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German Pages 168 [173] Year 1981
Hermann Strobach Deutsches Volkslied in Geschichte und Gegenwart
Hermann Strobach
Deutsches in Geschichte und Gegenwart
Akademie-Verlag • Berlin • 1980
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-108 Berlin, Leipziger Srt. 3—4 Lektorin: Hildegard Palm © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lizenznummer: 202 . 100/225/80 Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Umschlaggestaltung: Rolf Kunze Bestellnummer: 752 932 3 (6348) • LSV 8390 Printed in GDR DDR 7,50 M
Inhaltsverzeichnis Vorwort I. Sammlung und Forschung 1. Die Herder-Zeit 2. Von der Romantik bis zum Vormärz 3. Positionen und Tendenzen in der bürgerlichen Forschung vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart 4. Neubeginn und Entwicklung der Volksliedforschung in der D D R ' II. Quellenlage und Quellenprobleme III. Text, Melodie und Metrik 1. Zum Verhältnis von Text und Melodie 2. Zur Metrik IV. Liedträger und Liedgenres 1. Ländlich-bäuerliche Liedtraditionen 2. Balladen 3. Städtebürgerliches Volkslied im Zeitalter der Renaissance 4. Städtisch-bürgerliche Liedentwicklungen und Volksgesang von der Mitte des 16. bis zum Ende des 19. Jhs 5. Bürgerliche Singbewegungen nach der Wende vom 19. zum 20. Jh. 6. Landsknechts- und Soldatenlied 7. Arbeiterlied 8. Sozialistisches Jugendlied - Singebewegung V. Schlußbetrachtungen
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20 23 25 30 30 37 45 45 58 69 81 89 93 102 112 118
1. Volksliedkriterien und Volksliedbegriii 2. Neue Elemente im Liedschaffen der Gegenwart
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Anhang
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1. Anmerkungen 2. Auswahlbibliographie
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Vorwort
In den letzten Jahren ist mit der allgemeinen Entwicklung der kulturellen Aktivitäten und der Rezeption des kulturellen Erbes durch die Werktätigen das Interesse am Volklied in der D D R wieder spürbar gewachsen. Neue Akzente verlieh diesem Interesse der Aufschwung von Singebewegungen nicht nur in unserer Republik. Zugleich fordern solche jüngste Tendenzen in der Entwicklung des Singens und des Liedschaffens dazu auf, die Fragen nach dem Begriff des Volksliedes und nach seiner Bedeutung in Geschichte und Gegenwart neu zu durchdenken. Die in der internationalen Forschung lebhaft geführte Diskussion um das Volksliedproblem ist dadurch zweifellos aktualisiert und um wichtige Gesichtspunkte bereichert worden. Diese Diskussion dreht sich im wesentlichen um die Frage, ob das Volkslied nur eine für bestimmte vergangene Epochen charakteristische Erscheinung darstelle, die heute lediglich noch in Resten abseits von der Hauptlinie des Kulturfortschritts lebe, oder ob es auch in der Gegenwart noch ein Volkslied gebe und seine Weiterentwicklung möglich sei. ' M i t der hier vorgelegten Darstellung soll versucht werden, breiten Leserkreisen einen Überblick über das deutsche Volkslied zu geben und einen Beitrag zur notwendigen Klärung des Volksliedproblems unter Berücksichtigung der gegenwärtigen gesellschaftlichen und •kulturellen Prozesse zu leisten. D a ß dabei Vollständigkeit weder angestrebt noch erreicht werden konnte, bedarf angesichts eines so komplexen Gegenstandes kaum der Begründung. Die Darstellung ist aus buchtechnischen Gründen von vornherein auf den begrenzten Umfang eines Taschenbandes angelegt worden. Ihr Ziel konnte es daher auch nicht sein, ein umfassendes, historisch-chronologisches Bild vom deutschen Volkslied geben zu wollen. 1 Vielmehr blieb sie auf die Beschreibung von Grundzügen und Haupttypen der deutschen Volksliedentwicklung und Volksliedüberlieferung gerichtet. Eine Beschränkung und Auswahl der behandelten Probleme und Genres, der Themen, Typen und Stoffkreise war jedoch auch dabei noch notwendig. In dieser Auswahl wie in der Einschätzung des beschriebenen Materials wird und soll sich das hier gegebene Bild aber auch von den zahlreichen, überwiegend älteren bürgerlichen Darstellungen zum deutschen Volkslied unterscheiden. Der Standpunkt des Autors und seine Auffassungen zu den aufgeworfenen Problemen um die Volksliedentwicklung werden darin deutlich hervortreten. Viele Probleme bringt die notwendige Gliederung des Materials in einer räum-
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Vorwort
lieh begrenzten Überblickdarstellung dieser Art mit sich. Jedes Lied kann ja immer unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Ein vom Inhalt her als Soldatenlied zu bezeichnender Text zum Beispiel muß nicht nur von Soldaten gesungen werden. Unter dem Aspekt der Sänger und allgemein der Trägerschicht einer Liedtradition ergeben sich also wieder andere Zuordnungen, als unter dem der inhaltlichen Aussage. Dasselbe Lied kann schließlich zu unterschiedlichen Anlässen erklingen. Eine Bauernklage etwa kann unmittelbar als Ausdruck sozialen Protestes dienen und sie kann im Brauchspiel als Rollenlied für die Darstellung eines Bauern verwendet werden. Ein Liebeslied mag als „Ständchen" oder einfach in geselliger Runde gesungen werden. Dieselben Lieder können im Gemeinschafts- oder im Einzelgesang erklingen. Auch die Bindung an bestimmte soziale Schichten und Gruppen oder einzelne Verbreitungsräume ist zumeist nicht gleichbleibend oder ausschließlich. Vielfach wandern Lieder im historischen Prozeß durch verschiedene soziale Klassen und Schichten sowie über Landschaften und Regionen. Ihre Aussage und ihre sprachlich-stilistische Gestalt können sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung verändern. So stellen unsere Zuordnungen des beschriebenen Materials wohl Akzentsetzungen und Orientierungen dar, keinesfalls jedoch absolute Grenzziehungen. Scharfe Eingrenzung widerspricht ja ohnehin dem Wesen des Volksliedes, das vielmehr durch fließende Fülle und wechselnde Vielfalt gekennzeichnet ist. Nicht zuletzt liegen gerade darin für uns heute sein Reiz als kulturhistorische Erscheinung wie seine Offenheit für eine produktive Rezeption als kulturelles Erbe und für weiterführende Entwicklungen.
I
Sammlung und Forschung
1. Die Herder-Zeit Der entscheidende Impuls zur Erforschung der Geschichte und des Wesens des Volksliedes und der Volksdichtung überhaupt ging in Deutschland unbestritten von Johann Gottfried Herder aus, ein Impuls, der in der Folgezeit weit über die Grenzen der deutschen Länder hinaus wirkte. Auch der Begriff „Volkslied" wurde erst von Herder geprägt. Die Forschung hat keinen Gebrauch dieses Wortes im deutschen Schrifttum vor Herders 1771 geschriebenem, 1773 in den „Blättern von deutscher Art und Kunst" veröffentlichtem „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker" nachweisen können. Diese Begriffsprägung war aber mehr als nur die Beschreibung eines bis dahin ungenügend beachteten kulturellen Gegenstandes. Vielmehr bildete für Herder die Entdeckung und Bewertung des Volksliedes in erster Linie Grundlage und Bestandteil seiner Bemühungen um die Schaffung einer volksnahen, realistischen Nationalliteratur, die in der Lage sein sollte, eine führende geistige Rolle in der gesamtgesellschaftlichen Bewegung des aufstrebenden Bürgertums zu spielen. Herders Grundposition, von der auch seine Auffassung zum Volkslied erst zu verstehen ist, beruht daher auf seinem Verhältnis zum Volk, das heißt nach seinen Worten zu jenen Menschen, die, „mehr durch Tätigkeit, als Spekulation gebildet", für ihn „der große ehrwürdige Teil des Publikums" sind. 1 Trotz mancher Unschärfe seines Volksbegriffs liegt dessen historische Bedeutung in dieser Einbeziehung der werktätigen Schichten in die Gesamtheit jener gesellschaftlichen Kräfte, die nach dem Verständnis des sich herausbildenden vorrevolutionären Epochenbewußtseins die Nation unter Führung des Bürgertums und im Gegensatz zu den Mächten des Feudalabsolutismus konstituieren sollten. Unter Aufnahme von revolutionären Ideen der westeuropäischen Aufklärung, besonders Rousseaus, hatte sich Herder zu einem führenden Repräsentanten jenes bürgerlich-demokratischen Flügels der deutschen Intelligenz entwickelt, der in den Jahrzehnten sich vertiefender Widersprüche der feudalabsolutistischen Gesellschaftsordnung vor der Französischen Revolution die Verbindung zum Volk suchte. Herder sprach in Deutschland am entschiedensten jene zutiefst humanistisch-progressive Auffassung aus, die in dem von der herrschenden Feudalklasse nur als Ausbeutungs- und Unterdrückungsobjekt behandelten und verachteten Volk den wertvollsten Teil der Nation und die entscheidende Kraft für die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts sah.
