen der wichtigsten Akteure in den Wiederaufbaubemühungen sowie für die Schaffung physischer Sicherheit dar. Zudem soll aus beiden Kapiteln deutlich hervorgehen, dass die engen Beziehungen zwischen beiden Ländern stets eher auf die Situation in Afghanistan als in Deutschland ausstrahlten: So spielt Deutschland für die Afghanen eine unermesslich wichtigere Rolle als Afghanistan für die Deutschen.

A. Deutsch-afghanische Beziehungen – ein Rückblick Wenngleich bereits im 19. Jahrhundert vereinzelt deutsche Diplomaten, Militärs und Wissenschaftler sich für den Grenzraum zwischen dem britisch-indischen Imperium und der russischen Einflusszone interessierten6 und diese Region bereisten (u. a. Johann Martin Honigberger), wurden echte diplomatische Beziehungen zwischen beiden Ländern erst Anfang des 20. Jahrhunderts aufgebaut. Im Folgenden sollen die wichtigsten Phasen dieser Beziehungen nachgezeichnet werden.

Bundesregierung (2008). Vgl. Schetter / Mielke (2008). 6 So etwa Carl Ritter (1838), der eine wenig beachtete Arbeit über die Region des heutigen Afghanistans schrieb. 4 5

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I. Erster Weltkrieg

Bereits im beginnenden 20. Jahrhundert nahm Deutschland im Kontakt mit der Außenwelt für Afghanistan eine herausragende Stellung ein. Zunächst war es Deutschland, das seine politischen Interessen an einer engeren Verbindung mit Afghanistan deutlich machte. Der Hintergrund hierfür war der Erste Weltkrieg. So gewann unter dem Einfluss des deutschen Offiziers Hans von Seeckt die geopolitische Vorstellung an Bedeutung, dass über die Ausdehnung der Achsenmächte nach Osten – also vom Osmanischen Reich über Iran hin nach Afghanistan – eine weitere Front aufgemacht und die britische Herrschaft in Indien unter Druck gesetzt werden könnte.7 Entsprechend der zeitgeistigen Strömungen, die auf Halford Mackinder8 zurückgehen, wurde zudem die Beherrschung des kontinentalen Herzlandes als essentiell für die Vorherrschaft in der Welt gesehen. So schrieb Oskar von Niedermayer 1921: „Wenn die Kontinente erwachen, werden die Inselwelten zerstört“.9 Für die Durchsetzung dieses geopolitischen Unterfangens erfolgte 1915 – also zu Beginn des Ersten Weltkriegs – eine militärische Expedition unter der Leitung von Oskar von Niedermayer und Werner von Hentig nach Afghanistan. Diese traf am 2. Oktober 1915 in Kabul ein, um Emir Habibullah zu überzeugen, Britisch Indien und Russland den Krieg zu erklären. Jedoch zog die deutsche Delegation im Frühjahr 1916 wieder unverhoffter Dinge ab, da der afghanische Herrscher auf die deutschen Avancen nicht einging und die deutsche Delegation mit einer Schaukelpolitik hinhielt.10 So sah Habibullah die Erfolgschancen einer afghanischen Erhebung gegen die beiden angrenzenden Großmächte als gering an. II. Weimarer Republik

Dennoch hinterließ bereits diese erste Kontaktaufnahme Spuren. Denn mit Deutschland zeigte sich erstmals eine europäische Macht an einem Bündnis mit Afghanistan interessiert – ohne gleich koloniale Besitzansprüche zu erheben. Diese Haltung fand am Kabuler Hof Beachtung. Besonders Habibullahs Sohn, Amanullah, der 1919 den afghanischen Thron bestieg, hegte große Sympathien für Deutschland. So war Amanullah daran gelegen, nach dem Vorbild Attatürks Afghanistan in einem Hauruckverfahren in die Moderne zu katapultieren. Gerade in Deutschland erblickte Amanullah für dieses Unterfangen einen wichtigen Partner. Unter Amanullah wurden daher auch die Fundamente für eine deutsch-afghanische Kooperation gelegt: 1921 reiste eine erste afghanische Mission nach Deutschland, um Verträge mit zahlreichen Firmen und Fachleuten zu schließen. Deutschland zeigte vor allem Interesse an Rohstoffen. 1923 wurde eine deutsch-afghanische Handelsgesellschaft gegründet. In den zwanziger Jahren arbeiteten bereits bis zu Vgl. Seidt (2004). Vgl. Mackinder (1904) 9 Zitiert in Seidt (2004), S. 429. 10 Friese / Geilen (2002); Seidt (2002). 7 8

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200 deutsche Fachkräfte in Afghanistan, und Deutschland war der drittwichtigste Handelspartner Afghanistans.11 Auch die bildungspolitische Zusammenarbeit begann in diesem Zeitraum: So kam 1921 erstmals eine Gruppe junger Afghanen zum Studium nach Deutschland, und 1924 wurde in Kabul die deutsche NejatOberrealschule – im Volksmund Amani-Schule – gegründet, die sich zu einer wesentlichen Kaderschmiede der afghanischen Elite entwickelte. So waren etwa Muhammad Yusuf, der erste Premierminister des konstitutionellen Afghanistans (1963 – 1965), Samad Hamed, stellvertretender Ministerpräsident (1971 – 1972), und der kommunistische Präsident Babrak Karmal (1980 – 1986) Absolventen der Nejat-Schule, um nur einige zu nennen. 1926 schlossen Deutschland und Afghanistan einen Freundschaftsvertrag ab, auf dessen Grundlage diplomatische Beziehungen vereinbart wurden. Auf seiner Europareise besuchte Amanullah 1929 auch Deutschland. Dieser Staatsbesuch stellte für das international isolierte Berlin ein politisches Großereignis dar, da es – abgesehen von dem Besuch des ägyptischen Königs Faruk – der einzige Staatsbesuch in der Zeit der Weimarer Republik war. Mit keinem anderen Land schloss Amanullah auf seiner Europareise so viele Wirtschaftsabkommen ab wie mit Deutschland. Daher verdichteten sich in der Folgezeit die Kooperationen zwischen beiden Ländern: Ende der 1930er Jahre kamen bereits 70 Prozent der afghanischen Industrieausrüstung und Maschinen aus Deutschland, und deutsche Firmen wie Siemens waren stark in den Ausbau der afghanischen Infrastruktur involviert. 1937 richtete die Lufthansa sogar eine Flugverbindung zwischen Berlin und Kabul ein. Das starke deutsche Engagement in dieser Zeit war nicht nur diplomatisch, sondern auch wirtschaftlich bedingt. So spekulierte Deutschland auf einen möglichen Rohstoffreichtum Afghanistans, dessen Konzessionen man dann günstig erwerben könnte. In diesem Lichte muss wohl auch die deutsche Hindukusch-Expedition gesehen werden, die 1935 eine wissenschaftliche Erforschung des südlichen Hindukuschs unternahm.12