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Sammlung und. Forschung
„Mich hat", bekannte er selbst, „in allen diesen Zeiten nichts als der Gedanke der allgemeinen Erwachung und Wiedergeburt geregt und beweget." 2 Und der gesellschaftliche Fortschritt forderte damals, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, die Überwindung feudaler Verhältnisse und die Bildung der bürgerlichen Nation. Die Hinwendung zum Volk war für Herder dafür eine notwendige Bedingung: „Doch bleibts immer und ewig, daß wenn wir kein Volk haben, wir kein Publikum, keine Nation, keine Sprache und Dichtkunst haben, die unser sei, die in uns lebe und wirke." 3 Der Literatur maß Herder in diesem Prozeß eine große Bedeutung bei. Sie mußte aber, sollte sie ihre historische Aufgabe erfüllen, sich aufs Volk beziehen und dazu auch volksmäßig sein, oder sie blieb „klassische Luftblase". 4 Gerade eine solche Verbindung mit der Geschichte und dem Leben des Volkes fand Herder jedoch in der vorherrschenden Literatur seines Jahrhunderts, der höfisch feudalabsolutistischen Repräsentationskunst und der noch an die Fürstenhöfe gebundenen Gelehrtendichtung der Frühaufklärung, nicht vor. Sie war nicht „wie Sprosse auf dem Stamm der Nation gewachsen", 5 sondern überwiegend fremden Vorbildern nachgeahmt, vor allem dem auf den Absolutismus orientierten französischen Klassizismus und der von ihren konkreten historischen Lebensbedingungen gelösten und zu einem abstrakten Regelkodex verabsolutierten antiken griechischen und römischen Dichtung. In der englischen Literatur dagegen glaubte Herder diese Kontinuität einer Dichtkunst feststellen zu können, die „sich auf eigenem Grunde, aus Nationalprodukten, auf dem Glauben und Geschmack des Volks, aus Resten alter Zeiten gebildet" habe. „Dadurch ist ihre Dichtkunst und Sprache national worden, Stimme des Volks ist genutzet und geschätzt." 6 Die englische Dichtung sowohl, vor allem die Shakespeares, als auch diese Schätzung der „Stimme des Volkes" waren es, durch die Herder von England her tiefgehende Anregungen für seine Auffassungen von der Volkspoesie und einer zu schaffenden deutschen Nationalliteratur erfuhr. Es ist charakteristisch, daß Herder diese Auffassungen vor allem in dem „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker" sowie in der 1777 erschienenen Abhandlung „Von Ähnlichkeiten der mittlem englischen und deutschen Dichtkunst" ausbreitete. 1760 hatte der schottische Dichter James Macpherson „Fragments of Ancient Poetry" als Gesänge des blinden gälischen Barden Ossian herausgegeben, die sich später als Dichtungen Macphersons auf der Grundlage wesentlich jüngerer schottischer Überlieferungen erwiesen. Fünf Jahre später folgte der englische Pfarrer Thomas Percy mit seinen „Reliques of Ancient English Poetry", einer dreibändigen Sammlung altenglischer Balladen vor allem des 15. und 16. Jahrhunderts, zum großen Teil nach einem um 1650 zusammengetragenen Manuskript, die Percy bearbeitet und zu denen er auch einige Stücke späterer englischer Dichter gestellt hatte. Ermutigt durch das englische Vorbild, rief Herder leidenschaftlich dazu auf,
Die
Herder-Zeit
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deutsche Lieder zu sammeln, in denen „noch ein Fünklein deutsches Vaterlandgeistes, wenn gleich unter Asch und Moder",' glimme. D a er in der Dichtung seiner Zeit diese „nationale Denkart" weitgehend verschüttet sah, suchte er sie in IJedern früherer Jahrhunderte. Dabei wandte er sich besonders der Dichtung aus der Zeit vor jener verstärkten Abwendung der Kunst von der Überlieferung des Volkes zu, die unter dem Einfluß und im Bereich des spätfeudalen Absolutismus nach der Mitte des 17. Jahrhunderts erfolgte. Gleichzeitig forderte er auf, diese „nationale Denkart" in „Resten der Volkslieder, wie sie jetzt leben" 8 aufzuspüren, unter den einfachen Menschen in Stadt und Land, „auf Straßen, und Gassen und Fischmärkten, im ungelehrten Rundgesange des Landvolks." 9 Aber wie das eigene Volk für ihn immer Teil der Menschheit war, so blieb auch sein Blick nicht auf das Lied des eigenen Volkes begrenzt. „Ossian, die Lieder der Wilden, der Skalden, Romanzen, Provinzialgedichte könnten uns auf bessern Weg bringen", heißt es am Schluß seines Aufsatzes über Ossian.' 0 Bereits in seiner Rigaer Zeit zwischen 1764 und 1769 hatte sich Herder, beeinflußt von seinem Königsberger Lehrer Johann Georg Hamann, mit dem Gesang lettischer Bauern beschäftigt. Seither sammelte er in der Literatur, was ihm an Liedern und Nachrichten über den Gesang „unverbildeter" Völker erreichbar w a r : nordische Skaldenpoesie, lettische, litauische, lappländische Liebesliedchen, schließlich Lieder der amerikanischen Indianer u. a. Hier führt eine Linie bis ins 16. Jahrhundert zurück, zu den Entdeckern der Poesie amerikanischer Eingeborener. 1580 hatte der französische Philosoph Michel de Montaigne in seinen „Essais" ein brasilianisches Liedchen mitgeteilt, dessen poetische Schönheit er nicht nur mit der europäischen Kunstdichtung verglich, sondern bei dem er sich auch an die Volkslieder seines Landes, die Gascogner Villanellen, erinnerte. E r folgerte aus dem brasilianischen Beispiel, daß es Poesie auch unter Völkern gebe, die weder Wissenschaft noch Schrift kennen. D i e gleichen Gedanken hatte zur selben Zeit der Engländer Philipp Sidney in seiner „Defence of Poesie" ausgeführt. Wenig später, 1609, teilte Garcilasso de la Vega, Sohn eines spanischen Offiziers und einer Peruanerin aus dem Geschlecht der Inka, in seiner Schilderung des Inka-Reiches und der Eroberung Perus zwei peruanische Lieder mit. Herder nahm alle diese Anregungen auf und fügte sie in die Gesamtheit seiner weiterführenden Auffassungen ein. 1773 stellte er das Druckmanuskript einer Sammlung „Alte Volkslieder" zusammen, die in vier Büchern neben einigen deutschen Liedern englische Balladen, Lieder Shakespeares und sorbische, litauische, lettische, estnische, lappländische, grönländische und isländisch-skaldische Lieder enthielt. Verzögerungen und Widrigkeiten beim Druckvorgang sowie beginnende Angriffe gegen seine Volksliedauffassung bewogen ihn, die Sammlung zurückzuziehen. D i e Vorreden zu den Büchern arbeitete er zu seinem Aufsatz „Von Ähnlichkeit der mittlem englischen und deutschen Dichtkunst" um. Erst 1778 und
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Sammlung
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1779 kam die Sammlung in zwei Teilen unter dem Titel „Volkslieder" in Leipzig heraus. Sie war nun bedeutend vermehrt, besonders auch um Lieder von Völkern, die im ersten Manuskript noch nicht vertreten waren: dänische, französische, italienische, griechische u. a.. Die ethnographische Ordnung der „Alten Volkslieder" aber war aufgegeben, ästhetische Gesichtspunkte traten mit Rücksicht auf das Publikum in den Vordergrund. Die begleitenden Texte sind in manchen Punkten vorsichtiger und zurückhaltender, zum Teil auch mit unüberhörbarer Resignation geschrieben. Wieder sind Lieder Shakespeares, aber nun auch zeitgenössische deutsche Texte von Goethe und Matthias Claudius beigegeben. Volkslieder waren also für Herder jene Lieder, die die Natur eines Volkes, seine Denkart und nationale Eigenart und damit zugleich das alle verbindende Natürlich-Menschliche überhaupt in historisch-konkreter Gestalt charakteristisch zum Ausdruck bringen: „lebendige Stimme der Völker, ja der Menschheit selbst". 11 Sie konnten im Volke entstanden oder von volksverbundenen und nationalbewußten Dichtern geschaffen sein. Homer und Dante bezeichnete er als größte „Volksdichter". Und er sah auch die Möglichkeit einer Weiter- und Fortentwicklung, wie seine Bemerkung zu dem Abendlied von Matthias Claudius zeigt, das er in seine Sammlung aufgenommen hatte, um „einen Wink zu geben, welches Inhalts die besten Volkslieder sein und bleiben werden." 12 Von diesen Auffassungen Herders über das Wesen des Volksliedes aus ist es nur folgerichtig, daß er eine solche Poesie besonders lebendig und stark in den Liedern aus der Zeit des frühen bürgerlichen Aufschwungs in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert, ferner in jenen, die zu seiner Zeit noch unter den einfachen, „mehr durch Tätigkeit" gebildeten Menschen des eigenen wie anderer Völker sowie besonders auch im Liedgut von Völkern auf einer frühen geschichtlichen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung vor der vollen Ausbildung differenzierter antagonistischer Klassenverhältnisse und entfalteter arbeitsteiliger Produktionsweisen verwirklicht fand. Lieder dieser Völker und auch der einfachen Menschen des eigenen Volkes erschienen ihm unmittelbar mit der Geschichte, dem Leben und den Anschauungen der Menschen verbunden. Der Kulturstufe jener Völker beziehungsweise Klassen und Schichten entsprechend wurden sie vorwiegend mündlich im Gesang tradiert. Ihre Texte zeichneten sich deshalb durch die von Herder besonders geschätzten Merkmale der Parallelismen und wiederholenden Formeln, der Sprünge, Würfe und Inversionen aus, die er aber auch an Luther, Klopstock u. a. Dichtern rühmte. In diesen Gesichtspunkten liegt der ästhetisch-literarische Aspekt seiner Volksliedauffassung. Als Vorbilder für eine volksverbundene, lebensnahe Literatur sollte das Beste aus den Überlieferungen der Völker ausgewählt werden, nicht um es äußerlich als Form, als Einkleidung, als Sprache nachzuahmen, sondern damit „innrer Geist des Liedes, innere Bearbeitung" 13 daraus gelernt und dadurch „Gegenstände unsrer Zeit uns so natürlich, mit so edler Kürze, Wurf und Gang" gesungen werden könnten, „als diese
Die Herder-Zeit
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Volkslieder es sangen für ihre Zeit".1'1 Es ging ihm also nicht um eine Rückkehr zu früheren Stufen der Kulturentwicklung oder ihre bloße Wiederbelebung oder Nachahmung, sondern um eine Weiterentwicklung durch produktive Aufnahme des Wertvollsten aus der Geschichte des eigenen Volkes wie der Menschheit. Der geschichtliche Fortschritt war die alles übergreifende Kategorie in Herders Denken. Daher bildeten die ästhetische Wertung und die ästhetisch-literarische Zielsetzung auch nur einen Aspekt seiner Volksliedbeschäftigung und Volksliedauffassung. Mit zunehmender Reife von Herders historischem Bewußtsein und dem Anwachsen der antifeudalen Oppositon unter der deutschen Intelligenz in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts wurde dieser Aspekt in die umfassendere Dimension der Herausbildung eines progressiven vorrevolutionären bürgerlichen Geschichtsbildes eingefügt. Herders Auffassung des Volksliedes als Zeugnis der poetischen Denkart, als sinnlich konkreter Ausdruck einer jeweils bestimmten historischen Stufe der Lebens- und Denkweise, der Bildung, Tradition und Sprache des Volkes ließ ihn gerade diesen Gegenstand als besonders geeignet erscheinen, dem zu entwickelnden bürgerlichen nationalen Geschichtsbild einen volksverbunden-demokratischen Akzent zu geben. Die Poesie der Völker, die Lieder, „Volkssagen, Märchen und Mythologien", konnten mithelfen, Geschichte nicht nur als „Pathologie des Kopfs, d. i. des Kaisers und einiger Reichsstände", sondern als Geschichte der Denkart, der Bildung „des ganzen Nationalkörpers" zu erkennen.15 Lind für diese wissenschaftliche Aufgabe wies er den Forschern auch bereits ein methodisches Programm, das noch lange Zeit auf die Erfüllung warten mußte und noch heute gültig ist: „Nur sie müssen es geben, wie es ist, in der Ursprache und mit gnugsamer Erklärung, ungeschimpft und unverspottet, so wie unverschönt und unveredelt, wo möglich mit Gesangweise und alles, was zum Leben des Volks gehört."16 Vor allem in den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784-1791) wertet Herder seine „Volkslieder" von 1778/79 gerade in dieser Hinsicht als Geschichtsquelle, und er benützt für seine Darlegungen und Erörterungen Volkslieder und andere~Zeugnisse der Volksdichtung zur Beschreibung und Erklärung der Lebensarten, der Empfindungen und Denkweisen von verschiedenen Völkern und Zeiten.17 Dieser unverstellte Blick des bürgerlichen Humanisten auf die Wirklichkeit der Überlieferung und des Lebens der Völker übersah auch nicht die soziale Funktion in der Volksdichtung. Das zeigen u. a. die Aufnahme der estnischen „Klage über die Tyrannen der Leibeigenen" in seine „Volkslieder" und sein Kommentar dazu sowie besonders nachdrücklich seine „Zueignung" (gedruckt 1803), die er für die noch kurz vor seinem Tode geplante neue und vermehrte, wieder nach ethnographischen Gesichtspunkten zu gliedernde Ausgabe der Volkslieder schrieb. Diese „Zueignung" und die 1803 veröffentlichte Ankündigung der erweiterten Sammlung18 bringen die reifste Stufe von Herders Volksliedauffassung zum Ausdruck. Als bestimmend erscheint der ethnographisch-kulturhistorische Gesichtspunkt, der
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Sammlung
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Forschung
den Charakter der Neubearbeitung eindeutig prägen sollte. Nur so konnte die Sammlung Herders Ziel dienen, die Eigenart jedes Volkes in der Einheit der gesamten Menschheit sichtbar zu machen, „eine lebendige Stimme der Völker, ja der Menschheit" zu sein. Der soziale Aspekt erhält, wie besonders die „Zueignung" zeigt, in dieser späten Volksliedauffassung Herders eine starke und vorrangige Bedeutung. Nicht einem fürstlichen Mäzen wollte er seine geplante Sammlung widmen, sondern den Adrasteen (griechischen Göttinnen) Wahrheit und Gerechtigkeit. Durch ihren Gegenstand und ihre bedeutende Resonanz gewannen Herders Schriften und Veröffentlichungen zum Volkslied insbesondere in der Periode des „Sturm und Drang" eine zentrale Rolle bei der Herausbildung eines vorrevolutionären demokratischen Bewußtseins unter den progressivsten Vertretern der bürgerlichen Intelligenz. Herders Vorstellungen vom Volkslied konnten diese Stellung im zeitgeschichtlichen Prozeß der Ideologiebildung deshalb erlangen, weil sie wesentliche Grundpositionen der „Sturm und Drang'-Bewegung in sich vereinigten und an einem Sachverhalt von exemplarischer und programmatischer Bedeutung mit einprägsamer Anschaulichkeit sichtbar und nacherlebbar machten. Besonders nachhaltig und fruchtbar wirkten die Ideen Herders auf Goethe. Auch Goethe beschäftigte sich sein ganzes Leben hindurch immer wieder mit dem Volkslied, und dabei war sein Blick wie der Herders weltweit auf die Überlieferungen des eigenen wie anderer Völker gerichtet. In den Liedern des Volkes sah auch er vornehmlich einen Ausdruck des Lebens und der Eigenart der Völker, ob sie im Volke selbst entstanden oder durch ein „vorzügliches Individuum"19 geschaffen waren. Wenn Goethe in dieser Herkunftsfrage besonders in der Rezension von „Des Knaben Wunderhorn" etwas prononcierter die Entstehung auch außerhalb des Volkes betonte, dann richtete sich das gegen die inzwischen hervorgetretenen mystifizierenden romantischen Vorstellungen. In dem entscheidenden Gesichtspunkt, der Hinwendung zum einfachen Volk und seiner geistig-kulturellen Schöpferkraft, stimmte Goethe völlig mit Herder überein. Bewegt schildert er im 10. Buch von „Dichtung und Wahrheit", wie Herder ihm in Straßburg 1770 nahegebracht habe, „daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbteil einiger feinen, gebildeten Männer. Ich verschlang das alles." Durch Herder ist er in seiner Straßburger Zeit auch zum Sammeln von Volksliedern angeregt worden. Im Elsaß zeichnete er zwölf deutsche Balladen auf, die er 1771 Herder schickte, der einige in seine Sammlung aufnahm. Goethes Berührung mit dem Volkslied wurde zu einer wesentlichen Voraussetzung für seinen Durchbruch zu jener dichterischen Gestaltungsweise, die die neue Qualität seiner Sturm- und Dranglyrik auszeichnet. Dem Aufruf Herders zum Sammeln von Liedern aus der Volksüberlieferung schloß sich auch Johann Heinrich Voß an,20 und in seiner eigenen Lyrik verwendete er ebenso wie Ludwig Christoph Heinrich Hölty Stoffe und Motive des
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Volksliedes. 2 1 Christian Friedrich Daniel Schubart schuf in Anlehnung an das Volkslied während seiner Kerkerhaft auf der Festung Hohenasperg ( 1 7 7 7 - 1 7 8 7 ) Lieder zur antifeudalen Aufklärung der Soldaten, die weite Verbreitung erlangten. 22 Friedrich Schiller griff ein schon 1775 auf einem fliegenden Blatt gedrucktes, seither offensichtlich bekannt gebliebenes anklagendes Lied der verkauften hessischen Soldaten auf und verwendete es in der Kammerdiener-Szene seines Dramas „Kabale und Liebe". Auf der Grundlage von Volksüberlieferungen und vor allem von Sagen seines heimatlichen Harzlandes schuf Gottfried August Bürger volkstümliche Balladen. Am bekanntesten wurde die „Lenore" (1773). Enthusiastisch nahm er Herders Anregungen in seinem 1776 erschienenen Aufsatz „Herzensausguß über Volkspoesie. Aus Daniel Wunderlichs Buch" auf, ohne jedoch die historische Konkretheit und differenzierende Wertung von Herders Auffassung ganz mitzuvollziehen. Kurz danach und vom Titel her gesehen gegen Bürger gerichtet, gab der Berliner Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai 1777 und 1778 in zwei Teilen seine Sammlung „Ein feyner kleyner Almanach vol schönerr echterr liblicherr Volksljder . . . gesungen von Gabriel Wunderlich weyl. Benkelsengernn zu Dessaw . . . " heraus. Wie schon diese Schreibweise, vor allem aber die Vorworte und der Inhalt zeigen, sollte der „Almanach" eine mit herabziehendem Spott vorgetragene Parodie der aufgekommenen Volksliedbegeisterung sein. Durch Auswertung der Sammlung „Bergkreyen" aus dem 16. Jahrhundert veröffentlichte Nicolai zwar neben einer „Schüssel voll Schlamm", wie Herder in dem Aufsatz „Von Ähnlichkeiten der mittlem englischen und deutschen Dichtkunst" bitter bemerkte, auch eine bedeutende Zahl deutscher Volkslieder. Doch die parodistisch-beabsichtigte Vermischung dieser Lieder mit „Gossenliedern" und die Vorreden zu der Sammlung zielen deutlich gegen Herders bürgerlich-progressive Konzeption von der Wertschätzung des Volkes und der Bedeutung des Volksliedes für die zu schaffende volksverbundene bürgerliche Nationalliteratur. D e r Streit ging also um die Weiterentwicklung der bürgerlichen Aufklärung zu volksverbundenen demokratischen Positionen, die hier von einem Standpunkt der gemäßigten Aufklärung bekämpft wird, die zwar Reformen erstrebte, den Absolutismus als System aber nicht in Frage stellte. Lessing, der Nicolais Aufforderung, an dessen Sammlung mitzuwirken, ablehnte, traf in seinem Antwortbrief vom 20. September 1777 genau diesen Kern, wenn er mit Herder betonte, daß „die Aufhebung (der wertvollen Volkslieder) eine sehr angelegene Sache" sei. „Sie aber wollen über das Angelegene der Sache gerade spotten . . . . Denn auf Vermengung des Pöbels und Volkes kommt der ganze Spaß doch nur an."
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Sammlung
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2. Von der Romantik bis zum Vormärz Herder veröffentlichte seine Volksliedersammlung von 1778 und 1779 auch als Antwort auf Nicolais „Almanach". D e r Bestand an deutschen Volksliedern, den Herders Sammlung bot, war jedoch noch zu gering, um eine wirkliche Vorstellung von Reichtum und Vielfalt des deutschen Volkssanges vermitteln zu können. Das Interesse für das Volkslied war nun aber nachhaltig geweckt. In der literarischen, ästhetischen und musiktheoretischen Diskussion bildete es seither einen neuen Bezugspunkt. Doch nur zögernd und langsam kam die Sammeltätigkeit in Deutschland in den Jahrzehnten danach voran. In Almanachen, Zeitungen und Zeitschriften, unter denen besonders Friedrich David Gräters „Bragur" (1791-1802) zu nennen ist, erschienen einzelne Stücke. 23 Erst rund 30 Jahre nach Herders Ausgabe trat mit der dreibändigen Sammlung „Des Knaben Wunderhorn" von Achim von Arnim und Clemens Brentano auf diesem Gebiet wieder ein großes Unternehmen an die Öffentlichkeit (1805-1808). Herders Auffassungen und Forderungen deutlich verpflichtet, richteten die Herausgeber ihr Augenmerk besonders auf verbreitete Lieder des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, die sie aus gedruckten Quellen schöpften. Dazu nahmen sie zahlreiche im Volke nicht bekannt gewordene Gedichte deutscher Lyriker dieser Zeit auf, jedoch auch jüngere Werke sowie einige eigene Gedichte. Zum ersten Mal gaben sie eine große Zahl im Volke lebender, von einem Kreis von Freunden und Helfern gesammelter Lieder wieder. Allerdings haben sie diese Texte zum überwiegenden Teil stark bearbeitet und oft auch willkürlich verändert. D i e Bemühungen und Strömungen ihrer Zeit kommen in dieser herausragenden Liedersammlung der deutschen Romantik deutlich zum Ausdruck, damit aber auch entscheidende Wandlungen in der Auffassung des Gegenstandes. Im Vergleich zu Herders weltweiter Sicht ist hier der Blick nur auf das deutsche Liedgut gerichtet. Die nationale Idee beherrscht die Konzeption des „Wunderhorns". Mit ihm wollten die Herausgeber in der Zeit der napoleonischen Eroberungskriege ein Beispiel nationaler Tradition geben, nationales Bewußtsein durch die Bereitstellung eines verbindenden kulturellen Erbes wecken. Zum zweiten erhält diese nationale Idee nun eine Tendenz zur Verwischung der sozialen Gegensätze. Darin kommt jene Ideologie in der deutschen Romantik zum Ausdruck, die zwar eine außerordentliche patriotische Begeisterung gegen die napoleonische Fremdherrschaft zu entfachen vermochte, zugleich aber auch einen Rückschritt hinter die Bestrebungen der progressivsten bürgerlichen Kräfte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutete, die sich um die Entwicklung eines bürgerlichen Nationalbewußtseins mit deutlich antifeudalem Akzent bemüht hatten. Damit zusammenhängend wird drittens der Rückgriff auf die „alten deutschen Lieder", wie der Untertitel der Sammlung heißt, mit einer rückwärtsgewandten Interpretation verknüpft. Den Widerschein „altdeutschen Wandels" 2 4 in diesen