III. Drittes Reich

Während des Zweiten Weltkrieges hielt der Kontakt zwischen beiden Ländern an. Besonders die Nazis waren bemüht, in Afghanistan eine Front gegen Britisch Indien aufzubauen.13 So infiltrierte das Dritte Reich Afghanistan mit deutschen Spionen und Militärberatern.14 Da sich Afghanistan zur strikten Neutralität verpflichtete, weigerte es sich, die 180 Deutschen, die sich damals in Afghanistan befanden, den Alliierten auszuliefern. Schließlich wies Afghanistan, unter enormem Druck Englands und der Sowjetunion stehend, die Deutschen zwar aus, erlangte aber deren freies Geleit in die Heimat. 11 12 13 14

Baraki (1996), S. 42. Scheibe (1936, 1937). Baraki (1996). Müller (2007).

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Ein wenig beachtetes Feld ist, dass auch Afghanen, die in den 1930er und in den frühen 1940er Jahren in Deutschland studiert hatten, von dem ideologischen Gedankengut der Nazis beeinflusst wurden. So gründete etwa Gholam Mohammad Farhad, der Ende der 1930er Jahre in Berlin gelebt hatte, in den 1960er Jahren die Partei Afghan Mellat, die eine Mischung aus paschtunischem Chauvinismus und sozialdemokratischem Ideengut pflegte, bis heute fortbesteht und gerade unter nationalistischen Paschtunen über eine gewisse Popularität verfügt.15 In diesem Zusammenhang gewann gerade der Arier-Gedanke, der bis heute in Afghanistan weite Verbreitung und Popularität genießt, an Bedeutung. So herrscht in Afghanistan die weit verbreitete Meinung vor, dass Afghanistan in historischer und geographischer Nachfolge des antiken Ariana stehe. So sehen sich die Afghanen als die eigentlichen Arier der Gegenwart. Die Deutschen werden entsprechend der seit den 1930er Jahren populären nationalsozialistischen Völkerkunde als die direktesten arischen Brüder angesehen und avancieren damit zu der Völkerschaft, mit der sich die Afghanen am nächsten verwandt sehen. Dieser Arier-Mythos ist besonders deswegen hervorzuheben, da in der afghanischen Gesellschaft Nähe und Distanz in erster Linie über verwandtschaftliche Beziehungen erzeugt wird. Hierin liegt demnach ein wesentlicher Grund für die bis heute kontinuierlich anhaltende Popularität der Deutschen in Afghanistan.

IV. Kalter Krieg

Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen Afghanistan und die Bundesrepublik Deutschland ihre diplomatischen Kontakte wieder auf. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Afghanistan erschienen nun im Lichte des heraufziehenden Kalten Krieges. So wurde der Bundesrepublik aufgrund ihrer gewachsenen guten Verbindungen mit Afghanistan eine wichtige Rolle beigemessen, um an der Seite der USA ein Gegengewicht zum sowjetischen Einfluss aufzubauen.16 Afghanistan verstand es dabei, zwischen den Blöcken des Kalten Krieges bei Wahrung strikter Neutralität geschickt hin und her zu lavieren. Besonders der Bildungsbereich entwickelte sich zu einer tragenden Säule der bilateralen Beziehungen. Bereits 1950 schrieb Deutschland Stipendien für Afghanen aus. Seitdem kam eine Vielzahl von Afghanen, die oftmals zuvor die NejatSchule besucht hatten, zum Studium nach Deutschland. Auch wurde eine Universitätspartnerschaft zwischen Kabul einerseits und Bonn, Köln und Bochum andererseits ins Leben gerufen, die den gegenseitigen Austausch von Gastprofessoren vorsah. In den 1960er Jahren wurden zudem in Kabul ein Goethe-Institut sowie ein Außenposten des Deutschen Archäologischen Museums eingerichtet. Besonders in den 1960er und 1970er Jahren kam eine Vielzahl deutscher Wissenschaftler nach 15 16

Pohly (1992), S. 227. Schetter (2004).

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Afghanistan, die in Disziplinen wie Ethnologie, Geographie und Botanik maßgeblich zur Erforschung des Landes beitrugen. Es war die Zeit, in der gerade über die Wissenschaft eine enge Verzahnung zwischen der Bundesrepublik und Afghanistan stattfand, die den Afghanistankrieg überlebte und bis heute fortwirkt. So ist die Zahl deutscher Wissenschaftler, die zeitweise in Afghanistan geforscht und gelehrt haben, verhältnismäßig groß. Diese wissenschaftliche Zusammenarbeit fand ihren institutionellen Ausdruck in der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Afghanistan, die einen Zusammenschluss der Wissenschaftler darstellt, die in oder über Afghanistan forschen.17 Ein zweites Standbein war die Entwicklungszusammenarbeit, die bereits 1958 zwischen beiden Ländern vereinbart wurde. Bis Ende der siebziger Jahre stellte die Bundesrepublik über 400 Millionen D-Mark für die Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan zur Verfügung. Afghanistan rückte nach Indien und Ägypten zum drittwichtigsten Empfänger von Entwicklungsgeldern auf. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl nahm Afghanistan sogar für viele Jahre die Spitzenposition innerhalb der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ein. Ende der sechziger Jahre befanden sich bereits über 800 deutsche Experten im Land. Afghanistan avancierte zum Schaufenster der deutschen Entwicklungspolitik. Das Paktia-Projekt, in dem deutsche Experten eine ganze Provinz entwickelten und modernisierten, stellte das ambitionierteste Vorhaben in Afghanistan und eines der größten deutschen Entwicklungsprojekte überhaupt dar. Außerdem engagierte sich Deutschland in der Ausbildung der Polizei sowie im Aufbau eines Gesundheitswesens. Begleitet wurde diese intensive Zusammenarbeit von gegenseitigen Besuchen der Staatsoberhäupter: König Zahir Schah besuchte die Bundesrepublik 1962, ein Jahr später kam Präsident Lübke nach Kabul und 1968 Bundeskanzler Kiesinger. Vor dem Hintergrund dieser intensiven Kontakte gilt es als ein Spezifikum hervorzuheben, dass in den 1960er und 1970er Jahren die deutsche Sprache in Afghanistan für asiatische Länder ungewöhnlich weit verbreitet war.18

V. Sowjetische Intervention und Afghanistan Kriege

Mit der kommunistischen Machtergreifung und dem Einmarsch sowjetischer Truppen in den Weihnachtstagen von 1979 fanden die intensiven Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik ein jähes Ende. Dennoch lebten die guten Kontakte gerade durch viele afghanische Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen, weiter. Nach den USA bildete Deutschland in der westlichen Welt das wichtigste Zielland für afghanische Flüchtlinge – unter diesen ein Großteil der mit Deutschland verbundenen afghanischen Elite. Auch entstanden in den 1980er und 1990er Jahren in Deutschland viele Vereine, in denen sich Deutsche, die längere Zeit in Afghanistan gelebt hatten, und Afghanen zusammenfanden. 17 18

Vgl. Breckle (1999). Zerwinsky (2008).