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Liedern werteten die Herausgeber des „Wunderhorns" auch als Schirm gegen den „Wirbelwind des Neuen" 20 und „das gewaltsame Vordringen neuer Zeit und ihrer Gesinnung." 2 " Dieses „Neue", gegen das sich die beiden Romantiker wendeten, fanden sie sowohl in den Ereignissen und Ergebnissen der Französischen Revolution verkörpert, auf die sich Achim von Arnim in diesen Ausführungen unmittelbar bezieht, als auch in den Auswirkungen der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf die Lebensbedingungen und die Lebensweise des Volkes. Diese Auswirkungen traten nun in den fortgeschrittensten Ländern wie England und Frankreich, aber - verglichen mit der frühen Herderzeit - auch in deutschen Territorien deutlicher in Erscheinung. D i e einsetzende kapitalistische Entfremdung und Arbeitsteilung zerstörte überlieferte, ihrem Schein nach „patriarchalische, idyllische Verhältnisse" 27 und hemmte Möglichkeiten einer Entfaltung menschlicher Individualität. So spiegelt die Volksliedauffassung der „Wunderhorn"-Herausgeber das widerspruchsvolle Bewußtsein großer Teile der deutschen Intelligenz wider, die nach der siegreichen Französischen Revolution unter den Bedingungen der deutschen Verhältnisse, die für einen revolutionären Ubergang zur bürgerlich-kapitalistischen Umwälzung noch nicht voll ausgereift waren, und nicht zuletzt unter dem Eindruck der napoleonischen Diktatur und Expansion herausgefordert wurden, zu Richtung und Inhalt des gesellschaftlichen Fortschritts Stellung zu nehmen. Auf die zeitgenössische romantische Lyrik - insbesondere auf Eichendorff und JJhland auf die patriotische Liederdichtung der Befreiungskriege gegen Napoleon und auch weiterhin auf Lyriker wie Eduard Mörike, Heinrich Heine, Georg Weerth, Theodor Storm, auf Komponisten wie Robert Schumann, Johannes Brahms, Gustav Mahler u. a. übte „Des Knaben Wunderhorn" eine bedeutende Wirkung aus. Auch die gleichzeitige und nachfolgende Beschäftigung mit dem Volkslied ist durch das „Wunderhorn" und seine Konzeption entscheidend beeinflußt worden. Insbesondere blieb die Orientierung auf das „alte" Liedgut noch lange bestimmend. Die nun einsetzenden landschaftlichen Sammlungen bevorzugten aus der lebendigen Volksüberlieferung „alte" Lieder und zu einem bedeutenden Teil vor allem jene Gattungen und Stoffe, die das deutsche Lied des 15. und 16. Jahrhunderts charakterisierten. Bereits die erste umfassende landschaftliche Sammlung von Joseph Georg Meinert gab „Alte teutsche Volkslieder" in der Mundart des Kuhländchens (1817). Das setzte sich im Grunde fort bis zu den „Verklingenden Weisen" aus Lothringen von Louis Pinck (5 Bände, 1 9 2 6 - 1 9 6 2 ) und den meisten ähnlich angelegten landschaftlichen Sammlungen. Neben die Bemühungen um literarische Weiterbildung und Wiederbelebung von Volksüberlieferungen trat nun mehr und mehr auch eine historische Forschung. Im Kontakt mit Arnim und Brentano, aber auch in Widerspruch zu deren Methode einer vielfach sehr freien dichterischen Umformung des überlieferten Materials entwickelten die Brüder Grimm Grundlagen und Prinzipien für die wissenschaft2
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Sammlung und Forschung
lich-philologische Behandlung der Volksdichtung im Rahmen einer historischvergleichenden Erforschung von Geschichte, Sprache und Kultur der Völker. Durch ihre Arbeiten und durch ihre Kontakte mit zahlreichen Gelehrten in Europa, vornehmlich in den slawischen Ländern, regten sie viele der bedeutendsten internationalen Sammelwerke auf allen Gebieten der Volksdichtung an. 28 Ihre eigene Volksliedersammlung ist leider bis heute noch nicht aus dem Nachlaß veröffentlicht worden. Auf Grund ihrer Auffassung von der Volksdichtung als „Naturpoesie" vertraten sie im Gegensatz zu Goethe und in Auseinandersetzung mit Arnim das Postulat von der anonymen Entstehung der Volkslieder und anderer Genres der Volksdichtung. Als richtiger Gedanke kann in dieser Vorstellung die Betonung der Kollektivität als eines Wesensmerkmals der Überlieferungsweise von Volkspoesie angesehen werden. Hinsichtlich der Entstehung erwies sich ihre verabsolutierte These jedoch als irrig, und sie führte bei ihren eigenen Darstellungen und in nachfolgenden Forschungen vielfach zu weitgehenden Fehlinterpretationen. Auf dem Gebiet des Volksliedes nahm vor allem Ludwig Uhland die schon von Herder geforderte, von den Grimms in umfassender Weise begründete kulturhistorische Zielsetzung und historisch-philologische Methodik auf und führte sie zu bedeutsamen Ergebnissen. 1844 und 1845 legte er seine Sammlung „Alte hochund niederdeutsche Volkslieder" vor. Sie sollte, wie Uhland in der Vorrede betonte, „weder eine moralische noch eine ästhetische Mustersammlung, sondern ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Volkslebens" 21 ' sein. In umfangreichen Abhandlungen breitete er seine historischen Kenntnisse aus, und in einer Einleitung, die er schon in den 30er Jahren konzipierte, aber erst 1845 abschloß, faßte er seine Vorstellungen von Volkslied und Volksliedgeschichte zusammen. Seine Quellen waren überwiegend gedruckte und handschriftliche Liederbücher, Einzelblätter und Sammlungen des 16. Jahrhunderts. Nur wenige „Stücke älteren Stils" 3 0 nahm er aus der mündlichen Überlieferung seiner Zeit. Aber auch aus dem alten Liedgut wählte er aus, und zwar nach den stilistisch-ästhetischen Merkmalen der Einfachheit und Schlichtheit. „Verkümmerungen der Echtheit" durch Überlieferungsfehler der vorherrschend mündlich-gedächtnismäßigen Tradierung dieses Liedgutes versuchte er vorsichtig zu eliminieren, um durch dieses kritische Verfahren die Urform herzustellen und „die Lieder auf ihren echtesten Bestand zurückzuführen. " 3 1 So entstand trotz des betonten Bekenntnisses zur historischphilologischen Treue gegenüber der Überlieferung doch die Konstruktion eines „poetischen Zeitalters", das sich in diesen Liedern manifestierte. Als dieses Zeitalter verklärte Uhland poetisch die zur frühbürgerlichen Revolution in Deutschland hinführende Periode und ihre kulturelle Nachwirkung, in der für den feudalen Ritterstand „die glänzendste Zeit seiner Herrschaft vorüber war, der auflebende V o l k s g e s a n g . . . gleichen Schritts mit dem erstarkenden Selbstgefühl des Bürgerstands und örtlich auch der Bauernschaft" gegangen sei. In dieser Zeit habe nach
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Vormärz
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Uhland das aufblühende Volkslied ein Ganzes gebildet, in dem ein Ton durchschlage und sich ein Geist entbinde, „darin die geschiedenen Stände sich als Volk zusammenfinden und verstehen." 32 Historische Erkenntnis und Illusion mischen sich hier. In der Periode des Vormärz, in der sich die ökonomische Basis des Bürgertums in Deutschland durch das Voranschreiten der industriellen Revolution rasch stärkte und die Klassengegensätze an Schärfe zunahmen, rezipierte Uhlands Werk ein bedeutendes Erbe aus der Frühzeit der bürgerlichen Kulturentwicklung und der ersten großen antifeudalen Bewegung des deutschen Volkes. Zugleich verband er seine Interpretation mit der Illusion von der homogenen Einheit der bürgerlichen Nation, die er in dieser Zeit noch von demokratisch-progressiven Positionen aus vertreten konnte. Uhlands politische Haltung war während der zwei Jahrzehnte zwischen der Julirevolution und der Revolution von 1848/49 immer entschiedener geworden. In der Frankfurter Nationalversammlung setzte er sich 1848/49 als Abgeordneter für demokratische Ziele ein und verfocht die Idee eines vom Volke regierten und über den feudalabsolutistischen Partikularismus triumphierenden Vaterlandes. Gleichfalls deutlich verbunden mit der politischen Bewegung des Vormärz und der Revolution von 1848 entstanden vor allem um die Mitte des 19. Jahrhunderts reichhaltige landschaftliche Volksliedersammlungen. Der bürgerlich-demokratische Patriot Hoffmann von Fallersleben veröffentlichte 1842 „Schlesische Volkslieder". Er gab auch Lieder des 15. bis 17. Jahrhunderts heraus. Ludwig Erk, der erfolgreichste Sammler des 19. Jahrhunderts, von dem 20 000 Aufzeichnungen erhalten sind, verband seine Arbeit unmittelbar mit den revolutionären Bestrebungen von 1848.33 Ludolf Parisius, der 1854 wegen seiner demokratischen Haltung seines Amtes als Kreisrichter enthoben wurde, sammelte in den 50er Jahren in der Altmark. Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurths „Fränkische Volkslieder" (1855) erfaßten auch antifeudales Liedgut ebenso wie manche seiner Sammlungen „Historischer Volkslieder". Auch er widmete sich gleichzeitig dem Liedgut des 16. und 17. Jahrhunderts. Sowohl hinsichtlich der Sammlung als auch der politisch-kulturellen Wirkung bildeten die 40er Jahre einen Höhepunkt in der bürgerlich-demokratischen Rezeption des Volksliedes. Auch unmittelbar nach 1849 erschienene oder unternommene Sammlungen von Erk, Parisius oder Ditfurth waren noch von den progressiven Zielsetzungen und Auffassungen dieser Periode geprägt. Allerdings erstreckte sich diese Rezeption nach wie vor hauptsächlich auf das mündlich verbreitete Liedgut der werktätigen Landbevölkerung. Über das Buch wurde es nun von großen Teilen des Kleinbürgertums und mittlerer bürgerlicher Schichten als kulturelles Bildungsgut aufgenommen.