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In Afghanistan selbst gewann mit der sowjetischen Intervention die Deutsche Demokratische Republik an Bedeutung. So übernahm die DDR viele Aufgaben, die einst die Bundesrepublik geleistet hatte, weshalb eine gewisse Kontinuität der deutsch-afghanischen Beziehungen gewahrt blieb. Afghanen kamen nun zur Ausbildung nach Berlin, Leipzig und Dresden. Zur wissenschaftlichen Abstützung des Engagements der DDR in Afghanistan wurde das Fach Afghanologie an der Humboldt-Universität eingerichtet. Erst der Sturz des Najibullah-Regimes 1992 und die anschließenden Wirren des afghanischen Bürgerkriegs führten zu einer Unterbrechung der intensiven deutschafghanischen Beziehungen. Zwar blieb die afghanische Botschaft in Deutschland geöffnet, aber es war Deutschland aufgrund des Kriegsgeschehens nicht möglich, den Botschaftsbetrieb in Kabul aufrecht zu erhalten. Dennoch hatte auch Deutschland in dieser schwierigen Phase sein Interesse an Afghanistan nicht verloren. So leitete von 1996 bis 1998 der Deutsche Norbert Holl die UN-Special Mission for Afghanistan.19

B. Deutschlands gegenwärtige Rolle in Afghanistan Die Terrorattentate des 11. Septembers und der Zusammenbruch des TalibanRegimes im Herbst 2001 infolge der von den USA angeführten Operation Enduring Freedom eröffneten ein neues Kapitel der deutsch-afghanischen Beziehungen. So machte Deutschland im November 2001 deutlich, gewillt zu sein, bei der Neuordnung Afghanistans eine wichtige Rolle zu spielen. Die Bundesrepublik bot sich als Gastgeber für die afghanischen Friedensgespräche auf dem Petersberg bei Bonn an, die aufgrund der Installierung einer Übergangsregierung als diplomatischer Erfolg gewertet wurden. Viele Afghanen jeglicher politischer Richtung befürworteten damals die deutsche Initiative. Denn in Deutschland erblickten viele Afghanen – anders als in den USA, Großbritannien oder gar Russland – einen ehrlichen Makler, der nicht die Verwirklichung neokolonialer Eigeninteressen anstrebt. Auch in der Folgezeit engagierte sich Deutschland in Afghanistan: Deutschland entsandte bereits im Dezember 2001 2250 Mann für das erste ISAF-Kontingent, das in Kabul stationiert war. Bis 2006 erhöhte die Bundesregierung die Zahl der ISAF-Soldaten auf 3000 Mann. Zusätzlich sind bis zu 500 Soldaten für den seit 2007 beschlossenen Tornado-Einsatz abgestellt. 2009 soll die Zahl der ISAFSoldaten noch einmal um 1000 Mann aufgestockt werden. Damit ist Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte Truppensteller in Afghanistan. Für das militärische Engagement wendet die Bundesregierung jährlich 460 Mio. A auf. Zusätzlich kostet der im Frühjahr 2007 beschlossene Tornado-Einsatz weitere 70 Mio. A pro Jahr. Bezüglich der zivilen Wiederaufbauhilfe rangiert Deutschland mit ca. 140 Mio. A (2008) nach den USA, Japan und Großbritannien auf dem vier19

Holl (2002).

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ten Platz der bilateralen Geber.20 Damit umfasst der zivile Anteil am deutschen Gesamtbudget für Afghanistan je nach Jahr 15 % – 19 % und der militärische 81% – 85 %. Aufgrund der Verschlechterung der Sicherheitslage, der Zunahme tödlicher Attentate auf deutsche Militär- und Polizeikräfte und der Entführung von Zivilisten gerät das deutsche Engagement in Afghanistan immer stärker in die öffentliche Kritik in Deutschland. So kontrastiert die für Anfang Oktober 2008 anstehende Verlängerung der Bundeswehrmandate durch den Bundestag immer stärker die öffentliche Meinung. Gleichzeitig ist Deutschland zunehmend der Forderung der NATO-Verbündeten ausgesetzt, sich verstärkt an den Kampfeinsätzen gegen die Taliban in Südafghanistan zu beteiligen. So steigt der Druck auf die Bundesregierung zum einen von Seiten der deutschen Bevölkerung, zum anderen von Seiten der Bündnispartner. Die Bundesregierung verfolgt eine Strategie, in der sie nach wie vor am militärischen Einsatz in Afghanistan festhält, diesen aber auf Nordafghanistan begrenzen will.21 Zudem macht die Bundesregierung in ihren Afghanistan-Konzepten deutlich, dass ihr militärisches Engagement in Afghanistan im Dienste des zivilen Wiederaufbaus mit einer Fokussierung auf die Stärkung staatlicher Strukturen steht. So heißt es im Afghanistan-Konzept von 2007, die „militärische Absicherung hat gegenüber dem zivilen Aufbau somit eine unterstützende Rolle“22. Jedoch scheinen die finanziellen Relationen, wie oben dargelegt, in einem gewissen Widerspruch zur Prioritätensetzung der Bundesregierung zu stehen. Schließlich spielt im deutschen Vorgehen vor allem die zivil-militärische Zusammenarbeit eine wichtige Rolle. Diese manifestiert sich besonders in der Einrichtung von Provincial Reconstruction Teams (PRTs), in denen Bundeswehrsoldaten und Entwicklungshelfer gemeinsam den Wiederaufbau der afghanischen Nordostprovinzen in Gang setzen sollen. Im Folgenden soll das diplomatische, militärische und entwicklungsbezogene Engagement Deutschlands in Afghanistan dargestellt werden. I. Intensivierung politischer Beziehungen

Den Erfolg der ersten Petersberger Konferenz feierte die Bundesrepublik im Dezember 2002 mit einer zweiten Veranstaltung auf dem Petersberg, die eher symbolischen Charakter besaß. Es verdeutlicht den politischen Stellenwert Afghanistans für die deutsche Außenpolitik, dass Berlin Ausrichter der Geberkonferenz im März 2004 und der Koordinierungskonferenz im Januar 2007 war. Auch in Afghanistan war Deutschland schnell diplomatisch präsent: Da die deutsche Botschaft seit 1989 geschlossen war, wurde Anfang Dezember 2001 zunächst ein „deutsches Verbindungsbüro“ eröffnet und im Januar 2002 wieder ein deutscher Botschafter 20 21 22

Bundesregierung (2008). Bundesregierung (2007, 2008). Bundesregierung (2007).