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Sammlung und Forschung
3. Positionen und Tendenzen in der bürgerlichen Forschung vom letzten Drittel des 19• Jahrhunderts bis zur Gegenwart Mit der vollen Durchsetzung der kapitalistischen Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse in ihrer - für die deutschen Zustände charakteristischen - Verbindung mit dem reaktionären junkerlich-preußischen Militarismus traten in der Volksliedarbeit zunehmend reaktionäre, antidemokratische und chauvinistische Züge hervor. Sie verstärkten sich seit dem Übergang der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in ihr imperialistisches Stadium um die Jahrhundertwende. Als beispielhaft dafür kann der dreibändige „Deutsche Liederhort" gelten, den Franz Magnus Böhme auf der Grundlage der Sammlungen und Ausgaben von E r k 1 8 9 3 - 1 8 9 4 herausgab. Diese Edition und Kompilation der bis dahin geleisteten Sammelergebnisse ist noch immer die umfassendste Ausgabe deutscher Volkslieder. Ihr haften aber nicht nur manche wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten an, sondern auch direkte Verfälschungen der Überlieferung durch bewußtes Unterdrücken des oppositionellen und antimilitaristischen Liedgutes. Zahlreiche deutsche Volksliedpublikationen trugen besonders nach 1900 zu einer reaktionären und chauvinistischen, vielfach der imperialistischen Kriegsvorbereitung unmittelbar dienenden Verzeichnung des Bildes vom deutschen Volkslied bei. Das gilt für die 1908 erschienenen Bücher „Das Volkslied" von Otto Schell und „Handbuch des deutschen Volksliedes" von Otto Bockel und reicht bis zu den Sammlungen in den ehemals deutschen Siedelgebieten und Sprachinseln Osteuropas. Diese vor allem in den 20er und 30er Jahren veranstalteten Sammlungen brachten zwar zu einem wesentlichen Teil wertvolles, altüberliefertes Liedgut ein, doch wurde es zunehmend chauvinistischen Bestrebungen und in der faschistischen Zeit schließlich offen rassistischen Zielen dienstbar gemacht. Kennzeichnend für die Entwicklung um die Jahrhundertwende wurde auch die Durchsetzung einer neuen Volksliedauffassung. Im bürgerlichen Schrifttum wird sie lediglich auf wissenschafts-immanente Vorgänge zurückgeführt. Durch die Zunahme landschaftlicher und allgemeiner Sammlungen des zeitgenössischen Volksgesanges, insbesondere nach der Gründung von landschaftlich gebundenen Volkskundevereinen und des Vereins für Volkskunde in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, nahm auch die Erfassung vor allem des ländlichen umlaufenden Liedgutes jener Zeit zu. Dabei zeigte sich, daß der Anteil des älteren Liedes nur einen kleinen Teil des Repertoires bildete. Zum großen oder größeren Teil wurden Lieder meist zweit- und drittrangiger Dichter vom Ende des 18. und aus dem 19. Jahrhundert gesungen. John Meier verallgemeinerte diese Erkenntnisse in seinen beiden Arbeiten „Kunstlied und Volkslied in Deutschland" und „Kunstlieder im Volksmunde" (beide 1906). E r baute sei'nen Volksliedbegriff auf der individuellen Herkunft des Liedgutes auf und betrachtete das Volkslied in erster Linie als Kunstlied, das im Volke verbreitet und dabei aufgrund eines
Positionen und Tendenzen in der biirgrlichen Forschung
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„Herrenverhältnisses", das die individuellen Rechte des Verfassers nicht kennt oder achtet, in seiner musikalischen und textlichen Gestalt ständiger Veränderung unterworfen ist (Rezeptionstheorie). Der Kern dieser Volksliedauffassung ist die These vom geistig unschöpferischen Volk, die sich in Sätzen wie diesem ausspricht: „Das ,Volk', d. h. der untere Teil der N a t i o n . . . ist stets, wenn wir rein von der zeitlichen Entwicklung sprechen, rückständig; es nährt sich von den verschmähten Überbleibseln, die von den Tischen der geistig Reichen fallen." 34 Es liegt auf der Hand, daß hier nicht allein Fortschritte und Ergebnisse philologischer Forschungen verallgemeinert wurden. Vielmehr spricht sich in diesen Thesen eine Volksauffassung aus, die deformierende Auswirkungen des Kapitalismus auf das Kulturniveau breiter Volksschichten verabsolutiert, und zwar unter Ignorierung der aktiven Gegentendenzen durch die Kulturbewegung der kämpfenden revolutionären Arbeiterklasse. Das führte zu jenem reaktionär-elitären, objektiv .die Interessen der imperialistischen Bourgeoisie widerspiegelnden Volksbegriff, der die kulturelle Misere breiter Volksschichten nicht dem herrschenden Gesellschaftssystem, sondern den Opfern des Systems selbst zur Last legt. Nach 1918 bildete Hans Naumann auf der Grundlage eines solchen Volksbegriffs seine volksverachtende Theorie vom gesunkenen Kulturgut aus. 3 ' John Meier distanzierte sich später von dieser einseitig-elitären Position und betonte wieder stärker die schöpferische Potenz des Volkes gerade auch in der Volksliedüberlieferung. 36 Durch seine philologischen Forschungen und insbesondere durch den Aufbau des Deutschen Volksliedarchivs ( D V A ) in Freiburg im Breisgau seit 1914, das bis jetzt über 300 000 Liedaufzeichnungen zusammengetra-: gen hat, erwarb er sich um die Sammlung und um die geschichtliche Erforschung des deutschen Volksliedes bedeutende Verdienste. Der einseitig rezeptive Volksliedbegriff setzte sich jedoch zunächst weitgehend durch, auch gegen die von dem Österreicher Joseph Pommer ebenfalls um die Jahrhundertwende in gleicher verabsolutierender Einseitigkeit vertretene Produktionstheorie, nach der nur das im Volke entstandene Lied Volkslied sei. Eine Konsequenz dieser Entwicklung der Volksliedauffassung in der bürger-, liehen Forschung und Sammelbewegung war, daß schließlich als entscheidendes Kriterium für das Volkslied die mündlich-gedächtnismäßige Überlieferung galt, denn obgleich John Meier sich gegen die Alleingültigkeit dieses Kriteriums aus- ; spricht, läuft seine Definition der Verbreitung und der ständigen Umfornjung auf Grund eines sogenannten „Herrenverhältnisses" letzten Endes doch nur auf die-; sen Gesichtspunkt hinaus. Eine Folge davon bildete schließlich die Einengung des : Volksliedes auf das „Bauernlied" bei vielen bürgerlichen Forschern, d. h. auf das auf dem Lande lebende Lied, und hier wieder vor allem auf das ältere Liedgut und das Brauchtumslied, da in der Gegenwart hauptsächlich an diesen Überlieferungen noch Umsingeerscheinungen als wesentliches und durchgängig-konstitutives Element zu beobachten waren. Die Schwietering-Schule (Schwietering, Gotting,
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Sammlung
und
Forschung
Bringemeier) vollzog theoretisch und praktisch diese Konsequenz, und ebenso orientierten sich nicht nur die meisten Volksliedsammlungen, sondern auch die Darstellungen zum Volkslied fast ausschließlich auf das Land und besonders die bäuerliche Bevölkerung (z. B . Erich Seemann, „Volkslied" 1926 u. a.). Damit verbunden war die ahistorische Doktrin vom geschichtslosen Bauerntum, das durch Beharrung und Dauer gekennzeichnet sei, wodurch eine konkrete historische Erforschung und Darstellung des Volksliedes als geschichtliche Erscheinung erschwert wurde. In der präfaschistischen und faschistischen Ideologie wurde diese Doktrin unverhüllt gegen die welchistorische Führungsrolle der Arbeiterklasse in der Epoche des Ubergangs vom Kapitalismus zurfi Sozialismus und gegen den MarxismusLeninismus eingesetzt. Unter der faschistischen Diktatur von 1933 bis 1945 ist nahezu die gesamte Volksliedforschung den politischen und ideologischen Zielen der Naziherrschaft dienstbar gemacht worden. Nur wenige Wissenschaftler wie John Meier und Adolf Spamer entzogen sich weitgehend den Forderungen der faschistischen Machthaber an die volkskundliche Forschung und Publizistik. Nach 1945 führte die Volksliedforschung in Westdeutschland im Zusammenhang mit der schrittweisen Restaurierung monopolkapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse im wesentlichen zunächst wieder die Vorhaben und Methoden fort, die bis 1933 die bürgerliche Forschung beherrscht hatten, offensichtlich ohne sich vielfach dessen bewußt zu sein, daß damit alle Potenzen für den verhängnisvollen Kreislauf imperialistischer deutscher Gesellschafts- und Geschichtsentwicklung erhalten blieben. W o sich Abwendung von den offenen Formen der faschistischen Korrumpierung von Volkslied und Volksliedforschung ausdrückte, ging sie kaum weiter als bis zur bewußten, die gesellschaftlichen Grundlagen nicht reflektierenden oder in Frage stellenden Beschränkung auf positivistisch-historische Faktologie. Fortschritte in der Sammlung und Erkenntnis wurden hier durch Anknüpfen an die Traditionen vielfach erprobter exakter philologischer Methodik aus der langen Geschichte bürgerlicher Volksliedarbeit bestimmt, die durch neue Hilfsmittel der Schallaufnahme weiterentwickelt werden konnten. Sammlungen und Untersuchungen in dieser Richtung kennzeichneten hauptsächlich die Arbeit im „Deutschen Volksliedarchiv" in Freiburg im Breisgau ( D V A ) , das sich traditionell in erster Linie der Balladenforschung widmete (ErichSeemann, Rolf Wilhelm Brednich, Wolfgang Suppan). Durch landschaftliche Sammlungen und besonders durch die Auswertung und Aufarbeitung älterer handschriftlicher und gedruckter Quellen ist die Materialgrundlage für die Forschung um wichtige Bereiche erweitert worden. Dadurch kamen hier in jüngster Zeit auch stärker Probleme des Verhältnisses von mündlicher und schriftlicher Tradition und des städtischen und großstädtischen Liedgutes in das Blickfeld der Forschung. Im wesentlichen dienten als theoretisch-methodologische Grundlage für die Arbeiten im D V A weiterhin die Auffassungen John Meiers in ihrer letzten modifizierten
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Neubeginn und Entwicklung in der DDR
Formulierung. Walter Wioras Versuch, auch unter Aufnahme humanistischer Inhalte der Herderschen Volksliedauffassung den verabsolutierten Rezeptionsstandpunkt zu überwinden, blieb in abstrakt-humanistischen und rückwärtsgewandtidyllisierenden Vorstellungen befangen. Mit dem Ausgang der 40er und in den 50er Jahren rückten in der BRD weitgehend reaktionär-revanchistische Tendenzen der sogenannten „Vertriebenen"Volkskunde in den Vordergrund. Kritik an dieser Entwicklung wurde erst in den 60er Jahren von liberalen und links-oppositionellen Kreisen der Studentenschaft vorgetragen, teilweise allerdings verbunden mit unhistorisch-negierenden Einstellungen zum kulturellen Erbe. Die verstärkte Hinwendung zu Prozessen der Gegenwartsentwicklung des Liedlebens in der BRD wird in jüngster Zeit vorwiegend durch Theorien beherrscht, die Methoden der bürgerlichen Gruppensoziologie übernehmen (Ernst Klüsen), mit denen die realen Klassenverhältnisse verwischt und die ihnen entsprechenden kulturellen Antagonismen in letztlich gleichrangige Gruppenbeziehungen „aufgelöst" werden sollen. Alle die Volksliedforschung der BRD kennzeichnenden Tendenzen spiegeln sich deutlich in dem jüngsten Kollektivwerk „Handbuch des Volksliedes" wider.