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offiziell akkreditiert. Diplomatische Außenstellen wurden in Kundus (seit 2003), Herat (2003 – 2005), Faizabad (seit 2004) und Mazar-i Sharif (seit 2006) eingerichtet. In internationalen Gremien nahm Deutschland eine gewichtige Rolle ein. So war der Diplomat Klaus-Peter Klaiber von Dezember 2001 bis Juni 2002 EUBeauftragter für Afghanistan, und mit Tom Koenigs wurde von 2006 bis 2008 ein Deutscher UN-Sondergesandter für das Land. Da Afghanistan seit 2001 zum Schwerpunkt von Bundeswehrauslandseinsätzen sowie zum Hauptempfänger deutscher Entwicklungsgelder aufstieg, avancierte es auch zu einem wichtigen Reiseziel für deutsche Politiker: Neben den Bundeskanzlern Gerhard Schröder und Angela Merkel besuchten mehrere Minister (u. a. Joschka Fischer, Peter Struck, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Franz Josef Jung) das Land gleich mehrfach. Zudem reisten Bundestagsabgeordnete (u. a. Delegationen der Ausschüsse für Menschenrechte und Verteidigung) regelmäßig nach Afghanistan. Im Gegenzug kamen Präsident Hamid Karzai und seine Kabinettsmitglieder vielfach zu Staatsbesuchen und Konferenzen nach Deutschland. Auch die politischen Stiftungen bemühten sich, schnell in Afghanistan Fuß zu fassen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung eröffnete bereits 2002 ein Büro, die Konrad-Adenauer-Stiftung und Heinrich-Böll-Stiftung folgten. Die Hanns-Seidel-Stiftung führt bis heute über ihr Büro in Islamabad Projekte in Afghanistan durch. Schwierig nachzuweisen ist, inwiefern der Exilhintergrund afghanischer Minister eine Rolle bei ihrer Ernennung spielt. Für Afghanen ist es selbstverständlich, dass die Minister allein auf Drängen der betreffenden Länder ernannt wurden, woran deren politischer Einfluss abzulesen ist. Jedenfalls befinden sich seit 2001 kontinuierlich Afghanen, die in Deutschland gelebt haben, auf Ministerposten: Amin Farhang betätigte sich als Minister für Wiederaufbau (2001 – 2004) sowie als Wirtschafts- (2004 – 2006) und Handelsminister (seit 2006). Azam Dadfar war von 2004 bis 2006 Minister für Flüchtlingsangelegenheiten und ist seit 2006 Hochschulminister. Rangin Dadfar Spanta wurde 2006 Außenminister und Jalil Shams ist seit 2006 Wirtschaftsminister. Diese Prominenz von „Deutsch-Afghanen“ – die stärkste Gruppe nach den US-Afghanen – in der afghanischen Regierung kann aber auch einfach daher rühren, dass die afghanische Diaspora in Deutschland mit ca. 60.000 Angehörigen die größte in Europa ist.

II. Militärisches Engagement

Deutschland sah sich in Afghanistan von Beginn an vornehmlich in der Rolle, den Frieden zu sichern, weshalb es sich vornehmlich im ISAF-Einsatz engagierte. Dieser war zunächst auf Kabul beschränkt. Erst das angespannte transatlantische Verhältnis aufgrund der bundesdeutschen Verweigerungshaltung zum Irak-Krieg bedingte, dass Deutschland – bei Ausdehnung des ISAF-Mandats – bereit war, Bundeswehrsoldaten in die Provinzen zu entsenden. Viele Beobachter sahen daher in der Stationierung der Bundeswehrsoldaten in Kundus primär eine politische Be-

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flissenheitsgeste. Nachdem der UN-Sicherheitsrat am 13. Oktober 2003 die Ausweitung des ISAF-Mandats über Kabul hinaus beschlossen hatte, schuf der Deutsche Bundestag am 20. Oktober 2003 die Voraussetzungen für ein PRT unter ISAFMandat in Kundus im Norden Afghanistans. Es folgte 2004 das PRT in Faizabad. Mit der Ausdehnung des ISAF-Mandats auf ganz Afghanistan übernahm Deutschland im Sommer 2006 die Leitungsfunktion über den Bereich „Nordafghanistan“ mit dem operativen Zentrum in Mazar-i Sharif. Im Gegenzug wurden die deutschen Kontingente in Kabul stark verringert. 2008 übernahm Deutschland auch die Quick Reaction Force für Nordafghanistan – womit es erstmals Kampftruppen nach Afghanistan schickte. Schließlich ist Deutschland seit 2001 mit bis zu 100 KSK-Spezialeinheiten in Afghanistan vertreten, die direkt im War on Terrorism eingesetzt werden. Der politische Auftrag der Bundeswehr sieht offiziell die Unterstützung der afghanischen Verantwortlichen vor. Sie selbst stellt dementsprechend nicht pro-aktiv Sicherheit her, sondern assistiert nur auf Anfrage. Das Vorgehen der Bundeswehr war anfangs durch einen geringen Aktionsradius und strenge Auflagen bezüglich des Selbstschutzes, der medizinischen Versorgungsmöglichkeiten usw. charakterisiert. Dies nahmen andere Nationen als ein sehr zögerliches und übervorsichtiges Agieren wahr – zumal der Raum Kundus als vergleichsweise sicher galt.23 Der Ausspruch des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck, er sei „ . . . froh, dass wir nicht in eine Region gehen, in der man jeden Tag mit Anschlägen auf die Bundeswehrangehörigen rechnen muss“24, unterstrich dieses Auftreten der Bundeswehr. Zwar hat die Bundeswehr schon durch ihre reine Anwesenheit eine stabilisierende Wirkung auf die Gesamtlage, doch ist ihre Wirkung aufgrund der sehr restriktiven Sicherheitsvorgaben, die auch von einer Vielzahl vor Ort tätiger Soldaten kritisiert werden, stark eingeschränkt. Die Zunahme gezielter Selbstmordattentate gegen Bundeswehrsoldaten bedingte zudem, dass die Anzahl der Patrouillen rückläufig ist. Insgesamt steht die Zivilbevölkerung wie die afghanische Regierung der Anwesenheit deutscher Truppen in Nordafghanistan positiv gegenüber, da sich hierüber die allgemeine Sicherheitslage verbesserte. Die tragische Erschießung afghanischer Zivilisten an einer Straßensperre östlich von Kunduz am 28. August 2008 durch Bundeswehrsoldaten wirkte sich bislang kaum nachteilig auf das positive Ansehen der deutschen Soldaten in Afghanistan aus. Das internationale militärische Engagement veränderte sich seit Oktober 2006, als alle PRTs in Süd- und Südostafghanistan unter ISAF-Mandat gestellt wurden. Seitdem hat die NATO das Oberkommando über das Gros der Truppen und ist für ganz Afghanistan verantwortlich. Mit diesem Wechsel in der KommandoGlassner / Schetter (2007). Peter Struck (2003): Rede des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Peter Struck, zur Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan vor dem Deutschen Bundestag am 24. Oktober 2003 in Berlin. Plenarprotokoll 15 / 70. 23 24