4. Neubeginn und Entwicklung
der Volksliedforschung
in der
DDR
Einen Neubeginn nach 1945 gab es auf diesem Fachgebiet in der D D R . Wolfgang Steinitz begründete hier eine marxistische Volksliedforschung, der er als erstes Ziel die Untersuchung und Publizierung der demokratischen und revolutionären Traditionen stellte. Damit entsprach er den auf diesem Gebiet damals dringenden gesellschaftlich-ideologischen und kulturpolitischen Erfordernissen jener Periode der Gesellschaftsentwicklung in der DDR. 37 In enger Verbindung mit den Fachinstitutionen der befreundeten sozialistischen Länder, insbesondere der Sowjetunion, und unter Auswertung ihrer Arbeitserfahrungen wurde diese Forschung vor allem im ehemaligen Institut für deutsche Volkskunde an der AdW der D D R , jetzt Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde des Zentralinstituts für Geschichte der AdW neu aufgebaut. Hier entstanden eine Reihe von Publikationen zu dieser Thematik. 38 Einen wichtigen Schwerpunkt bildete die Sammlung und Untersuchung des Arbeiterliedes, wofür 1955 eine zentrale Stelle im Arbeiterliedarchiv der Akademie der Künste der D D R in Berlin geschaffen wurde. Ihr Bestand umfaßt etwa 50 000 Aufzeichnungen sowie Belege zu annähernd 5 000 Arbeiterliedern, 850 Arbeiterliederbücher und viele Tausende Dokumente verschiedenster Art. Seit seinem Bestehen sind aus diesem Archiv zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen sowie bedeutsame bibliographische Materialien hervorgegangen.39 Ein weiteres Feld für die Volksliedarbeit in der D D R stellte und stellt die
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Sammlung und
Forschimg
wissenschaftliche Aufbereitung und die Publizierung des überlieferten Erbes für seine Rezeption im Prozeß der sozialistischen Kulturentwicklung dar. 4 0 Wichtige A u f g a b e n hat in diesem Zusammenhang das Anfang 1952 in Leipzig gegründete Zentralhaus für Laienkunst (heute Zentralhaus für Kulturarbeit) zu lösen. Seine Tätigkeit dient in erster Linie den praktischen Bedürfnissen der Volkskunstgruppen in Stadt und L a n d . Landschaftliche Volksliedsammlungen und -ausgaben erschlossen wertvolles Erbe für die kulturpolitische Praxis/' 1 In den letzten Jahren hat sich am Bereich Musikwissenschaft der HumboldtUniversität Berlin eine Gruppe für die musikalische Volksliedforschung gebildet, die sich vor a l l e m der Sammlung und Interpretation überlieferter Volksmusik und neuester Entwicklungen im musikalischen Laienschaffen sowie international vergleichenden Studien widmet. Im Zusammenhang mit den neuen Ergebnissen der Volksliedforschung in der D D R führte Steinitz von marxistischen Positionen aus in den 50er und 60er J ä h ren auch die Volksliedauffassung weiter. Er ging vom grundsätzlichen Klassencharakter aller kulturellen Erscheinungen aus und definierte Volkslied als jenes Liedgut, das von den werktätigen Klassen und Schichten getragen und dabei durch ständig variierendes Umsingen auf Grund überwiegend mündlich-kollektiver Überlieferung schöpferisch geformt w i r d . In dieser eindeutigen klassenmäßigen Bestimmung des Volksliedbegriffs lag ein entscheidender Fortschritt über d i e bürgerlichen Volksliedauffassungen hinaus. Durch die Verbindung dieses primären Kriteriums mit dem M e r k m a l des Schöpferischen hob Steinitz einen entscheidenden Wesenszug des Volksliedes hervor. „Ein Volkslied", schrieb er in der Einleitung zum ersten B a n d der „Deutschen Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten", „entsteht also aus einem Lied beliebiger Herkunft,, das von der Gemeinschaft, dem Kollektiv, aufgenommen und dabei im L a u f e seiner Entwicklung vom V o l k e schöpferisch geformt wird.'"' 2 Diese Volksliedauffassung w u r d e für den marxistischen Neubeginn der Volksliedarbeit in der D D R richtungweisend. Steinitz gewann d a m a l s seine Kriterien hauptsächlich am traditionellen Volkslied und bezog daher das Moment des Schöpferischen vor a l l e m auf .dein Vorgang des Umsingens in mündlich-gedächtnismäßiger Überlieferung: „ D i « Teilnahme oder Mitarbeit", schrieb er 1954, „drückt sich am untrüglichsten und eindeutigsten in den Varianten aus, im Umsingen, in der ständigen Bereitschaft;;ein Lied einer neuen Situation oder neuen Stimmung entsprechend umzugestalten, ohne sich um die Autorität eines Vorbildes zu kümmern." / , ! Zweifellos w i r d mit dem Kriterium des mündlich-gedächtnismäßigen Umsingens eine wesentliche schöpferische Seite in der Liedtradition der werktätigen Klassen und Schichten in früheren historischen Epochen erfaßt. D i e Weiterentwicklung kultureller Betätigung der Werktätigen im Prozeß der fortschreitenden sozialistischen Kulturrevolution, die mit anderen Formen und Möglichkeiten der Produktivität und Tradierung verbunden ist, stellt jedoch die F r a g e nach einer Neubestimmung des Volksliedbe-
Quellenlage und
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Quellenprobleme
griffs, durch die auch diese neuen Ansätze, Wandlungen und Tendenzen mit e r f a ß t werden könnten. I m letzten Abschnitt dieser D a r s t e l l u n g soll versucht werden, im Ergebnis einer Betrachtung von geschichtlichen Entwicklungstendenzen historischen wie gegenwärtigen Liedgenres und Traditionsweisen
und
Gesichtspunkte
für eine solche weiterzuentwickelnde Volksliedauffassung zu gewinnen.
D e r historische Überblick über die Volksliedauffassungen
entließ uns nicht mit
einer gesicherten Erkenntnis, sondern mit einer Frage. Sie stellte sich aus der B e achtung neuer E l e m e n t e und F o r m e n des Liedschaifens und L i e d l e b e n s in der gegenwärtigen E t a p p e der sozialistischen Kulturentwicklung. D a m i t ist aber auch bereits der Ausgangspunkt gegeben, von dem aus eine K l ä r u n g dieser F r a g e versucht werden m u ß : die Betrachtung der historischen E n t f a l t u n g und W a n d l u n g sowie der Vielschichtigkeit des Liedlebens im V o l k e als Bestandteil gesamtgesellschaftlich-kultureller Entwicklungstendenzen bis zu seiner heutigen F o r m . Durch das Vorherrschen monographischer Untersuchungen einzelner L i e d e r oder I.iedgruppen
hat die Forschung jedoch lange den Blick
überwiegend
auf
die
Entwicklung nur einzelner Liedtypen gerichtet. Vergleiche der Überlieferung verschiedener Zeiten zeigen aber, d a ß die Gesamtheit des Liedgutes in ständiger W a n d l u n g begriffen ist. 1 So entwickeln und verändern sich im historischen P r o z e ß die gesellschaftlich-kulturellen Funktionen des Liedgutes. Sie können in verschiedenen Epochen und in diesen Epochen wieder bei verschiedenen Klassen
und
Schichten sehr unterschiedlich sein. E b e n s o wandeln sich die Liedgattungen historisch nicht nur in ihren Inhalten und Formen, sondern auch hinsichtlich ihres jeweiligen Hervortretens, ihrer Trägerschichten und ihrer Funktion. Auch die Ü b e r lieferungsformen sind nicht gleichbleibend, sondern verändern sich entsprechend der gesellschaftlichen Stellung und dem kulturellen Entwicklungsniveau der sie tragenden Klassen und Schichten in der jeweiligen E p o c h e einer historischen G e sellschaftsformation. D a s s e l b e gilt für die H e r k u n f t des Liedgutes und für die Formen der kulturellen Produktivität auf diesem G e b i e t . Allerdings gehen diese Wandlungen und Veränderungen nicht gleichmäßig v o r sich. D a m i t ist nicht nur
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Quellenprobleme
griffs, durch die auch diese neuen Ansätze, Wandlungen und Tendenzen mit e r f a ß t werden könnten. I m letzten Abschnitt dieser D a r s t e l l u n g soll versucht werden, im Ergebnis einer Betrachtung von geschichtlichen Entwicklungstendenzen historischen wie gegenwärtigen Liedgenres und Traditionsweisen
und
Gesichtspunkte
für eine solche weiterzuentwickelnde Volksliedauffassung zu gewinnen.
D e r historische Überblick über die Volksliedauffassungen
entließ uns nicht mit
einer gesicherten Erkenntnis, sondern mit einer Frage. Sie stellte sich aus der B e achtung neuer E l e m e n t e und F o r m e n des Liedschaifens und L i e d l e b e n s in der gegenwärtigen E t a p p e der sozialistischen Kulturentwicklung. D a m i t ist aber auch bereits der Ausgangspunkt gegeben, von dem aus eine K l ä r u n g dieser F r a g e versucht werden m u ß : die Betrachtung der historischen E n t f a l t u n g und W a n d l u n g sowie der Vielschichtigkeit des Liedlebens im V o l k e als Bestandteil gesamtgesellschaftlich-kultureller Entwicklungstendenzen bis zu seiner heutigen F o r m . Durch das Vorherrschen monographischer Untersuchungen einzelner L i e d e r oder I.iedgruppen
hat die Forschung jedoch lange den Blick
überwiegend
auf
die
Entwicklung nur einzelner Liedtypen gerichtet. Vergleiche der Überlieferung verschiedener Zeiten zeigen aber, d a ß die Gesamtheit des Liedgutes in ständiger W a n d l u n g begriffen ist. 1 So entwickeln und verändern sich im historischen P r o z e ß die gesellschaftlich-kulturellen Funktionen des Liedgutes. Sie können in verschiedenen Epochen und in diesen Epochen wieder bei verschiedenen Klassen
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Schichten sehr unterschiedlich sein. E b e n s o wandeln sich die Liedgattungen historisch nicht nur in ihren Inhalten und Formen, sondern auch hinsichtlich ihres jeweiligen Hervortretens, ihrer Trägerschichten und ihrer Funktion. Auch die Ü b e r lieferungsformen sind nicht gleichbleibend, sondern verändern sich entsprechend der gesellschaftlichen Stellung und dem kulturellen Entwicklungsniveau der sie tragenden Klassen und Schichten in der jeweiligen E p o c h e einer historischen G e sellschaftsformation. D a s s e l b e gilt für die H e r k u n f t des Liedgutes und für die Formen der kulturellen Produktivität auf diesem G e b i e t . Allerdings gehen diese Wandlungen und Veränderungen nicht gleichmäßig v o r sich. D a m i t ist nicht nur
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Quellenlage
und
Quellenprobleme
gemeint, daß die Entwicklung in verschiedenen historischen Perioden unterschiedlich verläuft. Auch in den Gattungen, Stoffen, Typen und Stilen wirken sich ungleichmäßige Entwicklungstendenzen aus. Bestimmte Gattungen können in verschiedenen historischen Perioden deutlicher hervortreten und in anderen das Gesamtrepertoire des Volksgesanges weniger stark prägen oder auch weitgehend schwinden. Manche Stoffe und Liedtypen bleiben in der Volksüberlieferung über längere Zeiträume nur wenig verändert erhalten, während andere rascher, ständiger Wandlung unterliegen oder schon nach kurzer Zeit verklingen. Zugleich handelt es sich bei dem Liedgut einer Epoche und jeder werktätigen Klasse auch immer um ein vielschichtiges Gebilde, zumindest seit wir direkte Quellen über das Singen im Volke besitzen. Es reicht vom brauchtümlich gebundenen bis zum gesellig-unterhaltenden Gesang, umfaßt Lieder, mit denen ein inhaltlicher oder ein ästhetischer Anspruch verbunden ist, und andere, die ohne einen solchen Anspruch gesungen werden, Lieder im Gemeinschafts- oder im Einzelgesang usw. Die historische Entwicklung des Volksliedes wird somit durch eine gattungsspezifische Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität bestimmt, d. h. durch die Einheit von stetem Wandel und zugleich von einer Bewahrung von Stoffen, Typen und Funktionen im Liedgut des Volkes oft über viele Jahrhunderte, durch die Beziehung und die Unterschiedlichkeit zwischen Bereichen, Genres, Liedinhalten und Stilen, die sich stärker, und solchen, die sich langsamer verändern. Diese Dialektik in der Entwicklung des Volksgesanges zu erfassen und darzustellen ist methodologisch äußerst kompliziert. Unsere Forschung steht gerade in der Bewältigung dieser Probleme erst am Anfang. Bedeutende Schwierigkeiten erwachsen zudem aus der Quellenlage. Die zur Verfügung stehenden Quellen ermöglichen nur eine begrenzte Erkenntnis des historischen Gesamtprozesses. Volksdichtung dokumentiert sich ja nur zu einem sehr geringen Teil unmittelbar durch sich selbst. Solche direkten Quellen sind handschriftliche Liederhefte und andere Liednotizen, die Menschen aus dem Volke für sich selbst angelegt haben. Die Archive besitzen in ihren Beständen eine im Verhältnis zum wirklich gesungenen Liedgut jedoch recht bescheidene Zahl von Liedbelegen dieser Art. Zum weitaus überwiegenden Teil basiert unsere Kenntnis des Volksgesanges auf indirekten Quellen. Dazu gehören literarische Hinweise und Zitierungen, amtliche Schriften und Äußerungen, Volksliedbearbeitungen durch Dichter und Musiker, gedruckte Liederbücher und -hefte sowie Einzeldrucke, die Volksliedgut mehroderweniger getreu aufnahmen und es neben anderem Liedgut zu bestimmten Zwecken vertrieben oder an bestimmte Konsumentenschichten zu bringen suchten. Schließlich sind in gewissem Sinne indirekte Quellen auch die zahlreichen Volksliedsammlungen, die seit der Herderzeit mit den verschiedensten Zielsetzungen und oft mit sehr unterschiedlichen Methoden durchgeführt worden sind.