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struktur ging einher, dass die NATO-Verbündeten zunehmend ein Engagement Deutschlands in Südafghanistan fordern. Die im Frühjahr 2007 zur Abwendung dieser Forderung erfolgte Verlegung von sechs Tornado-Aufklärungsflugzeugen nach Afghanistan, um ISAF in Südafghanistan zu unterstützen, stellte eine neue militärische Dimension für den deutschen Einsatz in Afghanistan dar. Um sich stärker in Nordafghanistan zu verankern und der Ausweitung des Einsatzes auf Südafghanistan entgegenzuwirken, errichtete die Bundeswehr sogenannte Provincial Advisory Teams als permanente Präsenz in der Fläche in allen nordafghanischen Provinzen. Zudem beteiligt sich die Bundeswehr verstärkt an der Ausbildung der Afghanischen Nationalarmee (ANA), die in die Truppenteile integrierte Ausbilder vorsieht. Einer Entsendung dieser militärischen Ausbilder in den Süden, wenn die von ihnen ausgebildeten Kontingente dorthin versetzt werden, steht die Bundesregierung vor allem aus innenpolitischen Gründen bislang ablehnend gegenüber.25 III. Polizeiaufbau

Der Polizeiaufbau, der sowohl entsprechend der finanziellen Ausstattung wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung als ein Nebenschauplatz des deutschen Engagements erscheint, ist im Zusammenspiel mit dem Aufbau eines funktionierenden Justizsystems und der Schaffung einer einsatzfähigen Nationalarmee Kernstück des internationalen Engagements. Die Koordination des Polizeiaufbaus übernahm Deutschland und wurde durch das Bundesinnenministerium durchgeführt. Deutschland schien für diese Aufgabe prädestiniert, da es ja bereits in den 1960er und 1970er Jahren für die Ausbildung afghanischer Polizisten zuständig war. In der Umsetzung beschränkte sich Deutschland auf die Ausbildung von Multiplikatoren im Polizeiapparat. Um den gesamten Polizeiapparat Afghanistans – der einmal 82.000 Mann umfassen soll – in angemessener Qualität und auch Quantität kurzfristig aufzubauen, reichten weder die bereitgestellten finanziellen noch personalen Mittel. Für 2002 / 2003 standen 33 Millionen A zur Verfügung und bis zum Jahr 2007 flossen weitere 48 Millionen A, was in etwa 12 Millionen A pro Jahr entspricht. Dieses Geld wird für die Ausbildung wie auch für die Ausstattung der Polizeikräfte (Gebäude, Fahrzeuge, dienstliches Gerät) verwendet. 42 deutsche Polizeibeamte waren in Afghanistan tätig, die 4.600 Polizisten in ein- bis dreijährigen Kursen ausbildeten sowie weitere 14.000 in verschiedenen Themenfeldern schulten. Seit 2005 offenbarte sich zunehmend, dass der deutsche Ansatz nicht ausreichend war und zu scheitern drohte – zumal die USA unter hohem Finanzaufwand afghanische Polizisten in Crashkursen ausbildeten. So ging im Juni 2007 der Polizeiaufbau von Deutschland an die EU-Polizeimission EUPOL über, die gegenwärtig 200 Polizei- und Rechtsstaatsexperten aus 21 Nationen umfasst und auf 400 aufgestockt werden soll. Jedoch befindet sich EUPOL bislang in dem Dilem25

Glassner / Schetter (2007).

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ma, zu wenige Kapazitäten für den Polizeiaufbau zur Verfügung zu haben.26 Insgesamt kann geschlussfolgert werden, dass sich Deutschland bei der Übernahme der Federführung für den Aufbau des Polizeiwesens gehörig verhoben hat: So wurde man den Ansprüchen der internationalen Partner wie der afghanischen Regierung nicht gerecht und trägt somit eine gewisse Mitverantwortung für den Mangel an physischer Sicherheit in Afghanistan.