Quellenlage
und Quellenprobleme
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Seit den Aufzeichnungen Goethes im Elsaß hat die Volksliedsammlung zweifellos eine Fülle von Liedern und Liedbelegen zusammengetragen. Sie sind in zahlreichen Publikationen zu bestimmten Landschaften, Gattungen, Themengruppen, einzelnen historischen Perioden oder in allgemeinen Sammlungen und Darstellungen veröffentlicht. Darüber hinaus ist umfangreiches handschriftliches Material vor allem in den obengenannten Archiven erfaßt. Trotz einer reichen und bedeutenden Ernte der zweihundertjährigen, teilweise intensiven Sammeltätigkeit ist das Material dennoch lückenhaft, uneinheitlich und von unterschiedlichem Wert. Zunächst sind viele Texte - und auch Melodien, worauf hier nicht eingegangen werden kann - vor allem in den gedruckten Sammlungen in bearbeiteter Form wiedergegeben worden. Solche Bearbeitungen reichen von Richtigstellungen einzelner Textverderbnisse über die Versuche, einen Urtext zu rekonstruieren bis zur Herstellung von Mischredaktionen aus mehreren, manchmal nur bruchstückhaften Aufzeichnungen und sogar bis zu weitgehenden Umdichtungen durch die Herausgeber. Solche willkürlichen Veränderungen, die den wirklich gesungenen Text mehr oder minder stark beeinträchtigen, kommen nicht nur in den älteren Sammlungen vor, sondern noch in Ausgaben bis in die jüngste Zeit. Jede historische Analyse setzt daher eine textkritische Wertung des Materials voraus. Zum anderen ist fast stets nur eine Auswahl des gesungenen Liedgutes erfaßt worden. Entsprechend der jeweiligen Volksliedauffassung interessierten sich die verschiedenen Sammler oft nur für bestimmte Ausschnitte aus der tatsächlichen Vielfalt des gesungenen Liedgutes, entweder für das als „alt" oder „echt" angesehene Material oder für bestimmte Gattungen wie z. B. Balladen, Brauchtumslieder, u. a. Durch die Voreingenommenheit der Sammler wurde besonders in den gedruckten Ausgaben das Gebiet des erotischen Liedes weitgehend gemieden. Ferner enthalten die meisten Aufzeichnungen keine oder nur ungenügende Angaben zu Funktion, Verbreitung und selbst zur sozialen Trägerschicht des Liedgutes. Auch die landschaftliche Sammlung war sehr unterschiedlich. Manche Landschaften, wie z. B. die alpenländischen, die Altmark, die deutschsprachige Überlieferung in Lothringen, sind wesentlich intensiver erforscht als andere. Innerhalb der einzelnen Landschaften richtete sich die Sammeltätigkeit wiederum fast ausschließlich auf das Singen im Dorf oder eventuell noch in der Kleinstadt. Die Großstadt oder größere Stadt wurde kaum einbezogen. Erst jene Sammlungen, die in das 1914 gegründete DVA einflössen, erforschten aus der neueren Zeit systematischer den Umkreis des gesamten mündlich-gedächtnismäßig überlieferten Liedgutes. Auch sie schlössen aber den zunehmend an Bedeutung gewinnenden Bereich des nicht vorwiegend mündlich tradierten Liedes weitgehend aus. Ferner blieb die vorherrschende Orientierung auf das Dorf, bestenfalls noch unter Einbeziehung kleiner Städte, im wesentlichen bestehen. Erst in jüngster Zeit wurden auch Erhebungen des gesamten Singerepertoires einzelner Regionen oder gesellschaftlicher Gruppen vorgenommen.
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Quellenlage
und
Quellenprobleme
Alle diese mehr oder minder systematisch angelegten Unternehmungen sind,zudem wesentlich vom Klassenstandpunkt der Sammler und Forscher beeinflußt. Das bewirkte vor allem in den bürgerlichen Sammlungen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, daß oppositionelles Liedgut oder Liedgut der Arbeiterklasse entweder überhaupt nicht oder nur vereinzelt aufgenommen wurde. Außerdem hielten die Sänger selbst bei Befragungen durch bürgerliche Sammler Lieder zurück, die gegen das bestehende Gesellschaftssystem, seine Institutionen und seine Ideologie gerichtet oder durch den Staat der herrschenden Klasse verboten waren. Ein großer Teil des Liedgutes, das seit den Aufrufen Herders eingebracht worden ist, reicht in frühere historische Zeiten zurück. Für die Erforschung dieser älteren Schichten des deutschen Volksliedes erwiesen sich Sammlungen aus Randlandschaften und aus ehemals deutschen Siedelgebieten oder Sprachinseln im Osten und Südosten Europas (Gottsche, Siebenbürgen, Lieder der deutschen Kolonisten in Rußland u. a.) sowie deutschsprachiger Bevölkerungsteile im Westen (Elsaß, Lothringen) als besonders ergiebig. Zum Teil haben sich in solchen Gebieten die historischen Wandlungen des Gesamtrepertoires nicht oder nicht in gleichem Maße mitvollzogen. In den Siedelgebieten blieb daher vielfach Liedmateriäl, das bei der Auswanderung mitgenommen wurde, lange lebendig. Allerdings hat eine chauvinistisch orientierte Forschung besonders in den 20er und 30er Jahren die vielfältigen interethnischen Beziehungen und den oft tiefgehenden Einfluß der Volkskultur jener Völker bewußt ignoriert oder auch verfälscht, mit denen diese ehemaligen deutschen Siedler zusammenlebten und deren oft blühende eigene Volksdichtung zur Bewahrung und Weiterentwicklung auch des deutschsprachigen Uberlieferungsgutes entscheidend beitrug. Einen bedeutenden und noch lange nicht voll erfaßten und ausgeschöpften Quelleabestand zum deutschen Volkslied besitzen wir auch aus den älteren Zeiten selbst. Besonders seit der Mitte des 15. Jahrhunderts übermitteln uns Handschriften sowie vor allem vom Anfang des 16. Jahrhunderts an auch gedruckte Liederbücher sowie Einzeldrucke mit einem oder mit mehreren Liedern (sogenannte Fliegende Blätter) in reichem Maße auch Liedgut des Volkes. Allerdings ist bei allen diesen Quellen zu beachten, daß sie nicht einer historischen oder gar wissenschaftlichen Zielstellung folgten. Vielmehr vereinigten oder druckten die Sammler und Herausgeber ihr Liedgut in dpr Regel zum unmittelbaren Gebrauch oder zur kommerziellen Verbreitung. Diese älteren Handschriften und die Drucke enthalten fast immer nur zum Teil im Volke gesungene Lieder neben anderem Material. Ferner handelt es sich fast ausschließlich um bürgerlich-städtische Quellen, die wohl nur das Liedgut der Städte und der städtnahen Gebiete überliefern. Die bekanntesten Handschriften aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, das Lochamer-Liederbuch aus Nürnberg von 1452 bis 1460 und das Augsburger Liederbuch von 1454 weisen in die patrizisch-städtische Oberschicht. Auch das Augsburger Liederbuch der Klara Hätzlerin von 1471 gehört in die Kreise des Bildungsbürgertums jener
Quellenlage
und Quellenprobleme
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Zeit, die Sammlung des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel von 1461-1467 in die der bürgerlichen Humanisten. Sie geben im wesentlichen Liedgut dieser Kreise wieder. Jedoch finden sich hier auch einige wenige, wohl weiter verbreitete, zum Teil in mehreren Sammlungen oder später in der mündlichen Überlieferung auftauchende Texte. Das sind z. B. im Lochamer Liederbuch die beiden Lieder „Ich sptring an diesem Ringe" und „Es fuhr ein Bauer ins Holz", die wohl aus der Welt der Scholaren stammen, oder im Schedelscheit Liederbuch das im 16. Jahrhundert noch mehrfach musikalisch bearbeitete Lied „Es taget vor dem Walde". In die Liedschicht der Studenten führt uns das Rostocker Liederbuch von 1465 bis 1487. In ihm treten neben lateinischen Liedern Überlieferungen aus. der Sphäre des am höfischen Minnesang orientierten kunstvollen bürgerlichen Liebesliedes auf, dazu zahlreiche Schwank-, Tanz-, Liebes- und Schlemmerlieder, die wohl mindestens zum Teil über die studentischen Kreise hinaus verbreitet waren. Das bekannteste ist das Fragment des Textes „Nu wol hen, lat ruschen. . .", die früheste Fassung des Liedes „Laß rauschen, Lieb, laß rauschen", das im 16. Jahrhundert wieder begegnet und durch Uhland in der Verbindung mit der Strophe „Ich hört ein Sichlein rauschen" in neuerer Zeit bekannt und beliebt geworden ist. Das Repertoire eines bürgerlichen Musizierkreises in einer kleineren schlesischen Stadt spiegelt das Glogauer Liederbuch von 1470. In kunstvollen Bearbeitungen begegnen hier z. B. wieder die Schwankballade vom Bauer im Holz, ferner das Liebeslied „Elselein, liebstes Elselein", das sich auch mit dem bekannten Lied von den „Zwei Königskindern" verband, und „Es leit (liegt) ein Schloß in Österreich". Ebenfalls kunstvoll bearbeitet und daher ähnlich im Quellcnwert, jedoch zahlreicher tritt uns umlaufendes Liedgut in den Liederwerken der Komponisten des 16. Jahrhunderts entgegen (Finck, Stoltzer, Rhaw, Othmayr, Forster u . a . ) . Lieder bestimmter Stände oder für bestimmte Stände wollen gedruckte Liederbücher wie die „Bergkreven" (Lieder für Bergleute, 1531, mit mehreren Auflagen) oder „Reutterliedlin" (Reiter-, Landsknechtslieder, 1535) u. a. zusammenstellen. Sie enthalten aber auch immer allgemeinverbreitete Lieder. Ferner erschienen Liederbücher für besondere Gattungen, wie z. B. die „Graßliedlin" (Lieder mit dem Motiv des morgendlichen Grasschneidens, Liebeslieder, 1535) und die „Gassenhawerlin" (Gassenlieder, 1535). Drucker und Verleger sahen in Lieddrucken gewinnbringende Unternehmen und veranstalteten Sammlungen wie z. B. Johann Ott mit seinen beiden Liederbüchern von 1534 und 1544 oder die Drucker des wohl bekanntesten volkstümlichen Liederbuches des 16. Jahrhunderts, des Frankfurter Liederbuches (1578, mit mehreren Auflagen, nach dem früheren Aufbewahrungsort der Auflage von 1582 im Schloß Ambras in Tirol Ambraser Liederbuch genannt). Lieder aus dem Gesang des Volkes finden sich auch auf Einzeldrucken, die seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts als neues Mittel zur Verbreitung von Liedtexten stark an Bedeutung gewannen. Zum weit überwiegenden Teil griffen sie jedoch neues, oft durch Hausdichter der Druckereien geschaffenes Liedgut auf, das auf Märkten vorgesun-
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Text, Melodie und Metrik
gen und feilgeboten wurde und teilweise im Volksgesang Fuß fassen konnte. Um die Käufer anzusprechen, waren diese Einzeldrucke zumeist mit einem Holzschnitt auf dem Titelblatt verziert und lehnten ihre Texte an eine bekannte Melodie an, die sie als Tonangabe über dem Text zitierten. „Gleich Bienschwärmen", schreibt Uhland in seiner Einleitung zu den Abhandlungen, gingen sie ins Land hinaus.2 Man rechnet für das 16. und 17. Jahrhundert mit einem Umfang von etwa 100 000 Exemplaren gedruckter Fliegender Blätter im Jahr. 3 Auch im 19. Jahrhundert wurden sie noch in großen Massen gedruckt und verbreitet. Zu den erhaltenen Texten kommen schließlich als wichtige Zeugnisse sowohl für das Vorkommen von Liedern als auch für ihre Funktion Zitate von Liedern oder Hinweise auf das Singen im Volke in der Literatur, z. B. ein ganzer Katalog vom Schlemmerliedern in Johann Fischarts „Geschichtsklitterung", ferner in Chroniken und anderen erhaltenen zeitgenössischen Schriften verschiedensten Inhalts. Verbote, Polizei- und Zensurordnungen, Predigten und Traktate, in denen das weltliche Lied gescholten wird, sowie eine große Zahl von geistlichen Umdichtungen beliebter und weit verbreiteter Lieder, sogenannte Kontrafakturen, vermitteln wichtige Aufschlüsse über Liedgut und Liedtradition des Volkes. Für die gesamte Zeit des Mittelalters bis ins 15. Jahrhundert hinein sind solche indirekten Zeugnisse wie tadelnde Vorschriften oder Verbote vor allem durch kirchliche Gremien nahezu die einzigen Belege, die uns spärliche - und immer kritischer Prüfung zu unterziehende - Auskünfte über das Lied des Volkes geben können.
Melodie und Metrik 1. Zum Verhältnis von Text und Melodie „Das Wesen des Liedes", schrieb Herder, „ist Gesang, nicht Gemälde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausduck: Weise nennen könnte. Fehlt diese einem Liede, hat es keinen Ton, keine poetische Modulation, keinen gehaltenen Gang und Fortgang desselben; habe es Bilder und Bilder, und Zusammensetzung und Niedlichkeit der Farben, so viel es wolle, es ist kein Lied mehr." 1
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gen und feilgeboten wurde und teilweise im Volksgesang Fuß fassen konnte. Um die Käufer anzusprechen, waren diese Einzeldrucke zumeist mit einem Holzschnitt auf dem Titelblatt verziert und lehnten ihre Texte an eine bekannte Melodie an, die sie als Tonangabe über dem Text zitierten. „Gleich Bienschwärmen", schreibt Uhland in seiner Einleitung zu den Abhandlungen, gingen sie ins Land hinaus.2 Man rechnet für das 16. und 17. Jahrhundert mit einem Umfang von etwa 100 000 Exemplaren gedruckter Fliegender Blätter im Jahr. 3 Auch im 19. Jahrhundert wurden sie noch in großen Massen gedruckt und verbreitet. Zu den erhaltenen Texten kommen schließlich als wichtige Zeugnisse sowohl für das Vorkommen von Liedern als auch für ihre Funktion Zitate von Liedern oder Hinweise auf das Singen im Volke in der Literatur, z. B. ein ganzer Katalog vom Schlemmerliedern in Johann Fischarts „Geschichtsklitterung", ferner in Chroniken und anderen erhaltenen zeitgenössischen Schriften verschiedensten Inhalts. Verbote, Polizei- und Zensurordnungen, Predigten und Traktate, in denen das weltliche Lied gescholten wird, sowie eine große Zahl von geistlichen Umdichtungen beliebter und weit verbreiteter Lieder, sogenannte Kontrafakturen, vermitteln wichtige Aufschlüsse über Liedgut und Liedtradition des Volkes. Für die gesamte Zeit des Mittelalters bis ins 15. Jahrhundert hinein sind solche indirekten Zeugnisse wie tadelnde Vorschriften oder Verbote vor allem durch kirchliche Gremien nahezu die einzigen Belege, die uns spärliche - und immer kritischer Prüfung zu unterziehende - Auskünfte über das Lied des Volkes geben können.
Melodie und Metrik 1. Zum Verhältnis von Text und Melodie „Das Wesen des Liedes", schrieb Herder, „ist Gesang, nicht Gemälde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausduck: Weise nennen könnte. Fehlt diese einem Liede, hat es keinen Ton, keine poetische Modulation, keinen gehaltenen Gang und Fortgang desselben; habe es Bilder und Bilder, und Zusammensetzung und Niedlichkeit der Farben, so viel es wolle, es ist kein Lied mehr." 1
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Herder meint hier mit „Weise" mehr als nur die Melodie, wie diese Stelle oft fälschlich interpretiert wird. Vielmehr besteht nach ihm „das Wesen des Liedes" in der Einheit von Melodie und Text, die eine spezifische poetische Qualität begründet. Diese Einheit als poetische Qualität findet ihren Grund letztlich darin, daß sich Musik- und Sprachgestaltung gleichermaßen aus klanglichen Bewegungsabläufen in der Zeit aufbauen. 2 Für den Volksliedsänger ist diese Einheit von Melodie und Text selbstverständlich. Das Volkslied ist stets ein gesungenes Lied: Sein „Wesen . . . ist Gesang". Viele Sammler berichten übereinstimmend, daß ihre Sänger unsicher wurden, wenn sie nur den Text vortragen sollten. Oft waren die Befragten außerstande, die Worte eines Liedes allein wiederzugeben. Dagegen fiel ihnen lückenloses Singen nicht schwer.3 Melodie und Text scheinen sich gegenseitig zu tragen und zu befestigen. Diese Beziehung von Musik und Wort stellt jedoch im Volksliede kein gleichförmiges oder gleichbleibendes Verhältnis dar. Vielfach besitzt die Melodie eindeutig das Übergewicht. So kann eine beliebte Melodie häufig einen öden und nichtssagenden Text „verdecken" und oft längere Zeit mit fortschleppen, eine Tatsache, die uns heute von Schlagern und Evergreens vertraut ist. Gesungen hat das Wort einen anderen Stellenwert als im isolierten gesprochenen Text. Doch ist die Akzentverteilung zwischen Wort und Musik in den verschiedenen Liedarten durchaus unterschiedlich. Sie kann zwischen den beiden Extremen eines melodisch-rhythmischen Ausschwingens über sinnlosem Text beziehungsweise über Lautfolgen ohne Bedeutung und des sinnbetonten rezitativischen Vortrages in vielen Schattierungen pendeln. Beim Tanzlied z. B. ist die melodisch-rhythmische Komponente herrschend, der Text, oft nachträglich unterlegt, weithin unwesentlich. Vom Sprachlichen mehr oder weniger gelöste Melodik führt im alpenländischen Jodler und Juchzer zu frei schwebenden, wortgelösten Gestaltungsformen. Typisches Beispiel für das Zurücktreten des Sinnbezugs im Text ist der Kehrreim. Die Melodie steht ganz im Vordergrund, die gedankliche Bindung des Singens an die Wortbedeutung schwindet, und schließlich genügt die Aneinanderreihung sinnloser Singsilben.4 In bestimmten Situationen kann jedoch gerade dem Kehrreim, der zumeist von allen gesungen wird, wieder ein deutlicher Sinnbezug gegeben werden. Das zeigen z. B. Ironisierungen und gegen befohlenen Hurrapatriotismus gerichtete Parodien in Kehrreimen von Soldatenliedern wie z. B. die bekannten Verse „Denn dieser Feldzug ist ja kein Schnellzug..." u. a. 5 Die Betonung des Textlichen erscheint stärker in Erzählliedern als in lyrischen Stimmungsliedern. Noch mehr neigt sich der Akzent bei Berichtsliedern und politischen Agitations- und Kampfliedern auf die Sprachseite. Immer ist jedoch bei einer solchen Betrachtung des Melodie-Textverhältnisses der Einfluß von Singgelegenheit und jeweiliger Situation zu berücksichtigen, in der ein Lied erklingt. Vor allem aber wird die Beziehung zwischen Wort und Musik beim Volkslied
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durch die historisch-spezifische Weise der Tradierung bestimmt. Auch im Volkslied können Melodie und Text eine Einheit des Ausdrucks bilden. So atmet z. B. in dem folgenden Liedchen „die melodische Linie die gleiche trotzige, herbe, abweisende Kraft" 6 wie der Text:
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H. Mersmann, D a s deutsche V o l k s l i e d , Berlin o. ]., S. 2 3 .
Wort und Musik können sich in ihrem Charakter jedoch auch widersprechen. Wählen wir als Beispiel dafür ein noch heute bei uns gesungenes Lied: Das „Leunalied". Es entstand aus einem Soldatenlied des ersten Weltkrieges. Während aber der Text im Gesang der revolutionären Arbeiter nach 1919 tiefgreifend umgestaltet wurde und vor allem in der ersten und letzten Strophe einen kämpferischen Charakter annahm, veränderte sich die Melodie in diesem Prozeß nur unwesentlich und behielt ihren sentimentalen, dem Text des Soldatenliedes entsprechenden Ausdruck bei:'
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