IV. Entwicklungsbezogene Projekte

Im Unterschied zu anderen Ländern entfaltete sich das deutsche Entwicklungsengagement in Afghanistan recht schnell. Aufgrund eines über den Afghanistankrieg hin ruhenden Vertrags mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau konnte diese gleich 2002 mit ersten Infrastrukturmaßnahmen beginnen. 2003 einigte sich die Bundesregierung mit dem afghanischen Partner auf die Schwerpunktsetzung: Städtische Trinkwasserversorgung, Energieversorgung und WIRAM (Wirtschaftsförderung). Als Querschnittsaufgaben verfolgte Deutschland die Verbesserung der Situation der Frau und „Gute Regierungsführung“. Diese Festsetzung der Schwerpunkte war mitunter problematisch, da die Förderung von kleineren Bereichen etwa in den Sektoren Bildung und Gesundheit, die anfangs gefördert wurden, mit einem Mal wegbrach. Erst später wurde Grundbildung (v. a. Lehrerausbildung) wieder zu einem Schwerpunkt der Bundesregierung erhoben. Zusätzlich sollte die Entwicklungszusammenarbeit räumlich konzentriert werden. Als ein Standort wurde Herat auserkoren. Die Festlegung des zweiten Standbeins wurde von dem Beschluss, ein Wiederaufbauteam in Kundus zu errichten, überrollt. Mit der Übernahme des PRTs in Kundus im November 2003 mussten die Entwicklungsorganisationen nachziehen und sich nun maßgeblich auf den Nordosten des Landes konzentrieren. Herat verlor damit einhergehend für das deutsche Engagement zunehmend an Bedeutung. 2006 waren mehr als 50 internationale und nationale Experten in Kundus für deutsche Durchführungsorganisationen und NGOs tätig. Seit 2003 wurde das deutsche Entwicklungsengagement auf den gesamten Nordosten Afghanistans ausgedehnt. Neben Not- und Übergangshilfe lag der Schwerpunkt auf arbeitsintensiven Rehabilitierungsmaßnahmen. Zudem ist zu erwähnen, dass Deutschland Berater in verschiedene Ministerien entsandte.27 Aufgrund veränderter diplomatischer und militärischer Prioritätensetzungen musste demnach die Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan fast jährlich neu angepasst werden, wodurch sie zunehmend in eine passive Rolle gedrängt wurde. Zudem gab es Kritik an der thematischen Schwerpunktsetzung. So konzentrierte sich die Entwicklungszusammenarbeit eher auf infrastrukturbezogene Themen und sparte konfliktbezogene oder „weiche“ Themen (Gesundheit, Bildung) zeit26 27

Glassner / Schetter (2007). Glassner / Schetter (2007).

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weise aus. Jedoch ist diese Kritik nicht ganz gerechtfertigt. So führt die GTZ in Badakhshan und Nangarhar etwa alternative livelihood Programme gegen den Drogenanbau durch. Auch hat das BMZ sein Engagement in den Südosten Afghanistans ausgedehnt, wo ja Deutschland bereits in den 1960er und 1970er mit großem finanziellem Aufwand eine integrierte Regionalentwicklung (Paktia Projekt) gefördert hatte. Ingesamt kann geschlussfolgert werden, dass das deutsche Engagement in Afghanistan seit 2001 Licht und Schatten aufweist. In seinem Engagement ist Deutschland stets bemüht, die afghanischen Partner einzubeziehen. Nahezu jeder deutsche Bundeswehrkommandeur betont das Mantra, dass „man nur Gast in Afghanistan sei“. Anders als etwa die US-Soldaten werden die Bundeswehrsoldaten auf ihren Einsatz in Afghanistan in mehrwöchigen Kursen vorbereitet – wenngleich gerade das landeskundliche Training bislang zu wünschen übrig lässt. Auch legt Deutschland – etwa in der Entwicklungszusammenarbeit – stets ein großes Gewicht auf Konsultationen. Dieses doch eher als behutsam einzuschätzende Vorgehen Deutschlands muss im Blick gehalten werden, wenn die afghanische Sichtweise auf Deutschlands politische Rolle betrachtet wird.

C. Die afghanische Sicht Deutschlands Die beiden vorangegangenen Kapitel haben deutlich gemacht, dass es eine starke Kontinuität der deutsch-afghanischen Beziehungen in den letzten einhundert Jahren gibt. Es wurde auch deutlich, dass gerade das deutsche Interesse an Afghanistan unterschiedliche Beweggründe aufweist. Spielten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem geopolitische und geostrategische Motivationen eine Rolle, so war es in den 1950er bis 1980er Jahren vor allem die ideologische Konkurrenz des Kalten Krieges, die das deutsche Interesse an Afghanistan nährte. Neben dem Sicherheitsargument dürfte die Region gegenwärtig auch aufgrund von Energiefragen für Deutschland interessant sein – wenn man den jüngsten Reden des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier folgt.28 So reicht das Daulatabad-Gasfeld, in dem umfangreiche Erdgasvorkommen vermutet werden, aus Turkmenistan nach Nordafghanistan (v. a. Shiberghan) hinein, und hat Deutschland großes Interesse daran, sich alternative Energiequellen, v. a. in Turkmenistan, zu erschließen. Allerdings hat es die deutsche Außenpolitik bislang vermieden, die eigenen Interessen am Einsatz in Afghanistan über das Sicherheitsargument hinaus zu formulieren. So heißt es im Strategiepapier der Bundesregierung (2008): „Der internationale Terrorismus darf Afghanistan nicht wieder als Ruhe-, Rückzugsund Regenerationsraum nutzen können. Insofern dient unser Afghanistan-Engagement unmittelbar deutschen Interessen“29. 28 29

Steinmeier (2007a, 2007b). Bundesregierung (2008), S. 1.

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Jedoch stellt gerade der War on Terror eine recht schwammige Worthülse dar, von der viele Afghanen glauben, dass sie die wahren Interessen der intervenierenden Länder – gerade der USA – verschleiert.30 So stellt eine Formulierung der eigenen Interessen – jenseits des War on Terror – ein wesentliches Versäumnis der deutschen Afghanistanpolitik dar. Daher herrscht unter den Afghanen eine große Unsicherheit, weshalb sich Deutschland so übermäßig in Afghanistan engagiert. Diese Verschwommenheit in den eigenen Interessensbekundungen ist in einem Land wie Afghanistan äußerst problematisch. Denn bei der afghanischen Gesellschaft handelt es sich aufgrund des Fehlens einer Schriftkultur um eine „story telling society“31, in der Gerüchte und Verschwörungstheorien nur so grassieren. Als etwa das deutsche PRT aus der Ortschaft Kunduz hinaus auf das Plateau nahe des Flughafens verlegt wurde, wozu ein Gelände in der Größe des Vatikans unter hohen finanziellen Kosten zu einer Garnison ausgebaut wurde, entstand unter den Afghanen gleich die Frage, weshalb Deutschland solch eine große Kaserne in Afghanistan benötige, wenn es hier doch nur vorübergehend militärisch anwesend sein will. Ähnliche Irritationen kamen bereits bei der Petersberg-Konferenz oder bei der Ernennung von Ministern, die in Deutschland gelebt hatten, auf. So ist es für Afghanen selbstverständlich, dass diese Minister nicht aufgrund ihres Sachverstands, sondern aufgrund der deutschen Ansprüche im internationalen Konzert ausgesucht wurden. Diese Verschwörungstheorien entblößen zudem, dass gerade Mitglieder der afghanischen Mittel- und Oberschicht gern in nationalen Schablonen denken. So gibt es ein bestimmtes Bild von „den Deutschen“, „den Amerikanern“ etc. Neben dem Arier-Mythos, der Afghanen und Deutsche in eine verwandtschaftliche Nähe rückt, wird vor allem betont, dass Deutschland sich stets in der Entwicklung Afghanistans engagiert habe und daher ein verlässlicher Freund des Landes sei. So schätzen die Afghanen an den Deutschen, dass diese – im Falle einer Verweigerungshaltung der Afghanen wie im Ersten und im Zweiten Weltkrieg – niemals mit offenen Drohungen reagierten, wenn sie sahen, dass sie ihre Interessen nicht durchsetzen konnten. Vor dem Hintergrund dieses Bildes, das in der afghanischen Öffentlichkeit von Deutschland entworfen wurde, wird auch die politische Rolle, die Afghanistan Deutschland zubilligt, deutlich. Anders als etwa die USA, die sich durch eine unstetige und volatile Afghanistanpolitik auszeichnen, sieht Afghanistan in Deutschland einen verlässlichen Partner, der auch langfristig Afghanistan beistehen wird. So wird in Deutschland auch ein Land gesehen, das einen gewissen Gegenpol zu den USA darstellt. Gleichwohl ist anzumerken, dass sich bei vielen einfachen Afghanen diese nationalen Stereotype vermischen und ein grobmaschiges Bild vom Westen im Allgemeinen vorherrscht. Wie wichtig die Definierung der deutschen Position gegenüber Afghanistan ist, wird besonders aus dem Selbstverständnis der Afghanen ersichtlich. So herrscht 30 31

Schetter (2008). Mills (1991).

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unter Afghanen die Auffassung vor, dass ihr Land als der Mittelpunkt der Welt zu betrachten sei, das seit je her alle Großmächte der Erde zu beherrschen trachteten. Dieser Glaube kommt nicht von ungefähr; so haben sich doch die Moguln und Safaviden im 16. bis 18. Jahrhundert, die Briten und Russen im Great Game des 19. Jahrhunderts und die Sowjets in den 1980er Jahren an Afghanistan die Zähne ausgebissen. Daher herrscht unter Afghanen bis heute der Mythos, dass sie allein die Weltmacht Sowjetunion in die Knie gezwungen hätten und dass daher die Wiedervereinigung Deutschlands nur durch den erbitterten Kampf der Afghanen gegen die Sowjets überhaupt möglich gewesen sei. Gern verweisen Afghanen auch auf die Feldzüge Alexanders des Großen, dem am Hindukusch seine Grenzen aufgezeigt wurden. Selbst die „Heartland-These“ von Halford Mackinder (1904), nach der nur derjenige die Weltherrschaft erlangen kann, der Zentralasien (inkl. Afghanistan) kontrolliert, ist in Afghanistan nicht unbekannt. Aufgrund dieser überhöhten Wahrnehmung der Bedeutung des eigenen Landes gehen viele Afghanen davon aus, dass selbst unbedeutende Provinzpolitiker in Deutschland sich permanent den Kopf über Afghanistan zerbrechen. Auf diese Vorstellung ist es auch zurückzuführen, dass Afghanen dazu neigen, das Ausland allein für den andauernden Kriegszustand in Afghanistan seit 1979 verantwortlich zu machen. Natürlich gibt es auch kaum Illusionen über die Machtverteilung in der Partnerschaft. So ist klar, dass Afghanistan daran interessiert ist, dass Deutschland sich im Wiederaufbau und in der Entwicklung des Landes sowie militärisch engagiert. Gerade Hamid Karzai bittet die deutsche Regierung immer wieder um eine Intensivierung des militärischen Engagements, auch in anderen Teilen des Landes. Afghanistan zeigt zudem ein großes Interesse an den Entwicklungsimpulsen, die aus Deutschland kommen und sieht diese mit weniger Misstrauen als Unterstützungsangebote aus anderen Ländern der Welt. Auch ist zu beachten, dass es sich bei den Afghanen – gerade aufgrund des Glaubens an ihre historisch stets verteidigte Unabhängigkeit – um eine sehr stolze Nation handelt. Der Status eines Almosenempfängers ist den Afghanen zuwider; dagegen ist man – aufgrund des Denkens in verwandtschaftlichen Schablonen – gern bereit, sich von „Brüdern und Schwestern“ unter die Arme greifen zu lassen. In diesem Sinne spielt der Arier-Mythos, so problematisch und befremdlich dieser auch den Deutschen aufgrund der bitteren Vergangenheit des Dritten Reiches ist, eine wichtige Rolle, um eine Partnerschaft mit Afghanistan einzugehen. Schließlich muss noch ein weiterer Punkt erwähnt werden, der in diesem Beitrag bislang zu kurz kam: Die afghanische Diaspora in Deutschland. So spielt die große Exilgemeinde von Afghanen, die in Deutschland leben, eine wichtige Rolle, indem Remittenten nach Afghanistan geschickt werden, es einen intensiven Reiseverkehr von Afghanen zwischen beiden Ländern gibt und auch Afghanen in Deutschland immer wieder öffentlich an die Misere in ihrem Land erinnern. Jedoch macht sich innerhalb dieser Diaspora zunehmend Fatalismus über die Lage im Heimatland breit, während 2001 / 2 noch Euphorie vorherrschte. Schließlich ist das Verhalten der Bundesländer gegenüber der afghanischen Diaspora problematisch. So haben

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viele Bundesländer wie Hamburg oder Bayern damit begonnen, Afghanen in ihre Heimat abzuschieben, da der Krieg in Afghanistan beendet sei. Dass Bayern sich gleichzeitig weigert, Polizeiausbilder für die Mission in Afghanistan aufgrund der hohen Sicherheitsrisiken zur Verfügung zu stellen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. D. Ausblick Es ist schwer zu sagen, wie lange das deutsche Engagement in Afghanistan noch währen wird. Die Zunahme der Gewalt, die Rückkehr der Taliban sowie die zu zaghaften Erfolge im Wiederaufbau des Landes bedingten, dass die Afghanen zunehmend ihre Hoffnung in die internationale Intervention verloren haben. Es steht zu befürchten, dass Deutschland stärker in das Kriegsgeschehen hineingezogen wird, als es ihm lieb ist. Hierbei droht Deutschland seine bisherige, historisch bedingte Rolle, die sich eher durch ein freundliches, ziviles Auftreten äußerte, aufgeben zu müssen. Zudem muss der deutsche Einsatz in Afghanistan vor seinem historischen Hintergrund gesehen werden. Es ist zu bedenken, dass die Afghanen aufgrund ihres Denkens und Handelns in verwandtschaftlichen Strukturen eine in Vergangenheitsbezügen verhaftete Gesellschaft sind. Daher geht es bei dem zukünftigen deutschen Engagement in Afghanistan für beide Länder um weit mehr als um die bloße Tatsache, ob deutsche Soldaten in ein Kriegsgebiet geschickt werden: Für Deutschland geht es darum, erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg als offene Konfliktpartei an einem Krieg teilzunehmen; für Afghanistan geht es darum, ob sich trotz eines verstärkten militärischen Engagements das positive Bild Deutschlands als politischer Partner, zu dem man ein enges, gutes und historisch gewachsenes Vertrauensverhältnis hat, aufrecht erhalten lässt.

Literatur Baraki, Martin (1996): Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1978, Frankfurt am Main. Breckle, Siegmar (1999): Wissenschaftliche Erforschung Afghanistans – gestern, heute, morgen, in: Schetter, Conrad / Wieland-Karimi, Almut (Hrsg); Afghanistan in Geschichte und Gegenwart, Frankfurt am Main, S. 13 – 28. Bundesregierung (2007): Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung, 09. September. – (2008): Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung, 09. September. Friese, Matthias / Geilen, Stefan (2002): Deutsche in Afghanistan. Die Abenteuer des Oskar von Niedermayer am Hindukusch, Köln. Glassner, Rainer / Schetter, Conrad (2007): Der deutsche Beitrag zum Wiederaufbau in Afghanistan seit 2001: Bundeswehreinsatz und ziviles Engagement, in: Schoch, Bruno et al. (Hrsg.); Friedensgutachten 2007, Berlin, S. 62 – 74. Holl, Norbert (2002): Mission Afghanistan. Erfahrungen eines UNO-Diplomaten, München.

Die politische Rolle Deutschlands aus afghanischer Sicht

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Mackinder, Halford (1904): The Geographical Pivot in History, in: The Geographical Journal, 23 (4), S. 421 – 437. Mills, Margret (1991): Rhetorics and Politcs in Afghan Traditional Storytelling, Philadelphia. Müller, Rolf-Dieter (2007): Afghanistan als militärisches Ziel deutscher Außenpolitik im Zeitalter der Weltkriege, in: Chiari, Bernhard (Hrsg.); Afghanistan. Wegweiser zur Geschichte, Paderborn, S. 43 – 53. Pohly, Michael (1992): Krieg und Widerstand in Afghanistan, Berlin. Ritter, Carl (1838): Die Stupa’s (Topes) oder die architectonischen Denkmale an der IndoBaktrischen Königsstraße und die Colosse von Bamiyan, Berlin. Scheibe, Arnold (1936): Die Deutsche Hindukusch-Expedition 1935 der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in: Der Diplomlandwirt, Jg. 17, S. 109 – 112. – (Hrsg.) (1937): Deutsche im Hindukusch. Bericht der Deutschen Hindukusch-Expedition 1935 der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Berlin / Deutsche Forschung, Schriften der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Neue Folge Bd. 1. Schetter, Conrad (2004): Kleine Geschichte Afghanistans, München. – (2008): Ordnungsmuster gewaltsamer Konflikte. Die Intervention in Afghanistan zwischen Ethnizität, Kriegsfürstentum und Taliban, Bonn (Habilitationsschrift, eingereicht im April 2008). Schetter, Conrad / Mielke, Katja (2008): Staatlichkeit und Intervention in Afghanistan, in: Friedenswarte, 83 (1), S. 71 – 96. Seidt, Hans-Ulrich (2002): Berlin, Kabul, Moskau. Oskar Ritter von Niedermayer und Deutschlands Geopolitik, München. – (2004): Eurasische Träume? – Afghanistan und die Kontinuitätsfrage deutscher Geopolitik?, in: Orient 3, S. 423 – 442. Steinmeier, Frank-Walter (2007a): Rede des Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, „Kooperative Energiesicherheit im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik“ anlässlich des XIII. Europa Forum Berlin BMW Stiftung Herbert Quandt am 16. November 2007 in Berlin. – (2007b): Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Eröffnung der Konferenz „Zentralasien und Europa: Eine neue Wirtschaftspartnerschaft für das 21. Jh.“ am 13. November 2007 in Berlin. Zerwinsky, Susan (Hrsg.) (2008): Lessing in Kabul. Deutsche Sprache, Literatur und Germanistik in Afghanistan, München.

Herausgeber und Autoren Bagci, Hüseyin, Dr., Prof. für Internationale Beziehungen an der Middle East Technical University in Ankara und Vice Chairman des Center for European Studies. Barclay, David E., Dr., Prof. für Geschichte am Kalamazoo College, Kalamazoo, Michigan / USA. Derzeit Executive Director der German Studies Association. Daschitschew, Wjatscheslaw, Dr., Prof. und Senior Researcher des Zentrums für internationale wirtschaftliche und politische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Janes, Jackson, Dr., Leitender Direktor des American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) an der John Hopkins Universität Washington, D.C. Kleinfeld, Gerald R., Dr., em. Prof. am Bates College, Lewiston, Maine und an der State University, New York. Gründungsdirektor und langjähriger Executive Director der German Studies Association. Kostiner, Joseph, Dr., Prof. am Department of Middle Eastern and African History der Universität Tel Aviv. Forschungsdirektor des Moshe Dayan Center for Middle Eastern and African Studies der Universität Tel Aviv. Kotowski, Albert S., Dr., Prof. am Institut für Geschichte und Internationale Beziehungen (Lehrstuhl für Allgemeine Neueste und Migrationsgeschichte) der Kazimierz-Wielki-Universität in Bydgoszcz / Polen und Direktor des Robert-Schuman-Europazentrums der Wirtschaftshochschule in Bydgoszcz. Mayer, Tilman, Dr., Prof. für Politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte. Geschäftsführender Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Vorsitzender der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Nijhuis, Ton, Dr., Prof. an der Universität Amsterdam in den Fächern Geschichte und Politikwissenschaft. Wissenschaftlicher Direktor des Duitsland Instituut Amsterdam. Otto, Ann-Kristin, Dipl.-Politologin (FU Berlin) und MA in International Affairs der George Washington University. Assistentin des Direktors des American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) an der John Hopkins Universität Washington, D.C. Schechter, Erik, Journalist und Spezialist für Sicherheitspolitik mit einem MA in Internationalen Beziehungen der University of Chicago. Schetter, Conrad, Dr., Leiter der Forschungsgruppe „Governance and Conflict“ am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn.