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German Pages 372 Year 2013
Daniela Wehrstein Deutsche und französische Pressetexte zum Thema Islam
Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie
Herausgegeben von Günter Holtus und Wolfgang Schweickard
Band 378
Daniela Wehrstein
Deutsche und französische Pressetexte zum Thema Islam Die Wirkungsmacht impliziter Argumentationsmuster
D 25
ISBN 978-3-11-030262-2 e-ISBN 978-3-11-030775-7 ISSN 0084-5396 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
In Erinnerung an Omaria Sebastian Ilona Für Jonathan
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 2012 unter dem Titel «Text hinter dem Text. Eine linguistische Analyse deutscher und französischer Pressetexte zum Thema Islam» von der philologischen Fakultät der Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Sie wurde für die Veröffentlichung in geringfügigem Umfang überarbeitet. So vielschichtig wie das Thema war auch die Unterstützung, die ich während der Erstellung dieser Arbeit erhalten habe. Und so möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich bei all denen zu bedanken, die den ganzen Weg oder einzelne Wegstrecken mit mir gegangen sind. Insbesondere gilt dies für meinen Doktorvater Herrn Prof. Dr. Wolfgang Raible. Er hat mich intensiv während des ganzen Entstehungsprozesses der Dissertation begleitet und, wo es nötig war, geleitet. Manches Hindernis konnte ich so bewältigen. Mein Dank gilt außerdem Herrn Prof. Dr. Daniel Jacob für die Erstellung des Zweitgutachtens und für seine weiterführenden Hinweise und Anregungen. Herr PD Dr. Rainer Brunner hat mir die Einarbeitung in das Themenfeld ‘Islam’ erleichtert und war mir stets ein kritischkonstruktiver Ansprechpartner. Danken möchte ich allen, die mir Hilfestellungen aus der journalistischen Praxis gegeben haben, besonders den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von AFP, dpa und Thomson Reuters. Meinen Freunden Esther Finis, Marie Skrovec, Bernward Schmidt und Claus Pusch danke ich für Ratschläge und praktische Unterstützung, für kritische Anmerkungen und ihre Hilfe beim Korrekturlesen. Mein besonderer Dank gilt schließlich meinen Eltern für ihre unablässige Unterstützung, meiner schwäbischen Großfamilie für so manchen Einsatz, meinem Sohn Jonathan, der mich gelehrt hat, manches neu zu sehen und pragmatisch zu sein und natürlich meinem Mann Tobias, der mir mit Rat und Tat zur Seite stand, der mir immer wieder Mut zusprach und Höhen und Tiefen mit mir meisterte.
Inhalt Vorwort
VII 1
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Einleitung
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Das Datenkorpus und seine Genese
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Kontinuitäten im Wandel der Zeit: Islambilder und Orientvorstellungen 11 3.1 Orientalistik und Islamwissenschaft 20 3.1.1 Deutschland – Die Entstehung der Islamwissenschaft aus der Orientalistik 23 3.1.2 Frankreich – Meilensteine des orientalisme français 28 3.2 Stichpunkte zu einer literarischen, philosophischen und theologischen Auseinandersetzung mit Islam und Orient 35 3.3 Zusammenfassung 44 4 4.1
Pressewesen – Sprache und Strukturen 49 Coup d’œil – Agentur- und Zeitungsmarkt in Deutschland und Frankreich 49 4.2 Printmedien 56 4.3 Notizen zur deutschen und französischen Pressesprache 58 4.4 Textsortenspezifische Merkmale 61 4.4.1 Informationsbetonte Pressetexte 65 4.4.2 Die Objektivität 72 5 5.1 5.2
Vom Satz zum Text 81 Die funktionale Satzanalyse nach František Daneš Funktionale Textanalyse: Daneš + 1 85
6 Textstrategien 93 6.1 Zentrale kommunikative Strategien 96 6.1.1 Dichotomiebildung 98 6.1.2 Reduzierung 102 6.1.2.1 Abstrakta als Handelnde 103 6.1.2.2 Reduzierung als Homogenisierung 105 6.1.3 Differenzierung 108 6.1.4 Sprachliche Techniken zur Markierung von Fremdheit 6.2 Zwischenergebnis 124
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115
X
Inhalt
7 Textstrategien im Kontinuum von Bewertung 127 7.1 Formen expliziter Bewertung 127 7.1.1 Qualité und Relation: Adjektive und Adverbien 127 132 7.1.2 Syntaktische Formen der Hervorhebung 7.2 Inferenzprozesse als Basis impliziter Bewertung 136 7.2.1 Expertenstatus 136 7.2.2 Quand on est jeune: zur Polyvalenz der Jugend 147 7.2.3 Der und die Erste 151 7.2.4 Ganz nebenbei … 152 7.2.5 Referenz auf Prototypen: zum Einsatz von Demonstrativpronomina 157 7.2.6 Intertextualität 160 7.2.7 Markierung von Fremdheit: Haartracht und Kleidung 162 7.2.8 Fremd und doch nicht fremd – Deutschtürken und franco-maghrébins 171 7.2.8.1 Deutschtürken 171 7.2.8.2 Les franco-maghrébins: franco-algériens, franco-marocains und franco-tunisiens 185 7.2.9 Weitere Techniken der Distanzierung 201 7.2.10 Relevantsetzung einer Leerstelle 207 7.2.10.1 Semantische Vagheit 207 7.2.10.2 Fokussierung und Auslassung 208 7.2.11 Interpunktion 212 7.3 Fallstudie: Zum Zusammenspiel von Textstrategien und der Komplexität von Inferenzprozessen 221 7.4 Zwischenergebnis 231 8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.2 8.3
Topoi – Anker für die Sinnbildung in der Kommunikation 235 Der Topos als stützender Sachverhaltszusammenhang in Pressetexten 252 Widerspruchs-Topos, Bedrohungs-Topos, Gesetzes-Topos 254 Experten-Topos, Allgemeingültigkeits-Topos, Defizit-Topos, Demokratie-Topos 259 Demokratieuntauglichkeits-Topos, Verteidigungs-Topos, SchutzTopos, Bart-Topos 264 Deviations-Topos, Jugend-Topos, Gutmenschen-Topos, Entwicklungs-Topos, Aufklärungs-Topos 271 Zwischenergebnis 280 Tabellarische Übersicht der Topos-Verbindungen 282
Inhalt
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Schlussbemerkung
10 10.1 10.2 10.3 10.4
Bibliografie 289 Literatur 289 Internet-Quellen 304 Presseartikel 309 Nachschlagewerke 312
11 I I.1 I.2 I.3 I.4 I.4.1 I.4.2 II II.1 II.2 III
Anhang 313 Korpus 313 Liste der Suchwörter und Suchwort-Kombinationen 313 DTD 315 Exemplarische Korpustexte 324 Textvergleich 331 Ergänzung zum Abschnitt 6.1.1 (Dichotomiebildung) 331 Ergänzung zum Abschnitt 6.1.3 (Differenzierung) 340 Verzeichnis der zitierten Korpustexte 343 Siglen-Liste 343 Abdruckgenehmigungen 353 Alphabetische Auflistung der aus der Textanalyse gewonnenen Textstrategien 354 Alphabetische Auflistung der aus der Textanalyse gewonnenen Topoi 355
IV
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XI
1 Einleitung «Denn das Wort, welches den Begriff erst zu einem Individuum der Gedankenwelt macht, fügt zu ihm bedeutend von dem Seinigen hinzu, und indem die Idee durch dasselbe Bestimmtheit empfängt, wird sie zugleich in gewissen Schranken gefangen gehalten.» (Wilhelm von Humboldt 1905, 23)
Inhalt und Ausdruck, Wort und Idee – wenn wir kommunizieren, werden stets unterschiedliche Ebenen, wird Materialisiertes mit nicht Sichtbarem in Beziehung gesetzt. Um schriftliche Texte, eine spezifische Art der Kommunikation, zu verstehen, bedarf es also nicht nur der Entschlüsselung aneinandergereihter Wort- und Satzketten. Es muss Vorwissen mitgebracht, müssen verschiedene Faktoren kombiniert werden. Dies ist keine neue Erkenntnis. Ebenso wenig gilt dies für die Beobachtung, dass es möglich ist, Bedeutungen (indirekt) anzustoßen, ohne sie explizit zu formulieren. Weniger eingängig wird es hingegen dort, wo das Mitverstandene verbalisiert und die Mechanismen, die zu dieser Verstehensform führen, benannt werden sollen, also der Text hinter dem Text im Mittelpunkt steht. Genau hier ist die vorliegende Arbeit anzusiedeln: Es geht um Textmechanismen und implizite Argumentationsmuster, die das Rückgrat der untersuchten Pressetexte zum Thema Islam bilden. Die Frage nach diesem zentralen, aber, wie es einem Rückgrat eigen ist, nicht an jeder Stelle sichtbaren Element stellt die Analyse immer wieder in ein Spannungsfeld: Nicht manifeste Textbausteine (Denk-Kontexte, Bewertungen und implizite Argumentationsmuster) müssen anhand der manifesten Textebene untersucht werden. Zwei Textbausteine sind in diesem Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit: Textstrategien oder kommunikative Strategien sowie implizite Argumentationsmuster, hier auch ‘Topoi’ genannt. Die als Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Textebenen wirkenden Strategien sind in der Regel von einem spezifischen Inhalt unabhängig. Und die auf die oben genannte Weise herausgearbeiteten Argumentationsmuster werden entweder genuin mit dem Islam verbunden oder sind keinem spezifischen inhaltlichen Gegenstand zugeordnet. So wird ein Bogen vom Analyseobjekt (deutsche und französische Pressetexte zum Thema ‘Islam’) zu allgemeineren, zu sprachlichen Universalien gespannt. Freilich konnten in diesem Zusammenhang nicht alle vorkommenden kommunikativen Strategien und mit dem Islam verknüpften Argumentationsmuster herausgearbeitet, sondern lediglich die in dem zugrunde gelegten, begrenzten Zeit- und Artikelraum besonders häufig auftretenden Phänomene benannt werden. Die anhand einzelner Analysen exemplarisch vorgestellte Herangehensweise an Texte und deren argumentative Bedeutungen weist jedoch über diese zeitliche und materielle Begrenzung hinaus – und kann somit auch für andere Themenbereiche und Zeiträume von Nutzen sein.
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Einleitung
Eine hohe mediale Präsenz und die Versprachlichung in sehr unterschiedlichen Presseorganen weisen den Islam als geeignetes Themenfeld für die soeben skizzierte Herangehensweise aus. Diskussionen wie die um das Für und Wider eines Burka-Verbots in Frankreich, die Debatte um Äußerungen des ehemaligen Bundesbankvorstandmitglieds Thilo Sarrazin oder die Auseinandersetzung mit dem Thema ‘Integration’ werden kontrovers, bisweilen sehr emotional geführt. Nicht immer sind dabei verhandelte Argumentationsmuster offensichtlich oder werden als solche benannt. Eine Auseinandersetzung mit Texten führt häufig ins Leere, wenn sie bei der sprachlichen Oberfläche, der sogenannten Faktenlage, stehen bleibt und diese nur danach beurteilt wird, ob die angeführten Fakten zutreffen oder nicht, gleichzeitig aber die implizit vorhandenen Argumentationsmuster nicht thematisiert werden. Denn Letztere stützen, um beim Bild des Rückgrats zu bleiben, den gesamten Textkörper und tragen damit elementar zu dessen Erscheinungsbild (und Bedeutung) bei. Hier setzt die vorliegende Arbeit an: Ihr Ziel ist es, sowohl das Rückgrat des Textes (implizite Argumentationsmuster) wie auch die Verbindungsstreben zum restlichen Textkörper (Textstrategien) zu beschreiben und deren Funktionsweise verständlich zu machen, also den Raum zu untersuchen, der landläufig als ‘Raum zwischen den Zeilen’ bezeichnet wird. Es liegt allerdings in der Eigenheit des vielschichtigen und plurithematischen Analyseobjekts, dass eindeutige Grenzen von angemessenem oder unangemessenem Sprechen bzw. Schreiben über den Islam nicht ein für alle Mal und für jeden Text gültig festzulegen sind. Graduelle Übergänge nötigen stattdessen immer wieder dazu, den Blick neu zu schärfen: Auf welche Weise werden Informationen mit argumentativen Elementen verknüpft und wie erhalten die präsentierten Inhalte ihre Gültigkeit? Wo passen Inhalts- und Ausdrucksseite eines sprachlichen Zeichens, einer Aussage (nicht) zusammen? Wann ist es beispielsweise notwendig, von dem Islam zu sprechen, und wann verbirgt sich hinter diesem scheinbar klar zu fassenden Abstraktum etwas anderes, wird es vermieden, real existierende Menschen, Einzelpersonen und Gruppen oder (eigene oder fremde) Einschätzungen klar zu benennen? So sind z.B. nicht Artikel über von Musliminnen und Muslimen¹ ausgeübte Gewalttaten für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse, sondern Artikel, in denen die Verknüpfung von Gewalt und Islam den Textinhalt argumentativ stützt.
1 Lediglich aus sprachökonomischen Gründen und um einer besseren Lesbarkeit willen wird im weiteren Textverlauf darauf verzichtet, Personengruppen, Berufsbezeichnungen u.Ä. immer in Form von zwei Genera anzugeben. Beide Geschlechter sind jeweils gemeint.
Einleitung
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Zum Aufbau dieser Arbeit: Die Kapitel sind wie konzentrische Kreise angeordnet, die sich um den Kern der Arbeit, das heißt, den Blick auf den Text hinter dem Text gruppieren. So zeichnet das Kapitel Datenkorpus und seine Genese (Kap. 2) mit der Beschreibung der Datengrundlage und technischen Details sowie Restriktionen der vorliegenden Textanalyse den äußersten Kreis nach. Nach der Darlegung des formalen Rahmens werden im Anschluss anhand ausgewählter Beispiele Islambilder und Orientvorstellungen (Kap. 3) in einer historischen Perspektive thematisiert. Die Motivation für eine Auseinandersetzung mit dem Islam war und ist vielseitig – sei diese wissenschaftlicher, künstlerischer, theologisch-philosophischer oder profaner Art – und kann mitnichten auf einen Nenner gebracht werden. Dennoch lassen sich diskursive Kontinuitäten über die Jahrhunderte hinweg aufzeigen, die nicht zuletzt ihren Niederschlag in Argumentationsmustern finden, von denen einige im achten Kapitel vorgestellt werden. Zuvor jedoch folgt mit dem Kapitel Pressewesen – Sprache und Strukturen (Kap. 4) auf die formale und die historische die strukturelle Verankerung der Arbeit. Hier werden sprachliche und für einzelne Textsorten spezifische Merkmale vorgestellt und es rückt mit der Objektivität ein Kriterium informationsbetonter Pressetexte in das nähere Blickfeld. Das Kapitel Vom Satz zum Text (Kap. 5) ist den methodischen Grundlagen gewidmet. Neben der Anlehnung an eine diskursgeschichtliche Analyse bildet vor allem das durch die Erweiterung der funktionalen Satzanalyse nach František Daneš gewonnene Textmodell, in welchem auch Textstrategien und Topoi abgebildet werden, das Fundament der Untersuchung. Bei der Analyse der Pressetexte hat sich eine doppelte Zweiteilung der Textstrategien als sinnvoll erwiesen. So kann zwei ihrer wesentlichen Eigenschaften gesondert Rechnung getragen werden: Ihr funktionaler Einsatz steht im Mittelpunkt des sechsten Kapitels, der persuasive Gehalt in expliziter und impliziter Form wird im siebten Kapitel behandelt. Die für den Textaufbau zentralen kommunikativen Strategien (Kap. 6) werden nach einer theoretischen Einführung anhand verschiedener Textausschnitte erörtert. Persuasive Funktionen kommen bereits hier zur Sprache. Sie stehen jedoch erst im darauffolgenden Kapitel Textstrategien im Kontinuum von Bewertung im Vordergrund. Hier geht es um Fälle expliziter (Kap. 7.1) sowie, im Zusammenhang mit Inferenzprozessen, um Möglichkeiten indirekter Bewertung (Kap. 7.2). Anhand der die Betrachtung der Textstrategien abschließenden Fallstudie (Kap. 7.3) werden komplexe Zusammenhänge von Textstrategien und Inferenzprozessen veranschaulicht. Implizite Argumentationsmuster, hier Topoi genannt, gehören zu den konstitutiven Elementen eines Textes. Nach ihrer theoretischen Einbettung werden die in der Korpusanalyse gewonnenen Anker für die Sinnbildung in der Kommunikation (Kap. 8) vorgestellt. Diese Argumentationsmuster kommen in bestimm-
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Einleitung
ten Kontexten vor und haben neben ihrer kontextspezifischen Eigenschaft einen diskursabstrakten (nicht genuin mit dem Thema ‘Islam’ verknüpften) oder einen diskursspezifischen (genuin mit dem Thema ‘Islam’ verknüpften) Charakter. Die abschließende tabellarische Übersicht (Kap. 8.3) veranschaulicht neben dieser Einteilung Verbindungen zwischen den verschiedenen Argumentationsmustern, die sich auf einer Skala vom Allgemeinen zum Speziellen anordnen lassen. Da die Namen der Presseorgane und die gegebenenfalls daraus ableitbare (politische, ideologische und/oder gesellschaftliche) Positionierung für die Textanalyse zunächst einmal nicht von Bedeutung sind, wurden die Beispiele mit Siglen (z.B. a-25) versehen und die Quellen im Anhang aufgelistet (Kap. II.1). Diese Vorgehensweise ermöglicht es, die betreffenden Phänomene in den Blick zu nehmen, ohne dass mit den einzelnen Presseorganen verbundene, bereits vorgeprägte Meinungen (BILD-Stil, Le Monde-Charakteristika etc.) automatisch aufgerufen werden. Auf die Siglenliste folgt schließlich die Übersicht der Artikel, die im Laufe der Analyse in vollem Umfang zitiert werden und mit freundlicher Genehmigung der jeweiligen Rechteinnhaber abgedruckt werden konnten (Kap. II.2).
2 Das Datenkorpus und seine Genese Über Inhalte von (Presse-)Texten lässt sich streiten. Wie eingangs bereits erwähnt, geht es in der vorliegenden Arbeit aber gerade nicht um die Bewertung einer Berichterstattung als richtig oder falsch.¹ Ausgangspunkt waren vielmehr die Fragen Wie zeigt sich ein spezifisches Weltbild in einem Text? Wie kann man etwas sagen, ohne es (explizit) zu formulieren? Wie kann man den Raum zwischen den Zeilen erfassbar machen? Und: Wie verhält es sich damit (a) im Zusammenhang mit informationsbetonten Pressetexten, Texten also, die gemeinhin als objektiv betrachtet werden, und welche Unterschiede zeigen sich diesbezüglich (b) in der deutschen und französischen Zeitungssprache? Hinzu kam die Frage, ob und wenn ja, welche generalisierbaren Erscheinungen sich auf der Ausdrucksebene und auf der Inhaltsebene eines Textes in diesem Zusammenhang zeigen würden.² Somit war der Schritt von einem Einzeltext zu einer Textsammlung notwendig. Die Fragestellung sollte anhand aktueller deutscher und französischer Pressetexte untersucht werden – die vorliegende Untersuchung ist somit synchron ausgerichtet. Um ein Korpus aufzustellen, musste sich die Analyse auf einen spezifischen Themenkomplex beziehen. Meine Wahl fiel auf den Islam – dessen in der Einleitung bereits erwähnte mediale Präsenz und die damit zusammenhängenden kontroversen Debatten ausreichend Material in Aussicht stellten. Die Wahl des Trägermediums Internet ermöglichte mir eine entsprechende Recherche. Sie bot außerdem den Vorteil digital vorhandener Texte, die sich problemlos in ein computerlesbares Korpus integrieren ließen. Die zuerst verwendeten (Einwort-)Suchbegriffe ergaben Hunderte von Treffern, welche zudem mitunter thematisch zu weit vom Thema entfernt waren. Ich habe daher die Suchwörter zu Wortkombi-
1 Bei einer (rein) inhaltlichen Diskussion sollte auch das sogenannte hostile media phenomenon berücksichtigt werden (cf. Vallone/Ross/Lepper 1985). Vallone et al. untersuchten die Reaktion von Versuchspersonen (144 Studenten der Stanford University) mit unterschiedlicher Einstellung (proisraelisch, propalästinensisch, neutral) auf ein und dieselbe Fernsehsendung (Zusammenschnitt aus Nachrichten von ABC, CBS und NBC aus dem Jahr 1982). Diejenigen, die proisraelisch oder propalästinensische Positionen vertraten, nahmen die Nachrichtensendung als zur eigenen Position entgegengesetzt wahr. Vallone et al. geben hierfür zwei Erklärungsansätze: «[E]ntweder wurden die Informationen unterschiedlich wahrgenommen (selektive Wahrnehmung) oder aber identisch wahrgenommene Stimuli wurden unterschiedlich bewertet (selektive Evaluation). […] Ferner stellten die Autoren fest: Je mehr Kenntnisse ein Individuum [zu einem bestimmten Thema] hat, desto eher wird die Sendung als gegen den eigenen Standpunkt gerichtet eingeschätzt.» (Kunczik 1990, 44). 2 Als generalisierbar auf der Ausdrucksebene haben sich die Textstrategien (Kap. 6 und 7) erwiesen, auf der Inhaltsebene wiederum die Topoi (Kap. 8).
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Das Datenkorpus und seine Genese
nationen verknüpft, um den Themenkreis auf diese Weise einzuschränken. Aus den Suchbegriffen musulmane, foulard, voile, hijab, tchador, burka wurde beispielsweise die Kombination ‘musulmane (foulard|voile|hijab|tchador|burka)’. Aus Islam, islamisch, Moslem bzw. Muslim ergaben sich wiederum die Kombinationen ‘(Islam|islamisch) (Moslem|Muslim)’ und ‘islam* muslim*’ etc.³ Die Online-Recherche wurde durch entsprechende Datenbankabfragen ergänzt.⁴ Hinzu kamen Texte, die mir unmittelbar von den Presseagenturen dpa, AFP und Reuters zur Verfügung gestellt wurden – neben der Einzeltextanalyse sollten diese zu einem Vergleich zwischen Ausgangstext und Endprodukt dienen. Ich ging von der These aus, dass die Auswahl bestimmter Themen sowie die redaktionelle Bearbeitung der Texte (z.B. Weglassen einzelner Wörter, Sätze oder Abschnitte) Hinweise auf Topoi ergeben und den Einsatz bestimmter Textstrategien aufzeigen würden. Letzteres lässt sich in der Tat anhand einzelner Vergleiche zeigen, so z.B. in Kapitel 6.1.4. Die ursprüngliche Überlegung, einen Schwerpunkt auf diese Auswertung zu setzen, habe ich verworfen, da sie sich als nicht realisierbar erwiesen hat. So hätte die zentrale Frage, welche Texte aus dem Angebot der Agenturdienste den Weg zur Veröffentlichung endgültig gefunden haben, ein anderes Korpus erfordert als das, für das ich mich entschieden hatte. Denn es wäre hierbei ja nicht nur um eins zu eins übernommene bzw. in Teilen bearbeitete Artikel gegangen, sondern beispielsweise auch um das Verwenden bestimmter Inhalte. Das Korpus hätte unter anderen Gesichtspunkten erstellt werden müssen – insbesondere über eine längere Zeit hinweg, als dies tatsächlich der Fall war. Der Zeitraum, aus dem sich die Texte des Kernkorpus schließlich zusammensetzten, umfasst zwei Wochen (21.02.2007 bis 06.03.2007). Vorherige Stichprobenanalysen hatten gezeigt, dass in einer Zeit von zwei Wochen eine ausreichend große Menge an Artikeln zu erwarten war. Wo es einzelne Fragestellungen notwendig machten, z.B. um den Verlauf einer bestimmten Berichterstattung nachzuvollziehen, habe ich ergänzend Texte aus anderen Zeiträumen hinzugezogen (cf. die Fallstudie des Kapitels 7.3). Beim vorliegenden Korpus handelt es sich um eine systematische Sammlung authentischer Texte, die empirische Aussagen über einen bestimmten Sprachgebrauch im Zusammenhang mit dem Thema ‘Islam’ ermöglicht. Dieser
3 Der senkrechte Strich (|) steht für ‘oder’, der Asterisk (*) für alle mit dem jeweiligen Begriff kombinierten Endungen. Die Klammern begrenzen einen Unterbefehl der Suchanfrage, welche wiederum durch Anführungszeichen gekennzeichnet wird. Wird kein Bindewort zwischen die einzelnen Teile des Suchbefehls gesetzt, bedeutet dies die Verknüpfung ‘und’. – Die Liste mit den Suchwortkombinationen findet sich im Abschnitt I.1 des Anhangs. 4 Als Datenbank standen mir LexisNexis/Wirtschaft sowie die von Dow Jones unterhaltene Datenbank Factiva zur Verfügung.
Das Datenkorpus und seine Genese
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Sprachgebrauch wurde zwar anhand von Pressetexten untersucht, ist jedoch nicht nur an einen pressesprachlichen Kontext gebunden (cf. Kap. 3). Allerdings stellen die untersuchten Presseartikel keinen repräsentativen Ausschnitt der deutschen bzw. französischen Pressesprache dar; dazu ist die Anzahl der in das Korpus aufgenommenen rund 275 Artikel zu gering. Das Postulat der Repräsentativität gehört nach Scherer (2006, 15) zwar zu den Kriterien,⁵ die ein Korpus im engeren Sinne bestimmen, sie kann im vorliegenden Fall jedoch aus verschiedenen Gründen vernachlässigt werden: Das Korpus wurde qualitativ ausgewertet. Um dies zu gewährleisten, durfte die Menge der analysierten Texte ein für mich bewältigbares Maß nicht überschreiten. Betrachtet man die Gesamtheit der pressesprachlichen Äußerungen zum Thema ‘Islam’ – sowohl innerhalb des kurzen Zeitraums von zwei Wochen als natürlich auch darüber hinaus –, konnte ich freilich nur einen verschwindend geringen Teil der in Frage kommenden Texte auswählen. Der Themensetzung, der Auswahl der Texte und der Auswertung der Daten ist stets ein gewisses Maß an Subjektivität eigen, wie Jung (1994, 60) treffend bemerkt. Dies birgt Chancen und Gefahren: «Problematisch erscheint vor allem die dem diskursgeschichtlichen Ansatz inhärente Subjektivität, die sowohl bei der Themenabgrenzung, der Textauswahl als auch bei der anschließenden Interpretation deutlich wird. Diese Subjektivität ist die Kehrseite der potentiellen Erklärungsstärke diskursgeschichtlicher Analysen und ist prinzipiell nicht zu hintergehen; gerade deshalb kommt m.E. Objektivierungsbemühungen besondere Bedeutung zu. Im Rahmen eines hermeneutischen Verfahrens, das die sprachliche Produktion gesellschaftlicher Deutungsmuster offenlegen und dabei über die Ebene der Einzelwortanalysen hinausgehen will, muß die Menge der zu berücksichtigenden Texte eng auf ein interpretativ bewältigbares Maß begrenzt bleiben, d.h. es kann nur ein winzig kleiner Ausschnitt aus der Menge aller thematisch in Frage kommender Texte ausgewählt werden.» (Jung 1994, 60)
Zwar handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit nicht um eine Diskursanalyse im engeren Sinne, Objektivierungsbemühungen kommt jedoch, wie in jeder wissenschaftlichen Arbeit, eine besondere Bedeutung zu. Sie haben ihren Platz in den Überlegungen zu Theorie und Methodik⁶ sowie der Textanalyse selbst. Die vorgestellten Ergebnisse bilden nicht die Berichterstattung über den Islam ab. Ziel ist es zunächst, bestimmte Phänomene zu sichten und sie anhand präg-
5 «Ein Korpus ist eine systematische Sammlung von authentischen Texten oder Textteilen. Ein Korpus bildet einen repräsentativen Ausschnitt aus einer Sprache oder Varietät ab. Korpora ermöglichen empirische Aussagen über Sprache. Die Verwendung von Korpora ist überall da sinnvoll, wo Informationen über den Sprachgebrauch benötigt werden.» (Scherer 2006, 15). 6 Siehe Kapitel 5 sowie die Einführung zu den Kapiteln 6 und 8.
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Das Datenkorpus und seine Genese
nanter Einzelbeispiele zu beschreiben – implizit vorhandene Information soll so explizit gemacht werden. In einem weiteren, über diese Arbeit hinausgehenden Schritt, könn(t)en die Ergebnisse an größeren Korpora überprüft und durch quantitative Untersuchungen ergänzt werden. Anknüpfungspunkt für weitergehende Analysen bietet auch die Frage nach einem länder- bzw. sprachspezifischen Einsatz der Textstrategien und Topoi. Die ursprüngliche Absicht, dies detailliert herauszuarbeiten, habe ich verworfen, da die Illustration der beobachteten Phänomene sich als umfangreicher erwies, als zunächst angenommen. Im Zuge der Arbeit werden gleichwohl immer wieder Unterschiede deutlich und Hinweise auf dafür möglicherweise relevante einzelsprachlich-strukturelle Eigenheiten gegeben. Bilder können ebenso zu argumentativen Zwecken eingesetzt werden wie Worte. So kann die Verknüpfung von Wort und Bild (Foto, Grafik) Aussagen stützen oder konterkarieren, Schwerpunkte verschieben oder unterstreichen. Wie den eben erwähnten Ländervergleich habe ich dieses Feld ausgeklammert, da es den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte – durch die semiotische Analyse von Bildelementen wären ganz andere Beschreibungskategorien notwendig geworden. Das Verhältnis von Wort – Text und Bild – Text sowie die Auswahl der Motive und deren Einsatz wären ein zu weites Feld gewesen. Markierungen des Schriftbildes habe ich zur Bildthematik gezählt und typografische Elemente wie fett oder kursiv Gedrucktes nicht näher untersucht. Den Einsatz der Interpunktion als strukturierendes und verknüpfendes Element habe ich jedoch in die Untersuchung mit aufgenommen (cf. i.a. Kap. 7.2.11). Derartige Entscheidungen schlagen sich in der Formatvorlage für die Auszeichnung der Korpustexte, der sogenannten DTD (Dokumenttypdefinition), nieder.⁷ Sie ist hierarchisch aufgebaut und umfasst beispielsweise die Elemente Form (formal), Inhalt (textinhalt), Semantik (semant) oder Rhetorik (rhetorisch). Diese Knotenpunkte fächern sich dann weiter auf. Wurde z.B. eine Markierung im Bereich Semantik gesetzt, musste diese mit einem der nachfolgenden Attribute präzisiert werden: auffaellig | unpraez_Form | Wortschoepfung | Wortkombination | Wortwdh | Wortwahl | Modalverb | Hervorhebung | pej | vage | Frage_nach_ der_Relevanz | temp.⁸ Zwar war es möglich, auf Erkenntnisse, die sich während der Untersuchung ergaben, zu reagieren⁹, indem die Auszeichnungsattribute
7 Herzlichen Dank an Holger Keibel vom Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim für dessen Hilfe beim Erstellen der DTD. 8 Die vollständige DTD findet sich im Anhang unter I.2. 9 Dies galt insbesondere für die Liste der Textstrategien und Topoi, die sich erst im Laufe der Textanalyse herauskristallisierte.
Das Datenkorpus und seine Genese
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der DTD modifiziert oder erweitert wurden, doch erforderte das Erstellen der DTD die Festlegung auf gewisse Strukturen – eine wichtige konzeptionelle Vorarbeit: Die DTD musste so weit gefasst sein, dass sich teilweise sehr unterschiedliche Texte in dasselbe Schema einordnen ließen,¹⁰ und spezifisch genug, um die aufgeworfenen Fragen zu untersuchen. Den eingangs zur Diskussion gestellten Fragen nähern sich insbesondere die Kapitel 6 bis 8. Zunächst einmal geht es nachfolgend um Kontexte, in die die Pressetexte zum Thema ‘Islam’ eingebettet sind.
10 Zwei auf diese Art ausgezeichnete Pressetexte finden sich im Anhang unter I.3.
3 Kontinuitäten im Wandel der Zeit: Islambilder und Orientvorstellungen Das Islambild gibt es ebenso wenig wie den Islam, den Orient, den Westen, das Europa. Dieses Wissen ändert allerdings nichts an der Notwendigkeit, über Islam, Orient, Westen und Europa zu sprechen. Doch gibt es verschiedene, mehr oder weniger adäquate Wege, dies zu tun. Auch für die in dieser Arbeit untersuchten Pressetexte ist hierfür die Genauigkeit in der Bezeichnung¹ wesentlich, sind ein Gespür für mitschwingende Argumentationsmuster (Kap. 8) und das Wissen um die Existenz bestimmter Denkbilder hilfreich. Letztere hängen eng mit den im Kapitel 8 vorgestellten Topoi zusammen, denn aus Gemeinplätzen oder Motiven lassen sich nicht zuletzt Argumente herleiten, die wiederum zu diskursiv tradierten Argumentationsmustern werden können. Da der Topos-Begriff auch in der Literaturwissenschaft gebräuchlich ist, wird, um terminologische Unklarheiten zu vermeiden, im Fall von Motiven oder (Stereo-)Typen von Denkbildern und im Zusammenhang mit Argumentationsmustern und -strukturen (Kap. 8) von Topoi gesprochen. Im Mittelalter bestand die islamische Welt in einer zumindest verbreiteten abendländischen Vorstellung aus Arabern, Mauren und Sarazenen.² Und heute? Eine Fokussierung liegt in Frankreich wie in Deutschland sicherlich auf dem arabischen Sprach- und Kulturraum bzw. auf dem Nahen Osten, wobei der nicht arabische Iran und die Türkei häufig in den entsprechenden Denkrahmen integriert werden. In Deutschland ist die Türkei ein wichtiger Bezugspunkt, wenn es um den Islam geht; ob und inwieweit hier eine Differenzierung zwischen Türken und Arabern gemacht wird, ist allerdings fraglich.³ Zwar ist das Wissen über
1 Von welchen Muslimen oder welcher islamischen Richtung ist in einer konkreten Situation die Rede? Welches Land bzw. welche Länder in Orient oder Europa, welche westlichen Regierungen sind gemeint etc.? – Dazu gehört auch ein Wissen um Anwendung und Wirkung der in den Kapiteln 6 und 7 vorgestellten Textstrategien. 2 Dies zeigt sich auch in der Kunst, so z.B. in der bildenden Kunst. Vom 13. bis zum 15. Jahrhundert tauchen neben Arabern und Mauren schließlich die Tartaren, d.h. die Mongolen unter Dschingis Khan und seinen Nachfolgern, auf. Seit dem 15. Jahrhundert wird dieser Kreis dann immer häufiger durch Darstellungen von Türken und Janitscharen erweitert, insbesondere in der Malerei im italienischen Nordosten. «Doch auch die spätgotische französische, spanische, deutsche und süditalienische Kunst liefert dafür zahlreiche beachtenswerte Beispiele.» (Cardini 2000, 245). 3 In Großbritannien stammt die muslimische Bevölkerung mehrheitlich aus südasiatischen Ländern. Hier wäre zu fragen, ob dies auch Auswirkungen auf die öffentliche Wahrnehmung bzw. die Berichterstattung hat.
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Kontinuitäten im Wandel der Zeit: Islambilder und Orientvorstellungen
den Islam heutzutage ungleich größer, die Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen, sind vielfältiger geworden. Doch folgt aus einem Mehr an Information nicht einfach eine Veränderung von Denkbildern oder das Auflösen bestimmter Argumentationsmuster – sie können sich dadurch sogar festigen. Des Weiteren sind nicht alle Denkbilder und Argumentationsmuster zu jedem Zeitpunkt der Geschichte in gleicher Weise im Diskurs⁴ präsent, ohne dass sie dadurch jedoch verschwunden wären. Sie entspringen häufig einer langen Tradition und beeinflussen – oder steuern – zumeist unbemerkt die Wahrnehmung des entsprechend sozialisierten Betrachters. In der Geschichte des Kontakts zwischen Okzident und Orient, in der Auseinandersetzung der Religionen, in Konfrontation und wechselseitigem Austausch wie auch in den Entwicklungen der Orientalistik bzw. den Diskussionen um das eigene Studienobjekt zeigen sich Kontinuitäten, Denkbilder und Argumentationsmuster, die noch immer gängig sind. Auch Pressetexte, die ein entsprechendes Thema behandeln oder streifen, stehen stets in diesem Kontext. Die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage spielt für die Themensetzung in den Medien, die stets eine (Aus-)Wahl darstellt, sicherlich eine wesentliche Rolle. Die Art ihrer Vertextung ist hingegen eine Folge vielfältiger vorausgehender Prozesse, die strukturell (Journalismus als (soziales) System, Ökonomie, Zeit- und Konkurrenzdruck⁵), aber eben auch diskurstraditionell (Gattung, pressesprachliche Spezifika, Denkbilder, Argumentationsmuster⁶) bedingt sind. Derartige Traditionen erschließen sich Produzent und Leser nicht automatisch. Aus eben diesem Grund ist ein Blick in die Vergangenheit – auch für eine auf synchronen Texten aufbauenden Untersuchung – lohnend. Dieser Blick sensibilisiert für Kontinuitäten und zeigt Strukturen auf, die bei einer rein tagespolitischen Betrachtung nicht sichtbar würden. Eine historisch verankerte Perspektive kann des Weiteren – und das ist gerade beim vorliegenden Thema wünschenswert – zur Versachlichung einer nicht immer sachlich geführten Diskussion beitragen.
4 Der Begriff ‘Diskurs’ wird hier verstanden als die Gesamtheit aller (mündlichen und schriftlichen) Äußerungen zu einem bestimmten Thema bzw. Wissenskomplex. Die betreffenden Texte weisen Beziehungen untereinander auf, die semantischer, argumentativer und/oder funktionaler Art sind. (Zu einem sprachwissenschaftlichen Verständnis von Diskurs cf. Busse/ Teubert 1994, 14). 5 Die strukturellen Prozesse stehen nachfolgend nicht im Vordergrund. Zu einer Vertiefung dieses Themas: Zschunke (22002); Raabe (2005); Le Floch/Sonnac (2005); Sjurts (32005); Kiefer (22005); Raible (2006); Segbers (2007); Luhmann (42009); Kiefer (2010); siehe außerdem Kapitel 4. 6 Zu journalistischer Sprache und Textsorten: Kapitel 4; zu Textstrategien: Kapitel 6 und 7; Argumentationsmuster betreffend: Kapitel 8.
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Ein solches Vorgehen prägt den Aufsatz zur religiösen Durchdringung von Staat und Gesellschaft von König (2008), in dem er Entstehungsbedingungen und -voraussetzungen einer staats-, gesellschafts- und kulturtragenden Religion am Beispiel des spätantik-frühmittelalterlichen Aufstiegs des Christentums in Europa illustriert. König zeichnet die Voraussetzungen für die Expansion einer Religion nach und formuliert diese wie folgt: «Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass 1) ein universaler Anspruch, 2) eine für viele Menschen annehmbare Lehre und Symbolik, 3) ein infrastrukturell gut erschlossenes Ausbreitungsfeld, 4) die sich im Laufe der Ausbreitung entwickelnde Organisationsfähigkeit sowie 5) die sich im Laufe der Ausbreitung entwickelnde Akkulturationsfähigkeit und -bereitschaft die Voraussetzungen für die Expansion einer Religion stellen. Diese kann 6) auf dieser Grundlage durch drei Methoden das Ausbreitungsfeld erschließen bzw. neue Anhänger gewinnen: Hierzu zählen die biologische Mehrung der eigenen Anhänger in Form von Bevölkerungswachstum, die Bekehrung im Sinne einer Gewinnung von Anhängern durch überzeugend-missionarische Aktivität und spirituelle sowie soziale Dienstleistungen, schließlich die Machtergreifung, die die sukzessive Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zugunsten der Ausbreitung der Religion ermöglicht und wiederum neue Bekehrungen auslöst. Dabei scheint es, als ermögliche erst die Kombination aller drei Methoden eine erfolgreiche Ausbreitung im Sinne der Etablierung einer langfristig staats-, gesellschafts- und kulturtragenden Religion.» (König 2008, 21)
Zur Frage, ob Europa grundsätzlich islamisch werden könne, findet König in den untersuchten Schreckens-⁷ und Integrationsszenarien⁸, deren Anspruch er mit ihrer argumentativen bzw. geschichtlichen Fundiertheit in Beziehung setzt, keine ihn zufriedenstellende Antwort (cf. König 2008, 45s.). Er kommt vor dem
7 König (2008, 25-34) untersucht in diesem Zusammenhang die nachfolgenden, nach ihm zitierten Veröffentlichungen: Victor Mordecai, Der Islam. Eine globale Bedrohung? Holzgerlingen, Hänssler, 1999; Alice Schwarzer, Die Gotteskrieger [und] die falsche Toleranz, Köln, Kiepenheuer und Witsch, 2002; René Marchand, La France en danger d’Islam. Entre Jihad et Reconquista, Lausanne, L’Âge d’Homme, 2002; Bernd Georg Thamm, Terrorbasis Deutschland. Die islamistische Gefahr in unserer Mitte, Kreuzlingen, Diederichs, 2004; Christophe Deloire/ Christophe Dubois, Les islamistes sont déjà là. Enquête sur une guerre secrète, Paris, Albin Michel, 2004; Bruce Bawer, While Europe Slept. How Radical Islam is destroying the West from within, New York, Doubleday, 2006; Egon Flaig, Der Islam will die Welteroberung, FAZ, 216 (16.09.2006), 35. 8 «Eine alternative Zukunftsvision zu der oben dargestellten Literatur liefert [nach König 2008, 36s.] die im Internet verfügbare Veröffentlichung eines Seminars unter der Leitung von Dr. Michael Blume […], in dem über dreißig Studierende unterschiedlicher Disziplinen und konfessionellen Hintergrundes miteinander kooperierten. Ziel des Projekts war es, eine Prognose darüber abzugeben, wie sich der Islam in Deutschland bis 2030 entwickeln würde.» Cf. Blume (Sommersemester 2006).
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Hintergrund des oben erwähnten Paradigmas zu dem Schluss, dass grundlegende Voraussetzungen für eine Ausbreitung des Islams in Europa erfüllt, jedoch nicht alle Voraussetzungen für eine vollständige Durchdringung aller Staats-, Kultur- und Gesellschaftsschichten gegeben seien.⁹ Die Beschäftigung mit und das Wissen um historische Gegebenheiten tragen hier zu einer Darstellungsweise bei, die keiner Emotionalisierungsstrategien bedarf, um ihre Argumente vorzubringen. Doch zurück zum vorliegenden Kapitel. Ein Beispiel aus der französischen Tagespresse wird nachfolgend mit Wahrnehmungsmustern in Beziehung gesetzt, deren geschichtliche Vorprägung im weiteren Verlauf der Arbeit deutlich wird. Der Blick wird von der Ereignisgeschichte tagespolitischen Geschehens, der Ebene der Braudel’schen¹⁰ événements, somit zu der einem langsameren Zeitrhythmus folgenden Ebene der conjonctures geweitet – dazu gehören die von Hamès (1989a,b) und Deltombe (2005) untersuchten Parameter, die für die Wahrnehmung und Versprachlichung tagespolitischer Themen eine Rolle spielen. In diesem Zusammenhang werden auch Phänomene der fast unbewegten longue durée berührt, also Strukturen sichtbar, deren Existenz über die leicht erfassbaren bzw. erinnerbaren Zeitzyklen hinausreichen.¹¹
9 «Als Religion mit universalem Anspruch und einer für viele Menschen annehmbaren Lehre und Symbolik, deren Anhänger sich in einem infrastrukturell hervorragend erschlossenen Ausbreitungsfeld befinden, hat er – wie übrigens andere Religionen auch – durchaus die Möglichkeit, sich weiter in Europa zu verbreiten. Problematisch allerdings ist, dass der Islam in Europa, was seine Akkulturationsfähigkeit und -bereitschaft sowie seine Organisationskraft angeht, noch nicht genügend entwickelt ist, um seine eigene Expansion voranzutreiben. Die mangelnde Akkulturation des Islam in Europa erschwert die Gewinnung neuer Anhänger aus der europäischen Bevölkerung nichtmigrantischen Ursprungs. Das Fehlen einer – historisch durchaus neuen! – die Mehrheit der europäischen Muslime repräsentierenden Institution verhindert bzw. erschwert eine Kooperation mit den politischen Eliten, die zu einer Machtergreifung des Islam führen könnte [der Islam an sich ergriffe eher nichts, wohl aber real existierende Muslime, Anm. D.W.]. Um aber durch natürliches Wachstum im Laufe einiger Generationen eine Bevölkerungsmehrheit in Europa zu erringen, müsste sich die demographische Entwicklung äußerst radikal zu Ungunsten der europäischen Bevölkerung nichtmuslimischen Glaubens verschärfen.» (König 2008, 25). 10 Cf. Braudel (1979/1986). In seiner Medien-Kulturgeschichte bezieht sich Raible (2006) auf diese Geschichtskonzeption und illustriert anhand verschiedener Pressebeispiele die Histoire événementielle (Raible 2006, 47ss.). Des Weiteren ordnet er die Mediengeschichte als Phänomen der conjoncture wie der longue durée zu (Raible 2006, 50ss.). 11 Analysen deutscher Berichterstattung finden sich beispielsweise in: Der Islam in den Medien (1994); Schiffer (2004); Benz (2009). Die von Hamès (1989b, 79) erwähnte semantische Verschiebung (aus immigrant workers werden Moslems in France) wirft die Frage nach einem
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La burqa, tout le monde en parle, personne ne la porte! (Charlie Hebdo 24.06.2009), so lautet eine Schlagzeile, die im Zusammenhang mit einer Debatte in Frankreich (Juni/Juli 2009) um das Tragen der Burka und die daraus resultierende Notwendigkeit gesetzgeberischer Konsequenzen veröffentlicht wurde. An diesen Ausspruch mag sich erinnert fühlen, wer nachfolgende Aussage liest, die rückblickend vor dem Hintergrund der ersten affaire des foulards im Jahr 1989 von Deltombe (2007, 81) formuliert wurde: «sous prétexte de défendre ‹les modérés› contre l’assaut des ‹intégristes›, les médias se lancent dans une incroyable chasse aux tchadors – pourtant relativement rares – dans les écoles publiques françaises.»¹² In beiden Diskussionen, 1989 wie auch 2009, wird ein Randphänomen zum zentralen Diskussionsobjekt, an dem sich nicht nur die Geister scheiden, sondern die Werte einer ganzen Gesellschaft – oder, um in der Logik dieses Diskurses zu bleiben, die Grundfesten der gesamten Nation – bedroht scheinen. Wie semantisch und assoziativ nahe sich die Bezeichnung von ‘Nationalität’ und ‘Religionszugehörigkeit’ in Rolle bzw. Funktion kommen, illustrieren Hamès (1989a,b) für die Printpresse und Deltombe (2005) im Zusammenhang mit der Berichterstattung im Fernsehen. Ihre Analysen zeigen u.a. den Einfluss, den geschichtliche Parameter auf Wahrnehmung und Versprachlichung aktueller Tagesthemen haben können. So wirkt(e) sich laut Hamès (1989a) die Verknüpfung von immigrés des anciennes colonies und musulmans ganz konkret auf Überlegungen zu Status und Erhalt der französischen Nationalität aus.¹³ Er
ähnlichen Phänomen in der deutschen Berichterstattung auf. Hier wäre eine Verschiebung der Benennung von Ausländern bzw. Türken zu Muslimen denkbar. Bei der Untersuchung einer solchen Frage kann das Einbeziehen des Migrationsdiskurses eine sinnvolle Ergänzung bieten. Impulse dazu finden sich im Sammelband von Butterwegge/Hentges (22006). Einzelne Beiträge leiden bisweilen allerdings an mangelnder Differenziertheit, wenn es um die Analyse von Ursachen bzw. die Darstellung der jeweils untersuchten Art der Diskriminierung geht. 12 Die Debatte um beide Ereignisse ist geprägt vom Einsatz verschiedener Textstrategien und Topoi. Diese werden in den Kapiteln 5 bis 7 eingehend behandelt und daher nachfolgend lediglich erwähnt: Die Muslime werden als eine abgrenzbare Gruppe betrachtet [Homogenisierung, Kap. 6.1.2.2], die Muslime in Frankreich so mit den Geschehnissen in Iran in Zusammenhang gebracht. Hier wiederum taucht das Gefühl einer potenziellen Gefährdung auf [Bedrohungs-Topos, Kap. 8.1.1], das auch mit der Forderung an die Muslime, sich in diesem Zusammenhang zu positionieren, korreliert [Dichotomiebildung gut vs. böse, Kap. 6.1.1]. Über die Assoziationskette Tchador – Iran – Gefahr wird die Debatte um die Verschleierung in Schulen emotional aufgeheizt, zeigen sich bereits existierende Denkschemata und kommen stützend Verteidigungs- und Schutz-Topos (Kap. 8.1.3) zum Tragen. 13 «Depuis lors, une double préoccupation a saisi la société politique en France: ne faut-il pas redéfinir le statut et les modalités de la nationalité française? Ne faut-il pas légiférer sur le statut et les relations avec l’État d’une religion étrangère au laïcisme chrétien national? Le débat semble pour le moment se cristalliser et se bloquer sur les aménagements légaux et instituti-
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zeigt des Weiteren, wie sich Anfang der 1980er-Jahre die Berichterstattung über dieselbe Bevölkerungsgruppe fundamental veränderte: Aus immigrant workers wurden Moslems in France. «In early 1983, when the press first began making reference to Islam and Moslems in France in reports of certain social facts, there was suddenly an ideological revolution in the manner of speaking about and representing the same populations of immigrant workers which previously had been viewed from the vantage point of theories of socioeconomic conflict which were secular and liberal in tone. At the same time, the press, since it was providing first hand information in the form of raw data, shed light on how Islam is being constructed and organized at a time when perceived models should incite to closer analysis, given that the consequences of this change to a religious frame of reference lead to ideological occultations, organizational restructurations and new power struggles in perspective within immigrant communities.» (Hamès 1989b, 79)
Diese «ideologische Revolution»¹⁴ entstand nicht urplötzlich aus dem Nichts – das Objekt der Berichterstattung war nicht neu, die Perspektivierung hingegen hatte sich verändert, andere Aspekte wurden relevant gesetzt.¹⁵ Auch Deltombe (2005)¹⁶
onnels de ce double problème posé par l’installation de communautés musulmanes en France. Et dans ce contexte, on ne peut pas ne pas se souvenir que partie de ce problème (les modalités d’insertion du culte musulman dans la république française) a été posée et n’a jamais été résolue durant le siècle et demi de colonisation française en Algérie» (Hamès 1989a, 5). 14 «Et d’abord, le rôle de la presse et des médias en général a été et continue d’être capital dans le modelage du regard sur l’islam en France. Cela est nouveau. C’est en effet sans doute la première fois que des quotidiens nationaux et régionaux titrent de façon régulière sur l’islam en France et en Europe; c’est la première fois que des hebdomadaires à grand tirage (Le Nouvel Observateur, l’Express etc.) ‹font la une› avec des dossiers, des enquêtes, des sondages (4) sur cette religion en passe de devenir ‹française›.» (Hamès 1989b, 81). 15 «Le moment symbolique dans ce glissement d’idées a peut-être été l’épisode des grèves ouvrières chez Renault (début 1983) où le gouvernement s’est mis à subodorer une intrusion idéologique de l’islam iranien dans l’entreprise, par l’intermédiaire des travailleurs immigrés. […] A partir de ce moment, la problématique précédente sur l’emploi, le chômage, les conditions de travail, le logement va faire place à une problématique de lieux de prière, d’abattoirs islamiques, de ‹polygamie et assurances sociales› (Le Monde, 3 sept. 1984), ‹d’agences matrimoniales pour les musulmans› (Le Monde, 25 déc. 1983), de ‹création d’un consistoire islamique en France› (Le Matin, 10 mai 1984) ou de ‹Jeûne du Ramadan qui démarre pour les Musulmans› (Libération, 30 avril 1987). ‹L’islam et nous› (Le Figaro, 24 nov. 1987), ‹France, terre d’islam› (L’Express, 12 mai 1989) sont des titres qui montrent à quel point le concept ‹islam› est devenu habituel pour nous informer.» (Hamès 1989b, 84). 16 Cf. Rigoni (2007, 24): «Deltombe analyse comment la parole et l’image médiatique dominantes et le discours politique ont peu à peu construit un référentiel musulman pour désigner les populations françaises des anciennes colonies. Progressivement, selon l’auteur, on va voir se construire l’image manichéenne et sans nuance d’un islam bipolaire [Dichotomiebildung, cf.
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hebt diese semantische Verschiebung hervor.¹⁷ Er führt anhand der Berichterstattung im Fernsehen vor, wie aufbauend auf der assoziativen Nähe von Nationalität und Religionszugehörigkeit¹⁸ ein medialer Referent entsteht und wie tief dieser Vorgang der Versprachlichung in historischen Gegebenheiten wurzelt.¹⁹ Deltombe weist darauf hin, dass im Zuge dieser Veränderung gerade auch alte Denkschemata neu zum Tragen kommen,²⁰ und betont das Prozesshafte dieser
Kap. 6.1.1] opposant ‹les musulmans intégrés› ou ‹moderne›, présentés come majoritaires mais sous-représentés quand il est question de l’islam dans les médias, opposés à ‹l’islamisme›, présenté comme minoritaire mais sur lequel va se focaliser l’attention. La figure du terroriste va s’associer à celle de l’islamiste, légitimant le durcissement des politiques sécuritaires et celle d’immigration et de séjour. L’islam est donc l’un des prismes au travers duquel les populations issues des anciennes colonies françaises sont présentées et au travers duquel il serait possible de les stigmatiser en tant que groupe». 17 Interessant wäre es, in diesem Zusammenhang zu untersuchen, ob eine vergleichbare semantische Verschiebung auch innerhalb der immigrant workers stattgefunden hat, und wenn ja, ob bzw. welche Verbindungen es zwischen Eigen- und Fremdzuschreibung gibt. Cf. in diesem Zusammenhang Malik (2009, XII): «I had grown up in communities in which Islam, while deeply embedded, was never all-comsuming – indeed, communities that had never thought themselves as ‘Muslim’, and for which religion expressed a relationship with God, not a sacrosanct public identity. ‘Officially, as it were’, observes Jamal Khan, the narrator of Hanif Kureishi’s novel Something to Tell You, ‘we were called immigrants, I think. Later for political reasons we were ‘blacks’… In Britain we were still called Asians, though we’re no more Asian than the English are European. It was a long time before we became known as Muslims, a new imprimatur, and then for political reasons’». 18 Zum Spannungsverhältnis bzw. Oszillieren zwischen Nationalität und Religionszugehörigkeit als gruppenkonstituierende Bezeichnung cf. Hamès (1989b, 84): «L’immigré, voire l’Algérien ou le Sénégalais, ont été quasiment évacués de ce nouveau langage. Les acteurs sociaux auxquels il se réfère perdent de la précision en termes de catégories socio-professionnelles, de stratification sociale, d’origine nationale ou linguistique. Une seule qualification résume ou annule toutes les autres: musulman. ‹Un rassemblement de 5 000 musulmans à Marseille› (Le Monde, 25 mai 1988) devient ainsi un titre-annonce totalement explicite en lui-même. Et bientôt il ne sera plus surprenant d’entendre parler, plus largement, de ‹la communauté musulmane› de France (Le Monde, 2 mars 1989), alors que cette expression, dix ans plus tôt, ne désignait spécifiquement que les harkis de l’après-guerre d’Algérie et leurs familles réfugiés en France. Et encore, dans ce cas, l’expression plus commune de ‹Français musulmans› qui leur était appliquée, traduisait moins une appartenance religieuse qu’une origine nationale non dite». 19 «Entre la décolonisation et la mondialisation actuelle, c’est à travers la télévision que les Français on redécouvert les ‹musulmans›: ‹travailleurs étrangers› jadis, ‹Français musulmans› aujourd’hui… comme du temps de l’Algérie française.» (Deltombe 2005, 6). 20 «La une du Nouvel Observateur du 7 février 1986, sous le titre ‹L’islam en France› montre une femme lourdement voilée qui ressemble étrangement à celles qui illustreront dans la décennie suivante la prétendue montée de ‹l’islamisme› dans l’Hexagone.» (Deltombe 2007, 81). – «Les
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Entwicklung, die er als Islamisierung des Blickes²¹ bezeichnet. Diese Veränderung in der Wahrnehmung kann als Resultat der Verzahnung struktureller²² und inhaltlicher Faktoren aktueller wie geschichtlicher Art betrachtet werden. Dieser Prozess einer Verschiebung des Blickes ist laut Deltombe auch im Zuge der iranischen Revolution (1979) zu beobachten: Die zuvor dominierende wohlwollend-paternalistische Sicht auf die Einwanderer,²³ die in einem nicht muslimischen Umfeld ihren Glauben zu praktizieren suchen, wandelt sich auf polarisierende Weise; eine alte Trennung zwischen den Muslimen und uns wird sichtbar, ebenso ein Paradigmenwechsel in der Berichterstattung – «le prisme socio-économique s’efface au profit d’un prisme ethnoculturel.» (Deltombe 2007, 78) Im Jahr 1989 haben die Ereignisse in Iran²⁴ erneut eine Auswirkung auf den öffentlichen und medialen Diskurs in Frankreich: So sehen sich die französi-
vieux schémas mentaux, hérités notamment de la période coloniale, sont réactivés pour flatter le ‹bon sens› des téléspectateurs majoritaires: on compatit avec les ‹beurettes› qui se battent contre les ‹traditions musulmanes› et on vilipende les (rares) ‹beurs› qui ‹reviennent› à un islam décrit comme génétiquement incompatible avec la société française.» (Deltombe 2007, 79). 21 Ein solches Phänomen ist äußerst vielschichtig und betrifft nicht nur den Blick von außen, wie dies der nachfolgende Kommentar von Silverstein (2008, 110) deutlich macht: «Diese Entstehung einer Allianz, für die das Merkmal Religion über den sozialen Status gestellt wird, signalisiert eine abweichende Haltung gegenüber rassifizierten Gruppen. Falls durch die vorausgegangenen Kämpfe ‹beaufs› oder bürgerliche Pariser als Handlanger des französischen Staates ausgemacht worden waren, so galten beim Kampf der neuen Jugend nun gerade die jüdischen Anwohner der cités als Handlanger des internationalen Imperialismus und eines anti-muslimischen Frankreichs. Ironischerweise wurden hierbei deren eigenen Erfahrungen und die Geschichte der antisemitischen Gewalt in Frankreich komplett ignoriert. So gesehen verbünden sich die jungen französischen Muslime mit dem Lager der antisemitischen extremen Rechten, die, wiederum ironisch, ihre politische Identität aus ausländerfeindlichen und islamophobischen Aussagen zieht.» (Perspektive und Schwerpunkt des Beitrags liegen auf der gesellschaftlichen und historischen Achse Frankreich-Algerien). 22 Zu den Rahmenbedingungen, die nach Deltombe (2007, 77) die Islamisierung des Blickes im französischen Fernsehen begünstigt haben, gehören eine veränderte Medienlandschaft (Werbung, Privatisierung von TF1, Wettbewerb um Quoten) (Deltombe 2007, 79) sowie die Unbestimmbarkeit des Islams, welche ihn so zu einem geeigneten Objekt für öffentliche Debatten macht (Deltombe 2007, 77). 23 «Le ton est, à l’époque, paternaliste et bienveillant: on montre, non sans condescendance, les difficultés qu’éprouvent ceux qui apparaissent alors avant tout comme des ‹travailleurs étrangers› à vivre leur religion dans le contexte hexagonal.» (Deltombe 2007, 77). 24 Ayatollah Khomeini hat im Februar 1989 ein sogenanntes hukm (Urteil) verkündet, in dem er die Tötung von Salman Rushdie, Autor der Satanischen Verse, wegen angeblicher Gotteslästerung verlangt. In der Folgezeit wurde anstelle von hukm beständig von fatwa, einem Rechtsgutachten, gesprochen. Letzteres blieb in der Debatte bzw. der Berichterstattung präsent. Ob
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schen Muslime nach Deltombe (2007, 80) der Forderung ausgesetzt, sich zu positionieren – gegen «les ‹intégristes› assimilés au régime iranien» und für «les ‹modérés› situés de ‹notre› côté».²⁵ Einen belastenden Rechtfertigungsdruck, nicht zuletzt im Zusammenhang mit außerhalb Deutschlands stattfindenden Konflikten, verspüren einer 2006 veröffentlichten Studie zum Islambild in der Öffentlichkeit²⁶ zufolge auch Muslime in Deutschland.
hukm oder fatwa, es wurde in diesem Zusammenhang immer wieder darauf verwiesen, Khomeini habe alle Muslime (auf der Welt) dazu aufgerufen, Rushdie zu töten. Jedoch fühlen sich gar nicht alle Muslime an das Rechtsgutachten eines Gelehrten gebunden: Für Sunniten ist das Urteil des Schiiten Khomeini ohnehin nicht von Bedeutung, und unter den Schiiten hat es nur dort Gültigkeit, wo Khomeini als ‹Quelle der Nachahmung› anerkannt wird. Des Weiteren erwähnenswert: Nach dem Tod eines Mufti erlischt die Wirkkraft seiner Urteile. Sie müssen daher, sollen sie erneut gelten, von einem Nachfolger bestätigt werden. Dieser Rechtsgrundsatz der Schia wurde nach Khomeinis Tod nicht beachtet, sondern in sein Gegenteil verkehrt: Die Unaufhebbarkeit des Urteils wurde damit begründet, dass nur der entsprechende Mufti selbst es zurücknehme könne – was nach dessen Tod ja nicht mehr möglich war (cf. The Times 20.01.2005). – Dieser Fall hat aufgrund seiner Popularität unter anderem dazu beigetragen, dass fatwa auch in nicht muslimischen Kreisen zu einem bekannten Begriff wurde, welcher allerdings fälschlicherweise häufig mit ‹Todesurteil› gleichgesetzt wird. (Zu fatwa: Kapitel 6.1.3). – Al-Azm (1991) zeigt in seiner Reflexion über den Fall Rushdie literarische und historische Parallelen zu verschiedenen Autoren und Werken auf (Rabelais, Joyce u.a.) und geht dann auf die tatsächlichen Gegebenheiten ein – denen er in verschiedener Hinsicht ihre scheinbare Eindeutigkeit zu nehmen sucht: «I tried to point out the following double truth: The ‹deepest values› of the West were not always what they are taken to be today and the supposed ‹authentic values› of the Muslims need not remain what they are currently perceived to have always been.» (Al-Azm 1991, 43). 25 Ergänzend eine Beobachtung von Hamès (1989b, 80), die ebenfalls das Jahr 1989 betrifft und zum Spannungsfeld veränderter Wahrnehmung gehört: «Loin des débordements des mouvements politiques et militaires du Proche et Moyen Orient, l’islamisation en France s’est inscrite sans bruit au niveau d’un ordinaire quotidien. Installation estimée somme toute tranquille et rassurante en comparaison des conflits commis ailleurs en son nom. Et à ce jour – fin 1989 – on pourrait considérer comme apparemment acquise une sorte de banalisation de l’occupation islamique du paysage, surtout en milieu urbain». 26 «Vor allem im Bundestag seien die Debatten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA häufiger von einer Verbindung von Islam und Terrorismus geprägt gewesen und seltener durch ein Eintreten für religiöse Toleranz. In den Medien seien Berichte mit Fragestellungen zu Ausgrenzung und Terrorgefahren nach den Anschlägen gestiegen. Gleichzeitig sei aber auch weniger von einer Unvereinbarkeit von Islam und dem Westen die Rede.» (dpa 29.11.2006). – Cf. Halm (22008). Halm (22008, 19ss.) lehnt sich mit dem Konzept des Islams als Diskursfeld an Schiffauer (1998, 419s.) an. Dieser wiederum definiert, analog zu Pierre Bourdieu, das Verhältnis von Diskurs und Macht als wichtige Determinante im Prozess des diskursiven Aushandelns: Demnach handeln muslimische und nicht muslimische Akteure in einem Diskursfeld miteinander aus, was der Islam ist und sind Aussagen über das Wesen des Islams
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Wie bereits erwähnt, sind die vorausgehend angedeuteten Verknüpfungen und sprachlichen Handlungsmuster nicht aus dem Nichts entstanden, sondern hängen unter anderem mit Denkbildern und Theorien zusammen, die in der Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Orient diskursiv entwickelt, konventionalisiert und tradiert wurden. Dieser Dimension nehmen sich die Abschnitte 3.1 und 3.2 an: Zunächst werden einige Aspekte der Geschichte der deutschen und französischen Orientalistik skizziert. Ein besonderes Augenmerk gilt hier der Beschäftigung mit bzw. der Diskussion um Inhalt, Art und Verankerung des eigenen Faches. Abschnitt 3.2 nimmt diesen so gesponnenen Faden auf und weitet den Fokus vom fachwissenschaftlichen Diskurs zur literarischen, theologischen und philosophischen Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Orient. Im Rahmen dieses auf eine historische Kontextualisierung²⁷ angelegten Kapitels kann die geschichtliche Dimension freilich nur angerissen und lediglich eine kleine, für die vorliegende Arbeit relevante Auswahl an Denkbildern und Theorien zur Sprache gebracht werden.²⁸
3.1 Orientalistik und Islamwissenschaft Der Begriff ‘Orientalismus’ ist im Englischen (Holdsworth) und im Deutschen (Herder) erstmals 1769 belegt und wird 1835 von der Académie française als Wort anerkannt (Hauser, Brill online 2010). «Über die allg. Beschäftigung mit orientalischen Dingen sowie speziell über die Orientmalerei des 19. Jh. hinaus bezeichnet(e) O. im Frz. und Engl. gerade auch die wiss. Beschäftigung mit dem Or., wofür u.a. im Dt. und Niederländischen der Begriff Orientalistik steht.» (Hauser, Brill online 2010) Bereits 1838 widmet das Dictionnaire de l’Académie française dem Gegenstand ‘orientalisme’ einen eigenen Artikel (Endreß 31997, 20s.). Zwar ist mit Orientalismus im wissenschaftlichen Bereich das Studium des Nahen
als rhetorische Strategien begreifbar. Je nach Einfluss und Macht der Akteure bzw. nach der Reichweite der betreffenden Aussagen im Diskurs wird der Inhalt über den Islam/das Wesen des Islams bestimmt. 27 Dies entspricht nicht zuletzt der Zielsetzung dieser Arbeit, in der es primär um strukturelle und argumentative Strukturen geht, die beim Sprechen bzw. Schreiben über den Islam bzw. die Muslime sichtbar werden. 28 Weiterführende oder ergänzende Literatur zu den in den folgenden Kapiteln behandelten Themenkomplexen: Fück (1955); Hünseler/Haarmann (1981); Rodinson (21991b); Endreß (31997); Aly (2002); Courbage/Kropp (2004); Bernsen/Neumann (2006); Göckede/Karentzos (2006); French Historical Studies (2007); Jankrift (2007); Attia (2007); Poya/Reinkowski (2008); Goer/Hofmann (2008); Bellmann (2009); Kramer (2009).
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wie auch des Fernen Ostens gemeint, doch waren an der 1795 gegründeten Pariser École spéciale des langues orientales vivantes vor allem die Sprachen des Nahen Ostens vertreten. Die Lehrstühle für Arabisch, Persisch und Türkisch waren besonders den Interessen der Wirtschaft und der Diplomatie geschuldet, zugleich wurde damit aber auch «die ‹Orientalistik› im engeren Sinne als akademische Disziplin begründet.» (Endreß 31997, 21) Mit der wachsenden Zahl von Spezialisten wurde der Gedanke eines Zusammenschlusses stärker. 1821 wurde in Paris die Société Asiatique, 1845 in Leipzig die Deutsche Morgenländische Gesellschaft gegründet.²⁹ Ihr Gegenstand war und ist noch immer das Studium der Sprachen und Kulturen des Orients, das heißt vom Alten Orient über den Islam bis zu den Kulturen Indiens und Ostasiens. Seit Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die Islamwissenschaft in Europa (und Amerika) als anerkannte Disziplin durchzusetzen (Endreß 31997, 27), doch blieb nach Haase (1981, 212) der Anteil der «Dilettanten» noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bedeutend. Der Gegenstand der Islamwissenschaft «ist die islamische Religion und Kultur, genauer gesagt: die Art und Weise, wie diese Religion und Kultur sich innerhalb bestimmter Gesellschaften ausprägen und nicht nur Glauben und Praxis der religiösen Muslime bestimmen, sich in Philosophie und Recht, Literatur, Kunst und Architektur niederschlagen, sondern auch auf ihre gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse einwirken.» (Krämer 1997, 422) Die Islamwissenschaft ist eine Subdisziplin der umfassenderen Orientalistik und legt einen größeren Akzent auf eine historisch-kritische Arbeitsweise, als dies beispielsweise in der traditionellen³⁰ Philologie³¹ der Fall ist. Und sie greift, je nach Fragestellung, auf unterschiedliche Methoden aus Bereichen wie der Politik- und Sozialwissenschaft, der Rechts- oder Religionswissenschaft zurück. 1978 publizierte Edward Said sein Buch Orientalism, das zum Gründungswerk für einen neuen Forschungszweig, die Postkolonialen Studien, wurde.
29 Die erste deutsche orientalische Zeitschrift, die Fundgruben des Orients (1811–1819), brachte allerdings nicht die Wissenschaft mit sich, sondern die aufkommende Orientmode (Haase 1981, 210). Herausgegeben wurde die Zeitschrift von Graf Wenzel Rzewusky und Joseph von Hammer (Hammer-Purgstall erst ab 1835). Cf. Fück (1955, 158–166). 30 Die Philologie ist Begründerin der historisch-kritischen Methode – insofern wäre hier eigentlich eher von einer «traditionsvergessenen» Philologie zu sprechen (Schmidt 2009, 299– 305). Cf. Jaumann (1995). 31 Aus diesem Grund gibt es heute an einigen Universitäten die Fächer ‹Arabistik›, ‹Iranistik›, ‹Turkologie›, welche dann die Aufgaben der Philologien übernehmen. So z.B. an der Uni Marburg (cf. die Beschreibung der Aufgaben der Fachgebiete des Centrums für Nah- und Mittelost-Studien der Philipps Universität Marburg, abgerufen am 31.03.2010).
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Angestoßen durch Said hat der Begriff ‘Orientalismus’ am Ende des 20. Jahrhunderts v.a. im angloamerikanischen Bereich einen grundlegenden Begriffswandel erfahren. War ‘orientalism’ traditionell durchaus positiv konnotiert, so impliziert er in der Regel nunmehr die Kritik an einem westlich-kolonialen Diskurs, an falschen, diskriminierenden Vorstellungswelten in Verbindung mit politischer Ungleichheit und Abhängigkeitsverhältnissen (Hauser, Brill online 2010). Saids Kritik richtet sich gegen die Verschmelzung von Wissen und Macht im intellektuellen wie kolonialen Diskurs und somit auch gegen die wissenschaftliche (und hier besonders die französische und britische) Orientalistik, welche das einseitige, in hegemonialem bzw. unhinterfragtem Superioritätsdenken verankerte Islambild noch befördert habe. Neben der Kritik an der Verknüpfung von (akademischem) Wissen und (politischer) Macht ist die Verbindung von Kultur und Politik im Fokus Saids. Seine Herangehensweise an Texte orientiert sich an der Diskursanalyse Foucaults. Durch Orientalism und The World, the Text, and the Critic (1983) wird, so Hauser (Brill online 2010), die Nutzung von Literatur als historische Quelle³² für politisch-ideologische Zustände intensiviert. Saids Thesen wurden und werden vielfach aufgegriffen und immer wieder äußerst kontrovers diskutiert.³³ Nicht immer sind Analyse und Argumentation in Orientalism überzeugend oder die Begrifflichkeiten klar voneinander getrennt,³⁴ doch Saids Auseinandersetzung mit Prozessen der Konzeptualisierung und Typisierung (der Orientale)³⁵, der Alteritätsthematik³⁶ und Dichotomiebildung
32 Das entspräche beispielsweise im Bereich der Geschichtswissenschaft der Einbeziehung von Literatur, bildender Kunst und Musik durch die Neuere Kulturgeschichte. 33 Eine kurze Einordnung des Orientalismusdiskurses, von Saids Orientalism, dessen Hauptthesen und ihrer Rezeption bieten: Castro Varela/Dhawan (2007); Schulze (2007); Hauser (Brill online (2010)). Cf. außerdem: The Edward Said Symposium (25.–27.09.2008); Cultural Critique (2008). 34 Siehe Kapitel 8.1.2: Fußnote 50. 35 Siehe Kapitel 6: Fußnote 18. 36 Anhand der Alteritätsthematik zeigt sich, wie lohnend ein Blick auf damit verknüpfte implizite Argumentationsmuster ist: Sie geben den Ausschlag dafür, ob mit dem als anders wahrgenommenen Gegenüber eine negative oder eine positive Bewertung verbunden wird. So war nach Goer/Hofmann (2008, 7) der deutsche Orientdiskurs des 18. und 19. Jahrhunderts keineswegs durch eine pauschale Ablehnung des Fremden und Anderen geprägt: «Nicht Verachtung und Polemik steht im Zentrum des deutschen Orient-Diskurses des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern Neugier und Respekt sowie Achtung vor dem Gegenüber, das in einer ungeahnten Weise anregen und bereichern konnte». – Die Beiträge des Sammelbands Der Orient, die Fremde von Göckede/Karentzos (2006) setzen sich mit dem Alteritätsbegriff auseinander. Hier finden sich außerdem bibliografische Hinweise zur Beschäftigung mit dieser Thematik in unterschiedlichen Disziplinen. Cf. außerdem Schulze (2007).
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weist auf Aspekte hin, die grundsätzlicher Art³⁷ sind und auch in der vorliegenden Arbeit thematisiert werden. Mit Saids Werk verknüpft ist nicht zuletzt die Frage nach gesellschaftlichem Einfluss und Wirkung der Orientalistik wie auch, ganz allgemein, nach Komponenten und Ursprüngen des vorherrschenden Islambildes, nach der Fokussierung auf den Orient als Denkort des Islams oder eines mystischen Orients als Gegenentwurf zu einem aufgeklärten Westen. Die deutsche und die französische Orientalistik, um die es anschließend gehen wird, hatten traditionell verschiedene Schwerpunkte, die sich (stark vereinfacht) mit einem von der Bibelexegese beeinflussten, philologisch-historischen Ansatz (Deutschland) sowie einer ethnologisch und stärker politisch geprägten, dem zentralistischen Staat verpflichteten Herangehensweise (Frankreich) umschreiben lassen.
3.1.1 Deutschland – Die Entstehung der Islamwissenschaft aus der Orientalistik Reichmuth (2004) greift die soeben erwähnte, von Said kritisierte intellektuelle Tradition, dem Orient auf eine generalisierende Weise zu begegnen, auf und differenziert sie in einem wichtigen Punkt, nämlich dem Aufkommen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Muslimen, ihren Gesellschaften und ihrer Geschichte im 19. Jahrhundert. «[Said’s Orientalism] describes an intellectual tradition of defining and constructing the Orient, of stressing the eternal difference between ‹East and West› and of preparing the way for domination and hegemony over states and societies in the Middle East and other parts of Africa and Asia. It must be stated that, from the era of German Empire and beyond, both the German public and literary and scholarly circles widely shared those sentiments of cultural distance and attraction, of exotic fascination with and, at the same time, unquestioned superiority towards Islam and the Muslim world.
37 Cf. Hauser (Brill online 2010): «Trotz aller Kritik an der theoretischen Grundlegung wie der Ausführung von Saids Beschreibung von O. sind seine Thesen dennoch h. im Kern weitgehend akzeptiert. Saids Überschreiten von etablierten Fachgrenzen, die Nutzung von Lit. zur histor. Interpretation, das Aufzeigen der Nichtkongruenz von Realität und diskursiver Repräsentation stellten sowohl westl. Vorstellungen ‹vom Orient› als auch wiss. Objektivität und Autorität nachhaltig in Frage. Es lenkte den Blick auf Vorurteile und Stereotypisierungen in der Beschreibung anderer Kulturen. Bei aller Auseinandersetzung mit und Kritik an Said ist es, zumindest in der englischsprachigen (akad.) Welt, unmöglich geworden, über die Beziehungen des ‹Westens› (Europa und Nordamerika) zu anderen Teilen der Welt zu sprechen, ohne auf O. Bezug zu nehmen».
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At the same time, both in Germany and in many other European countries, there emerged a tradition of academic research on Muslim societies, their history and culture […] Aims and ideas often rooted in Enlightenment and Romanticism, along with a critical attitude towards one’s own culture and society often come into play here.» (Reichmuth 2004, 129)
Zu der von Reichmuth erwähnten akademischen Forschung gehört beispielsweise die von Julius Wellhausen (von Hause aus Theologe) Ende des 19. Jahrhunderts initiierte methodologische Übertragung der philologischen bzw. historisch-kritischen Bibelexegese auf den Koran (cf. Fück 1955, 223–226).³⁸ Der Koran als geschaffener, historischer und vielschichtiger Text rückte somit ins Zentrum des wissenschaftlichen oder, wie Décobert (2004, 161) es bezeichnet, des philologischen Interesses. Das formale Studium der Sprachen und Texte wurde zum Kernbereich der Arabistik, einer Disziplin, mit der die deutschen sciences orientales laut Décobert einer wichtigen Fachrichtung zur Geltung verholfen haben. Doch die Konzentration auf die Philologie traf von Anfang an nicht auf ungeteilten Zuspruch innerhalb der Orientalistik, wie das Zitat des ungarischen Turkologen Vámbéry zeigt: «Schade, daß unsere Gelehrtenwelt derartigen Publicationen nicht größere Aufmerksamkeit zuwendet, als bisher geschehen; und noch mehr zu bedauern ist, daß man in Deutschland, wo orientalische Wissenschaften am eifrigsten und am gründlichsten betrieben werden, für die praktische Kenntniß des Morgenlandes nicht mehr Verständniß zeigt. Umfangreiche Abhandlungen über ein persisches Particip oder über einzelne Momente der altparsischen Cultur gehören jedenfalls zu den lobenswerthen und nützlichen Unternehmungen; doch ob neben den grammatikalischen Spitzfindigkeiten mitunter auch ein Blick auf das actuelle Persien nicht geboten wäre? – das ist jedenfalls eine berechtigte Frage.» (Vámbéry 1894, 104)
Aus diesem Unbehagen heraus wurde die Islamwissenschaft, ein Teilbereich der Orientalistik, an einem neuen Schwerpunkt ausgerichtet. Eine herausragende Rolle in diesem Zusammenhang spielt Carl Heinrich Becker, der sich in verstärktem Maß kultur- und religionsgeschichtlichen sowie soziologischen Themen widmete.³⁹ Er betrachtete die islamische Welt als «living reality», eine zur dama-
38 Cf. Heidemann (2008). Er arbeitet den wissenschaftsgeschichtlichen Paradigmenwechsel der deutschen Orientalistik – von einer theologischen Hilfswissenschaft zu einer philologisch-historischen Disziplin eigenen Rechts – anhand der Geschichte der Orientalistik an der Universität Jena heraus. 39 Es «gelang ihm zwar nicht die eigenständige Institutionalisierung der Islamkunde an einer deutschen Universität [zu erreichen], doch trug B. unterstützt vom preußischen Kultusministerium die historische und kulturhistorische Methode in die Hochschul-Orientalistik [und
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ligen Zeit wenig verbreitete Einstellung (cf. Becker 1910⁴⁰). Van Ess (1980, 28ss.) sieht besonders darin das Verdienst Beckers – mehr als in dessen wissenschaftlicher Brillanz. Im Gegensatz zu Troeltsch (Theologe und Philosoph), der die islamische Welt einem anderen als dem mediterranen-europäisch-amerikanischen Kulturkreis⁴¹ zuordnete, trennte Becker die islamische Zivilisation Westasiens nicht von der europäischen Zivilisation; beide teilten seiner Meinung nach ein gemeinsames religiöses und kulturelles Erbe (cf. Becker 1922 ⁴²). Diese Sicht-
gilt] daher neben Ignaz Goldziher, Christiaan Snouck Hurgronje und Martin Hartmann als Mitbegründer der Islamkunde oder Islamwissenschaft, die die Orientalische Philologie um kultur- und religionsgeschichtliche wie soziologische Ansätze erweiterte.» (Mangold BBKL online 2010) Bei Mangold (BBKL online 2010) finden sich Angaben zu Beckers Veröffentlichungen sowie Literatur zu seiner Person. – Poya/Reinkowski (2008, 14) merken hinsichtlich der Beschäftigung mit Becker kritisch an, dass Abhandlungen zur Geschichte der Islamwissenschaft sehr auf ihn als zentrale Figur und Begründer der Islamwissenschaft fokussiert seien. 40 Becker (1910, 1ss.) befasst sich hier mit der Vielschichtigkeit des Begriffs ‘Islam’, der als Religion, als Weltreich, als Staatsidee oder Kultur verstanden werden könne, und hebt die Unterscheidung von Ideal bzw. Theorie und (gelebter) Praxis hervor (Becker 1910, 4). – Batunsky (1981) würdigt Beckers Aufsatz und den Versuch, den Islam-Begriff zu differenzieren. Diese Konzeptualisierung sei auch 70 Jahre später (Batunskys Aufsatz stammt aus dem Jahr 1981) aktuell: «So we can say that Becker’s Islamology continues to function still today as an ideologically active paradigm of thought–and should by no means be treated as an exhibit in an intellectual museum» (Batunsky 1981, 307). 41 Troeltsch «cites as the most important cultural circles those of India, China, Pharaonic Egypt, Islamic Western Asia and Mediterranean-European-American circle.» He «defines Islam as the alien and incomprehensible entity that belongs to a different cultural circle». (Johansen 2004, 91; 93). 42 «Nicht als ob Troeltsch etwa verkennte, wie stark die Grundlagen des alten Griechentums und des Christentums im Orient wurzeln – die mittelalterlichen Einflüsse hat er sogar selbst hervorgehoben –; nicht als ob von orientalistischer Seite die entscheidende Einzigartigkeit des hellenischen Denk- und Formwillens und des europäischen Tatwillens bestritten werden sollte – nein, der Unterschied liegt darin, daß der Orientalist – von seiner historischen Warte aus sehend – die islamische Welt nicht loslösen lassen kann von der christlich-abendländischen, daß er wohl mit Troeltsch auf den Boden der Forderung kulturkreishaft geschlossener historischer Entwicklungsreihen treten kann, dann aber in Anerkennung des wirklichen geschichtlichen Ablaufs mit gewissen Einschränkungen die Einbeziehung der vorderasiatisch-islamischen Welt in die europäische fordern muß.» (Becker 1922, 20). – «Das Hauptresultat ist mir persönlich, daß, obwohl der Schnitt zwischen Islam und Europa immer stärker bleiben wird als der zwischen den einzelnen Völkern Europas, wir den Islam zum Aufbau auch der europäischen Kulturgeschichte aus doppelten Gründen einfach nicht entbehren können: wegen der einzigartigen Vergleichsmöglichkeit in bezug auf die Assimilierung des gleichen Erbes und wegen der Fülle der historischen Wechselwirkungen.» (Becker 1922, 35).
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weise ist insofern von Bedeutung, als nach der Kulturkreistheorie⁴³ jeder der verschiedenen Kreise einen abgeschlossenen Raum darstellt, dessen Verständnis Außenstehenden nicht möglich ist:⁴⁴ «Each of these circles having its own history of meaning and the sense of acts and words being culturally mediated, those who do not belong to a cultural circle do not understand the sense of acts and enunciations produced in that culture.» (Johansen 2004, 91) ⁴⁵
Nach dem Zweiten Weltkrieg rückten diese Themen etwas in den Hintergrund. So konzentrierte sich die deutsche Islamwissenschaft erneut auf die alten Traditionen des Historismus und der Philologie (Reichmuth 2004, 131). Nicht zuletzt aufgrund der vorherrschenden philologischen Ausrichtung habe die deutsche Islamwissenschaft erst in den 1960er-Jahren mit einer (interdisziplinären) Öffnung auf den zunehmenden Bedarf an Expertenwissen hinsichtlich politischer und gesellschaftlicher Themen reagiert. Das gesellschaftliche Interesse nahm auch in den Folgejahren zu, so z.B. im Zusammenhang mit der Iranischen Revolution (1978/79) oder hinsichtlich des generellen Zuwachses islamischer politischer Bewegungen sowie den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 – und den darauffolgenden Ereignissen weltweit – setzt sich diese Tendenz fort. Seit den 1990er-Jahren haben Islamwissenschaftler auch in Deutschland einen festen Platz im öffentlichen und medialen Diskurs, eine Entwicklung, die in Frankreich und Großbritannien
43 Ein Werk, das die Kulturkreistheorie in jüngerer Zeit thematisiert und heftige Kontroversen entfacht hat, ist Huntingtons Kampf der Kulturen (2002). 44 Die Vorstellung von sich ausschließenden Kulturen spielte nach Silverstein (2008, 94) in der Kolonialzeit beispielsweise bei Überlegungen zur Integrationsfähigkeit in eine, hier die französische, Zivilisation eine tragende Rolle: «In Nordafrika stereotypisierten Militärwissenschaftler, die sich auf die Argumente solcher Vordenker wie Alexis de Tocqueville (1837–1847) stützen, die arabische Gesellschaft als primär islamisch und nahmen eine Unvereinbarkeit von islamischer Zivilisation und französischer (christlich-weltlich ausgerichteter) Moderne an.» – Eine aktuelle Referenz auf die Kulturkreistheorie in Form des Inkompatibilitätsgedankens ist, wenn auch vom Autor nicht als solche benannt, nach Bunzl (2008, 73) bei Jean-Marie Le Pen oder dem 2002 ermordeten Pim Fortuyn zu finden: «Für sie sind Muslime Träger einer grundlegend anderen Kultur und daher in keiner Weise anpassungsfähig. Um seinen Charakter und seine Größe zu bewahren, muss Europa ihrer Ansicht nach eine Barriere errichten, sei es gegen die Mitgliedschaft der Türkei in der EU oder den weiteren Zustrom von Immigranten aus Nordafrika und dem Nahen Osten». 45 Einem solchen Konzept liegen beispielsweise Haltungen und Einstellungen zugrunde, welche Muslime als dem betreffenden Gesellschaftssystem nicht zugehörig betrachten (Kap. 7.2.2 und 8.1.4) oder aus dem Muslim-Sein bestimmte Argumentationsmuster herleiten, wie dies z.B. beim Deviations-Topos (Kap. 8.1.4) der Fall ist.
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schon früher stattgefunden hatte.⁴⁶ Im Zuge dieser Öffnung der Islamwissenschaft kam es zu Spannungen mit den Medien und in diesem Zusammenhang zur Gründung der Zeitschrift INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten).⁴⁷ Reichmuth sieht für die Islamwissenschaft mehrere wichtige Aufgabenfelder gerade auch im Hinblick auf eine sich wandelnde Gesellschaft. Zu nennen sei hier unter anderem die zunehmende Interaktion zwischen der deutschen Gesellschaft und denen des Nahen Ostens. Im Zuge dessen seien Gemeinschaftsformen, transnational communities, entstanden, aus denen relativ stabile Lebens- und Wirtschaftsmodelle zwischen zwei und mehr Ländern erwachsen seien (Reichmuth 2004, 145). Dazu gehöre außerdem die größer gewordene muslimische Präsenz in Europa und Deutschland sowie im Zusammenleben auftauchende Fragen und Konflikte, die die Normen der Scharia in einem nicht muslimischen Land betreffen (Reichmuth 2004, 143s.). Um diesen Herausforderungen adäquat zu begegnen, bedarf es laut Reichmuth zuallererst der innerdisziplinären Auseinandersetzung um eine noch fehlende adäquate komparative Terminologie. Erschwert werde dies allerdings durch den Graben, der zwischen den beiden in der deutschen Islamwissenschaft herrschenden Ansätzen bestehe. Dabei handle es sich – stark vereinfacht – um: (1) A comparative and interdisciplinary approach (2) The insistence on uniqueness and alterity of Islam and the Orient (Reichmuth 2004, 141)⁴⁸
46 Reichmuth (2004, 134): «Germany thus attained a situation that had long been common in France and Britain. This could be seen in crisis following September 11 and before and during the Gulf War in 2003, when the media regularly asked Orientalists for interviews or other contributions». 47 Ganz unabhängig von der inhaltlichen Berechtigung dieser Differenzen ist ein derartiger Vorgang auch im Zusammenhang mit dem sogenannten hostile media effect zu sehen. Dieses Phänomen, das in einer Studie von Vallone/Ross/Lepper (1985) als solches benannt wurde, bezieht sich auf den Eindruck der Angehörigen/Anhänger bestimmter Gruppen, die Berichterstattung sei verfälscht bzw. gegen ihre spezifische Meinung/Sichtweise eingenommen: «Our results provide a compelling demonstration of the tendency for partisans to view media coverage of controversial events as unfairly biased and hostile to the position they advocate. Our results also highlight two mechanisms – one apparently evaluative or cognitive, the other apparently more perceptual in character – that combine to produce the partisans’ conviction that they have been treated unfairly» (Vallone/Ross/Lepper 1985, 584). 48 Cf. in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit diesen beiden Ansätzen bzw. dem Fremden von Nagel (1998) sowie Mangolds (2008) Anmerkungen zur deutschen Orientalistik im frühen 19. Jahrhundert und ihrem Orientbild.
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Gerade der zweite Ansatz, nämlich das Beharren auf der Einzigartigkeit («uniqueness») von Islam und Orient sowie die Hervorhebung der Andersartigkeit im Vergleich zu nicht muslimischen, westlichen Ländern, taucht in der Textanalyse im Zusammenhang mit Textstrategien und Topoi auf, die sich als strukturierende Elemente der Berichterstattung herausgestellt haben.⁴⁹
3.1.2 Frankreich – Meilensteine des orientalisme français Bereits im Mittelalter gab es Studien zum Arabischen, besonders in Zusammenhang mit Übersetzungen (Laurens 2004, 103). Das Interesse an den orientalischen Christen, zusätzlich befördert durch die Kontroversen im Zuge der querelle janséniste (Laurens 2004, 104) führte zur Entdeckung syrischer und arabischer Texte. Der Wunsch, diese zu edieren, machte den Mangel an französischen Spezialisten deutlich und leistete der Etablierung der Orientalistik als wissenschaftliche Disziplin Vorschub.⁵⁰ Sie bildete sich schließlich im 17. Jahrhundert heraus. Charakteristisch für diese erste Phase waren ein humanisme érudit (Gelehrtenhumanismus), die Einordnung orientalischer Werke als Weiterführung der griechisch-römischen Literatur, eine vollkommen ahistorische Vorgehensweise sowie ein Schwerpunkt auf den großen muslimischen Enzyklopädien⁵¹ (Laurens 2004, 106).⁵² Für die damalige französische Orientalistik bezeichnend war außerdem die Vorstellung einer gelehrten Forschung als Beitrag an einem höheren Prestige des Staates – ohne dass jedoch pragmatische Aspekte politischer und wirtschaftlicher Art unberücksichtigt geblieben wären. Dazu gehörte beispielsweise die Ausbildung zum sogenannten Dragoman oder Drogman, einer Berufsgruppe, die als Übersetzer in der Wirtschaft oder im diplomatischen Dienst eingesetzt wurde.⁵³ Der Beitrag der Orientalisten im 17. Jahr-
49 Dieser Ansatz betrifft die Textstrategien der Dichotomiebildung (Kap. 6.1.1) und der Homogenisierung (Kap. 6.1.2.2). Auch das immer wieder thematisierte Alteritätskonzept (i.a. Kap. 6.1.4, 7.2.7 und 7.2.8) knüpft daran an. Ebenso lassen sich Topoi wie der Demokratieuntauglichkeits-, der Schutz- oder der Bart-Topos (Kap. 8.1.3) dazu in Bezug setzen. 50 Um diesen Mangel auszugleichen, werden zunächst Maroniten aus Rom nach Frankreich geholt. 51 Zu arabisch-islamischen Enzyklopädien des Mittelalters: Biesterfeldt (2002) und (2004). Siehe außerdem: Pellat (1966). 52 Im frühneuzeitlichen Frankreich bzw. im französischen Sprachraum zwischen 1600 und 1800 gab es eine bedeutende Tradition der Enzyklopädistik. – Zu Funktion(en) und Geschichte der Enzyklopädie allg.: Meier (2002); Stammen/Weber (2004). 53 Zu Funktion und Ausbildung (in Frankreich, Österreich und der Niederlande), zu Dragoman-Dynastien und einzelnen Biografien: Gautier/de Testa (2003); siehe außerdem: Hitzel (1997).
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hundert war, so Laurens, beachtlich. Dies sei abzulesen an der geschaffenen Basis für wissenschaftliche Studien sowie an einer direkten Beeinflussung der europäischen Literatur, wie z.B. den Fabeln La Fontaines (Laurens 2004, 106). Das Wissen über orientalische Gesellschaften wurde jedoch nicht nur durch Wissenschaftler und Dragomane vergrößert, sondern auch durch die zahlreich erschienenen Werke der Reiseliteratur sowie die Werke katholischer Missionare, deren Denkansätze und -bilder mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingang in das Sprechen über den Islam und den Orient gefunden haben.⁵⁴ Im 18. Jahrhundert veränderte sich die dominierende ahistorische Perspektive, Geschichtlichkeit und interpretative Ansätze erhielten in der französischen Orientalistik mehr Aufmerksamkeit. Die Komparatistik war dabei als Methode und Herangehensweise vorherrschend: «[Le comparatisme devient une démarche systématique] qui donne à l’orientalisme sa justification d’instrument indispensable pour comprendre l’‹exceptionnalité› européenne. La prise de conscience d’une disproportion croissante entre le monde européen et les autres mondes fait émerger l’idée de progrès comme mouvement propre de l’Europe dans l’histoire. Pour déterminer ce mouvement, il faut des éléments de référence, qui ne peuvent être que le passé de l’Europe, et les civilisations orientales maintenant définies comme étant du passé dans le présent. La spécificité de la voie européenne est ainsi illustrée par ce que les Orientaux n’ont pas fait (par exemple adopter l’imprimerie) et on passe bientôt à l’idée de ce qu’ils n’ont pas encore fait et de ce qu’ils doivent faire. [Hervorhebung D.W.]» (Laurens 2004, 109)⁵⁵
54 Stagl (2002) zählt das Reisen zu einer der Urformen menschlichen Forschens. In seiner Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800 [Neugier hier verstanden als Versuch, «sich in der Welt zu orientieren und deren Ordnung zu verstehen» (Stagl 2002, 7)] widmet er sich den Formen frühneuzeitlicher Sozialforschung. Ihre Systematisierung in der Epoche zwischen 1550 und 1800 führte laut Stagl (2002, 10) unter anderem zur Herausbildung neuer Wissenschaften (Völkerkunde, Volkskunde, politische Wissenschaft, Nationalökonomie, Soziologie). 55 Laut Heller (1981, 223) formte sich das Bild des modernen Orients im Bewusstsein des westlichen Betrachters in verschiedenen Phasen, «wobei das Fremdbild gleichzeitig immer auch eine Selbstdarstellung Europas bzw. der westlichen Welt bedeutete: In der ersten Phase fand eine Mythologisierung des Orients als Gegensatz zum Abendland statt. […] Als Gegensatz zur [westlichen] aufsteigenden, dynamischen Gesellschaft wurde der Orient als stagnierende Zivilisationsstruktur empfunden und gewertet.» – Problematisch ist der Aufsatz Hellers aufgrund der unausgewogenen Darstellungsweise: Was die Autorin einerseits hinsichtlich der Stereotypisierung von und den Vorurteilen gegenüber den Arabern kritisiert, wendet sie im Gegenzug auf die Israelis an: «Daß selbst vermeintlich ‹aufgeklärte› Abendländer massive Vorurteile und ganz bestimmte Vorstellungen vom ‹Wesen› und ‹Charakter› des Arabers haben, beweisen Bücher wie ‹The Arab Mind› [Raphael Patai, The Arab Mind, New York, Scribner, 1973; John Laffin, The Arab Mind, London, Cassell, 1975]. Die Tatsache, daß einer der Autoren Israeli
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Die zitierte Passage unterstreicht den Stellenwert und die Auswirkungen der vergleichenden Perspektive. Das Eigene wurde demnach zu einer als fremd und anders wahrgenommenen Größe in Bezug gesetzt und somit eine Dichotomiebildung gleich auf mehreren Ebenen befördert: Im Studium des anderen wurde nicht nur die eigene Außergewöhnlichkeit («l’‹exceptionnalité› européenne»⁵⁶) bestätigt, mit der Reflexion über die Geschichte wurde auch die Einzigartigkeit des europäischen Weges verknüpft («l’idée de progrès comme mouvement propre de l’Europe dans l’histoire»). Dies führte nicht zuletzt zu der Annahme, die orientalischen Gesellschaften befänden sich (in der Gegenwart) in einem Zustand der Vergangenheit, den es zu überwinden gelte («l’idée de ce qu’ils n’ont pas encore fait et de ce qu’ils doivent faire»).⁵⁷ In dieser Phase des systematischen Vergleichens wurden Theorien formuliert, die bis heute fortwirken bzw. diskutiert werden. Exemplarisch seien hier zwei von Laurens erwähnte Prozesse der Konzeptbildung genannt: (1) die Veränderungen der Theorie des Despotismus («les transformations de la théorie du despotisme») sowie (2) die «Erfindung der Araber («l’invention des Arabes»). Beide Male war die eigene Situation und Sichtweise für die Herausbildung und Formulierung der Konzepte das bestimmende Moment. (1) Bei der Reflexion über Beschaffenheit und Folgen des orientalischen Despotenstaates ging es nicht um einen ganz bestimmten Staat, sondern um die Beschäftigung mit dieser Staatsform an sich.⁵⁸ Sie wurde im wissenschaftlichen
ist, mag ein zusätzliches Motiv für manche Verzerrung sein [Hervorhebung D.W.].» (Heller 1981, 222s.) Die beiden nachfolgenden Bemerkungen rekurrieren auf Verschwörungstheorien, die zweite Hervorhebung des ersten Satzes bezieht sich auf die Rolle der Interpunktion (cf. zur wertenden Rolle von Anführungszeichen die Kapitel 7.2.9 und 7.2.11): «Was in den übrigen westlichen Ländern eine wohlorganisierte proisraelische Lobby zuwege brachte, ergab sich hierzulande aus der ‹besonderen Situation› der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Staat Israel selbst [Hervorhebung D.W.]». (Heller 1981, 226); «Bei mangelnder Konformität in Sachen Israel gab es selbst nach 1973 in den Rundfunkanstalten noch Versuche der israelischen Lobby [Hervorhebung D.W.], über die Aufsichtsgremien Disziplinarverfahren einzuleiten und damit solche Journalisten mit dem Vorwurf mangelnder Objektivität bzw. des Antisemitismus zu disqualifizieren und abzuschrecken». (Heller 1981, 230). 56 Zu Einsatz und Wirkung von Satzzeichen: Kapitel 7.2.11. 57 Elemente des von Laurens benannten Diskurses (cf. besonders die im Zitat hervorgehobenen Aussagen) finden sich in Form verschiedener Argumentationsmuster auch in den Pressetexten wieder: Cf. i.a. Defizit- und Demokratie-Topos (Kap. 8.1.2), Entwicklungs- und Aufklärungs-Topos (Kap. 8.1.4). – Siehe außerdem die Topos-Einteilung im Kapitel 8.2, nach der sich die überwiegende Anzahl der Argumentationsmuster der primär handlungsanweisenden Kategorie zuordnen lassen. 58 Cf. zur Thematik ‘orientalische Despotie’: Hauser (Brill online 2010) sowie Bellmann (2009). Nach Bellmann (2009, 173), die die Entstehung europäischer Bilder vom Orient und von
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Diskurs zunächst mit dem Bild von Macht und bürokratischer Effektivität verknüpft. Beeinflusst wurde diese Sicht vom im Bewusstsein präsenten Gefühl der Bedrohung durch das Osmanische Reich.⁵⁹ Angereichert wurde die Debatte durch Beiträge zeitgenössischer Autoren, so z.B. Charles Louis de Secondat de Montesquieu und Voltaire. Die Beschäftigung mit dem orientalischen Despotenstaat diente hier nicht primär der Analyse eines fernen Phänomens, sondern in erster Linie der Auseinandersetzung mit den Strukturen des auf der Monarchie beruhenden europäischen Staatenmodells.⁶⁰ Als ein Beispiel dieser Art von Verschiebung wird gemeinhin Montesquieu genannt: Dessen Ziel sei es nicht gewesen, eine spezifisch orientalische Herrschaftsform zu analysieren, sondern aufzuzeigen, dass der absolutistische europäische und französische Staat eine Orientalisierung (orientalisation) des politischen Systems sei, welche der moderaten Natur der Europäer widerspreche, die sich auf ganz selbstverständliche und natürliche Weise der (aristokratischen) Freiheit zuneigten (z.B. Laurens
Arabien in der Antike untersucht, wird das Inhaltsstereotyp «Orientalen sind despotisch» in verschiedenen Kontexten je unterschiedlich (argumentativ) eingesetzt: 9. Jh. v.Chr. Griechen stellen diese Eigenschaft ihrer Nachbarn gelassen fest – sie fühlen sich mit ihnen als Teil einer Welt
4. Jh. v.Chr. Griechen grenzen sich mit der Aussage ab – und betonen damit ihre demokratische Staatsordnung
1. Jh. n.Chr. Römer denunzieren mit der Aussage die feindlichen Parther im Kontrast zu ihrer eigenen Staatsordnung
12. Jh. n.Chr. Im ‹König Rohter› ist der despotische Orientale ein Grieche, der dem ‹besseren› römisch-deutschen König gegenübergestellt wird
59 «Cette vision vient de la menace ottomane si forte au xvie siècle et encore largement présente au xviie siècle. Elle est alimentée par la littérature de voyages. En même temps, le discours sur le despotisme est une projection, un transfert, à l’intérieur du grand débat européen sur la constitution de l’État dit absolutiste. En tant qu’entité extérieure et ennemie, l’État oriental despotique peut être attaqué sans grand risque, même s’il est clair qu’il ne s’agit là que d’un travestissement de l’État monarchique européen.» (Laurens 2004, 110). 60 «Dass der Orientalismus zu einem integralen Bestandteil einer ‹okzidentalen› Selbstbehauptung wurde, zeigte sich schon im 18. Jahrhundert, als französische Aufklärer wie Bougainvilliers, Montesquieu und Voltaire den Orient als intellektuelle Gegenwelt erschufen, mittels derer sie die absolutistische Herrschaft der Bourbonen kritisieren konnten. Solche Gegenwelten waren auch in England und Schottland populär: Gerade in der deistischen Kritik an der anglikanischen, katholischen und teils auch puritanischen Theologie wurde der Islam als ‹aufgeklärte, natürliche Religion› aufgefasst. Die Gegenweltlichkeit des Orients war zum Ende des 18. Jahrhunderts fest etabliert, unterschiedlich war nur die Wertung der Gegenwelt. Für deutschsprachige Schriftsteller wie Herder, Goethe und Schlegel war der Orient als spiritueller Ort fest definiert, dessen Texte vor dem Zugriff der rationalistischen Aufklärung sicher seien und allen zur Verfügung stehen würden.» (Schulze 2007, 50).
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2004, 110).⁶¹ Gegen Ende des 18. Jahrhunderts änderte sich diese Schwerpunktsetzung: Die Diskussion um Theorie und Modell des orientalischen Despotenstaats wurde nicht mehr zur Kritik am eigenen Staat herangezogen; er galt vielmehr als Inbegriff der Unproduktivität⁶² und als wesentliche Ursache für die Rückständigkeit des Orients. Die betreffenden Gesellschaften seien aufgrund dieser Herrschaftsform in einer Situation der Stagnation gefangen, die schließlich zu ihrem Verfall geführt habe.⁶³ Diese Situation durch fremdes Eingreifen zu überwinden, wurde schließlich zu einem wichtigen Argument für die europäische Expansionspolitik, die es zu ihrem Ziel erklärte, die seit dem 16. Jahrhundert zum Osmanischen Reich gehörenden arabischen Gebiete von den Türken zu befreien. (2) Im Fall dessen, was man nach Laurens (2004, 112) die Erfindung der Araber nennen könnte, ging es ebenso wenig um real existierende Araber⁶⁴ wie oben um einen spezifischen orientalischen Despotenstaat. Vielmehr handelt es sich hier um die Konzeptualisierung einer Gruppe, über die im 17. und 18. Jahrhundert nur vage und schemenhafte Vorstellungen existierten: «Chez les voyageurs des XVIIe et XVIIIe siècles, les notions ethniques sont confuses, ce qui reflète l’indétermination de ce type d’identité dans la réalité ottomane. Le plus souvent le terme de ‹Turc› est utilisé dans le sens de ‹musulman› et, assez correctement, celui d’Arabe renvoie aux Bédouins. La définition ethnique des Arabes passe, non pas par la connaissance immédiate des voyageurs, mais par la reconstruction érudite des savants.» (Laurens 2004, 112s.)
61 Es ließen sich mit Sicherheit auch aktuelle Themen finden, bei denen eine vergleichbare Strategie der Verschiebung eingesetzt wird. Kontroverse Themen oder Tabus werden dann anhand eines anderen (gesellschaftlichen, kulturellen oder historischen) Kontextes erörtert. Und auch auf der psychologischen Ebene gibt es eine Strategie der Verlagerung, hier Projektion genannt. 62 «Etwas ketzerisch könnte man hier anmerken, dass möglicherweise hinsichtlich des Zustands des französischen Staates ‹à la veille de la Révolution› Unproduktivität (Ludwigs XVI.) und Staatskritik durch das genannte Modell zusammenzubringen wären». (Bernward Schmidt, Historiker und Theologe, 19.03.2010, in einer E-Mail an die Verfasserin). 63 «Dès les années 1750, la perspective change. L’État despotique oriental est perçu comme improductif par essence. Il enferme la société orientale d’abord dans une stagnation puis dans une décadence continue car son rendement global ne peut que décroître (manque d’investissements et déresponsabilisation générale). Il n’est plus présent comme travestissement de l’État absolutiste européen (après tout ce dernier peut se transformer en despotisme éclairé), mais comme explication du retard de l’Orient et donc de l’avance de l’Europe (à partir du Condorcet tardif des années 1790, on utilisera aussi ‹Occident›).» (Laurens 2004, 110s.). 64 Zur Definition der Araber und zur Diskussion dieses Begriffes bzw. Konzeptes: Lewis (1995); Rodinson (21991a).
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In einer Zeit der politischen Kontroverse bekamen nun die Araber einen neuen und wichtigen Stellenwert. Die oben bereits erwähnte Befreiung unterdrückter Völker von einem Despoten war ein Argument, das im Zusammenhang mit der Legitimation für eine Expansionspolitik vorgebracht wurde.⁶⁵ (Der Kreuzzugsgedanke war seit der Aufklärung als Argumentationsbasis nicht mehr tragbar.) Durch wiederholte Thematisierung bekommt eine zuvor vage Vorstellung scheinbar eindeutige Konturen – ‘die Araber’ schienen nunmehr als homogene Gruppe fassbar zu sein.⁶⁶ In dieser Situation, in der die Begründung europäischen Expansionswillens verhandelt wurde, treten Wissenschaftler als solche nicht in Erscheinung, wohl aber wurden beständig ihre Werke für argumentative Zwecke herangezogen.⁶⁷ Im komplexen Prozess dieser Konzeptbildung war eine Ethnisierung der Debatte zu beobachten – obgleich diese Sicht der orientalischen Denkweise nicht entsprach. Hinzu kam ein durch die Aufklärung verändertes Geschichtsbewusstsein,⁶⁸ das nicht nur Auswirkungen auf die Deutung des Ancien Régime bzw. des europäischen Staatenmodells als solches hatte, sondern auch die Wahrnehmung der Araber beeinflusste. Und nicht nur die Wahrnehmung der Araber: Verkürzt gesagt, wurde hier die ethnische Perspektive auf den Orient bzw. das Osmanische Reich und seine Strukturen übertragen, die hiesige Sichtweise also auf die dortigen Verhältnisse projiziert. Die Herausbildung einer Vorstellung bzw. eines Diskurses wird durch das Zusammenspiel höchst unterschiedlicher Aspekte beeinflusst und getragen. Anhand der oben erwähnten Beispiele bzw. der Situation der französischen Orientalistik während der Aufklärung ist laut Laurens (2004, 114) außerdem eine spezifische Eigenheit dieser Disziplin zu beobachten: Einerseits sei sie Ausdruck und Antwort auf das Bedürfnis gewesen, Wissenslücken zu schließen und somit aktiver Bestandteil gesellschaftlicher Debatten – mit allen politischen Implikationen, die dies bedeutet habe –, andererseits habe man sie zur Legitimation
65 Le «despotisme militaire des Turcs opprime les populations indigènes de l’Empire, Arabes, Kurdes, Arméniens, Grecs, Slaves, etc.» (Laurens 2004, 114). 66 Cf. das Prinzip der Homogenisierung (Kapitel 6.1.2.2). 67 «L’analyse fine du processus de l’invention des Arabes montre que les savants ont joué un rôle essentiel dans les premières étapes (histoire de la conquête arabe et des califats arabes et théorie des invasions). Cet apport a été ensuite repris par la littérature de vulgarisation scientifique, due surtout à des polygraphes, et par les philosophes donnant un sens à l’histoire tout en préparant la lutte contre l’‹infâme›. Enfin le contenue ethnique a été parachevé dans la perspective d’une expansion européenne se posant en entreprise de libération.» (Laurens 2004, 114). 68 Biblische und christliche Bezüge verloren an Gewicht, wohingegen die Römer und Griechen als Vorfahren immens an Bedeutung gewannen.
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im politischen Kräftefeld wie auch im Sinne geopolitischer Interessen instrumentalisiert. (Diese Tatsache ist allerdings kein Spezifikum der Orientalistik als solcher. Auch andere Disziplinen wurden zu unterschiedlichen Zeiten und zu unterschiedlichen Zwecken instrumentalisiert.) Während und nach der Restauration (1814/15–1830) befand sich die französische Orientalistik in einem starken Aufwärtstrend, einer Renaissance orientale (Laurens 2004, 116). Es wurden beispielsweise die großen orientalischen Kulturen der Antike als Forschungsobjekt entdeckt, was natürlich auch im Zusammenhang mit Napoleons Ägyptenfeldzug stand (1798–1801). Gleichzeitig wurde die orientalische Literatur – und zwar «du domaine arabe à l’Inde» – erneut zu einer Inspirationsquelle der europäischen Literatur (Laurens 2004, 116). Im Zuge dieser Entwicklung bildete sich ein literarischer und künstlerischer Orientalismus heraus, den es von der wissenschaftlichen Orientalistik zu unterscheiden gilt.⁶⁹ Die Entdeckung der Verwandtschaft der indoeuropäischen Sprachen führte in Frankreich wie auch in Deutschland verschiedentlich zu Studien und Theorien, welchen die Dichotomie semitisch-arisch («le génie aryen et le génie sémitique») zugrunde lag. Diese wurde häufig nicht nur im sprachwissenschaftlichen, sondern auch im rassischen Sinne verstanden.⁷⁰ Laut Römer (1985, 60) fand das Wort ‘semitisch’ so «Eingang in die Ethnologie und schließlich in die Rassenideologie. Es wurde genau wie arisch, indogermanisch und germanisch aus einer Sprachenbezeichnung ein Rassenname.» Mit dem 20. Jahrhundert begann schließlich das «Zeitalter der Experten»⁷¹ (Laurens 2004, 123ss.). Dies galt ab 1911 auf dem Gebiet der Kolonialpolitik, besonders auch während des Zweiten Weltkriegs, als Orientalisten zu wichtigen und gefragten Beratern wurden, und schließlich – häufig mehr den äußeren Ereignissen als einer bewussten Entscheidung geschuldet – im Prozess der Dekolonialisierung (ab 1945). Die Unabhängigkeitsbewegungen haben die Wissenschaftler demnach nolens volens durch den Versuch, die Geschichte orts-
69 Im Deutschen ist diese Trennung auch auf der begrifflichen Ebene möglich, das Französische hingegen kennt, wie eingangs erwähnt, diese terminologische Unterscheidung nicht. Inwieweit sich Denkbilder und Topoi dieser beiden Bereiche ähneln bzw. wo sie sich unterscheiden, kann an dieser Stelle nicht näher behandelt werden. Weiterführende Informationen bieten unter anderem die in der Fußnote 28 angeführten Veröffentlichungen. 70 Diese Unterscheidung wird nicht zuletzt im Kolonialdiskurs als Rechtfertigung herangezogen: «Dans la seconde moitié du XIXe siècle, les administrateurs justifient l’œuvre colonisatrice en ayant recours au discours des devoirs de la race supérieure ‹aryenne› envers les races inférieures (sémitiques).» (Laurens 2004, 119). 71 Cf. Rolle und Funktion der Referenz auf Experten in Pressetexten (Kap. 7.2.1).
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ansässiger Kulturen und Gesellschaften zu dokumentieren, mit vorbereitet.⁷² Eine unbeabsichtigte Folge des Versuchs, authentisches Kulturgut so weit wie möglich zu beschreiben und so zu bewahren war, dass bereits in Vergessenheit geratenes kulturelles Erbe auch von Einheimischen wiederentdeckt wurde und sich neue Interpretationen und Sichtweisen der Geschichte des Orients ergaben; dies stärkte schließlich den aufkommenden Nationalismus (Laurens 2004, 118). Die im Zusammenhang mit der Aufklärung bereits erwähnte Präsenz von Orientalisten in gesellschaftlichen und politischen Debatten betrachtet Laurens als eine Kontinuität in der Geschichte der französischen Orientalistik und sieht darin auch ein Spezifikum, das heute noch gilt.⁷³ Diese Präsenz sei weitaus höher anzusiedeln als ihre Implikation im rein intellektuellen Diskurs, welcher durch die Integration verschiedener Ansätze und Perspektiven⁷⁴ mehrschichtiger geworden sei. Und daher, so lässt sich aus der Position Laurens’ wie auch vor dem Hintergrund des Geschilderten folgern, können in innerdisziplinären Debatten verhandelte Denkbilder und Argumentationsmuster auch über den Fachdiskurs hinaus Wirkung entfalten.
3.2 Stichpunkte zu einer literarischen, philosophischen und theologischen Auseinandersetzung mit Islam und Orient Die Strategien der Selektion und der Generalisierung gehören zu einem Bündel von Vorgehensweisen, die wir benötigen, um uns die Welt anzueignen und nicht von einem Übermaß an Reizen überflutet zu werden. Hinzu kommen vorgeprägte Denkbilder, die den Umgang mit (neuer) Information erleichtern. Im Kontakt mit einem als fremd und anders eingeordneten Menschen oder Phänomen greifen zusätzlich die Regeln der Gruppendefinition sowie der Abgrenzung und spielen Fremd- bzw. Selbstbilder eine nicht unerhebliche Rolle. Derartige
72 Das Interesse an diesen Kulturen und ihren Stadien hat verschiedene Ursachen. Stichwortartig zu nennen sind z.B. die Autoren der Romantik oder das Konzept vom ‘Edlen Wilden’ (cf. Rousseau 2008). 73 «La situation d’aujourd’hui se rattache donc à une tradition pluriséculaire où l’orientalisme français trouve sa spécificité dans le besoin de savoir, l’ancrage dans l’appareil d’État et le service du Prince, la participation aux grands débats du temps et la réponse à une demande sociale de plus en plus exigeante». (Laurens 2004, 128). 74 Zu nennen sind hier sozioökonomische Aspekte, der seit den 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre vorherrschende Strukturalismus, Elemente der Anthropologie und der Psychoanalyse sowie die nahezu generelle Ablehnung essenzialistischer Perspektiven (Laurens 2004, 128).
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Denktraditionen reichen, wie vorher gezeigt wurde, oftmals sehr weit zurück, und ihre Ursprünge lassen sich nicht immer ohne Weiteres rekonstruieren. Das soll in diesem Zusammenhang auch gar nicht versucht werden. Aber der Blick in die Geschichte zeigt, dass es Kontinuitäten in der Wahrnehmung des Islams bzw. der Muslime gibt, die sich häufig in den Denkbildern wiederfinden, die den argumentativen Aufbau der Pressetexte beeinflussen. Es geht bei dieser Untersuchung allerdings nicht um die Bewertung des wie auch immer gearteten Wahrheitsgehalts verschiedener Topoi, sondern zu allererst um die Sensibilisierung für diskursive Kontinuitäten – welche nicht zuletzt die Rezeption der Welt elementar mitprägen. Die Entwicklung und Auseinandersetzung der Islamwissenschaft/Orientalistik mit ihrem Studienobjekt und damit zusammenhängende Vorstellungen wurden im Abschnitt 3.1 skizziert. In Anlehnung an Cardini (2000) greife ich nachfolgend exemplarisch einige wenige Momente heraus, die für die Herausbildung gewisser Denkbilder tragend und in weiterer Konsequenz für die Anwendung bestimmter Textstrategien und die Tradierung von Argumentationsmustern von Bedeutung sind. «In der jahrhundertealten Geschichte des Islam gab es, wie wir wissen, nur kurze und seltene Momente einer echten Einheit. Im Mittelalter aber glaubte man, daß sich die Muslime in einer Weise einig wären, die die Einheit der Christen bei weitem überbot. Uns dagegen, die wir aus der Distanz die Dinge besser beurteilen können, scheint es, als sei diese Fehleinschätzung des mittelalterlichen Europa beinahe – wenn auch bloß zufällig – gerechtfertigt: Die islamische Expansion in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts umfaßte ein von al-Maghrib al-Aqsā (dem ‹Fernen Okzident›, also Marokko) bis zur Grenze Chinas und von Anatolien bis zum Horn von Afrika reichendes Gebiet.» (Cardini 2000, 22s.)
Die Ergebnisse der Textanalyse zeigen: Nicht nur im Mittelalter war die Existenz eines einheitlichen Islams eine gängige Vorstellung, anhand derer Informationen eingeordnet und auf Grundlage derer Texte und Argumentationsmuster strukturiert wurden. Dies betrifft Textstrategien und Assoziationsketten (Kap. 6–7) ebenso wie verschiedene Argumentationsmuster (Kap. 8). Auch bei der Verdichtung zu einem Bild oder der Relevantsetzung eines bestimmten Merkmals für ein Ganzes⁷⁵ wird generalisiert und reduziert. Eine spezifische Funktion bei der Auseinandersetzung mit der Welt und eine wichtige Rolle in der diskursiven Herausbildung und Vermittlung derartiger Denkbilder spielt nicht zuletzt
75 Aus der Literatur wären hier beispielsweise ‘die böse Stiefmutter’ oder der Balzac’sche ‘l’Avare’ zu nennen.
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die Literatur.⁷⁶ Die Epen beispielsweise, die im weltlichen Umfeld der Kreuzzüge entstanden, waren an ein Publikum von illitterati⁷⁷ gerichtet, und die darin vorkommende Darstellung der Heiden ist geprägt von propagandistischen Zügen. Ein sehr anschauliches und in Form und Wirkung herausragendes Beispiel ist die poetische Umdeutung der Schlacht von Roncisvalle/Roncesvalles, von der das Rolandslied berichtet: Nach anfänglichen Erfolgen brach Karl der Große einen Kriegszug gegen die spanischen Mauren ab (778). Während des Rückzugs kam es in der Schlucht von Roncisvalle zu einem Massaker an der fränkischen Nachhut.⁷⁸ In der literarischen Bearbeitung dieses Vorfalls, nach Cardini eine Art Trauerarbeit oder – um mit Nolting-Hauff (1978, 435) zu sprechen – eine «sagenhafte […] Deformation der historischen Fakten», wurden wesentliche inhaltliche Verschiebungen vorgenommen (Nolting-Hauff 1978, 438ss.). Zu den auffälligsten gehören: (1) Die Umdeutung des dreimonatigen erfolglosen Spanienfeldzug Karls zu einer siebenjährigen Eroberungsphase, im Zuge derer das ganze Land unterworfen wurde. (2) Die Privatisierung der komplizierten diplomatischen Vorgeschichte des Feldzugs und ihre Verlagerung in einen familiären Kontext. (3) Die Stilisierung des Überfalls, bei dem die gesamte fränkische Nachhut vernichtet wurde, zu einer Schlacht von welthistorischen Ausmaßen und die Heroisierung der zum größten Teil unhistorischen Charaktere. (4) Die Umdeutung der Angreifer: Aus den baskischen Bergbewohnern wurden Mauren, aus den christlichen Angreifern somit Muslime.
76 Neben der Literatur sind Geschichtsschreibung und Schulbuchforschung ein mögliches Feld, um die Konstituierung, die Tradierung und Veränderungen von Diskursen zu untersuchen. Cf. das Forschungsprojekt Mythos Kreuzzüge: Die Konstruktion der Nation und Europas im Geschichtsdiskurs zwischen 1780–1918 des Georg-Eckert Instituts für internationale Schulbuchforschung (19.01.2010a), die deutsche und französische Historiografie und die jeweiligen Schulbücher im Hinblick auf Kreuzzugsdarstellungen und -narrative, Nationalstaatsdiskurse, Transferprozesse verschiedener Art sowie damit zusammenhängende Islamdarstellungen untersucht: «Aus dem bis jetzt gesichteten Material wird deutlich, dass in den durch deutsche und französische Lehrbücher vermittelten Geschichtsbildern zu den Kreuzzügen Heldenepen generiert wurden, in denen sich nationale, europäische und religiöse Identitätspolitiken in der Abgrenzung vom ‹Anderen› konstituierten. Dieser ‹Andere› wurde wahlweise von Muslimen, von orthodoxen Christen oder Juden, aber auch von Arabern, Türken oder Griechen verkörpert. Das Projekt rekonstruiert, wie sich die jeweils dominanten Kreuzzugsnarrative in die longue durée von europäischen Islamdarstellungen von der frühen Neuzeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts einordnen lassen». 77 Ein Publikum aus illitterati bedeutet hier nicht eine ungebildete Zuhörerschaft, sondern, dass es sich dabei (primär) um nicht schriftkundige Menschen handelte. 78 Zum historischen Geschehen: Riché (2003, 146–148).
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Der Kampf wird auf diese Weise religiös aufgeladen⁷⁹ und die militärische Niederlage zum Märtyrertum stilisiert. Das «bescheidene […] Scharmützel [verkörpert] über die Jahrhunderte hinweg» in und durch die epische Dichtung den «symbolträchtigen Ausgangspunkt eines langen, jahrhundertelangen Kampfes zwischen Christenheit und Islam». (Cardini 2000, 67) Nach Nolting-Hauff (1978, 445) stellt die in Etappen vor sich gehende Veränderung des geschichtlichen Kerns des Rolandliedes eine Art Kompromissbildung zwischen einer als negativ erfahrenen Wirklichkeit und einer als positiv gewünschten Vorstellung dar – ein Vorgang von Literarisierung, der sich nicht nur am Rolandslied belegen lässt.⁸⁰ Es ist wohl kein Zufall, dass das Rolandslied zu einem Zeitpunkt aufgeschrieben wird, zu dem es als Propaganda für den ersten Kreuzzug dienen kann. In den ältesten epischen Dichtungen etabliert sich rasch eine Vorstellungswelt, innerhalb derer ‘Maurus’ nicht nur für die Bewohner Mauretaniens gilt, sondern nunmehr «für eine paraethnische Gruppe (die ‘Mauren’, los moros; die ‘Mohren’) und sogar (mit geringen Abweichungen in den neulateinischen Sprachen und im Deutschen) als Synonym für die dunkle Haut und dunkle Haare allgemein.» (Cardini 2000, 110) Solche Prozesse sind nicht neu und auch nicht per se zu kritisieren. Problematisch wird ein solcher Vorgang der Reduzierung allerdings dort, wo das Wissen um die betreffende Vereinfachung fehlt, oder dann, wenn sie in einer – zumindest per definitionem – auf objektive⁸¹ Informationsvermittlung ausgerichteten Textsorte angewendet und als faktisch wahr eingestuft wird.⁸² Diese Dämonisierung der Muslime durch die Christen änderte sich nach dem Scheitern der Kreuzzüge.⁸³ Sympathie und Wertschätzung differenzierten das bisher negativ geprägte Bild. Der Geschmack am Orientalisch-Exotischen kommt auf, der sich im Spätmittelalter in einer regelrechten Orientmode äußert (Cardini 2000, 114ss.). Der Islam wird außerdem in enge Verbindung mit der Magie gesetzt. Eine wichtige Rolle spielt hierfür die Übersetzung von arabischen Schrif-
79 «Dabei wird angenommen, daß das religiöse Element in den Frühstadien des Rolandslieds weniger ausgeprägt war als in den erhaltenen Textversionen, und daß die Kreuzzugsthematik, die eschatologischen Vorstellungen und die religiöse Symbolik der Chansons ebenso entwicklungsgeschichtlich späten Textschichten angehören wie die Reflexe politischer und feudalrechtlicher Verhältnisse des 11. Jahrhunderts.» (Nolting-Hauff 1978, 437). 80 Nach Nolting-Hauff (1978, 447) ist diese «wunschbildliche Deformation historischer Fakten ein ganz allgemeines Charakteristikum populärer und selbst noch wissenschaftlich kontrollierter Geschichtsdarstellung, von den zahlreichen Beispielen systematischer pseudo-historiographischer Geschichtsklitterung ganz zu schweigen». 81 Zu informationsbetonten Pressetexten und zum Thema ‘Objektivität’ cf. Kapitel 4.4.2. 82 Zur Textstrategie der Reduzierung in den untersuchten Pressetexten: Kapitel 6.1.2. 83 Zu diesem Thema: Seitz (2010).
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ten zur Astrologie und zur Alchimie. Die Beherrschung nekromantischer Künste wird laut Cardini zu einem Denkbild, das in weiten Bereichen der westlichen Kultur verbreitet war. Davon zeugt die Figur des muslimischen Magiers in zeitgenössischen Theaterstücken, einem Motiv, das Cardini (2000, 140) als «‹volkstümliche› Kehrseite» der unter Gelehrten der Frühscholastik verbreiteten Typisierung der Araber als «philosophi par excellence» betrachtet. «Diese ‹Popularisierung unter umgekehrten Vorzeichen›» führt nach Cardini (2000, 140) «dazu, daß (völlig zu Unrecht, wie wir wissen) die muslimische Kultur insgesamt als fragwürdig abgetan wurde». Die von Antoine Galland herausgegebene Edition der Mille et Une Nuits (deren erster Band im Jahre 1704 erschien) wiederum verleiht dem exotisch-fremden Bild einen neuen Glanz und sein Werk prägt«– im guten wie im schlechten Sinn – das europäische Orientbild in entscheidender Weise» mit (Cardini 2000, 250). Es ist besonders eine für das orientalische Märchen als typisch erachtete Eigenschaft, die nach Haase (1981, 212) bedeutende (deutsche) Schriftsteller gerade auch nach einem literarischen Stilwandel um die Jahrhundertwende auf ganz neue Weise anzog: «Diese Eigenschaft […], ständig zwischen Realität und Phantasie wechseln zu können und dabei Gefühle, Reize und Stimmungen atmosphärisch einzufangen,» war demnach eine Motivquelle für Hugo von Hofmannsthal, hat Stefan George oder Karl Wolfskehl inspiriert. Nicht nur die Dichtung widmete sich dem Islam. In einer Blütezeit der polemischen Literatur, die das 13. Jahrhundert auch ist, setzten sich Theologen und die Philosophen mit diesem Thema auseinander. So z.B. Thomas von Aquin, der sich unter anderem in Summa contra Gentiles (Buch I, Kap. 6) mit dem Islam auseinandersetzte (Bellmann 2009, 101). Sein theoretischer Ansatz lässt sich laut Cardini (2000, 120) in vier Hauptpunkte zusammenfassen, welche nicht nur bei ihm zu finden sind und für die Rechtfertigung zur Bekämpfung des Islams lange Zeit verbindlich bleiben: – der Islam als Entstellung der Wahrheit – der Islam als Religion der Gewalt – der Islam als Religion des Krieges – der Islam als Religion der sexuellen Ausschweifung
Die hier zu Rechtfertigungszwecken vorgebrachte, als genuin betrachtete Verknüpfung von Islam + Gewalt bzw. Islam + Bedrohung spiegelt sich in Ergebnissen verschiedener Studien und diverser Arbeiten, die Assoziationen zum und den (medialen) Umgang mit dem Islam zum Thema haben.⁸⁴ Auch in den unter-
84 Cf. Heller (1981); Schiffer (1993) und (2004); Hafez (o.J. [1996]); Attia (2007); Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Juli 2008).
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suchten Pressetexten sind sie greifbar, hier u.a. bei der Markierung von Haartracht und Kleidung (Kap. 7.2.7), beim Thema ‘Ehrenmord’ (Kap. 7.2.8 und 7.3) wie auch im Zusammenhang mit verschiedenen Topoi (Kap. 8).⁸⁵ Eine herausragende Persönlichkeit im philosophisch-theologischen Kontext seiner Zeit ist Raimundus Lullus oder Ramón Llull (1232/35–1315/16), katalanischer Dichter, Philosoph, scholastischer Theologe und Enzyklopädist. Er wird hinsichtlich seiner Haltung gegenüber Nichtchristen zu den tolerantesten Theologen des Mittelalters gerechnet. ‘Toleranz’ als Begriff ist allerdings ein Konzept, das erstmals von Voltaire zentral gemacht wurde und erst im 20. Jahrhundert wirklich greift. Auf die Vormoderne kann es nicht eins zu eins übertragen werden. Hier muss dann eigens definiert werden, was unter ‘tolerant’ genau zu verstehen ist. Darauf deutet beispielsweise hin, dass trotz aller Offenheit das missionarische Engagement von Lullus letztlich doch verhindert, dass er den anderen Religionen einen eigenen Existenzraum zuerkennen kann (cf. Rodinson 21991b, 47; Fück 1955, 16–22): «L[ullus] wird gewöhnlich neben Abälard zu den – im Verhalten gegenüber Nichtchristen – tolerantesten Theologen des Mittelalters gerechnet. Und in der Tat: ‹Aus L.s Schriften erfahren wir – und das war den allermeisten seiner abendländischen Leser ganz neu und fremd klingend –, daß auch die anderen Religionen, sowohl die schismatisch-häretischen Kirchen des Orients (Griechen, Jakobiten, Nestorianer) und die Juden, als auch die Welt des Islam und des Heidentums, als deren wichtigster Vertreter ihm die politische Welt des Tatarenvolkes erscheint, ernste, gebildete, ja gelehrte Anhänger aufzuweisen haben, deren ganzes Sinnen u. Trachten auf die Ergründung der religiösen Wahrheit gerichtet ist› (Altaner, 1928, 595). Es ist auch richtig, daß L. in seinen apologetischen Dialogen die Kontrahenten sachbezogen und höflich diskutieren und sie einander oft mit ‹Freund› (amice) anreden läßt (so im ‹Liber de gentili et tribus sapientibus› und im ‹Liber de quinque sapientibus›). Letztlich aber läßt sein starker Missionswille den anderen Religionen keinen Existenzraum. Die Universalreligion der Menschheit, die er mit seinen wissenschaftlichen Mitteln realisieren will, ist ganz und gar christlich; denn in wesentlichen Glaubensfragen, z.B. Trinität und Inkarnation, befürwortet er nirgends Kompromisse. Dem entspricht die Tatsache, daß L. gegen Ende seines Lebens Andersgläubigen gegenüber zunehmend intoleranter wird, für Missionszwang (in Gestalt von Zwangspredigten) eintritt und den Sinn von Kreuzzügen in der mit ihnen verbundenen oder ihnen folgenden Zwangsbekehrung sieht.» (Schreckenberg BBKL online 2010)
85 Themen wie ‘Gewalt’, ‘Terror’, ‘Krieg’ und ‘Bedrohung’, sogenannte bad news, bieten sich zu einer Reduktion an, die andere Aspekte und Assoziationen in den Hintergrund treten lassen. Eine daraus resultierende Disproportion kann sich wiederum auf die Konventionalisierung und Tradierung von Denkbildern und Argumentationsmustern auswirken.
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Den Antiarabismus eines Petrarca (14. Jahrhundert) hingegen führt Cardini weniger auf die Kreuzzüge zurück – in denen er keineswegs die Ursache für die Entzweiung zwischen Christentum und Islam sieht, vor allem deshalb nicht, weil es seiner Meinung nach eine solche Entzweiung gar nicht gegeben hat –, sondern auf eine Ermüdung, was den Einfluss des Arabischen auf das geistige Leben Europas anbelangt.⁸⁶ Eine Ermüdung, die sich bereits im 12. und 13. Jahrhundert zeige und die im 14. Jahrhundert schließlich integraler Bestandteil des aufkommenden Humanismus geworden sei.⁸⁷ Mit der Tradition der arabischen Philosophen bzw. ihrer Texte sollte auch die scholastische Herangehensweise abgeschüttelt werden, die sie rezipiert hatte, neue, andere Methoden und Denkweisen umgesetzt werden (Cardini 2000, 146ss.). Nikolaus von Kues (1401–1464), Philosoph und Theologe, seit 1448 Kardinal, 1450 Bischof von Brixen, regte Koranübersetzungen an, da ihm der Kampf der Ideen geeigneter schien als der Kampf der Waffen. Mit dieser Sichtweise befand er sich in direkter geistiger Nachfolge von Raimundus Lullus.⁸⁸ Ein Freund des Nikolaus von Kues, Johannes von Segovia, bemerkte seinerseits, dass die den Studien für sein Werk Über den geistigen Kreuzzug gegen den Islam zugrunde liegende, inzwischen über 300 Jahre alte lateinische Koranübersetzung erhebliche Mängel aufwies. Der als Philologe unter den Theologen bezeichnete von Segovia bezog den Ausgangstext in seine Überlegungen mit ein und fertigte gemeinsam mit seinem muslimischen Kollegen Isa Gidelli eine neue Koranübersetzung an.⁸⁹ Die beiden machten so die Theologen ihrer Zeit auf die Risiken einer auf schwacher Textgrundlage gegründeten Deutung des Islams aufmerksam.⁹⁰ Cardini
86 Dies muss allerdings nicht allein auf die Ermüdung eines als fremd betrachteten Einflusses zurückzuführen sein. Durch die arabischen Übersetzungen griechischer Texte kamen die Europäer in Kontakt mit ihrer eigenen Vergangenheit. Diese neuen Möglichkeiten setzte nicht zuletzt die Renaissance in Gange, eine Wiederentdeckung bzw. die kulturelle Wiedergeburt der Antike. 87 «Die Verurteilung der arabischen Doktrinen durch die Universität von Paris im Jahr 1277 war ein harter Schlag für die Glaubwürdigkeit der arabischen Kultur insgesamt». (Cardini 2000, 171). 88 Cf. Lullus’ 1275/1277 entstandenes Werk Llibre del gentil e los tres savis (lat. Übersetzung: Liber de gentili et tribus sapientibus), in dem drei Gelehrte (Jude, Christ, Sarazene) einem Heiden die wichtigsten Glaubensartikel ihrer Religion erläutern. 89 Forscher haben nun ein Stück aus dem verschollenen dreisprachigen Koran (Arabisch-Spanisch-Lateinisch) entdeckt (DRadio Wissen 23.02.2010). 90 «Der Bochumer Altsprachler und Religionsforscher im Centrum für Religionswissenschaftliche Studien der RUB (CERES) Prof. Dr. Reinhold Glei hat das Fragment zusammen mit dem Freiburger Theologen Dr. Ulli Roth herausgegeben und ausführlich kommentiert. […] ‹Dieser dreisprachige Koran hätte den Dialog des lateinischen Abendlandes mit dem Islam auf
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sieht in dieser ideologischen Auseinandersetzung die Anfänge der Islamforschung in Europa. Hier sei es einzig und allein um die Bewertung, Beurteilung und um ideologische Konkurrenz gegangen; weder kulturelle noch religiöse Hintergründe hätten dafür den Ausschlag gegeben (Cardini 2000, 193).⁹¹ Die Türken lösten die Araber in militärischer und kultureller Hinsicht ab. Ihr Aufstieg zu einer Großmacht begann bereits im 11. Jahrhundert und war mit der Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1453 im europäischen Bewusstsein sehr präsent. Vieles, was sich anhand der europäischen Auseinandersetzung mit den Türken zeigt, ähnelt dem, was im Zusammenhang mit dem Kontakt zu der unter arabischer Herrschaft stehenden orientalischen Welt bereits ausgeführt wurde. So gibt es Phasen der kriegerischen Auseinandersetzung wie auch der kulturellen Aneignung, die jeweils ihre Spuren im kollektiven Gedächtnis und an entsprechenden mentalen wie lokalen Erinnerungsorten hinterlassen haben.⁹² Von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war Europa geprägt von einer begründeten Furcht vor den Türken. Als die osmanische Gefahr gebannt war,⁹³ sind sogenannte Turquerien verstärkt zu beobachten (Cardini 2000, 244ss.). Seit der europäischen Renaissance war der Türke bzw. der Ungläubige fester Bestandteil höfischer Feste und öffentlicher Darbietungen und fand so Eingang in die volkstümliche Kultur. In der opera buffa traten Türkenfiguren auf, und es bildete sich außerdem das literarische Motiv des Levantiners heraus. Muslimische Kostüme wurden nachgeahmt und architektonische Elemente übernommen. Eine besondere Faszination übte Sultan Süleyman der Prächtige auf Europa aus, der nicht nur aufgrund seines luxuriösen Lebenswandels bekannt wurde. Mit seiner Person verbindet sich
eine völlig neue Grundlage stellen können, da hierdurch erstmals eine genaue Kenntnis des Korans möglich geworden wäre›, schätzt Prof. Glei. Kurz nach der Fertigstellung der Übersetzung starb […] Johannes von Segovia; seine Bücher, darunter auch den dreisprachigen Koran, vermachte er seiner alten alma mater in Salamanca. Doch ob er dort je ankam, ist unklar – die Spuren des Werkes verlieren sich im Dunkel. ‹Vielleicht hat man das einzige existierende Exemplar auch bewusst verschwinden lassen, da nicht allen an einem friedlichen Dialog mit dem Islam gelegen war›, mutmaßt Glei. ‹Bis heute hat man jedenfalls keine Spur des dreisprachigen Korans finden können.› […] Roth und Reinhold F. Glei: Die Spuren der lateinischen Koranübersetzung des Juan de Segovia – alte Probleme und ein neuer Fund, in: Neulateinisches Jahrbuch 11 (2009), S. 109–154» (Ruhr-Universität Bochum 19.01.2010). 91 Eine solche klare Trennung von eng miteinander verwobenen Bereichen ist meines Erachtens nicht möglich. 92 Cf. Assmanns «kulturelles Gedächtnis» (2000) als Phänomen der longue durée im Sinne Braudels. 93 Dies ist allerdings erst nach 1683 endgültig der Fall, als die Türken ein letztes Mal vor Wien standen und Innozenz XI. noch einmal zum Kreuzzug aufgerufen hatte.
Stichpunkte zu einer Auseinandersetzung mit Islam und Orient
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ein Mythos, der prägend für die Vorstellungen eines fernen Orients wurde und der zwischen den Polen der Faszination und der Ablehnung oszilliert.⁹⁴ Sultan Süleyman wurde als Herrscher verehrt, der seinem Volk Frieden brachte und es in Gerechtigkeit regiert. Gleichermaßen wurden jedoch auch seine tyrannischen und brutalen Züge hervorgehoben (Cardini 2000, 209ss.). Ein Konflikt, in dem der Islam als Diskussions- und Vergleichsobjekt vorkommt, in dem es aber nicht um ihn als solchen geht, zeigt die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten während der Reformationszeit:⁹⁵ Der Rückgriff auf mit dem Islam verbundene Denkbilder und Topoi wurde hier als Mittel eingesetzt, um den Gegner zu diffamieren. Dies geschah beispielsweise durch den Vorwurf der insgeheimen Verbrüderung mit den Türken oder in Form übergroßen Lobes der Ungläubigen – was im Umkehrschluss die Abwertung des (christlichen) Gegners bedeutet (Cardini 2000, 199). In diesem Konflikt werden Prozesse der Verlagerung und der Abgrenzung augenscheinlich, die z.B. im Zusammenhang mit der späteren Theorie des orientalischen Despotenstaats oder der «Erfindung der Araber» (Kap. 3.1.2) Erwähnung fanden.
94 «Dank Süleyman und seinem Mythos im Westen, der von Montaigne, Bodin und Charron weiterverbreitet wurde, trat neben das Bild des osmanischen Staatswesens als einer erbittert kriegsführenden Macht, grausam in seinen Sitten und Gebräuchen, allmählich die Vorstellung einer gerechten, geordneten, strengen und unerbittlichen Herrschaft. Die zahlreichen französischen Orientreisenden des 16. Jahrhunderts sparten nicht mit Lob für den ‹Großtürken›, der sein Volk in Frieden und Gerechtigkeit regierte. Der ‹türkische Frieden›, den er seinem Reich bescherte, ist eine der pax romana nachempfundene ehrenvolle Bezeichnung.» (Cardini 2000, 209s.). 95 Im Forschungsprojekt Über die Grenze. Die longue durée der Islam-Narrative in europäischen Geschichtsbüchern des Georg-Eckert Instituts für internationale Schulbuchforschung (Laufzeit: 2010–2012) wird danach gefragt, «wie Muslime zu Anderen gemacht wurden und welche Grenzziehung dabei erfolgte, inwiefern die Islam-Erzählungen zur Stabilisierung des Eigenen beitrugen und welchen Wandel sie in der Zeit erfahren haben.» Das Eigene meint in diesem Zusammenhang die christlich-europäische Selbstbeschreibung. Denn obwohl «sich im ‹konfessionellen Zeitalter› Katholiken von Protestanten, Lutheraner von Reformierten, und diese beiden wiederum von den Wiedertäufern und anderen radikalen Gemeinden abgrenzten, bildete die Erzählung von der bedrohlichen Andersartigkeit der Muslime für alle Westeuropäer die sie vereinende Außengrenze. Quer durch (West-) Europa trug dieses Narrativ somit zur Erzählgestalt eines christlichen Kontinents bei. Als sich im Laufe des 18. Jh. im Binnenverhältnis die Grenzen zwischen den christlichen Konfessionen allmählich lockerten, wurde die gemeinsame Grenze im Außenverhältnis zu den Muslimen fortgeschrieben. […] Aktuelle Publikation. Gerdien Jonker und Shiraz Thobani (Hg.) (2009), Narrating Islam. Interpretations of the Muslim World in European Texts. London: IB Tauris.» (Georg-Eckert Institut für internationale Schulbuchforschung 19.01.2010b).
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Im Zeitalter der Aufklärung erschien der Islam vielfach als eine Gegenvernunft, die die Intellektuellen polarisierte: Er liefert «die Szenerie für das Toleranzmodell ebenso […] wie [die] historische Kulisse des Luxus und des Fanatismus» (Cardini 2000, 256). Da die kriegerischen Konflikte nun ruhten, war eine neue Auseinandersetzung mit diesen Widersprüchen möglich.⁹⁶ Allerdings fiel es so manchem Aufklärer schwer, die einmal gefällten Urteile zu revidieren, und es ließ sich, so Cardini, auch in diesem neuen Klima der Toleranz eine Haltung der Überlegenheit feststellen, die Muslimen bestimmte Rollen zuschrieb⁹⁷ – auch hier wäre es also angemessen, den Begriff der Toleranz genauer zu untersuchen und den Umgang mit dem muslimischen Gegenüber damit in Bezug zu setzen: «Im neuen Klima der Toleranz drängte man diejenigen, die an das Gesetz des Koran glaubten, mit liebenswürdiger Unerbittlichkeit in die Rolle, die ihnen, wie man glaubte, historisch zukam: die Rolle der enttäuschten Träumer, der Vertreter eines untergegangenen oder vom Untergang bedrohten Imperiums, der Betrogenen, nicht selten auch des Tollpatschs.» (Cardini 2000, 255)
Die Ambivalenz im Verhältnis zum Islam blieb also weiterhin bestehen. Im Europa des 19. Jahrhunderts war der fingierte Orient schließlich ein Ort der Imagination, der einerseits ein Objekt der Faszination und der Anziehung und andererseits ein Gegenstand tiefer Abneigung darstellte. Eine ähnliche Polarität lässt sich bei der Auseinandersetzung mit dem Imaginationsort Mittelalter beobachten. Zwar endet der Blick in die Geschichte an dieser Stelle, doch ließe sich die kursorische Zeitreise der Auseinandersetzung, der Abgrenzung und Aneignung noch fortführen, die Beispiele erweitern und ausdifferenzieren. Für eine Vertiefung dieses Themas sei nochmals auf die bibliografischen Hinweise in den Fußnoten verwiesen.
3.3 Zusammenfassung Die vorausgehende Zusammenschau macht deutlich, wie unterschiedlich die Hintergründe für eine Auseinandersetzung mit dem Islam waren; die Geschichte von Kontakt- und Berührungspunkten ist dabei nicht auf das bloße Phänomen
96 Cf. Das Zeitalter der Aufklärung, in: Rodinson (21991b, 64ss.). 97 Cf. insbesondere den Allgemeingültigkeits-Topos (Kap. 8.1.2), den Entwicklungs-, Deviations- und Aufklärungs-Topos (Kap. 8.1.4).
Zusammenfassung
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diskursiver Kontinuitäten zu reduzieren. Diese Betonung hängt mit dem Fokus der vorliegenden Arbeit zusammen: Die ausgewählten Beispiele schaffen den größeren Zusammenhang, in den sich auch die Pressetexte eingliedern lassen, und bieten eine Grundlage, die weder tagespolitisch ausgerichtet noch emotional aufgeladen ist. Vieles, was sich an Strategien und Denkbildern im Blick auf die Geschichte zeigt oder in Fachdebatten diskutiert wurde, spiegelt sich ähnlich oder in abgewandelter Form, gewissermaßen als Erscheinung der longue durée, in der Anwendung von Textstrategien oder impliziten Argumentationsmustern in Pressetexten zum Thema ‘Islam’ wider: Am Beispiel der Versprachlichung tagespolitischer Themen in französischen Medien wurden einleitend Veränderungen des (medialen) Blickes thematisiert: Hamès’ (1989a,b) und Deltombes (2005) Analysen machen für Printpresse und Fernsehen auf eine Ethnisierung bzw. Islamisierung der Perspektive sowie auf semantische Verschiebungen aufmerksam, bei denen eine Verschränkung von Nationalität und Religion zu beobachten ist – aus immigrant workers werden beispielsweise Moslems in France (Hamès 1989b, 79). Die hier aufgezeigten Strategien und Phänomene wurden in ähnlicher Weise bei verschiedenen Theoriebildungen im 18. Jahrhundert sichtbar (Kap. 3.1.2). Die Auseinandersetzung mit dem orientalischen Despotenstaat beispielsweise und die «Erfindung der Araber» (Laurens 2004, 112) wurden in einer Phase systematischen Vergleichens diskutiert, deren bestimmender Dreh- und Angelpunkt die eigene Ausgangssituation und Sichtweise war. Diese Herangehensweise führte unter anderem zur Bestätigung der eigenen Außergewöhnlichkeit und beförderte zugleich die Annahme, orientalische Gesellschaften befänden sich in der (damaligen) Gegenwart in einem Zustand der Vergangenheit, den es zu überwinden gelte (Laurens 2004, 109) – Positionen, die sich in Argumentationsmustern der untersuchten Pressetexte spiegeln (Kap. 8). Das Eigene wird hier und in anderen Zusammenhängen zu einer als fremd und anders wahrgenommenen Größe in Bezug gesetzt; eine Dichotomiebildung ist die Folge. So ist es nicht verwunderlich, dass der Alteritätsbegriff durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder eine tragende Rolle spielt. Die Auseinandersetzung mit einem als fremd wahrgenommenen bzw. als Alterität konstituierten Gegenüber wurde unter anderem sichtbar: – anhand unterschiedlicher Positionierungen zum eigenen Studienobjekt (vgl. die Kulturkreistheorie⁹⁸) bzw. in verschiedenen methodi-
98 Je nach Sichtweise gehört die islamische Zivilisation Westasiens zur europäischen Zivilisation oder aber wird sie als vom mediterranen-europäisch-amerikanischen Kulturkreis getrennt betrachtet. Letzteres impliziert, dass ein gegenseitiges Verständnis nicht wirklich möglich ist.
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schen Herangehensweisen von Orientalistik und Islamwissenschaft⁹⁹ (Kap. 3.1.1). in der Auseinandersetzung von Theologen und Philosophen mit dem Islam (Kap. 3.2).¹⁰⁰ in der Dämonisierung der Muslime in Zeiten der Kreuzzüge und der darauffolgenden Phase der Differenzierung – das einseitig negative Bild wurde durch neue Sympathie und Wertschätzung aufgewertet und mündete im Spätmittelalter in einer regelrechte Orientmode. während der Reformationszeit, als mit dem Islam verknüpfte Denkbilder und Argumentationsmuster von den christlichen Kontrahenten nicht zur Auseinandersetzung mit einer anderen Religion, sondern zur Diffamierung des (christlichen) Gegners eingesetzt wurden.
In der erwähnten Abgrenzung von Katholiken und Protestanten ging es neben der Selbstvergewisserung um die Konstituierung innerchristlicher Fremd- und Eigengruppen, beim Mechanismus der Verlagerung wiederum um das Bearbeiten von Themen und Tabus anhand eines ‘fernen’ Konflikts. Die Vertextungsstrategien der Abgrenzung und Verlagerung bzw. Verschiebung¹⁰¹ finden in theologischen, in philosophischen wie in literarischen Diskursen Anwendung. Montesquieus Auseinandersetzung mit dem orientalischen Despotenstaat (Kap. 3.1.2) wie auch seine Lettres persanes zeigen, «daß der Orient als metaphorischer und imaginärer Ort ‹jenseits und außerhalb› geeignet war, die Eigentümlichkeiten und Torheiten der eigenen Kultur und der eigenen Lebensverhältnisse kritisch zu reflektieren.» (Cardini 2000, 253)
99 Reichmuth (2004, 141) unterteilt die Ansätze in der deutschen Islamwissenschaft in zwei Hauptgruppen: «a comparative and interdisciplinary approach» und «the insistence on uniqueness and alterity of Islam and the Orient». 100 Cf. die Thesen eines Thomas von Aquin, in denen der Islam mit der Entstellung der Wahrheit, mit Gewalt und Krieg sowie sexueller Ausschweifung verknüpft wird (Cardini 2000, 120). Cf. Nikolaus von Kues, der Koranübersetzungen anregt und sich in seiner Auseinandersetzung mit dem Islam in geistiger Nachfolge von Raimundus Lullus befindet. – Cf. die Polarisierung der Intellektuellen im Zeitalter der Aufklärung, in dem der Islam als eine Gegenvernunft erscheint, die Anknüpfungspunkte für ein Toleranzmodell und zugleich die historische Kulisse des Luxus und des Fanatismus liefert (Cardini 2000, 256). 101 Die Strategie der Verlagerung wird als solche im vorliegenden Pressekorpus nicht näher untersucht, da die hierfür notwendige Berücksichtigung psychologischer Aspekte, eine umfassende Kontextanalyse der betreffenden Texte, deren Einordnung in einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang sowie die Rückbindung an damit in Verbindung stehender gesellschaftlicher Themen und Tabus im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten wären.
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Anhand der Umdeutung der Schlacht von Roncesvalles (aus den baskischen Angreifern wurden Mauren) lässt sich erahnen, welche Langzeitfolgen eine sich perpetuierende Weitergabe von Denkbildern haben kann: Das so veränderte Geschehen wird zum festen literarischen Motiv, das auf einer kognitiven Ebene vorhanden und abrufbar bleibt – und dies, obwohl die Faktenlage aufgearbeitet und das Ereignis in einen entsprechenden Kontext gerückt wurde. Die Diskussion um den Wahrheitsgehalt, der im vorliegenden Fall unstrittig geklärt ist, führt bei der Frage nach den Mechanismen, mit denen das Denkbild (dennoch) eingesetzt wird, nicht weiter.¹⁰² Die Aktivierung des so vermittelten Inhalts muss nicht einmal in einem direkten Zusammenhang mit dem betreffenden historischen Ereignis stehen – hier hat sich eine diskursiv und kognitiv unabhängige Größe entwickelt. Kriegerische Auseinandersetzung und friedliche Begegnung, wissenschaftlicher Austausch und (Erlebnis-)Reisen haben zu Denkbildern und Argumentationsmustern gewordene Vorstellungen hinterlassen. Derartige Kontaktphänomene haben einen universellen Charakter, sie sind Teil der menschlichen Aneignung der Welt und als Vorgang nicht per se negativ zu bewerten. Doch sollte der Blick auf und hinter ihre Rolle und Funktion stets möglich sein, denn die Frage nach Aktivierung, Auswahl, Virulenz oder (unverhältnismäßiger) Präsenz kann zu einer konstruktiven Auseinandersetzung auf diskursiver und gesellschaftlicher Ebene beitragen.¹⁰³ Zwar unterscheiden sich sprachliche Realisierungen oder argumentative Inhalte, die strukturelle Existenz von Denkbildern (wie auch die von Textstrategien oder impliziten Argumentationsmustern¹⁰⁴) ist dabei keineswegs auf deutsche oder französische Diskurse beschränkt, sondern lässt sich ebenso in Denk- und Sprechtraditionen über den Okzident, den Westen oder die Christen herausarbeiten.¹⁰⁵ Weder die Geschichte der Konstituierung von Islam-Denkbildern noch die Bewertung möglicherweise vorhandener Zerrbilder steht im Zentrum der vorlie-
102 Aus ähnlichen Gründen wird es auch bei der Analyse der Pressetexte (Kap. 6–8) nicht um die Beurteilung eines Artikelinhalts nach den Parametern ‘richtig’ und ‘falsch’ gehen. 103 Cf. hierzu folgenden Hinweis: «Christoph Balme (München) führte [auf der Tagung The Edward Said Symposium anlässlich des fünfjährigen Todestages von Edward Said] am Beispiel der abgesetzten Berliner Idomeneo-Inszenierung vor, wie in der Berichterstattung die Furcht vor einer islamistischen Bedrohung durch orientalistische Projektionen geschürt und instrumentalisiert wurde.» (FAZ 01.10.2008). 104 Cf. das im Kapitel 5 dargestellte Textmodell sowie die theoretische Einbindung der Topoi in Kapitel 8. 105 Der kontrastive Blick in andere Sprech- und Denktraditionen böte sicherlich einen interessanten Zugewinn, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
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genden Arbeit. Vielmehr geht es hier um Mechanismen der Vertextung,¹⁰⁶ d.h. um die Wahl bestimmter kommunikativer Strategien und Textaussagen stützender impliziter Argumentationsmuster, die sich in der Berichterstattung über den Islam bzw. die Muslime zeigen – und die Wahrnehmung prägen und Einstellungen befördern (können). Der Blick in die Geschichte schafft(e) den für die Textanalyse notwendigen Kontext. Die Untersuchung kommunikativer Strategien wird anhand aktueller Texte Prozesse deutlich machen, die bei der diskursiv bedingten Konstituierung von Nachrichten eine wesentliche Rolle spielen und rein vor dem Hintergrund der Tagespolitik nicht erklärbar sind (Kap. 6 und 7). Das Herausarbeiten der zugrunde liegenden Topoi schließlich soll den Betrachter für oft unbewusst existierende Argumentationsmuster sensibilisieren und so eine bewusste Auseinandersetzung mit diesem Thema ermöglichen (Kap. 8).
106 Nolting-Hauff (1988) hat sich in der Analyse von Borges El inmortal mit dem Thema der Intertextualität und dabei aufscheinenden Vertextungsmechanismen auseinandergesetzt. Das Intertextualitätsprinzip ist bei Borges «in vielfältiger Form gegenwärtig: als Zitat und Fast-Zitat, als umfassende Bezugnahme auf bekannte und weniger bekannte Texte der Weltliteratur, die der Handlung oder dem Werk insgesamt als Folie dienen (Ilias, Odysee, Ahasverus-Legende), als Wiederaufnahme traditioneller Kodes der Handlung und der literarischen Vermittlung (z.B. ‹wundersame Reise›, Rahmenerzählung mit ironischer Herausgeberfiktion), als Systemreferenz (fantastische Erzählung, ‹cento›), als fiktive Intertextualität, die textimmanent dadurch entsteht, daß die Einheit des Ich als Figur und als Erzähler aufgelöst wird.» (Nolting-Hauff 1988, 415) Dabei betrachtet Nolting-Hauff (1988, 423) jeden der «Folientexte […] sozusagen als eigene ‹Bibliothek›», aus der verschiedene Elemente abgerufen und identisch zitiert oder umgewandelt integriert werden können. (Cf. die kognitive Ebene des erweiterten Daneš-Modells, Kap. 5.2).
4 Pressewesen – Sprache und Strukturen Das nachfolgende Kapitel skizziert den Kontext, dem die Korpustexte entnommen sind: Es bietet zunächst einen kurzen Blick auf den Nachrichtenmarkt in Deutschland und Frankreich. Danach geht es neben den Spezifika der Pressesprache und textsortenspezifischen Merkmalen näher auf die verschiedenen Formen informationsbetonter Pressetexte ein – hier spielt das Kriterium bzw. Ideal der Objektivität eine zentrale Rolle.¹
4.1 Coup d’œil – Agentur- und Zeitungsmarkt in Deutschland und Frankreich Die Pressetexte des untersuchten Korpus sind zwei Bereichen der Nachrichtenberichterstattung entnommen: Es handelt sich hierbei um Artikel, die (1) von Presseagenturen und (2) von Tageszeitungen stammen. Sie werden nachfolgend nicht näher unterschieden, wenngleich dem Wechselverhältnis von Agenturund Zeitungstext eine ganze Arbeit gewidmet werden könnte: Das von den «Nachrichten-Großhändler[n]» (Zschunke 04.06.2001, 1) bereitgestellte Material wird von deren Kunden in verschiedener Weise bearbeitet. Die Agenturtexte werden ungekürzt übernommen oder verändert, in Auszügen verwendet oder dienen als Recherchegrundlage. Nicht immer wird diese Quelle dabei kenntlich gemacht. Agentur- und Zeitungsmarkt hängen voneinander ab und bedingen sich wechselseitig. Ist beispielsweise der Markt der Nachrichtenagenturen in Bewegung, weist dies auch auf Veränderungen auf dem Zeitungsmarkt hin. Nachrichten² sind ein formbares Material. Sie unterliegen Gesetzmäßigkeiten, die sowohl für die Arbeit in den Presseagenturen als auch für die Arbeit in den Redaktionen der Tageszeitungen gelten. Dieser gemeinsame Nenner – er ermöglicht die Untersuchung in einem Korpus – lässt sich in Anlehnung an Raible (2006, 2) wie folgt beschreiben: Nachrichten sind aus einer größeren Menge losgelöster Daten/Informationsstücke unter bestimmten Gesichtspunkten ausgewählte und nach spezifischen Regeln bearbeitete Informationen. Diese
1 Zur Geschichte (und Theorie) des Journalismus, zu Presse- und Mediengeschichte i.a.: Groth (1928–1930) und (1960–1972); Lindemann (1969); Koszyk (1966–1986); Bellanger et al. (1972–1976); Wilke (1999); d’Almeida/Delporte (2003); Charon (2004) und (22004); Pürer/Raabe (32007); Albert (111996), (2008) und (102008). 2 Zur Darstellung verschiedener Definitionen des (in der deutschen Sprache erst im 17. Jahrhundert aufgekommenen) Begriffs ‹Nachricht› siehe He (1996, 31ss.).
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Informationen werden auf bestimmte Weise kontextualisiert und (bewussten oder unbewussten) Mustern folgend vermittelt. Eine der die Nachricht (im publizistischen Kontext) konstituierenden Eigenschaften ist die ‹Aktualität›.³ Der Anspruch, ein Höchstmaß an Aktualität zu gewährleisten, bringt einen enormen Zeit- und Termindruck mit sich. Der Arbeitsalltag der Pressagenturen ist davon ungleich mehr betroffen als dies bei anderen Massenmedien der Fall ist (Zschunke 22000 113). Ein weiterer, immenser Beschleunigungsfaktor im Zusammenhang mit der Berichterstattung ist das Internet. Die Onlineangebote von Printzeitungen sind davon ebenso betroffen wie die Arbeit der Nachrichtenagenturen – deutlich sichtbar wurden dieser Zeitdruck und die damit einhergehenden Probleme zum Beispiel bei der Berichterstattung nach dem Amoklauf an der Grundschule von Newtown (14.12.2012).⁴ Die Erfordernisse eines sich im Wandel befindlichen Marktes bergen zusätzlich die Gefahr der Übertreibung – so kann die Verwendung eines Superlativs die Wettbewerbschancen einer Meldung erhöhen (cf. Zschunke 22000, 116)⁵ bzw. die Aufmerksamkeit der Leser wecken. Kritisch zu betrachten ist nach Zschunke (22000, 117ss.) ebenfalls eine vermehrte Nachfrage nach Infotainment. Dem tragen die Agenturen beispielsweise Rechnung, indem sie bei einer Reihe von Themen (Unglücke, Gerichtsverfahren) nur noch einen Bericht mit Feature-Charakter anbieten, welcher «Information, Reportage und vorsichtige Bewertung vereint» (Zschunke 22000, 117ss.). Dem Ideal und Anspruch an eine höchstmögliche Objektivität stehen außerdem erschwerend Faktoren gegenüber, die strukturell und ökonomisch bedingt sind. Freilich gibt es dennoch einen gewissen Schaffens- und Ermessensspielraum, den die Verfasser der Nachrichtentexte zur Verfügung haben und gestalten können. (Die entsprechenden Textstrategien und Mechanismen werden in Kapitel 4.2 vorgestellt und erörtert.) Die Zeitungen in Frankreich wie auch in Deutschland sind Teil einer Presselandschaft, die sich in manchen Punkten unterscheidet, in anderen gleicht. Nach
3 Ein weiterer ausschlaggebender Faktor kann die Wiederholung bzw. die ‹Chronistenpflicht› sein, wie z.B. an Jahrestagen der Fall. 4 Hier wurde dem Täter fälschlicherweise der Name des Bruders gegeben. Siehe Berichtigung im Liveticker der SZ um 22 Uhr (sueddeutsche.de 14.12.2012). Auch Nachrichtenagenturen müssen online noch schneller reagieren, cf. den Reuters-Liveblog (http://live.reuters.com/Event/ Newtown_School_Shooting?Page=0, abgerufen am 14.01.2013). 5 Ein «Taifun [macht sich] immer besser als ein gewöhnlicher Sturm» (Käding 1992, 11, zitiert nach: Zschunke 22000, 117). Der Aufsatz von Käding Wenn ‹Thelma› nun doch kein Taifun ist … Oder: Wenn Griffigkeit zu Übertreibungen führt, in: AP-Redaktionskomitee o.O. o.J. Frankfurt, 1992, war mir nicht zugänglich.
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Große/Seibold (2003, 8s.) sind die Unterschiede auf den nachfolgend erwähnten Gebieten besonders deutlich: (1) räumliche Verteilung, (2) Vertrieb, (3) Leserzahlen, (4) Werbung und Anzeigen, (5) das gewählte Format und (6) die Subventionierung. Diese Punkte prägen den Stil der Berichterstattung ebenso mit wie die Gestaltung der Nachrichten: 1. Räumliche Verteilung: Der Konzentration der französischen Presse im Großraum Paris, Mittelpunkt des zentralistisch organisierten Frankreichs, steht die den Föderalismus widerspiegelnde, dezentralisierte (west-)deutsche Presselandschaft gegenüber⁶ – in Ostdeutschland ist die Konzentration auf wenige Tageszeitungen nach Dippon/Große (2003, 159s.) mit der Situation auf dem französischen Zeitungsmarkt vergleichbar.⁷ 2. Vertrieb: In Frankreich werden die Zeitungen traditionell in Geschäften oder am Kiosk jeweils einzeln ver- bzw. gekauft, wohingegen in Deutschland Abonnement und Zeitungszustellung nach Hause überwiegen. Der unterschiedliche Vertrieb hat Auswirkungen auf die Gestaltung der ersten Seite, die bei französischen Zeitungen sehr viel mehr darauf ausgerichtet sein muss, einen sofortigen Leseanreiz zu bieten (Westhoff 2003, 44ss.). Des Weiteren kommt es zu vergleichsweise hohen Kosten für eine Zeitung in Frankreich (Westhoff 2003, 80) und dank ihrer Abonnenten zu einer vergleichsweise gesicherten Basis für deutsche überregionale Zeitungen (Westhoff 2003, 80). 3. Leserzahlen: Die deutsche Tagespresse hat – trotz abnehmender Zahl – insgesamt eine größere Leserschaft als die französische, was nicht zuletzt an der Art des Vertriebs liegt.⁸ 4. Für die Einnahmen der deutschen Tagespresse (65 bis 70%) spielen Werbung und Anzeigen eine größere Rolle als für die französischen journaux (40 bis 55%).⁹
6 Die Situation hat sich auch auf die Dichte und Art der Zeitungen niedergeschlagen: «Il existe peu de quotidiens ‹suprarégionaux› en Allemagne, le seul vrai quotidien national étant BILD. En France, on trouve de nombreux quotidiens nationaux à Paris malgré la forte concurrence de la PQR [Presse Quotidienne Régionale] moderne.» (Westhoff 2003, 61). 7 «La presse est-allemande, celle des ‹nouveaux Länder›, fait exception. La concentration y est très forte, fait dû à la mainmise des entreprises ouest-allemandes juste après la réunification. Dans ces régions, le degré de concentration est aussi fort qu’en France» (Dippon/Große 2003, 151). 8 In Frankreich werden die niedrigen Zahlen bei der Lektüre von Tageszeitungen laut Große/ Seibold (2003, 8) durch die hohe Leserate von Zeitschriften kompensiert. 9 Diese Zahlen erklären, warum der 2001 eingetretene Rückgang der Werbung die deutschen Blätter härter getroffen hat als die französischen Zeitungen, die diesen Risiken weniger stark
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Das gewählte Format der verschiedenen Zeitungen ist keine unumstößlich Größe: So haben viele französische Tageszeitungen nach Westhoff (2003, 54) ihr Format verkleinert, was nicht nur die Kosten senkte, sondern auch zur Zufriedenheit der Leser beigetragen habe, denen dieses handlichere Format mehr zusage.¹⁰ In der Regel haben die deutschen Zeitungen ein größeres Format. Doch im Mai 2007 hatte beispielsweise auch die Frankfurter Rundschau auf das Tabloid-Format umgestellt (Keller 2008, 38). 6. Subventionierung: In Frankreich besteht ein großes Maß an Abhängigkeit der überregionalen Presse von staatlicher Unterstützung, die in Teilen ohne diese Subventionierung nicht fortbestehen könnte (Westhoff 2003, 52).¹¹ Zur Reihe der Gemeinsamkeiten gehören nach Große/Seibold (2003, 9) (a) die Ausbildung, (b) eine zunehmende Regionalisierung, (c) Konformität und (d) der starken Abnahme der Zeitungsleserschaft wird mit (vergleichbaren) Maßnahmen entgegengewirkt: a. Ausbildung: Laut einer Studie von Weischenberg/Sievert (1998, 403) haben zwei Drittel der Journalisten beider Länder ein Studium abgeschlossen.¹² b. Regionalisierung: Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich gewinnt die Regionalpresse im Vergleich zur überregionalen Tagespresse an Bedeutung. Als Beispiel führen Große/Seibold (2003, 9) das Quasimonopol von Ouest France und der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in der jeweiligen Region an.¹³ c. Das Design bzw. Layout der Online-Presse zeigt ein hohes Maß an Konformität (Startseite, hypertextuelle Strukturen).
ausgesetzt waren (Große/Seibold 2003, 9). – Der Aufsatz von Keller (2008) zeigt eindrücklich, wie wichtig Anzeigen und Werbung für die deutschen Zeitungen sind. 10 Cf. Große (2003c, 235): «Si l’on fait exception du Monde qui paraît dans le format berlinois […] et du figaro […] et, bien sûr, de l’Equipe, on constate donc que l’ensemble de la PQN est passé au format tabloïd. La majorité de la PQR, par contre, imprime encore sur le grand format berlinois [surface totale: environ 31,5/34 x 46/48 cm] (exemple: Les DNA), mais elle s’apprête également – du moins en partie – à adopter le format tabloïd». 11 Diese Situation zieht nach Westhoff (2003, 52) einen Verlust an Glaubwürdigkeit bei den Lesern nach sich, was wiederum zu sinkenden Geschäftszahlen und zu einer noch höheren Abhängigkeit vom Staat führt. 12 Albert (2008, 73): «Aussi bien cette profession ouverte recrute-t-elle en France une bonne partie des rédacteurs hors des écoles spécialisées dans la formation des journalistes». 13 Bei den Zeitschriften ist nach Schmitt/Große (2003, 241ss.) hingegen eine zunehmende Internationalisierung festzustellen. Internationalisierung bedeutet in diesem Kontext, dass ein Verlagshaus mit einem oder mehreren Titeln versucht, auf einem anderen als dem heimischen Markt Fuß zu fassen (Schmitt/Große 2003, 243).
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d. Der bis auf wenige Ausnahmen zu beobachtenden starken Abnahme der Zeitungsleserschaft wird mit (vergleichbaren) Maßnahmen begegnet, um die Verluste einzudämmen, Leser an sich zu binden und eine junge Leserschaft zu gewinnen. Dazu gehören regelmäßige Beilagen, eine zunehmende Visualisierung, das Angebot von praktischen Ratschlägen und Ratgebern verschiedener Art etc.¹⁴ Die soeben angeführten Gemeinsamkeiten und Unterschiede weisen auf die Dynamik hin, die den Agentur- und Pressemarkt prägt. Einige Entwicklungslinien der vergangenen zehn Jahre verdeutlichen diese Dynamik abschließend: 1999 resümiert Resing (1999, 256) angesichts der Situation der Nachrichtenagenturen in Deutschland: «Soviel Bewegung war schon lange nicht mehr auf dem deutschen Nachrichtenagenturmarkt.» Das «Produkt Zeitung» sei im Wandel, Wünsche und Bedürfnisse der Kunden klafften immer weiter auseinander, und von den Nachrichtenagenturen würde in diesem Zusammenhang eine immer größere Flexibilität erwartet (Resing 1999, 256). Bei den Zeitungen machte die Studie einen Trend zu einer höheren Kompatibilität aus, das heißt, den Wunsch nach einer abgestimmten Belieferung mit Text, Bild und Grafik (Resing 1999, 264). Des Weiteren werde die Tendenz nach einer stärkeren Regionalisierung deutlich. Gefordert wurden «mehr Hintergründe und eine differenziertere Aufbereitung der Themen des Tages für die Leser.» (Resing 1999, 264) Die Zeitungen stellten dabei nicht nur neue Anforderungen an die Agenturen, sondern reagierten ebenfalls – und zwar mit mehr eigenen Berichten und Hintergründen, was auch eine größere Mitarbeiterpräsenz auf diesem Gebiet nach sich zog. Das Internet bietet Wachstumspotenziale einerseits, birgt Risiken andererseits. Reuters baute beispielsweise die eigene Homepage zu einem News-Portal um und liefert im Gegenzug keine Nachrichten mehr an Portale wie Yahoo (Hallerberg 2004, 275). AFP verklagte im Jahr 2005 den Suchmaschinenbetreiber Google in den USA.¹⁵ Die Agentur sah Autoren- und Markenrechte verletzt und
14 Le Monde ergänzende Beilagen sind i.a. Le Monde des Livres, Le Monde Dossiers et Documents, Le Monde diplomatique; der Figaro erweitert am Wochenende die Zeitung durch die Beilagen Madame Figaro, TV Magazine und Le Figaro Magazine; die Zeitschrift Hochschulanzeiger des FAZ-Verlags richtet sich besonders an Studierende, Hochschulabsolventen und Berufseinsteiger; die SZ erschloss sich z.B. mit der Süddeutsche Zeitung Bibliothek, der SZ Klassik oder der SZ Cinemathek neue Umsatzquellen. – Hierzu zu rechnen sind auch Aktionen wie Zeitung macht Schule der Saarbrücker Zeitung (http://www.saarbruecker-zeitung.de/medienhaus/zeitung_macht_ schule/, abgerufen am 14.01.2013), cf. außerdem: Lesen in Deutschland, http://www.lesen-indeutschland.de/html/content.php?object=materialien&lid=443, abgerufen am 14.01.2013). 15 SPIEGEL ONLINE (21.03.2005); SPIEGEL ONLINE (22.03.2005).
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forderte daher Schadensersatz in Millionenhöhe. 2007 kam es zwischen AFP und Google zu einer Einigung. Damit wurde «einer der wichtigsten Urheberrechtsfälle um Agenturmaterial im Internet beigelegt.»¹⁶ In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist die Diskussion zum im November 2012 in den Bundestag eingebrachten Leistungsschutzrecht.¹⁷ Es soll sog. Snippets, kurze Auszüge aus einer Webseite, hier einem Pressetext, für ein Jahr ab ihrer Veröffentlichung schützen.¹⁸ Gegenstimmen gibt es vielfältige,¹⁹ so z.B. die Initiative gegen ein Leistungsschutzrecht (IGEL),²⁰ der diverse Internetportale und Organisationen angehören, sowie das Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, das sich in einer Stellungnahme gegen das Gesetz ausspricht.²¹ In Frankreich war 2008 (von Seiten der Regierung) eine offensive Auseinandersetzung hinsichtlich der Veränderungen in der Nachrichten- und Medienwelt im Gang. Mehrere Studien befassten sich mit diesem Thema. So auch Les médias et le numérique von Giazzi (Sept. 2008)²², eine vom damaligen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy mit der Zielsetzung in Auftrag gegebene Untersuchung, den Stand der Digitalisierung von Medienunternehmen zu analysieren und Empfehlungen zu erarbeiten, mit denen dieser Prozess seitens der französischen Regierung zu begleiten sei.²³ Giazzi konstatiert darin eine Krise (in) der französischen Medienwelt, für die es multiple Ursachen gebe.²⁴ Zielvorgaben in Bezug auf AFP und im Zusammenhang mit den Empfehlungen an die französische Regierung bzw. an Presse, Rundfunk und Fernsehen selbst sind die Förderung und Unter-
16 FOCUS Online (08.04.2007). 17 Financial Times Deutschland (05.12.2012); Zeit Online (29.08.2012) et al.. 18 http://de.wikipedia.org/wiki/Leistungsschutzrecht_f%C3%BCr_Presseverleger, abgerufen am 18.01.2013. 19 Zusammenfassungen der Kontra-Argumente finden sich unter anderem im Blog von Stefan Niggemeier (www.stefan-niggemeier.de). 20 http://leistungsschutzrecht.info, abgerufen am 18.01.2013. 21 http://www.ip.mpg.de/files/pdf2/Stellungnahme_zum_Leistungsschutzrecht_fuer_Verleger. pdf, abgerufen am 18.01.2013. 22 http://lesrapports.ladocumentationfrancaise.fr/BRP/084000612/0000.pdf, abgerufen am 02.12.2010. 23 La «mission [est donc] d’analyser le défi de la migration vers le numérique des entreprises de média et de formuler des propositions de mesures d’accompagnement pour faciliter cette mutation.» (Giazzi Sept. 2008, i). 24 «Presse: le choc sur un secteur en crise. Un Anglais ou un Allemand lit deux fois plus de journaux qu’un Français, un Japonais 4 fois plus … Les ventes décroissent sans interruption depuis les années 60. Les coûts de production sont plus élevés que dans le reste de l’Europe … Sur un terrain fragile, la révolution numérique apporte de nouvelles opportunités, mais surtout de nouvelles menaces et d’importants besoins d’investissements» (Giazzi Sept. 2008, i).
Coup d’œil – Agentur- und Zeitungsmarkt in Deutschland und Frankreich
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stützung eines Informations- und Nachrichtenpluralismus sowie der Erhalt von Bedingungen, die einen qualitativ anspruchsvollen Inhalt ermöglichen (Giazzi Sept. 2008, ii). Eine vom französischen Senat eingesetzte Arbeitsgruppe zur Krise der Presse, hier vor allem der kostenpflichtigen Tagespresse, zeichnet ein noch düsteres Bild der Lage als Giazzi.²⁵ Die Ursachen für die schlechte Lage seien vielfältig: Konkurrenz durch Internet und vermehrtes Aufkommen von Gratiszeitungen, Rückgang von Einnahmen, mangelnde Weitsicht bei der zum Sektor gehörenden Gewerkschaft Livre und bei den Verlagen, Versäumnisse seitens des Staates sowie der Verlust an Glaubwürdigkeit²⁶ gegenüber der Berufsgruppe der Journalisten (de Broissia 2007b, 2ss.). Die Umsetzung der nachfolgenden Punkte – sie deuten unter anderem auf die Wichtigkeit der Wechselwirkung zwischen Leser und Medium hin und beziehen das Image des Journalistenberufs mit ein – soll zu einer Dynamisierung auf dem Pressemarkt führen (de Broissia 2007b, 3s.): – Rencontrer le lecteur – fidéliser le lecteur – séduire le lecteur – Sensibiliser les jeunes générations – Favoriser l’entrée des quotidiens dans l’univers numérique – Conforter le statut des journalistes²⁷
25 «Les quotidiens les moins rentables d’Europe. La baisse des ventes et des recettes publicitaires et le niveau élevé des coûts fixes contribuent à faire des quotidiens français les titres les moins rentables d’Europe. Ces résultats financiers inquiétants obèrent la capacité des quotidiens français à réaliser les investissements nécessaires à la modernisation de leur outil de production et découragent l’arrivée de nouveaux investisseurs» (de Broissia 2007b, 2, http:// www.senat.fr/rap/r07-013/r07-013-syn.pdf, abgerufen am 02.12.2010). 26 Ergänzend eine Meldung des Deutschlandfunks vom 12.06.2009 (Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft, 9H45, Autorin: Susanne Fritz): «Journalismus in Deutschland steckt in Vertrauenskrise. Nur gut 1/3 der Deutschen sagen, dass sie Journalisten vertrauen. Da ist das Ergebnis einer in München veröffentlichten Umfrage der Technischen Universität Dresden. Die Studie wurde im Auftrag des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses erstellt. Dabei handelt es sich um eine von der katholischen Bischofskonferenz getragene Journalistenschule mit Sitz in München. Die Befragten üben scharfe Kritik an den handelnden Journalisten. Diese seien oftmals zu rücksichtslos, intolerant und unsozial. Die Politikberichterstattung wird darüber hinaus von fast 2/3 der Befragten als zu wenig objektiv kritisiert, obwohl gerade Objektivität von ebenfalls 2/3 der Teilnehmer der Studie erwartet wird. Genau so viele Befragte glauben, Journalisten unterdrückten häufig Stellungnahmen von Experten, die anderer Meinung sind als sie selbst. Eine deutliche Mehrheit beschreibt Journalisten überdies als käuflich. Rund 2/3 glauben, dass bezahlte Recherchen häufig vorkommen oder dass die Interessen von Anzeigenkunden auch in der redaktionellen Berichterstattung berücksichtig werden. [Transkribiert von D.W.]» Cf. Donsbach et al. (2009). (Auf das Kriterium der sogenannten Objektivität wird im weiteren Verlauf noch näher eingegangen). 27 Einer der Schwerpunkte der Documentation Française, dem Label, unter dem die Direction de l’information législative et administrative (DILA) diverse Editionen tätigt, ist der Bereich
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Bleibt anzumerken, dass diese Vorschläge nicht als konkrete Handlungsanweisungen verstanden werden können, sondern vielmehr Desiderata aufzeigen. Wie z.B. Jugendliche für den Informationsmarkt sensibilisiert oder zum Lesen von Zeitungen motiviert werden können, bleibt immer wieder neu zu erarbeiten und ist von jedem Medium anders zu beantworten.
4.2 Printmedien Unter dem Label ‘die Presse’ werden verschiedene Gattungen zusammengefasst, die sich besonders in geografischer Reichweite und inhaltlicher Gestaltung unterscheiden. So bilden z.B. die Zeitungen eine Untergruppe innerhalb der Presse: Zu dieser Gruppe gehören die Tageszeitungen. Als solche «gelten – im Unterschied zu Wochen- oder Sonntagszeitungen – alle Blätter, die mindestens zweimal pro Woche erscheinen und aktuell ohne thematische Begrenzung (Universalität) berichten.» (La Roche 182008, 27) Diese nach Erscheinungsfrequenz definierten Typen lassen sich wiederum nach geografischen (diatopischen) Gesichtspunkten unterteilen: Die zehn überregionalen Abonnementzeitungen – z.B. DIE WELT, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, die tageszeitung – haben die größte räumliche Reichweite. Sie machen laut La Roche (182008, 27) nur einen relativ kleinen Teil an der Gesamtauflage der Tageszeitungen aus. Ein Viertel der Gesamtauflage entfällt demnach auf die acht Boulevardblätter (Straßenverkaufszeitungen), von denen BILD die höchste Auflage hat. Der weit größte Anteil an der Gesamtauflage entfällt auf die 118 lokalen und regionalen Tageszeitungen (Stand 2007). Zu nennen sind außerdem die Gratisblätter, die gemeinsam mit den kostenpflichtigen Offertenblättern die Gruppe der Anzeigenblätter bilden. Der Bereich der Zeitschriften ist, um mit La Roche (182008, 29) zu sprechen, «buntscheckiger [als das Feld der Zeitungen] und kaum zu überschauen.» Die Einteilung der Zeitschriften erfolgt primär nach inhaltlichen Gesichtspunkten: So gibt es die Publikumszeitschriften, die sich unterteilen in General-Interest-Zeitschriften (Nachrichtenmagazine und Fernsehzeitschriften bis hin
Medien- und Presse(wesen). Auf der Homepage finden sich neben einem Dossier (La presse française en mutation (2008)) weiterführende Hinweise zur Pressegeschichte (Quelques dates clés de l’histoire de la presse française), die entsprechenden Veröffentlichungen (Ouvrages, revues et rapports), der Überblick über die lokalen Bestände (Ressources à consulter sur place) sowie eine Linksammlung (Sites internet), http://www.ladocumentationfrancaise.fr/dossiers/ presse-francaise-mutation/index.shtml, abgerufen am 02.12.2010.
Printmedien
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zu Illustrierten) und Special-Interest-Zeitschriften (Beschäftigung mit Trends, Freizeitsportarten, Hobbys). «Fachzeitschriften wenden sich [gezielt] an eine Berufsgruppe, Konfessionelle Zeitschriften an die Angehörigen der Glaubensgemeinschaften. Daneben entstehen in Public-Relations-Abteilungen von Unternehmen oder Verbänden immer mehr Mitglieder-, Mitarbeiter- oder Kundenzeitschriften.» (La Roche 182008, 29)²⁸ Einen vierteljährlichen Überblick mit Angaben zur jeweiligen Auflagen-Entwicklung bietet PZ Online.²⁹ Je nach Zeitungstyp ist die Bindung an eine Agentur unterschiedlich ausgeprägt. Die überregionalen Zeitungen sind nach Segbers (2007, 91) «dankbare und treue Abnehmer» mit einem meist gut ausgestatteten Agenturportfolio. Zwar wären diese Zeitungen in der Lage, viele Nachrichtenvorgänge selbst abzudecken, doch sie benötigen die Agenturdienste, um schnell und breit Informationen zu bekommen. «Die wichtigste Kundengruppe unter den verschiedenen Typen sind die Regionalzeitungen[, von denen die Mehrzahl der größeren] mit dpa und zwei oder drei weiteren Agenturen zusammen[arbeitet]» (Segbers 2007, 91). Wichtige Abnehmer sind die Straßenverkaufs- und Boulevardzeitungen, besonders auch die BILD-Zeitung. «Bei der Bild-Zeitung als größter Zeitung des Landes kommt eine weitere Komponente hinzu: Sie ist nicht zuletzt aufgrund ihrer bundesweiten Verbreitung und ihrer vergleichsweise starken Redaktionen häufig selbst Quelle für die Berichterstattung von Nachrichtenagenturen.» (Segbers 2007, 92)³⁰ Allerdings werde in der Regel nach einer bestätigenden oder ergänzenden Quelle gesucht – diese Vorgehensweise gilt für alle Informationen aus Zweitquellen. Die sog. Zeitungskrise wurde im Zusammenhang mit den Studien zur französischen Nachrichten- und Medienwelt bereits erwähnt. Im Jahr 1990 sagte Bill Gates voraus, dass zehn Jahre später keine Zeitung mehr existieren würde – er täuschte sich (Segbers 2007, 90). Der Medienwandel ist eine uralte – und nicht teleologisch verlaufende – Geschichte (cf. Raible 2006). Auch das Ende des Buches, das beim Aufkommen des Internets prophezeit worden war, trat nicht ein. Neue Formen verdrängen alte Formen nicht zwangsläufig, und ob bzw. wie Medien fortbestehen, hängt elementar vom Funktionsraum ab, den sie erschließen und der durch sie erschlossen wird. In diesem Sinne zitiert Segbers (2007, 90s.) die Antwort von Matthias Döpfner, dem Vorstandsvorsitzenden der Axel
28 Weiterführende Informationen finden sich z.B. in den Jahrbüchern Zeitungen des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger, Berlin; Menhard/Treede (2004); Pürer/Raabe (32007). 29 http://www.pz-online.de, abgerufen am 18.01.2013. 30 Mit der Berichterstattung der BILD beschäftigt sich z.B. BILDblog (http://www.bildblog. de).
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Springer AG, auf die Frage, «ob die Zeitung die nächsten hundert Jahre [überleben werde]: ‹Als Trägermedium nein, als Kreativmedium ja. Als Informationsträger wird das Papier ersetzt werden. Durch elektronisches Papier. Als Funktion ist die Zeitung unersetzbar. Durch Journalismus.›» Zu eben diesem Journalismus gehört nun auch ein eigener Sprachgebrauch, dessen Besonderheiten nachfolgend, zunächst mit dem Fokus auf der deutschen, dann auf der französischen Pressesprache, skizziert werden.
4.3 Notizen zur deutschen und französischen Pressesprache Sprache wird in vielen Funktionen eingesetzt. Dabei entstehen sog. Funktiolekte (ein Begriff aus der Varietätenlinguistik), zu denen auch die Pressesprache zählt. Wie andere Funktiolekte weist auch sie Besonderheiten auf, die sich auf lexikalischer, syntaktischer, typografischer und typologischer Ebene zeigen. Es lassen sich die verschiedenen Funktiolekte derselben Sprache voneinander abgrenzen, also z.B. die deutsche Pressesprache von der deutschen Alltagssprache, wie auch die gleichen Funktiolekte verschiedener natürlicher Sprachen, d.h. die deutsche Pressesprache von der französischen Pressesprache. Lüger (21995, 23ss.) kommt angesichts der Ergebnisse verschiedener sprachwissenschaftlicher Studien zum Schluss, dass die deutsche Pressesprache aufgrund ihrer Produktionsbedingungen wie z.B. der Notwendigkeit, auf engem Raum möglichst viel Information zu verdichten, oder des Arbeitsgangs, verschiedene (Agentur-)Meldungen und Quellen zu einem Text zusammenzufassen, manche Tendenz der gegenwärtigen Schriftsprache zusätzlich verstärke. Dazu zählt er die Tendenz zur Verkürzung der Satzlänge und zum Gebrauch von Einfachsätzen im Vergleich zu Satzgefügen (Lüger 21995, 23ss.). Diese syntaktischen Phänomene setzt Lüger in Bezug zum zunehmend verwendeten Nominalstil.³¹ Er sieht darin, wie auch im Fall der Tendenz zur Sinnentleerung von Verben (durchführen > zur Durchführung bringen), die Verstärkung einer in vielen Bereichen zu beobachtenden sprachstrukturellen Entwicklung (Lüger 21995, 26).³² Die Untersuchung von Kreativität und Wortschöpfung in Pressetexten, also der Verwendung neuer, in Wörterbüchern noch nicht festgehaltener Bezeichnungen, lässt laut Lüger (21995, 30) mögliche Rückschlüsse auf den Wandel sozi-
31 Cf. von Polenz (21988, 40; 42s.). 32 Zur journalistischen Stilbildung, unter anderem mit dem Anliegen, Phänomenen wie der Sinnentleerung von Verben entgegen zu wirken: Schneider (2001); Kurz et al. (2000).
Notizen zur deutschen und französischen Pressesprache
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aler Verhältnisse und Veränderungen auf wissenschaftlichen und technischen Gebieten zu. Zwei besondere Eigenheiten der Pressesprache sind (1) die Rolle der als Kurzresümee oder als Lektüreanreiz verwendeten Überschriften, die, so Lüger (21995, 28s.), eine eigene Syntax aufweisen,³³ sowie (2) die Bildung von sogenannten Augenblickskomposita³⁴, welche auf wenig Raum viel Information verdichten.³⁵ Die Augenblickskomposita kommen der Tendenz zum ökonomischen Sprachgebrauch entgegen, können aber zugleich zu Verständnisschwierigkeiten führen, da die Art der Relationen einzelner Elemente nicht immer klar ersichtlich ist. (Beides gilt auch für das Phänomen der Nominalisierung.) Zum Beispiel kann «Studenten-Geld» (SPIEGEL ONLINE 16.01.2013) bedeuten: ‘Geld für Studenten’ oder ‘Geld von Studenten’. Eindeutig wäre hier gewesen: ‘Einnahmen aus Studiengebühren’. Neben der oben erwähnten unterschiedlichen Vertriebsform von Tageszeitungen in Deutschland und Frankreich, die sich besonders im Layout bzw. der Aufmachung der ersten Seite niederschlägt, hat die jeweilige Sprachlandschaft eine besondere Auswirkung auf die verwendete Pressesprache: So sind in Deutschland regionale Merkmale wichtiger als in Frankreich, und es kommen in französischen Tageszeitungen aufgrund der größeren Distanz zwischen code écrit und code oral sehr häufig Elemente gesprochener Sprache vor (Große/Seibold 2003). In deutschen Tageszeitungen würde hingegen generell der code écrit bevorzugt.³⁶ Nach Große (2003b) ist es gerade auch der Wunsch nach einem seriösen Erscheinungsbild, der z.B. bei französischen wie deutschen Wirtschaftszeitungen zu einer nahezu ausschließlichen Orientierung an den Normen der Schriftsprache führt.
33 Cf. i.a. Sandig (1971); Brandt (1991); Kurz et al. (2000, 379ss.). 34 Beispiele für Augenblickskomposita (Lüger 21995, 31): Nomen + Relativsatz: Mann der Ersatzdienst leistet > Ersatzdienst-Mann; Nomen + Präpositionalattribut (bzw. Relativsatz): Patient mit einem Infarkt/der einen Infarkt erlitten hat > Infarkt-Patient; Nomen + Präpositionalattribut (bzw. Infinitivkonstruktion): Bemühungen mit einer (um eine) Herzmassage > Herzmassagebemühungen (Bemühungen, eine Herzmassage durchzuführen); zwei Beispiele für eine anaphorische Komposition: eine Forderung des Ministers M > Minister-Forderung; Vereinbarung zum Aufschub der Wahl > Aufschub-Vereinbarung. 35 BILDblog führt ein Lexikon diesbezüglicher BILD-Kondensationen: http://www.bildblog. de/woerterbuch.php. 36 Die BILD-Zeitung, die nach Westhoff (2003, 71) stark die Nähe der Leser sucht, ist hinsichtlich der verwendeten Grammatik klar an der Schriftnorm orientiert. Anders sieht es z.B. im Bereich der Lexik aus. Aus diesem Grund ist BILD auf dem Kontinuum zwischen gesprochener und Schriftsprache insgesamt in dessen Mitte anzusiedeln.
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Pressewesen – Sprache und Strukturen
Zu den traits caractéristiques der französischen Pressesprache, genauer: zum Sprachgebrauch in französischen Tageszeitungen, gehört nach Große (2003a, 20ss.) der häufige Einsatz von Elementen der gesprochenen Sprache – was, je nach Kontext, ein Nähe-Signal an den Leser sein kann. Derartige Abweichungen von der Schriftsprache kommen in verschiedenen Bereichen der Lexik vor: Sei es bei der Wortwahl (bouquin anstelle von livre oder flic anstelle von agent (de police)), beim Gebrauch von Gesprächswörtern wie alors, tiens oder der Verwendung von Passepartout-Wörtern (chose, machin, type, faire …). Auch auf der Ebene der Grammatik zeigen sich Spuren von Mündlichkeit: Zu nennen sind beispielsweise die unvollständige Verneinung (pas/plus anstelle von ne … pas/ plus), eine bisweilen nachlässige Anpassung des Partizip Passé oder das Vermeiden indirekter Rede bzw. des Subjonctif (Große 2003b, 118s.). Die Tendenz geht nach Schäfer (2003, 212) bei den Satzgefügen hin zu einer Verringerung von Komplexität: von der Unterordnung von Satzteilen im Satz (Hypotaxe) hin zur Verwendung der Nebenordnung (Parataxe) und zum Gebrauch von kurzen, unverbundenen Sätzen in direkter Rede. In den Bereich der Syntax gehören außerdem die Aufspaltung, die sogenannten phénomènes de dislocation (Schäfer 2003, 212ss.), durch die bestimmte Satzelemente in den Fokus gerückt werden³⁷ oder die wie im Fall der présentatifs (c’est/ce sont, il y a, voici, voilà) dazu dienen, eine kommentierende oder evaluierende Bemerkung einzuführen.³⁸ Freilich kann nicht jedes Element der Mündlichkeit automatisch als Signal für eine Nähe-Kommunikation gewertet werden. Ihre Verwendung ist das Ergebnis bestimmter historischer Entwicklungen, die historischen Sprachen eigen sind (Schäfer 2003, 217ss.). Zu diesen der natürlichen Sprache Französisch eigenen Charakteristika von Mündlichkeit zählt Schäfer (2003, 217ss.) z.B. die Verwendung von on für die erste Person Plural anstelle von nous, die zusammengezogene Form ça anstelle von cela, den Gebrauch umgangssprachlicher Wörter (des baffes), Redewendungen (mais il faut arrêter ce bazar) und Anglizismen (Wait and see!). Mit Lüger (21995) und Große/Seibold (2003) wurden zwei – von mehreren möglichen – Herangehensweisen an den Funktiolekt ‹Pressesprache› skiz-
37 Segmentierung: (1) Mais Mulhouse et Miss France, c’est une longue histoire.; (2) … nous les anciennes, nous ne sommes pas éternelles!. – Spaltsätze: (1) C’est au pied du mur que l’on reconnaît le maçon.; (2) … depuis ma retraite, c’est mon fils qui continue. 38 (1) C’est ce qui m’est arrivé avec la diffusion sur …; (2) C’est qu’elle s’apprend chronologiquement (donc facilement) du Moyen Age à nos jours …; (3) Voilà qui serait chic. (Große 2003, 20ss.).
Textsortenspezifische Merkmale
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ziert.³⁹ Bei der Wahl der Methodik spielt eine Rolle, aus welcher Disziplin die Autoren stammen, aber natürlich auch die Beschaffenheit des jeweiligen zu analysierenden Sprachsystems. Die hier vorgestellten Beispiele können in ihrer Allgemeinheit lediglich einen ersten Eindruck von den Eigenheiten, Ähnlichkeiten und Unterschieden der deutschen und französischen Pressesprache vermitteln. Sie deuten an, wo sich Besonderheiten im Sprachgebrauch (vor allem von Tageszeitungen) zeigen, sollten jedoch für konkretere Aussagen durch Lektüre vertieft oder Einzelfallanalysen ergänzt werden. Welche Sprachvarietät verwendet wird, welcher Stil und welche Textstrategien zum Tragen kommen, hängt elementar von der gewählten bzw. im Kommunikationszusammenhang erforderlichen Textsorte ab. In Kapitel 5 werden ein (vom Einzeltext unabhängiges) Textmodell und dazu gehörende, generalisierbare Funktionsweisen vorgestellt. Im nachfolgenden Kapitel geht es hingegen um die Textebene als solche: Neben allgemeinen textsortenspezifischen Merkmalen werden die informationsbetonten Pressetexte bzw. die unterschiedlichen dazu zählenden Texttypen kurz vorgestellt.
4.4 Textsortenspezifische Merkmale «Le genre du texte nous dit COMMENT la matière est abordée, quel traitement journalistique y a été appliqué.» (Große/Seibold 1994, 33)
Wie ein Artikel verfasst wird, hängt nicht zuletzt und ganz grundlegend von der Textsorte ab, der er zugeordnet wird. Je nachdem, welches Raster angelegt wird, können die journalistischen Texte unterschiedlich eingeteilt werden. Was die Realisierung der journalistischen Darstellungsformen in Deutschland und Frankreich betrifft, merken Große/Seibold (2003, 11) an: «Nous n’avons pas donné de réponse à la question de savoir si la réalisation des genres journalistiques (par exemple des éditoriaux, des reportages, des interviews) diffère d’un pays à l’autre. Nous n’avons décelé aucune différence vraiment ‹généralisable› dans ce champ.»
39 Cf. z.B. Moirand (2007), die (die) Pressesprache im Hinblick auf das kollektive Gedächtnis analysiert oder Tuomarla (2003), die Dialogstrukturen als ein Mittel ausmacht, den heterogenen pressesprachlichen Diskurs zu organisieren.
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Pressewesen – Sprache und Strukturen
Diese Beobachtung einer nicht nachweisbaren unterschiedlichen Umsetzung in Deutschland und Frankreich rechtfertigt es, eine idealtypische Uniformität der journalistischen Darstellungsformen anzunehmen und sie, wie nachfolgend geschehen, gemeinsam vorzustellen. Für eine Klassifikation von Pressetexten eignet sich das handlungstheoretische Konzept der Intentionalität, denn auch wenn sich in der Regel verschiedene Typen von Intentionalität in den Texten zeigen, besitzt doch im Normalfall eine Intentionalität ein größeres kommunikatives Gewicht als die anderen.⁴⁰ Anhand dieser dominierenden Intentionalität lassen sich die verschiedenen Texttypen bestimmen. Die Einteilungen journalistischer Textsorten von Große/ Seibold (1994, 34ss.) und Lüger (21995) gehen beide auf diese handlungstheoretisch geprägte Weise vor. Das nachfolgende Modell von Große/Seibold (1994, 36) zeigt ein breites Spektrum journalistischer Textsorten. Es ordnet den verschiedenen Realisierungsformen (links) den jeweils dominierenden Intentionalität-Typus (rechts) zu. Diese Realisierungsformen (Textsorten oder Texttypen) unterscheiden sich beispielsweise in ihrer Makrostruktur, das heißt im Aufbau des Textes und der konventionalisierten Abfolge einzelner Teile, durch sprachliche Einheiten wie Überschriften oder außersprachliche Elemente wie Typografie, Bilder und Farben (Große/Seibold 1994, 37). Die champs transitoires deuten schließlich darauf hin, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Textsorten fließend sind.
40 «En réalité, il faut toujours parler de plusieurs intentions manifestes dans un seul texte. Mais dans la plupart des cas, on peut trouver une intention qui est dominante. C’est elle qui est décisive pour la classification.» (Große/Seibold 1994, 37).
Textsortenspezifische Merkmale
l’article de présentation l’introduction-résumé l’‹éditorial présentatif› les ‹hard news› les ‹soft news› (fait divers) la brève/le télex le ‹bloc-notes› le récit (sous-genres divers) le ‹récit› la ‹quote story› l’interview paraphrasée la biographie journalistique l’hommage/la nécrologie/la commémoration le reportage la story l’enquête l’analyse le bulletin météorologique les programmes TV (grilles et loupes) le dossier (ensemble 1)
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INFORMATION
le multitexte (ensemble 2) le combinat ‹information-article› l’interview (sous-genres divers)
CHAMP TRANISTOIRE
le ‹statement› le commentaire l’éditorial la libre opinion le billet la critique le courrier des lecteurs
OPINION
la recette ‹le jardinage›, les ‹conseils de beauté› etc. l’horoscope
CONSEILS
le roman feuilleton la bande dessinée la nouvelle/le conte
FICTION
les jeux les mots croisés
DIVERTISSEMENT
‹l’article de complaisance› la ‹publicité rédactionnelle›
CHAMP TRANSITOIRE
la publicité (sous-genres divers) les petites annonces
PUBLICITÉ
Modèle arborescent: Les catégories textuelles et leur diversification en genres journalistiques (Große/Seibold 1994, 36)
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Pressewesen – Sprache und Strukturen
Ein derartiges Schaubild vermag nur Idealisierungen abzubilden. Auch Lüger (21995, 75) merkt an, dass seine Klassifikation als Modell «aufgrund zahlreicher Mischformen journalistischen Textvorkommens relativiert» werde. Wie die an Lüger (21995, 75) angelehnte Übersicht zeigt, werden hier den journalistischen Texten verschiedene Intentions- und Zieltypen zugeordnet (Lüger 21995, 65ss.). Die kontaktorientierten Texte sind dabei auf einer anderen Ebene anzusetzen als die übrigen Textklassen, denn ähnlich wie bei der «phatischen Sprachfunktion geht es hier […] vor allem um die Schaffung oder Verbesserung von Kommunikationsvoraussetzungen» (Lüger 21995, 65-75): Textklassen
Intentions- und Zieltypen
(0) kontaktorientierte Texte (72ss.) HERVORHEBEN → WAHRNEHMEN Überschriften ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------(1) informationsbetonte Texte (66s.) INFORMIEREN → WISSEN Meldung ⁴¹, harte Nachricht, weiche Nachricht (human-interest-Bereich), Bericht, Reportage, Wetterbericht, Sachinterviews (2) meinungsbetonte Texte (67ss.; 125ss.) Kommentar, Glosse, Kritik; Meinungsinterview (3) auffordernde Texte (70s.; 144ss.) Leserbriefe, Kommentare (4) instruierend-anweisende Texte (71s.; 147ss.) Handlungsanleitungen wie Pflege-, Gebrauchs-, Montageanleitungen, Kochrezepte, Ratgeber u.Ä.
EVALUIEREN → WISSEN
AUFFORDERN → AUSFÜHREN
INFORMIEREN → WISSEN
Die beiden angeführten Klassifikationen sind für eine erste und generelle Verortung des vorliegenden Untersuchungsobjekts hilfreich. Doch weder das Modell Lügers noch das Baumschema von Große/Seibold sind in ihrer Ausdifferenzierung im weiteren Verlauf notwendig, da sich die Analyse ausschließlich auf informationsbetonte Texte und nicht auf alle im journalistischen Bereich vorkommenden genres textuels bezieht. Die Zweiteilung von informationsbetonten versus meinungsbetonten Realisierungsformen (cf. La Roche 182008, 74) ist hier völlig ausreichend und wird nachfolgend den textsortenspezifischen Bezugspunkt darstellen.
41 Die Meldung als «einfache Sachverhaltsdarstellung» (Lüger 21995, 89) bildet sowohl den Kern der harten als auch den Kern der weichen Nachricht.
Textsortenspezifische Merkmale
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Bevor es aber um konkrete Textanalysen und deren Ergebnisse geht (Kap. 5–7), werden nun die verschiedenen Typen informationsbetonter Texte anhand einiger charakteristischer Merkmale vorgestellt.⁴²
4.4.1 Informationsbetonte Pressetexte Wo eine Nachricht aufhört und ein Bericht anfängt, ist oft schwer auszumachen. In der Praxis kommen dann noch vielerlei und verschiedene Mischformen vor, die hier nicht alle berücksichtigt werden können. Die nachfolgende Übersicht sollte daher als eine idealtypische Vorstellung informationsbetonter Textsorten verstanden werden, die einen anderen Referenzkatalog keineswegs ausschließt. Dasselbe gilt auch für die in Klammer angefügten französischen Entsprechungen, bei denen es unterschiedliche Varianten gibt: Manchmal wird für eine Meldung der Begriff brève verwendet, manchmal wird ein Bericht so bezeichnet. Die Meldung (la brève) besteht nach Lüger (21995, 89) «im Kern aus einer einfachen Sachverhaltsdarstellung», bei der das Augenmerk darauf liegt, dass ein Ereignis stattgefunden hat, ein bestimmter Zustand eingetreten oder erwartbar ist. Es geht bei dieser «Ergebnisberichterstattung» also nicht primär darum, Zusammenhänge zu erläutern (Lüger 21995, 91). Die sprachlich dominierende Handlung ist das MITTEILEN, paraphrasierbar als: «Der Textproduzent teilt (seinen Lesern) den Sachverhalt p als tatsächlich gegeben mit.» (Lüger 21995, 91)⁴³ Die Nachricht ⁴⁴ (la nouvelle)⁴⁵ lässt sich nach inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten in die sogenannten harten und weichen Nachrichten unter-
42 Ausführlicher und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung werden die verschiedenen Textsorten dargestellt in: Lüger (21995); La Roche (182008); Große/Seibold (1994); Martin-Lagardette (52003); Wolff (2006). 43 La Roche (182008, 78s.) bezeichnet die ‘Meldung’ als den formalisierten Begriff der journalistischen Darstellungsform, denn: «Jede Meldung ist auch eine Nachricht». Die Unterscheidung von Meldung und Nachricht werde im journalistischen Alltag de facto nicht gemacht, daher könne auch nur der allgemeinere Begriff ‘Nachricht’ verwendet werden (La Roche 18 2008, 78s.). 44 Ergänzend die Definition der Nachricht nach La Roche (182008, 78): «Eine Nachricht ist also die um Objektivität bemühte Mitteilung eines allgemein interessierenden, aktuellen Sachverhalts in einem bestimmten formalen Aufbau.» Weitere Ausführungen zu den einzelnen Komponenten der Definition: La Roche (182008, 79ss.). 45 Der französische Begriff nouvelle kann wie der deutsche Ausdruck ‘Nachricht’ sowohl im Sinne einer inhaltlichen wie auch im Bezug auf eine formale Beschreibung verwendet werden. Cf. Große/Seibold (1994, 38): «Ajoutons que nous employons le terme nouvelle soit pour la matière, soit comme terme général pour les sous-genres ‹hard news›, ‹soft news›, brève.»
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Pressewesen – Sprache und Strukturen
teilen (Lüger 21995, 94ss.; La Roche 182008, 106ss.): Die harte Nachricht (les ‘hard news’) soll «den Leser aktuell, sachlich, d.h. ohne Beigabe von Kommentierungen, und prägnant informieren.» (Lüger 21995, 95) «Dabei geht es um die Vermittlung von Information in möglichst knapper, unparteilicher Weise» (Weischenberg 1988, 16). Thematisch stehen nach Dovifat/Wilke (61976, 171) «Angelegenheiten von großer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung» im Mittelpunkt, wobei der Text nach einem relativ festen Prinzip aufgebaut wird (Lüger 21995, 95). Die Vorspanntexte längerer Nachrichten sind, so Lüger (21995, 98), für sich genommen in einer Zeitung grundsätzlich auch als Meldung verwendbar. Der nicht chronologische Aufbau dieser Textsorte (topheavy-form, inverted pyramid), bei dem das Wesentliche zuerst genannt wird und die zusätzlichen Aussagen dann folgen, hat sich herausgebildet, als die Übertragungstechniken noch nicht so weit fortgeschritten waren wie heute und die (Telegrafen-)Leitungen immer wieder unterbrochen wurden. Die weiche Nachricht (les ‘soft news’) beschäftigt sich im Unterschied dazu überwiegend mit Themen aus dem human-interest-Bereich (Skandale, Verbrechen, Naturkatastrophen, Unglücksfälle, Einzelheiten aus dem Leben bekannter Persönlichkeiten etc.). Die Aufbereitung dieser Themen ermöglicht nach Lüger (21995, 103) eine variationsreiche Textgestaltung und lesewerbende Darstellungsweise. Die Information des auf Ganzlektüre angelegten Textes ist generell temporal strukturiert,⁴⁶ und die Handlung INFORMIEREN steht hier weniger im Vordergrund als bei der harten Nachricht bzw. ist gekoppelt mit Zusatzhandlungen wie z.B. dem Abbauen von Distanz, dem Erhöhen der Attraktivität des Textes oder insgesamt der Steigerung des Unterhaltungswertes (Lüger 21995, 104).⁴⁷ Der Bericht (l’article⁴⁸) ähnelt nach La Roche (182008, 150) der Nachricht, deren «großer Bruder» er sei und deren Aufbauprinzip (Gliederung nach abnehmender Wichtigkeit) statt für Sätze hier für Abschnitte gilt. Innerhalb dieser
Große und Seibold subsumieren also die ‘Meldung’, la brève, ebenfalls unter den Oberbegriff ‘Nachricht’. 46 Als Anhaltspunkte zeitlicher Einordnungen nennt Lüger (21995, 105s.): Zeitadverbiale (vor 2 Jahren, am 9. August …); Signale der Erzählfolge (zunächst, daraufhin, schließlich …); Konjunktionen (nachdem, als …); Abfolge bestimmter Tempora (Plusquamperfekt (Vorzeitigkeit) gegenüber dem Präteritum). 47 Als – nicht wertend gemeintes – Unterscheidungsmerkmal zwischen ‘hard news’ und ‘soft news’ kann die jeweilige Zielrichtung herangezogen werden: Die ‘hard news’ sprechen vor allem den Verstand an, die Wissensebene (ich habe etwas Neues erfahren), die ‘soft news’ zielen eher auf die Gefühlsebene (das macht mich betroffen, das stillt meine Neugier, das bringt mich zum Mit-Freuen, Mit-Leiden …). 48 In bestimmten Fällen kann ein ‘Bericht’ auch bulletin heißen, z.B. bei der Wirtschaftsberichterstattung.
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Absätze sei eine freiere, auch chronologische Gestaltung möglich. Lüger (21995, 109) führt diesbezüglich an: «Was man bei der Strukturierung von Nachrichtentexten als rezeptionsökonomisch betrachten kann, würde im Falle des umfangreicheren Berichts nur eine monotone Informationsabfolge bewirken. […] Gegenüber Meldungen und harten Nachrichten, die sich überwiegend auf die Vermittlung von Informationshandlungen beschränken, aber auch gegenüber weichen Nachrichten, die eine Reihe von die Rezeption erleichternden und stimulierenden Merkmalen aufweisen, sind Berichttexte im allgemeinen komplexer und vielfältiger». So weisen die nach Lüger (21995, 109) für die Ganzlektüre konzipierten Texte beispielsweise Zitate und kommentierte Stellungnahmen oder auch Hintergrundinformationen auf, können die Aufmerksamkeit fördernde und die Lektüre stimulierende Maßnahmen enthalten und werden in der Regel durch eine der beiden nachfolgenden Texteröffnungen eingeleitet (Lüger 21995, 111): (1) Einleitung im Lead⁴⁹-Stil Der Leser erhält ein Resümee des Textinhalts (eventuell wird darin ein Zusammenhang mit der früheren Berichterstattung hergestellt). (2) Einleitung mit einem sogenannten Aufhänger Detailinformation, «die geeignet erscheint, den Text mit einem deutlichen Lektüreanreiz einzuleiten» (Kennzeichen vor allem von Korrespondentenberichten).
Als ein Kernbereich berichtsspezifischer Informationshandlung könnte das Wie bezeichnet werden: also das Mitteilen, wie ein Ereignis verlaufen ist und wie einzelne Aspekte des Ereignisses zusammenhängen, aber auch welche Folgen das Ereignis hat, in welchen Zusammenhängen (sozial, historisch, politisch, kulturell) es steht (Lüger 21995, 111). Der Text schließe meist mit der Wiederaufnahme eines Sachverhaltsaspekts (pointierte Formulierung) ab, weise mit einer resümierenden Stellungnahme auf die Bedeutung des Berichteten hin oder gebe eine Prognose für die zukünftigen Entwicklungen.⁵⁰
49 In Hinblick auf den Lead formuliert La Roche (182008, 94s.): «Das Wichtigste gehört an die Spitze. Einen so konstruierten Nachrichtenanfang nennen die Amerikaner Lead. Wir Europäer haben diesen Namen mit dem Rezept übernommen. […] Der Lead gibt [also] Antwort auf die Frage, die das Publikum vermutlich als erste zu dem jeweiligen Thema stellen würde.» Nicht als Lead taugen demnach: Vorgeschichte und Allgemeines, Chronologie und Protokollarisches. 50 «Recht unterschiedlich ist schließlich das Vorkommen von B e w e r t u n g e n. Die Bandbreite reicht von Texten, die explizite Stellungnahmen weitgehend vermeiden, bis hin zu Beiträgen, die recht eindeutig von Kommentierungen durchsetzt sind. In solchen Fällen erscheint
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Der Reportage (le reportage) sind nach Lüger (21995, 113) Merkmale eigen, die es rechtfertigen, von einer eigenen Textsorte zu sprechen: «Ganz allgemein kann man die Reportage als eine konkrete, stark persönlich gefärbte Geschehens- oder Situationsdarstellung auffassen». Diese Präsentationsweise ermöglicht es dem Autor, wiederzugeben, was er gesehen, gehört und (wie er es) erlebt bzw. recherchiert hat. Der Berichtende kann mitteilen, in welchen politischen, historischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen er ein Ereignis sieht bzw. aus welcher Perspektive es dargestellt wird.⁵¹ «Einen Sachverhalt subjektiv zu präsentieren, bedeutet also nicht nur mitzuteilen, daß sich etwas oder wie sich etwas ereignet hat, sondern vor allem, wie ein Geschehen aus der Sicht des Berichterstatters verlaufen ist». (Lüger 21995, 114) Im Gegensatz zur unpersönlichen Darstellungsweise der übrigen informationsbetonten Textsorten ist es in der Reportage möglich, die Ich- oder die Wir-Form einzusetzen. Die «konkrete Wiedergabe von Eindrücken, Gefühlen, Einstellungen und Wertungen auf seiten der handelnden Personen [zeugt] vom Beteiligtsein des Textautors». (Lüger 2 1995, 115) Reportagen folgen nur bedingt der Chronologie von Ereignissen und bieten durch ihren Charakter eine Vielfalt sprachlicher Handlungsmuster (Mitteilen, Aufbauen einer Erlebnisperspektive,⁵² Distanzminderung, Häufigkeit direkter Rede, szenische Elemente als Einstieg etc.). Und ein weiterer Unterschied von Reportage und Bericht aus ganz praktischer Sicht: Ein Bericht kann aus verschiedenen Quellen am Schreibtisch zusammengestellt werden. Für die Reportage ist es unabdingbar, dass der Journalist selbst am Ort des Geschehens war. Denn ein Anliegen der Reportage ist es, Eindrücke und sinnliches Erleben mitzuteilen und bestenfalls für den Leser nachvollziehbar zu machen.⁵³ Die wesentliche Aufgabe des Hintergrundberichts (l’analyse), auch journalistische Problemdarstellung (Große 1974, 576) oder analysierender Beitrag genannt, ist die Vermittlung von Hintergründen und Erklärungszusammen-
die Zuschreibung einer bestimmten Intentionalität eher fragwürdig, und es ist keine Schwäche des Beschreibungsverfahrens, wenn manche Texte sowohl als informierend (und damit als ‘Bericht’) wie auch als meinungsbetont verstanden werden können.» (Lüger 21995, 113). 51 Dieses Merkmal sollte allerdings nicht nur ein Kennzeichen der Reportage sein, da ein Bericht, ohne einen bestimmten Blickwinkel einzunehmen, nicht möglich ist. 52 Aufbau einer Erlebnisperspektive durch Strategien der Aktualisierung (des Geschehens), nach Lüger (21995, 115) z.B. die Temporaldeiktika und adverbiale Bestimmungen (dieser Freitag, wenige Minuten vorher, dann plötzlich, schlagartig) oder die Tempuswahl (Einleitung im Präteritum, Hauptteil im Präsens). 53 Bilder, die auch vor dem inneren Auge des Lesers entstehen sollen, können dazu dienen, diese Eindrücke erfassbar zu machen. Dies hat Auswirkungen auf die jeweils verwendete Sprache (auf Wörter, Satzbau, u.U. auch auf die Grammatik).
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hängen. Dieser Textsorte liegt eine expositorische Makrostruktur⁵⁴ (Lüger 21995, 118s.) zugrunde, und ihre systematische Entfaltung des Textinhalts stellt das Hauptunterscheidungsmerkmal gegenüber Nachricht, Bericht und Reportage dar, so Lüger (21995, 118s.). Hintergrundberichte sind wesentlich umfangreicher als die anderen informationsbetonten Textsorten und gehen auch in inhaltlicher Tiefe und Breite über sie hinaus: Im Mittelpunkt stehen nicht Informationen über Ereignisse der Tagesaktualität – diese bilden allenfalls Anknüpfungspunkte für die Berichterstattung –, sondern Aussagen über allgemeinere Sachverhalte und größere Zeiträume. Der Hintergrundbericht besteht neben der Sprachhandlung INFORMIEREN «zu einem nicht unwesentlichen Teil auch [aus] Reflexionen, Deutungen und Problematisierungen des Textautors». (Lüger 2 1995, 120) Der Umfang des Textes macht Leseanreize notwendig. Dazu zählen beispielsweise Strategien, die zur Veranschaulichung und Konkretisierung und damit zur Rezeptionserleichterung beitragen (lesewerbende Überschriften, Texteinleitungen und Zwischenüberschriften, Illustrationen, Hervorheben der Textgliederung, veranschaulichende und auflockernde Sprachmittel etc.) (Lüger 2 1995, 120s.). Zusammenfassend lässt sich das sprachliche Handlungsspektrum der bisher genannten informationsbetonten Textsorten in Anlehnung an Lüger (21995, 114) wie folgt darstellen:
Meldung
harte Nachricht
weiche Nachricht Bericht
Reportage
Hintergrundbericht
Auch der Wetterbericht (le bulletin météorologique, la météo), die zeitgeschichtliche Darstellung sowie das Sach- und Meinungsinterview sind informationsbe-
54 Unter einer expositorischen Makrostruktur versteht Lüger (21995, 118s.) eine systematisch, hierarchisch gegliederte Entfaltung der Textinformation (daher auch ‘analytische Textstrukturierung’ genannt) bzw. die Aufgliederung der Kerninformation in mehrere gleichrangige Teile oder Aspekte. Die prototypische Vorgehensweise sei eine allgemeine Themenangabe, der sich die enumerative Differenzierung (erstens, zweitens, drittens …) anschließe und die in ihrer Art wissenschaftlichem Arbeiten vergleichbar sei. (Zu einer möglichen Klassifizierung expositorischer Textsorten cf. auch Große 1974, 576ss.).
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tonte Textformen. Sie kommen nach Lüger (21995, 122ss.) zwar in der Tagespresse vor, gehören ihm zufolge allerdings nicht unbedingt zum zeitungsspezifischen Kernbereich. Die zeitgeschichtliche Darstellung (le dossier) – Aufzeigen des Werdegangs einer Institution, der historischen Entwicklung eines politisch-sozialen Gegenstands oder Sachverhalts – ist eng mit der Problemdarstellung verwandt und ergänzt mit zusätzlichen Hintergrundinfos eine aktuelle Berichterstattung. Der Textaufbau entspricht eher einer temporalen (nicht rein chronologisch, sondern variabel, was die Zeitachse anbelangt) denn einer expositorischen Gliederung. (Lüger 21995, 122) Die Grenzen zwischen Sachinterview (l’interview (de fond/analytique)) und Meinungsinterview (l’interview d’opinion) ist schwer zu ziehen. Im Sachinterview geht es nach Lüger (21995, 125) vorrangig um die Wiedergabe von Fakteninformationen. Die Einleitung entspreche hier dem Lead eines Berichts oder einer Nachricht. Im Sachinterview werden Fragen an den Interviewten mit der Absicht gestellt, dass dessen Antworten ein schwieriges Thema erläutern, z.B.: «Was ist die Ursache der aktuellen Finanzkrise? Wieso sind weltweit Banken betroffen, obwohl die Krise in den USA begann?» Das Meinungsinterview zielt hingegen darauf ab, etwas über die Person selbst und/oder ihre Meinung zu einem bestimmten Thema zu erfahren. Im Zusammenhang mit dem oberen Beispiel könnten die Fragen wie folgt lauten: «Denken Sie, die Finanzkrise wird eine Pleitewelle nach sich ziehen? Sollten Manager Ihrer Meinung nach strenger kontrolliert werden?» Eng mit den informationsbetonten Textsorten verbunden ist ein Parameter, der immer wieder bemüht wird: das Kriterium der Objektivität. Im Zusammenhang mit der Arbeit der Nachrichtenagenturen wurde bereits erwähnt, dass das Bemühen um eine ‘objektive’, genauer: um eine von meinungsbetonten Aspekten möglichst freie Berichterstattung besonders auch mit dem politisch-ideologisch-gesellschaftlich vielschichtigen Kundenstamm zusammenhängt. Und obwohl bekannt ist, dass Zeitungen sich häufig einer bestimmten politischen Richtung zuordnen (lassen), die sich beispielsweise durch Themenauswahl und -präsentation auch auf informationsbetonte Texte niederschlägt bzw. niederschlagen kann, kann sich ein Leser der Wirkung des Gedruckten als wahr und objektiv kaum entziehen. Dies ist gerade dort der Fall, wo es um informationsbetonte Textsorten geht. An sie wird ein bestimmtes Vorwissen⁵⁵ geknüpft,
55 Als Vorwissen wird hier besonders das Wissen um Gattungen und damit zusammenhängende textsortenspezifische Erwartungen verstanden. Z.B. wird ein informationsbetonter
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welches bereits durch das Einhalten gewisser textsortenspezifischer Charakteristika aktiviert wird. Illustrieren lässt sich dieser Mechanismus am Beispiel des Artikels Mise en évidence expérimentale d‘une organisation tomatotopique chez la soprano (Cantatrix sopranica L.) von Georges Perec.⁵⁶ Trotz des eigentlich absurden Inhalts muss sich der – ob des Inhalts zunächst sehr amüsierte – Leser zunehmend um einen inneren Abstand vom Text bemühen: Der Inhalt ist durch Aufbau, sprachliche Mittel und Textstrategien (Grafiken, Bibliografie, Sprache etc.) in die Form wissenschaftlicher Texte gekleidet, an die intuitiv Erwartungen wie Richtigkeit und Relevanz geknüpft werden. Perec gibt in seinem Artikel einen vollkommen unsinnigen Inhalt wider, aber er tut dies nicht auf eine ebenso unsinnige, sondern auf eine konventionalisierte Weise. Indem er sich an Formen wissenschaftlichen Schreibens hält, ruft er eine bestimmte Haltung seitens des Lesers hervor. Das Zusammenspiel von Präsentationsform (Text) und Vorwissen (Leser) wird in gewisser Weise zur Realität bzw. schafft eine eigene Realität.⁵⁷ Dieses Phänomen lässt sich von verschiedenen Seiten und Disziplinen betrachten – so z.B. vom Blickwinkel der Diskursanalyse à la Maingueneau⁵⁸ oder aus der Perspektive der Kommunikations- und Medienwissenschaft, die unter anderem die Glaubwürdigkeit der Medien untersucht. Zum letztgenannten Bereich zählt der Soziologe Michael Jäckel. Er zeigt am Beispiel zweier Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (42008, 143s.), wie weit das Vertrauen in den Wahrheitsgehalt von Nachrichten gehen kann: Am 29. April 1997 berichtet die FAZ: ‹Fliegende Kuh› versenkt japanisches Fischerboot. Der Kern der Nachricht besteht aus der Information, eine aus einem russischen Flugzeug gefallene Kuh habe ein japanisches Fischerboot versenkt. Als Quellen werden eine vertrauliche Meldung der Deutschen Botschaft in Moskau an das Auswärtige Amt (von
Nachrichtentext in der Regel mit der Haltung rezipiert, der Inhalt sei informierend, objektiv, wahr, wissenswert. 56 http://www.sciences.u-psud.fr/fr/la_faculte/jardin/cantatrix_sopranica_l.html, abgerufen am 07.12.2010, oder Perec (1991). 57 Was für Folgen das Wissen um die Gestaltung einer Textsorte haben kann, zeigt ein «[k]leines Recherche-Abenteuer zu einem vermeintlichen Beschluss des Europäischen Gerichtshofes»: Ein im Zuge eines studentischen Planspiels entstandenes Urteil wurde wie eine EuGH-Entscheidung aufbereitet und ohne weiteren Hinweis ins Netz gestellt. Auf der Grundlage dieses vermeintlichen Urteils, das gar keines war, verfasste «der Kölner Strafverteidiger Rainer Brüssow einen Aufsatz zum Thema ‹Das Anwaltsprivileg des Syndikus im Wirtschaftsstrafverfahren – Erforderlichkeit einer Neubewertung nach der Entscheidung des EuGH vom 19. Juni 2008?›.» Dieser Beitrag wurde schließlich in «der Festschrift der angesehenen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im Deutschen Anwaltverein mit dem Thema ‹Strafverteidigung im Rechtsstaat› (Nomos Verlag, Baden-Baden, 2009)» veröffentlicht (FAZ 10.08.2009). 58 Cf. i.a. Maingueneau (1984), (2003), (22007) und (2009).
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der Hamburger Morgenpost berichtet) und die Bestätigung seitens russischer Behörden angegeben. Diese unerhörte Begebenheit wird schließlich am 7. Mai 1997 mit dem Artikel Die Kuh, die eine Ente war von der FAZ korrigiert. Dass die Nachricht einer vom Himmel fallenden Kuh überhaupt als glaubwürdig aufgefasst werde, sei Ausdruck für einen Zustand, der inzwischen «Medienrealität» genannt werden könne, denn: «Eher glaubt man wohl, daß Kühe fliegen, als daß ein Journalistenmund lügt. Oder etwa nicht?»⁵⁹ Bei Jäckel (42008, 143ss.) geht nicht eindeutig hervor, wer die Falschmeldung in Umlauf brachte und wie sicher sich der Autor des ersten FAZ-Artikels hinsichtlich dieser Nachricht war.⁶⁰ Daher ist dieses Beispiel etwas anders gelagert als im Fall des bereits erwähnten bewusst pseudowissenschaftlich verfassten Artikels von Perec. Beide Male wird allerdings deutlich, dass sich durch die sprachliche Realisierung (den ‘richtig’ getroffenen Ton) und die gewählte Form (Gattung) im Zusammenspiel mit dem Erwartungshorizont des Lesers eine ganz eigene Dynamik entwickeln kann. Die ‘Objektivität’ spielt dabei als Kriterium für (natur)wissenschaftliche Texte eine wichtige Rolle, ebenso für informationsbetonte Presseartikel und für Agenturtexte allgemein. Nachfolgende Überlegungen befassen sich mit einigen Aspekten dieses diskurskonstituierenden Merkmals, das einerseits in Teilen erfassbar ist, andererseits stets unerreichbar bleibt.
4.4.2 Die Objektivität Die Objektivität – unerreichbares Ideal, Utopie und zugleich ein konstituierendes Merkmal für die informationsbetonten Textsorten der Berichterstattung.⁶¹
59 Dieser Aussage scheint zumindest in Teilen das schlechte Image zu widersprechen, das Journalisten in Umfragen nach glaubwürdigen/vertrauenswürdigen Berufsgruppen immer wieder attestiert wird (dazu Fußnote 26). Es wäre lohnend, der Frage nachzugehen, warum der Autor (Journalist) für unglaubwürdig, sein Produkt (Artikel) jedoch für wahr gehalten wird. Einen Anhaltspunkt könnten die Erwartungshaltungen hinsichtlich der Textsorte(n) ‘Nachrichten’ seitens des Lesers bieten und ein – wie auch immer geartetes – Primat der geschrieben Sprache (im Sinne enthymemischen Argumentierens): Wenn etwas geschrieben steht, dann ist es ‘wahr’. 60 Die Nachricht von der «fliegenden Kuh» wurde, so Jäckel (42008, 144), nicht nur in verschiedenen Zeitungen abgedruckt, sondern auch vom Fernsehen aufgenommen. 61 Die Wichtigkeit des Objektivitätsgrundsatzes für die Art der Berichterstattung hängt – wie nachfolgend deutlich wird – auch mit der Tradition journalistischen Schreibens im jeweiligen Land zusammen; hierin unterscheiden sich Deutschland und Frankreich. – Überlegungen zum Objektivitätsgrundsatz bei den Nachrichtensendern Al-Jazeera und Al-Arabiya, unter anderem hinsichtlich der Erwartungen der Rezipienten und auf der Grundlage der Unterschei-
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Um dieses Paradox wissend, unterteilt La Roche (182008, 143ss.) die Objektivität in eine «äußere» und eine «innere Objektivität»: Die äußere Objektivität sei unter Berücksichtigung eines Kriterienkatalogs wie Faktentreue, Ausgewogenheit der Information, Kennzeichnen von Meinungsäußerungen Dritter, Unterlassen eigener Meinungsäußerungen etc. im journalistischen Alltag sehr wohl zu leisten (La Roche 182008, 142).⁶² Die innere Objektivität, von La Roche verstanden als die ‘richtige’ Beschreibung der Wirklichkeit, sei im Gegensatz zur äußeren Objektivität nicht realisierbar. Dies entbinde den Journalisten allerdings nicht von der Pflicht, sich um eine möglichst objektive Berichterstattung zu bemühen: «Dass diese innere, letzte, absolute Objektivität vom Mensch nicht zu verwirklichen ist, heißt aber nicht, sie als anzustrebendes Ziel aufzugeben. Objektivität als Utopie zu erkennen schafft keinen Freibrief für den Journalisten, nun unkontrolliert seine Subjektivität zu pflegen und sich mit solcher Schluderei noch besonders ehrlich und mutig vorzukommen. Das Bemühen um eine niemals ganz erreichbare Objektivität bringt zumindest Annäherung an die Realität, bringt jedenfalls ein Mehr an Objektivität.» (La Roche 18 2008, 147s.)
Das Wissen um dieses Spannungsfeld ist ein wesentlicher Punkt bei der Beschäftigung mit einer ‘objektiven Berichterstattung’, denn eine absolut objektive Berichterstattung kann es nicht geben, wie es auch die ‘totale Information’ nicht geben kann. Sinn entsteht, wie bereits erwähnt, erst durch Selektion (erstes Gesetz der Semiotik). Das Streben nach höchstmöglicher Objektivität, verstanden als eine vollständige Trennung von Meinung und Nachricht, kann nach Ansicht von Pöttker (NZZ Online 15.08.2008), Professor am Institut für Journalistik der TU Dortmund, zu einer «Objektivierung verborgener Werturteile führen, die dann den ideologischen Status von Ist-Aussagen erlangen.» «Aus dem Objektivitätsgebot für das Nachrichtenressort [sei aufgrund geschichtli-
dung von Professionalität und Objektivität, thematisiert ein Meinungsartikel aus der saudischen Zeitung El-Watan (30.01.2009): «No one can deny that Al-Jazeera was the first channel to report the news from the ground to the viewers but these viewers can ask now, after the emergence of new channels and the media‘s technical revolution, about the essential differences between the two main pillars of the media world: professionalism and objectivity. Al-Jazeera still comes first when it comes to professional standards but, and here I am giving it honest advice, it comes last in regards to the standard of objectivity among the main Arab news channels in the Arab world.» (Übersetzung aus dem MideastWire.com vom 30.01.2009, info@ mideastwire.com). 62 Zschunke (22000, 104) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Objektivität nicht mit Ausgewogenheit verwechselt werden sollte: «Der Objektivität geht es um die Beziehung einer journalistischen Aussage zur Realität, während Ausgewogenheit mit der Gewichtung unterschiedlicher Positionen innerhalb eines Textes zu tun hat».
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cher Vorzeichen] das Subjektivitätsverbot für den ganzen Beruf» des Journalisten geworden. Pöttker (NZZ Online 15.08.2008) plädiert für eine gewisse Gelassenheit gegenüber des Trennungsgrundsatzes von Nachricht und Meinung. Er macht aber gleichzeitig deutlich, dass der Meinungsanteil als solcher stets klar erkennbar sein sollte: «Das angelsächsische Nachrichtenparadigma wurde dem deutschen Journalismus nach 1945 von den westlichen Siegermächten aufgepfropft. Da diese in der Neigung der Deutschen zur Gesinnungspropaganda eine Wurzel des NS-Übels zu erkennen glaubten, propagierte ihre ‹reeducation› eine rigidere Ablehnung der journalistischen Meinungsäusserung, als sie in der eigenen liberalen Tradition angelegt war. So wurde das Nachrichtenparadigma in der Bundesrepublik Deutschland dann missverstanden als journalistische Pflicht zu meinungsfreier Faktenwiedergabe schlechthin. Aus dem Objektivitätsgebot für das Nachrichtenressort wurde das Subjektivitätsverbot für den ganzen Beruf. Der Sinn dieser Trennungsregel liegt wiederum im Respekt vor der Mündigkeit des Publikums. Dagegen ergibt sich ihre Reformbedürftigkeit aus der Einsicht, dass eine völlig wertfreie Wiedergabe von Fakten prinzipiell nicht möglich ist, weil schon in der Informationsauswahl eine unvermeidliche Subjektivität steckt. Dieser Trennungsgrundsatz kann, zumal wenn er selbst mit gesinnungsethischer Emphase vertreten wird, zur Objektivierung verborgener Werturteile führen, die dann den ideologischen Status von Ist-Aussagen erlangen. Angesichts seiner Ambivalenz erscheint Gelassenheit gegenüber dem Grundsatz zur Trennung Nachricht – Meinung angebracht. Wenn die Korrespondentenberichte in der NZZ zuverlässige Informationen mit als solchen erkennbaren Meinungen mischen, ist das durchaus vertretbar, weil so für die Leser deutlich wird, von welcher Position aus die berichteten Fakten ausgewählt worden sind. Auch diese Trennungsregel sollte nicht aufgegeben, sondern nur von dem Dogma befreit werden, dass alle Journalisten sie stets und überall zu befolgen haben.» (NZZ Online 15.08.2008)
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der juristische Kommentar von Bullinger zu den zusätzlichen Pflichten der periodischen Presse bzw. zur «Pflicht zu objektiver, verantwortungsbewußter Berichterstattung» (Bullinger 2 2001, § 142, Rdnr. 78ss.): «b) Zusätzliche Pflichten Der magere Ertrag der Vorstellung von einer ‹öffentlichen Aufgabe› der periodischen Presse für deren Rechte wird mehr als aufgewogen durch die Gefahr, daß daraus eine gesteigerte Pflichtenbildung hergeleitet wird, die einer freien Mitwirkung der periodischen Presse bei der Bildung der öffentlichen Meinung abträglich ist. aa) Pflicht zu objektiver, verantwortungsbewußter Berichterstattung In der Rechtsprechung und Lehre findet sich immer wieder die Vorstellung, die periodische Presse müsse ebenso wie der Rundfunk ‹objektiv› und verantwortungsbewußt berichten, da sie eine ‹öffentliche Aufgabe› erfülle und eine Mitverantwortung bei der
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Verwirklichung der verfassungsmäßigen demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung trage. Die Pressefreiheit ist aber nicht geschützt, um die periodische Presse als ‹vierte Gewalt› mit behördenähnlichen Einrichtungen und beamtenähnlichen Redakteuren und Journalisten für eine positive Verwirklichung von Verfassungswerten in die Pflicht zu nehmen. Sie dient vielmehr gerade dazu, durch eine von Amtrücksichten freie Kritik bis hin zu ‹schockierenden› Äußerungen die öffentliche Meinung und die auf ihr aufbauende demokratische Willensbildung vor Erstarrung zu bewahren und dazu in Stand zu setzen, Mißstände, Schwächen und Fehlleistungen zu überwinden. Von der periodischen Presse kann daher nicht wie von staatlichen Amtsträgern verlangt werden, ‹objektiv› zu berichten,⁶³ sondern nur, Nachrichten mit einer nach den Umständen erforderlichen Sorgfalt auf Wahrheit, Inhalt und Herkunft zu prüfen. An diese journalistische Sorgfaltspflicht müssen um so größere Anforderungen gestellt werden, je stärker die Presseveröffentlichung geeignet ist, Persönlichkeitsrechte oder andere rechtlich geschützte Interessen zu verletzen.»
Einen sehr kritischen Blick wirft Schmidt (32003a) bei der Untersuchung von Makroschemata auf das Konzept der Objektivität, welches das Herzstück der sogenannten objektiven Berichterstattung darstellt: Die Entstehung dieses Berichterstattungsmusters sei, so Schmidt/Weischenberg (1991, 31), eng verknüpft mit der Entstehung der modernen Massenmedien, die Berufsrolle des Redakteurs in ihrer heutigen Form erst vor etwa 100 Jahren entstanden. «Aussagenentstehung ist seitdem nicht das Werk einzelner ‘publizistischer Persönlichkeiten’, sondern das Ergebnis komplizierter Handlungsabläufe in durchorganisierten Redaktionssystemen» (Schmidt/Weischenberg 1991, 31); des Weiteren sei der einzelne «Journalist ‘vom unabhängigen Beobachter und Kritiker zu einem verhältnismäßig passiven Glied in der Kommunikationskette’ geworden» (Carey 1969, 32,⁶⁴ zitiert in: Schmidt/Weischenberg 1991, 31). Gleichwohl bilde das Berichterstattungsmuster «objektive Berichterstattung» bzw. «Informationsjournalismus» als Makro-Medienschema und Makro-Gattungsbezeichnung immer noch den Kern der Berufsethik vieler Journalisten, was gesellschaftlich gestützt und legitimiert sei (Schmidt 32003a, 190s.). Schmidt hebt in diesem Zusammenhang die «sinnentleerte» Anwendung von formalen Techniken hervor, die an den oben erwähnten Perec-Aufsatz denken lassen, denn: Diese Techniken seien «nicht objektiv im Sinne einer stimmigen Repräsentation ‹der Realität›», sondern Teil
63 Die dargelegten Überlegungen zur Objektivität gelten nicht weniger für die erwähnten staatlichen Amtsträger. 64 James Carey, The Communications Revolution and the Professional Communicator, in: Paul Halmos (ed.), The Sociology of Mass-Media Communicators, Keele, Keele University, 1969 (= The Sociological Review Monograph 13).
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eines Rituals, das sich wechselseitig zwischen Journalist und Rezipient konstituiere (Schmidt 32003a, 191): «Dieses Objektivitätsideal ist heute – ebenso wie das Ausgewogenheitspostulat – als ‹Paraideologie› (H. J. Gaus) zwar von vielen durchschaut, prägt aber immer noch die Berufsethik vieler Journalisten (cf. etwa H. Boventer 21985, 1988), die nach wie vor objektive Berichterstattung als ‹strategisches Ritual› zelebrieren. Aber auch die in diesem Ritual gepflegte Präsentation widerstreitender Möglichkeiten zu einem Thema, die Präsentation stützender Fakten zu Aussagen, der gezielte Einsatz von Anführungsstrichen, die strukturierte Anordnung von Informationen und schließlich die strikte Trennung von Nachricht und Meinung machen die Berichterstattung – wie vor allem G. Tuchmann (1971, 1978) demonstriert hat – nicht objektiv im Sinne einer stimmigen Repräsentation ‹der Realität›, sondern bleiben formale Techniken bei der Herstellung von Nachrichten, die zur Aufwertung der Berufsrolle eingesetzt werden und erfolgreich funktionieren, solange sie mit Erwartungen der Rezipienten kompatibel sind. Diesem Berichterstattungsmuster – das haben seine Kritiker deutlich formuliert – liegt ein Wirklichkeitsmodell zugrunde, das lediglich Oberflächen kennt, keine Hintergründe, Ursachen und Interpretationen, statt dessen nur Zahlen, Bilder und Fakten. In dieser Kritik sind sich alle Gegenentwürfe zu einer objektiven Berichterstattung einig: Der interpretative Journalismus.» (Schmidt 3 2003a, 191)
Schmidts Aussage, die Wichtigkeit des Informationsjournalismus gelte für den gesamten westlichen Journalismus, wird durch den Blick auf Frankreich relativiert. Nach Albert (2008, 47), ehemaliger Leiter des Institut français de presse, war den französischen Journalisten traditionell der journalisme d’expression wichtiger als ein ‘bloß’ beobachtender Journalismus (journalisme d’observation): «Par là, il est fondamentalement différent du journalisme factuel anglo-saxon, selon lequel la nouvelle doit être nettement séparée de son commentaire, comme du journalisme analytique, quasi-pédagogique, allemand, plus préoccupé de traiter des sujets que de décrire des faits.» (Albert 2008, 47)
Albert unterscheidet die französische «Meinungspresse» vom «faktenorientierten» angelsächsischen und vom «pädagogischen» deutschen Journalismus. Er führt die «Vorliebe für Bewertung und subjektive Analyse» sowie die «relative Geringschätzung für eine ‹objektive› Berichterstattung» des französischen Journalismus⁶⁵ besonders auf zwei Ursachen zurück (Albert 2008, 48):
65 «Depuis la fin de l’Ancien Régime, les journalistes français assimilent la liberté de la presse à la liberté d’expression et se sont assez peu préoccupés de la liberté d’investigation ou d’accès aux sources. Parmi les raisons qui peuvent expliquer ce goût naturel du journalisme français
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(1) L’ambition littéraire: Das lange vorherrschende Verständnis, Literaten und nicht Berichterstatter zu sein, habe den Schreibstil und die Themengewichtung in der französischen Presselandschaft nachhaltig beeinflusst. So sei im Vergleich zum aktuellen Tagesgeschehen von jeher Kultur und Fiktion ein relativ großer Raum zuerkannt worden. (2) L’histoire française: Im zentralistisch organisierten und regierten Frankreich war die französische Presse bis zum Beginn der IIIe République einem großen staatlichen Zwang unterworfen, was nicht zuletzt die Freiheit, investigativen Journalismus zu betreiben, sehr stark eingeschränkt habe. Albert (2008, 47s.) thematisiert in seiner Beschreibung des journalisme à la française auch das Objektivitätsideal und dessen zentrale, unaufhebbare Widersprüchlichkeit einer proklamierten, aber nie erreichbaren Umsetzung. Die Einbettung einer Nachricht ist nach Alberts Verständnis (2008, 47) unabdingbar für deren Verständnis und nur die Meldung als solche frei von einer ansonsten unvermeidbaren Verformung der Information.⁶⁶ Auf dieser Grundlage legitimiert Albert den «französischen» Umgang von Nachricht und Meinung. «On doit s’interroger sur la règle, si souvent évoquée, du journalisme anglo-saxon: ‹Les faits sont sacrés, le commentaire est libre.› Or, la première opération du journalisme, avant même l’écriture, est de sélectionner dans le foisonnement de l’actualité les seuls événements qui paraissent devoir être retenus par leur importance et/ou leur intérêt: comment dès lors parler du respect des faits? […] On est surpris d’entendre les journalistes français se référer à cette règle, comme si l’objectivité formelle n’allait pas à l’encontre de leurs traditions et de leurs pratiques professionnelles, amis aussi sans doute des attentes de leurs lecteurs. Ces derniers ne sont-ils pas plus soucieux de comprendre les contextes que de connaître les faits et même plus tentés de juger que de comprendre?» (Albert 2008, 47s.)
Die am Ende des Ausschnitts vorgebrachten, fast schon plakativen Aussagen Alberts greifen zu kurz. Doch sie veranschaulichen, dass es bei der Frage nach der Objektivität und der damit zusammenhängenden Berichterstattung um weit
pour le jugement et l’analyse subjective, et son relatif mépris pour le témoignage ‹objectif› du reportage, on peut en retenir deux.» (Albert 2008, 48). 66 Albert (2008, 76) bezieht die Unparteilichkeit der Presse auf die Verschiedenheit und Vielheit ihrer Organe und weniger auf die einzelnen Äußerungen (Texte) eines Journalisten. Hier wäre der Leser gefordert: «En réalité, l’impartialité de la presse tient plus à la diversité des organes qu’à la libre expression des journalistes, mais rares sont les lecteurs qui consultent plusieurs journaux pour confronter leurs différentes versions rétrospectives ou prospectives des faits».
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Pressewesen – Sprache und Strukturen
mehr als um die bloße Nachricht und deren Übermittlung geht – Berufsethos, Ideologien, journalistische Schulen, Gewohnheiten und Erwartungen seitens der Leser und vieles mehr ist damit verknüpft. Die Bezugnahme auf das Objektivitätskonzept und die daraus resultierenden grundverschiedenen Schlussfolgerungen für und wider eine grundsätzliche Trennung von Meinung und Nachricht zeigen, dass die Frage nach der ‘richtigen’ und ‘falschen’ Berichterstattung so nicht zu lösen ist. Die Position Alberts steht dem Standpunkt La Roches diametral entgegen. Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht um die Festlegung auf eine bestimmte Form des Journalismus geht, ist die kurze Darstellung der verschiedenen Positionen ausreichend. Festzuhalten bleibt: Sind sich Produzent und Rezipient darüber im Klaren, wie Nachrichten vermittelt werden (sollen), ist die eine wie die andere Form denkbar. Und genau hier, nämlich bei der Frage nach dem Bewusstsein für Nachrichtenvorgänge, findet sich ein gemeinsamer Anknüpfungspunkt für die Überlegungen La Roches, Bullingers, Pöttkers, Schmidts und Alberts. Mit der Mischung aus meinungs- und informationsbetonten Textsorten ist eine Möglichkeit vorhanden, «die öffentliche Meinung und die auf ihr aufbauende demokratische Willensbildung vor Erstarrung zu bewahren» (Bullinger 2 2001, § 142, Rdnr. 79), eine andere mit dem französischen Modell des journalisme d’expression (Albert 2008, 47) oder des von Schmidt (32003a, 191) geforderten interpretativen Journalismus. Wenn, und darauf kommt es an, beim Verfassen der Texte auf Transparenz geachtet wird. Je nach Ausrichtung betrifft dies unterschiedliche Bereiche: Dazu gehören könnten z.B. erläuternde Informationen zur Entstehung eines Textes oder zur Situation des entsprechenden Journalisten wie auch das offene Benennen von Leitlinien oder politischen Grundausrichtungen,⁶⁷ auf die sich verschiedene Zeitungen verpflichten und die die Auswahl wie auch Darstellung bestimmter Themen beeinflussen. Wie mehrfach erwähnt, entsteht jeder Artikel in einem kontextgebundenen Raum mit subjektiven, kulturellen und geschichtlichen Bezügen. Im Falle von meinungsbetonten Artikeln, die per se als solche produziert und rezipiert werden, gehört ein Verweis darauf sozusagen zum anerkannten Textinventar. Anders sieht es bei informationsbetonten Texten aus, die anderen gattungsspezifischen Merkmalen unterliegen. Auch hier kann es zu (nicht vermeidbaren) kontextgebundenen Bezügen kommen. Diese dann so klar wie möglich zu benennen und nicht einem um jeden Preis ‘objektivierenden’ Textsortenduktus
67 Zschunke (22000, 111) geht ganz selbstverständlich davon aus, dass eine Zeitung im Unterschied zu einer Presseagentur eine «politische Linie» hat.
Textsortenspezifische Merkmale
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zu unterwerfen, trägt zur oben erwähnten Transparenz und somit zu einem konstruktiven Umgang mit Informationen bei. Anknüpfend an die Überlegungen zur Transparenz rückt nun eine Ebene in den Mittelpunkt, die häufig unbeachtet bleibt: die implizit-argumentative Grundstruktur, die jeder Text besitzt, auch der informationsbetonte. Dabei geht es nicht primär darum, manipulative Textstrategien herauszuarbeiten, auch wenn ein bewusstes Überreden-Wollen nicht ausgeschlossen werden kann. Beim Blick zwischen die Zeilen handelt es sich zunächst um das Sichtbar-Machen rekurrenter Textstrategien und argumentativer Grundmuster mit persuasivem Charakter, welche den Text als solchen konstituieren und gleichwohl über ihn hinausweisen. Ausgehend von Einzeltextanalysen wird die Verknüpfung von Einzelphänomenen mit einer Metaebene sowie die Existenz von Universalia untersucht. Die adjektivische Umschreibung ‘persuasiv’ bezeichnet hier die (bewusst oder unbewusst) eingesetzte unterschwellige, also weitestgehend implizit funktionierende Überzeugungskraft bestimmter sprachlicher Konstruktionen bzw. Mechanismen.
5 Vom Satz zum Text Wie funktioniert ein Text als Text? Welche kommunikativen Strategien sind in Pressetexten zu erkennen? Wie werden sie eingesetzt, um die Leser zu erreichen? Was ist entscheidend für die Übernahme oder Akzeptanz bestimmter durch den Text relevant gesetzter Informationen und/oder favorisierter Sichtweisen? Bei dieser (sprachwissenschaftlichen) Betrachtung der Pressetexte geht es nicht um den Wahrheitsgehalt bzw. um die Richtigkeit der dargebotenen Information, sondern um die Frage, wie die Texte als solche funktionieren bzw. ihre Verfasser argumentieren.¹ Nicht eine Inhaltsanalyse ist das Ziel, sondern das Herausarbeiten von Strukturen, genauer von argumentativen Topoi (Sachverhaltszusammenhängen) und kommunikativen (Text-)Strategien², die die argumentative Progression sichern. Des Weiteren geht es nicht darum, was in einem spezifischen Fall, d.h. bei einem ganz bestimmten Produzenten oder bei einem ganz bestimmten Rezipienten abläuft – dafür bedürfte es der Auswertung von Interviews. Es geht in der Analyse der verschiedenen Einzelbeispiele um das Generalisierbare dieser Prozesse oder, um es mit Ducrot (1984, Kap. IV) auszudrücken, um einen discours idéal bzw. um das, was bei Produzent bzw. Rezipient als solchem routinemäßig in der Vertextung und bei der Textverarbeitung geschieht. Um dieser Frage nachzugehen, ist das vorhandene Sprachmaterial Ausgangspunkt und Grundlage. Im Falle der diskursgeschichtlichen³ Topos-Analyse interessiert laut Wengeler (2003, 333) nicht, «ob ein Text selber explizit argumentiert, oder gar, ob eine solche explizite Argumentation richtig, überzeugend oder plausibel ist.» Zwar geht es auch im vorliegenden Fall nicht um die Richtigkeit, Überzeugungskraft und Plausibilität verwendeter Argumentationsmuster, doch zeigt sich an dieser Stelle der Unterschied zu einer diskursgeschichtlichen Analyse im engeren Sinne: Der Zeitraum von wenigen Wochen, in Einzelfällen von einem Jahr, dem
1 Cf. in diesem Zusammenhang die Herangehensweise von Luhmann (42009, 16) an die Realität der Massenmedien: «Unsere Frage hat also jetzt die Form: Wie konstruieren Massenmedien Realität? […] Sie lautet nicht: Wie verzerren die Massenmedien die Realität durch die Art und Weise ihrer Darstellung?». 2 Kommunikative Strategie und Textstrategie werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet, in dem Wissen, dass der Begriff der ‘kommunikativen Strategie’ einen etwas größeren Bedeutungsradius hat. Da es im vorliegenden Fall um die Analyse von Pressetexten geht, ist dieser Gebrauch allerdings gerechtfertigt. 3 Zum der vorliegenden Arbeit zugrunde liegenden Verständnis des Begriffs ‘Diskurs’ siehe Kapitel 3: Fußnote 4.
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Vom Satz zum Text
die hier analysierten Texte entnommen sind, reicht für diachrone Aussagen bei Weitem nicht aus. Der Fokus der Analyse liegt auf den Mechanismen der Textkonstituierung und nicht auf der Veränderung und Entwicklung gesellschaftlicher Wissensbestände, quasi der ‘inhaltlichen Füllung’. Es kommt dabei nicht wesentlich darauf an, genau festzumachen, wessen Äußerung der Text nun vermittelt – im Ducrot’schen Sinne des Polyfoniekonzepts wie auch (und hier findet sich erneut ein Berührungspunkt mit dem Ansatz der Diskursanalyse) im Hinblick auf die übereinzeltextliche Wertung und Bündelung für die Fragestellung relevanter Aussagen (dazu Wengeler 2003, 333). Die Perspektive des ‘Was-wirdüberhaupt-gesagt’ (Topoi) und des ‘Wie-wird-etwas-gesagt’ (kommunikative Strategien) hilft, wie im späteren Verlauf zu sehen sein wird, u.a. im Umgang mit dem bisweilen diffizilen Phänomen der Zitate. Beide genannten Textbausteine, Topoi wie Textstrategien, sind als Vorlage auf einer konzeptionell-kognitiven Ebene vorhanden und werden im und durch den jeweiligen Text realisiert. Es gilt also zwischen einem ‘Wissen um’ und einer ‘Anwendung von’ zu unterscheiden. Die konkrete Realisierung dieser Funktionsvorlagen kann schließlich mehr (Textstrategien) oder weniger (Topoi) explizit erfolgen. Eng verknüpft mit der Fragestellung nach den über den Einzeltext hinausgehenden Bausteinen bzw. deren Realisierung/Implementierung ist die zum Grundverständnis der vorliegenden Arbeit gehörende Definition des Begriffs ‘Argumentation’. Argumentation wird verstanden als eine inhaltlich und strukturell getragene Bewegung, als das Zusammenspiel kommunikativer Strategien, deren Zweck es ist, eine oder mehrere (Haupt-)Thesen zu präsentieren – und dies nicht zuletzt durch das Verwenden bzw. Anzitieren bestimmter Sachverhaltszusammenhänge.⁴ Wichtig bei der Einzeltextanalyse ist somit die auf den Prozesscharakter der Argumentation ausgerichtete Perspektive, die den Text als komplexes Ganzes begreift, einschließlich der zur argumentativen Dynamik gehörenden bzw. sie häufig erst ermöglichenden impliziten Stützung der Äußerungen. Ausgangspunkt der Textanalyse bildet – nach einer genauen Lektüre – der Inhalt, genauer: das Benennen der ‘These(n)’ als zentralen Baustein bzw. Ausgangspunkt jeglicher thematischen bzw. argumentativen Bewegung. Es handelt sich hierbei ganz allgemein und in einer funktionalen Definition um die
4 Cf. Ducrot (1984, 105): Une «orientation argumentative est inhérente à la plupart (au moins) des phrases: leur signification contient une instruction comme: ‹en énonçant cette phrase, on se présente comme argumentant en faveur de tel type de conclusion›.» Wenn diese argumentative Orientierung oder Dynamik bereits in einzelnen Sätzen festzustellen ist, um wie viel mehr dann im komplexen Zusammenspiel verschiedener Sätze, dem Text.
Vom Satz zum Text
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Kernaussage(n) des Textes – also das, worüber gesprochen wird.⁵ Dabei kann es sich um eine Hypothese, eine spezifische Fragestellung, ein Argument o.Ä. handeln. Jeder Pressetext, auch der informationsbetonte, ist insofern argumentativ, als er im Textverlauf, vermittelt über kommunikative Strategien, Thesen entwickelt. Bei der ersten Lektüre wird der These als Ausgangspunkt der Argumentationsdynamik ein größeres Gewicht beigemessen als dem vermeintlichen Zielpunkt, der Konklusion. Das Primat der These ist hier insofern gerechtfertigt, als es zuerst um den Argumentationsprozess als solchen geht. Schließlich kann die (explizit oder implizit vorhandene) Konklusion auch schlicht aus der Bestätigung der Ausgangsthese(n) bestehen und bringt für die Analyse somit keinen ‘Mehrwert’. Nachdem die Hauptthese/n benannt ist/sind, können im nächsten Schritt die verschiedenen Schichten und Strategien betrachtet werden, deren Interrelation notwendige Voraussetzung für einen (gelungenen) Argumentationsprozess darstellt. Bei diesem Schritt wird die Perspektive nun geweitet und es spielt – je nach vorliegendem Text – die Konklusion eine größere Rolle. Denn wie Wengeler anschaulich illustriert, können die Topoi nicht nur als Oberprämisse in einem Schlussverfahren fungieren: «Als zweite Möglichkeit kann der Topos aber auch statt der konditionalen Konjunktion wenn mit dem kausalen weil ausgedrückt werden, was es ermöglicht, die Konklusion des Argumentationsmusters als Konklusion und nicht nur als mögliche Schlussfolgerung bei Erfülltsein der Unterprämisse in einem Satz zum Ausdruck zu bringen: Weil die Geschichte lehrt, dass bestimmte Entscheidungen bestimmte Folgen haben, sollte die anstehende Entscheidung (von der unterstellt wird, dass sie in relevanter Hinsicht dem aus der Geschichte entnommenen Beispiel gleich ist) getroffen, nicht getroffen werden.» (Wengeler 2003, 301)
Doch nun zurück zu den Kapiteln, die der Toposanalyse vorangestellt sind. Dabei handelt es sich zunächst um die Präsentation des dieser Arbeit zugrunde liegenden Textmodells (Kap. 5.1, 5.2) sowie im Anschluss daran um Funktion und Stellung der Textstrategien, welche anhand verschiedener Beispiele illustriert werden (Kap. 6 und 7).
5 Cf. das Thema-Rhema-Prinzip.
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Vom Satz zum Text
5.1 Die funktionale Satzanalyse nach František Daneš⁶ Sowohl für die konkrete Einzelanalyse als auch für die Bestimmung von Parametern, die über das Einzelbeispiel hinausgehen, ist die Betrachtung des Zusammenspiels der verschiedenen Textebenen unerlässlich. Ausgangspunkt der methodologischen Überlegungen sind hierbei die Arbeiten von Daneš und insbesondere der 1966 erschienene Aufsatz A Three-Level Approach to Syntax. Darin stellt Daneš fest, dass für eine Satzanalyse und mehr noch für deren funktionale Analyse im Textganzen die – bis dahin zudem noch unscharfe – Trennung der grammatischen von der semantischen Struktur eines Satzes nicht ausreicht. Aus diesem Grund führt er eine dritte Ebene, die der Organisation der Äußerung,⁷ ein. Dieser konzeptionelle Schritt ermöglicht in der Folge nicht nur eine klare Unterscheidung zwischen der semantischen und der grammatischen Ebene, sondern auch die Berücksichtigung transphrastischer Phänomene, die über den einzelnen Satz hinausreichen, wie z.B. die Thema-Rhema-Struktur oder die Kohäsion. Jede Äußerung besitzt nach Daneš (1966) drei verschiedene Ebenen, die miteinander interferieren: (1) Die Ebene der Organisation der Äußerung (2) Die Ebene der semantischen Struktur des Satzes (3) Die Ebene der grammatischen Struktur des Satzes
Auf der obersten Ebene werden Satzelemente unter dem Blickwinkel der Kommunikation betrachtet, thematische und kontextuelle Aspekte spielen dabei eine zentrale Rolle. So würde bei dem Satz ‘Eloise verschenkt ein Buch.’ beispielsweise nach Thema und Rhema gefragt. Ein anderer Fokus liegt auf der Analyse der semantischen Ebene, der Tiefenstruktur des Satzes. Die konkret vorliegenden lexikalischen Bedeutungen werden hier in ihren abstrakten semantischen Eigenschaften wie ‘Lebewesen’, ‘Handlung’, ‘Fähigkeit’ klassifiziert, deren Merkmale zu- und untereinander in Beziehung gesetzt. Der Beispielsatz ‘Eloise verschenkt ein Buch.’ besteht demnach aus einer Handelnden (Agens), der Handlung und einem ausgetauschten Gegenstand (Patiens). Die grammatische Ebene erschließt sich als Oberflächenstruktur dem Betrachter direkt. Die verschiedenen Satzelemente sind hier als Träger bestimmter Eigenschaften wichtig und werden in grammatische Kategorien eingeteilt. Während die seman-
6 Daneš (1966); cf. auch Gülich/Raible (1977, 70s.). 7 Bei der vorliegenden Arbeit werden Pressetexte, also schriftliche Äußerungen, untersucht. Die Ebene der Organisation der Äußerung ist hier die Ebene der Organisation des (Presse-)Textes.
Funktionale Textanalyse: Daneš + 1
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tischen Rollen bei einer Veränderung der Diathese gleich bleiben, die Tiefenstruktur also beibehalten wird, ändern sich die grammatischen Strukturen beim Wechsel von Aktiv zu Passiv (und umgekehrt). So wird das Subjekt ‘Eloise’ des Beispielsatzes bei einer passivischen Umwandlung zur fakultativen Ergänzung (‘Das Buch wird von Eloise verschenkt.’), das ‘Buch’ wiederum zum Subjekt. Die Unterscheidung von Daneš trägt dem mehrschichtigen Phänomen ‘Satz’ Rechnung und ist als wichtiger konzeptioneller Schritt für dessen Analyse Usus geworden. Die Dreigliedrigkeit des Modells reicht allerdings für die Untersuchung der Inhaltsebene ganzer Texte nicht mehr aus – besonders dort nicht, wo es um das Phänomen des Mitsagen und Mitmeinens geht, welches sich bis hin zu Persuasion und Manipulation erstrecken kann. Eine ebenfalls wichtige Erweiterung auf anderem Feld⁸ hat Ducrot unternommen, indem er die Einheit des sujet parlant in Frage gestellt hat (cf. i.a. Ducrot 1984, 172ss.). Seine Theorie der Polyfonie, inspiriert durch das von Michail M. Bachtin für die Literaturwissenschaft ausgearbeitete Konzept der Vielstimmigkeit eines Textes, ist besonders auf die Analyse einzelner Äußerungen zugeschnitten und als Ansatz für die Analyse ganzer Texte nicht praktikabel. Einige Aspekte – vor allem seine in Le dire et le dit dem Polyfoniekonzept vorangestellten Überlegungen – werden in den Textanalysen aufgegriffen. Das sich nun anschließende Kapitel nimmt zunächst nicht den Ducrot’schen Faden auf, sondern führt das Modell von Daneš fort und ergänzt es um eine weitere, für die vorliegende Arbeit wesentliche Dimension: die kognitive Ebene.
5.2 Funktionale Textanalyse: Daneš + 1 Beim vorliegenden Ansatz handelt es sich um ein integrales Textmodell, das den Text als Ganzes, als komplexes vielschichtiges Zeichen, in den Blick nimmt. Es bildet die Ebenen ab, die für (s)eine gelingende Kommunikation, d.h. für Produktion und Rezeption, erforderlich sind und bietet zugleich verschiedenen linguistischen Disziplinen einen Zugang: Die grammatische Ebene muss mit anderen Mitteln analysiert werden als die semantische Tiefenstruktur oder die Ebene der Organisation der Äußerung. Wie bei jedem Zeichenmodell handelt es sich um konzeptionelle Unterscheidungen, die in der Praxis zu einer Einheit verschmelzen. Um der Frage nachzugehen, wie ein Text als Text bzw. wie der Prozess des
8 Ducrot (1984, 173) selbst bezeichnet dieses Feld als «pragmatique semantique» bzw. «pragmatique linguistique».
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Vom Satz zum Text
Mitsagens und Mitmeinens funktioniert, ist die Trennung der textkonstituierenden Ebenen ein erster notwendiger Schritt. Bei der vorliegenden Analyse der Pressetexte ist es allerdings nicht notwendig, alle Textebenen einzubeziehen, da der Schwerpunkt auf der Wechselwirkung zwischen der Organisationsebene der Äußerung und der kognitiven Ebene liegt. Das Instrumentarium zur Textuntersuchung setzt sich aus Elementen der Text- und Diskurslinguistik sowie der Argumentationsanalyse zusammen. Zentrale Orientierungspunkte sind außerdem der Handlungscharakter des Textes und daraus resultierende funktionale Aspekte für Darbietung und Entschlüsselung von Information. Der Text ist eine Sprechhandlung – in dem Moment, in dem er von einem Autor gesprochen oder geschrieben wird; es liegt erneut eine Handlung vor, wenn der Text rezipiert wird.⁹ Für die vorliegende Herangehensweise ist eine Aufteilung in Sprech- vs. Rezeptionshandlung¹⁰ nicht zielführend, da es hier um Spuren geht, die auf den Text hinter dem Text verweisen. Der sichtbare Text wird somit zum Fundus von Handlungsanweisungen, die auf mehr verweisen als auf das rein innertextuelle System. Diese Betrachtungsweise ist vergleichbar mit dem Konzept der Instruktionsgrammatik von Weinrich (1993) – bei der es allerdings nicht um die Inhaltsebene geht. Im Zentrum stehen vielmehr die grammatischen Signale, die sich als Instruktionen an den Rezipienten verstehen lassen, etwas auf eine bestimmte Weise zu dekodieren: «In dem Syntagma ‹le chapeau de paille› besagt die Präposition ‘de’, daß ‹paille› den Bedeutungsinhalt von ‘chapeau’ in einer spezifischen Weise zugeordnet werden soll:
9 Der Text ist hier vergleichbar mit einer Notenpartitur: Die Musik wird durch die Niederschrift des Komponisten geschaffen, sie erklingt, wenn die Noten gespielt werden – Letzteres auch nur dann, wenn der Musiker in der Lage ist, die Noten zu lesen. 10 Zum «Text als sprachlicher Handlung»: Rolf (1993, 36s.) stellt die These in Frage, «alle Texte sind zugleich sprachliche Handlungen». Texte seien zunächst einmal nichts anderes als sprachliche Gebilde: «Texte werden nicht herbeigeführt, sie sind keine Ereignisse, sie finden nicht statt.» (Rolf 1993, 36) Texte seien nur dann als kommunikative Ereignisse zu betrachten, wenn der Untersuchungsgegenstand ein spezieller sei: Nicht um Texte gehe es dann, sondern um Texte in Kommunikation bzw. Text-Kommunikation (Rolf 1993, 36). Diesen Einwand unbenommen stellt sich die Frage, wie Texte anders als in ihrer Kommunikationsfunktion und -situation adäquat analysiert werden können – auch deren Analyse ist bereits eine (Rezeptions-) Handlung. Blickwinkel und Sichtweise auf den Gegenstand sind entscheidend für dessen Definition – das gilt für den Text als solchen ebenso wie für die Frage nach dessen Handlung(scharakter). So betrachtet Rolf Texte ganz allgemein als «Handlungsträger, die je nach den Annahmen, die der Textproduzent über das Erreichen seines Handlungsziels hegt, strukturiert sind.» (Rolf 1993, 37) Und Antos (1982, 34) weist auf die Verknüpfung von Betrachtungsweise und Definition hin, wenn er sagt, dass die Bezeichnung ‘Text’ «einmal als ‹Herstellungsresultat› und zum anderen als ‹Mittel kommunikativen Handelns›» gebraucht würde.
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nämlich so, daß ‹paille› den Bedeutungsinhalt von ‘chapeau’ vergrößert und komplementär die Extension des Begriffes, den Bedeutungsumfang, einengt: Die Bedeutungsanweisung richtet sich also nicht auf irgendeinen Hut, sondern auf eine besondere Art von Hut, hier einen Hut aus Stroh. Dabei ist das romanische ‘de’/‘di’ eine typische merkmallose Präposition, d.h. es ist eine Folge der Code- und Weltkenntnis des Hörers [oder Lesers], wenn er ‹chapeau de paille› als ‘Hut aus Stroh’, ‹salle d’attente› als ‘Raum zum Warten’, ‹coup de main› als ‘Schlag (oder Griff) mit der Hand’, ‹tremblement de terre› als ‘Beben der Erde’ interpretiert.» (Raible 1982, 231)
Das primäre Interesse der vorliegenden Arbeit gilt den in den Texten eingewobenen ‘Instruktionen’, d.h. den durch die Auswertung einer größeren Anzahl von Einzeltexten sichtbar werdenden übereinzeltextlichen, gegebenenfalls übereinzelsprachlichen Techniken und Phänomenen. Diese stellen Funktionsvorlagen dar, die teilweise so gängig sind, dass ein Anzitieren ausreicht, um durch Inferenz Verstehensprozesse in Gang zu setzen. Die Analyse zeigt, dass vor allem zwei Phänomene eng mit der argumentativen Dynamik eines Textes verknüpft sind: (1) die kommunikativen (Text-)Strategien – Mechanismen der Textorganisation und Verknüpfungselemente zwischen der kognitiven und der Organisationsebene des Textes, dargestellt in den Kapiteln 6 und 7. (2) die Topoi – argumentationsanalytisch als Sachverhaltszusammenhänge zu betrachten und behandelt in Kapitel 8. Der eben erwähnte Begriff der argumentativen Dynamik ist in Anlehnung an den von Daneš geprägten Terminus der ‘thematischen Progression’ gewählt; er beschreibt die argumentative Grundausrichtung eines Textes oder einzelner Textpassagen, die im Zusammenspiel verschiedener Ebenen und Elemente zustande kommt und bestimmte Schlussfolgerungen evoziert. Beide Ausdrücke, die ‘thematische Progression’¹¹ wie die ‘argumentative Dynamik’, unterstreichen die Prozesshaftigkeit des untersuchten Aspekts: Bei der hier im Zentrum stehenden Analyse der argumentativen Dynamik geht es um die Darstellung und die (implizite) Relevantsetzung von Inhalten, die, wie sich anhand exemplarisch vorgeführter Analysen zeigen wird, ihre semantische Aussagekraft in der Wechselwirkung zwischen Text und kognitiver Ebene entfalten. Der Blick auf die thematische Progression eines Textes ist mehr technischer bzw. mechanischer Art. Hier stellt sich nicht primär die Frage nach der Kohärenz, den inhaltlichen, semantisch-logischen Zusammenhängen, sondern die Frage nach der Kohäsion, den formalen Verknüpfungsmechanismen und innertextuellen Bezügen. Das
11 Das Konzept der ‘thematischen Progression’ wird nachfolgend erläutert.
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Vom Satz zum Text
Zusammenführen der beiden Dynamiken wird besonders dort interessant, wo anhand materialisierter Zeichen (kommunikative Strategien) kognitive Inhalte (Topoi) abgerufen werden. Die von Daneš vorgenommene Dreiteilung ‘grammatisch – semantisch – organisatorisch’ wurde bereits erläutert. Sie wird im vorliegenden Modell übernommen und bildet den Textkörper. Den Schichten dieses Textkörpers ist ein unterschiedlicher Abstraktionsgrad eigen, der sich aus den Benennungen ‘Oberflächenstruktur’ oder grammatische Ebene¹² und ‘Tiefenstruktur’ oder semantische Ebene erschließen lässt. Analog zu dieser Abstufung verhalten sich die Ebene der Organisation der Äußerung, die die sprachliche Gestaltung des Textes bedingt, und die kognitive Ebene, die den semantisch-logischen Fundus bereithält, zueinander. Die nachfolgende Tabelle illustriert die verschiedenen Textebenen – kognitive Ebene, Ebene der Organisation der Äußerung, semantische Textebene und grammatische Struktur – und führt Beispiele an, die zur jeweiligen Schicht gehören. Die kognitive Ebene ist als Makrostruktur dem Textkörper übergeordnet. Sie ist von der jeweiligen Realisierung in der Einzelsprache zwar losgelöst, zugleich jedoch durch die kommunikativen Strategien und die verschiedenen Abstraktionsformen mit dem manifesten Text verbunden. Die vertikalen Pfeile verweisen auf eben diese Interaktion der Ebenen und deuten auf deren Durchlässigkeit hin, welche nicht zuletzt sprachliche bzw. diskursive Veränderungen ermöglicht.
12 «Die ‹Grammatik› einer Sprache ist der von den Fachleuten eingefangene Reflex eines Systems – jenes Systems, das es dem Hörer [und Leser] gestattet, die in der [mündlichen oder schriftlichen] Rede linear aufeinanderfolgenden Einheiten einander zu- und damit größeren Einheiten zuzuordnen. Dafür, daß der Hörer [oder Leser] die richtigen Einheiten aufeinander bezieht, gibt es eine Reihe von Indices (für die die Grammatiker die verschiedenartigsten Namen haben).» (Raible 1982, 231).
Funktionale Textanalyse: Daneš + 1
K O G N I T I V E
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E B E N E
MAKROSTRUKTUR Semantisch-logische Zusammenhänge, nicht linearisierte Vorstellungen, Wertehierarchien, kulturelle Kontexte, Funktionsvorlagen (Wissen um Gattungen, kommunikative Strategien), Topoi
‘Topos als Idee’ (normative) Argumentationsvorlagen, zum Teil mit hierarchischen Verknüpfungen
zunehmende thematische Spezifiziertheit
‘Topos als Konkretisierungsform’ diskursabstrakte(re) Topoi diskursspezifische(re) Topoi
kontextabstrakt
kontextspezifisch
Konkrete Realisierung in einer Einzelsprache
E B E N E
D E R
O R G A N I SA T I O N
D E R
Ä U SSE R U N G
Vermittelnde Struktur Realisierung von Gattungsformen und kommunikativen Strategien, Präsentation von Thesen, Argumenten, Topos als Realisierungsform … Schaffen von Kohäsion
SE M A N T I SC H E T E X T E B E N E (bei Daneš: Satzebene) Tiefenstruktur Semantische Rollen (Agens, Patiens, Benefizient), Valenz, Modus, Tempus …
G R A M M A T I SC H E ST R U K T U R (Satzebene) Mikrostruktur, Oberflächenstruktur Subjekt, Verb, Objekt …
D a s Z u s a m m e n s p i e l d e r v i e r E b e n e n e r z e u g t d i e ( T e x t -) K o h ä r e n z.
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Vom Satz zum Text
Wie aus dem Modell ersichtlich, ist die dem Textkörper zugeordnete kognitive Ebene nicht mit der semantischen Satzstruktur bei Daneš identisch. Sie gleicht einem ungleich abstrakteren Speichermedium, das für eine (gelingende) Kommunikation notwendiges Wissen virtuell bereithält. Dieses Wissen ist – wie am Beispiel der Topoi (Kap. 8) illustriert – in verschiedenen Abstraktionsstufen vorhanden. Es umfasst unter anderem semantisch-logische Zusammenhänge, nicht linearisierte und konkretisierte Vorstellungen, Wertehierarchien¹³, kulturelle und soziale Kontexte, kontextabstrakte und kontextspezifische Topoi sowie übereinzelsprachliche und einzelsprachliche Funktionsvorlagen wie das Wissen um Gattungen oder kommunikative Strategien. Diese vom Einzeltext losgelöste, jedoch nicht völlig unverbundene kognitive Ebene spielt auch für Argumentation und Persuasion eine wichtige Rolle. Sie hält die dafür notwendigen Muster wie z.B. These – Antithese, hierarchische Verknüpfungen und zugleich deren erste Konkretisierungsform bereit. Der Bezug auf die kognitive Ebene hat dabei vielfältige Gründe, nicht zuletzt solche der Sprachökonomie. Gerade hier, an den nicht scharf voneinander abzugrenzenden Übergängen, beispielsweise zwischen notwendiger Generalisierung und übervereinfachender Stereotypisierung oder suggestiver Persuasion, ist eine einheitliche Klassifizierung der kommunikativen Strategien nicht zu leisten. Wie die Textanalyse zeigen wird, sind Tendenzen beim Einsatz kommunikativer Strategien auszumachen, doch keine klar umrissenen Paradigmen. Die Frage nach dem Verhältnis von Einsatz und Wirkung kann in den meisten Fällen nur anhand des Einzeltextes erschöpfend beantwortet werden. Dafür wiederum ist die konzeptionelle Trennung der verschiedenen Textebenen unerlässlich. Die implizit erreichte Verständigung über Textinhalte kann auch zum Ergebnis führen, dass stereotype Denkbilder und kognitive ‘Frames’ perpetuiert bzw. unhinterfragt übernommen werden. Denn häufig werden diese Abläufe gar nicht (mehr) bewusst wahrgenommen. Der Blick auf die Darbietungsweise von Argumentation bzw. auf ihre Dynamisierung führt nicht nur zu einem tieferen Textverständnis, sondern eröffnet letztlich auch die Möglichkeit, Argumentationsprozesse zu durchschauen und gegebenenfalls kritisch zu beleuchten. Als Beispiel für eine diskursanalytische Arbeit in diesem Sinne wäre die Untersuchung von Matouschek/Wodak/Januschek zu nennen, die 1995 eine Publikation zu Genese und Formen von rassistischen Diskursen der Differenz am Beispiel der Berichterstattung über (die) Rumänen in Österreich vorgelegt haben. Ihr aus der Mikroanalyse entstandenes Modell (1995, 60) arbeitet zwar nicht mit dem argumentativen Topos-Begriff, bietet aber einige Anknüpfungspunkte zum oben
13 Cf. Perelman/Olbrechts-Tyteca (31976).
Funktionale Textanalyse: Daneš + 1
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vorgestellten Schaubild. So werden beispielsweise unterschiedliche Analyseebenen benannt (eine Inhaltsebene, die Strategien der Argumentation [Konkretisierungsformen] sowie die Formen der Versprachlichung [Realisierungsformen]), und die kognitive Ebene kommt, allerdings nicht eigens abgetrennt, u.a. im Begriff des ‘Diskurses der Differenz’ zum Tragen. Die erwähnte konzeptionelle Trennung der verschiedenen Textschichten sensibilisiert zusätzlich für die verschiedenen Konkretisierungsformen ein und desselben Musters. Je konkreter die Funktionsvorlagen werden, desto spezifischer einzelsprachliche Formen nehmen sie an. Das zeigt beispielsweise die Einteilung der Topoi in kontextabstrakt und kontextspezifisch bzw. diskursabstrakt und diskursspezifisch (siehe dazu Kap. 8). Die kognitive Ebene ist dabei noch weiter differenzierbar als im Schaubild ausgeführt: Zu universellen und kulturellen kommen neben sozialen auch individuelle Komponenten hinzu. Diese Auffächerung muss für die an dieser Stelle fokussierten generalisierbaren Aspekte nicht durchgeführt werden; im Zusammenhang mit einzelsprachlichen Spezifika, die im Vergleich der deutschen und französischen Texte aufscheinen, wird, wo dies notwendig ist, die Perspektive entsprechend geweitet bzw. ausdifferenziert. Wie bei der de Saussure’schen langue handelt es sich bei der oben beschriebenen Schichtenbildung also um eine Idealisierung (oder anders ausgedrückt: um den Prozess der Homogenisierung, einer nachfolgend näher ausgeführten kommunikativen Strategie). Die Rolle der kognitiven Ebene im Vertextungsprozess ist mit dem Bereithalten von Mustern und Vorlagen – in der klassischen Rhetorik der Bereich der inventio bzw. nach deren Konkretisierung und Realisierung der zunächst noch auf der kognitiven Ebene, dann sprachlich realisierten dispositio – keineswegs beendet. Denn bei jeder Stufe der Textkonstituierung wird auf diese Metaebene Bezug genommen, sei es aus sprachökonomischen, persuasiven oder anderen Gründen. Nur im Zusammenspiel des kognitiv-semantisch-logischen Bereichs mit dem eigentlichen Textkörper kann letztlich Argumentation entstehen.¹⁴ Einen wichtigen Anteil am Prozess der Argumentation bzw. der Vermittlung von Information haben die bereits erwähnten kommunikativen (Text-)Strategien, die sowohl in vertikaler Hinsicht (als Verknüpfungselement zwischen den Ebenen) wie auch in horizontaler Hinsicht (für die Organisation des Tex-
14 Cf. Matouschek et al. (1995, 51): «Die sprachliche Realisierung [von Argumentationsstrategien] erfolgt durch ein spezifisches Zusammenspiel einer Zusammensetzung unterschiedlichster sprachlicher Elemente auf allen Sprachebenen (Diskurs, Text, Paragraph, Satz, Wort). Argumentationsstrategien können sowohl auf Satz, Paragraph und Textebene realisiert werden, mehrere von ihnen können gleichzeitig auftreten und auch aufeinander Bezug nehmen».
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Vom Satz zum Text
tes) eine Rolle spielen. Dasselbe Phänomen kann ähnlich den Topoi dabei aus funktional unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden; mit abnehmendem Abstraktionsgrad und bei zunehmender einzelsprachlicher Spezifizität: als Funktionsvorlage, als Konkretisierungs- oder als Realisierungsform (Kap. 8). Die Untersuchung der Realisierungsform ermöglicht den analytischen und konzeptionellen Zugriff auf die übergeordneten, abstrakteren Ebenen. Sie selbst ist auf der Organisationsebene anzusiedeln und eng verknüpft mit dem von Daneš geprägten Begriff der ‘thematischen Progression’. Im Zentrum dieses Konzepts steht ein durch die «Beziehungen zwischen Satzthemen bedingter thematischer Textaufbau»; Daneš hat damit den Blick von den Satzthema-Sequenzen zu textuellen thematischen Zusammenhängen geweitet und der formal-syntaktischen Betrachtungsweise des Textaufbaus die semantisch-inhaltliche Analyse beigesellt (Schoenke 12.11.2009, Eintrag thematische Progression). Daneš (1970, 74, zitiert in: Gülich/Raible 1977, 75), der den Text aus funktionaler Perspektive als Abfolge von Themen betrachtet, formuliert diesbezüglich wie folgt: «Die eigentliche thematische Struktur des Textes besteht (…) in der Verkettung und Konnexität der Themen, in ihren Wechselbeziehungen und ihrer Hierarchie, in den Beziehungen zu den Textabschnitten und zum Textganzen sowie zur Situation. Diesen ganzen Komplex von thematischen Relationen im Text nenne ich ‘thematische Progression’.»
Hinsichtlich der Untersuchung von Textstrukturen räumt Daneš dem Thema eine Vorrangstellung gegenüber dem Rhema¹⁵ ein. Mit diesem Primat korrelieren sowohl die zentrale Position der kommunikativen Strategien wie auch die exponierte Stellung der Topoi in der vorliegenden Arbeit. Beide stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingung zueinander. Dies zeigt sich anhand der exemplarischen Textanalysen, welche zunächst im Zusammenhang mit den Textstrategien (Kap. 6 und 7) und im Anschluss daran im Zuge der Beschreibung der Topoi (Kap. 8) vorgestellt werden.
15 «Thema ist […] einerseits das, worüber etwas mitgeteilt wird, und andererseits das, was aus dem Kontext oder der Situation ableitbar ist, also die bekannte oder gegebene Information; Rhema ist einerseits das, was über das Thema mitgeteilt wird, andererseits die nicht aus dem Kontext ableitbare, neue Information.» (Gülich/Raible 1977, 74).
6 Textstrategien Als kommunikative Strategie oder Textstrategie werden Mechanismen bezeichnet, die für die funktionale bzw. zielgerichtete Vermittlung von Inhalten wichtig sind, dank deren Einsatz Informationen in einem Text relevant gesetzt und in einem Diskurs verankert werden; obwohl die vorliegende Arbeit eine Unterscheidung zwischen Topoi und Textstrategien vornimmt, die Perelman/Olbrechts-Tyteca (31976) so nicht treffen, weist doch die nachfolgende Überlegung über den Zusammenhang von matière et forme du discours in die Richtung, die die nachfolgende Untersuchung nehmen wird. Die Rolle der Topoi ist besonders im Kontext des accord zu suchen und die mise en relief gehört zu den wichtigsten Funktionen der Textstrategien: «Ce qui nous retiendra dans l’examen de la forme du discours, pour autant que nous la croyions discernable de sa matière, ce sont les moyens grâce auxquels une certaine présentation des données situe l’accord à un certain niveau, l’imprime avec une certaine intensité dans les consciences, met en relief certains de ses aspects.» (Perelman/ Olbrechts-Tyteca 31976, 192)
Im Gegensatz zu den Topoi, bei denen der Zugang indirekt bzw. interpretativ über die Ebene der Repräsentation von Vorstellungen erfolgt, wird bei der nachfolgenden Analyse der kommunikativen Strategien die strukturelle bzw. die technisch-handwerkliche Komponente, also die forme im Vergleich zur matière, betont. Beide Aspekte, der der forme als Mechanismus und der der matière als jeweiliger Inhalt, bilden dann die Einheit der Textstrategien. Je nachdem, welche funktionale Perspektive eingenommen wird, spielen dabei unterschiedliche, z.T. komplementäre Aspekte eine Rolle: – kommunikative Funktion gelingender Transfer von Inhalten (Produzent – Text bzw. Text – Leser)¹ – vertikale Funktion Verbindungskanal, Mittlerfunktion zwischen den textkonstituierenden Ebenen (hier besonders zwischen der kognitiven und der Organisationsebene des Textes) – horizontale Funktion Elemente der Textstrukturierung (Ebene der Textorganisation)
1 Gülich/Raible (1977, 75) weisen im Zusammenhang mit der kommunikativen Relevanz von Inhalten darauf hin, dass nicht nur das Rhema als ‘neue Information’, sondern auch eine neue Beziehung zwischen Thema und Rhema von Bedeutung ist. Für eine derartige Verknüpfung sorgen auch die verschiedenen kommunikativen Strategien.
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Des Weiteren bzw. in Rückbindung auf das in 4.2 dargestellte Textmodell lassen sich die kommunikativen Strategien in mehrfacher Hinsicht verorten: In ihrer abstrakten Form existieren sie auf der kognitiven Ebene, gewissermaßen als Mustervorlage, die Produzent und Rezipient zur Verfügung steht. In ihrer konkreten Realisierungsform sind sie Teil der Organisationsebene des Textes und zeigen sich z.B. in Techniken der Verknüpfung, der Hervorhebung oder der Distanzierung. Wie bei den Topoi sind auf der makrostrukturellen Ebene Formen unterschiedlichen Abstraktionsgrades vorhanden. Eine Dreiteilung scheint aus diesem Grund auch hier angebracht (dazu das im Anschluss an den nächsten Abschnitt folgende Schaubild). Dies lässt sich an folgendem Beispiel zeigen: Als eine Grundkonstante bei der Vermittlung von Inhalten bzw. eine Grundstruktur argumentativer Dynamik hat sich die Textstrategie der Dichotomiebildung herausgestellt. Diese ist – als ‘mechanischer’ Prozess der Vertextung – allerdings nicht zu verwechseln mit der häufig damit verknüpften kognitiven Repräsentation von Gegensatzpaaren. Die Dichotomiebildung zeigt sich auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Realisierungsformen.² Sie ist als Mechanismus so sehr verinnerlicht, dass es ausreichen kann, nur ein Element des jeweiligen Gegensatzpaares zu erwähnen (z.B. ‘Okzident’) und automatisch die Ergänzung (‘Orient’),³ quasi den dazugehörigen Verankerungspunkt auf kognitiver Ebene,
2 Um die anvisierten Aspekte schnell zugänglich zu machen, sind die betreffenden Passagen der Presseartikel durch Fettung markiert. Da es sich hierbei um eine durchgängige Hervorhebung handelt, habe ich darauf verzichtet, dies bei jeder Kennzeichnung zu erwähnen. Sollte eine Fettung im Original vorhanden sein, wird explizit darauf hingewiesen. (Bei nicht zu Korpustexten gehörenden Zitaten wird eine von mir vorgenommene Hervorhebung durch ‘[Hervorhebung D.W.]’ gekennzeichnet und ansonsten die Original-Kennzeichnung ohne Kommentierung übernommen.) – (1) nominale Ebene: (a-4): «friedlich lebende Muslime» vs. «Extremisten»; (2) syntaktische Ebene: (a-5): «Il n’y a pas de dégel en Iran, mais le régime développe une offensive en règle contre son président et la population observe, fascinée.»; (3) syntaktische Ebene: (a-6): «Bien qu’il n’ait pas été revendiqué, l’attentat fait penser aux nombreuses attaques perpétrées par les émules locaux d’Al-Qaeda, entre mai 2003 et septembre 2004.»; (4) semantische Merkmale: religiös + Nicht-Akzeptanz von als grundlegend betrachteten Rechten vs. nicht religiös + Akzeptanz von/Kampf um als grundlegend betrachtete(n) Rechte(n). 3 Said (1997, 4) weist hinsichtlich dieser Dichotomie auf eine lange Tradition hin, die, so scheint es intuitiv, geografisch genau verortet werden kann, vor allem das im weiteren Verlauf immer wieder aufgegriffene Thema der Alterität betrifft (Kap. 6.1.4, 7.2.7, 7.2.8): «From at least the end of the eighteenth century until our own day, modern Occidental reactions to Islam have been dominated by a radically simplified type of thinking that may still be called Orientalist. The general basis of Orientalist thought is an imaginative and yet dramatically polarized geography dividing the world into two unequal parts, the larger, ‹different› one called the Orient, the other, also known as ‹our› world, called the Occident or the West.» Cf. außerdem Said (2003, 49–73).
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zu implizieren. Auch binäre syntaktische Strukturen, wie z.B. ‘einerseits – andererseits’, funktionieren auf diese Art und Weise. Wird die erste Komponente genannt, so erwartet der Rezipient die Einlösung des zweiten Teils. Entweder wird diese explizit durch Nennung erfüllt oder (suggestiv) impliziert – ein mögliches Mittel, um etwas zu sagen, ohne es zu sagen. Dieser Vorgang wäre ohne ein abstraktes Wissen um die Struktur dieser Strategie nicht möglich, was das nachfolgende Schaubild illustriert:
Kognitive Ebene
‘Kommunikative Strategie als Idee’ Funktionsvorlage ‘Dichotomiebildung’, zum Teil mit hierarchischer Verknüpfung
kontextabstrakt
zunehmende thematische Spezifiziertheit ‘Kommunikative Strategie als Konkretisierungsform’
kontextspezifisch
syntaktisches Muster
Konkrete
Realisierung in ei ner Einzelsprache
‘Kommunikative Strategie als Realisierungsform’ ‘einerseits – andererseits’
Es wird deutlich, dass eine Untersuchung, die auf den Text als Gesamtzeichen abzielt, unterschiedliche Schichten berücksichtigen muss und dass, um dies zu erreichen, der Ausgangspunkt stets das konkrete Sprachmaterial zu sein hat. Auf diese Weise wurde bei der vorliegenden Untersuchung verfahren. Die so gewonnenen, im sich anschließenden Kapitel vorgestellten kommunikativen Strategien liefern einen wichtigen Ansatzpunkt für eine systematische Analyse von (Presse-)Texten. Durch die Kenntnis verschiedener Realisierungsformen und -möglichkeiten wird der Blick für die nicht auf Anhieb ersichtlichen, doch zugleich konstituierenden Textebenen geschärft und somit ein differenzierter Umgang mit Artikeln verschiedenster Art möglich.
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6.1 Zentrale kommunikative Strategien Die nun vorgestellten kommunikativen Strategien haben sich bei der Korpusanalyse im Zusammenhang mit der argumentativen Dynamik im Allgemeinen und im Wechselverhältnis mit den Topoi im Speziellen als Mechanismen gezeigt, die Texten ihr Rückgrat geben. Dichotomiebildung (Kap. 6.1.1), Reduzierung (Kap. 6.1.2) und Differenzierung (Kap. 6.1.3) sowie sprachliche Techniken zur Markierung von Fremdheit (Kap. 6.1.4) werden anhand von Textauszügen veranschaulicht. Persuasive Funktionen kommen bei der Darstellung der zentralen Textstrategien immer wieder zur Sprache; in Kapitel 7, besonders im Zusammenhang mit Inferenzprozessen (Kap. 7.2), stehen diese dann explizit im Vordergrund. Wo dies angebracht erscheint, wird an entsprechenden Stellen bereits auf relevante Topoi verwiesen, die in Kapitel 8 ausgeführt werden. Die Grenze zwischen Sagen und Mitsagen ist keineswegs statisch und daher nicht eindeutig zu ziehen. Aus diesem Grund werden immer wieder Textvergleiche zu einer besseren Veranschaulichung herangezogen. Bevor nun die kommunikativen Strategien näher betrachtet werden, eine allgemeine Überlegung: Ein generelles Problem, das im Zusammenhang mit unterschiedlichen Standpunkten (zurückzuführen z.B. auf Interessen, Herkunft und Sozialisation des Betrachters) kaum vermeidbar ist, hat schon Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs in klassischer Weise formuliert: Er zeigt die Umwertung von Werten am Fall der Insel Korkyra (III 82) – vormals Positives wird negativ und ehemals Negatives nun positiv gedeutet.⁴ Die Ursache für den Vorgang dieser Umdeutungen sieht Thukydides in den Interessengegensätzen zwischen Parteigängern der Athener und der Spartaner, die ihr Handeln jeweils argumentativ zu rechtfertigen suchen.⁵ In – auf den ersten Blick – vergleichbarer Weise hat der niederländische Journalist Joris Luyendijk (Le Monde
4 Hinweis von Wolfgang Raible. 5 Thukydides (III 82): «[4] Auch änderten sie die gewohnten Bezeichnungen für die Dinge nach ihrem Belieben. Unüberlegte Tollkühnheit galt für aufopfernde Tapferkeit, vorausdenkendes Zaudern für aufgeputzte Feigheit, Besonnenheit für den Deckmantel der Ängstlichkeit, alles bedenkende Klugheit für alles lähmende Trägheit; wildes Draufgängertum hielt man für Mannesart, vorsichtig wägendes Weiterberaten wurde als schönklingender Vorwand der Ablehnung angesehen. [5] Wer schimpfte und kritisierte, war immer zuverlässig, wer widersprach, eben dadurch verdächtig. Gelang jemandem ein Anschlag, so galt er für verständig, durchschaute er einen rechtzeitig, für noch tüchtiger; wer aber seine Maßnahmen schon im voraus so bedachte, dass er weder das eine noch das andere brauchte, von dem hieß es, er zersetze die Gemeinschaft und zittere vor den Feinden».
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diplomatique März 2009) die Umdeutung von Werten und Konzepten anhand der Wahl von Bezeichnungen in der Kriegs- und Nahostberichterstattung thematisiert. Unter dem Titel Journalisme de guerre – Les mots biaisés du Proche-Orient führt er den journalistischen Slogan «Nous [les journalistes] rapportons les faits, vous [les lecteurs] décidez» an und fährt fort: «d’accord. Mais nous décidons ce que vous voyez et comment vous le voyez». Luyendijk fragt dann weiter: «Pourquoi un juif qui réclame la terre qui lui a été donnée par Dieu est-il un ‹ultranationaliste›, alors qu’un musulman qui tient le même raisonnement est un ‹fondamentaliste›? Pourquoi un dictateur arabe qui choisit une politique différente de celle des Occidentaux est-il ‹antioccidental›, alors que cette étiquette n’est jamais appliquée dans l’autre sens? Imagine-t-on un leader américain qualifié de ‹radicalement antiarabe›? Un responsable politique israélien qui croit que seule la violence peut protéger son peuple est appelé un ‹faucon›. A-t-on jamais entendu parler d’un ‹faucon› palestinien? Non, c’est un ‹extrémiste› ou un ‹terroriste›. Les responsables israéliens qui croient au dialogue sont des ‹colombes›. Pourtant, un Palestinien qui choisit la même voie est appelé un ‹modéré›, ce qui laisse entendre que, bien que la violence soit logée dans le cœur de chaque Palestinien, celui-là est parvenu, grâces en soient rendues à Allah, à ‹modérer› sa nature profonde. Et pendant que le Hamas ‹hait› Israël, aucun parti ou leader israélien n’a jamais ‹haï› les Palestiniens, même quand ces dirigeants profitent de leur fauteuil gouvernemental pour prôner leur expulsion. A moins qu’il ne s’agisse d’un ‹nettoyage ethnique›? Ou d’un ‹déménagement involontaire›? Ou d’un ‹transfert›?» [Hervorhebung D.W.]
Das – zurecht – angeführte, kritisch zu hinterfragende Potenzial der Perspektivierung ⁶ von Informationen und Inhalten («nous décidons ce que vous voyez et comment vous le voyez» [Hervorhebung D.W.]) findet wie Luyendijk betont auch in der Wahl von Benennungen seinen Niederschlag. Auch, aber nicht ausschließlich. Dies lässt sich anschaulich anhand des eben vorgestellten Auszugs zeigen. Denn der Autor wendet (auf einer weniger schnell zugänglichen Textebene als der der Wortwahl) selbst an, was er zuvor kritisiert: So sind die verschiedenen Aussagen der zitierten Passage keineswegs auf derselben Textebene zu verorten. Das scheinbar rein illustrative Hin und Her verschiedener Benennungen (faucon vs. extrémiste/terroriste⁷) wird mit einer argumentativen
6 Zu Rolle und Funktion der Perspektivierung im Zusammenhang mit impliziten Argumentationsmustern: Kapitel 7. 7 Mit faucon ist der israelische Politiker Ariel Scharon gemeint. Die hier relevant gesetzte Information ‘positiv’ vs. ‘negativ’ schreibt sich in die argumentative Dynamik des Textes ein. Wie schwierig es ist, Aussagen in dieser Allgemeingültigkeit zu treffen, zeigt der Vergleich mit einer Inhaltsanalyse der Spiegel-Berichterstattung über die Intifada (1987–1992) und die sogenannte Al-Aqsa-Intifada (2000–2002). Behrens (2003, 121) stellt in diesem Zusammen-
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Dynamik unterlegt, die entlang eines Gegensatzpaares (Strategie der Dichotomiebildung) ein Gefälle aufbaut, bei dem die eine Seite (les Palestiniens, un dictateur arabe oder die Hamas) positiv, die andere Seite (les Occidentaux und Israël) jedoch negativ konnotiert wird. Dies geschieht z.B. durch das leitmotivisch mit dem Paar Occidentaux und Israël verknüpfte jamais (Strategie der Reduzierung) oder durch die Benennung des im Begriff modéré (paléstinien) enthaltenen non dit. Im Gegensatz dazu bietet aber beispielsweise die Anmerkung zu parti ou leader israélien keine vergleichbare Illustration von nicht Gesagtem an, sondern verstärkt die in jamais verkürzte Verallgemeinerung zweifach: So wird hier (1) der Widerspruch zwischen Schein der Benennung und Sein der Realität relevant gesetzt und (2) mit der Kritik des Missbrauchs politischer Macht verknüpft (Anstoßen eines Inferenzprozesses). Kritisch zu betrachten ist dabei nicht die relevant gesetzte Information, um deren Wahrheitsgehalt es im hiesigen Zusammenhang nicht geht. Kritisch anzumerken ist die Verknüpfung dieser Aussagen mit der Strategie der Reduzierung eines jamais bzw. der Homogenisierung eines aucun sowie die mangelnde Transparenz einer unausgesprochenen Positionierung. Dem Anspruch von Sensibilisierung und Differenzierung auf der sprachlichen Oberfläche läuft die Generalisierung und Homogenisierung entlang der argumentativen Dynamik diametral entgegen. Der Leser kommt kaum umhin, die angebotene Perspektive zu übernehmen. Dies ist nicht zuletzt das Ergebnis des Einsatzes verschiedener kommunikativer Strategien, deren Rolle und Funktion im Folgenden erläutert werden.
6.1.1 Dichotomiebildung Ob die Welt von Menschen anders als in Oppositionen gedacht, beschrieben und erfahren werden kann, ist an dieser Stelle nicht zu klären. Fakt ist, dass die Dichotomiebildung ein häufig gewähltes Werkzeug zur Strukturierung von Texten darstellt. Diese Strategie lässt sich, wie im vorangehenden Schaubild anhand ihrer unterschiedlichen Abstraktionsformen illustriert, auf allen einen Text konstituierenden Ebenen finden. Als eine Realisierungsform ist die kontrastive Korrelativkonstruktion d’une part … d’autre part/einerseits … andererseits zu nennen. Zum Aufbau der argumentativen Dynamik können These und
hang einen prägnanten Unterschied in Darstellung und Bewertung von Jassir Arafat und Ariel Scharon fest: «Jassir Arafat wird deutlich ausgewogener und tendenziell positiver bewertet als Ariel Scharon, der in 93 Prozent aller Fälle mit negativen Wertungen belegt wird (Arafat: 48 % negativ, 52 % positiv)».
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Antithese (anhaltende Gewalt – positive Bilanz (s.u.)) eingesetzt und zum Abstecken des semantisch-kognitiven Rahmens Begriffspaare wie Ex-Muslime – Islamisten (a-2) oder l’antiterrorisme ⁸ – la menace (a-1) in Opposition gesetzt werden. Im nachfolgenden Artikel lässt sich die Dichotomiebildung gleich auf verschiedenen Textebenen verfolgen: «100 Tote bei Anschlägen – aber Iraks Premier beschwört Erfolge BAGDAD – Ungeachtet der amerikanisch-irakischen Sicherheitsoffensive sind am Wochenende wieder mehr als 100 Iraker Opfer von Anschlägen geworden. Die anhaltende Gewalt stand im krassen Widerspruch zu der positiven Bilanz, die Ministerpräsident Nuri al-Maliki zog. In Bagdad gebe es ‹keine sicheren Zufluchtsorte für Rechtsbrecher› mehr, sagte der Regierungschef. Seit Beginn des Einsatzes am 14. Februar seien 426 militante Personen gefangen genommen worden. Mit der Offensive soll sektiererische Gewalt vor allem in Bagdad unter Kontrolle gebracht werden. Gleichwohl sprengte sich am Sonntag ein Selbstmordattentäter vor einer Hochschule in der Hauptstadt in die Luft und riss mindestens 41 Menschen mit in den Tod. Mindestens 46 weitere wurden verletzt. Die Mustansirijah-Universität liegt in einem schiitischen Viertel, nimmt aber auch Studenten aus anderen Religionsgemeinschaften auf. Sie war bereits im Januar Ziel eines Anschlags mit 70 Todesopfern. In der westirakischen Stadt Habbanija zündete ein Selbstmordattentäter vor einer sunnitischen Moschee seinen Sprengsatz in einem Lastwagen. Mindestens 52 Menschen wurden in den Tod gerissen, wie das Innenministerium mitteilte. 74 erlitten Verletzungen. Als Motiv vermutet wurden Auseinandersetzungen innerhalb sunnitischer Gruppen über den Kurs. Der Imam der Moschee hatte wiederholt die Gewalt angeprangert.» ((a-23), Kap. II.2)
Die Hauptthese, neben den beiden einzelnen Informationssträngen ‘viele Tote und Gewalt’ und ‘Erfolgsmeldung seitens des irakischen Premiers’,⁹ ist deren hierarchisches In-Bezug-Setzen: Es stehen sich nicht zwei gleichwertige Aussagen gegenüber. Die ‘anhaltende Gewalt’ wird als wahrer Sachverhalt favorisiert, wohingegen die ‘positive Bilanz’ als unwahr oder doch beschönigt erscheint. Die Diskrepanz zwischen den offiziellen Verlautbarungen/Bemühungen und
8 Der Gebrauch von antiterrorisme in der nachfolgend zitierten Weise wäre so in einem deutschen Artikel nicht denkbar. Dieser Ausdruck ist wohl als eine Synonymbildung zu l’Unité de coordination et de lutte antiterroriste (Uclat) zu verstehen. – (a-1): «L’antiterrorisme redoute par-dessus tout un scénario à l’espagnole, avec des actions semblables à celles qui firent 200 morts et 1 400 blessés à Madrid, le 11 mars 2003, changeant la donne des élections nationales.»; «L’an dernier, l’antiterrorisme français a arrêté 140 activistes musulmans». 9 Als These wird im Zusammenhang der Analyse der argumentativen Dynamik das/ein Textthema verstanden.
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den Gewalttaten wird mithilfe von Dichotomien auf struktureller und inhaltlicher Ebene ausgedrückt: «im krassen Widerspruch» – «ungeachtet» vs. «wieder» – «anhaltende Gewalt» vs. «positive Bilanz» – «Mit der Offensive soll [Modalverb mit futurischer Komponente]» vs. «Gleichwohl sprengte» [Präteritum → ‘Faktum’] argumentative Dynamik – 100 Tote bei Anschlägen – aber Iraks Premier beschwört Erfolge – These 1: amerikanisch-irakisches Bemühen, die Gewalt einzudämmen – These 2: dennoch immer wieder neue Anschläge – Beispiel 1 für Gewalt: Anschlag auf schiitische Universität – Beispiel 2 für Gewalt: Anschlag auf sunnitische Moschee → Conclusio: trotz gegenteiliger Regierungsverlautbarung anhaltende – auch innerislamische – Gewalt
Die beiden genannten Informationsstränge (‘Gewaltakte’ vs. ‘offizielle Verlautbarung’) werden nicht als zwei verschiedene, gleichwertige Blickwinkel behandelt. Zeilenaufteilung und inhaltliche Gewichtung zeigen, dass dem ersten Nachrichtengegenstand ein größerer Raum zuerkannt wird. Dies allein vermag noch nicht vollständig zu erklären, warum der Leser (fast intuitiv) dazu neigt, die angebotene Perspektivierung zu übernehmen. Als wesentliche argumentative Stütze wirkt an dieser Stelle der im Text anzitierte Widerspruchs-Topos¹⁰. Durch die Topos-Aktivierung wird der Text in einem bestimmten kognitiven Rahmen verankert, die Textthese mit Vorwissen in Beziehung gesetzt und die Perspektivierung somit argumentativ gestützt. Das Bilden von Gegensatzpaaren als Werkzeug des Zueinander-in-Beziehung-Setzens kann dazu dienen, Implizites bzw. Wertungen zu transportieren, besonders dann, wenn die beiden Gegenpole durch ein Hierarchiegefälle bestimmt werden. Dies kann beispielsweise auf der Grundlage der Definition von Eigen- und Fremdgruppen geschehen, wie in der nachfolgend zitierten Passage von (a-105). Hier werden «unsere Werte» (zur Eigengruppe gehörend) zu
10 Widerspruchs-Topos: Wenn die Aussage eines Politikers/einer Person einem (als wahr, gültig angenommenen/dargestellten) Sachverhalt widerspricht, dann ist dem Sachverhalt mehr Glauben zu schenken als der Aussage des Politikers/der betreffenden Person (Kap. 8.1.1). – An geeigneter Stelle wird auch im Zusammenhang mit den Textstrategien bereits auf verschiedene Topoi hingewiesen. Die betreffenden Argumentationsmuster werden zur Unterstützung des Leseflusses bei ihrer erstmaligen Nennung in einer Fußnote ausformuliert und mit einem Kapitelverweis versehen. Näher ausgeführt werden sie dann in den Kapiteln 8.1.1 bis 8.1.4.
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«der Islamkunde» (zur Fremdgruppe gehörend) in Beziehung gesetzt, genauer in ein Hierarchiegefälle gebracht – und dadurch vor Verlust von Identität und vor Überfremdung gewarnt. Aufgewertet wird diese Aussage, indem Söder als «gelernte[m] Fernsehjournalist» quasi ein Expertenstatus zugebilligt wird. Die Anspielung auf den Bedrohungs-Topos¹¹ verstärkt das in der Dichotomie manifeste Hierarchiegefälle zusätzlich. Erzielt wird diese Anspielung durch den Einsatz der rhetorischen Frage, die per definitionem ihre Antwort bereits selbst gibt: Ein Missbrauch durch «aggressive Islamgruppen» kann nicht ausgeschlossen werden – dies bedeutet eine Bedrohung der Gesellschaft, d.h. «unserer Werte und unserer Alltagskultur». In dem aus (a-45) zitierten Passus werden zwei Aussagen Söders, die ihre Stütze im Wesentlichen dem Rückgriff auf eine Metaebene verdanken, in die indirekte Rede überführt: Durch das Weglassen der Possessivpronomina «unsere» wird auf die Übernahme der wertenden Dichotomie verzichtet und der explizite Rekurs auf den Bedrohungs-Topos dadurch vermieden, dass die rhetorische Frage nicht wiedergegeben wird. Der letzte Abschnitt aus (a-106) setzt sich aus Elementen der beiden vorausgehenden Artikel zusammen und entspricht hinsichtlich der beiden hier thematisierten Varianten der Version von (a-45).¹² «‹Statt über Islamkunde zu reden, sollte mehr über unsere Werte und unsere Alltagskultur berichtet werden›, forderte der gelernte Fernsehjournalist. Auch eine Internetplattform beim ZDF sieht Söder kritisch. ‹Wie will man ausschließen, dass aggressive Islamgruppen diese Internetplattform für ihre Zwecke nutzen?›, fragte er.» (a-105) «‹Das öffentlich-rechtliche Fernsehen muss bestehende Gräben überwinden und darf sie nicht vertiefen›, erklärte Söder. Statt über Islamkunde zu reden, sollte mehr über Werte und Alltagskultur berichtet werden, verlangte er. Der CSU-Generalsekretär warnte zugleich vor der Möglichkeit, ‹dass aggressive Islamgruppen diese Internetplattform für ihre Zwecke nutzen›.» (a-45) «Der CSU-Generalsekretär warnte davor, ‹dass aggressive Islamgruppen diese Internetplattform für ihre Zwecke nutzen› könnten. ‹Statt über Islamkunde zu reden, sollte mehr über unsere Werte und unsere Alltagskultur berichtet werden.›» (a-106)
11 Bedrohungs-Topos: Weil aus dem Islam hergeleitete Ansprüche/Haltungen eine Gefahr darstellen, müssen Forderungen mit Argwohn betrachtet, Gegenmaßnahmen ergriffen werden (Kap. 8.1.1). 12 (a-105), (a-45) und (a-106) finden sich, neben einer kleinen Zusammenschau von Pressetexten zu diesem Thema, in ganzer Länge im Abschnitt I.4.1 des Anhangs.
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Die drei vorausgehenden Beispiele enthalten Zitate. Und obwohl sich die Einordnung bzw. Bewertung von Zitaten bei der Textanalyse als schwieriges Terrain erwiesen hat, wurden sie ausgewählt. Zitate als ‘bloß referierte’ Aussagen auszuklammern, würde zu kurz greifen, und sie nicht zu berücksichtigen, um kontroverse Meinungen zu vermeiden, würde eine Ebene vernachlässigen, die einlädt, etwas zu sagen, ‘ohne es zu sagen’. Die Wahl eines Zitats ist eine Auswahl unter verschiedenen Möglichkeiten. Die Art seiner Wiedergabe (ob in direkter oder indirekter Rede, ob verkürzt oder in ganzen Sätzen) und dessen Duktus¹³ ist Teil der argumentativen Dynamik und kann – wie oben veranschaulicht – die Perspektivierung einer einzelnen Aussage prägnant verändern.¹⁴ Im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Dichotomien, seien sie hierarchisch verknüpft oder auf derselben Bewertungsebene angesiedelt, findet in der Regel die Strategie der Reduzierung Anwendung, die nachfolgend näher betrachtet wird.
6.1.2 Reduzierung Die Reduzierung als eine Form der Generalisierung bedeutet eine Verringerung an Komplexität, welche für eine funktionierende Kommunikation unerlässlich ist. Es stellt sich hier also nicht so sehr die Frage, ob etwas reduziert, sondern was konkret generalisiert wird und welche Funktion dieses Element innerhalb der argumentativen Dynamik hat. So könnte ohne diesen Mechanismus beispielsweise keine Eigen- oder Fremdgruppe definiert werden (s.o.), könnten Saudi-Arabien und der Iran den Schulterschluss nicht üben (a-7), die irakischen Schiiten sich nicht gekränkt fühlen (a-8) oder die islamistische Bedrohung sich nicht ankündigen (a-1). Es könnte die Bairer¹⁵ CSU den Islam nicht kennenlernen (a-9) oder Ägypten seine Muslimbrüder nicht wegschließen (a-10). Die genannten Beispiele sind auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln und deuten bereits auf eine weitere mögliche Unterteilung hin. Im Zuge der
13 Der Journalist kann ein Zitat insofern verändern, sodass dieses z.B. weniger mündlich, ‘oberlehrerhaft’, fachsimpelnd … klingt – kurz: (stilistisch) besser zum Text/zum Medium/zur Zielgruppe passt. Durch eine derartige redaktionelle Bearbeitung wird auch der Inhalt einer zitierten Aussage mehr oder weniger stark verändert. 14 Angelehnt ist diese Vorgehensweise an die (klassische) Diskursanalyse. Für die Analyse von im gesellschaftlichen Diskurs gebrauchten Denkbildern und Argumentationsstrukturen ist die Form ihrer Wiedergabe sekundär. 15 Es handelt sich hier nicht um den Freistaat Bayern, sondern um die Gemeinde Baiern im oberbayerischen Landkreis Ebersberg.
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Textanalyse traten besonders zwei Arten der Reduzierung hervor: Die eine bezogen auf eine semantische Rolle, die andere ausgerichtet am Inhalt der Aussage. In der Regel lässt sich dann von einer Reduzierung sprechen, wenn – Abstrakta zu Handelnden werden.¹⁶ – aus einem komplexen Sachverhalt, einer Vielheit oder aus Gruppierungen ein einzelner Tatbestand, eine homogene Strömung oder ein abgrenzbares Ganzes wird.
6.1.2.1 Abstrakta als Handelnde Stufen einer größer werdenden Abstrahierung und infolgedessen einer Reduzierung lassen sich am Fall des ägyptischen Bloggers Mohammed Abdul Karim Suleiman (Pseudonym: Karim Amer) illustrieren, der im Februar 2007 in Alexandria wegen unterschiedlicher im Internet veröffentlichter Äußerungen zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt wurde: «Le président du tribunal l’a déclaré coupable d’avoir ‹créé un site Internet à travers lequel il a attaqué l’islam›, ‹prétendu que l’islam appelait au terrorisme, à la haine et au meurtre›, ‹répandu des idées erronées› sur cette religion.» (a-12) «Un blogueur égyptien a été condamné hier par le tribunal d’Alexandrie à quatre ans de prison pour avoir insulté l’islam et le président égyptien, Hosni Moubarak, sur Internet.» (a-15) «Ein ägyptisches Gericht hat einen jungen Blogger wegen ‹Beleidigung der Religion und des Präsidenten› zu vier Jahren Haft verurteilt.» (a-13) «La justice égyptienne a condamné un blogueur, hier.» (a-14) «Ägypten verurteilt einen Internet-Blogger zu vier Jahren Haft» (a-11)
Verglichen mit dem «président du tribunal» als Agens, stellen das mit dem bestimmten Artikel gekennzeichnete «tribunal d’Alexandrie» und das mit dem unbestimmten Artikel versehene «ägyptische Gericht» Formen der Reduzierung dar, welche sich direkt auf die geschilderte Handlung beziehen. Die Formulierung «la justice égyptienne» ist bereits auf einer abstrakteren Ebene anzusiedeln und vermittelt als die rechtliche ägyptische Instanz ein größeres Gewicht
16 In diesem Zusammenhang wäre es interessant, der Frage genauer nachzugehen, ob und wann Abstrakta wie ‘Regierungen’, ‘Armeen’, ‘Justiz’ o.Ä. eher verwendet werden als konkret Handelnde wie z.B. ‘Minister’, ‘Soldaten’ oder ‘Richter’ und welche Unterschiede sich aus der jeweiligen Verwendung für die betreffende Aussage bzw. den Gesamttext ergeben.
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bzw. in der Tragweite des Urteilsspruchs eine größere Unanfechtbarkeit. Durch die Verwendung des Ausdrucks «Ägypten verurteilt» wird die Handlung der Urteilsgebung schließlich auf ein ganzes Land ausgedehnt; so werden Ebenen vermischt, die in diesem Fall nicht zusammengehören.¹⁷ Bei «Ägypten verurteilt» handelt es sich um eine Überschrift. Überschriften dienen in besonderem Maße als Blickfang. Sie bleiben häufig mehr im Gedächtnis als der Artikel selbst oder werden beim Überfliegen einer Zeitung als Einzige konkret wahrgenommen.¹⁸ Aus diesem Grund sollte in diesem Zusammenhang auf Genauigkeit geachtet werden. Bei den Korpustexten kam es immer wieder vor, dass Titel oder eine Zwischenüberschrift nicht wiedergaben, was der Artikel bzw. dessen argumentative Dynamik schließlich vermittelte – bisweilen wurde dabei die Überschrift dem Inhalt des Artikels nicht gerecht.¹⁹ Abschließend zwei Titel²⁰, die verschiedene Aspekte der Reduzierungsstrategie aufzeigen, welche erst im Rückbezug auf den jeweiligen Text ganz zum Tragen kommen: Im Artikel (a-28) geht es um die Urheber von Attentaten in Algerien, im darauffolgenden Beispiel (a-26) um Forderungen des Muslimischen Rats Großbritanniens (Muslim Council of Britain) hinsichtlich eines der «islamischen Moral» angepassten Unterrichts.²¹ «Al-Kaida bekennt sich zu Anschlägen in Algerien» (a-28)
17 Nahezu identisch hinsichtlich der informationstragenden Elemente, doch mit dem Unterschied, dass hier die Ebenen durch einen Doppelpunkt getrennt werden, ist folgende Überschrift: «Égypte: quatre ans de prison pour un blogueur» (a-14). 18 Dieser Vorgang wurde durch Untersuchungen mit sogenannten Augenkameras belegt – und z.B. in der Journal Loft Academy in einem Workshop zum Thema zielgerichtet eingesetzt: «Das Auge selektiert streng. ‹Die Wahrnehmung konzentriert sich zunächst auf Dinge, die leicht zu verarbeiten sind und wahrscheinlich den höchsten Informationsgehalt liefern. Dieses Verhalten ist erlernt›, so die Erklärung von Gabriele Laurich. Die Leser sollten daher über Bilder und spannende Überschriften zum Einstieg in den Text animiert werden und das innerhalb kürzester Zeit. Denn die Entscheidung ‹Lesen oder Weiterblättern› wird in nur wenigen Sekunden gefällt. Aber letztlich komme es auch auf die Themen, die Umgebung und das Interesse des Einzelnen an.» (Journal International, abgerufen am 30.03.2010). 19 Cf. Kapitel 7.2.10.2 oder (a-99), besprochen in Kapitel 7.2.11. 20 ‘Titel’ meint hier ‘Überschrift’ und ist nicht, wie im journalistischen Kontext häufig gebraucht, als Publikation zu verstehen. SPIEGEL und FOCUS wären im journalistischen Sprachgebrauch demnach Magazin-Titel, BUNTE ein Zeitschriften-Titel etc. Bei Zeitschriften, die ein großformatiges Bild auf der Titelseite tragen, ist mit ‘Titel’ bisweilen das Titelfoto als solches gemeint (und nicht die ganze Titelgeschichte/das ganze Titelthema). 21 Dieser Artikel wird unter 5.1.1 näher betrachtet.
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Al-Kaida wird hier als Agens eingesetzt, der bei der Lektüre des Artikels an Kontur verliert: Ein «Ableger der Extremistengruppe Al-Kaida», nämlich die «Al-Kaida-Organisation im Islamischen Maghreb», «firmierte vormals als Salafistengruppe für Predigt und Kampf». Hier liegt ein Widerspruch, denn wie kann ein Ableger – per definitionem ‘ein Spross von’²² – zuvor bereits anderweitig oder außerhalb des Al-Kaida-Netzwerkes existiert haben? Zu einem Anschlag bekennt sich die «Al-Kaida-Organisation im Islamischen Maghreb», und es meldet sich «zudem ein Al-Kaida-Anführer, um einen Anschlag auf einen Bus vom Samstag für seine Gruppe zu reklamieren.» Durch diese Formulierung bleibt unklar, ob der zweitgenannte Al-Kaida-Führer zur erstgenannten Gruppe gehört oder nicht. Die Unübersichtlichkeit der Informationslage, die hier zu existieren scheint, wird durch die Verwendung des Begriffs ‘Al-Kaida’ als abstrakter Agens gebündelt und so in ein homogenes Ganzes überführt. «Les musulmans britanniques veulent que l’école s’adapte à la ‹morale islamique›» (a-26)
Die Forderungen eines Verbandes, der einen Teil der muslimischen Bevölkerung Großbritanniens repräsentiert, werden durch die Strategie der Reduzierung zu Forderungen aller britischen Muslime – ebenfalls eine Form der nachfolgend gezeigten Homogenisierung. Da eine Schlagzeile nicht nur als Leseanreiz, sondern durch seine Position leserlenkend wirkt, ist dem nachfolgenden Artikel bereits zu Beginn eine bestimmte Deutungsfolie unterlegt.
6.1.2.2 Reduzierung als Homogenisierung «Ce qui est en cause ici, ce n’est pas tant la diabolisation médiatique des musulmans – les journalistes ne cherchaient pas a priori à donner à voir une image négative de l’islam – qu’une tendance à homogénéiser des attitudes et des comportements, à les essentialiser et à les communautariser, comme si les musulmans de France se devaient d’avoir nécessairement un avis sur Ben Laden et les événements en cours.» (Geisser 2003, 25)
Um die Frage der Intentionalität soll es an dieser Stellen nicht gehen; ihre Bewertung kann hier keine Rolle spielen, denn: Wäre eine Verzerrung, la diabo-
22 WAHRIG Rechtschreibung: «Ab|le|ger m. abgeschnittener, in die Erde gesetzter Pflanzenteil, Senker» (http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/services/suche/wbger/index.html? gerqry=ableger, abgerufen am 14.03.2011).
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lisation, nur deswegen weniger problematisch, weil sie unbewusst oder nicht a priori geschieht? Für das Verstehen des medialen Diskurses über den Islam/die Muslime ist es erhellender, wenn man die Prozesse betrachtet, die Geisser hier erwähnt: Es geht um Vorgänge, die eine makrostrukturelle Verankerung besitzen («essentialiser») und auf als wahrscheinlich angenommenen Vorgängen beruhen («nécessairement»). Der Versuch, eine gruppenspezifische Essenz zu finden, ist zwangsläufig mit einer Reduzierung bzw. einer Homogenisierung der zur Gruppe gehörenden Mitglieder verbunden. Die Wahrnehmung des Islams als homogene Einheit, zu der die Muslime mit ebenso homogenen Verhaltensweisen gehören («comme si les musulmans de France se devaient d’avoir nécessairement un avis sur»), hat Auswirkungen, die im weiteren Verlauf mehrfach thematisiert werden, weil sie alle Textebenen betreffen.²³ Was Geisser auf der Metaebene beobachtet, findet sich, wie anschließend gezeigt wird, als Vertextungsstrategie auch auf der Mikroebene des Einzeltextes – und tritt nicht nur im Zusammenhang mit dem Thema ‘Islam’ auf.²⁴ Als Beispiel für einen konstituierenden Einsatz der Homogenisierung ist der Korrespondentenbericht Iran: Le coup d’Etat silencieux (a-5) zu nennen. Hier wird diese Strategie der Reduzierung leitmotivisch eingesetzt. Dies geschieht hauptsächlich durch die adjektivische oder pronominale Verwendung von tout auf verschiedenen Ebenen des Textes: Z.B. als stilistisches Mittel, um das Gegenteil dessen zu sagen, was durch die argumentative Dynamik des Textes vermittelt wird (2.1.), oder um Hauptthesen und Conclusio des Textes zu untermauern (2.2): 2.1: «Pourquoi descendre? En cinq heures de vol, quand l’avion s’est posé sur l’aéroport de Téhéran, toute l’enquête était faite.» «Tout était dit.» «En cinq heures, tout était dit de ce pays qui fait si peur au monde.»
23 Dazu gehören unter anderem die Reduzierung von Muslimen auf ihre Religionszugehörigkeit oder die Typisierung durch Relevantsetzung von Bart und Verschleierung; die Dichotomiebildung sie vs. wir oder les moderés vs. les radicaux. 24 Said (1997, 9) spricht in diesem Zusammenhang von Labels, die für ganze Interpretationsräume stehen und nicht als objektive Klassifikationen zu verstehen seien: «Labels purporting to name very large and complex realities are notoriously vague and at the same time unavoidable. It is true that ‹Islam› is an imprecise and ideologically loaded label, it is also true that ‹the West› and ‹Christianity› are just as problematic. Yet there is no easy way of avoiding these labels, since Muslims speak of Islam, Christians of Christianity, Westerners of the West, Jews of Judaism, and all of them about all the others in ways that seem to be both convincing and exact. Instead of trying to propose ways of going around the labels, I think it is more immediately useful to admit at the outset that they exist and have long been in use as an integral part of cultural history rather than as objective classifications».
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2.2: «Cette République islamique vomit sa théocratie mais l’Iran, tout l’Iran, est cimenté par un désir d’affirmation nationale, une farouche volonté de ne plus jamais retomber sous la coupe de ces étrangers – Arabes, Russes, Anglais, Américains – qui en avaient si longtemps fait une terre de conquête ou un jouet stratégique.» «Après que les mollahs en eurent pris les commandes, il était redevenu un émigré de l’intérieur, mais aujourd’hui, comme toute l’intelligentsia iranienne, il observe, heure par heure, les déchirements de la théocratie, la nervosité des plus riches, l’inquiétude des classes moyennes, la sécession de la jeunesse et l’espoir lui revient.» «Ces réponses ont été reprises par tous les quotidiens iraniens. Tout l’Iran a lu cela[.]»
Hauptthesen und Conclusio bauen in diesem Text auf den Dichotomien Ahmadinejad – der Iran und innere Realität – Bild von außen²⁵ auf. Mithilfe der kommunikativen Strategie der Reduzierung werden die entsprechenden Pole betont, die argumentative Dynamik gelenkt. In (a-261) zeigt sich die Homogenisierung in Form eines Prototyps, die über den konkreten Einzelfall, um den es hier geht, hinausweist: Der Bericht handelt von Nurdan E., die in ihrer Wiesbadener Wohnung erstochen aufgefunden wurde. An einer Schlüsselstelle des Textes ist nicht vom zweiten Ehemann Nurdans die Rede, sondern von dem Muslim – mehr Beschreibung bedarf es nicht, um dessen Gewalttätigkeit zu begründen. Im folgenden Absatz wird anaphorisch auf das Substantiv verwiesen («er», «seiner Gewalttätigkeit»), was dessen Wichtigkeit und Wirkung noch verstärkt. Dabei gerät aus dem Blick, dass wohl auch Nurdans verstorbener Ehemann Muslim war – im Zusammenhang mit der Liebesheirat scheint diese Information dem Produzenten jedoch nicht interessant.²⁶ «Die beiden heiraten in der Türkei und leben dort zunächst auch. Doch der Muslim macht seiner neuen Frau schon bald das Leben zur Hölle. Regelmäßig schlägt er Nurdan E. grün und blau, auch die Mädchen verschont er nicht. Der Umzug nach Wiesbaden ändert nichts an seiner Gewalttätigkeit. Nurdan E., die kein Wort deutsch spricht, nimmt er den Pass ab.» (a-261)
25 Hauptthesen: (1) Ahmadinejad verliert zunehmend an Rückhalt in Iran – sowohl von weltlicher als auch von religiöser Seite; (2) Es besteht eine Divergenz zwischen dem Bild Irans von außen und der ‘inneren’ Realität. – Conclusio: (A) Die Zeit der iranischen Revolution, der Iran Ahmadinejads ist Vergangenheit; (B) Dieser Entwicklung muss Rechnung getragen werden. 26 (a-261): «Mit 16 Jahren heiratet sie ihre große Liebe, das Paar bekommt zwei Töchter. Doch das Glück währt nur kurz: Als Nurdan 21 ist, stirbt ihr Mann an Krebs».
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Die Reduzierung als eine Form der Homogenisierung lässt sich auch bei (a-21) beobachten. Der Auszug ist einem Artikel über den Prozess zu den Anschlägen in Madrid vom 11. März 2004 entnommen: «In dem Prozess in Madrid müssen sich neben Ahmed 19 weitere Männer arabischer Herkunft und neun Spanier verantworten.»
Die ‘arabische Herkunft’ entspricht als Bezeichnung nicht der ‘spanischen Nationalität’. Wie im Kapitel 3 illustriert, ist der Begriff ‘Araber’ bzw. das ihm zugrunde liegende Konzept überaus komplex.²⁷ Dennoch herrscht im Sprechen oder Schreiben über die Araber der Eindruck einer abgrenzbaren, homogenen Gruppe vor. Dieser Eindruck wird auch hier erweckt. Ist aus Platzgründen an dieser Stelle das Nennen der einzelnen Herkunftsländer nicht möglich, würde eine Bezeichnung wie z.B. ‘Männer aus verschiedenen Ländern des Maghreb’ die Homogenisierung abmildern. Diese Bemerkung leitet über zu einer weiteren kommunikativen Strategie, die nachfolgend behandelt wird: die Differenzierung.
6.1.3 Differenzierung Die Differenzierung, in gewisser Weise das Pendant zur kommunikativen Strategie der Reduzierung, lässt sich in der Regel an inhaltlichen Aspekten festmachen oder in Beziehung zu herrschenden Denkbildern identifizieren. Nimmt man die vom Zentrum für Antisemitismusforschung veröffentlichten Beiträge zum Themenfeld Feindbild Islam und islamisierter Antisemitismus im Jahrbuch für Antisemitismusforschung (17/2008) ernst²⁸, und legt man der Nachrichtenberichterstattung den Maßstab einer größtmöglichen bzw. größtnötigen Differenzierung
27 Cf. i.a. Lewis (1995). 28 So sind nach Königseder (2008, 18) islamfeindliche Einstellungen nicht nur unter Rechtsextremen zu finden, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft und im linken Meinungsspektrum. Sie hält in diesem Zusammenhang fest: «Unterstützt wird dies[e islamfeindliche Grundeinstellung] von den viel diskutierten ‹Sicherheitspaketen› des Staates, die Muslime per se als ‘Sicherheitsrisiko’ erscheinen lassen. Zunehmend wird [beim Reden über Muslime] nicht zwischen radikalen islamistischen Gruppierungen und dem Islam als Religion unterschieden». – Widmann weist in seinem Artikel Irrationales Feindbild (DER TAGESSPIEGEL 02.01.2009) auf die Kontinuität rhetorischer Muster aus extremistischen Traditionen hin, mit denen «populäre ‹Islamkritiker› Muslime unter Generalverdacht» stellten. Dieser Artikel basiert auf dem Beitrag Widmanns im oben erwähnten Jahrbuch des Zentrums für Antisemitismusforschung (Widmann 2008).
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zugrunde, dann ist es gerade diese Strategie, durch deren Verwendung oft mit wenigen Wörtern viel erreicht werden kann. Dies illustrieren die nachfolgenden Beispiele und Vergleiche, in denen die betreffenden Passagen hervorgehoben sind: (1) Anschläge im Irak und die amerikanisch-irakische Offensive ²⁹ «Der Imam der Moschee hatte wiederholt die von Extremisten eskalierte Gewalt angeprangert.» (a-22) «Der Imam der Moschee hatte wiederholt die Gewalt angeprangert.» (a-23) (2) Meinungsumfrage unter Muslimen in Großbritannien «Selon un sondage ICM publié, dimanche 19 février, par le Sunday Telegraph, quatre musulmans de Grande-Bretagne sur dix souhaitent que la charia (loi islamique) soit instaurée dans les zones du pays où leur communauté est majoritaire. Une proportion égale de personnes interrogées s’y oppose.» (a-25) «Les résultats de ce sondage reflètent une nette radicalisation d’une partie des musulmans du royaume.» (a-25)
Als Ergänzung zur eben erwähnten Meinungsumfrage unter Muslimen in Großbritannien sei der Titel von (a-25) als Beispiel für eine Differenzierung angefügt sowie der Titel eines Textes desselben Autors, der drei Tage später erschien, hier mit reduzierendem Gehalt: «40 % des musulmans britanniques voudraient instaurer la charia chez eux» (a-25) «Les musulmans britanniques veulent que l’école s’adapte à la ‹morale islamique›» (a-26) (3) Iran «Der nicht-arabische Iran unterstützt radikale schiitische Gruppen in der Region, unter anderem die libanesische Hisbollah.» (a-24) «Wie sein enger Verbündeter, die USA, wirft auch Saudi-Arabien dem schiitischen Iran vor, die Konflikte im Irak zu schüren und radikale Kräfte im Libanon und in den Palästinenser-Gebieten zu unterstützen.» (a-7) «Depuis l’avènement de la République islamique en 1979, l’Iran, de son côté, est le principal pôle chiite du monde musulman.» (a-57) «Zweitens haben die schiitische Führung des Irans und das von strenggläubigen Sunniten dominierte Herrscherhaus von Saudi-Arabien im Irak-Konflikt und in der libanesischen Regierungskrise gegensätzliche Positionen bezogen.» (a-56)
29 Im Anhang findet sich unter I.4.2 eine Zusammenschau der Vorlage (a-260) sowie der daraus entstandenen Texte von (a-23) und (a-22).
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Beim letzten Textbeispiel (a-56) zeigt sich eine mehrfach ‘verschränkte’ Differenzierung: Es werden nicht die Länder Iran und Saudi-Arabien als Handelnde, sondern (1) Führung und Herrscherhaus als Agens genannt, welche mit dieser Formulierung zugleich (2) in ihrer Regierungsform und (3) hinsichtlich der mehrheitlich prägenden Glaubensrichtung (schiitische Führung, strenggläubigen Sunniten) unterschieden werden. (4) Apostasie (Abkehr/Abfall vom Islam) «Der Koran, so Khoury, spreche nicht direkt von einer diesseitigen Strafe, es finde sich keine eindeutige Stelle, die eine ausdrücklich diesseitige Strafe vorsieht. Muslimische Rechtsgelehrte beriefen sich jedoch auf die Koranstelle 4,8889, die das Töten abweichender Heuchler anordnet und erweiterten diese auf Abtrünnige: ‹… wenn sie sich abkehren, dann greift sie und tötet sie …›. So sieht nicht der Koran, wohl aber die Tradition die Todesstrafe vor.» (a-32) «Im Klartext:³⁰ Das islamische Recht der Scharia droht nach radikaler Auslegung Konvertiten mit der Todesstrafe – und damit drohen die Internet-Islamisten auch dem Zentralrat der Ex-Muslime (der Koran selbst allerdings verbietet weltliche Bestrafung für Konvertiten).» (a-2)
Die zweite zitierte Differenzierungsstrategie baut auf der Dichotomie von radikal («radikaler Auslegung», «Internet-Islamisten») und koranisch («der Koran selbst allerdings verbietet») auf. Angemerkt sei dazu, dass die Todesstrafe für Apostaten von Gelehrten aller Rechtsschulen befürwortet wird³¹ und es sich dabei, wie im ersten Textauszug angemerkt, um eine weitverbreitete traditionelle Sichtweise handelt. (Der Konsens von Gelehrten genießt eine ähnlich starke bindende Kraft wie Koran und Sunna.)³² Aus dem Koran selbst lässt sich die Todesstrafe nicht eindeutig ableiten.³³ Dies macht die Frage nach
30 Mit «im Klartext» wird der Leser auf eine Reformulierung vorbereitet, in der die Sicht des Schreibenden auf die vorangehende(n) Aussage(n) wiedergegeben wird. Diese sprachliche Routine, einem Diskursmarker vergleichbar, ermöglicht neben der Deutung eines Geschehens/Sachverhalts die Selbstdarstellung des Produzenten als Experten. 31 Dazu Hasemann (2002, 102): «Gelehrte aller Rechtsschulen sind sich darüber einig, daß Apostasie mit der Hinrichtung des Apostaten geahndet werden muß, da sie ‹als Auflehnung gegen Gott und als Aufkündigung der Mitgliedschaft in der islamischen Gemeinschaft [gilt] und damit als eine direkte Gefährdung dieser Gemeinschaft in ihrem Bestand›». 32 Die Sunna besteht aus normativen Überlieferungen (Hadithe) von Aussagen und Handlungen des Propheten Muhammad sowie in einigen Fällen seiner Weggefährten. 33 Hasemann (2002, 97): «Aufgrund des Fehlens eindeutiger Vorschriften in Koran und Sunna kann die Festlegung der Apostasiegesetze im wesentlichen als spätere Entwicklung angesehen werden. Doch spiegelt auch die Rechtsliteratur nicht die volle Rechtspraxis wider. Sie beinhaltet die Norm, an der man sich prinzipiell orientierte sowie vereinzelt Reflexe auf deren
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der Behandlung von Apostaten (nicht nur) innerislamisch nach wie vor zu einem höchst umstrittenen Thema.³⁴ (5) Die Al-Azhar-Universität «Seine regelmäßigen Angriffe gegen die Al-Azhar-Universität führten dazu, dass ihn die Lehranstalt im März 2006 exmatrikulierte und die Staatsanwaltschaft Anklage erhob.» (a-54) «Der junge Ägypter, der den Lesern seines Blogs unter dem Namen Karim Amer bekannt ist, studiert Jura an der islamischen Al-Azhar Universität.» (a-52) «Un internaute égyptien qui avait critiqué sur un site Internet le pouvoir et la grande université islamique Al-Azhar a été condamné jeudi à quatre ans de prison pour insultes envers l’islam et le président Moubarak[.]» (a-36) «Il avait également critiqué les plus hautes institutions religieuses du pays, en particulier l’université sunnite Al-Azhar, dans laquelle il étudiait le droit.» (a-19) «Karim Amer s’en prend à l’université Al-Azhar, siège des plus hautes autorités de l’islam sunnite.» (a-53) «Abdel Karim Soliman, 22 ans, un étudiant d’Alexandrie, avait dans son journal en ligne, qualifié l’université Al-Azhar du Caire – haut lieu de l’islam sunnite – d’‹université du terrorisme› et critiqué le président Moubarak.» (a-14)
eventuellen Mißbrauch – wie i.a. die Kritik an der Feuerstrafe verdeutlicht. Unter dem Einfluß lokaler Traditionen gab es jedoch durchaus Abweichungen». – Hasemann (2002, 111) kommt nach Sichtung der Quellen zu dem Schluss: «Die Diskussion von Belegen aus Koran und Sunna als primären Quellen des Rechts hat gezeigt, daß die Ableitung der Todesstrafe für Apostasie daraus nicht ohne weiteres möglich ist. Zwar betrachtet der Koran Unglauben als eine der schwersten Sünden und erwähnt, daß der Abfall nicht vergeben wird. Als Strafe wird jedoch nur die jenseitige Pein genannt.» –Bezüglich der Ableitbarkeit der Todesstrafe aus den Hadithe nehmen beispielsweise Peters/De Vries (1976–1977) eine andere Position ein. Hinweise auf andere Sichtweisen finden sich auch im Artikel Murtadd («‹one who turns back›, especially from Islam, an apostate.») in der Encyclopaedia of Islam (Heffening Brill online 2010). 34 Griffel (Brill online 2010): The «question of whether or not a Muslim can be forcibly excluded from the community and punished as an apostate remains a subject of heated dispute. The view that the law of apostasy applies only to those who have deliberately and unambiguously broken with Islam is, for instance, still held by the majority of Hanafī jurists. Some jurists have proposed the abolition of all penalties for apostasy from Islam (Shaltūt, M., Islām. ‘Aqīda wa-sharī’a (Cairo 1966), 287f.; Saeed, A., and H. Saeed, Freedom of religion. Apostasy and Islam, Aldershot 2004). Recent years have also witnessed the beginning of a movement of declared apostates from Islam (Ibn Warraq, Why I am not a Muslim, Amherst 1995; Idem (ed.), Leaving Islam. Apostates speak out, Amherst 2003)».
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Das Beispiel (a-54) verortet die Stellung der Al-Azhar-Universität nicht näher. Die Hervorhebungen in den sich anschließenden Textauszügen zeigen im Vergleich eine graduell ansteigende und mit unterschiedlichen Mitteln³⁵ erreichte Differenzierung, die sich auf ihre Rolle und Funktion innerhalb des sunnitischen Islams bezieht. (Tendenziell zeigten die ausgewerteten französischen Texte hier einen höheren Grad der Differenzierung als ihre deutschen Pendants.) Als ‘gebrochene’ Differenzierung wiederum ist das folgende Beispiel zu werten: «Anfang 2006 flog er für seine Ansichten von Al-Azhar, der ältesten und meistgeachteten Bildungseinrichtung der muslimischen Welt [Reduzierung].» (a-55)
Die adjektivische Umschreibung («ältesten», «meistgeachteten») hebt Tradition und Prestige der Al-Azhar hervor, versäumt aber, diese Attribute auf den sunnitischen Islam zu beziehen. Da die Schiiten die Al-Azhar nicht als Autorität anerkennen,³⁶ ist der unzutreffende Verweis auf die muslimische Welt eine Reduzierung, die dem Bild von einer homogenen muslimischen Welt (dem Islam) Vorschub leistet.³⁷ (6) Fatwa «Au nom de la sacro-sainte liberté religieuse, les juges ont longtemps eu le loisir de trancher en faveur de la décision parentale. Ainsi en 2002, un juge s’était basé sur une fatwa (décret religieux) affirmant qu’une femme non accompagnée ne pouvait s’éloigner de plus de 80 kilomètres de chez elle, pour justifier l’interdiction de sortie scolaire.» (a-62) «Die jüngste Fatwa, ein religiöses Gutachten des ägyptischen Großmuftis Scheich Ali Gomaa, hat heftige Debatten ausgelöst. Der höchste Geistliche des Landes, der von der Regierung eingesetzt wird, bricht überraschend mit einem der größten Tabus in der arabisch-muslimischen Welt: Der Jungfräulichkeit von Frauen und Mädchen bis zur Heirat. So hatte Ali Gomaa in der beliebten Talkshow ‹Al Beit Beitak› das Rechtsgutachten eines Kollegen abgesegnet, welches die Rekonstruktion des Jungfernhäutchens als religiös legitim erklärt.» (a-59)
35 Die Differenzierung erfolgt durch Adjektive (islamisch, sunnite) oder Apposition (siège des plus hautes autorités de l’islam sunnite, – haut lieu de l’islam sunnite –), welche durch Komma oder Gedankenstrich abgetrennt wird. 36 Dass die Schiiten diese Instanz nicht als Autorität anerkennen, heißt jedoch nicht, dass die Al-Azhar mit der Schia nichts zu tun hätte. Informationen zu der interkonfessionellen Beziehung zwischen Gelehrten der Al-Azhar und dem schiitischen Klerus finden sich bei Brunner (2004). 37 So würden sich die Protestanten vermutlich sehr wundern, wenn sie in einem Presseartikel der Autorität des Papstes unterstellt würden, den sie als weisungsbefugte Autorität gar nicht anerkennen. Denn Protestanten und Katholiken sind zwar Christen, gehören aber unterschiedlichen christlichen Konfessionen an.
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«Die Valentinsfatwa ist aber durchaus symptomatisch für den Zustand des institutionalisierten Islams: kulturell defensiv, scholastisch erstarrt und irgendwie freudlos.» (a-61) «Une fatwa est, dans l’islam, un avis juridique donné par un mufti, spécialiste de la loi religieuse, sur une question particulière. En règle générale, elle est émise à la demande d’une personne ou d’un juge, pour régler un problème juridique ou théologique lorsque la jurisprudence islamique n’est pas claire. Elle peut porter sur des domaines variés: règles fiscales, pratiques rituelles, alimentation …» (a-60)
«‹Fatwa› kommt vom Verb ‹afta› []ﺃﻑﺕﻯ. Es bedeutet ‹ein Gutachten abgeben› und ‹Aufschluss geben›. […] Aus ‹afta› leiten sich alle Begriffe ab, die mit ‹fatwa› zu tun haben. So bedeutet ‹ifta‘› die Erteilung von Rechtsgutachten, und wer das tut, ist ein ‹mufti›.» (NZZ am Sonntag 18.02.2007) Eine Fatwa ist also das Rechtsgutachten eines Muftis – und kann sich auf jedes nur denkbare Thema beziehen. Beides wird in (a-60) explizit formuliert. Letzteres klingt ebenso bei der Wortschöpfung «Valentinsfatwa» (a-61) an. Zwar wird die Fatwa hier durch die Verschmelzung zweier Wörter auf einen Teilaspekt verkürzt, da es sich in diesem Fall aber um einen thematisch eher unüblichen Bereich handelt, kann daraus indirekt geschlossen werden, dass eine Fatwa nicht mit einem Todesurteil gleichzusetzen ist (indirekte Differenzierung). Die semantische Einengung auf das Todesurteil findet sich in den nachfolgenden Beispielen. Hier soll der Begriff ‘Fatwa’ zwar erläutert werden, wird aber auf den einen Teilbereich seiner Bedeutung verkürzt – Reduzierung anstelle von Differenzierung ist die Folge: «Im Internet wurden die Mitglieder mit dem Tod bedroht: Es brauche gar keine offizielle Fatwa gegen Ahadis Zentralrat, also keinen offiziellen Aufruf [zur Ermordung/Hinrichtung] von Religionsgelehrten, stand da zu lesen.» (a-2) «Salman Rushdie ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart – und einer der streitbarsten. Am 14. Februar 1989 hatte Ajatollah Chomeini über ihn wegen Blasphemie eine ‹Fatwa› verhängt, die Todesstrafe.» (a-58)
Es wäre an einem größeren Textkorpus zu überprüfen, ob eine Differenzierungsstrategie dann häufiger angewandt wird, wenn es sich um ein anderes Themengebiet als das der Verurteilung zum Tod handelt. Nach Sichtung der Korpustexte ist zu vermuten, dass eine derart enge semantische Verknüpfung von Fatwa und Todesurteil besteht, dass diese (fälschlicherweise) synonym verwendet werden. Aus diesem Grund kommt es hauptsächlich bei anderen Themen zu Erläuterungen und somit zu einer Differenzierung.³⁸
38 (a-63): «En Occident, l’intérêt des lecteurs pour le roman indien remonte à la fatwa lancée en 1989 par les mollahs iraniens contre l’écrivain Salman Rushdie.»; (a-64): «Car il n’y
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Die angeführten Themenblöcke (1) bis (6) zeigen, dass Differenzierungsstrategien in unterschiedlichen Bereichen und in verschiedenen Funktionen (Worterklärung, Kontextualisierung) eingesetzt werden. Die zu Beginn des Kapitels angesprochene größtnötige Differenzierung bei der Verarbeitung von Informationen und der Vermittlung von Nachrichten ist bei Weitem keine Fixgröße. Wissenshorizont und Erwartungshaltung sind wichtige Bezugsgrößen: Wird in Deutschland oder Frankreich beispielsweise ‘Europa’ thematisiert, dürfte dem Leser bewusst sein, dass Europa kein homogenes Gebilde darstellt, dass Belgien sich von Italien und Deutschland sich von der Slowakei unterscheidet. Beim Berichten über den Islam scheint dieses Bewusstsein in Teilen der deutschen und französischen Bevölkerung nicht in vergleichbarem Maß vorhanden zu sein.³⁹ So bedarf es hier eines höheren Maßes an Differenzierung als bei anderen Themen.⁴⁰ Das Kapitel 7 wird dann zeigen, dass der Einsatz der Differenzierungsstrategie an sich noch kein Garant für die informationelle Ausgewogenheit eines Textes darstellt, sondern – ganz im Gegenteil – dazu dienen kann, auf der sprachlichen Oberfläche eine sichtbare Absicherung herzustellen, die das unsichtbare Mitsagen wo nicht ermöglicht, so doch unterstützt.
a pas si longtemps, les deux imams de la Lal Masjid, Maulana Abdul Aziz et Maulana Abdul Rasheed Ghazi, faisaient l’objet d’un mandat d’arrêt pour avoir lancé une fatwa contre les soldats pakistanais combattant les militants islamistes dans les zones tribales, en bordure de l’Afghanistan.»; (a-65): «Das Oberhaupt der ägyptischen Muslime, Scheich Ali Gomaa, hat eine Internetseite für individuelle islamische Rechtsgutachten, die so genannten Fatwas, eingerichtet.»; (a-66): «Die Entscheidung obliegt vielmehr dem irdischen Urteil zwei Dutzend ausgewählter Mitglieder des ‹Sharia Boards›. Nur ihre Gutachten (Fatwa) stellen klar, ob ein neues Finanzprodukt Scharia-konform ist oder nicht». 39 In diese Richtung deuten die unten vorgestellte Studie zur Diskriminierung im Alltag (2008), in Auftrag gegeben von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, sowie verschiedene Beiträge aus Les codes de la différence, herausgegeben von Kastoryano (2005). Dieser Sammelband befasst sich mit der Konstituierung von Alterität in der deutschen, französischen und amerikanischen Gesellschaft – wichtige Faktoren in diesem Prozess sind die Kategorien Religion und Ethnie (Abstammung). – Zur Markierung von Alterität siehe i.a. Kapitel 6.1.4, 7.2.7 und 7.2.8. 40 So dürfte jedem deutschen Leser klar gewesen sein, was mit dem Titel Wir sind Papst! (BILD 20.04.2005) gemeint war. Im BILD-Archiv ist dazu Folgendes zu lesen: «‹Wir sind Papst!› Das ‹Wir› steht in diesem Zusammenhang für Deutschland und der ‹Papst› ist ein Deutscher.» (http:// www.bild.de/BILD/news/60-jahre-bundesrepublik-deutschland/60-ereignisse/2000er/2005/ joseph-ratzinger-wird-neuer-papst-benedikt-xvi.html, abgerufen am 14.01.2011).
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6.1.4 Sprachliche Techniken zur Markierung von Fremdheit Wie in Kapitel 6.1.1 deutlich wurde, sind Dichotomiebildungen ein häufig angewandtes Mittel, um Texte zu strukturieren. Eine immer wieder zu beobachtende Form der Bildung von Gegensatzpaaren betrifft die Unterscheidung in eine Fremd- und eine Eigengruppe. Die Markierung von Alterität, also die Zuschreibung als der andere/die anderen bzw. das Fremde, Nicht-Eigene, ist kein Phänomen, das lediglich an den Islam oder die Muslime geknüpft ist.⁴¹ Eine Betrachtung des Islams bzw. der Muslime als nicht zur eigenen Gesellschaft gehörend befördert jedoch diese Unterscheidung, die sich leicht mit Bewertungen oder, wie in Kapitel 7 sichtbar wird, mit enthymemischen Argumentationsmustern verknüpfen lässt. Fremdheit kann, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, auf verschiedenen Textebenen ausgedrückt werden. Und zwar durch: (1) semantisch-kognitive Relevantsetzungen (2) die Nicht-Integration in das sprachliche System (3) die Nicht-Übersetzung von Begriffen (1) Semantisch-kognitive Relevantsetzungen: Da die Aufteilung in Fremd- und Eigengruppe(n) bereits mehrfach genannt wurde (Kap. 6.1.1) und in den Kapiteln 7.2.7, 7.2.8 und 7.3 eine zentrale Rolle spielen wird, soll es an dieser Stelle primär um die Illustration des Mechanismus gehen, der durch das Nennen von Nationalität und Religionszugehörigkeit in Gang kommen kann (Kap. 7.2.10.2 und 7.3). Im Juli 2009 stach ein Mann während einer Gerichtsverhandlung eine Frau nieder und verletzte sie dabei tödlich.⁴² Der Täter wird – obwohl deutscher Staatsbürger – selten als Deutscher, hingegen häufig als Russlanddeutscher, bisweilen als Spätaussiedler bezeichnet. Auf diese Weise wird er von der deutschen Mehrheitsgesellschaft abgegrenzt und eine Unterscheidung zwischen einer (vermeintlich homogenen) Fremdgruppe, den Russlanddeutschen, und
41 Manchmal gehen dabei auch Kategoriegrenzen verloren, werden Nationalität und Religion vermischt: (a-256): «Der schmale 16-Jährige trägt Basecap und Goldkette über dem Pullover, Gangsterstil. Hin und wieder unterbricht er seine Rede mit dem Ruf ‹Allah›. Dabei ist Timo kein Moslem, sondern halber Russe». 42 taz (07.07.2009): «Tod im Gerichtssaal. Der Mann, der in der vergangenen Woche eine 31-jährige Ägypterin im Dresdener Landgericht mit 18 Messerstichen getötet hat, hatte vermutlich islamophobe Motive.»; DER TAGESSPIEGEL (07.07.2009): «Zentralrat der Juden in Sorge wegen Gewalttat an Ägypterin in Dresden. Beerdigung in Alexandria.»; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (07.07.2009): «Empörung in Alexandria.» – Eine Liste mit weiteren Presseartikeln zum Thema findet sich im Wikipedia-Artikel Murder of Marwa El-Sherbini, http://en.wikipedia.org/ wiki/Death_of_Marwa_El-Sherbini, abgerufen am 06.04.2010.
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der wir-Gruppe, zu der Produzent und Rezipient in der Regel gehören, relevant gesetzt. Die Herkunft des Mannes, auf die bei fortlaufender Berichterstattung immer wieder hingewiesen wird, erhält für das Geschehen somit eine immense Wichtigkeit. Diese wird intuitiv als Erklärung für die Tat hinzugezogen – ein Mitglied der wir-Gruppe würde nach einer dieser Logik entsprechenden Annahme solch eine Tat nicht begehen.⁴³ Gestützt wird diese Schlussfolgerung durch ein dem Deviations-Topos⁴⁴ vergleichbares Argumentationsmuster.⁴⁵ Die wiederkehrende Fokussierung ⁴⁶ der Berichterstattung auf die russische Herkunft des Täters schafft bzw. verstärkt hier also die Möglichkeit einer argumentativen Verknüpfung, anhand derer die Tat nicht primär einem spezifischen Mann X, sondern dem Angehörigen der Fremdgruppe zugewiesen werden kann. Der nachfolgende Vergleich zwischen Ausgangstext (a-236) und Folgetext (a-238) zeigt, welche Information als relevant übernommen, welche weggelassen wird. Dabei könnte die Information, der Täter sei nicht vorbestraft gewesen, im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls von Interesse sein:⁴⁷ «Demnach spielten sich im Gerichtssaal innerhalb weniger Minuten dramatische Szenen ab. Unvermittelt griff der bislang nicht vorbestrafte Russland-Deutsche die Frau mit einem größeren Messer an.» (a-236) «Demnach spielten sich im Gerichtssaal innerhalb weniger Minuten dramatische Szenen ab. Unvermittelt griff der Russland-Deutsche die Frau mit einem grösseren Messer an.» (a-238)
Analog zur eben skizzierten Fokussierung verläuft die Bildung von Dichotomien bzw. die Homogenisierung von Gruppen anhand vermeintlich distinktiver Merk-
43 Cf. die Berichterstattung zu Ghofrane Haddaoui (Kap. 7.3). 44 Deviations-Topos: Weil Muslime bestimmte religiös (oder ethnisch-kulturell) geprägte Eigenschaften und Mentalitäten haben, reagieren sie in bestimmten Situationen auf eine zu kritisierende (oder begrüßenswerte) Weise (Kap. 8.1.4). 45 Weil dieser Mann Russlanddeutscher ist [und die Russlanddeutschen ausländerfeindlich, gewaltbereit … sind], konnte es zu dieser Tat kommen. 46 In (a-236), (a-238) wird die Relevantsetzung mithilfe der Interpunktion zusätzlich betont: «Mitten im Gerichtssaal hatte der 28 Jahre alte Angeklagte – ein deutscher Staatsbürger russischer Herkunft – die als Zeugin geladene Frau angegriffen und mit 18 Messerstichen regelrecht niedergemetzelt.»; (a-237): «Dabei habe ein Polizeibeamter im Gericht einen Schuss aus seiner Dienstwaffe abgegeben. Gegen den gebürtigen Russen werde nun wegen Totschlags ermittelt. Die Dresdner Rettungsleitstelle war um 10:26 Uhr aus dem Gerichtsgebäude alarmiert worden». 47 Folgende Bearbeitung wäre also ebenfalls möglich, scheint aber unter Berücksichtigung der Fokussierung auf die Nationalität wenig plausibel: *Unvermittelt griff der bislang nicht vorbestrafte Täter/Mann die Frau mit einem größeren Messer an.
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male im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft im Zusammenhang mit islambasierten Themen.⁴⁸ Diese Prozesse nehmen an Komplexität zu, wenn enthymemische Schlussfolgerungen damit verknüpft werden, wenn beispielsweise eine Ethnisierung von Konflikten stattfindet⁴⁹ oder die Nationalitätsbezeichnung als Quasisynonym bzw. Sigle für die Religionszugehörigkeit der betreffenden Person verwendet wird (Kap. 7.3). (2) Die Nicht-Integration in das sprachliche System ist eine subtilere Form, Fremdheit zu markieren, als die eben erwähnte Möglichkeit, dies über die Benennung von Nationalitäten oder Religionszugehörigkeit zu tun. Nach Schiffer (2004, 135ss.) findet diese Konstituierung von Fremdheit sowohl auf der grammatischen wie der lexikalischen Textebene einen Niederschlag. «Der Fremdheitscharakter von Transferenzen⁵⁰ drückt sich [z.B.] darin aus, dass sie nicht gebeugt werden. Dies trifft bezüglich des Lexems ISLAM auf die Genitivmarkierung zu» (Schiffer 2004, 136) – also die Verwendung von des Islam anstelle von des Islams. Beide Genitivformen sind laut Duden korrekt. Ein Prinzip sprachlicher Ökonomie ist die Vermeidung inhaltlich deckungsgleicher Begriffe. Absolute Synonyme oder völlig identische Verwendungsweisen sind also auch bei der
48 Cf. i.a. Kapitel 3, in dem der Umgang mit oder das Wahrnehmen als Alterität mehrfach eine Rolle spielt. Dieses Thema spiegelt sich außerdem in den semantischen Verknüpfungen deutsch + nicht muslimisch vs. muslimisch + nicht deutsch (Kap. 7.2.2) oder kommt bei der Konstituierung von Dichotomien (Kap. 7.2.8) sowie im Zusammenhang mit verschiedenen Topoi (Kap. 8.1.3) zum Tragen. – Siehe außerdem Kapitel 7.2.7; Hermann (2008) skizziert in seiner Beschreibung der türkischen Gesellschaft vergleichbare Phänomene mit vergleichbaren Inhalten – insofern erwähnenswert, da die Bevölkerung der Türkei mehrheitlich muslimisch geprägt ist – so z.B. beim Thema ‘Kopftuch’: «[V]iele Frauen der kemalistischen Oberschicht unterstellen der ‹anderen› Frau, dass sie das Kopftuch nur trage, weil sie dazu gezwungen werde» (Hermann 2008, 15). – Zur aktuellen Türkeiforschung in Deutschland sei auf folgende Online-Publikation verwiesen: TürkeiEuropaZentrum Hamburg/Netzwerk Türkei, Aktuelle Projekte in der Türkeiforschung in Deutschland, 25.–26.02.2010, http://www.aai.uni-hamburg. de/tuerkeieuropa/tuerkeiforschung.pdf, abgerufen am 06.08.2010. 49 Cf. Kastoryano (2005), Deltombe (2005), Le Monde diplomatique (Juli 2005). 50 Unter Transferenzen versteht Schiffer (2004, 110) nicht alle Lehnwörter aus dem Arabischen, sondern jene, die die Konnotation Fremdheit (bewahrt) haben. Schiffer (2004, 110) unterscheidet hierbei die Transferenz vom Integrat, wissend, dass eine Grenzziehung hier nicht immer eindeutig möglich ist: «Das Lehnwort ist nach Bellmann [1981] ein Integrat. Hiervon wird nach Munske [1983, 559s.] die Transferenz unterschieden, die sich dadurch auszeichnet, dass ihre Fremdheit in der Nehmersprache durchaus noch empfunden wird. […] Der Terminus Fremdwort, der das Stigma des ‹Fremdkörperseins› im Deutschen manifestiert [Munske 2001], wird als eine Unterform der Transferenz betrachtet und in der vorliegenden Arbeit nicht weiter verwendet».
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Genitivform von ‘Islam’ eher unwahrscheinlich. Stattdessen ist denkbar, dass die Verwendung vom Kontext oder dem gewählten Stil abhängig gemacht wird, sie Ausdruck eines spezifischen Wissens (Wunsch nach der korrekten Verwendung bestimmter Termini) sind oder eben eine Form der Alteritätszuweisung darstellen. Auch die Gewohnheit als entscheidender Faktor für die Wahl einer bestimmten Genitivform ist zu berücksichtigen – was auf anderer Ebene jedoch nichts an der möglichen Markierung als fremd ändert. Im Sinne der These der Fremdheitsmarkierung zu verstehen ist eine im Grammatik-Duden (82009, 196) festgehaltene Beobachtung für Fremdwörter, die auf unbetonte Silbe mit einem s-Laut enden (z.B. ‘Kompromiss’): «In geschriebener Standardsprache erscheinen hier [bei Fremdwörtern auf unbetonte Silbe mit einem s-Laut] endungslose Formen. Bei stärkerer Integration erscheinen aber auch Formen mit Endung -es.» Die Nicht-Integration in das Sprachsystem als eine Markierung von Fremdheit zu werten, erscheint also durchaus plausibel. Die Verteilung im vorliegenden, nicht repräsentativen Korpus fällt eindeutig zugunsten der nicht integrierten Form aus.⁵¹ Von den 51 Artikeln mit ‘Islam’ im Genitiv enthalten 40 Texte eine oder mehrere Realisierungen von «des Islam» und lediglich 13 Artikel eine oder mehrere Okurrenzen von «des Islams»; bei zwei Artikeln treten beide Genitivformen auf.⁵² Weitergehende Rückschlüsse sind auf der Grundlage der vorliegenden Korpusdaten allerdings nicht möglich, da außer der eindeutigen Frequenz keine Parameter für die Wahl der Genitivform festgemacht werden konnten.⁵³ Eine redaktionelle Vorgabe scheint nicht zwingend entscheidend zu sein;⁵⁴ themenspezifische oder von Einzelpersonen
51 Eine in der WAHRIG-Redaktion durchgeführte Stichprobe zur Genitivmarkierung bei ‘Islam’ fällt noch sehr viel klarer aus. Sie zeigt, «dass die Unterlassung der Genitivdeklination erheblich häufiger ist. Etwa im Verhältnis 5000 zu 200.» (WAHRIG-Sprachberatung 12.10.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin). 52 (a-188): «Deswegen ist ein Zusammenschluss auch dringend nötig. Denn die Muslime in Deutschland sind nicht einheitlich organisiert, die eine Stimme des Islams gibt es bisher nicht. […] Doch ob der geplante Verband wirklich die Unterstützung aller in Deutschland lebenden Muslime bekommen wird, ist fraglich. Die Strömungen innerhalb des Islam sind zu verschieden.»; (a-191): «Ahmadinedschad hat immer wieder betont, dass seiner Meinung nach Feinde des Islams Zwietracht unter den Muslimen schüren wollen. […] Über 80 000 Iraner reisen jedes Jahr zu den heiligsten Stätten des Islam. Millionen haben sich für die kommenden Jahre schon angemeldet». 53 Die Untersuchung eines Vergleichskorpus mit ähnlich gelagerten Okurrenzen wäre hier daher sinnvoll. 54 Bei mehreren Presseorganen finden sich Texte mit der einen wie mit der anderen Genitivform. – (a-4): «Drei Jahre bekam der junge Ägypter wegen Volksverhetzung und Beleidigung des Islams aufgebrummt, ein Jahr für die Beleidigung des ägyptischen Präsidenten Hosni
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abhängige Realisierungen sind auf der Grundlage der vorliegenden Texte nicht erfassbar. Dass es sich auch um eine bewusste Entscheidung handelt bzw. handeln kann, zeigt der anschließende Vergleich: (a-239) und (a-240) haben dieselbe Vorlage (a-241)⁵⁵, enthalten jedoch unterschiedliche Genitivformen. «Noch ist der Würfel mit einem Bauzaun gesichert: An der Hamburger Kunsthalle entsteht zurzeit ein 14 Meter hoher und 13 Meter breiter Kubus, der an das größte Heiligtum des Islams, die Kaaba in Mekka, erinnert.» (a-239) «Noch ist der riesige schwarze Würfel mit einem Bauzaun gesichert: An der Hamburger Kunsthalle entsteht zurzeit Deutschlands wohl umstrittenstes Kunstwerk. Der Künstler Gregor Schneider aus Rheydt (Nordrhein-Westfalen) errichtet auf dem Plateau zwischen dem historischen Gründungsbau der Kunsthalle und der Galerie der Gegenwart einen 14 Meter hohen und 13 Meter breiten schwarzen Kubus, der an das größte Heiligtum des Islam, die Kaaba in Mekka, erinnert.» (a-240)
Vorgaben und Setzungen von Leitmedien könnten sich auch auf den allgemeinen Sprachgebrauch auswirken – freilich ist die Übernahme einer bestimmten Sprachform nicht von vorneherein garantiert. Zu den Artikeln ohne s-Genitiv gehört beispielsweise der eben erwähnte Agenturtext (a-241), der allein neun Mal mit entsprechender Genitivform übernommen wurde. Ändern sich Vorgaben, wie z.B. in diesem Fall bei dpa,⁵⁶ kann dies Einfluss auf die Wahl und die Frequenz der Genitivform von ‘Islam’ auch bei anderen Presseorganen haben.
Mubarak.»; (a-54): «Der 22-Jährige muss für vier Jahre ins Gefängnis – wegen Beleidigung des Islam und des Präsidenten». 55 (a-241): «Noch ist der riesige schwarze Würfel mit einem Bauzaun gesichert: An der Hamburger Kunsthalle entsteht zurzeit Deutschlands wohl umstrittenstes Kunstwerk. Der Künstler Gregor Schneider aus Rheydt (Nordrhein-Westfalen) errichtet auf dem Plateau zwischen dem historischen Gründungsbau der Kunsthalle und der Galerie der Gegenwart einen 14 Meter hohen und 13 Meter breiten schwarzen Kubus, der an das größte Heiligtum des Islam, die Kaaba in Mekka, erinnert.» – Die Nicht-Integration bei den Artikelübernahmen überwiegt auch hier zahlenmäßig eindeutig: Von den 13 Korpusartikeln, die von derselben Vorlage abstammen, enthalten lediglich 2 einen s-Genitiv. 56 Die aktuelle Empfehlung, die es früher so nicht gab, lautet, den s-Genitiv, also ‘des Islams’, zu verwenden (Andrea Hellmich 07.04.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin). Ähnliche Empfehlungen scheint es beim Deutschlandfunk zu geben: In einer nicht zur Ausstrahlung vorgesehenen Korrektur (hier wurde das Schneiden versäumt) aus den Notizen der Woche aus Religion und Gesellschaft wurde der Nachrichtensprecher gebeten, anstelle des Islam des Islams zu verwenden. Der Nachrichtensprecher korrigierte sich und trug die betreffende Notiz mit veränderter Genitivmarkierung vor (Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft 03.04.2009).
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Ergänzend sei bemerkt, dass bei sehr vielen maskulinen und neutralen Fremdwörtern heute der Genitiv ohne die Endung -s gebildet wird (WAHRIG. Richtiges Deutsch leicht gemacht 2009, 25s.). So z.B. bei Kunststilen (des Barock), bei grammatischen Bezeichnungen (des Dativ), bei Fremdwörtern, insbesondere wenn sie als Fachwörter gebraucht werden (des Islam) und bei Zusammensetzungen, die als Ganzes aus einer Fremdsprache übernommen wurden (die Dichtung des Fin de Siècle).⁵⁷ «In allen diesen Fällen ist daneben auch die Bildung des Genitiv Singular mit der Endung -s möglich: des Barocks, des Genitivs, des Dynamos, des Know-hows, des Konjunktivs, des Partizips, des Radars.» (WAHRIG. Richtiges Deutsch leicht gemacht 2009, 26) ‘Islam’ wird hier als Fremdwort, das insbesondere auch als Fachwort gebraucht wird, klassifiziert. Diese Komponente wird beim Gebrauch von ‘Muslima’ (s.u.) nochmals aufgegriffen. Hier wie dort geht es um die Relevantsetzung spezifischen Wissens und um die Markierung dieses Vorgangs; hier wie dort geht es um die Abweichung vom ‘normalen’ Sprachgebrauch und um die Markierung als fremd.⁵⁸ Diese Beobachtung zielt dabei zunächst nicht auf eine inhaltliche Aussage, sondern auf den sprachtypologischen Vorgang einer Kennzeichnung – welche wiederum in einem nächsten, hier nicht angestrebten Schritt auf ihre inhaltlichen Implikationen untersucht werden kann. Neben der Genitiv-Markierung bei Fremdwörtern wird auch die Pluralbildung im Grammatik-Duden (82009, 196) als Indikator für das Maß an Integration in das Sprachsystem erwähnt.⁵⁹ Analog zu dieser Korrelation von ‘Bildung des Plurals’ und ‘Maß der Integration in das Sprachsystem’ weitet Schiffer die These der Fremdheitsmarkierung auf den Ausdruck ‘Muslimin’ aus, an dessen Stelle immer häufiger ‘Muslima’ bzw. im Plural ‘Muslimas’ festzustellen sei (10.09.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin). Dabei handle es sich keines-
57 «Diese Unterlassung der Deklination findet sich demnach insbesondere bei den Bezeichnungen der Kunststile: des Barock, des Biedermeier, des Rokoko; grammatischen Bezeichnungen: des Dativ, des Genitiv, des Konjunktiv, des Partizip, des Perfekt, des Plural; vielen weiteren Fremdwörtern, insbesondere wenn sie als Fachwörter gebraucht werden: des Dynamo, des Enzian, des Jasmin, des Islam [Hervorhebung D.W.], des Radar; Zusammensetzungen, die als Ganzes aus einer fremden Sprache übernommen sind: das Anbieten des eigenen Know-how, das Anrichten des Hors d’œuvre, die Dichtung des Fin de Siècle.» (WAHRIG. Richtiges Deutsch leicht gemacht 2009, 25s.). 58 In der bereits erwähnten E-Mail der Sprachberatung von WAHRIG vom 12.10.2009 wurde darauf hingewiesen, dass im endungslosen Genitiv bei Substantiven ein Aspekt der Nicht-Integration zu erkennen sei, welcher zunächst bei Anglizismen ins Auge falle. 59 «Der Grad der Integration kann oft an der Pluralform abgelesen werden: Substantive mit fremder Pluralform sind am schwächsten, solche mit e-Plural am stärksten integriert.» (Duden. Die Grammatik 82009, 196).
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wegs um eine falsche Verwendung. Aber das Insistieren auf Fachwissen verhindere die Normalbehandlung dieser Begriffe im deutschen Sprachsystem – mit der Implikatur «DIE SIND FREMD» (Schiffer 10.09.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin). Bei der Verwendung von ‘Muslima’ kann auch der Versuch seitens des Produzenten federführend sein, (s)ein spezifisches Wissen zu zeigen. Der Versuch einer derartigen Hervorhebung, also einer positiven Diskriminierung⁶⁰, zieht in diesem Fall allerdings dieselbe Wirkung nach sich wie eine auf Ablehnung abzielende Abgrenzung, hier verstanden als negative Diskriminierung: die Nicht-Integration in das Sprachsystem bzw. eine sprachinterne Abgrenzung und somit die Konstituierung bzw. Perpetuierung von Alterität. (3) Die Nicht-Übersetzung von Begriffen ist nach den semantisch-kognitiven Relevantsetzungen und der Behandlung als Fremdwort als dritte Technik zur Markierung von Fremdheit zu nennen. Neben der Verwendung von Muslimin, Muslima, Muslimas, die sowohl unter grammatischen wie lexikalischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann, weist Schiffer (2004, 135) auf die Nichtübersetzung der Gottesbezeichnung Allah in deutscher Textumgebung als Markierung von Fremdheit auf der Wortschatzebene hin. Hier wird – und das zeigen Beispiele aus dem vorliegenden Textkorpus – die Andersartigkeit einer muslimischen Gottheit impliziert⁶¹, und dies, obwohl «auch arabische Juden und Christen auf dieses – einfach Gott bezeichnende – Lexem angewiesen sind. […] Die Abgrenzung vom Gott der Christen oder Juden, die die Anwendung des Terminus Allah mit sich bringt, wird allerdings auch von muslimischer Seite kultiviert.»⁶² (Schiffer 2004,
60 Diskriminierung verstanden als spezifische Handhabung bzw. Markierung, indem andere Regeln angewandt werden. ‘Positiv’ und ‘negativ’ bezeichnen hier die jeweils zugrunde liegende Motivation. – Cf. den Einsatz der Strategie der Differenzierung (Kap. 6.1.3) oder den unter 7.2.10 behandelten Text (a-235). 61 (a-257): «Erst in der Fremde vertiefte sich also seine Beziehung zu Allah. Doch diese zunächst einmal erfreuliche Entdeckung einer geistigen Kraftquelle führte Youssef bald darauf in Kreise, die nicht ganz so erfreulich waren»; (a-258): «Eine Moschee ist, wo Menschen zu Allah beten.» Cf. dazu eine weitere Aussage von (a-258), die der islamischen Föderation zugeschrieben wird: «Die islamische Föderation möchte diesen Unterschied zwar nicht machen, eine Moschee sei dort, wo sich Menschen zum Gebet träfen». 62 Die wörtliche Übernahme der Zitate vorausgesetzt, nachfolgend zwei Beispiele für die Nicht-Übersetzung von Allah von muslimischer Seite: (a-242): «‹Ich trage mein Kopftuch nicht aus politischen Gründen, sondern für Allah›, betonte Zehra Cakmag. Sie werde wegen ihres Kopftuchs immer wieder angestarrt und beleidigt und hätte deswegen sogar schon Probleme bei der Jobsuche gehabt.»; (a-243): «Auf seinem Balkon sitzend, durchflutete ihn plötzlich die Erkenntnis: ‹Himmel und Erde sind Allahs Schöpfung, und der Islam ist die letzte von ihm offenbarte Religion›».
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135) Letzteres zeigt eine bis zum obersten Gericht ausgetragene Kontroverse in Malaysia, in der Muslime die Verwendung des Begriffs ‘Allah’ durch Christen unterbinden, die Christen diese Gottesbezeichnung jedoch beibehalten möchten.⁶³ Die drei nachfolgenden Textauszüge machen die erwähnte Unterscheidung von ‘Gott’ und ‘Allah’ deutlich, die hier stets mit der Relevantsetzung von Alterität⁶⁴ verbunden ist: In (a-68) wird ‘Allah’ auch in der Übersetzung beibehalten, was suggeriert, dass keine deutsche Entsprechung existiert.⁶⁵ In (a-229) zeigt sich das umgekehrte Prinzip: Die wörtliche Übersetzung scheint nicht ausreichend; es bedarf noch der Erläuterung in Klammer, ebenfalls eine Form der Relevantsetzung. In (a-259) schließlich wird klar zwischen zwei Gottheiten – ‘Gott’ und ‘Allah’ – unterschieden. «In ihrer Wohnung im Schanzenviertel hängt in der Ecke, die nach Osten zeigt, ein Messingbild mit arabischen Schriftzeichen, die ‹Allahu akbar›, ‹Allah ist größer› bedeuten.» (a-68) «So beteuert der Muslim im Glaubensbekenntnis auf arabisch: ‹Ich bezeuge, dass es keine Gottheit gibt außer Gott (Allah), und Mohammed ist der Gesandte Gottes.›» (a-229) «Es kommt selten vor, dass sich ein katholischer Diakon, ein evangelischer Pfarrer und der Vereinsvorsitzende einer Moschee die Hände reichen, gemeinsam Gott und Allah danken.» (a-259)
Die soeben dargelegte Sichtweise der Nicht-Übersetzung als Mittel der Markierung kann auch auf eine französische Textumgebung übertragen werden. Im Korpus selbst findet sich ‘Allah’ jedoch nur in einem Artikel (der Ausdruck ‘Dieu’
63 Cf. tagesschau.de (03.01.2010); Reuters (04.01.2010); The New York Times (05.01.2008); faz. net (12.01.2010). 64 Je nach eingenommener Perspektive wird die Fremdgruppe relevant gesetzt oder aus dem Blickwinkel der Eigengruppe (wir, die Muslime) gesprochen bzw. geschrieben. 65 Cf. den Eintrag zu Allah aus dem Lexikon für Theologie und Kirche (LTHK Bd. 1 32006): «Allah (etymologisch wohl zu betrachten als emphatische Form des semitischen Gottesnamens El oder Il; vgl. aramäisch Alaha), arab. Bez. für den höchsten Gott, in vorislam. Zeiten in versch. regionalen Religionen bekannt u. v. arab. Christen verwendet für den bibl. Gottesnamen. Im Koran ist A. der häufigstgebrauchte Name für den Schöpfer u. Offenbarer. Für arab. Christen u. Muslime ist A. einfach die Bez. für ‹Gott›, u. es wäre falsch, in nicht-arab. Sprachen v. ‹Allah› zu reden als dem Gott der Muslime, auch wenn die islam. Gottesidee v. der chr. unterschieden ist [Hervorhebung D.W.]».
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kommt hingegen sieben Mal vor).⁶⁶ Dass (a-98) gerade einen Vorfall in Deutschland betrifft, mag in diesem Zusammenhang Zufall sein; vielleicht zeigt sich hier jedoch ein anderer Umgang mit Allah, oder aber ist dies Ausdruck einer generell weniger stark ausgeprägten Thematisierung von Religion und Glaube der französischen Berichterstattung⁶⁷ – eine Antwort auf diese Frage kann an dieser Stelle jedoch nicht gegeben werden. Eine Datenbankabfrage mit dem Suchwort ‘Allah’ ergibt eine vor diesem Hintergrund unerwartet hohe Trefferzahl und scheint zunächst der geringen Frequenz des vorliegenden Korpus zu widersprechen.⁶⁸ (Absolute) Zahlen reichen jedoch nicht aus, um fundierte Aussagen zu treffen, und die dafür notwendigen weitergehenden Untersuchungen sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich. Als erster Eindruck aus einer Stichprobe von 298 Artikeln lassen sich vorläufig folgende Beobachtungen festhalten: ‘Allah’ wird in den untersuchten französischen Texten überwiegend in Zitaten⁶⁹ gebraucht, bildet häufig ein Element der Ausdrücke ‘Inch’Allah’⁷⁰ und ‘Allah Ahkbar’⁷¹ und kommt (im Vergleich weniger häufig) in Konstruktionen wie ‘les fous d’Al-
66 (a-98): «‹Oui, In cha’ Allah, ce serait comme un 11 Septembre›, répond son comparse. Jusqu’à maintenant, Allah a tout fait parfaitement. Nous avons vraiment la puissance›, croit Gelowicz, qui venait d’acheter à Dortmund des platines, des interrupteurs, du câble, 33,5 kg de farine et des autocuiseurs en acier de qualité supérieure pour concocter les bombes». 67 Cf. zum Themenkomplex Religion – Nationalität – Alterität die Kapitel 7.2.8 und 7.3. 68 Die Suchanfrage ‘Allah’ erzielt bei der Datenbank LexisNexis für das Jahr 2007 617 Treffer bei der französischen Presse, das Suchwort ‘Dieu’ zeigt im selben Zeitraum mehr als 3000 Dokumente an. Um die Treffer auf den Islam einzugrenzen, wurde Dieu + musulman* (1257 Treffer) bzw. Dieu + islam (1169 Treffer) kombiniert. – ‘Allah’ ergibt für denselben Zeitraum 906 Treffer bei der deutschen Presse, ‘Gott’ mehr als 3000. Analog zur obigen Datenbankabfrage wurden die Kombinationen Gott + muslim* (1272 Treffer) bzw. Gott + islam (1435 Treffer) gestellt. – Die genannten Resultate können jeweils als Startpunkt für weitergehende Analysen dienen – wozu Kontextanalysen, das Heranziehen von Vergleichskorpora und eine Bereinigung von Dubletten gehören. 69 Es finden sich jedoch auch Texte ohne diesbezügliche Interpunktion: (a-253): «Que dirait Allah face à ce thaumaturge androgyne? D’ailleurs, depuis 1991, ce sont toutes les anciennes formes spectaculaires de Malaisie qui sont interdites. La version féminine du Manora, le Mak Yong, par exemple.» Cf. auch (a-253). 70 (a-255): «Alors, Nora sillonne le quartier et palabre au pied des immeubles. ‹Oui, j’ai ma chance, Inch Allah!, lance-t-elle en riant. Et moi, je serai vraiment l’élue de Pierre, Paul, Jacques, David et Mohammed›». 71 (a-244): «Boutiques mises à sac Le plus effrayant, de l’avis général, ce sont ces lycéens, encadrés par leur professeur, qui ont défilé en hurlant ‹Allah Akbar!› et ‹la patrie est indivisible›, lors de l’enterrement du militaire».
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lah’⁷² vor. Kultur⁷³ und Gewalt/Bedrohung⁷⁴ sind die beiden vorherrschenden Themenblöcke.⁷⁵ ‘Allah’ wird, wie nachfolgend illustriert, außerdem in einer den deutschen Beispielen vergleichbaren Weise verwendet. «Les chaînes de télévision ont par ailleurs montré des images d’un petit groupe manifestant devant la maison d’édition en 2005, scandant ‹Allah akbar› (‹Allah est grand›).» (a-246) «A la station de métro Barbès-Rochechouart ou à celle de Château-Rouge, les cartes de visite des marabouts distribuées aux passants ne disent rien de ces conflits. Le nom d’Allah n’est jamais mentionné.» (a-253) «La prière est brève. Elle dure à peine dix minutes pour ‹louer Allah›. Le prêche de l’imam Belkacem rappelle aux croyants la raison profonde de cette célébration.» (a-247)
6.2 Zwischenergebnis Die Dichotomiebildung wird häufig als Mittel eingesetzt, um Texte und Sichtweisen zu strukturieren. Sie funktioniert auf formaler (d’une part … d’autre part),
72 (a-250): «À l’évidence, Musharraf préférerait acheter la paix avec les ‹fous d’Allah› qui prêchent la ‹talibanisation› jusqu’au sein de la capitale, que d’avoir à leur faire la guerre.»; (a-251): «Tous les ingrédients sont réunis pour accélérer le rythme cardiaque des téléspectateurs: la menace d’une guerre biologique engagée par les fous d’Allah; les voitures qui explosent et les meurtres maquillés en suicides; la compétition entre les agences de renseignements britanniques, le MI-5 et le MI-6; les relations ambiguës qu’entretient le pouvoir avec les médias; une histoire d’amour naissante». (Rubrik ‘Culture’, ‘Télévision’) – Cf. im Unterschied zu (a-251) (a-252), wo neben ‹Allah› auch ‹Yahvé› und ‹Jésus› genannt werden. Die Relevantsetzung betrifft hier also nicht die Fremdheitsmarkierung, sondern die Gemeinsamkeit dreier Gruppen von «fous de Dieu»: «France 2 Tourné à Jérusalem, Hébron ou en Suisse, ce documentaire en trois parties d’Abraham Ségal est une incroyable plongée chez les fous d’Allah, de Yahvé et de Jésus.» (Rubrik ‘Télévision’). 73 (a-245): «Ainsi s’égrène le Coran, alternance de paroles de tolérance et de propos d’une dureté inouïe. Pour se distraire, tout de même, on apprend beaucoup sur le statut de l’animal dans l’islam, car Allah, lorsqu’il est en colère contre les mécréants, ne trouve rien de pire que de leur lancer: ‹Soyez des singes abjects›». 74 (a-248): «Les sectes telles l’Armée du ciel et l’Armée d’Allah prolifèrent en effet en Irak, notamment à Bassora, la capitale du Sud.»; (a-249): «Les Indiens répondent. ‹Longue vie à l’Inde›, crient les uns, ‹Allah est grand›, répondent les autres, de plus en plus fort. Les gardes nationaux des deux pays défilent avec une synchronisation étonnante des deux côtés de la frontière». 75 Auch die deutschen Artikel, die ‘Allah’ enthalten, lassen sich zu großen Teilen den Kategorien ‘Gewalt’/‘Bedrohung’ und ‘Kultur’ zuordnen. Die Themengebiete erscheinen hier insgesamt etwas breiter gefächert.
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auf inhaltlicher (These – Antithese) wie auf konzeptioneller Ebene (Okzident – Orient). Konzeptionelle Gegensatzpaare zeichnen sich häufig durch ein Hierarchiegefälle aus, das die Aussagestruktur der Texte maßgeblich beeinflusst. Auch die Reduzierung ist eine äußerst produktive Vertextungsstrategie. Sie lässt sich beobachten, wo Abstrakta handeln (la justice a condamné) oder komplexe Sachverhalte, diverse Gruppierungen oder Anliegen zu einer homogenen Strömung oder einem abgrenzbaren Ganzen werden (doch der Muslim macht). Dieser Vorgang wird im Textganzen dann problematisch oder wirkt verzerrend, wenn das Wissen um die der Homogenisierung zugrunde liegende Komplexität fehlt. Mit der Differenzierung wird schließlich der umgekehrte Weg beschritten: Meist auf inhaltlicher Ebene anzusiedeln, geht es beim Einsatz dieser Strategie darum, Zusatzinformationen relevant zu setzen, die eine komplexere oder diversifizierte Sichtweise ermöglichen (der nicht-arabische Iran). Den sprachlichen Techniken zur Markierung von Fremdheit liegt die Unterscheidung von einer Fremd- und Eigengruppe zugrunde, einem Gegensatzpaar also, das häufig durch positive und negative Zuschreibungen charakterisiert ist. Ausdruck findet die Relevantsetzung von Alterität auf allen Ebenen des Textes: Es lassen sich konzeptionelle Beispiele finden (franco-maghrébin), grammatische Phänomene beobachten (des Islam – des Islams) oder semantische Präferenzen zeigen (Allah – Gott/Dieu). Schon in diesem kurzen Resümee wird deutlich, dass beim Einsatz von Textstrategien Bewertungen mit einfließen können – sei dies durch die hierarchische Verbindung von Gegensatzpaaren, durch die mit negativen Konnotationen verbundene Konstituierung von Alterität oder durch Erklärungsmodelle, die auf der Grundlage von Verallgemeinerungen (Homogenisierung) oder anhand von Alterität funktionieren. (Letzteres bedarf in der Regel der Stützung durch Topoi (Kap. 8).) Die persuasiven Folgen einer solchen Verwendung sind nicht immer sofort ersichtlich und nicht zwingend bewusst eingesetzt. Das nachfolgende Kapitel widmet sich aus diesem Grund dem ‘Bewertungsproblem’ genauer. Es tut dies in zweifacher Weise: Zunächst werden Möglichkeiten expliziter Bewertung behandelt (Kap. 7.1) und anhand von Inferenzprozessen (Kap. 7.2) dann indirekte Formen von Bewertung untersucht.
7 Textstrategien im Kontinuum von Bewertung Die beiden nachfolgenden Kapitel beschäftigen sich mit unterschiedlichen Formen von Bewertung. Die Verwendung bestimmter syntaktischer Mittel (Kap. 7.1.2) stellt hier in der Regel eine explizite Variante dar; ebenso die Wahl spezifischer Adjektive und Adverbien¹ – wenn es dabei primär um den semantischen Gehalt des betreffenden Wortes geht (Kap. 7.1.1). Denn in den Fällen, in denen durch den Einsatz eines bestimmten Begriffs Inferenzprozesse angestoßen werden, die in ihrer Bedeutung über den semantischen Gehalt des einzelnen Wortes hinausreichen, handelt es sich um eine in der vorliegenden Arbeit als implizit klassifizierte Bewertung (Kap. 7.2). Bei den vorgestellten Begriffen geht es um Signalwörter, die in verschiedenen Texten in vergleichbarer Weise eingesetzt wurden. Darunter fallen Adjektive (Kap. 7.2.2, 7.2.3), Adverbien (Kap. 7.2.4), Demonstrativpronomina (Kap. 7.2.5) und Substantive (Kap. 7.2.1, 7.2.7, 7.2.8, 7.3). Auch Techniken der Distanzierung (Kap. 7.2.9) und die Nicht-Erwähnung von Inhalten bzw. die Relevantsetzung von Leerstellen (Kap. 7.2.10) können in diesem Sinne eingesetzt werden.
7.1 Formen expliziter Bewertung 7.1.1 Qualité und Relation: Adjektive und Adverbien Adjektive und Adverbien können in vielerlei Hinsicht eine tragende Rolle beim Aufbau der argumentativen Dynamik eines Textes spielen; ihre Funktion ist innerhalb des Textes nur in Beziehung zu anderen Satz- oder Textelementen zu definieren. Mit der Stellung des Adjektivs besitzt das Französische zusätzlich eine Möglichkeit, die es im Deutschen so nicht gibt: Je nach Position kann sich die Bedeutung (und die Konnotation²) des Adjektivs verändern. So bezieht sich in un homme grand das Adjektiv auf die Körpergröße des betreffenden Mannes,
1 Auch das Demonstrativpronomen kann in diesem Sinne eingesetzt werden, wie nachfolgend als Mittel der Abwertung der betreffenden Person: Hier, j’ai rencontré ce linguiste de Raible. 2 Die Stellung bestimmter Adjektive bestimmt deren Bedeutung, und zusätzlich transportiert die Position vor oder nach dem Nomen unterschiedliche Konnotationen: Steht ein Adjektiv vor dem Nomen, kommt eine gewisse Subjektivität oder eine poetische Note ins Spiel, im literarischen Gebrauch ein übliches Stilmittel (une verte prairie vs. une prairie verte). Die Position nach dem Nomen wird tendenziell mit Objektivität oder Faktizität konnotiert. So sind beispielsweise die Nationalitätsbezeichnungen – bzw. die relationalen Adjektive tendenziell – dem betreffenden Nomen nachgeordnet.
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wohingegen ‘grand’ in un grand homme auf dessen herausragende Leistungen/ Eigenschaften abzielt.³ Adjektive sind Nomina zugeordnet (Ce livre [est intéressant]); sie können fakultativer Teil einer Nominalgruppe sein (J’ai lu [un livre intéressant]) oder sich auf eine Nominalgruppe beziehen ([Sa femme], malade depuis un an, devrait partir le lendemain) (Pellat et al. 42007, 355). Pellat et al. (42007, 356)⁴ heben des Weiteren hervor, dass quantifizierende Adjektive keine referenzielle Autonomie besitzen, ihre Bedeutung ist keine absolute Größe: «Ein breiter Graben hat beispielsweise eine andere Dimension als ein breiter Rand auf einer Schreibmaschinenseite.» (Duden. Die Grammatik 82009)⁵ Adjektive setzen Eigenschaften und Beziehungen relevant und referieren auf bereits existierende Kategorien;
3 Der Skopus des Adjektivs (grand) bleibt trotz Wechsel der Position derselbe. Er ändert sich hingegen bei den nachfolgenden Beispielen zum Stellungswechsel beim Adverb, welcher ebenfalls eine semantische Veränderung mit sich bringen kann (Pellat/Riegel/Rioul 42007, 375): «(1a) Ce poème n’est pas franchement [= tout à fait] mauvais.; (1b) Pierre a parlé franchement [= de manière franche].; (1c) Franchement [= Pour parler en toute franchise], ce poème n’est pas mauvais.; (2a) Il est seulement (*déjà) trois heures.; (2b) Seulement, il est (déjà) trois heures». 4 «Contrairement aux noms ordinaires, les adjectifs qualificatifs (et les noms de propriété correspondants) renvoient à des propriétés, c’est-à-dire à des concepts exclusivement descriptifs dépourvus d’autonomie référentielle. Ainsi s’explique: qu’ils ne puissent pas, comme fonts les noms, déterminer directement des occurrences particulières, mais que l’occurrence d’un adjectif soit nécessairement repérée par rapport à l’entité support qu’il caractérise (Le pont enjambe un fleuve/??un profond – ??C’est un profond – Le pont enjambe un fleuve profond – Le fleuve est profond – C’est un fleuve profond); qu’un adjectif substantivé ne renvoie plus à la seule propriété qu’il dénote, mais à une classe d’entité définie par un ensemble de traits comprenant cette propriété: un jeune, un rapide, une blonde, etc. ne désignent pas tout ce qui est jeune, rapide, blond, etc., mais des catégories de personnes et d’objet dont le sens originel de ces adjectifs est loin d’épuiser la définition; que la propriété dénotée par l’adjectif rond (la rondeur) soit apte à caractériser toutes sortes de référents déjà catégorisés (les ballons, la terre, certaines tables, etc.), mais pragmatiquement inapte à définir une véritable catégorie (celle de tous les objets ronds), dont le rendement discursif – contrairement à celle beaucoup plus spécifique de cercle – serait quasi nul dans le langage ordinaire!» (Nach: Pellat et al. 42007, 356). 5 Nach semantischen Aspekten lassen sich die Adjektive wie folgt unterteilen: Qualifizierende Adjektive ordnen einer Person oder Sache eine Eigenschaft zu und sind z.B. Farben (rot, grün, hell, dunkel …), Formen (rund, eckig, oval, bergig …), Geschmacksrichtungen (süß, bitter …), Töne (laut, schrill …) usw.; Relationale Adjektive drücken eine Beziehung oder eine Zugehörigkeit aus und beziehen sich beispielsweise auf: Geografie (afrikanisch, asiatisch …), Staat/ Volk/Sprache (englisch, chinesisch, französisch …), Bereiche (wirtschaftlich, staatlich, technisch …), auf Raum (dortig, vordere, linke …) und Zeit (heutig, letztjährig …) usw.; Des Weiteren gibt es Zahladjektive (quantifizierende Adjektive: eins, zwei, drittes, unzählige, andere …) und im Deutschen die adjektivisch gebrauchten Partizipien (der nach dem Knochen suchende Hund, die maunzende Katze …). (Nach: Duden. Die Grammatik 82009, 339s.).
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sie sind aber, pragmatisch betrachtet, nicht in der Lage, (neue) Kategorien zu definieren – doch: Unterkategorien. Gerade dieser Aspekt, der Bezug auf eine bereits bestehende Kategorie und somit Verankerung auf einer makrostrukturellen Ebene, sollte berücksichtigt werden, wenn von moderaten, fundamentalistischen, radikal-islamischen oder islamistischen Muslimen, dem richtigen oder dem falschen Islam die Rede ist.⁶ Auch durch einen regelmäßigen Gebrauch wird die Bedeutung bestimmter Begriffe nicht zwangsläufig klarer und: Semantische Vagheit lädt zu Inferenzen ein. Am Beispiel von (a-61)⁷ lassen sich eine Vielzahl verschiedener Bewertungen zeigen. Getragen wird die argumentative Dynamik des Textes u.a. von der Aufspaltung in das Gegensatzpaar eines institutionalisierten Islams, der einer Reform bedürfe, und eines wahren Islams, der eine «großartige Religion» sei. «Der Islam ist Monotheismus pur. Und er ist eine Religion zwischen ängstlicher Defensive und notwendiger Reform. […] Nicht nur Außenstehenden geht es so, auch die Muslime selbst müssen ihre großartige Religion heute vor Instrumentalisierung und Banalisierung in Schutz nehmen, manchmal gegen ihre höchsten Autoritäten[.]» (a-61)
6 (a-182): «Les anciens combattants qui peuplent l’immeuble sauront si le parti ‹Justice et développement› (islamiste modéré), favori des sondages, obtient la majorité relative à la Chambre des représentants, sachant que la majorité absolue est impossible pour une élection qui réunit la bagatelle de 33 formations politiques.»; (a-7): «Ahmadinedschad lobte zudem die saudiarabischen Vermittlungsbemühungen im Libanon, wo der Iran die radikal-schiitische und anti-westliche Hisbollah-Miliz fördert». 7 Neben der Häufung wertender Adjektive und Adverbien ist in (a-61) eine hohe Frequenz von Modalverben zu beobachten. Auch sie haben hier einen wertenden Charakter: So z.B., wenn es um eine als generalisierbar und allgemeingültig dargestellte Einschätzung geht («man sollte meinen»). Bei der Darstellung einer Entwicklung als bedauerlich, die auf dem hierarchischen Gegensatz «atemberaubende Höhenflüge» vs. «kleinkarierte[r] Abwehrkampf» aufbaut, hat der Einsatz des Modalverbs ‘wollen’ eine mehrfache Wirkung. So werden einerseits Wunschhaftigkeit und Wahl einer Richtung assoziiert, durch die Kombination mit dem Verb scheint zugleich eine Option eröffnet, dass der Weg auch anders enden könnte als im «kleinkarierten Abwehrkampf gegen alles Westliche»: «Man sollte meinen, es sei ein wenig unwürdig für die älteste islamische Fakultät der Welt (gegründet 975), sich mit derart harmlosen Dingen zu beschäftigen. Die Valentinsfatwa ist aber durchaus symptomatisch für den Zustand des institutionalisierten Islams: kulturell defensiv, scholastisch erstarrt und irgendwie freudlos. 1300 Jahre islamischer Theologie – voller atemberaubender Höhenflüge des Rationalismus und der Mystik – scheinen in einem kleinkarierten Abwehrkampf gegen alles Westliche enden zu wollen».
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(a-22) liegt eine Hierarchisierung von Gewalt zugrunde: Die von den amerikanischen und irakischen Streitkräften ausgeübte Gewalt wird als «Offensive» positiv konnotiert, die von den Aufständischen ausgeübte «Gewalt» negativ bewertet. Das Adjektiv ‘sektiererisch’ verstärkt dieses durch die Wortwahl entstandene Gefälle und verweist darüber hinaus auf eine weitere Dichotomie, nämlich die Aufspaltung in den wahren, friedlichen Islam vs. einen vom wahren Kern abweichenden (sektiererischen), gewalttätigen Islam: «Mit der Offensive soll sektiererische Gewalt vor allem in Bagdad unter Kontrolle gebracht werden.» (a-22)
Die Beurteilung einer Zusammenkunft als étrange gibt in (a-222) nicht nur eine Bewertung derselbigen wieder, sondern spiegelt eine Dynamik, die den gesamten Text prägt: Immer wieder kollidieren hier zwei gegenläufige Informationsstränge – die wiedergegebenen Aussagen des Politikers Mahmud Abbas und die Darstellung bzw. Kontextualisierung durch den Textproduzenten – und hinterlassen so Zweifel an den Aussagen von Abbas.⁸ «Ses efforts diplomatiques semblent avoir échoué à convaincre également les EtatsUnis et Israël, au cours d’une dernière et étrange réunion avec Ehoud Olmert: ‹Nous ne pouvons pas dire qu’il y a quelque chose de désespéré›, a déclaré samedi M. Abbas au sujet de cette rencontre.» (a-222)
Adverbien bilden eine äußerst heterogene grammatische Kategorie,⁹ die unter syntaktischen¹⁰, semantischen¹¹ oder morphologischen Gesichtspunkten betrach-
8 Gestützt wird diese Art der Präsentation i.a. durch den Widerspruchs-Topos. 9 «Les adverbes forment une catégorie résiduelle où l’on range traditionnellement les termes invariables qui ne sont ni des prépositions ni des conjonctions ni des interjections, On les définit tant bien que mal par l’association de trois critères: l’invariabilité, le caractère généralement facultatif et la dépendance par rapport à un autre élément de la phrase.» (Pellat et al. 4 2007, 375). 10 Syntaktischer Aspekt: a) adverbialer Gebrauch zur näheren Bestimmung eines Verbs (Ich sehe sie morgen.); b) prädikativer Gebrauch (Sie sind anders.); c) attributiver Gebrauch zur näheren Bestimmung eines Nomens, Adjektivs oder eines anderen Adverbs (die Veranstaltung nachmittags; sie singt sehr schön; sie lesen sehr oft abends.); d) Stellvertreterfunktion: Pronominaladverb (Er ist nicht darauf gekommen.); e) Interrogativadverbien zur Einleitung von Frage- und Relativsätzen (wann, woher, wie …); f) Konjunktionaladverbien mit koordinierender Funktion (trotzdem, deswegen, daher); g) Satzadverbien oder Satzadverbiale (vielleicht, hoffentlich, glücklicherweise, leider …). (Nach: WAHRIG. Deutsches Wörterbuch 82008). 11 Semantischer Aspekt: a) Zeit: temporales Adverb (heute, jetzt, seither, gestern, mehrmals); b) Ort, Richtung, Herkunft: lokales Adverb (hierher, innen, dorthin); c) Art und Weise: moda-
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tet werden kann. Adverbien können sich auf Adjektive, auf andere Adverbien, auf Verben, auf nominale oder präpositionelle Gruppen beziehen. Bestimmte Adverbien funktionieren vergleichbar eines Satzes oder einer Aussage oder geben deren prädikativen Kern wieder; auch Ellipsen sind hierzu zu rechnen (Non/Je crois que oui/Certainement/Certes/Volontiers) (Pellat et al. 42007, 376). Adverbien, die sich auf Sätze oder satzübergreifende Sinneinheiten beziehen, sind für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse, bieten sie doch eine (mögliche) Lesefolie, die die Deutung eines Textes wesentlich beeinflussen bzw. Indizien auf stützende Argumentationsmuster liefern kann. Dies ist z.B. bei «dans le calme» in (a-47) der Fall: Die so relevant gesetzte Information zeigt, dass bei Demonstrationen im Irak Ausschreitungen erwartet worden waren, welche jedoch nicht eintraten. Eng verknüpft mit dieser Präsupposition ist der Deviations-Topos. «Des Irakiens ont manifesté samedi dans le calme dans de nombreuses localités chiites pour dénoncer la détention pendant plusieurs heures la veille du fils d’Abdoul Aziz Hakim, l’un des chefs de file les plus puissants de la communauté chiite irakienne.» (a-47)
Die Aufspaltung in einen institutionalisierten Islam, der einer Reform bedürfe, und den wahren Islam, eine «großartige Religion», wurde im Zusammenhang mit (a-61) oben bereits erwähnt. Die an sich schon wertenden Adjektive des nächsten Textauszugs werden durch die Adverbien näher beschrieben und zusätzlich verstärkt. «Die Valentinsfatwa ist aber durchaus symptomatisch für den Zustand des institutionalisierten Islams: kulturell defensiv, scholastisch erstarrt und irgendwie freudlos.» (a-61)
Die Bewertung eines Ereignisses erfolgt in (a-67) anhand einer polyfonen Darstellungsweise: Zunächst wird die Teilnahme von vier Abgesandten in ihrer Funktion als Botschafter an einer Zusammenkunft von französischen Muslimen als seltsam («curieusement») klassifiziert. Diese Kennzeichnung dient der Hervorhebung des Vorgangs und ist zugleich ein Stilmittel. Denn durch die Conclusio («la vieille gestion consulaire …»), die unter anderem an die zuvor zitierte Aussage «il faut rester dans la réalité» anknüpft, wird deutlich, dass in den Augen des Autors hier keine bizarrerie, sondern eine zu kritisierende Kontinuität
les Adverb (anders, eilends, gern, blindlings, sehr, vergebens …); d) Grund: kausales Adverb (dadurch, folglich, jedenfalls, trotzdem, krankheitshalber). (Nach: WAHRIG. Deutsches Wörterbuch 82008).
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vorliegt (marche toujours»). Letztere wird in Form eines Parallelismus zu «curieusement» von «sous-entendu» eingeleitet: «Curieusement, les ambassadeurs de quatre pays arabes Maroc, Tunisie, Algérie et Egypte étaient présents à ce rassemblement des ‹musulmans de France›. ‹Mêler tous ces gens, c’est commettre une boulette énorme›, proteste un responsable du culte. ‹Les ambassadeurs, je les ai invités parce qu’il faut rester dans la réalité›, plaide Dahmane. Sous-entendu: la vieille gestion consulaire des populations d’origine maghrébine marche toujours.» (a-67)
Die Verwendung und Funktion von Adjektiven und Adverbien ist wie oben angedeutet ein weites und disparates Feld. Die im Zusammenhang mit Inferenzprozessen (Kap. 7.2) dargestellten Beobachtungen zum Einsatz von jung/jeune (Kap. 7.2.2), zur Wirkung der ersten Ordnungszahl (Kap. 7.2.3), zur Funktion von d’ailleurs bzw. übrigens (Kap. 7.2.4) und zur Verwendung von Demonstrativpronomina (Kap. 7.2.5) erweitern die Bandbreite dieses Handlungsfeldes auf den impliziten Teil von Texten. Gemeinsam ist allen dargestellten Verwendungsweisen, dass sie ihre suggestive Schlüsselfunktion nur dann entfalten, wenn eine entsprechende argumentative Verankerung in der Mikro- oder der Makrostruktur des Textes gegeben ist.
7.1.2 Syntaktische Formen der Hervorhebung Zu den syntaktischen Möglichkeiten, um Inhalte oder Vorgänge relevant zu setzen, zählen Einschübe ((a-229), (a-67)), die sogenannte Links- oder Rechtsversetzung ((a-31), (a-15), (a-263), (a-221)) sowie Ellipsen ((a-67), (a-263)). Letztere können beispielsweise in Funktion eines Zwischentitels eingefügt werden und bieten so dem Rezipienten eine Lese- bzw. Deutungsfolie, die über den Einzelsatz selbst hinausreicht. In (a-229) wird durch den Einschub die Gemeinsamkeit religiösen Strebens bzw. eine bestimmte Grundhaltung als verschiedenen Religionen eigen hervorgehoben. (Kontextualisierende) Einschübe dieser Art bieten Anknüpfungspunkte für Thesen und Topoi¹², da sie ganz automatisch Inferenzprozesse in Gang setzen.¹³
12 Im vorliegenden Fall wäre dies beispielsweise der Analogie-Topos. 13 Cf. (a-15) oder das in Kapitel 7.2.11 erwähnte Beispiel (a-220): (a-15): «Incarcéré depuis novembre à cause de huit articles, il avait affirmé que l’université Al-Azhar, autorité de la
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«Der Islam will – wie viele Religionen – die materielle Welt, den Alltag der Menschen, mit deren spirituellen Bestrebungen in Einklang bringen.» (a-229)
(a-67) setzt anhand des ersten Einschubs eine (räumliche) Trennung zwischen Männern und Frauen relevant. Dies vereinfacht in der Logik von Alteritätsdenken bzw. -argumentationen (Kap. 7.2.7) den Anschluss der Verschleierungs-Thematik, die im Hauptsatz erneut aufgegriffen wird.¹⁴ Mit «y compris les ‹musulmanes›» wird eine weitere Aussage herausgestellt, bei der lediglich «musulmanes» in Anführungszeichen gesetzt wurde. Eine im vorliegenden Zusammenhang formal nicht notwendige Distanzierung, die einen Interpretationsraum öffnet, da nicht eindeutig zu klären ist, auf welche Aussage bzw. welchen Aspekt sie sich genau bezieht.¹⁵ «Devant une salle bondée, hommes et femmes séparés, ces dernières pour la plupart voilées, il rappelle l’obligation pour tous les Français, y compris les ‹musulmanes›, de poser tête nue sur la photo figurant sur la carte d’identité.» (a-67)
Eine die Fokussierung des Lesers bündelnde Wirkung haben Linksversetzung und Voranstellung von Ellipsen. Durch Komma oder Doppelpunkt abgetrennte Sequenzen stiften Kohäsion und markieren zugleich einen Bruch, im Zuge dessen wiederum ein (neuer) Aspekt relevant gesetzt werden kann. Die im Vorfeld platzierten Satzelemente in (a-31), bei denen die kataphorische Funktion überwiegt, ähneln den von Hasselgård (2004) untersuchten mehrfachen Themen in Frontstellung.¹⁶ Es wird hier ein Bruch markiert, der keinen Wechsel der Diskursebenen (Polyfonie) darstellt, sondern primär thematischer Natur und somit auf der gleichen Argumentationsebene zu verorten ist.
communauté sunnite au Caire, diffusait des idées extrémistes et avait comparé le président Moubarak à un ‹pharaon›»; (a-220): «Eine Ausnahme für den Einzelfall ist in Bremen – anders als in vier anderen Bundesländern – im Gesetz nicht vorgesehen». 14 Cf. in diesem Zusammenhang außerdem die Kapitel 7.1.3 und 7.1.4. 15 Cf. die Kapitel 7.2.9 und 7.2.11. 16 Cf. Hasselgård (2004, 77s.) im Zusammenhang mit paragraph-initial multiple Themes: «The beginning of a sentence is often seen as a strategically important position where continuity as well as breaks in continuity can be marked (cf. Virtanen 1987: 55). We have already seen that multiple Themes tend to contain markers of cohesion, but it is also possible that they may be of service in introducing a new discourse topic. […] Furthermore, a multiple Theme may well mark a minor shift and continuity at the same time».
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«Très critique envers le gouvernement et l’Université Al Azhar (plus haute autorité de l’islam sunnite en Egypte), Karim Amer est en prison depuis le 7 novembre dernier.» (a-31)
Der aus dem Umfeld derselben Berichterstattung (Inhaftierung und Prozess gegen einen ägyptischen Blogger) stammende (a-15) zeigt unter Zuhilfenahme desselben syntaktischen Mittels die Betonung eines anderen inhaltlichen Aspekts: Steht in (a-31) die kritische Haltung des Bloggers gegen die Al-Azhar als «plus haute autorité de l’islam sunnite en Egypte» im Vordergrund, so wird in (a-15) die Dauer der Inhaftierung («depuis novembre»)¹⁷ und die Ursache («à cause de huit articles») relevant gesetzt: «Incarcéré depuis novembre à cause de huit articles, il avait affirmé que l’université Al-Azhar, autorité de la communauté sunnite au Caire, diffusait des idées extrémistes et avait comparé le président Moubarak à un ‹pharaon›.» (a-15)
In (a-263)¹⁸ werden «déménager» und «au plus vite» mithilfe eines elliptischen Stils hervorgehoben¹⁹ – hier ebenfalls eine Form der Linksversetzung. Die beiden Aussagen stehen am Anfang des Textkörpers und bilden den Kern einer seiner Hauptthesen. Durch «c’est l’obsession des époux Zakkawi» wieder aufgenommen, werden sie in den Kontext eingebunden und ihre Bedeutung in der Folge spezifiziert. «Déménager. Au plus vite. C’est l’obsession des époux Zakkawi, qui habitent Zekak el-Balat, l’un des nombreux quartiers mixtes de la capitale libanaise: ‹Nous avons peur, explique l’époux. Ma femme n’ose plus sortir. Jamais nous n’aurions pensé que les relations entre musulmans se dégraderaient à ce point là.›» (a-263)
17 Der Artikel stammt vom 23.02.2007. 18 Siehe hierzu auch Kapitel 7.2.11. 19 Eine formal vergleichbare Vorgehensweise quasi mit umgekehrten Vorzeichen zeigt (a-61): Durch «Punkt. Aus.» wird der betreffende Absatz beendet und den vorausgehenden Aussagen Nachdruck verliehen. Gleichzeitig bietet sich hier der Anknüpfpunkt für die Hauptthese des folgenden Abschnitts, der unter anderem Klarheit, Entschiedenheit und Eindeutigkeit des muslimischen Glaubens betont: «Mohammed war ein Mensch, wenn auch ein ganz besonderer. Punkt. Aus. Nicht nur Konvertiten, auch geborene Muslime schätzen die Klarheit, Entschiedenheit und das Positive der Botschaft Mohammeds: das eindeutige Gottesbild (statt der vertrackten Dreiecksgeschichte der Trinität), die heroische Leitfigur des Propheten (anstelle des leidenden und zweifelnden Christus), die klaren Unterscheidungen von Verbotenem und Erlaubtem (statt der christlichen Dialektik der menschlichen Freiheit), die Unantastbarkeit der Schrift (anstelle der kritischen Bibelwissenschaft)».
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Auch die Rechtsversetzung ist ein Mittel der Fokussierung bzw. Leserlenkung. In (a-221) werden durch den Einsatz der beiden Gedankenstriche zudem betonende Pausen gesetzt, die einem verlangsamten Sprechrhythmus oder dem Atem-Holen vor als wichtig betrachteten Aussagen in Gesprächen vergleichbar sind.²⁰ «Als ich 19 war, kam der Onkel in den Sommerferien zu Besuch in die Türkei – und hielt um meine Hand an. Ich hab’ Ja gesagt und bin mit nach Deutschland gegangen. Meinen Cousin habe ich erst bei unserer Trauung wiedergesehen – nach zwölf Jahren.» (a-221)
Die beiden abschließenden Beispiele zeigen Ellipsen, die die Funktion eines Zwischentitels ausfüllen: Die markierte Aussage von (a-263) steht am Anfang eines Abschnittes, welcher diese zunächst nicht aufgreift, sondern eine Antithese präsentiert. Erst im darauffolgenden Abschnitt wird die Aussage «Interdiction de parler politique» aufgegriffen und deren Inhalt bzw. Referenz klar. «Interdiction de parler politique. Depuis l’assassinat de l’ancien Premier ministre Rafic Hariri et plus encore depuis le conflit entre l’Etat hébreu et la branche armée du parti de Dieu l’été dernier, le très charismatique Hassan Nasrallah suscite la controverse.» (a-263)
«Un sentiment partagé» steht in (a-67) nicht am Anfang eines Abschnittes, dem traditionellen Ort für einen (Zwischen-)Titel, sondern direkt im Fließtext. Die Aussage markiert einen Bruch, indem sie eine weitere These bzw. deren Nuancierung einführt, und bietet die Interpretationsfolie, anhand derer die nachfolgenden Aussagen dann gedeutet werden (können): «‹L’électorat musulman ne compte pas de manière significative dans sa campagne›, conclut alors Fouad Alaoui, secrétaire général de l’UOIF. Un sentiment partagé. Un récent sondage Ifop montre que la population musulmane se sent plus proche du PS (55 % des intentions de vote) que de l’UMP (23,4 %). Cela n’empêche pas Sarkozy de continuer à vouloir ‹mobiliser sur une base ethnique›, selon Bouzar.» (a-67)
20 Die beiden so hervorgehobenen Aussagen spielen in der argumentativen Dynamik des Textes eine wichtige Rolle. Cf. die in Kapitel 7.2.11 zitierte Passage desselben Artikels (a-221): «Ayda Demir kennt die Kehrseite. Als nach drei Jahren klar war, dass ihre Ehe am Ende war, war der Umstand, dass sie und ihr Mann verwandt sind, eher von Nachteil. Jeder wollte mitreden. ‹Es hat fast sieben Jahre gedauert›, sagt die 42-Jährige über ihre Scheidung. Auch wenn sie sich mit medizinischen Risiken nie auseinander gesetzt hat, ihre Erfahrungen sind für sie Grund genug, jedem von Verwandtenheirat abzuraten. Auch ihrem Sohn ‹außer er verliebt sich in seine Cousine …›».
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7.2 Inferenzprozesse als Basis impliziter Bewertung Unter dem Begriff Inferenz werden in der vorliegenden Arbeit nicht nur Schlussfolgerungen zusammengefasst, sondern auch Prozesse, mit deren Hilfe Textinformationen durch aktiviertes Vorwissen ergänzt werden und ein kohärenter Sinnzusammenhang hergestellt wird. Das «Inferieren wird [dabei] nicht nur durch explizite Textinformationen ausgelöst, sondern auch (implizit) über Präsuppositionen oder Implikaturen.» (Schoenke 12.11.2009, Eintrag Inferieren) Inferenzprozesse sind kognitiver Art und in diesem Verständnis ein notwendiger Bestandteil für die Konstruktion eines Textes. Im Topos-Kapitel (Kap. 8) wird die Rolle von Inferenzen bei impliziten Argumentationsmustern im Zusammenhang mit islambasierten Themen näher beleuchtet – die Betonung liegt hier auf Schlussfolgerungen und -verfahren. Nachfolgend geht es zunächst um spezifische Signale und Mechanismen, die Inferenzprozesse anstoßen. Diese laufen, wie soeben erwähnt, vor dem Hintergrund von aktiviertem Vorwissen ab. Dieses Vorwissen ist (mit)geprägt von Alltagserfahrungen und Sozialisation, es enthält Wertvorstellungen und Hierarchien und ist somit nicht völlig frei von bewertenden Anteilen. Inferenzprozessen als Basis impliziter Bewertung gilt daher ein besonderes Augenmerk. Die gezeigten Techniken sind, auch wenn sie anhand der Korpustexte untersucht wurden, zum Teil ganz allgemeiner, d.h. themenübergreifender Natur – wie z.B. beim Expertenstatus (Kap. 7.2.1) oder bei den Techniken der Distanzierung (Kap. 7.2.9) der Fall. Oder aber sie sind ganz spezifisch mit dem Themenfeld Islam verbunden; dies gilt insbesondere für die Markierung von Fremdheit (Kap. 7.2.7) und die Komposita ‘Deutschtürken’ und ‘franco-maghrébins’ (Kap. 7.2.8 und 7.3).
7.2.1 Expertenstatus Es ist unmöglich, in allen Wissensgebieten firm zu sein oder eine fundierte Meinung zu allen Problemen der Tagespolitik zu formulieren. Das spezifische Wissen von Experten bietet hier einen Ausweg. Dieses Expertenwissen wird – wie anhand verschiedener Beispiele aufgezeigt – bisweilen in automatisierter Weise übernommen. Der Expertenstatus an sich wird in solchen Fällen nicht diskutiert, dient er doch in den meisten Zusammenhängen der impliziten Bewertung bzw. Aufwertung von Aussagen. Möglich wird dieser Vorgang durch den diskursabstrakten Experten-Topos²¹, durch den die so gestützte Aussage glaubhaft erscheint. Die Referenz
21 Experten-Topos: Wenn ein Experte dieser Meinung ist, stimmt diese Aussage/Darstellung (Kap. 8.1.2).
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auf einen ‘Experten’ gibt indes nicht automatisch Auskunft über den Wahrheitsgehalt einer so relevant gesetzten Information. (Die Beurteilung dessen, was wahr und falsch ist, kann und soll in den nachfolgenden Beispielen nicht unternommen werden. Es geht vielmehr um die Etikettierung als ‘Experte’ und um die Folgen, die der Einsatz dieser Technik im Textganzen mit sich bringt.) Nicht jede Person kann für jedes Thema als Expertin herangezogen werden. Würde beispielsweise ein Fernsehmoderator von Unterhaltungssendungen Lösungsmodelle für eine globale Wirtschaftskrise präsentieren, wären anstelle einer Aufwertung der Argumentation wohl eher Belustigung oder Unverständnis die Folge. Damit also eine Person als ‘Expertin’ relevant gesetzt werden kann, muss eine assoziative oder inhaltliche Verbindung zwischen ihr und dem betreffenden Thema bestehen (a-105)²² – oder geschaffen werden²³. Diese Verbindung ist keineswegs an Fachwissen im engeren Sinne geknüpft. So kann ein Muslim, der sich über den Islam äußert, schnell zum ‘Experten’ (gemacht) werden – ganz besonders da, wo er durch seine Religionszugehörigkeit vermeintlich über mehr Wissen verfügt als der gemeine Leser²⁴; oder es erhält die Kritik an wie auch immer gearteten Zuständen allein dadurch ein größeres argumentatives
22 Diese Aussage muss insofern relativiert werden, da bestimmte Personen ein derart hohes Prestige bzw. eine derart große Meinungsautorität besitzen, dass sie sich zu den verschiedensten Themen zu Wort melden können und ihre Positionen den Status von Expertenwissen erhalten. Wenn Günther Jauch sich zu einem Thema äußerte, um ein Beispiel aus dem Fernsehen zu wählen, wäre es interessant, der Frage nachzugehen, ob und in welchem Maße ihm eine größere Kompetenz als manchem Kollegen und ein entsprechendes Expertenwissen von den Zuschauern zuerkannt wird, weil sie dies aus seiner Sendung Wer wird Millionär? ableiten zu können glauben. 23 Und um ein weiteres Beispiel aus dem Medium Fernsehen zu ergänzen: Im Zuge der Berichterstattung über die Schweinegrippe wurde in der Bauchbinde, dem eingeblendeten Erklärtext am unteren Bildrand, eine Person, die über wichtige Hygiene-Regeln referierte, als Hygiene-Expertin ausgewiesen. Wer sich mit diesem Thema befasst hatte, wusste, dass es sich bei der betreffenden Dame um die Pressesprecherin des Robert-Koch-Instituts handelte – einer PR-Fachfrau also, deren Kompetenz nicht in erster Linie Hygiene-Fragen betrifft, sondern die Vermittlung von Forschungsergebnissen ‘echter Experten’. Dieselbe Strategie wird bei anderen komplexen Themen eingesetzt: Aus Archäologen werden beispielsweise ‘Ausgrabungsexperten’ oder aus Lufthansa-Mitarbeitern ‘Reise-/Flugzeug-/Phobie-Experten’. (Die Hinweise aus Fernsehen und Fernsehberichterstattung stammen von Esther Finis). 24 Körner SJ (05.06.2009) fordert Expertenwissen auf dem Gebiet des interreligiösen Dialogs: In seinem Vortrag wirft er einen Blick auf den Islam in Europa. Herausforderung und Chance. Die jüngste Geschichte im Dialog zwischen Islam und Heiligem Stuhl betrachtet Körner als eine Entwicklung vom Wohlwollen hin zur Wissenschaftlichkeit. Vor diesem Hintergrund sieht er christliche wie islamische Theologie in mehrfacher Hinsicht gefordert: Es sei Zeit für Theologie – um Unterschiede, Probleme und Aufgaben zu benennen und um konstruktiv mit Herausforderungen und Chancen der gegenwärtigen Situation umzugehen.
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Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
Gewicht, dass sie von einem Betroffenen geäußert wird. Nähe zum Geschehen ist ein wichtiger Faktor für Glaubwürdigkeit, eine wichtige Grundlage auch der argumentativen Dynamik. So wird beispielsweise einem Korrespondenten intuitiv der Expertenstatus zuerkannt, da er sich ‘vor Ort’²⁵ befindet. Nicht immer wird durch die Lektüre klar und nicht immer ist dem Leser bewusst, dass die referierte Meinung eine unter mehreren möglichen darstellt – Selektieren bedeutet auch Fokussieren.²⁶ Auch Gegenstimmen im Text vermindern nicht per se das Gewicht der Expertenaussage. Entscheidend für Rolle und Wirkkraft der jeweiligen Positionen ist, wie in Kapitel 7 dargelegt, auch deren argumentative Stützung durch Topoi. Neben dieser eher implizit-intuitiven Art, den Expertenstatus zu verleihen bzw. anzunehmen, sind ganz konkrete Formulierungen wie die folgenden Beispiele möglich: nach Meinung des Experten X – Experten sagen/deuten/sehen – in Expertenkreisen. Dieses Kontinuum zeigt Varianten, die von links nach rechts an Konkretheit verlieren und an semantischer Vagheit zunehmen – je nach Kontext und Bedarf werden sie sprachlich realisiert.²⁷ Es ist zu vermuten, dass die abnehmende Spezifizität, die mit einem geringer werdenden argumentativen Gewicht mangels eines identifizierbaren Referenten einhergeht, durch die Verwendung des Plurals auszugleichen versucht wird. Des Weiteren scheint die Tendenz von links nach rechts mit einer zunehmenden Aufwertung solcher Aussagen zu korrelieren, denen es (a) an konkreten Belegen mangelt oder bei denen (b) der Schutz eines Informanten im Vordergrund steht. ‘Experten’ kommen in allen Rubriken und nicht nur im Zusammenhang mit dem Islam vor. Die nachfolgenden Beispiele sind daher keinesfalls als erschöpfende Auflistung zu verstehen. Die Überschriften heben lediglich im entsprechenden Kontext besonders wichtige Aspekte hervor und bedeuten keine ausschließende Kategorisierung; je nach Fokus können die Textauszüge bisweilen mehreren Kategorien zugeteilt werden, häufig der Fall beim ‘Label der Wissenschaftlichkeit’ und der ‘Legitimierung durch Profession’. Darauf wird an dieser Stelle allerdings verzichtet. Wo dies für das Verständnis der ausgewählten Stelle
25 Zur Relativität dieses Vor-Ort-Seins, welches weder zwangsläufig mit fachlicher Kompetenz korreliert, noch bedeutet, dass der entsprechende Korrespondent tatsächlich am Ort des Geschehens war: Luyendijk (2007); Chimelli (2008). 26 Die Möglichkeit, durch ein passendes Zitat Äußerungen zu tätigen, ohne dabei die kommunikative Regresspflicht (Verantwortung) zu übernehmen, bleibt an dieser Stelle unberücksichtigt. 27 «[D]er gelernte Fernsehjournalist Markus Söder» (a-105); «envoyé spécial» (a-189); «die Menschenrechtlerin» Mina Ahadi (a-184); «des sondeurs» (a-25); «Integrationsexperten» (a-188); «in Expertenkreisen Teherans» (a-191).
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nötig erschien, ist die Einordnung in das Textganze etwas ausführlicher gehalten, ansonsten mag das jeweilige Beispiel für sich sprechen: –
Legitimierung als Experte durch Profession und Funktion Bei der Debatte um das Für und Wider des vom ZDF auf den Weg gebrachten Forums am Freitag²⁸ haben die Äußerungen des «gelernte[n] Fernsehjournalist[en]» Markus Söder eine größere Autorität, als es dieselben Äußerungen aus dem Munde des CSU-Politikers Markus Söder gehabt hätten. Im Falle von (a-185) ist die genaue Umschreibung der Position Pikaevs Garant für die Relevanz seiner Aussage und die als rhetorische Frage verpackte Suggestion. Die explizite Zuweisung als Experte unterstreicht zusätzlich das Gewicht von Pikaevs Aussage. Und die Relevantsetzung als in Menschenrechtsfragen kompetenter Politiker legitimiert Volker Becks Aussage in (a-188). «‹Statt über Islamkunde zu reden, sollte mehr über unsere Werte und unsere Alltagskultur berichtet werden›, forderte der gelernte Fernsehjournalist.²⁹ Auch eine Internetplattform beim ZDF sieht Söder kritisch. ‹Wie will man ausschließen, dass aggressive Islamgruppen diese Internetplattform für ihre Zwecke nutzen?›, fragte er.» (a-105) «Chef de la commission de non-prolifération de l’Académie des sciences de Russie, Alexander Pikaev résuma la position de son pays, opposé à l’adoption de nouvelles sanctions par le Conseil de sécurité de l’ONU. Moscou considère comme ‹une provocation mal venue› l’adoption par les États-Unis, il y a quinze jours, d’un nouveau train de sanctions unilatérales (visant notamment le corps des gardiens de la révolution et certaines banques iraniennes). ‹Y a-t-il un agenda caché des Américains, qui chercheraient à faire échouer toute solution de compromis?›, s’est interrogé l’expert russe.» (a-185) «Rückendeckung bekommt Schäuble etwa von Volker Beck, dem menschenrechtspolitische[n] Sprecher der Grünen. ‹Wir wollen eine Gleichstellung von Christentum, Judentum und Islam. Ein Zusammenschluss der islamischen Spitzenverbände
28 Das Forum am Freitag ist zu finden unter: http://www.forumamfreitag.zdf.de, abgerufen am 06.04. 2010. 29 In Anbetracht der Tatsache, dass Journalisten in der Vertrauensbewertung regelmäßig schlecht abschneiden, muss bei diesem Beispiel auch die Möglichkeit miteinbezogen werden, dass negative Assoziationen mit dem ‘gelernten Fernsehjournalisten’ verbunden werden. Gleichzeitig gilt für den gesprochenen wie den geschriebenen Text die Diskrepanz zwischen der negativen Bewertung einer Berufsgruppe und der Bewertung der getätigten Äußerung als wahr und relevant (Kap. 4.4). Es ist zudem anzunehmen, dass der Fernsehjournalist Söder ein größeres Prestige besitzt als der CSU-Politiker Söder – in den oben angesprochenen Umfragen rangieren die Politiker auf der Bewertungsskala meist noch weiter unten als die Journalisten.
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könnte ein erster und wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung sein›, so Beck.» (a-188)
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Legitimierung als Experte durch räumliche Nähe und explizite Zuweisung des Expertenstatus In (a-183) wird mit beiden Signalen das argumentative Gewicht einer Aussage erhöht. Dass es sich um eine (individuelle) Beurteilung der Lage handelt, wird durch die einleitende Zuweisung «nach Einschätzung des» zwar thematisiert, das Gewicht der Aussage dadurch jedoch kaum relativiert; stattdessen macht der Autor auf diese Weise deutlich, dass er die kommunikative Regresspflicht hierfür nicht übernimmt. Zum Expertenfeld gehören außerdem Kontextinformationen, die den Journalisten als «envoyé spécial» und seine Nähe zum Geschehen hervorheben ((a-189) und (a-193)). Diese Form der Relevantsetzung betrifft den gesamten Text. «Nach Einschätzung des pakistanischen Journalisten und Taliban-Experten Ahmed Rashid war er zwar selbst kein Feldkommandeur der Islamisten, stellte aber eines der Bindeglieder zu den militärischen Anführern der Miliz dar.» (a-183) «De notre envoyé spécial à Abu Dhabi» (a-189) «Aus Peschawar berichtet Matthias Gebauer» (a-193)
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Legitimierung als Experte durch Herkunft oder Abstammung Diese Form der Relevantsetzung ist der vorausgehenden sehr nahe, allerdings geht es hier nicht mehr um die konkrete räumliche Komponente, sondern um die abstrakte Form der Nähe (Verbundenheit, Erfahrungen, Insider-Wissen). «A l’autre bout du spectre de la communauté marocaine de Bordeaux, Abderrahim Nehnahi, juriste, responsable de l’association Echanges et cultures, membre du Cobade (Comité de veille et d’actions contre la discrimination et l’égalité) propose une vision globale de ses compatriotes girondins, qui constituent la plus forte représentation étrangère: ‹Nous retrouvons ici toute la variété de la société marocaine, comme un condensé, aussi bien du point de vue social que de la pyramide des âges› explique-t-il. Et de rappeler le jumelage de Bordeaux avec Casablanca, les études de Hassan II et de son fils cadet Moulay Rachid au bord de la Garonne, bref des relations étroites qui ne datent pas d’hier. […] Pour le juriste franco-marocain, ‹la garantie suprême reste Sa Majesté le Roi, constitutionnellement parlant, car il est le Commandeur des croyants; c’est un souverain actif qui gouverne et qui a su susciter l’adhésion de beaucoup de gens›.» (a-182)
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Die nachfolgende Überschrift vermittelt den Eindruck, Rassismus und Antisemitismus seien genuin mit der Frage der Integration bzw. dem Grad der Integration verbunden (tendenziell ein Thema, das im Kontrast zum wir der Eigengruppe auf die anderen (Fremdgruppe) bezogen wird); im Textverlauf verschwimmen hier bisweilen thematische Grenzen, fließen beide Bereiche ineinander. Die Relevantsetzung als «Deutschtürkin» weist Gül Keskinler den Expertenstatus zu. Dieses Attribut, durch den Satzbau mit «Rassismus und Antisemitismus» verknüpft, erhält in dieser Stellung eine leserlenkende Funktion, deren mögliche Schlussfolgerung lauten könnte: Keskinler wurde Integrationsbeauftragte, weil sie aufgrund ihres türkischen Hintergrundes (mehr) Wissen über in solchen Kreisen herrschenden Rassismus und Antisemitismus besitzt. «Wie die Deutschtürkin Gül Keskinler als Integrationsbeauftragte des DFB für den Abbau von Rassismus und Antisemitismus sorgen will» (a-88)
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Legitimierung als Experte durch Religionszugehörigkeit³⁰ Im Fall der Mitglieder des Zentralrats der Ex-Muslime funktioniert die Expertenlogik quasi mit umgekehrten Vorzeichen: Da diese Menschen zuvor Muslime waren (= Experten), sich bewusst vom Islam distanziert haben und dies mit Menschen- und Frauenrechten begründen, erfahren sie so eine doppelte Legitimation.³¹ In (a-40) wird durch die Voranstellung des kausalen Nebensatzes in Kombination mit dem Verb ‘glauben’ eine Distanzierung erzielt bzw. die Aussage als Perspektive Ahadis dargestellt, durch die Relevantsetzung des Todesurteils die implizite Rechtfertigung für Ahadis Handeln im selben Satz gegeben:
30 Geisser (2003, 96) geht in diesem Zusammenhang noch einen Schritt weiter: Er sieht den Expertenstatus in manchen Fällen zu Legitimationszwecken missbraucht und darin eine Beförderung dessen, was er «la nouvelle islamophobie» nennt [einen Terminus, der aus verschiedenen Gründen zu diskutieren wäre]: «Encore plus révélateur de cette complexité de l’islamophobie contemporaine, le constat que ce phénomène est parfois encouragé par les acteurs musulmans eux-mêmes qui tirent d’une vision dualiste de l’islam une ressource de légitimation et un brevet de ‹laïcité républicaine›». 31 Es liegt in der Logik der Sache, dass eine Person, die sich von ihrer Religion abwendet, Gründe dafür hat und diese mehr oder weniger deutlich vorbringt. Problematisch kann dies im Zusammenhang mit der Berichterstattung dann werden, wenn eine vor diesen Hintergründen vorgebrachte Kritik ohne jede Einschränkung als gültig für den Islam an sich betrachtet wird bzw. als ausreichend, die Muslime als solche zu charakterisieren.
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«Den [Zentralrat der Ex-Muslime] gründete Mina Ahadi im Januar zusammen mit etwa 40 Menschen, die dem Islam den Rücken gekehrt haben. Weil sie glaubt, gute Gründe dafür zu haben, ersann die Frauenrechtlerin, 1981 im Iran zum Tod verurteilt, auch gleich eine medienwirksame Kampagne.» (a-40)
Auch in (a-46) ist das Anliegen des Zentralrats der Ex-Muslime Thema. Ich werfe hier einen ganz kurzen Blick auf einen Artikel aus der französischsprachigen Schweiz (cf. auch Kap. 8.1.4). Es ist anzunehmen, dass eine Kontroverse um die Kompatibilität von Islam und Demokratie sowie Islam und Frauen- bzw. Menschenrechten in Frankreich nicht auf diese Weise geführt bzw. dort anders thematisiert würde. Konzepte, anhand derer vergleichbare Kontroversen ausgetragen werden, sind das laïcité-Prinzip und die Frage der citoyenneté.³² In (a-46) wird deutlich, wie durch die Verknüpfung mit der Topos-Ebene Aussagen eine vom Einzeltext unabhängige argumentative Stützung erfahren;³³ die Aussagen-Zuschreibung (Einsatz von Anführungszeichen, «se veut» in Absatz 1) bleibt im Vergleich auf der sprachlichen Oberfläche. Die Formulierung «rien d’étonnant donc» hat den Effekt einer zustimmenden Conclusio und verleiht der referierten Stellungnahme das Sigel der Allgemeingültigkeit. Der sich anschließende Verweis auf Lale Akgüns Position erzeugt kein Gegengewicht, da proportional weit weniger Textraum zur Verfügung gestellt und lediglich der Demokratieuntauglichkeits-Topos³⁴ referiert wird; im vorliegenden Fall gleicht dies einem Nullsummenspiel, da kein argumentativer Mehrwert erzielt wird. Ein bestehendes Argumentationsmuster wird nicht durch dessen Negation beseitigt – im Gegenteil kann es auf solche Weise auch erst ins Spiel gebracht werden. Der Vorwurf der Islamophobie wirkt in dieser Konsequenz daher wie ein aufgesetztes Label
32 Interessant sei in diesem Zusammenhang die französische Kopftuchdebatte, so Ziegler (2008, 164), «da sie bezogen auf den Bereich der staatlichen Schule die gesellschaftlichen Kernfragen der Identität, der Integration, der Rolle der Religionen, der staatlichen Neutralität sowie nicht zuletzt die Frage nach der weitgehend unbekannten Variable des Islam miteinander verbindet.» Ziegler (2008) vergleicht die Debatten um das Kopftuch an öffentlichen Schulen aus deutscher und französischer Sicht, deren unterschiedliche Herangehensweisen Individualität eines jeden vs. die Gleichheit aller sich historisch erklären lassen. – Cf. verschiedene Beiträge in Heidenreich et al. (2008), hier besonders Schenker (2008); siehe außerdem Kapitel 3. 33 Die Topoi werden in eckigen Klammern in den Text eingefügt. Die verschiedenen Argumentationsmuster werden in Kapitel 7.1 ausführlich besprochen. 34 Demokratieuntauglichkeits-Topos: Weil im Islam bestimmte demokratische Grundwerte/Prinzipien (Gleichheit, Meinungsfreiheit, Frauenrechte) nicht gewährleistet sind, ist der Islam bzw. dessen (öffentliche) Praktizierung mit der Demokratie nicht vereinbar (Kap. 8.1.3).
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ohne argumentative Stütze. Da der Schluss eines Pressetextes vom Leser häufig nicht rezipiert wird, werden Informationen, die als weniger relevant betrachtet werden, tendenziell an das Textende gesetzt. Verstärkt wird die Perspektivierung des Gesamttextes durch das Fehlen einer Stimme der «organisations musulmanes traditionnelles» oder eines in keinem Verein organisierten, aber gläubigen Muslims: «Mina Ahadi, Iranienne, réfugiée à Cologne depuis 1990, n’a pas peur. Elle vient de créer avec d’autres musulmans d’origine le Conseil central des ex-musulmans (Zde). ‹Nous avons abjuré!›: le slogan s’étale en travers de l’affiche qui réunit leur visage, et orne leur site web (http://www.ex-muslime.de). Le Zde se veut ‹une troisième force›, face aux organisations musulmanes traditionnelles. ‹Une troisième force qui se refuse à ériger une île et une société parallèle pour les musulmans en Allemagne [Verteidigungs-Topos³⁵], comme le veulent de fait les organisations traditionnelles. Le conseil central des ‹ex› se dresse contre les atteintes aux droits de l’homme en Islam, l’oppression des femmes et les crimes d’honneur.› [Demokratieuntauglichkeits-Topos, Schutz-Topos³⁶] Mina Ahadi mettait même en garde récemment les autorités contre les comportements ‹conformes à la charia› [Bedrohungs-Topos], qui commenceraient à s’instaurer en Allemagne même. Rien d’étonnant donc si elle reçoit des tas de lettres de menaces. Mais assure-telle ‹cela ne sera jamais pire que ce que j’ai connu en Iran, lorsque je me suis engagée politiquement.› Mina Ahadi, née en 1956 près de Téhéran, est membre du Parti communiste des travailleurs iranien. ‹Critiquer l’islam, c’est briser un tabou, mais qui se défile se rend coupable à l’égard des générations à venir›. Le Zde connaît aujourd’hui un sacré succès médiatique. Mais Lale Akgün, turque d’origine et responsable du SPD pour l’intégration, juge quant à elle que les affirmations du Zde selon lequel l’islam est ‹incompatible avec les droits de l’homme› est spécieuse et ‹ne fait que renforcer l’islamophobie.›» ((a-46), Kap. II.2)
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Legitimierung als Experte durch Legitimation des Anliegens Äußerungen von Personen, die sich für Frauen-, Menschen-, Bürgerrechte einsetzen,³⁷ bzw. von Personen, die als Frauen-, Menschen-, Bürgerrechtler bezeichnet werden, erhalten allein schon durch diese Benennung im Textganzen ein erhöhtes argumentatives Gewicht.³⁸ Entsprechendes gilt für
35 Verteidigungs-Topos: Wenn eine/unsere Gesellschaft oder das friedliche Zusammenleben bedroht ist, müssen/dürfen Gegenmaßnahmen ergriffen werden (Kap. 8.1.3). 36 Schutz-Topos: Weil Frauen im Islam unterdrückt werden, sind sie zu bedauern/müssen sie geschützt werden/müssen sie befähigt werden, sich zu emanzipieren (Kap. 9.1.3). 37 Analog dazu, wenn auch auf anderem Gebiet: Natur- und Tierschützer. 38 Dass diese Relevantsetzung so funktionieren kann, liegt auch an ihrer Fundierung: Cf. den in Kapitel 7.1.2 vorgestellten Allgemeingültigkeits-Topos.
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Organisationen, die ihren Schwerpunkt in diesem Bereich haben. Bei der Auswahl von Gesprächspartnern spielt bisweilen neben dieser Legitimation auch deren Bekanntheitsgrad bzw. der Bekanntheitsgrad der Organisation, für die sie sprechen, eine Rolle: Wird ein (leitender) Mitarbeiter von Human Rights Watch interviewt, muss diese Person nicht speziell eingeführt werden. Anders kann es aussehen, wenn ein Passant auf der Straße eine Stellungnahme abgibt – mehr Erläuterungen zu dieser Person können dann weniger Platz für den eigentlichen Inhalt bedeuten. Dies kann beim Thema ‘Islam’ unter anderem zur Konsequenz haben, dass stets auf dieselben Personen und somit auf die gleichen Meinungen Bezug genommen wird.³⁹ «Sehr kritisch äußerte sich die Verbandsvorsitzende Mina Ahadi, eine aus Iran stammende Menschenrechtlerin, über die von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) initiierte Islam-Konferenz.» (a-184) «‹La constitution égyptienne est avec lui›, plaide d’ailleurs Rawda Ahmed Said, l’avocate de Karim, membre de l’Association arabe des droits de l’homme.» (a-12) «Pour Hafiz Abou Saada, qui dirige l’Organisation égyptienne des droits de l’homme, cette condamnation est ‹très dure› et représente ‹un message très fort pour tous les blogueurs›, qui sont ‹placés sous surveillance› et risquent ‹des punitions très fortes›.» (a-36) «‹Das Urteil zeigt, dass die ägyptische Regierung diese neue Möglichkeit des Ausdrucks verhindern will. Es wird den Extremismus der Region anheizen›, kommentiert Tom Porteous von Human Rights Watch das Verfahren.» (a-55) «Selon Amnesty International qui réclame sa libération immédiate, il risquait jusqu’à neuf ans de prison.» (a-53)
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Legitimierung als Experte durch das ‘Label der Wissenschaftlichkeit’ (Prozent-)Zahlen und Umfragen, Institutsnamen und Universitätsposten vermitteln den Eindruck von Seriosität und Wissenschaftlichkeit (a-25). Nicht immer wird im Umgang mit Zahlen auf Vergleichbarkeit der Ergeb-
39 In seinem Vortrag Muslimische Verbände als Medienakteure wies der Redakteur der ZDF-Sendung Forum am Freitag, Abdul-Ahmad Rashid (06.06.2009), in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Aspekt hin, der sich auf die Medienpräsenz bestimmter Meinungen und Personen auswirkt: Die islamischen Verbände, so Rashid, hätten wenig kompetentes Personal, das in der Lage sei, sie medial adäquat zu vertreten. Daher seien in der Öffentlichkeit zumeist dieselben Gesichter zu sehen. Hinzu komme eine sehr zurückhaltende Pressearbeit. Hier besteht nach der Meinung Rashids ein großer Nachholbedarf: Personal müsse geschult und die Pressearbeit ausgebaut werden.
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nisse geachtet. Auch die unbestimmte Mengenangabe «immer mehr» in (a-68) wird ohne eine vergleichende Einordnung lediglich zum suggestiven Mittel; durch die Verknüpfung mit einer Habilitationsschrift wird sie nicht in einen entsprechenden Kontext eingeordnet, sondern stillschweigend zur Tatsache. Das Zitat befasst sich nicht primär mit den Zahlen, sondern zielt auf die Frage nach den Gründen für Übertritte zum Islam ab: «Noch gibt es wenig verwertbare Studien darüber, warum immer mehr Deutsche zum Islam übertreten. Monika Wohlrab-Sahr vom Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig stellte im Rahmen ihrer Habilitation über Islam-Konvertiten fest, dass viele auf der Suche nach dem ‹Andersartigen› seien.» (a-68)
Wenn nicht als völliges Gegengewicht, dann doch als Relativierung einer allzu euphorischen Beurteilung der Rolle der Blogger für einen ägyptischen Demokratisierungsprozess fungiert das in ein Frage-Antwort-Modell eingefasste Zitat der Kommunikationswissenschaftlerin Rasha Abdallah: «A l’automne dernier, un nouveau cap a été franchi avec la révélation d’actes de tortures commis par la police. Après la diffusion sur l’Internet d’une scène filmée dans un commissariat, deux officiers ont même été arrêtés. Une première victoire qui témoignage [sic] de l’influence grandissante des blogueurs. Au point d’induire un véritable changement dans le pays? ‹Pas sûr›, tempère Rasha Abdallah, chercheuse en communication à l’Université américaine du Caire.» (a-31)
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Aufwertung einer Aussage durch Bezugnahme auf namenlose Experten In der Regel wird der Gehalt einer Aussage durch den Verweis auf einen Experten aufgewertet – wenn der Experte als solcher nicht hinterfragt oder demontiert wird (diese Beispiele bleiben hier unberücksichtigt). Besonders deutlich wird diese Funktion in den Fällen, in denen der Experte namenlos bleibt – bzw. ‘die Experten’ nicht benannt werden. Denn sehr häufig wird hier der Plural eingesetzt. Im Vergleich zur Verwendung der Singularform scheint diese Referenz dadurch zusätzlich an Wichtigkeit zu gewinnen. Neben Experten sind auch Analysten und Beobachter in dieser Funktion zu finden. Den derart relevant gesetzten Aussagen kann durch (unbestimmte) Mengenangaben wie nombre de XX zusätzliches Gewicht verliehen werden: «Les résultats de ce sondage reflètent une nette radicalisation d’une partie des musulmans du royaume. C’est l’avis des sondeurs qui suivent depuis plusieurs années l’évolution de cette communauté.»⁴⁰ (a-25)
40 In diesem Fall wäre möglich, die Namen der an der Umfrage beteiligten Personen zu ermitteln, da im Presseartikel Informationen zur Studie genannt werden. (a-25): «Selon un sondage
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«Mais nombre d’analystes soulignent qu’il est tout aussi idéologue que les autres responsables du Hamas. Et jugent que son futur gouvernement sera aussi peu susceptible de reconnaître Israël que le sortant.» (a-186) «‹Essaie de ne pas répondre, insiste sur le fait que tu n’as aucune relation avec tel groupe ou telle personne. Ta confession devant le tribunal sera la meilleure preuve contre toi. La résistance doit être totale, il faut tout cacher›, peut-on y lire. Selon les experts⁴¹, ce n’est pas la première fois qu’une telle stratégie est utilisée dans des procès d’islamistes radicaux.» (a-187) «Un internaute égyptien qui avait critiqué sur un site Internet le pouvoir et la grande université islamique Al-Azhar a été condamné jeudi à quatre ans de prison pour insultes envers l’islam et le président Moubarak, malgré les critiques des défenseurs des droits de l’homme.» (a-36) «‹Die Muslime wollen vom Staat gleichberechtigt behandelt werden, so wie die christlichen Kirchen. Dann müssen sie aber auch die organisatorischen Voraussetzungen dafür schaffen.› Der Minister steht mit seiner Forderung nicht alleine da. Auch Theologen und Integrationsexperten halten ein organisiertes Gespräch nach den gescheiterten Kofferbombenanschlägen und verfehlten Papstreden für dringend nötig.» (a-188) «Beobachter maßen dem Treffen aus zwei Gründen besondere Bedeutung zu: Erstens zählt das Islamische Königreich Saudi-Arabien zu den engsten Verbündeten der USA in der Region. Zweitens haben die schiitische Führung des Irans und das von strenggläubigen Sunniten dominierte Herrscherhaus von Saudi-Arabien sowohl im Irak-Konflikt als auch in der libanesischen Regierungskrise gegensätzliche Positionen bezogen.» (a-190) «Sein erster Staatsbesuch ins sunnitische Königreich Saudi Arabien wird in Expertenkreisen Teherans als immens wichtig eingestuft. […] Teheran hat wiederholt erkennen lassen, dass Öl als Waffe bei Sanktionen wegen der Urananreicherung eingesetzt werden könnte. Experten jedoch glauben,
ICM publié, dimanche 19 février, par le Sunday Telegraph, quatre musulmans de Grande-Bretagne sur dix souhaitent que la charia (loi islamique) soit instaurée dans les zones du pays où leur communauté est majoritaire». 41 Der nachfolgende Expertenhinweis gehört zur Berichterstattung aus dem Jahr 2009 (Prozess gegen vier im Sauerland festgenommene Männer). Was in der deutschen Presse als ‘Terror-Prozess’, also nach dem Verhaftungsgrund benannt würde, wird in der französischen Berichterstattung «procès antiterroriste», d.h. nach der Verhinderungsmaßnahme benannt. (a-98): «Selon les experts, il s’agit du procès antiterroriste le plus important depuis ceux de la Fraction armée rouge (RAF). Pour la première fois depuis les attentats de ce groupe d’extrême gauche dans les années 1970-1980, des Allemands sont accusés d’avoir projeté un bain de sang dans leur propre pays».
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dass die Saudis in einem solchen Falle mit Steigerung ihrer Ölproduktionen eine etwaige Krise kontrollieren könnten und auf der Seite des Westens bleiben.» (a-191)
Zum Abschluss folgt das Beispiel für den leitmotivischen Einsatz des namenlosen Experten (im Singular), welcher in verschiedenen Ausdrucksformen erscheint. Im vorliegenden Fall wird dadurch der bisweilen spekulative Charakter der Aussagen abgemildert. Die Conclusio trotz gegenteiliger Verlautbarungen aus dem Pentagon planen die Amerikaner einen Angriff auf Iran wird argumentativ durch den Analogieschluss «si on remplace le mot Irak par Iran, on n’est pas loin du compte …» gestützt. Dieser suggestive Vorgang, abgesichert durch die Referenz auf einen «expert étranger», materialisiert sich in Form der drei Punkte («…»). «‹L’ambiance rappelle celle de 2002 avant l’Irak, quand Bagdad était accusé de fourbir des armes de destruction massive, de soutenir le terrorisme, de ne pas se plier aux résolutions de l’ONU et d’être le principal obstacle à la démocratisation de la région, confie un expert étranger. Si on remplace le mot Irak par Iran, on n’est pas loin du compte...› […] ‹Les Iraniens n’ont pas les moyens de suivre une escalade ‘verticale’, purement militaire, avec les États-Unis, commente un observateur, ils risquent donc de choisir une escalade ‘horizontale’, c’est-à-dire en jouant de leurs capacités de nuisance dans la région comme au-delà.› En clair, en se servant du Hezbollah libanais ou des rebelles irakiens, comme de cellules terroristes pouvant frapper des intérêts américains ou israéliens un peu partout dans le monde. ‹Dans le Golfe, nous craignons bien sûr des représailles sur des implantations américaines ou des installations pétrolières, ou encore un blocage d’Ormuz, explique une source émirienne, mais ce n’est pas forcément le plus probable, car ce serait considéré par Washington comme une attaque frontale lourde de conséquences.› […] ‹Ahmadinejad sait bien jouer sur un anti-impérialisme occidental rassembleur, et cela marche, explique la même source, toute la rue arabe et musulmane peut y être sensible en cas de conflit.›» (a-189)
7.2.2 Quand on est jeune: zur Polyvalenz der Jugend Der Verweis auf das jugendliche Alter von Konvertiten, Attentätern und Terroristen, Justiz- oder Mordopfern hat selten eine rein deskriptive Funktion.⁴² So
42 Die Verwendung des Jugend-Motivs zur Untermauerung von (impliziten oder expliziten) Argumentationssträngen lässt sich ebenso in anderen Bereichen beobachten: In der Moderation zu einem Bericht über nach dem NATO-Gipfel in Straßburg inhaftierte Deutsche war von deutschen «Jugendlichen» in französischer Haft die Rede. Der Bericht hingegen handelt von jungen Männern, primär von Philipp G.: «Philipp G. ist 25 Jahre alt, studiert Bio, Mathematik
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wird mit dem Attribut jung das Signal gesetzt, um eine vorschnelle oder wenig durchdachte Entscheidung anzudeuten (a-68). Es werden mildernde Umstände ins Spiel gebracht (a-4), der Verführungscharakter (a-68) und das Bedrohungspotenzial des Islams (a-68) betont,⁴³ die Härte einer Strafe (a-205) oder die Brutalität einer Tat (Kap. 7.3: (a-113); (a-114); (a-116)) mithilfe des relevant gesetzten Alters unterstrichen. Eine im Zusammenhang mit diesem Jugend-Motiv auftauchende Stützregel, eine diskursabstrakte Variante des bereits erwähnten Deviations-Topos, ist der Jugend-Topos⁴⁴.⁴⁵ (Diese Stützregel ist in den Korpustexten, in denen die Brutalität der Tat und die Opferperspektive im Vordergrund stehen, nicht zu beobachten.⁴⁶) Die dem Artikel (a-68) unterlegte Märchenfolie (cf. Kap. 7.2.6) bildet, kombiniert mit dem mehrfach anzitierten Jugend-Topos, die argumentative Stütze des Gesamttextes. In Verbindung mit Märchenfolie und Jugend-Topos entsteht durch den Verweis auf den «figurbetonten Pulli» der ersten Konvertitin, Sonja, ein scheinbarer Gegensatz zwischen der Entscheidung, Muslimin zu werden, und der markierten Körperlichkeit (figurbetont). Die Relevantsetzung als junge, deutsche Männer und Frauen weist auf zugrunde liegende assoziativ gebildete semantische Paare hin: deutsch + nicht muslimisch vs. muslimisch + nicht
im 10. Semester an der Eliteuniversität Greifswald. Ein schmächtiger, junger Mann, der allenfalls etwas weltfremd, aber nicht gewalttätig wirkt. Trotzdem wurde er angeklagt, während des NATO-Gipfels Polizisten angegriffen zu haben. [Transkribiert von D.W.]» Die Grundthese des Berichts, diese Deutschen sind zu Unrecht und zudem härter verurteilt worden als ihre französischen Altersgenossen, wird mit einer zweiten These, die französische Polizei hat bei den Ausschreitungen versagt, verbunden. Es ist anzunehmen, dass mit der Markierung als Jugendliche die dargestellte Schieflage zusätzlich hervorgehoben werden sollte. (Deutschlandfunk 14.08.2009, Europa heute. Deutsche Gefangene hinter französischen Gittern). 43 In diesem Zusammenhang ist auf das Genus Verbi zu achten: Haben sich (junge) Menschen zum Islam bekehrt (aktiv), oder sind sie, wie in einem Interview zum Prozessverlauf gegen die Mitglieder der sogenannten Sauerland-Gruppe so formuliert, zum Islam bekehrt worden (passiv). (Deutschlandfunk 11.08.2009, Informationen am Morgen. Politik und Sport aktuell). 44 Jugend-Topos: Weil Jugendliche bestimmte Eigenschaften und Verhaltensmuster haben, reagieren sie (in bestimmten Situationen) auf eine für sie spezifische Weise (Kap. 8.1.4). 45 Cf. Geisser (2003, 11) im Zusammenhang mit Wahrnehmungsmustern: «[A]lors que la grande majorité des enfants issus de l’immigration africaine, maghrébine et turque sont aujourd’hui des nationaux français, les taxonomies persistent à les désigner comme des ‹jeunes arabo-musulmans›, processus de stigmatisation qui combine à la fois un référent ethnique (arabe) et un référent religieux (musulman), sans oublier bien sûr la référence à leur ‹juvénilité›, censée être porteuse de désordre [Hervorhebung D.W.]». 46 Cf. die Berichterstattung zum Tod von Ghofrane Haddaoui (Kap. 7.3).
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deutsch.⁴⁷ Andere Kombinationen (*deutsch + muslimisch) gelten als unüblich und werden daher markiert. Im Falle von Ashraf kommen die Aspekte ‘Radikalisierungsgefahr’ («rasche[r] Wandel») und ‘Bedrohung’ («auch bereit zu kämpfen») ins Spiel. Bei der dritten Konvertitin Silke bieten schließlich eine schwierige Kindheit und der fehlende Halt die Erklärungsmuster für den Übertritt zum Islam. Widersprüche und jugendliche Unbedachtheit, Radikalisierungsgefahr und Bedrohung, Schwäche und Verführung – mit jedem Kurzporträt sind negative Konnotationen verbunden, die durch Topoi gestützt noch mehr Wirkung entfalten. «Vor allem junge Männer und Frauen entscheiden sich, mit ihrem bisherigen Leben zu brechen und Muslime zu werden. Warum? Drei Hamburger Konvertiten geben Antwort. […] Vor allem junge, deutsche Frauen sind dort immer häufiger anzutreffen. Es scheint die Weltanschauung des Islam zu sein, die keine Trennung zwischen Staat und Kirche, Priester und Laien, göttlichem und menschlichem Recht erlaubt, die für viele junge Menschen reizvoll ist. […] Eigentlich dachte die junge Frau [Sonja] immer, der Buddhismus würde sie am ehesten ansprechen. […] Die junge Frau, die einen figurbetonten Pulli trägt, sagt, sie befinde sich in vielen Dingen noch auf dem Weg. […] Eine neue Entwicklung zeichnet sich auch bei jungen, in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Muslimen auf. Diese größtenteils säkular aufgewachsenen Muslime entdecken den Islam oft im Erwachsenenalter neu und vollziehen häufig einen raschen Wandel zur Frömmigkeit. So wie Ashraf.⁴⁸ […] Zwar spricht sich der 23-Jährige für Offenheit und Toleranz aus, doch steht für ihn das Wort des Propheten Mohammed über allem. […] Für den Propheten wäre der junge Gläubige auch bereit zu kämpfen. ‹Wenn jemand Medina angreifen würde, wäre ich dabei›, sagt er. […] So bilden etwa die Fünf Säulen eine feste Struktur, die alle Bereiche des täglichen Lebens strukturiert. Eine Hilfe für all jene, die ihrem Leben eine neue Ordnung geben wollen. So muss es auch bei Silke gewesen sein. Die heute 18-jährige Schülerin erlebte in jungen Jahren ein familiäres Martyrium. Im Alter von elf Jahren kam sie in eine Pflegefamilie, später lebte sie in betreu[t]en Wohnprojekten. Vor zwei Jahren ist sie zum Islam übergetreten.» (a-68)
47 Die umgekehrte Reihenfolge der Paare wurde bewusst gewählt. In der Logik dieser Assoziationsketten verweist deutsch auf nicht muslimisch und wird bei einer Person muslimischen Glaubens die Annahme nicht deutsch hervorgerufen. 48 Ashraf wird zur Gruppe der in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Muslime gerechnet, was sich nicht mit dem nachfolgenden Zitat deckt: «Aufgewachsen in Saudi-Arabien, lernte er den Islam früh nur in Form von ‹weltfremden› Imamen kennen».
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Das Adjektiv ‘jung’ eignet sich auch zur Dichotomiebildung, dessen Gegenpart keineswegs eine altersbezogene Entsprechung ⁴⁹ darstellen muss. Dieser variiert je nach argumentativer Dynamik, in der das Oppositionspaar verankert ist. Im Falle des bereits erwähnten ägyptischen Bloggers⁵⁰ sind dies unter anderem «sein strenggläubiger Vater» (a-4) oder «la grande université islamique Al-Azhar» (a-36), was als David-Goliath-Motiv, der junge Blogger (David) gegen die große Al-Azhar-Universität (Goliath), oder als Oppositionspaar von Islamkritiker vs. Islam gedeutet werden kann.⁵¹ Durch die Relevantsetzung ‘jeune’ wird außerdem die Unverhältnismäßigkeit der Strafe unterstrichen, indem die Diskrepanz zwischen jugendlichem Alter und Schwere des Strafmaßes betont wird ((a-205); (a-4)): «Drei Jahre bekam der junge Ägypter wegen Volksverhetzung und Beleidigung des Islams aufgebrummt, ein Jahr für die Beleidigung des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak. […] Hier ging es nicht mehr um ein paar Äußerungen eines wütenden jungen Mannes [Jugend-Topos], hier sollte ein Exempel statuiert werden im Kampf um das Recht auf Meinungsfreiheit. Die ungeliebten, aufmüpfigen Blogger sollen eingeschüchtert werden. […] Suleiman erhielt Morddrohungen von aufgebrachten Muslimen aus der ganzen Welt, via Internet. Sein strenggläubiger Vater verstieß den Sohn öffentlich und forderte, die Gesetze der Sharia anzuwenden.» (a-4) «La Cour a confirmé le jugement rendu le 22 février par un tribunal d’Alexandrie contre le jeune blogueur égyptien Abdel Karim Souleïmane, a affirmé Me Gamal Eid. ‹Le jugement n’a pas été rendu sur la base de la loi. Il s’agit d’un verdict religieux, semblable à ceux de l’Inquisition›, a dénoncé l’avocat, également président de l’ONG ‹Réseau arabe pour les informations sur les droits de l’Homme›.» (a-34) «Un internaute égyptien qui avait critiqué sur un site Internet le pouvoir et la grande université islamique Al-Azhar a été condamné jeudi à quatre ans de prison pour insultes envers l’islam et le président Moubarak, malgré les critiques des défenseurs des droits de l’homme. […] Le jeune blogueur avait aussi attaqué le régime de Moubarak qu’il décrivait comme un ‹symbole de la dictature›. Il risquait jusqu’à neuf ans de prison.» (a-36)
49 Im Textkorpus findet sich lediglich eine äquivalente Verwendung zu junger Mann/jeune blogueur, ebenfalls im Kontext einer Inhaftierung: «Dass sie aber auch gegen das Saddam-Regime opponierten, brachte den alten Vater ebenfalls ins Gefängnis.» (a-38) Des Weiteren kam alt in Konstruktionen wie «der 29 Jahre alte Gelowicz» (a-95) und in Kombination mit Abstrakta wie «altes Ägypten» (a-16) oder «die alten, patriarchalischen Regeln» (a-32) vor. 50 Zur argumentativen Stütze bei diesem Fall siehe Kapitel 7.1.2. 51 In (a-36) wird der Machtaspekt dieser Auseinandersetzung (Einschränken der vs. Beharren auf Meinungsfreiheit; Regierung vs. demokratische Opposition) betont.
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«Der Vater hatte sein Urteil bereits gefällt. Er sagte sich öffentlich von seinem 22-jährigen Sohn Abdel Karim Nabil Soleiman los und forderte eine Bestrafung nach islamischem Scharia-Recht: Zeigt der junge Mann nach drei Tagen keine Reue, soll er getötet werden. Dagegen wirkt die Strafe des ägyptischen Staates gegen den Blogger Abdel Karim fast gnädig: Wegen ‹Beleidigung des Islam› und ‹Kritik am Präsidenten› ist der junge Mann am Donnerstag in Alexandrien zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden.» (a-205)
7.2.3 Der und die Erste Auf ein Erstes folgt ein Zweites. Diese in Welt- und Textwissen gründende Erwartung wird auch mit dem Zahlwort der/die erste verbunden. Wird außerhalb einer konkreten Aufzählung auf ein(e) erste(r/s) verwiesen, kann die suggestive Wirkung genutzt werden, um (1) eine Warnung oder (2) eine suggerierte Aufzählung ins Spiel zu bringen. (Die Verwendungsweisen, auf die diese Fokussierung nicht zutrifft, werden im vorliegenden Kapitel nicht berücksichtigt.) (1) Die Kennzeichnung eines Vorgangs als den ersten seiner Art impliziert die Warnung vor weiteren ähnlichen Vorfällen. So geschehen bei der bereits erwähnten Berichterstattung über den Blogger Abdel Karim Soleiman, wo die Gefahr eines juristischen Präzedenzfalls thematisiert wird, der weiteren Verurteilungen Tür und Tor öffnen könnte.⁵² Ebenfalls beobachtbar ist diese Strategie in (a-115), einem Text über die Ermordung von Ghofrane Haddaoui, die als erste Steinigung «mitten in Europa» klassifiziert wird (zu falschen Verknüpfungen in diesem Fall: Kap. 7.3), der weitere folgen können. Der Islam wird so zur akuten Bedrohung. «Des organisations des droits de l’homme et des blogueurs membres de l’opposition, craignent que la condamnation de Souleïman ne fasse jurisprudence et entrave la liberté d’expression sur internet.» (a-17) «‹C’est la première fois qu’un blogueur est condamné pour des propos tenus sur son blog›, s’émeut Alaa. ‹Je trouve les deux accusations injustes. Elles auront des répercussions néfastes pour la liberté d’expression, en particulier l’accusation de diffamation à l’égard du président. Car nous sommes très nombreux à critiquer chaque jour le régime sur nos sites Internet›.» (a-12)
52 (a-18): «‹Un précédent effrayant›, ajoute Elijah Zarwan, porte-parole de Human Rights Watch (HRW) au Caire, qui craint que le jugement ‹ne ferme des fenêtres cruciales pour la liberté d’expression›».
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«Ghofrane Haddaoui (Foto) ist die erste Frau, die mitten in Europa gesteinigt wurde. […] Ghofrane ist das erste Opfer einer Steinigung mitten in Europa.» (a-115)
(2) Mit der Erwähnung eines/einer ersten wird eine Aufzählung suggeriert, d.h. das gängige Kommunikationsmuster Auf eins folgt zwei abgerufen, ohne dass ein nächstes folgt oder folgen müsste. Diese Verwendung scheint bei Überschriften üblicher als im Fließtext, was allerdings an größeren Textkorpora zu überprüfen wäre. Das erste Beispiel stammt aus dem Kontext des Falles Abdel Karim Soleiman, das zweite aus der Berichterstattung um das Schulverbot gegen zwei Schülerinnen, die in Burka zum Unterricht erschienen waren. Die Überschrift von (a-206) suggeriert, dass noch andere Rektoren zur Tat ansetzen bzw. diese Notwendigkeit noch für eine Reihe weiterer Schulleiter anstünde. Tatsächlich handelte es sich hierbei um einen Einzelfall. Das letzte Zitat, ebenfalls eine Überschrift, zeigt, wie nahe beide Verwendungsweisen des Zahlworts beieinander liegen: Das Ausrufezeichen unterstreicht die Unerhörtheit der Tat und bietet mit der Wiederholung des Zahlworts («erste Steinigung», «erste Frau») den Anknüpfungspunkt für die darauffolgende Warnung (s.o.): «Première condamnation d’un blogueur égyptien» (a-12) «1. Rektor greift durch» (a-206) «Die erste Steinigung in Europa! Ghofrane Haddaoui (Foto) ist die erste Frau, die mitten in Europa gesteinigt wurde.» (a-115)
7.2.4 Ganz nebenbei … Die beiden Definitionen von d’ailleurs halten fest, dass die auf dieses Adverb folgende Aussage eine logische Veränderung mit sich bringt (Satzadverb) oder einen für die vorhergegangene Aussage nicht unbedingt notwendigen Aspekt einführt (bezogen auf ein Adjektiv oder ein Partizip): «D’ailleurs a) Loc. adv. de phrase. Indique le changement de plan logique et permet d’ajouter un élément nouveau sans rapport nécessaire avec ce que l’on vient de dire. […] b) Loc. adv. portant sur un adj. ou un part. Permet d’introduire une notation qualificative nouvelle, mais non absolument indispensable». (TLFi online, ailleurs)
Die Textanalyse hat gezeigt, dass die auf d’ailleurs folgende Aussage sur le plan logique der sprachlichen Oberfläche eine Veränderung mit sich bringt, dass sie
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auf der Ebene der Stützregeln aber ebenso eine Kontinuität darstellen kann. Die Verwendung von d’ailleurs ermöglicht es nämlich, wesentliche Argumente oder eine Conclusio quasi unbemerkt, da nebenbei, anzubringen. Das deutsche übrigens folgt einem vergleichbaren Prinzip. Das im Online-Duden⁵³ angeführte, die Bedeutung von übrigens umschreibende nebenbei bemerkt weist in eben diese Richtung. Des Weiteren ist zu beobachten, dass Ausdrücke wie übrigens, im Übrigen, nebenbei bei meinungsbetonten Texten häufig als Einleitung für die argumentative Verstärkung vorher getroffener Aussagen oder die abschließende Pointe dienen.⁵⁴ Wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, besitzt die so eingeleitete Aussage jeweils eine unterschiedliche Funktion und Wichtigkeit für die argumentative Dynamik des Textes. In (a-6), in dem es um ein Attentat in Saudi-Arabien geht, bei dem drei Franzosen getötet wurden,⁵⁵ leitet d’ailleurs zu einem früheren Attentat über, dem ebenfalls ein Franzose zum Opfer fiel. Dieses Nähesignal (das Opfer als Teil der lesenden wir-Gruppe) wird mit der besonderen Bedrohung für Franzosen⁵⁶ (und Ausländer allgemein) in Saudi-Arabien verknüpft – und zwar semantisch-logisch (Erwähnung mehrerer Attentate) wie auch formal (Einsatz eines Paralle-
53 Duden-Suche online, übrigens, http://www.duden-suche.de, abgerufen am 06.04.2010. 54 (a-208): «Die Todesstrafe gilt zudem fast in der gesamten islamischen Welt – und zwar als angeblich religiös geboten. Im Iran oder in Saudi-Arabien werden auch ‹Delikte› wie Homosexualität oder Ehebruch mit dem Tod bestraft. Im Vergleich zur dortigen Rechtsprechung kann sich der Prozess gegen Saddam Hussein übrigens allemal sehen lassen. [Was am Todesurteil aber nichts ändert. In der Diskussion um das Für und Wider der Todesstrafe handelt es sich hierbei um ein Scheinargument, das Argumentationsebenen vermischt.] – Was Politiker vor diesem Hintergrund [Anklang an den Gesetzes-Topos (Kap. 8.1.1)] dazu bewegt, ausgerechnet den Schlächter Saddam Hussein zum Märtyrer der Menschenrechte zu machen, darüber lässt sich nur spekulieren». – In (a-212), der Neujahrsansprache 2007 der Bundeskanzlerin, leitet Angela Merkel mit übrigens die abschließende Conclusio ein, Wenn sich etwas ändern soll, dann muss jede(r) bei sich selbst anfangen: «Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir sollten uns für das kommende Jahr wie für das zurückliegende Jahr wieder vornehmen: überraschen wir uns damit, was möglich ist! Das beginnt übrigens bei jedem von uns ganz persönlich: zum Beispiel mit einem Gespräch, einem ausgedehnten Spaziergang, einem Besuch oder indem wir mal das Handy ganz bewusst ausschalten, auch wenn dies manchem, wie zum Beispiel auch mir, zunächst einmal ungewohnt erscheinen mag. Sie werden sehen, wie gut all das für das Miteinander ist». 55 Das vierte Opfer erlag später seinen Verletzungen. 56 (a-6): «L’attaque s’est produite près de Medain Saleh, une nécropole nabatéenne, dans le nord-ouest du royaume et où travaille une équipe d’archéologues français, la seule étrangère à opérer dans le pays».
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lismus⁵⁷). Mit dem erneuten Verweis auf Al-Qaida wird der Bogen zur vorangegangenen Vermutung über deren Urheberschaft gespannt: Niemand hatte sich zu dem aktuellen Attentat bekannt, gleichwohl wird es im Gefolge der anderen Attentate Al-Qaida zugeschrieben. Die mehrfach hervorgehobene Bedrohung wird zusätzlich mit einer Aussage kontrastiert, die in diesem Kontext einem angemahnten Versäumnis gleichkommt: Weder die französische noch andere westliche Regierungen, deren Staatsbürger in Saudi-Arabien leben, hätten entsprechende Warnungen veröffentlicht – und, so die suggerierte Annahme, ihre Bürger nicht in angemessener Weise geschützt.⁵⁸ «Bien qu’il n’ait pas été revendiqué, l’attentat fait penser aux nombreuses attaques perpétrées par les émules locaux d’Al-Qaeda, entre mai 2003 et septembre 2004. Le dernier étranger assassiné en Arabie Saoudite était d’ailleurs un Français, le 26 septembre 2004, sur un parking de la grande ville portuaire de Djeddah: Laurent Barbot travaillait pour le groupe d’électronique militaire Thales. Le dernier attentat d’envergure contre des étrangers était l’attaque, en décembre 2004, du consulat américain de Djeddah, dans laquelle cinq employés non-américains avaient trouvé la mort. La dernière tentative d’attentat d’Al-Qaeda en Arabie Saoudite a visé un site pétrolier, au printemps 2006. […] Paris et les autres capitales occidentales comptant des ressortissants étrangers en Arabie Saoudite n’avaient pas pour autant effectué de recommandation particulière. Le site du ministère des Affaires étrangères estime toutefois que ‹le risque terroriste reste élevé en Arabie Saoudite› et que ‹de nouveaux attentats ne peuvent pas être exclus›.» (a-6)
Die beiden Textauszüge aus (a-19) und (a-18) sind unter anderem Beispiele für eine sich unterscheidende Perspektivierung zum selben Thema (Berichterstattung über Prozess und Urteil gegen Abdel Karim Soleiman). Im ersten Beispiel wird mit d’ailleurs ein Beleg für die Rechtmäßigkeit der Vorwürfe von Reporter ohne Grenzen eingeführt und impliziert, dass der Blogger ein Opfer staatlicher Gewalt geworden sei.⁵⁹ Auch in (a-18) spielt die Regierungsgewalt eine Rolle, hier wird jedoch der Vorwurf des Bloggers, die Religion dringe zu sehr in das
57 Le dernier étranger assassiné en Arabie Saoudite était …; Le dernier attentat d’envergure contre des étrangers était … . 58 Einschränkende Ergänzung (a-6): «Le site du ministère des Affaires étrangères estime toutefois que ‹le risque terroriste reste élevé en Arabie Saoudite› et que ‹de nouveaux attentats ne peuvent pas être exclus›». 59 Reporter ohne Grenzen besitzt auf diesem Gebiet einen Expertenstatus. So wird die nachfolgende implizierte Argumentation möglich: Wenn Reporter ohne Grenzen Ägypten auf die nur 13 Feinde des Internets umfassende Liste setzt, hat Abdel Karim Soleiman mit seiner Kritik recht bzw. ist er zum Opfer staatlicher Autorität geworden.
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Leben der Menschen ein,⁶⁰ thematisiert und bestätigt: Die Einschränkung der Meinungsfreiheit wird an dieser Stelle nicht auf die (staatlichen) Machthaber bezogen, sondern auf die religiöse Oppositionskraft sowie auf eine sich radikalisierende öffentliche Meinung. Die Kritik am Islam erscheint somit als Hauptargument für das Verfahren – Anknüpfungspunkt u.a. für den Deviations-Topos. «Reporters sans frontières (RSF) s’indigne de cette condamnation, considérée comme ‹un message d’intimidation adressé au reste de la blogosphère égyptienne, qui avait prouvé ces dernières années qu’elle constituait un contrepouvoir efficace aux dérives autoritaires du gouvernement›. L’Egypte figure d’ailleurs sur la ‹liste des treize ennemis d’Internet 2006› de l’organisation.» (a-19) «Ses opinions ne lui valent pas la sympathie de l’opinion publique, dans un pays de plus en plus conservateur où les islamistes sont la première force d’opposition. Le fait qu’il ait critiqué l’islam a d’ailleurs fait de lui une ‹proie facile›, juge M. Pain.» (a-18)
Die durch «d’ailleurs» eingeleitete Aussage liefert in (a-207) ein Argument, das die im Leitabsatz aufgeworfene Zweigleisigkeit im Handeln der iranischen Führung untermauert. Da es sich beim Aufenthaltsort von Moqtada al-Sadr nicht um eine gesicherte Information zu handeln scheint (Verwendung des Konditionals), wird die Aussage durch das einleitende «d’ailleurs» abgeschwächt und durch die Abtrennung vom Vorhergehenden gleichzeitig hervorgehoben: «En Irak, l’Iran a construit un réseau d’alliances, qui lui permet à la fois de soutenir le processus politique et la guérilla antiaméricaine. […] À cette fin, l’Iran appuie le cabinet dominé par ses coreligionnaires chiites, regroupés autour du Conseil suprême de la République islamique d’Irak (Csrii), les opposants à Saddam Hussein que Téhéran a longtemps abrités. Ensuite, soutenir tous ceux qui réclament le retrait des soldats américains d’Irak. Le régime des ayatollahs aide ainsi la milice de Moqtada al-Sadr, le remuant leader chiite qui veut mettre un terme à ‹l’occupation américaine› de son pays. Depuis quelques semaines, Sadr serait d’ailleurs réfugié en Iran, avec certains de ses hommes qui sont traqués par les troupes de Washington.» (a-207)
Nach dem Hintergrundbericht (a-209) steht die Eignung als Anwärter auf das Amt des türkischen Präsidenten in einem negativ reziproken Verhältnis zum Kopftuch der Ehefrau:
60 (a-18): «Dans le dernier commentaire publié sur son blog et datant du mois d’octobre, Karim répétait qu’il était contre ‹l’intrusion de la religion dans la vie publique et son emprise sur le comportement des hommes›».
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«Sollte Erdogan sich gegen eine Kandidatur entscheiden, kämen nach Ansicht von Beobachtern auch Außenminister Abdullah Gül und Verteidigungsminister Vecdi Gönül in Frage. Der sprachgewandte Diplomat Gül gilt Erdogan-Kritikern als besser für das Amt des Staatschefs geeignet als der weniger geschliffen wirkende Regierungschef, der nicht einmal über Fremdsprachenkenntnisse verfüge. Doch auch Güls Frau trägt das Kopftuch – Gönüls Gattin übrigens nicht.» (a-209)
Ähnlich der oben (a-6) angeführten Kritik an der französischen Regierung enthält die in (a-211) mit übrigens eingeführte und durch einen Gedankenstrich zusätzlich abgetrennte Schilderung über die Diskrepanz zwischen Wort und Tat bei der Bundesregierung eine implizite Handlungsaufforderung und die Aussage des Experten «Exilanten Hanamow» eine zusätzliche Legitimation. Gestützt werden die Forderungen Hanamows durch den Demokratie-Topos⁶¹. Als weiteres, hier nicht wiedergegebenes Argument für eine «Unterstützung des Westens» wird die Bedrohung durch «den islamischen Fundamentalismus» genannt, der in weitergeführter Logik nicht nur Turkmenistan bedroht: «Bisher aber hält sich das Ausland mit Kritik an der turkmenischen Führung zurück – übrigens auch die Bundesregierung, die für die Zeit ihrer EU-Ratspräsidentschaft eine Zentralasien-Strategie angekündigt hat. Den Exilanten Hanamow von der Republikanischen Partei wundert das: ‹Leider sehen wir, obwohl die EU und auch Deutschland als derzeitiger Ratsvorsitzender sehr viel Macht haben, keine aktiven Reaktionen. Die beobachten nur und warten ab, was passiert. Aber das ist falsch. Denn von selbst wird sich da gar nichts tun. Wenn die Wahlen so verlaufen, wie sich das jetzige Regime das vorstellt, dann wird es später nur noch schwerer, einen Wandel herbeizuführen.›» (a-211)
(a-210) setzt zunächst den Agens, Marita Jendrischewski, in einer Dichotomie mit Wertegefälle auf die höher liegende Stufe des Oppositionspaares: «Die einen fasziniert der Orient; die anderen fürchten ihn, setzen ihn gleich mit islamischem Fundamentalismus und Gewalt. Marita Jendrischewski fasziniert der Orient» – und ist, so die suggerierte Annahme, daher gefeit vor falschen Verallgemeinerungen und Vorurteilen. Die beiden durch übrigens eingeführten Argumente führen diesen pädagogisch-moralischen Ansatz weiter: Nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene bietet sich hier die Möglichkeit einer Wissenserweiterung und der Oman ist wie die dargestellte Lehrerin ein Musterbeispiel, weil sich
61 Demokratie-Topos: Weil die Demokratie mit den zu ihr gehörenden Rechten (Menschenrechte, Gleichberechtigung, freie Meinungsäußerung) die letztlich erstrebenswerte Herrschaftsform darstellt, sollte sie als Ziel angestrebt werden und andere Staats- oder Regierungsformen ablösen (Kap. 8.1.2).
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scheinbare Gegensätze als lebbare Einheit erweisen (Strategie der Differenzierung): «Im Vorwort zu dem Kinderbuch, das übrigens auch Erwachsenen eine sehr anschauliche Einführung in das fremde Land bietet, betont Marita Jendrischewski: Gerade in der heutigen Zeit sei es außerordentlich wichtig, Kindern fremde Länder und andere Kulturen näher zu bringen. Sie sollten erfahren, wie interessant und wertvoll es ist, eine andere Art des Lebens kennen zu lernen. ‹Trotz verschiedener Lebensweisen haben Toleranz und Mitmenschlichkeit einen hohen Stellenwert. Unterschiedliche Wertvorstellungen und Traditionen müssen nicht trennen, sondern können verbindende Elemente sein›, formuliert sie zugleich auch ihren pädagogischen Anspruch. Den Oman hat Marita Jendrischewski übrigens als ‹Studienland› für das Schülerprojekt nicht nur ausgewählt, weil er ihr Lieblingsland im Orient ist. Sie schätzt ihn auch, wie viele andere Landeskenner, wegen seiner vorbildlich gelungenen Verbindung von Tradition und Moderne.» (a-210)
7.2.5 Referenz auf Prototypen: zum Einsatz von Demonstrativpronomina⁶² «Nous croyons y reconnaître, à la fois une action de présence, par la transformation du groupe en une personne, et l’unification du point de vue, l’impossibilité de distinguer entre les bons et les mauvais qu’entraîne cette transformation.» (Perelman/Olbrechts-Tyteca 31976, 219)
Was Perelman/Olbrechts-Tyteca hier für den Gebrauch des Singulars anstelle des Plurals festhalten, kann in bestimmten Kontexten auch durch den Einsatz von Demonstrativpronomina erreicht werden.⁶³ Der ostentative Charakter dieses hinweisenden Fürworts bleibt stets erhalten, wohingegen sich die jeweils eröffneten imaginären Räume je nach Verwendungsweise unterscheiden: Durch den Einsatz des Demonstrativpronomens entsteht auf der inhaltlichen, erzählerischen Ebene ein Gefühl der Unmittelbarkeit und der Nähe zum Geschehen bzw. es wird Nähe und Ferne im Verhältnis zum Sprecher (dieser – jener, celui-ci – celui-là) ausgedrückt. Durch das Demonstrativpronomen werden bestimmte Aspekte, Vorgänge, Personen etc. hervorgehoben oder eine Stellvertreterposition ausgefüllt. Auf der Ebene der Organisation der Äußerung tragen die Pronomina zur Stiftung der Kohäsion bei (anaphorischer und kataphorischer Gebrauch)
62 Das Demonstrativum ist eine relativ komplexe Angelegenheit. Cf. hierzu Raible (1982). 63 Zum argumentativen Gebrauch des bestimmten Artikels, des Singulars für den Plural und des Demonstrativpronomens: Perelman/Olbrechts-Tyteca (31976, 217ss.).
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und bieten auf der argumentativen Ebene thematische Anknüpfungspunkte. Im vorliegenden Zusammenhang ist vor allem die Verwendungsweise interessant, anhand derer auf einen vom Geschehen unabhängigen imaginären Raum verwiesen wird: Der hier angezeigte konkrete Einzelfall reaktiviert einen Prototyp und weist damit über diesen hinaus. Diese Funktion ist eng mit der Homogenisierung verbunden, denn ohne die Annahme der Existenz einer homogenen Einheit, Kategorie oder Gruppe würde die Vorstellung eines Prototyps gar nicht erst entstehen bzw. hätte keinen (argumentativen) Mehrwert. In (a-5) ist das Demonstrativpronomen in verschiedenen Funktionsweisen zu finden. Es stiftet durch seine hohe Frequenz Kohärenz auf der Erzählebene; zudem wird das Gefühl von Unmittelbarkeit erzeugt, was zu einem gewissen narrativen Stil beiträgt. Nachfolgend wird besonders der Aspekt der Typisierung hervorgehoben: Diese, hier leitmotivische Verwendung ergänzt den bereits vorgestellten leitmotivischen Einsatz der Reduzierung als Homogenisierung. Beide Mechanismen zielen auf eine Essenzialisierung des Dargestellten ab. Den nachfolgenden Beispielen ist mit Ausnahme des letztgenannten gemein, dass das entsprechende Demonstrativpronomen nicht anaphorisch verwendet wird: In Kombination mit einem Relativsatz wird im Falle des Schleiers (ce voile), der als Singular für die Verschleierung aller im Flugzeug befindlichen Frauen steht, der erwähnte Charakter als Prototyp besonders deutlich. Dasselbe gilt für ces étrangers, bei denen es um die fremde Besatzungsmacht geht, ganz egal, ob es sich dabei um Araber, Russen, Engländer oder Amerikaner handelt. Anhand von ce jeune internaute wird ein weltmännischer Charakter gezeichnet, dessen Einstellung stellvertretend für seine Generation vorgestellt wird («représentant à Londres», «si naturellement thatchérien», «les mérites de l’Amérique, la corruption des mollahs», «ma génération ne croit pas à la politique»). Derselbe Mechanismus verfängt bei ce septuagénaire, der für eine ältere Generation steht, die ebenfalls den Wandel herbeisehnt («la révolution fut d’abord la sienne», «redevenu un émigré de l’intérieur, mais aujourd’hui, comme toute l’intelligentsia iranienne»). Und ce bar à café schließlich unterscheidet sich nur durch den fehlenden Alkohol von einer Lokalität in Amsterdam oder San Francisco – Inbegriff der (westlichen) Freizügigkeit. Bliebe noch Mahmoud Ahmadinejad, ce chiite, der sich palästinensischer als die Palästinenser gibt und zum Ziel hat, die Macht sunnitischer Regime ins Wanken zu bringen. Wie bereits erwähnt, wird das Demonstrativpronomen hier rückverweisend verwendet – das gilt auch für «chiite». Der Bezug auf den Referenten Mahmoud Ahmadinejad bleibt im Vordergrund; eine Typisierung, durch den Verweis auf den (religiösen) Grundkonflikt zwischen Schiiten und Sunniten möglich, klingt in diesem Fall nur wenig an.
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«La coquetterie des femmes, décolletés moulants et sourires ravageurs, trahissait tout ce qui se cache sous ce voile que l’atterrissage a fait tristement ressortir des sacs de voyage. Et puis il y avait ce jeune internaute, représentant à Londres d’une société iranienne et si naturellement thatchérien. Nous n’avions pas décollé qu’il engageait la conversation, intarissable sur les mérites de l’Amérique, la corruption des mollahs, le ‹marxisme› de l’Europe et sa honte de n’être pas allé voter à la dernière présidentielle. ‹Ma génération ne croit pas à la politique, disait-il, mais c’est notre abstention qui a fait élire Mahmoud Ahmadinejad.› […] Cette République islamique vomit sa théocratie mais l’Iran, tout l’Iran, est cimenté par un désir d’affirmation nationale, une farouche volonté de ne plus jamais retomber sous la coupe de ces étrangers – Arabes, Russes, Anglais, Américains – qui en avaient si longtemps fait une terre de conquête ou un jouet stratégique. […] Pragmatisme et théière de porcelaine, tout est britannique chez ce septuagénaire, mais c’est un nationaliste qui parle, un homme à jamais marqué par le coup d’Etat que la CIA avait organisé, en 1953, contre Mossadegh, le Premier ministre qui avait nationalisé le pétrole. La révolution fut d’abord la sienne, un moment de fierté nationale. Après que les mollahs en eurent pris les commandes, il était redevenu un émigré de l’intérieur, mais aujourd’hui, comme toute l’intelligentsia iranienne, il observe, heure par heure, les déchirements de la théocratie, la nervosité des plus riches, l’inquiétude des classes moyennes, la sécession de la jeunesse et l’espoir lui revient. […] Il y a une vie politique en Iran. Dans ce bar à café du centre-ville, le serveur porte cheveux longs et catogan. La clientèle, hommes et femmes, paraît aussi peu islamique que possible et même le voile, si léger, si tombant, n’est plus qu’un instrument de séduction. Alcools en moins, on pourrait être à Amsterdam ou à San Francisco[.] […] Quand Mahmoud Ahmadinejad se fait plus palestinien que les Palestiniens, ce chiite veut se faire le champion de l’islam pour ébranler les régimes sunnites et relancer, dans tout le Proche-Orient, la révolution islamiste dont l’Iran avait été le berceau.» (a-5)
Der Auszug aus (a-12), ein Kurzresümee, mit dem der Text eingeleitet wird, schließt durch die Verwendung des Demonstrativpronomens auch an die vorangegangene Berichterstattung an. Wie in (a-214), in dem es um die Ablehnung westlicher Nicht-Muslime geht – und dies «bien au-delà des sympathisants de la mouvance terroriste al-Qaida» –, wird auf eine Kategorie verwiesen, die außerhalb des jeweiligen Artikels verankert ist. In (a-68) wird mit dem Hinweis «dieses ‹überirdische Gefühl›» ein Bild religiöser Bekehrung evoziert, das keiner näheren Erklärung bedarf (eine klare Definition dieses Gefühls wäre hingegen nicht ohne Weiteres möglich) und durch die Anführungszeichen eine Distanzierung markiert. Es ist den genannten Beispielen gemeinsam, dass die Verwendungsweise des Demonstrativpronomens jeweils mit einem den Text stützenden Topos verbunden ist – sei dies der Defizit-Topos⁶⁴ (a-12), der Bedrohungs-To-
64 Defizit-Topos: Weil im Islam/in muslimischen Ländern allgemein gültige Rechte und Normen nicht garantiert werden bzw. diese mit dem Islam nicht kompatibel sind, muss Kritik geübt/
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pos (a-214) oder der Jugend-Topos (a-68). Diese Verknüpfung stützt den erwähnten typisierenden Charakter der Aussagen und macht sie intuitiv zugänglich. «‹Jamais personne n’est sorti indemne de ces accusations›, avait prévenu il y a quelques jours Alaa, pionnier de la blogosphère égyptienne. Il avait vu juste.» (a-12) «Mais dans le berceau du salafisme, cette doctrine rigoriste de l’islam, la présence d’Occidentaux non musulmans – des ‹koufars›, selon les intégristes – est encore assez mal vue, et bien au-delà des sympathisants de la mouvance terroriste al-Qaida.» (a-214) «Ein Religionsgelehrter des Sufi-Ordens reichte ihr die Hand, und plötzlich war da dieses ‹überirdische Gefühl›. Bei Ashraf geschah es vor zwei Jahren». (a-68)
7.2.6 Intertextualität Intertextuelle Verweise können auf sehr ökonomische Weise dazu verwendet werden, Andeutungen und Bewertungen zu transportieren oder Texten eine bestimmte Ausrichtung zu verleihen. Voraussetzung ist freilich, dass die anzitierten Passagen, deren Aussagengehalt oder Kontext bekannt genug sind, um eine solche Funktion zu erfüllen.⁶⁵ «Der Windmühlenkampf der Al-Azhar gegen den Valentinstag findet seine Analogie in unseren ritualisierten Moscheebau-Streitigkeiten. Denn der Angst vieler Muslime vor Ansteckung mit westlicher Dekadenz entspricht die Angst vor der Islamisierung Europas. Die zunehmende wechselseitige Durchdringung der islamischen Welt und des Westens im Zeichen von weltweiter Migration, Rückkehr der Geopolitik und ökonomischer Globalisierung macht beide Seiten nervös.» (a-61)
Das unterlegte Zitat (a-61) spielt auf den aussichtslosen Kampf Don Quijotes gegen Windmühlen an. Dabei wird die alltagssprachlich ‘gesunkene’ Metapher ‘aussichtsloser Kampf’ aktiviert – und nicht auf die ursprüngliche Bedeutung im Roman ‘Hirngespinst’ rekurriert.⁶⁶ Man kann analog zur ‘gebrochenen’ Differenzierung (Kap. 6.1.3) in diesem Fall von einer ‘gebrochenen’ Intertextualität sprechen. Dieser Verweis, hier als Strategie eingesetzt, funktioniert aufgrund eines geteilten (vermeintlichen) Wissens. Das Bild vom aussichtslosen Kampf wird den nachfolgenden Aussagen als Deutungsfolie unterlegt und betont die
muss eine Veränderung herbeigeführt werden (Kap. 8.1.2). 65 Cf. die Formulierung «wir haben abgeschworen» in (a-184) und (a-39) (Kap. 7.2.11). 66 Hinweis von Daniel Jacob.
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Sinnlosigkeit des Aufbegehrens gegen eine als nicht zu leugnen dargestellte Situation. Das Adjektiv ‘ritualisierten’, durch den Analogieverweis auf beide Handlungen ausgerichtet, hebt die Unangemessenheit eines reflexhaften Verhaltens zusätzlich hervor. «Es war ein Donnerstag vor eineinhalb Jahren, als Sonja das erste Mal Allah begegnete.» (a-68)
Der erste, den Text einleitende Satz von (a-68) ist in Stellung und Struktur an die Eingangsformel ‘Es war einmal’ eines Märchens angelehnt. Die Textgattung Märchen ist mit bestimmten Erwartungen verknüpft, welche die argumentative Dynamik auch einlöst – durch den Einsatz von Interpunktion und narrativer Elemente, durch das Erzeugen von Unmittelbarkeit sowie durch die Verknüpfung Jugend – Konvertierung als Ursache-Wirkungsverhältnis. «Sarkozy ou la grande récup’ des voix de l’islam» (a-67)
(a-67) schließlich arbeitet mit einem literarischen Verweis: Der Titelaufbau erinnert an Märchen von Perrault⁶⁷ oder an Voltaires contes philosophiques⁶⁸. Zu beiden Gattungen gehört der Raum des Imaginären, und beide Erzählformen suchen eine Idee zu vermitteln, eine Lebens- oder Volksweisheit im Falle des Märchens und philosophische Konzepte und Gedanken im Falle der contes philosophiques, Letztere arbeiten außerdem mit Elementen der Satire. Im Text finden sich zusätzliche Anknüpfungspunkte, die den Charakter des Lehrhaften und ‘Fabelhaften’ unterstreichen. Dazu gehören: der Einsatz narrativer Elemente, eine hohe Frequenz von Demonstrativpronomina (um Unmittelbarkeit zu erzeugen), das Aufzeigen zweier Handlungsstränge, eine offensichtliche Handlungsebene (Sarkozy im Gespräch mit Muslimen) und eine verdeckte, durch die argumentative Dynamik aufgezeigte Absichtsebene (Sarkozy als «Rabatteur d’Arabes»). Der Artikel kann geradezu als Lehrstück rezipiert werden, dessen Conclusio, im vorliegenden Fall wohl besser: dessen ‘Moral von der Geschicht’ lauten könnte: «Als Muslim wirst du bloß bedacht, weil Sarkozy grad Wahlkampf macht.»
67 Perrault (1989): Le Miroir ou la Métamorphose d’Orante, 83ss.; Le Maître chat ou le Chat botté, 263ss.; Cendrillon ou La Petite Pantoufle de verre, 274ss. 68 Voltaire (1972): Zadig ou la destinée – Histoire orientale, 83ss.; Memnon ou la sagesse humaine, 162ss.; Voltaire, Candide, ou l’Optimisme, 2003.
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7.2.7 Markierung von Fremdheit: Haartracht und Kleidung Bart und Kopftuch⁶⁹ sind zu distinktiven Merkmalen von Muslimen und Musliminnen geworden – und fungieren häufig als vermeintliche Gradmesser für deren Rückständigkeit oder Radikalität (cf. (a-193), (a-197)). Sie bieten sich für diese Interpretation insofern an, da sie als fremd wahrgenommen werden, konkret und abstrakt zugleich sind (Letzteres gilt besonders für das Kopftuch): Konkret im dinglichen Sinne, da visualisierbar, und abstrakt, da sie als Symbole für zum Kulminationspunkt verschiedener Diskursstränge werden.⁷⁰ Sabine Schiffer (2004; 09.06.2006; 2007) hat im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Islam mehrfach auf die suggestive Wirkung von Bildern hingewiesen.⁷¹ Auch hier spielen – nahezu zwingend – Reduktion in Form der Generalisierung und Relevantsetzung bestimmter Merkmale eine wichtige Rolle.⁷² Dies
69 Der Begriff Kopftuch wird im weiteren Verlauf exemplarisch für die verschiedenen Formen der Verschleierung verwendet. Dazu gehören: Der Niqāb (Gesichtsschleier), traditionell auf der arabischen Halbinsel getragen; der aus Iran stammende Tschador und die in Afghanistan, teilweise auch in Pakistan und Indien getragene Burka. Weniger geläufig ist der Begriff Çarşaf, die in der Türkei mit Niqāb kombinierte Form der Vollverschleierung. Pardesü, ein in der Türkei verbreiteter langer Mantel, wird meist in Kombination mit einem Kopftuch getragen. – Ḥijāb bezeichnet die religiös begründete und unterschiedlich streng gehandhabte Verschleierung von Musliminnen. Neben diesem Oberbegriff wird Ḥijāb auch für das Kopftuch als einzelnes Kleidungsstück verwendet. Zur Entwicklung des Ḥijāb-Konzepts und dem Prozess, den es in seinen verschiedenen Bedeutungen durchlaufen hat: Freyer Stowasser (1997). Siehe außerdem: Stillman (2000, 138ss.). 70 Die Frage nach der Bedeutung des Kopftuches beispielsweise kann nicht ohne Weiteres und nicht eindeutig beantwortet werden – handelt es sich hierbei um ein politisches oder um ein religiöses Zeichen? Und welche Rolle spielen Zeitgeist und Modebewusstsein? – Cf. eine Volksabstimmung in der Schweiz: 57,7 Prozent der Schweizer stimmten am 29.11.2009 gegen den Neubau von Minaretten. In der vorausgegangenen Diskussion spielte auch jene Mischung aus (vermeintlich) abstrakter Bedeutung und konkretem, sichtbarem Bauwerk eine wichtige Rolle. 71 Im Verhältnis von Text und Bild wird diese dort besonders problematisch, wo die beiden Ausdrucksformen lediglich auf einer assoziativen Verbindung beruhen: «An einem Beispiel aus dem Courier international vom 6.11.2003 – stellvertretend für viele aus der französischen und anderssprachigen europäischen Presse – können wir sehen, dass über die Grenzen hinweg die Zusammenpräsentation von disparatesten Themen vorkommt. Einen Bericht über die Frauensituation in Pakistan ‹schmückt› ein Bild mit einer Burqa aus Afghanistan. Als kleiner Einschub ist ein Text über die sog. Mädchenbeschneidung im Senegal eingefügt.» (Schiffer 09.06.2006, 6). 72 Cf. Geisser (2003, 24): La «logique réductionniste [des médias] aboutit à la construction d’un idéaltype du ‹musulman médiatique› (Homo islamicus mediaticus), pris systématiquement sous les mêmes postures: des fidèles en prière vus de dos, fesses en l’air; des rassemble-
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zeigt Schiffer (09.06.2006, 4) beispielsweise anhand der Fokussierung auf das Kopftuch: «Nun erweisen sich kopftuchtragende Frauen als dankbares Objekt, um verschiedenste Themen zu repräsentieren. Kopftücher sind leicht wahrnehmbar und in bilddominanten Medien braucht man Motive zur Visualisierung. Im besagten Focus [10.04.2006] illustriert es ‹die gescheiterte Integration›. Seit langem wird das Kopftuchmotiv bereits zur Darstellung des Fremden verwendet, wie etwa in einer Tagesschau-Sendung von 2002, als es um die Zuwanderungsdebatte ging. Aber auch schon seit Jahrzehnten wird es mit Themen wie Gewalt und Extremismus verknüpft, wofür hier ein Spiegel-special von 1998 und das Titelblatt der Zeit vom 21.07.2005 exemplarisch stehen. […] Die Montage der Themen Kopftuch und Extremismus ist eine Sinn-Induktion durch die Zusammenpräsentation mehrerer Motive in einer Darstellung. Immer wenn Dinge zusammen präsentiert werden, werden sie automatisch füreinander relevant gehalten. Neben der Prüfung des Wahrheitsgehalts einer Darstellung ist also vor allem die Prüfung ihrer Relevanz für den Gesamtzusammenhang wichtig. Ansonsten suggeriert man eben aktiv eine solche Bedeutung.»
(Materialisierten) Bildern kommt innerhalb der Berichterstattung eine eigene diskursive Tradition zu, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden soll. Interessant werden die materialisierten Ausdrucksformen für die vorliegende Arbeit dort, wo sie in ihrer immateriellen Ausprägung in den Text eingehen, also durch Suggestion hervorgerufen bzw. in deren Folge imaginiert werden. Diese ‘gedachten Bilder’ sind zu prototypischen Einheiten verdichtetes Vorwissen. Sie versinnbildlichen bereits existierende Argumentationsmuster und bergen zudem Anknüpfungspunkte für Topoi. Denn in der Vertextung von Bildern, seien sie mentaler Art oder schriftlich fixiert, bleiben stets Leerstellen, die sich für Inferenzprozesse geradezu anbieten. So hat Hans Burkhardt (16.05.2009) – in einem anderen Zusammenhang zwar,⁷³ doch für den vorliegenden Fall durchaus erhellend – darauf hingewiesen, dass eine semantische Codierung stets verlustbehaftet sei. Stellt man dem nachfolgenden Bild (s)eine Versprachlichung gegenüber, wird dieser (Informations-)Verlust sofort sichtbar:
ments compacts menaçants et hurlants; des femmes voilées [Hervorhebung D.W.]; un individu barbu [Hervorhebung D.W.] illuminé, bouche ouverte et yeux écarquillés [cf. l’analyse par B. Étienne des couvertures des tabloïds français sur les douze dernières années (1991– 2003) Ibid. p. 100]». 73 In der Informationstheorie der Informatik, Hans Burkhardt bekleidet den Lehrstuhl für Mustererkennung und Bildverarbeitung in Freiburg, geht es bei der Vermittlung einer Nachricht zunächst einmal um eine möglichst sichere und ökonomische Datenübertragung, also nicht um eine Information im semantischen Sinne.
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Ein Auto vor einem Baum auf einer grünen Wiese (Burkhard 16.05.2009, 24)
Der Satz «Ein Auto vor einem Baum auf einer grünen Wiese» gibt die Kerninformation des Bildes wieder, ohne dabei auf alle Details einzugehen, welche durch einen einzigen Blick erfasst werden können. Um das Bild erschöpfend zu beschreiben, bedürfte es eines weit umfangreicheren Textes. Information geht also auf diesem Weg der auf Ökonomie abzielenden Codierung verloren – oder anders ausgedrückt: Der Interpretationsspielraum wird größer. Doch zurück zum geschriebenen Wort. Die oben erwähnte Bildtradition bietet einen Fundus, aus dem auch (geschriebene) Texte schöpfen können. Je fester bestimmte Bilder im Bewusstsein verankert sind, umso weniger Signale sind notwendig, um diese zu evozieren. Bild ist dabei nicht gleich Bild; auch hier bedarf es jeweils einer Kontextanalyse, um die Relevanz der markierten Information für das Textganze zu beurteilen (cf. Schiffer 09.06.2006, 4). Die Relevantsetzung bestimmter Bekleidungsstücke, des Haar- oder Bartwuchses kann dabei zu einem Scharnier zwischen Text- und Topos-Ebene werden. Problematisch ist in diesen Fällen nicht der Hinweis auf den einzelnen Bartträger oder das jeweilige Kleidungsstück, sondern die auf der Grundlage vieler ähnlich gelagerter Markierungen entstandenen Assoziationsketten. Fällt bei der Beschreibung eines Muslims beispielsweise der Hinweis auf einen Bart, reicht dies aus, um die betreffende Person in die Nähe von Terror und Bedrohung zu rücken – ganz gleich, ob diese Assoziation vom Textproduzenten so intendiert war oder nicht. Nachfolgend zuerst einige Textauszüge, in denen der Bart relevant gesetzt wird: Die Verknüpfung von Bart und Terrorist (> Gefahr) ist an mehreren Stellen unverkennbar. Gestützt wird diese Assoziationskette von einer impliziten Argumentation, die auf den Bart als distinktives Merkmal abhebt: Wenn ein Muslim einen Bart trägt, dann ist er radikal/ein Terrorist und stellt eine Gefahr dar. In (a-193) scheint der Hinweis auf den Bart allein nicht auszureichen, um die Gefahr, die von Mullah Dadullah ausgeht, in Worte zu fassen: Durch das dem ‘Bart’ zugesellte Adjektiv ‘tiefschwarz’, Korrelat zu Albtraum und im Vergleich zu ‘schwarz’ ein Gewinn an Intensität, wird das Bedrohungspotenzial gesteigert. «Der neue Albtraum am Hindukusch heißt Mullah Dadullah, trägt tiefschwarzen Bart, stets eine Militärjacke und ist medial omnipräsent.» (a-193)⁷⁴
74 Was in (a-193) der tiefschwarze Bart, ist in (a-197) l’épaisse barbe noire: «L’essentiel de cette cassette est consacré à un entretien avec le mollah Dadullah. Turban gris, veste de treillis
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«Der bärtige und laut Interpol stattliche 1,96 Meter große Islamist, der Turban trägt und sich früher gerne mit Maschinenpistole ablichten ließ, stand schon vor dem 11. September 2001 im Ruf, seinen Häschern immer wieder zu entkommen. In einer ‹Kriegserklärung› rief er 1998 Muslime weltweit dazu auf, Amerikaner zu töten. Ende der 80er-Jahre hatte Bin Laden in Afghanistan sein Netzwerk al-Qaida, die Basis, gegründet.» (a-194)⁷⁵ «Die Muslime sollen sich am Vorbild ihrer Propheten orientieren, mahnt der bärtige Imam. Um seiner Botschaft Nachdruck zu verleihen, zitiert der Theologe aus dem Koran.» (a-195) «COIFFÉS de leur calotte blanche, les quatre jeunes barbus – trois Allemands et un Turc – étaient animés par la même ambition morbide: faire au moins autant de victimes que lors des attentats de Madrid et de Londres.» (a-98)⁷⁶ «L’entrée est bien gardée. Guérites de béton, hommes en armes. Tout juste a-t-on le temps d’apercevoir à travers le portail entrebâillé une vingtaine d’individus, pantalons kaki, barbes broussailleuses, assis à même le sol boueux d’une cour parsemée d’herbes folles, qu’un combattant soupçonneux claque la porte.» (a-196) «Même si les responsables de l’attaque d’hier ne sont pas liés formellement à al-Qaida dans la Péninsule, une rhétorique anti-occidentale est diffusée dans de nombreux cercles de la société saoudienne. Y compris dans les échelons élevés du pouvoir ou dans ses forces armées. ‹Quand des instructeurs américains arrivent à Riyad pour former leurs homologues saoudiens, certains barbus du ministère de la Défense qui ne supportent pas d’être en contact avec ces ‘infidèles’ sont momentanément congédiés par leur hiérarchie›, remarque un diplomate occidental.» (a-199)
Das Kopftuch, Streitobjekt und Diskussionsgegenstand auf politischer und gesellschaftlicher, auf inter- wie auch innerreligiöser Ebene, ist zum wichtigen Symbol für den Islam bzw. für die Kennzeichnung als Muslimin geworden. Es dient gleichermaßen der Abgrenzung (die anderen) wie auch der Identifikation
camouflé, épaisse barbe noire, le mollah Dadullah se prête volontiers à la caméra. Son discours est une longue invite au ‹djihad contre les infidèles› et une glorification des attaques-suicides, ‹équivalent islamique de la bombe nucléaire›». 75 (a-198): «Car les spécialistes du terrorisme soulignent à quel point les cellules se réclamant du mythique barbu de Riyad sont autonomes: ‹Moins de vingt ans après sa création en septembre 1988, Ben Laden a réussi à faire d’al-Qaida ce qu’il voulait en faire, une ‘base’ logistique et idéologique›, souligne Brisard». 76 In (a-192) ebenfalls die Markierung jung + bärtig (> Terrorist) im Kontext eines Gerichtsprozesses: «Doch den bärtigen jungen Mann scheint dies kalt zu lassen. Ruhig sitzt er auf seinem Stuhl vor Richter Javier Gómez Bermúdez von der Audiencia Nacional, dem höchsten spanischen Strafgericht. Unbeeindruckt lässt er die Fragen der Staatsanwältin über sich ergehen».
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(wir). Durch diese Vieldeutigkeit entsteht eine semantische Vagheit, die unterschiedlich ausgefüllt werden kann (cf. Schiffer 09.06.2006, 4). Die nachfolgenden Textbeispiele deuten ohne Anspruch auf Vollständigkeit die funktionalen Möglichkeiten an, die das Kopftuch und im Gefolge die verschiedenen Formen der Verschleierung für Inferenzprozesse bieten. Um die argumentative Dynamik des Korrespondentenberichts (a-200) nachvollziehbar zu machen, wird dieser Artikel vollständig wiedergegeben. Das Kopftuch wird hier zum Text strukturierenden wie auch zum argumentativ konstitutiven Unterscheidungsmerkmal: Verschleierung wird mit Radikalität, Rückwärtsgewandtheit und Unbildung verknüpft, das Pendant der nicht verschleierten Frau steht für Modernität, Offenheit und Bildung ([3a], [3b], [3c]). Hervorzuheben ist außerdem eine Leerstelle: Verschleierte Frauen kommen nicht zu Wort. Stattdessen werden die Männer und Väter der Kopftuch tragenden Frauen zitiert – markierte Unmündigkeit [1]. Im Verlauf des Textes verschwimmen semantische Grenzen: Das Kopftuch wird zur Sigle für die als Bedrohung dargestellte zunehmende Frömmigkeit, welche mit Intoleranz [2a] einhergeht. Diese Verknüpfung wird in konsequenter Logik zur Grundlage von Terroranschlägen [2b]. Eine weitere mit der erwähnten Dichotomiebildung einhergehende Zuschreibung ist die Zweiteilung zwischen einem falschen (mit Kopftuch > Bedrohung, Unbildung assoziierten; [2]) und einem richtigen (mit Emanzipation, Bildung und Zivilcourage verknüpften; [3]) Islam. Sie mündet in die Conclusio [4]: Da es der Jugend [Reduzierung] an Bildung fehlt, geht sie selbst ernannten Predigern auf den Leim oder hält sich an radikale, konservative Auslegungen.⁷⁷ «Kopftuch-Streit in Ägypten – Alle ducken sich weg Kairo […] – Wer sich in Ägypten gegen die schleichende Islamisierung [2] der Gesellschaft auflehnt, muss Stehvermögen und ein dickes Fell [3] haben. Diese bittere Lektion hat in den vergangenen Tagen auch Kulturminister Faruk Husni lernen müssen. Weil er in einem Interview die wachsende Verbreitung des islamischen Kopftuches in Ägypten als ‹rückschrittlich› bezeichnet hat, sieht sich der Minister nun einer Hetzkampagne ausgesetzt. Die Muslimbrüder, aber auch einige Mitglieder der Regierungspartei NDP, deren Ehefrauen und Töchter Kopftuch tragen, fordern seinen Rücktritt. [1] Religionsgelehrte und selbstberufene Islam-Experten [2] debattieren sogar darüber, ob Husni nun als ‹Ungläubiger› angesehen werden müsse oder nicht. Dieser Vorwurf ist nicht ganz ungefährlich, denn für islamistische Fanatiker wäre Husni dadurch [2] sozusagen ‹zum Abschuss freigegeben›. Gerüchte, wonach der Minis-
77 Stützend wirkt hier ein Argumentationsmuster, das Bildungs-Topos genannt werden könnte: Wenn (junge) Menschen gebildet sind, sind sie vor Fundamentalismus und religiöser Irreführung geschützt.
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ter bereits eine Verstärkung der Vorkehrungen für seine persönliche Sicherheit gefordert haben soll, wollte das Innenministerium allerdings bisher nicht bestätigen. Zwar bereitet die wachsende Frömmigkeit und die Intoleranz vieler Muslime in Ägypten auch einigen von Husnis Kabinettskollegen Unbehagen. [2a] Und so mancher Politiker stellt im privaten Kreis auch eine Verbindung zwischen diesem Phänomen und den Terroranschlägen der Islamisten auf Touristen her. [2b] Trotzdem ist kein Regierungsmitglied bereit, dem in Bedrängnis geratenen Minister den Rücken zu stärken. ‹Alle ducken sich weg, keiner traut sich›, meint Ikbal Barakat, Autorin des umstrittenen Buches ‹Das Kopftuch›. [3a] ‹Die Welle rollt und niemand will mit hineingezogen werden›, erklärte die Chefredakteurin der Frauenzeitschrift ‹Hawa›, [3a] die den ‹Mut› des Ministers öffentlich gelobt hat. ‹Ich selbst habe keine Angst› [3], sagt Barakat. Ihr Buch war vor einigen Tagen auf Druck des religiösen Establishments aus den meisten Buchhandlungen Ägyptens entfernt worden. Die Autorin, die selbst unverschleiert ist ‹und es auch immer bleiben wird›, [3a] versucht, in ihrem 2002 veröffentlichten Buch zu beweisen, dass die Frau gemäß dem Koran kein Kopftuch tragen muss. [3] Außerdem führt sie aus, dass die Verschleierung eine vorislamische Tradition ist, die zum Beispiel immer schon zum Lebensstil der Beduinen der arabischen Halbinsel gehörte, wo Kopfbedeckungen bis heute Männer und Frauen vor Sonne und Sandstürmen schützen. Genau wie Husni ist auch Barakat der Meinung, ‹dass der wahre Schleier einer Frau ihre innere Einstellung und daher unsichtbar ist›. Auch die einzige Frau am ägyptischen Verfassungsgericht, Richterin Tahani al-Gebali, teilt diese Auffassung. [3b] Beide Frauen gehören zur gleichen Generation wie die ebenfalls unverschleierte Präsidentengattin Suzanne Mubarak, die bei ihrer Bildungs-Initiative [3c] ‹Lesen für Alle› seit Jahren mit Kulturminister Husni zusammenarbeitet. ‹Die Jugendlichen sind leider ignorant⁷⁸›, erklärt Barakat und seufzt tief. ‹Sie wissen wenig über den Islam und beziehen ihre Informationen von Predigern, die nur das Handelsdiplom haben, und aus den von den Saudis finanzierten religiösen Fernsehsendern. [4]›» ((a-200), Kap. II.2)
Den oben erwähnten Verstärkungspartikeln ‘tiefschwarz’ (a-193) und ‘épaisse … noire’ (a-197) entspricht die verstärkende Betonung «tief verschleiert» in (a-201). Die Nuance der Leichtigkeit, die die Ganzkörperverschleierung (Burka) durch das Adjektiv ‘hellblau’ erhält, wird relativiert und um eine negative Konnotation erweitert. Auf das Erscheinungsbild des Mannes wird nicht eingegangen, nur «sie in hellblauer Burka tief verschleiert» wird relevant gesetzt. Auch (a-202) geht nicht auf Bekleidung oder Aussehen der erwähnten Männer, jedoch auf die Verschleierung der beiden Frauen ein. Dieser Relevantsetzung kommt eine mehrfache Bedeutung im Textganzen zu, deren Zusammenspiel funktional als
78 ‘Die Jugendlichen sind leider ignorant’ ist ein im Deutschen eher unüblicher Gebrauch von ignorant. Hierbei handelt es sich vermutlich um eine wörtliche Übersetzung aus dem Französischen oder Englischen (frz. ignorant = unwissend; engl. ignorant = ungebildet).
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Differenzierungsstrategie zu werten ist. Die Frauen werden als Musliminnen und passend zur Erwähnung der Einbürgerung als pas de souche markiert [1]. So erhalten sie den Expertenstatus, der sie befähigt, den Schutz-Topos abzulehnen. Auch [2a], Hinweis auf den Wunsch aktiver und selbstbestimmter Mitgestaltung, ist in diese argumentative Dynamik eingeschrieben.⁷⁹ «Gräber über Gräber. Sie liegen mitten unter den Lebenden in Kabul. Ein afghanisches Ehepaar, sie in hellblauer Burka tief verschleiert, blickt über teils zerstörte, teils verwitterte Grabsteine des muslimischen Friedhofs, der weiter wächst. Die Opfer hat niemand gezählt.» (a-201) «Quelques rangs plus loin, Karima et Rafika, deux mères de famille d’origine algérienne et marocaine, le visage encadré du voile islamique, [1] entament une discussion passionnée en attendant le discours de M. Sarkozy. Toutes deux se sont inscrites sur les listes électorales dès le décret de naturalisation en poche. [2a] […] ‹J’aurais bien voté pour elle [Ségolène Royale], mais le problème, c’est qu’elle fait des amalgames›, lui rétorque son amie. ‹Je l’ai entendue parler des ‘femmes battues, violées et voilées’› [Schutz-Topos], dit-elle, faisant réfléchir Karima, qui, du coup, ne sait plus très bien ce qu’elle fera le 22 avril. [2b]» (a-202)
Auch das Bild von der exotischen und verführerischen Orientalin⁸⁰ wird bisweilen mit dem Thema ‘Verschleierung’ verknüpft. In (a-203) klingt es lediglich an. In (a-5) wird es leitmotivisch eingesetzt. Die Erotisierung des verborgenen Frauenkörpers wird hier außerdem mit einer verborgenen politischen Dynamik und Vielfalt verknüpft – sous le voile befindet sich laut (a-5) in beiderlei Hinsicht mehr, als vom Betrachter erwartet wird. «Jordaniens Königin Rania zeigt gern ihr glänzendes Haar, und so soll es auch bleiben. Frauen zur Verschleierung zu zwingen sei gegen die ‹Prinzipien des Islam›, erklärte jetzt die Muslima.» (a-203) «La coquetterie des femmes, décolletés moulants et sourires ravageurs, trahissait tout ce qui se cache sous ce voile que l’atterrissage a fait tristement ressortir des sacs de voyage. […]
79 Cf. hierzu auch (a-213): «Sounaia, la Yéménite toujours voilée, a poussé la conscience scolaire jusqu’à se rendre au meeting de Jean-Marie Le Pen à Nice. Pour en revenir avec cette impression surprenante: ‹Le Pen, dit la jeune fille, approuvée du regard par plusieurs camarades, aime sa patrie, il veut la protéger, il a eu le courage de toujours rester sur cette opinion. Je le respecte. Et je le trouve plus clair que Sarkozy qui parle d’immigration choisie.› Quelques questions supplémentaires sont nécessaires pour comprendre qu’une forme de politesse et de patriotisme conduit à ne pas critiquer l’autre chez lui, quand il défend son identité, et à ne pas accepter, chez soi, les remarques occidentales sur ses propres valeurs». 80 Zu ‘Exotismus’ und 1001 Nacht (Mille et Une Nuits): Kapitel 3.
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Sous le voile, il n’y a pas que des décolletés en Iran. Il y a surtout une vie politique, toujours plus intense. […] Il y a une vie politique en Iran. Dans ce bar à café du centre-ville, le serveur porte cheveux longs et catogan. La clientèle, hommes et femmes, paraît aussi peu islamique que possible et même le voile, si léger, si tombant, n’est plus qu’un instrument de séduction.» (a-5)
Wie anhand der Markierung des Bartwuchses gezeigt und am Beispiel von (a-200) ausgeführt, kann die Verschleierung als Signal für Bedrohung und Fundamentalismus eingesetzt werden. Dies gilt für (a-26)⁸¹, dessen argumentative Dynamik sich auf einen Analogieschluss stützt: Da Terroristen die ‘robe islamique’ für bedrohliche Zwecke gebrauchen, muss auch andernorts die Gefahrenquelle Verschleierung verboten werden. Was unter der «robe islamique» genau zu verstehen ist, bleibt zunächst offen. Bezieht man den Analogieschluss mit ein, so ist von einer Strategie der Reduzierung auszugehen: Der Ganzkörperschleier wird zu dem islamischen Bekleidungsstück und Symbol für die Bedrohung der Gesellschaft. In (a-204) schließlich wird mit der Aussage «une radicalisation des jeunes musulmans» die Lesart der nachfolgenden Punkte vorgegeben: Die Einstellungen gegenüber der Scharia, hinsichtlich der Verschleierung und bezüglich Al-Kaida werden parallel gesetzt und gelten jeweils einzeln wie auch zusammengenommen als Indikatoren für eine Bedrohung der britischen Gesellschaft durch junge⁸² radikalisierte Muslime.⁸³ «Un arrêt de la Haute Cour de justice a donné raison, jeudi 22 février, à une école qui avait expulsé une élève musulmane de 12 ans qui exigeait le droit de porter le ‹niqab›, le voile intégral, pendant les cours. Par ailleurs, lors de la comparution devant la justice des accusés des attentats manqués du 21 juillet 2005 à Londres, la vidéo d’une caméra de surveillance a attesté que l’un d’eux s’était enfui, dissimulé dans une robe islamique.» (a-26) «Cette nouvelle cause de tension, que la police a tenté de désamorcer en distribuant hier 5 000 tracts imprimés en anglais et en plusieurs langues du sous-continent indien, survient alors qu’un sondage indique une radicalisation des jeunes musulmans: chez les 16 à 24 ans, il y a 37 % de partisans de la charia, alors qu’ils ne sont que 17 % chez les plus de 55 ans; 74 % des jeunes sont favorables au port du voile, contre seulement 28 % de leurs aînés; et 13 % admirent al-Qaida, contre 3 % chez leurs parents.» (a-204)
81 Cf. Kapitel 7.1. 82 Cf. im Zusammenhang mit der Verwendung von jung/jeune Kapitel 7.2.2. 83 Und ein daraus gezogener Schluss lautet in (a-204): «Le modèle ‹multiculturel à l’anglaise›, que même le Premier ministre Tony Blair a mis en doute, bat de l’aile».
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Bei der medialen Darstellung verschleierter Mädchen sieht Geisser (2003, 31) eine Entwicklung weg von der passiven Rolle des Opfers hin zur aktiven Entscheidung, das Kopftuch zu tragen oder einen Schleier anzulegen: «Le discours des médias a souvent intégré une dose de ‹réalisme sociologique›. Les jeunes filles voilées ne sont plus systématiquement présentées comme des victimes de l’autoritarisme des pères et/ou des frères (Le Nouvel Observateur de 1989). C’est désormais la thèse de la ‹servitude volontaire› qui prévaut dans les analyses médiatiques: les nouvelles générations de musulmanes françaises auraient choisi par elles-mêmes de porter le foulard, ce qui les rendrait d’autant plus dangereuses. Cet acte n’est plus la conséquence d’une coercition familiale mais le signe d’un engagement personnel, donc fanatique.»
Nimmt man die vom Einzeltext unabhängige, makrostrukturelle Ebene⁸⁴ in den Blick, dann zeichnet sich in dem, was Geisser darlegt, der Wechsel der argumentativen Stützregeln ab; die Tendenz geht in dieser Konsequenz weg vom Schutz-Topos hin zu Bedrohungs- und/oder Verteidigungs-Topos. Die argumentative Dynamik der Texte wird also nicht dahingehend verändert, dass der Schutz-Topos hinterfragt würde – die darin eingeforderte Emanzipation wurde ja ein Stück weit erreicht. Stattdessen wird ein Perspektivwechsel vorgenommen, der weg von der Assoziation Kopftuch gleich Unterdrückung (der Frau) hin zu Kopftuch gleich Bedrohung (der Gesellschaft, von uns) führt. Neben der Frage, durch welche Argumentationsmuster die Markierungen von Bart und Kopftuch bzw. Verschleierung gestützt werden, ist bedeutend, in welchem thematischen Kontext diese Merkmale relevant gesetzt werden. Geht es z.B. um die (gerichtliche) Auseinandersetzung, ob eine Lehrerin mit Kopftuch unterrichten darf oder nicht, ist das Kopftuch hier zentraler Bestandteil der argumentativen Dynamik. Anders zeigt sich die Lage hingegen, wenn Bart und Kopftuch als Siglen für implizite Argumentationsmuster verwendet werden. Beide Merkmale sind, wie bereits ausgeführt, semantisch derart aufgeladen, konkret und abstrakt zugleich, dass sie als Ersatz für differenzierendes Berichterstatten einsetzbar sind. Hier überlagert dann das als typisch Angenommene den konkreten Fall. So wird die Wahrnehmung eines homogenen Blocks Islam bestätigt und bestärkt, ein und derselbe Islam, dem alle Muslime in gleicher Weise und zur gleichen Zeit angehören. Die nachfolgende Anekdote führt dem (nicht muslimischen) Betrachter diese – vielfach als völlig natürlich verstandene – Sichtweise eindrücklich vor Augen, indem er den dahinter stehenden Mechanismus in einen anderen Kontext überführt:
84 Zur Illustration der Ebenen: cf. Kapitel 5.2.
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«A New York, récemment [Oktober, nach den Attentaten vom 11. September 2001], un journaliste demandait a Mohammed Ali, le sportif du siècle: Comment vous sentez-vous a l’idée que vous partagez avec les suspects (arrêtés par le FBI) la même foi? L’unique, vieux boxeur atteint de la maladie d’Alzheimer, n’a rien perdu de son punch verbal. Et vous, rétorqua-t-il, comment vous sentez-vous a l’idée que Hitler partageait la vôtre?» (Le Monde 08.10.2001)
7.2.8 Fremd und doch nicht fremd – Deutschtürken und franco-maghrébins 7.2.8.1 Deutschtürken Den aus zwei Nationalitäten zusammengesetzten Ausdrücken Deutschtürke/ Deutschtürkin/deutschtürkisch und ihrer Verwendung könnte eine eigene Arbeit gewidmet werden. Dies wird bereits am Interpretationsspielraum sichtbar, der sich beim Versuch einer einheitlichen Definition zeigt. Dieser Spielraum gilt generell für Komposita ohne explizites Relationselement, also ‘nominale Komponente + nominale Komponente’: Der Preis für die Kompaktheit ist die Interpretierbarkeit. Ist Haustür, um ein unbelastetes Beispiel zu wählen, die Tür des Hauses, die Tür zum Haus, eine Tür, die als Haus dient (wie Hausboot), eine Tür in Hausform? Zu dieser begrifflichen Grauzone bemerkt Kuntzsch von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Der Deutschtürke ist in der Überzahl (FOCUS Online 10.09.2007): «Zum Grundwort ‹Türke› kommt das Bestimmungswort ‹deutsch›, das den Türken näher bestimmt. An dem Punkt setzt die Gesellschaft – oder die Politik – ein: Das ist ein Türke, der die Eigenschaft deutsch trägt. Warum er deutsch [bzw. was an ihm deutsch, D.W.] ist, kann die Sprache nicht transportieren.»
Ein Deutschtürke wäre danach also zuallererst einmal ein Türke, dem aus verschiedenen Gründen das Attribut deutsch beigefügt wird. Was das aber nun genau bedeutet bzw. welchen Personenkreis dies konkret betrifft, ist mit Blick auf die entsprechenden Pressetexte aus dem Jahr 2007 weniger klar, als dies möglicherweise zunächst scheinen mag. Der vermeintlichen Sicherheit, mit der die Bezeichnung Deutschtürke dort verwendet wird, läuft die Verschiedenheit der Situation bzw. des Status der Personen, auf die sie angewandt wird, zuwider. Der fehlende Bindestrich weist grafisch darauf hin, dass hier auch von einer neuen homogenen Einheit die Rede ist. Diese besteht – linguistisch betrachtet – entweder (1) aus einem Grundwort und dessen Spezifizierung (Nomen + Adjektiv)⁸⁵,
85 Adjektiv + Nomen > Nomen: deutsch + Türke > Deutschtürke.
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wie von Kuntzsch erwähnt, oder aber (2) aus zwei Nomen (Nomen + Nomen)⁸⁶. Das zusammengesetzte Nomen, d.h. die Verbindung zweier gleichwertiger Teile, hier zweier Nationalitäten, wäre im Fall der doppelten Staatsangehörigkeit⁸⁷ denkbar. Diese scheint in der Berichterstattung allerdings keine oder lediglich eine marginale Rolle zu spielen und wird daher nachfolgend nicht weiter thematisiert. Handelt es sich bei Deutschtürken nun um Türken, die in Deutschland leben – ein relevantes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit wäre hier Murat Kurnaz – ausgedrückt durch den Kompositionstyp (1) Adjektiv + Nomen? Oder sind hier türkischstämmige Deutsche wie Fathi Akin⁸⁸ und Hatun Sürücü⁸⁹ gemeint? Dies
86 Nomen + Nomen > Nomen: Deutsch (als Verkürzung der Form Deutscher) + Türke > Deutschtürke. 87 Grundsätzlich besteht in Deutschland für Nicht-EU-Bürger (wobei Staatsangehörige der Schweiz wie EU-Bürger behandelt werden) kein Anspruch auf Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit im Wege der Einbürgerung, wenn die bestehende Staatsangehörigkeit nicht aufgegeben wird (cf. § 10 Abs. 1 Nr. 4 StAG). Allerdings gibt es verschiedene Ausnahmeregelungen, unter anderem wird auf die Erfüllung des Erfordernisses der Aufgabe der bestehenden Staatsangehörigkeit dann verzichtet, wenn nach dem jeweils einschlägigen ausländischen Recht eine Entlassung aus der Staatsangehörigkeit nicht vorgesehen ist (cf. insgesamt hierzu § 12 Abs. 1 StAG). – Für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bei Geburt gilt Folgendes: In erster Linie findet das sogenannte Abstammungsprinzip (ius sanguinis) Anwendung, d.h. ein Kind erhält mit Geburt automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Kind im Inland geboren wurde. In bestimmten Fällen bedarf es bei Geburt im Ausland aber der Anzeige bei der zuständigen deutschen Vertretung (cf. § 4 Abs. 4 StAG). Mehrstaatigkeit kann hier entstehen, wenn nur ein Elternteil (ausschließlich) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, das Recht des Staates, dessen Staatsbürgerschaft der andere Elternteil (auch) besitzt, ebenfalls dem Abstammungsprinzip folgt und dem Kind deshalb mit der Geburt auch die Staatsangehörigkeit des nicht (ausschließlich) deutschen Elternteils zuerkannt wird. Das Kind muss sich in diesem Fall nicht für eine Staatsangehörigkeit entscheiden, sondern behält nach deutschem Recht auf Dauer die deutsche Staatangehörigkeit neben der anderen Staatsangehörigkeit (Umkehrschluss aus §§ 25 Abs. 1, 19 Abs. 1 StAG). Für im Inland geborene Kinder nicht deutscher Eltern sieht das Staatsangehörigkeitsgesetz ein begrenztes Geburtsortsprinzip (ius soli) vor. Voraussetzung für den Erwerb der Staatangehörigkeit ist dabei, dass sich mindestens ein Elternteil seit mindestens acht Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhält und über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verfügt (cf. § 4 Abs. 3 StAG). Allerdings verliert der Träger die auf diesem Wege erlangte deutsche Staatsangehörigkeit, wenn er sich nach Eintritt der Volljährigkeit und bis zur Vollendung des 23. Lebensjahrs nicht explizit für die deutsche und gegen die ausländische Staatsangehörigkeit entscheidet (cf. § 29 Abs. 3 StAG, wenngleich auch hier Ausnahmen möglich sind). 88 Der Deutschtürke Fathi Akin (a-80) ist mit der deutsch-mexikanischen Monique Akin (a-81) verheiratet – also mit einer Deutsch-Mexikanerin oder einer Deutschmexikanerin? 89 (a-69): Hatun Sürücü war eine «Frau türkisch-kurdischer Herkunft mit deutschem Pass».
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wiederum wäre eine Umkehrung der Komponenten des ersten Kompositionstyps und müsste konsequenterweise zum Resultat Türkischdeutscher führen.⁹⁰ Und was ist des Weiteren unter der als Deutschtürken der zweiten bis vierten Generation bezeichneten Gruppe genau zu verstehen?⁹¹ In Duden und WAHRIG (Stand Mai 2009) ist ‘Deutschtürke’ nicht verzeichnet.⁹² Dass eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff stattfindet, zeigt ein Blick auf Wikipedia-Einträge. Noch im April 2009 wird, wer den Suchbegriff ‘Deutschtürke’ eingibt, zum Artikel Türken in Deutschland umgeleitet, wo u.a. nachzulesen ist: «Türken in Deutschland ist in offiziellen Statistiken die Bezeichnung für Staatsbürger der Türkei, die in Deutschland leben. Als ‹Türken› werden darüber hinaus umgangssprachlich auch solche Menschen bezeichnet, die ihre türkische Staatsbürgerschaft aufgegeben und die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben [Hervorhebung D.W.].»⁹³
Im August 2010 hingegen ist der Eintrag Türken in Deutschland verschwunden, und stattdessen besteht eine automatische Weiterleitung zum Eintrag Türkeistämmige in Deutschland. Dieser bietet neben einer Auffächerung bzw. einer Unterscheidung der Begriffe Türken in Deutschland – Türkeistämmige in Deutschland – Deutschtürken auch eine (eindeutige) Definition von ‘Deutschtürken’ an: «Türkeistämmige in Deutschland sind Menschen mit deutscher oder türkischer Staatsbürgerschaft, die in Deutschland leben und die selbst oder deren Vorfahren früher dauer-
90 Bei einer Datenbankabfrage (LexisNexis und Factiva) mit dem Suchwort türkischdeutsch* (01.01.–31.12.2009) fanden sich lediglich 24 Treffer: 1 x taz; 2 x STUTTGARTER ZEITUNG (Hierbei handelt es sich um die Dublette «Drei Lesungen zu ‹Deutsch geht gut›», Kreis Ludwigsburg, 17.11.2007 und Region Stuttgart, 17.11.2007.); 21 x RHEINISCHE POST (Die vergleichsweise hohe Trefferzahl wirkt insofern verzerrend, da es sich vom 9.–29.11.2007 um die folgende fast täglich erscheinende Ankündigung handelt: «Zur Geschichte türkischdeutscher Literatur, Literatur aus Deutschlands Nischen, Internationales Zentrum, Flachsmarkt 15.»). 91 (a-75): «Atilla Çiftçi und Burhan Gözüakça, Deutschtürken der zweiten Generation, gründeten ihre Fullservice-Agentur 1998 in Berlin.»; (a-76): «Und auch Deutschtürken der Enkel-Generation, die ihre Muttersprache besser beherrschen wollen, besuchen derzeit Celebis Wohnzimmer-Kurs.»; (a-77): «Dass die Deutschtürken der dritten und vierten Generation nur sehr ‹sperrig› Türkisch sprächen. Und dass er hoffe, das nächste Gespräch auf Deutsch führen zu können». 92 Der Eintrag Deutschamerikaner ist bei beiden Wörterbüchern mit der Erläuterung «Amerikaner dt. Abstammung» (Duden) bzw. «US-Amerikaner dt. Abstammung» (WAHRIG) beispielsweise verzeichnet. 93 Türken in Deutschland, http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscht%C3%BCrken, abgerufen am 02.04.2009.
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haft in der Türkei lebten. In offiziellen Statistiken ist der Begriff Türken in Deutschland die Bezeichnung für Staatsbürger der Türkei, die in Deutschland leben. Als ‹Türken› werden darüber hinaus umgangssprachlich auch solche Menschen bezeichnet, die ihre türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben und die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben (Deutschtürken). [Hervorhebung im Original; die Unterstriche weisen auf Hyperlinks hin]»⁹⁴
Ergänzend zur Semantik des Ausdrucks ‘Türke’ sei erwähnt, dass dieser nicht nur eine Nationalität bezeichnet, welche im Falle der ‘Türkeitürken’, d.h. in der Türkei lebenden Türken, anzuwenden ist, sondern damit auch die ethnische Gruppe der Türken gemeint sein kann.⁹⁵ Der im April 2009 noch nicht vorhandene Eintrag Deutsch-Türken⁹⁶ weist auf eben diesen Aspekt hin und gibt außerdem dieselbe Definition an wie der bereits zitierte Artikel Türkeistämmige in Deutschland: «Deutsch-Türken oder Deutschtürken ist ein umgangssprachlicher Begriff für deutsche Staatsbürger, die oder deren Vorfahren ihren Wohnsitz in der Türkei hatten. Oft sind allerdings mit dem Begriff Deutsch-Türken alle ethnischen Türken gemeint, die in Deutschland leben, und zwar unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Der Einbezug von Kurden und anderen Angehörigen nicht-türkischer Ethnien, die aus der Türkei zugewandert sind, in den Begriff Deutsch-Türken erfolgt entweder in Unkenntnis der ethnischen Identität der betreffenden (ehemaligen) türkischen Staatsbürger oder dann, wenn der Wortbestandteil ‹-türke› allein auf die (ehemalige) Staatsangehörigkeit bezogen wird, wie etwa in einer Umfrage der Wochenzeitung ‹Die Zeit› unter Deutschtürken. [Hervorhebung im Original; die Unterstriche weisen auf Hyperlinks hin]»⁹⁷
In beiden zitierten Passagen wird zwischen einem offiziellen und einem umgangssprachlichen Gebrauch unterschieden. Freilich können die mit der umgangssprachlichen Benennung verbundenen Vorstellungen an dieser Stelle nicht näher untersucht werden. Es wird dennoch deutlich, dass die intuitive Definition des Deutschen mitnichten der rechtlichen entspricht. Die deutsche Staatsangehö-
94 Türkeistämmige in Deutschland, http://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%BCrkeist%C3%A4mmige_in_Deutschland, abgerufen am 19.08.2010. 95 Die (ethnischen) Türken sind beispielsweise in Anatolien, auf Zypern sowie auf dem Balkan bzw. in Südosteuropa anzutreffen. Diese ethnische Komponente dürfte im Sprachgebrauch der Pressetexte eine untergeordnete Rolle spielen, könnte aber bei der Selbstbezeichnung als Deutschtürken zum Tragen kommen. – Zu den Türken bzw. der türkischen Gesellschaft: Ambros et al. (Brill online 2010); Hermann (2008). 96 Die älteste Version des Eintrags Deutsch-Türken in der deutschsprachigen Version von Wikipedia stammt vom 22. Dezember 2009, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Deutsch-T%C3%BCrken&oldid=68298195. 97 Deutsch-Türken, http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscht%C3%BCrken, abgerufen am 19.08.2010.
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rigkeit allein scheint in bestimmten Zusammenhängen also nicht auszureichen, um schlicht als Deutscher wahrgenommen bzw. bezeichnet zu werden⁹⁸ – so wie eine ungefähre Ahnung um die Bedeutung der franco-Komposita ausreichen kann, also nicht die Kenntnis des genauen rechtlichen Status notwendig ist, um eine argumentativ relevante Markierung zu setzen (cf. Kap. 7.2.8.2). Im Licht der Pressetexte betrachtet wird Deutschtürke aus der Außenperspektive und in der Innensicht als Selbst- bzw. Gruppenbezeichnung verwendet. Allein auf der Korpusgrundlage kann die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Polen nicht geklärt werden (a-74).⁹⁹ Ebenso wenig lassen sich, durch die mediale Brille betrachtet, gesicherte Aussagen über den alltäglichen Gebrauch jenseits der Pressetexte treffen.¹⁰⁰ Ein medialer Konstruktionscharakter lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslage der Verwendung von Deutschtürke vermuten, die mit der Konstituierung einer homogenen Gruppe verknüpft ist.¹⁰¹
98 (a-89): «Aycan Demirel kennt die Szene wie kaum ein anderer. Der gebürtige Türke, der seit zwei Jahren einen deutschen Pass besitzt, ist einer der führenden Köpfe der ‹Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus›. […] Zudem hat der Deutschtürke festgestellt, dass seit dem Geschehen vom 11. September 2001 viele islamische Familien zusätzlich politisiert und radikalisiert sind». 99 (a-74): «Demirl A. beschrieb sich als jungen Deutschtürken» > Demirl A.: *Ich bin ein junger Deutschtürke. Bei der hier gezeigten Umwandlung von indirekter in direkte Rede drängt sich die Frage nach dem Konstruktionscharakter derartiger Äußerungen auf: Würde ein Jugendlicher/junger Erwachsener sich wirklich als ‘junger Deutschtürke’ bezeichnen? Was davon ist Fremd-, was davon ist Eigenbeschreibung? 100 Ein Vergleich mit türkischen Zeitungen wäre hier sicherlich lohnend: So würden die türkischstämmigen in Deutschland lebenden Personen meist als Türken bezeichnet, ganz gleich, ob sie deutsche oder türkische Staatsbürger seien. Und der in diesem Zusammenhang auch verwendete Begriff Almanci – am ehesten mit ‘Deutschländer’ zu übersetzen – betrifft laut Senol lediglich die lokale Komponente ‘in Deutschland lebend’, ‘aus Deutschland kommend’. Auch dies eine Konstruktion, die der Realität nicht gerecht wird, so Senol in einem Gespräch (16.04.09). 101 Aycan Demirel ist aus der Türkei nach Deutschland eingewandert und von Beruf Sozialarbeiter. Ekrem Senol, Journalist, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Beide sind Deutsche. Beide würden den Begriff ‘Deutschtürke’ weder verwenden noch sich dadurch adäquat beschrieben fühlen. Laut Dirk Halm, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Türkeistudien (ZfT), hat der Begriff ‘Deutschtürke’ innerhalb der «Community» keine Relevanz (Telefonat vom 29.04.2009). – In ihrer Stellungnahme weist Jasmin Meier, Germanistin, auf verschiedene Aspekte hin, die sie dazu veranlassen, die Bezeichnung ‘Deutschtürkin’ für sich abzulehnen: «Ich glaube, der Begriff ‹Deutschtürke› wurde von Menschen geprägt, die Menschen wie mir mehr Toleranz entgegenbringen wollten. Das ist missglückt. Ich fühle mich dadurch stigmatisiert und das liegt nicht zuletzt an negativen Erlebnissen, die ich mit dieser Benennung verbinde und an Momenten, in denen ich wegen meiner Herkunft diskriminiert wurde: So wurde mir von einem Lehrer nahe gelegt, ich müsse mich entscheiden, was ich sein
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Art und Tragweite müssten jedoch anhand empirischer Studien untersucht werden.¹⁰² Abgekoppelt von einem konkreten Kontext weist die Bezeichnung Deutschtürke zunächst einmal keine Verbindung mit dem Islam auf: Es handelt sich, wie bereits erwähnt, um ein Kompositum aus zwei Nationalitätsbezeichnungen; des Weiteren ist türkisch nicht mit muslimisch gleichzusetzen.¹⁰³ Die Verwendung in den Pressetexten zeigt jedoch, dass die Nähe der semantischen Felder durchaus gegeben ist und die Grenze zwischen Nationalität und Religionszugehörigkeit teilweise verschwimmt, türkisch und muslimisch quasi synonym verwendet werden (a-70). Die Aussage des in Ankara geborenen Schriftstellers Zafer Senocak
wolle; ich könne nicht zugleich Türkin und Deutsche sein oder von einer Klassenkameradin, deren Eltern beide Türken sind, in einem Streit entgegnet, das könne ich nicht verstehen, ich würde ja nicht dazu gehören – und sie meinte damit, dass meine Mutter zwar Türkin, mein Vater aber Deutscher sei. Ich fühlte mich ausgegrenzt. Der Begriff ‹Deutschtürkin› betont meine Andersartigkeit und verstärkt bei mir den Eindruck, dass es offensichtlich in Deutschland keine Wertschätzung gegenüber Menschen gibt, die anders sind. Auch der deutsche Staat hat daran Anteil, indem er Kindern mit Migrationshintergrund vorschreibt, sich im Alter von 18 Jahren für eine Staatsbürgerschaft und damit eine Identität zu entscheiden. Aber was weiß man schon mit 18 Jahren? Erst als ich im Erwachsenalter ein Jahr in Kanada, einem typischen Einwanderungsland, in dem viele Menschen mehrere Staatsbürgerschaften besitzen, erlebt habe, dass meine Herkunft andere Menschen interessiert, sie neugierig macht, habe ich begriffen, dass eine türkische Mutter und einen deutschen Vater zu haben ein Geschenk ist. Denn es erinnert mich daran, dass ich es mir nicht leisten kann, andere aufgrund ihrer Herkunft zu diskriminieren. Wenn ich also gefragt werde, ob ich mich durch den Begriff ‹Deutschtürkin› adäquat beschrieben fühle: Nein. Denn ich bin ein ganzer Mensch und kein halber. Ich bin ebenso ein vielschichtiger, komplexer Mensch, so wie alle anderen um mich herum auch. Ich bin die Gesamtheit aller Teile, aus denen ich zusammengesetzt wurde. Das ist für Menschen, die keinen Migrationshintergrund aufweisen, sicher nicht leicht zu verstehen. Aber mich deshalb zu diskriminieren und mit einem missglückten Kunstwort meine Andersartigkeit hervorzuheben, ist unfair. Ich stamme aus einer gemischten Familie, ich wurde in Deutschland geboren und bin hier auch aufgewachsen. Ich habe eine Universitätsausbildung abgeschlossen und engagiere mich sozial. Wenn Wahlen stattfinden, dann wähle ich und jedes Jahr zahle ich meine Steuern. Mein Einkommen erarbeite ich mir hart. Da finde ich, ist es nicht zu viel verlangt, wenn ich auch als vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft angesehen werden will. Denn ich fühle mich ja auch verantwortlich. Nur eben für Deutschland UND die Türkei. Meine Identität wurde mir in die Wiege gelegt. So wie allen anderen auch.» Cf. zu diesem Thema: Terkessidis (2004). 102 Auch sprachökonomische Aspekte müssten dabei berücksichtigt werden: Die Verwendung von ‘Deutschtürke’ könnte auch dem Bestreben geschuldet sein, längere Umschreibungen zu vermeiden. 103 Es gibt neben den muslimischen auch jüdische und christliche Volksgruppen der Türken.
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deutet – wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen – ebenfalls in diese Richtung und weist auf die Vielschichtigkeit dieses Themas hin: «In Deutschland ‹wird jeder Türke unvermeidlich zum Muslim›, sagte der seit 1970 in der Bundesrepublik lebende Autor im Deutschlandradio Kultur. ‹Als Türke kann man sich in Deutschland nämlich nicht integrieren, als Muslim schon›. Dies sei kein gutes Zeichen für ‹eine Bürgergesellschaft›.» (a-51)
Senocak weist indirekt darauf hin, dass Türke und Muslim keine differenzlose, homogene Einheit darstellen, und problematisiert mit seiner These zugleich die Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber einer multikulturellen Gesellschaft.¹⁰⁴ Im Wortkompositum Deutschtürken ist gleich in mehrfacher Hinsicht die Möglichkeit zur Markierung angelegt, mit deren Hilfe Topoi anzitiert bzw. auf sprachökonomische Weise zusätzliche Informationen transportiert werden können. Diese Informationen können positiv wie negativ (be)wertend sein. Der Prozess der Aktivierung von Topoi gilt beispielsweise bei der unten gezeigten assoziativen oder synonymen Verknüpfung von türkisch und muslimisch. Ganz allgemein haben sich bei der Textanalyse unterschiedliche Grundkategorien gezeigt, welche getrennt oder ineinander verschränkt auftreten und, darauf weisen die darauffolgenden Beispiele hin, noch weiter ausdifferenziert werden können. Die Relevantsetzung als Deutschtürken (1) markiert Personen als ‘nicht genuin deutsch’ – wenn es sich bei den so Bezeichneten um deutsche Staatsangehörige handelt. (2) impliziert die Annahme, dass diese Personen von der Mehrheitsgesellschaft abweichende (i.d.R. als religiös bedingt betrachtete) Eigenschaften besitzen.¹⁰⁵ (3) setzt die Existenz einer abgrenzbaren, homogenen Gruppe voraus.
104 In den letzten Jahren ist, so Halm (29.04.2009, in einem Telefonat mit der Verfasserin), bei Umfragen unter der deutschen Bevölkerung eine zunehmende Ablehnung der Multikulturalität zu beobachten. – Auskunft über Meinungstendenzen in der Bevölkerung, gegebenenfalls über eine veränderte Haltung hinsichtlich verschiedener Themen gibt die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS), eine «langfristig angelegte, multithematische Umfrageserie zu Einstellungen, Verhaltensweisen und Sozialstruktur der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Erhebungen werden seit 1980 in zweijährigem Abstand durchgeführt.» (http://www.gesis.org/dienstleistungen/daten/umfragedaten/allbus/allgemeineinformationen, abgerufen am 09.04.2010. 105 Diese Verknüpfung funktioniert in verschiedenen Richtungen: negativ mit Themen wie ‘Terror’ und ‘Ehrenmord’ oder positiv mit Themen wie ‘kultureller Mehrwert’ und ‘individuelles Wissen’.
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Daran anknüpfend eröffnet sich ein Feld von Assoziationsketten und Argumentationsmustern, die die Perspektivierung der Texte mit beeinflussen. Der Prozess der Relevantsetzung ist bei der Berichterstattung über Atilla Selek zu beobachten. Dem deutschen Staatsangehörigen werden «Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung» und «Vorbereitung eines Explosionsverbrechens» vorgeworfen.¹⁰⁶ Die Markierung wird beim Vergleich eines deutschen und französischen Textauszuges sichtbar – beide stammen vom selben Presseorgan: «Laut Anklage wollten die zum Islam konvertierten Deutschen Fritz Gelowicz und Daniel Schneider, der Deutsch-Türke Atilla Selek und der Türke Adem Yilmaz mit Sprengstoffanschlägen möglichst viele US-amerikanische Bürger in Deutschland töten.» (a-93) «Les quatre hommes – trois Allemands et un Turc âgés de 23 à 30 ans – sont accusés d’avoir préparé des attentats à la bombe contre des intérêts militaires américains et des citoyens américains en Allemagne.» (a-94)
Dieses Beispiel, aufgrund seiner Deutlichkeit hier vorangestellt,¹⁰⁷ lässt vermuten, dass das oben verwendete Bindestrich-Kompositum Deutsch-Türke (zumin-
106 Aus der Pressemitteilung 31/2008 der Bundesanwaltschaft (17.12.2008): «Die Bundesanwaltschaft hat am 15. Dezember 2008 vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf Anklage gegen den 23 Jahre alten deutschen Staatsangehörigen Atilla S. [Hervorhebung D.W.] wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB) und Vorbereitung eines Explosionsverbrechens (§ 310 Abs. 1 Nr. 2 StGB) erhoben.» Dass bei Atilla S. nicht von einer doppelten Staatsangehörigkeit auszugehen sei, wurde mir bei einem Telefonat (27.04.2009) mit der Pressestelle der Bundesanwaltschaft bestätigt. (http:// www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?themenid=10&newsid=324, abgerufen am 19.08.2010). 107 Ergänzend einige Formulierungsvarianten: (a-95): «Die Bundesanwaltschaft wirft den zum Islam konvertierten Deutschen Fritz Gelowicz und Daniel Schneider sowie dem Deutsch-Türken Atilla Selek und dem Türken Adem Yilmaz vor, mit dem Ziel, möglichst viele Personen zu töten, verheerende Bombenanschläge auf Einrichtungen der amerikanischen Armee oder auf vor allem von Amerikanern besuchte Orte in Deutschland geplant zu haben.»; (a-96): «Demnach haben die beiden zum Islam konvertierten Deutschen Fritz Martin Gelowicz und Daniel Martin Schneider, sowie der Deutsch-Türke Atilla Selek und der Türke Adem Yilmaz gemeinschaftlich schwere Bombenanschläge vorbereitet, um vor allem US-Bürger zu töten.»; (a-97): «Le troisième suspect, Attila Selek, 24 ans, est d’origine turque mais possède la nationalité allemande tandis que le dernier, Adem Yilmaz, est un ressortissant turc.»; (a-98): «Deux Allemands convertis à l’islam et leurs deux comparses d’origine turque préparaient des attentats au moins aussi dévastateurs que ceux de Londres en 2005 et de Madrid en 2004. COIFFÉS de leur calotte blanche, les quatre jeunes barbus – trois Allemands et un Turc – étaient animés par la même ambition morbide: faire au moins autant de victimes
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dest teilweise) auf eine mit dem Kompositum Deutschtürke strukturell identische Weise verwendet wird. Ob es sich um rein orthografische Varianten handelt, deren Gebrauch also synonym ist, oder aber ein Unterschied nicht nur auf der grafischen Ebene besteht, müsste durch eine weitere Untersuchung geklärt werden. Der Überschaubarkeit und besseren Abgrenzbarkeit halber wurden im vorliegenden Fall nur die Komposita ohne Bindestrich berücksichtigt. Die nachfolgenden Textauszüge zeigen deren Funktionen und illustrieren das Spektrum der Korpustexte, in dem Deutschtürke zu finden ist: «Helfen in Hatun Sürücüs Namen Vor zwei Jahren wurde die Deutschtürkin vom Bruder ermordet. Ein neuer Verein will bedrohten Musliminnen zur Seite stehen» (a-70) «Der verurteilte Mörder der Deutschtürkin Hatun Sürücü ist gestern in einem anderen Prozess von einem Jugendgericht wegen Falschaussage verurteilt worden.» (a-71) «Fritz G. lebte unauffällig mit seiner Frau, einer Deutschtürkin, in einer 45-qm-Wohnung im bürgerlichen Ulmer Stadtteil Böfingen.» (a-72) «Der Deutschtürke ist selbst ‹Made in Germany›. In Deutschland geboren, deutsche Schule, deutsches Studium und deutsche Frauen hat er genossen. Man kann also sagen: Integration geglückt!» (a-73)¹⁰⁸ «Demirel A. beschrieb sich als jungen Deutschtürken,¹⁰⁹ der Probleme in der Schule hatte und zu seinem Vater keinen richtigen Draht fand.» (a-74) «Sie spielt in New Yorker Clubs, sie hat schon jetzt, bevor es losgeht, 2000 Myspace-Freunde, sie ist Deutschtürkin, Politikstudentin, sie ist beinahe zu interessant für den Deutschpop.» (a-78) «Er, der heimatlose Deutschtürke, halluziniert sie sich im Kopftuch Linsensuppe kochend, sie sieht sich im Minirock Hanteln stemmen.» (a-79)¹¹⁰
que lors des attentats de Madrid et de Londres. […] Les deux Allemands convertis à l’islam, Fritz Gelowicz, 29 ans, et Daniel Schneider, 23 ans, l’Allemand d’origine turque, Attila Selek, 24 ans, et le Turc, Adem Yilmaz, 30 ans, encourent 15 ans de prison.»; Eher ungewöhnlich die folgende Strategie der Reduzierung – der Türke Adem Yilmaz wird unter die Gruppe der «deutschen Jungs» subsumiert – gekoppelt mit BILD-typischen Augenblickskomposita (cf. Kapitel 4.3 und spezifisch für die BILD den BILDblog). Im Artikel kommen keine weiteren Hinweise auf die Staatsangehörigkeit der vier Angeklagten vor: (a-99): «Sauerland Bomber. So wurden aus deutschen Jungs Islam-Terroristen». 108 Dieses Zitat stammt aus einem Artikel, der als ‘Vorankündigung’ eingestuft werden kann. Der Text ist informationsbetont, doch mit eindeutigem Werbecharakter als weiterer Handlungsfunktion. 109 Cf. im Zusammenhang mit der Verwendung von jung/jeune das Kapitel 7.2.2. 110 Feuilleton: Vorankündigung des Theaterstücks Eine Migrantenhochzeit der türkischen Autorin Müserref Öztürk Çetindogan.
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«‹Auf was trinken wir?›, fragt Nejat, ein junger deutsch-türkischer Germanistikprofessor, Susanne Staub beim Abendessen in Istanbul. […] ‹Auf der anderen Seite›, der neue Film des Hamburger Deutschtürken Fatih Akin (‹Gegen die Wand›), ist der zweite Teil einer ‹Liebe, Tod und Teufel›-Trilogie.»¹¹¹ (a-80) «Wie die Deutschtürkin Gül Keskinler als Integrationsbeauftragte des DFB für den Abbau von Rassismus und Antisemitismus sorgen will» (a-88) «Dabei sind die Probleme zwischen den beiden Generationen der Deutschtürken oft hausgemacht: ‹Türkische Eltern messen der Erziehung im Kleinkind- und Kindesalter nicht so große Bedeutung bei. Sie gehen davon aus, dass sich ihre Kinder in dieser Zeit ohne ihr Zutun positiv entwickeln.›» (a-90) «Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie der TGD-Vorsitzende die Menschen sieht, die er vertritt, muss ihn nur nach den jungen Deutschtürken fragen. ‹Wenn das Zuwanderungsgesetz in der geplanten Form durchkommt›, so Kolat gegenüber der WELT, ‹dann habe ich die nicht mehr unter Kontrolle. Die fühlen sich dann so zurückgewiesen, da kann ich dann auch für nichts mehr garantieren.›» (a-91) «Mit 16 legte sie ein Spitzen-Abitur hin, mit 20 macht sie nun ihr Jura-Staatsexamen. Die Deutschtürkin Bilge Buz ist ehrgeizig, erfolgreich und idealistisch.» (a-92) «Eine bekennende Deutschtürkin der zweiten Generation, kombiniert sie Images exotischer Weiblichkeit, Ghetto-Romantik und einen ausgeprägten Hang zum Exhibitionismus zum gut vermarktbaren Erscheinungsbild.» (a-100)¹¹²
Durch die bestehende semantische Nähe oder Gleichsetzung von türkisch und muslimisch kann, wie bereits erwähnt, auf ökonomische Weise die Verknüpfung zur Topos-Ebene¹¹³ hergestellt werden: – Im Fall von Hatun Sürücü genügt die Bezeichnung als Deutschtürkin, um den Kontext des sogenannten Ehrenmordes¹¹⁴ und damit verbunden den Deviations- oder den Schutz-Topos zu evozieren (a-71). – Fritz G. ist Mitglied der sogenannten Sauerland-Gruppe, was aber nicht die Relevantsetzung seiner Frau als Deutschtürkin notwendig macht (a-72).
111 Fatih Akin ist ein Deutschtürke nicht kein Deutsch-Türke, der in der Filmbeschreibung erwähnte Germanistikprofessor Nejat wiederum ist deutsch-türkisch und nicht etwa deutschtürkisch. 112 Dieses Zitat stammt aus einer Kultur-Nachricht. 113 Zu den im Zusammenhang mit dem Islam herausgearbeiteten Topoi und deren Funktionsweise: Kapitel 7. 114 Die unten dargestellte Assoziationskette funktioniert auch in umgekehrter Reihenfolge: türkisch → muslimisch → Ehrenmord. Es ist anzunehmen, dass hier intuitiv die Religion als Erklärungsmuster herangezogen wird und kulturelle bzw. traditionelle Hintergründe weniger starke Beachtung finden. – Ein Hinweis auf eine mediale Fokussierung hinsichtlich des sogenannten Ehrenmordes im Vergleich zum sogenannten Familiendrama: MiGAZIN (23.02.2009).
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Bei Gül Keskinler reicht die Zuschreibung als Deutschtürkin aus, um ihr den Status als Expertin zu verleihen (a-88): Durch den Satzbau wird hier nicht das Hauptthema des Textes – Bemühen um interkulturellen Dialog – relevant gesetzt, sondern das Attribut ‘Deutschtürkin’ mit den Themen [Wissen um] «Rassismus und Antisemitismus» verknüpft. Bei der Reflexion über Erziehungsmethoden in (a-90) werden Deutschtürken und Türken synonym verwendet und der Deviations-Topos als argumentative Stützregel für das ausgewiesene Anders-Sein herangezogen. Im Zusammenhang mit einem Bericht über den Boykott des Integrationsgipfels durch einige türkische Verbände (a-91) reicht die Referenz auf junge Deutschtürken aus, um den Deviations- und den Bedrohungs-Topos nachvollziehbar zu machen.¹¹⁵
Anhand der Artikel zum ‘Fall Kurnaz’ lässt sich schließlich ein ganzes Begriffskontinuum zusammenstellen, das die im Wikipedia-Zitat anklingende ‘Begriffsverwirrung’ abbildet: – So wird der Fall «des türkischstämmigen Bremers Murat Kurnaz» (a-83) erörtert – Kurnaz ist aber kein deutscher, wie es diese Formulierung nahelegt, sondern ein in Deutschland geborener türkischer Staatsangehöriger. – Die «Einreise des gebürtigen Bremers» sei mit allen Mitteln verhindert worden (a-86), «gravierende Anhaltspunkte für eine Gefährlichkeit des damals 20-jährigen Bremer Deutschtürken» hätten bestanden (a-86), der als «türkischer Staatsangehöriger» ja in die Türkei hätte reisen können (a-86).¹¹⁶ – Kurnaz wird als «Deutsch-Türke» (a-84), in einem weiteren Artikel als «in Bremen geborene[r] Türke» und als «Deutsch-Türke» (a-85) bezeichnet.¹¹⁷ – Im Artikel (a-87) wiederum finden sich einander ausschließende Formulierungen: Dem «deutschen Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz» im Leit-
115 Hier wird außerdem die Strategie des ‘Kritikers von Innen’ bemüht, eine Form der Distanzierung wie auch eine Aufwertung der Aussage. Sie erhält auf diese Weise ein stärkeres argumentatives Gewicht und wirkt auf den ersten Blick unanfechtbar. 116 Die argumentative Dynamik setzt die Verhinderung der Einreise relevant – in diesem Zusammenhang wird Kurnaz als «gebürtige[r] Bremer» bezeichnet, was die Nähekomponente zum deutschen Leser stärkt. Die beiden nachfolgenden Bezeichnungen folgen dann im Kontext. 117 Interessant wäre es, in diesem Zusammenhang der Frage nachzugehen, wie die Bezeichnung «in Bremen geborene[r] Türke» von (deutschen) Lesern genau verstanden wird und welche Komponente für die intuitive Zuweisung der Staatsangehörigkeit ausschlaggebend wäre: ‘Bremen’ oder ‘Türke’.
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absatz und dem «aus Bremen stammenden Deutschtürken Kurnaz» im ersten Abschnitt steht das Zitat, Kurnaz habe «keinen deutschen, sondern einen türkischen Pass», entgegen. Durch die Positionierung im Text (a-87)¹¹⁸ wird das Attribut ‘deutsch’ relevant gesetzt, hier allerdings eine Fehlinformation. An diesem Beispiel zeigt sich exemplarisch, was als Tendenz bei der Berichterstattung zum ‘Fall Kurnaz’ zu beobachten ist: Die Perspektivierung unterscheidet sich von der Perspektivierung in den Texten zum Mord an Hatun Sürücü. Die argumentative Rückbindung findet dort über die Verknüpfung mit Deutschtürkin bzw. Deutschtürke anhand des Bedrohungs- und Verteidigungs-Topos statt. Beide spielen im vorliegenden Fall keine oder nur eine geringe Rolle, stattdessen wird bei fortlaufender Berichterstattung zunehmend der Widerspruchs-Topos zum tragenden Argumentationsmuster. Wesentlicher Grund für diese Tendenz ist der Fokus der Berichterstattung. Er liegt beim Fall Kurnaz auf der als Versäumnis dargestellten Vorgehensweise damaliger Regierungsmitglieder, auf der Rolle der deutschen Behörden insgesamt, auf Äußerungen von amerikanischer Seite sowie auf den Foltervorwürfen gegen Soldaten der KSK (Kommando Spezialkräfte). Kurnaz wird zunehmend zum ‘Auslöser’, anhand dessen das Geschehen illustriert wird, und sein Fall steht nicht mehr im Zentrum der argumentativen Dynamik. Diese Perspektivierung verändert die argumentative Dynamik der Artikel und infolgedessen ihre argumentative Stützung.¹¹⁹ Das Themenspektrum der Korpustexte, in denen Deutschtürke und die verschiedenen dazugehörigen Wortarten vorkommen, lässt sich in einer ersten, durch weiterführende Untersuchungen zu verifizierenden Einteilung grob in drei Bereiche gliedern. Deren Hauptthemen (in Klammer angefügt) schließen
118 Wichtige Informationen werden zuerst genannt. Da davon ausgegangen werden kann, dass nicht alle Leser jeden Artikel zu Ende lesen, ist die Position der Information für Wahrnehmung und Gewichtung mit entscheidend. 119 Die Textanalyse zu Anschlägen im Irak oder auf eine Gruppe Franzosen in Saudi-Arabien haben beispielsweise gezeigt: Wird über Gewalt, Anschläge, Terror berichtet, korreliert dies in keinster Weise mit einem Rekurs auf den Bedrohungs-Topos. Dazu beitragen könnte die gefühlte räumliche Distanz (Saudi-Arabien und der Irak sind weit weg) und die Tatsache, dass die Bedrohung durch die Schilderung der Ereignisse gewissermaßen explizit thematisiert wird. (Siehe dazu auch Kapitel 8).
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an das Vorhergehende an und greifen bisweilen ineinander.¹²⁰ Da die thematischen Grenzen fließend sind, erfolgte die Zuteilung der Artikel über die jeweilige Hauptthese – ansonsten wären auch Mehrfachzuteilungen möglich. Die überwiegende Anzahl der Pressetexte aus dem Jahr 2007 lässt sich einer der drei folgenden Kategorien zuordnen: (1) Bedrohung (Terror/Gewalt/Ehrenmord/Kriminalität) Bsp.: (a-93), (a-94), (a-70), (a-71), (a-72), (a-74) (2) Kunst & Kultur (Musik/Theater/Film/Fernsehen) Bsp.: (a-73), (a-78), (a-79), (a-80), (a-100) (3) Gesellschaft (Integration(sgipfel)/Innenpolitik/Bildung) Bsp.: (a-88), (a-90), (a-91), (a-92) Diese thematischen Fokussierungen wie auch die oben illustrierten textsemantischen Verknüpfungen spiegeln sich mit unterschiedlichem Deckungsgrad in Assoziationsketten, die in einer von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegebenen empirischen Studie (Juli 2008) zur Diskriminierung im Alltag – Wahrnehmung von Diskriminierung und Antidiskriminierungspolitik in unserer Gesellschaft¹²¹ vorgestellt wurden.¹²² So zeigen bestimmte assoziative Verbindungen eine über verschiedene Stufen entstehende Koppelung von Islam und Zwangsheirat bzw. Ehrenmord sowie die Verknüpfung von Muslimen – Türken und das damit verbundene Gefühl der Bedrohung. Diese Ergebnisse werden in der Studie nach gesellschaftlichen Schichten ausdifferenziert. Sie weisen inhaltlich eine große Nähe zu den oben vorgestellten Mechanismen auf
120 Die Kategorie ‘divers’ wurde aufgrund der eher geringen Artikelanzahl vernachlässigt. Hier finden sich z.B. wirtschaftliche Themen. – (a-75): «Der Versuch, Deutschtürken mit möglichst geringem Einsatz als Kunden zu gewinnen, wird nicht gelingen». 121 «Ziel dieses sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekts, mit dem die Antidiskriminierungsstelle des Bundes das Sinus-Institut in Heidelberg beauftragt hat, war es, in einem mehrstufigen Forschungsprozess einen empirisch gesicherten Überblick über das thematische Feld Diskriminierung und Diskriminierungsschutz aus Sicht der Bevölkerung zu gewinnen. Dabei ging es darum zu verstehen, wie die unterschiedlichen Gruppen und Milieus in unserer Gesellschaft mit dem Thema umgehen, welche Handlungsfelder und Akteure sie sehen und was sie von Antidiskriminierungspolitik erwarten.» (Antidiskriminierungsstelle des Bundes Juli 2008, 7, http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/RedaktionADS/PDF-Anlagen/2009-04-02-schriftenreihe-band4,property=pdf,bereich=ads,sprache=de,rwb=true.pdf, abgerufen am 19.08.2010). 122 Cf. MiGAZIN, Sinus-Milieu-Studie offenbart große Vorurteile gegenüber Muslimen, 03.04.2009, http://www.migazin.de/2009/04/03/sinus-milieu-studie-offenbart-grose-vorurteilegegenuber-muslimen, abgerufen am 19.08.2010.
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und werden aufgrund vielfacher Berührungspunkte im Topos-Kapitel nochmals aufgegriffen: «Die Auseinandersetzung mit Benachteiligungen wegen der Religion oder Weltanschauung […] verengt sich […] meist sehr schnell auf das überwertige Religionsthema (andere Formen der Weltanschauung spielen – nach dem Ende des Ost-West-Konflikts – keine Rolle) und dabei auf den Islam und dessen allgegenwärtiges Negativimage. Die typischen Assoziationsketten laufen nach folgendem Muster ab: Religion ▸ Islam ▸ Fundamentalismus ▸ Terror Das heißt, beim Stichwort ‹Religion› denkt man sofort an den ‹Islam›. Dieser wird spontan mit religiösem ‹Fundamentalismus› in Verbindung gebracht. Und von diesem erwartet man in erster Linie Gewalt und ‹Terror› – wie man es aus einschlägigen Medienberichten gelernt hat. Die Spielart dieser Engführung in den gehobenen Milieus des Leitsegments und der Mitte ist: Religion ▸ Islam rückständig ▸ Unterdrückung der Frau ▸ Zwangsheirat und Ehrenmord Die Variante in den unterschichtigen Milieus, die die Zusammenhänge oft konkretistisch wahrnehmen und deshalb personalisiert darstellen: Religion ▸ Moslems ▸ Türken ▸ Ausländer ▸ Bedrohung Nicht viel anders verläuft die Assoziationskette im traditionellen Segment: Religion ▸ Moslems ▸ Intoleranz ▸ Hassprediger ▸ Unterwanderung/Zerstörung unserer Kultur Lediglich in den drei jungen Milieus (‹Hedonisten›, ‹Experimentalisten› und ‹Moderne Performer›) gibt es alternative Denk- und Assoziationsmuster:
▸
Mittelalter ▸ unzeitgemäß ▸ Aufklärung nötig Religion ▸ uncool ▸ Islam
▸
Fanatiker, Spinner ▸ unsympathisch ▸ Distanzierung» (Antidiskriminierungsstelle des Bundes Juli 2008, 68s.)
In einer der türkischen Einwanderergruppe vergleichbar großen Zahl wanderten Menschen aus dem Maghreb in Frankreich ein¹²³ – so lebten «Mitte der achtziger
123 Aktuelle Zahlen zu den in Deutschland lebenden ausländischen Staatsbürgern finden sich in den jeweiligen Berichten der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration zur Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland. Dem Tabellenanhang zum 7. Lagebericht (Dez. 2007, 209) ist zu entnehmen, dass im Jahr 2006 1 738 831 türkische Staatsbürger in Deutschland lebten. – Vergleichszahlen für ausländische Staatsbürger in Frankreich sind auf der Homepage des Institut national de la statistique et des études
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Jahre […] etwa ebensoviele Türken in der alten Bundesrepublik wie Nordafrikaner in Frankreich, nämlich jeweils um die 1,4 Millionen» (Rothe 1996). Entfaltet diese vergleichbare Ausgangssituation eine entsprechende mediale Präsenz bzw. weist die Verwendung der Komposita franco-algérien*, franco-marocain* und franco-tunisien*¹²⁴ ähnliche thematische und argumentative Verknüpfungen auf?
7.2.8.2 Les franco-maghrébins: franco-algériens, franco-marocains und franco-tunisiens Frankreich und die Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien¹²⁵ haben eine in vielfacher Hinsicht besondere Beziehung: Algerien¹²⁶ war während der Kolonialzeit integraler Bestandteil Frankreichs, Marokko¹²⁷ und
économique (INSEE) zugänglich. Laut einer Erhebung aus dem Jahr 2006, résultats du recensement de la population – 2006, lebten im betreffenden Jahr 480 986 Algerier in Frankreich, 461 210 Marokkaner und 146 121 Tunesier. (Ein Lagebericht zu den immigrés en France (2005) steht ebenfalls zum Download bereit. Die darin enthaltenen aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 1999 und lauten für die Einwanderer aus dem Petit Maghreb: 574 208 Algerier, 522 504 Marokkaner und 201 561 Tunesier (INSEE 2005, 15, http://insee.fr/fr/ppp/comm_presse/comm/ hcdplmmfra05.pdf, abgerufen am 19.08.2010). 124 Der Asterisk ist ein Hilfsmittel für die Suche und ist Platzhalter für alle möglichen Wortendungen. 125 Algerien, Marokko und Tunesien bilden den Petit Maghreb oder Maghreb Central. Zum sogenannten Grand Maghreb gehören außerdem Mauretanien und Libyen. Diese fünf Staaten haben sich 1989 zur Arabischen Maghreb-Union zusammengeschlossen. 126 Demokratische Volksrepublik Algerien 1830 Landung der französischen Armee an der Küste Sidi Fredj Unterzeichnung der Unterwerfungsvereinbarung durch den Dey von Alger Algerien wird französisches Departement 1947 Zuerkennung der französischen Staatsbürgerschaft an alle Algerier (Algerien-Statut) 1954–1962 Algerienkrieg 18.03.1962 Unterzeichnung der Evian-Abkommen 05.07.1962 offizielle Proklamation der Unabhängigkeit 1967 die französische Armee verlässt die Stützpunkte Reggane und Bechar 1968 die französischen Seestreitkräfte verlassen El-Kebir 1968 französisch-algerisches Abkommen (Regelungen zu Einreise, Aufenthalt, Arbeitserlaubnis von Algeriern in Frankreich) 127 Königreich Marokko 1843/44 französisch-marokkanischer Krieg, Niederlage der marokkanischen Truppen 1863 Unterzeichnung der französisch-marokkanischen Convention Béclard 1900–01 Besetzung des Twat durch franfösische Truppen 1911 deutsch-französisches Abkommen über Marokko und Kongo
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Tunesien¹²⁸ Protektorate. Tribalat (1996)¹²⁹ zeigt in ihrer Studie De l’immigration à l’assimilation, dass sich die zum Teil sehr belastete Geschichte auch auf das Verhalten hinsichtlich der Einbürgerung auswirken kann: So haben aus Algerien¹³⁰ eingewanderte Menschen im untersuchten Zeitraum weniger oft die französische Staatsbürgerschaft beantragt als beispielsweise die Einwanderer marokkanischer Herkunft, und sie haben, wenn sie dies dann taten, die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft weniger häufig in Anspruch genommen als die marokkanischstämmigen Immigranten.¹³¹ Die vielfältigen Beziehungen zwischen Frankreich und den Ländern des Petit Maghreb spiegeln sich (in den Pressetexten) in den Rubriken ‘Politik/
1912 1953 1955 02.03.1956 07.04.1956 1987
Protektorat Französisch-Marokko; Sultan als offizielles Staatsoberhaupt Der Sultan muss abdanken. Mohammed V. geht ins Exil. Mohammed V. kehrt zurück. Frankreich erkennt Unabhängigkeit Marokkos an Spanien erkennt Unabhängigkeit Marokkos an französisch-marokkanisches Abkommen (Regelung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis von Marokkanern in Frankreich) 128 Tunesische Republik 1881 französische Truppen besetzen Tunesien (Eroberung des Landes innerhalb von drei Wochen) Tunesien wird französisches Protektorat 20.03.1956 Unabhängigkeit Tunesiens Militärbasis in Bizerta bleibt in französischer Hand 1961 militärischer Konflikt zwischen Tunesien und Frankreich (Bizerta-Krise) 1963 französische Soldaten verlassen Bizerta endgültig 1968 französisch-tunesische Abkommen (betreffend Kultur, Wirtschaft) 1988 französisch-tunesische Abkommen (Regelung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis von Tunesiern in Frankreich) 129 Seit der Veröffentlichung haben sich Gewohnheiten und Einstellungen möglicherweise verändert. Dies ist bereits bei der nachfolgenden Generation der Fall, die – in Frankreich aufgewachsen bzw. geboren – sich naturgemäß in mancher Hinsicht anders fühlt oder verhält als ihre Eltern: «Cette perception affective du lien national a un effet exactement inverse sur les jeunes nés en France, Français de naissance qui, en revendiquant une double nationalité, réintroduisent un lien symbolique avec le pays des parents [l’Algérie].» (Tribalat 1996, 184). 130 «Cette absence de la vie civique pose un problème particulier pour les personnes venues d’Algérie qui sont depuis longtemps en France et ont eu largement le temps d’acquérir la nationalité française. Elles s’y sont refusées non parce qu’elles ne se préoccupent pas du sort de la France et gardent le regard rivé de l’autre côté de la Méditerranée, mais par difficulté de franchir l’interdit historique né de la colonisation et de la guerre d’indépendance.» (Tribalat 1996, 266s.). 131 «C’est parmi les migrants marocains devenus français que l’on retrouve le plus de doubles nationaux.» (Tribalat 1996, 185).
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Geschichte’ und ‘Wirtschaft’ in Ausdrücken wie les relations franco-maghrébines¹³², la chambre de commerce et d’industrie franco-algérienne¹³³, des accords franco-tunisiens¹³⁴ oder une association franco-marocaine¹³⁵ wider. Bei diesen Beispielen ist die ‘binationale Verwendung’¹³⁶ im Sinne der Verknüpfung zweier Länderattribute gegeben, franco- ist hier ein «[é]lément d’adjectifs composés exprimant un rapport entre la France et un autre peuple» (Petit Robert 2007) bzw. «relatif à la fois à la France et à un autre ensemble géographique, à leurs habitants» (Trésor de la Langue Française informatisé (TLFi)).¹³⁷ Im TLFi findet sich unter den zweigliedrigen Beispielen mit ‘franco-musulman’¹³⁸ ein Eintrag,
132 (a-127): «De son côté, Abdelmalek Droukdel a condamné en juillet les efforts pour améliorer les relations franco-maghrébines, après avoir lancé en janvier: ‹Combattez les ressortissants de France et les agents des croisés qui occupent notre terre›». 133 (a-103): «Jean-François Heugias, le président de la chambre de commerce et d’industrie franco-algérienne, pense que ‹les conjoints rentrés en France après les attentats du 11 avril ne vont pas revenir de sitôt à Alger, comme le prévoyaient les entreprises françaises›». 134 (a-104): «Cela pourrait être mis dans la balance au moment d’une éventuelle renégociation des accords franco-algérien (27 décembre 1968) et franco-tunisien (17 mars 1988)». 135 (a-181): «Cette semaine, une cinquantaine d’apprentis sont partis au Maroc. Ils participent à une action de coopération internationale avec le lycée agricole d’Ouled Teïma et une association franco-marocaine ‹Migration et développement›». 136 Entsprechende Verwendung hinsichtlich der Komposita deutsch-türk* finden sich in der Berichterstattung über: (1) die Untersuchungshaft wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch einen 17-jährigen deutschen Schüler in der Türkei (Verhaftung 11.04.2007), (a-101): «Sein Schicksal hatte das deutsch-türkische Verhältnis schwer belastet.»; (2) die Belastung der deutsch-türkischen Beziehungen nach dem Brandanschlag in Solingen (29.05.1993); (3) die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei, (a-102): «Die deutsch-türkischen Beziehungen wurden in der Vergangenheit immer wieder auf die Probe gestellt». 137 «FRANCO-, élément formant […] A. − [Suivi d’un trait d’union] Le 2e élément (suivi éventuellement d’un 3e élément de même nature) est un mot fr. désignant un ensemble géogr. étranger; le composé exprime des relations entre deux pays, deux peuples, deux langues. 1. GÉOGR., domaine de la vie pol., soc. et culturelle[:] a) Adjectif − Qui est relatif à la fois à la France et à un autre ensemble géographique, à leurs habitants.» Es folgen zwei- und dreigliedrige Beispiele (franco-africain, franco-allemand, franco-anglo-belge, franco-syrien-libanais, franco-musulman) (TLFi, http://www.cnrtl.fr/definition/franco-, abgerufen am 19.08.2010). 138 «a) Adjectif − Qui est relatif à la fois à la France et à un autre ensemble géographique, à leurs habitants. – [L’adj. est composé de deux éléments:] franco-africain, -aine. Réalités franco-africaines (Perroux, Écon. XXe s., 1964, p. 274); franco-allemand, -ande. La guerre franco-allemande (Lemaitre, Contemp., 1885, p. 123); franco-américain, -aine. L’hybride franco-américain (…) résiste au phylloxéra par sa vertu propre (Pesquidoux, Livre raison, 1925, p. 81); franco-bavarois, -oise. L’armée franco-bavaroise (Michelet, Chemins Europe, 1874, p. 507); franco-belge. Albert Mockel (…) dirigeait une petite mais importante revue franco-belge: La Wallonie (Gide, Si le grain, 1924, p. 544); franco-étranger, -ère. Lycées franco-étrangers (Encyclop. éduc., 1960, p. 357); franco-musulman, -ane. Dans le droit franco-musulman de l’époque (Grousset, Croi-
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der etwas aus der Reihe der geografisch definierten Komposita fällt und dem in der französischen Berichterstattung nachzugehen lohnend wäre, was an dieser Stelle aber nicht möglich ist.¹³⁹ Auch das Kompositum franco-maghrebin* ist streng genommen nicht auf derselben semantisch-logischen Ebene anzusiedeln wie franco-algérien, franco-marocain und franco-tunisien. (Ob diese strikte Trennung im alltäglichen Sprachgebrauch so gezogen wird, ist allerdings eine andere Frage.) Es unterscheidet sich von den anderen drei Fällen in einem wesentlichen Punkt: Dort werden zwei Nationalitätsbezeichnungen miteinander verbunden; hier handelt es sich um die Verknüpfung einer Nationalitätsbezeichnung (franco-) und einer geografischen Angabe (maghrébin), welche eine Region und ihre Menschen bezeichnet bzw. drei Länder umfasst. Dies hat nicht zuletzt Auswirkungen auf die Interpretation des Ausdrucks: Wird beispielsweise eine Person – was im vorliegenden Textkorpus selten der Fall ist – als franco-maghrébine bezeichnet, entfällt die Möglichkeit einer Doppelstaatlichkeit. Eine Form der Relevantsetzung ist hier also anzunehmen. Welcher Art diese sein kann (Expertenstatus, Anknüpfungspunkt für Topoi …), muss je nach Text entschieden werden. Die weiteren Ausführungen konzentrieren sich zwar hauptsächlich auf die franco-algériens, -marocains und -tunisiens, sie können jedoch in den nicht die formale Staatsangehörigkeit an sich betreffenden Fällen als Gradmesser auch für den Gebrauch der franco-maghrébin-Varianten dienen.
sades, 1939, p. 218); franco-piémontais, -aise. Dans les Alpes franco-piémontaises (Vidal de La Bl., Princ. géogr. hum., 1921, p. 178); franco-russe. Alliance franco-russe (Bloy, Journal, 1896, p. 233) [Fettung bis auf ‘franco-musulman, -ane’ gelöscht und Semikolon zur Abtrennung der einzelnen Einträge eingefügt, D.W.]» (TLFi, http://www.cnrtl.fr/definition/franco-, abgerufen am 19.08.2010). 139 (a-168): «Maud Tallet, maire PCF, a effectué une visite du centre franco-musulman illégal du Bois-de-Grâce hier. […] ‹Je suis entrée dans les locaux de l’association Amitié Noisy-Champs, a déclaré la maire, et je ne me suis pas déchaussée…› Il fallait décoder le message du premier magistrat de la ville, à sa sortie du centre culturel et culturel franco-musulman de l’allée des Sorbiers. Maud Tallet a bien fait attention à ne pas prononcer le mot mosquée.»; (a-169): «Après le traditionnel et convivial apéritif, sonnera l’heure du non moins traditionnel et savoureux couscous, minutieusement concocté par les membres de l’association des franco-musulmans.»; (a-170): «Après des études au lycée franco-musulman à Alger, j’avais commencé mon année de propédeutique.»; (a-171): «Après l’hôpital Avicenne en 2005, c’est au tour de l’ancien cimetière franco-musulman de fêter son 70e anniversaire. Témoins de notre histoire récente, ces sites constituent deux éléments rares du patrimoine de la colonisation et de l’immigration. Le carré militaire du cimetière illustre en outre le rôle qu’ont joué les soldats musulmans dans la Seconde Guerre mondiale».
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Bindestrichlose Varianten der franco-Komposita sind im World Wide Web ebenfalls zu finden. Sie werden unterschiedlich gebraucht und kommen in Blogs, Chat-Foren und Inseraten vor – allerdings nicht in der Presseberichterstattung. Aus diesem Grund werden die nachfolgenden Beispiele in die weiterführende Darstellung nicht mit einbezogen: «francoalgerien! optimiste et ambitieux»¹⁴⁰ «le personnage qui me fait le plus marrer est l’un gendre de hadj lakhdar, celui qui parle en francoalgérien»¹⁴¹ «un francomarocain perdra til la nationalité française sil decid rentrer vivre o maroc»¹⁴² «Assises de la coopération décentralisée francomarocaine»¹⁴³ «Femme francotunisienne cherche homme francotunisien»¹⁴⁴ «Coucouc, non je ne suis pas portugaise, je suis francotunisienne, mais on me pred souvent pour une portugaise ou une espagnole»¹⁴⁵ «01 PO A17. – Association culturelle d’insertion économique de la communauté francomaghrébine (Fréquence francomaghrébine)»¹⁴⁶ «Pourquoi les francomaghrebins font tout pour se mettre dans de mauvais draps?»¹⁴⁷
«La double nationalité est généralement admise»¹⁴⁸ – nach französischem Recht ist es also möglich, dass ein Ausländer, der eingebürgert werden möchte, seine
140 http://www.orientalement.com/a71601-h40-francoalgerien-optimiste-et-ambitieux.html, abgerufen am 06.04.2010. 141 http://www.bladi.net/forum/163834-hadj-lakhdar-moul-l3imara, abgerufen am 06.04.2010. 142 http://www.bladi.net/forum/133644-francomarocain-perdra-nationalite-francaise-sildecid, abgerufen am 06.04.2010. 143 http://www.lianescooperation.org/spip.php?article1414, abgerufen am 06.04.2010. 144 http://www.winoo.com/annonces/amitie/index.cfm/id/360883/m/2/annonce/tunisie/ Femme_francotunisienne_cherche_homme_francotunisien_annonce.cfm, abgerufen am 06.04.2010. – Interessant in diesem Zusammenhang die Anrede («Salem à tous les tunsiens»), die ähnliche Fragen aufwirft, wie sie sich bei der Verwendung des Begrifffelds Deutschtürke gestellt haben. 145 http://forum.doctissimo.fr/forme-beaute/Maquillage/photo-sujet_505_1.htm, abgerufen am 06.04.2010. 146 http://www.droit.org/jo/20011012/CSAX0101448S.html, abgerufen am 06.04.2010. 147 http://fr.answers.yahoo.com/question/index?qid=20071112141155AArYGuj, abgerufen am 06.04.2010. 148 Thiellay (22005, 258). Als Quellen des Staatsbürgerschaftsrechts allgemein nennt Thiellay (22005, 248s.): (1) Principaux accords internationaux applicables (Convention européenne sur la nationalité du 6 novembre 1997. Convention de Strasbourg 1963. Conventions bilatérales.); (2) Sources de droit interne: Lois en vigueur – Décret d’application (Code civil modifié en dernier lieu les 17 mars 1998 et 26 novembre 2003, Décret du 30 décembre 1993, modifié par le décret du 20 août 1998.) – Weiterführende Informationen: Ministère de la Justice (2007).
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ursprüngliche Staatsangehörigkeit behält; ein Franzose, der eine weitere Staatsangehörigkeit erwirbt, muss nicht auf seine französische Nationalität verzichten.¹⁴⁹ Die aktuellen Bestimmungen für den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft gelten für alle Ausländer gleichermaßen¹⁵⁰ – also auch für Personen algerischer¹⁵¹, marokkanischer und tunesischer¹⁵² Herkunft, die eine Einbürgerung beantragen. So sind bereits auf der Grundlage der juristischen Rahmenbedingungen verschiedene Bedeutungsvarianten der franco-Komposita möglich.¹⁵³ Bei der Analyse wurde denn auch deutlich, dass ein franco-marocain nicht in jedem Kontext ‘derselbe’ franco-marocain ist und die Bezeichnung als franco-tunisienne nicht zwingend bedeutet, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft vorliegt. Eine derartige Relevantsetzung kann als Bindeglied zum Feld von Assoziationsketten und Argumentationsmustern dienen und so die Perspektivierung der Texte mit beeinflussen; um diesen Bereich des non-dit wird es nachfolgend im Besonderen gehen. Die Benennung als franco-algérien(ne), franco-marocain(e) oder franco-tunisien(ne) kann darauf hinweisen, dass die betreffende Person: (1) einen französischen und einen algerischen/marokkanischen/tunesischen Elternteil hat.¹⁵⁴
149 Dies gilt allerdings unter Vorbehalt bzw. unter Berücksichtigung internationaler Verträge (Service-public.fr, http://vosdroits.service-public.fr/particuliers/F334.xhtml, abgerufen am 10.06.2009). 150 «Les conditions actuelles d’acquisition de la nationalité française sont les mêmes pour tous les étrangers, y compris pour les Maghrébins, en application stricte du code civil (cc) français: article 21-7 et suivants: à raison de la naissance en France, article 21-16 et suivants: à raison de la résidence en France, article 21-2: à raison du mariage avec un Français.» (Dominique Havard, französische Botschaft, Berlin – Etat civil/Nationalité 03.06.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin). 151 Im Falle Algeriens als ehemaliger Kolonie sind ergänzend zu den vorausgehenden Artikeln zu nennen: (1) Code civil – art. 32; (2) Ordonnance n°62–825 (21.07.1962); (3) Loi n°66–945 (20.12.1966) (Nachzulesen unter: http://www.legifrance.com). 152 Marokko und Tunesien waren nie integraler Bestandteil des französischen Territoriums und ihre Staatsangehörigen daher keine Franzosen. Dennoch konnte es hier, so Havard (03.06.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin), zu Auswirkungen auf den Erhalt oder Verlust der französischen Staatsangehörigkeit von Bürgern aus benachbarten Kolonien kommen. So sah das französisch-tunesische Abkommen (03.06.1955 und gültig bis zum 01.07.1983) beispielsweise den Verlust der französischen Staatsbürgerschaft im Falle der Einbürgerung in Tunesien vor. Diese Regelung trat bei Frauen automatisch in Kraft, bei Männern unter Vorbehalt des erfüllten Militärdienstes. 153 Auf den etwas anders gelagerten Fall der franco-maghrébin-Kombinationen wurde oben bereits verwiesen. 154 Diese Variante gibt keine Auskunft darüber, ob eine doppelte oder einfache Staatsbürgerschaft vorliegt – beide Fälle sind bei dieser Elternkonstellation rechtlich möglich. (a-128): «Un
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(2) in Frankreich geboren ist und algerische/marokkanische/tunesische Eltern hat.¹⁵⁵ (3) die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt.¹⁵⁶ (4) algerischer/tunesischer Herkunft¹⁵⁷ ist und jetzt ausschließlich die französische Staatsbürgerschaft besitzt.¹⁵⁸
bistrot de poissons tenu par une femme franco-marocaine autodidacte. […] C’est drôle, sur le papier, on ne la voyait pas du tout capitaine, cette Lorraine de père, Marocaine de mère, plutôt turf que surf aux fourneaux de sa première affaire[.] […] Le savoir-faire n’est pas très loin non plus, entre l’instinct de l’autodidacte, les racines de la Franco-Berbère et l’envie de sillonner loin de la voyageuse.» (Rubrik ‘Sortir/Restaurants’) – Franco-X wird auch für die Beschreibung binationaler Paare verwendet: (a-157): «SOS Racisme accuse des voyagistes d’avoir discriminé un couple franco-tunisien. […] Lui, justement, est de nationalité tunisienne, elle est française». 155 (a-158): «Fadila, 23 ans, est née à Dole, dans le Jura, de parents marocains immigrés dans les années 1970 pour participer à la croissance française. ‹Beurette› première génération, la jeune Franco-Marocaine a grandi pour arriver à l’âge actif en pleine galère économique.» Zwar ist hier formal die doppelte Staatsangehörigkeit gegeben, der inhaltliche Fokus liegt jedoch auf der Verbindung von ‘in Frankreich aufgewachsen’ und ‘Kind (eingewanderter) marokkanischer Eltern’. 156 (a-130): «Disparu le 2 janvier à La Mecque (Arabie Saoudite) où il était en pèlerinage avec son épouse, le Franco-Algérien Chérif Debiche, 70 ans, a été retrouvé sain et sauf mardi, a annoncé l’association SOS Pèlerin. […] Chérif Debiche, qui avait utilisé son passeport algérien pour se rendre à La Mecque, n’avait pas été répertorié par les autorités saoudiennes parmi les pèlerins d’origine française.»; (a-131): «Selon une source proche du dossier, Cheb Mami, qui a la double nationalité franco-algérienne, est en Algérie». 157 Nach dem Code de nationalité du Maroc (siehe: Chapitre IV: De la perte de la nationalité et de la déchéance) ist es (theoretisch) möglich, per Dekret die Erlaubnis zu erhalten, die marokkanische Staatsangehörigkeit abzulegen (‘Kann-Regelung’). In der Praxis können Marokkaner jedoch nicht auf ihre Staatsangehörigkeit verzichten. Dieser Tatbestand führte beispielsweise 2006 zu Spannungen zwischen der niederländischen Regierung und ihren marokkanischen Gesprächspartnern: «Evoquant la question de la double nationalité, source de frictions entre La Haye et Rabat, M. Bot a simplement indiqué que son homologue chargée de l’Immigration y travaillait. Les Pays-Bas souhaitent que les immigrés de troisième génération perdent la double nationalité, ce à quoi le Maroc est totalement opposé. Quelque 170.000 Marocains ou Maroco-néerlandais vivent aux Pays-Bas.» (AFP 09.03.2006) Ergänzend die Antwort seitens der Botschaft des Königreichs Marokko (Berlin) auf eine entsprechende Anfrage, die drei Jahre später gestellt wurde: «Nein, auf die marokkanische Staatsangehörigkeit kann man nicht verzichten. Es ist prinzipiell nicht möglich, die marokkanische Staatsangehörigkeit abzulegen.» (29.06.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin) – Im Vergleich zur Lage in Marokko gilt nach kamerunischem Staatsbürgerschaftsrecht genau der umgekehrte Fall – hier verliert seine kamerunische Nationalität, wer eine weitere erhält: «Pour ce qui est des personnes qui cumulent la nationalité camerounaise avec celle d’un autre pays, l’article 31 de la loi portant Code de nationalité est explicite là-dessus. ‹Le Camerounais majeur, qui acquiert ou conserve volontairement une nationalité étrangère, perd la nationalité camerounaise›.» (La Nouvelle Expression 13.08.2008). 158 (a-147): «Plusieurs vies, plusieurs envies, plusieurs métiers. Une seule identité. Français, il l’est par éducation et par adoption. Arabo-berbère, il l’est par culture et par héritage. […] C’est à
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(5) die algerische/marokkanische/tunesische Staatsbürgerschaft besitzt und (dauerhaft) in Frankreich lebt.¹⁵⁹ (6) die algerische/marokkanische/tunesische Staatsbürgerschaft besitzt und auf Französisch publiziert, musiziert oder schreibt (Intellektuelle, Filmemacher, Künstler, Schriftsteller).¹⁶⁰ Die soeben angeführten Varianten unterscheiden sich teilweise in ihrem Bezugspunkt, und die Frage nach der konkret vorliegenden Nationalität ist dabei nicht immer (inhaltlich) entscheidend:¹⁶¹ So geht es in (1) und (2) um die Staatsangehörigkeit der Eltern und in (6) primär um den Gedanken der länderübergreifenden Frankofonie. (3) bis (5) betreffen hingegen die unterschiedlichen möglichen Varianten, mit der doppelten (3) oder lediglich einer Nationalität ((4) und (5)) als franco-X bezeichnet zu werden. Diese idealtypische Unterscheidung ist aufgrund der dafür notwendigen Hintergrundinformationen, die nicht immer zur Verfügung standen bzw. stehen, so allerdings nicht praktikabel. Auch seitens des Lesers dürften weiterfüh-
l’âge de deux ans que ‹le petit franco-maghrébin›, comme il se définit lui-même, est arrivé en France. […] Je suis français, de culture française et arabo-berbère, je parle le français et l’arabe et je suis musulman». 159 (a-144): «Faouzia Limam est la nouvelle présidente de l’association des Tunisiens des Côtes-d’Armor (AT22), qui réunit les Franco-Tunisiens du département, facilite leurs échanges et organise des activités». 160 (a-129): «Ken Bugul, Sénégalaise vivant au Bénin actuellement en résidence à la Maison Louis-Guilloux, Bruno Doucey, poète et éditeur et Leïla Sebbar, écrivain franco-algérienne ont fait part de leurs sources d’inspiration trouvées dans l’exil. ‹C’est ce qui nous fait écrire› relève Leïla Sebbar. L’exil géographique mais aussi familial ou culturel, qui ont forgé l’identité de ces auteurs. Le choix de la langue est aussi une question récurrente pour ces écrivains francophones». 161 Die nicht im Zentrum der Aussage stehende doppelte Staatsbürgerschaft kann für die Analyse der franco-maghrébin-Komposita als Anknüpfungspunkt dienen: (a-173): «La Graine et le Mulet, tragicomédie sur une famille franco-maghrébine de Sète[.]» Diese oder die folgende Formulierung, eingesetzt vermutlich, um die Doppelung von franco-tunisien im selben Satz zu vermeiden – (a-174): «La Graine et le mulet, chaleureux portrait d’une famille métissé signé par le franco-tunisien Abdellatif Kechiche.» – veranschaulichen die Zielrichtung der Aussage von (a-173) – es geht um eine Mischung von ‘Etwas’.; (a-175): «Son monologue plein d’humour évoque ces personnages franco-maghrébins en quête d’identité, aux prises avec les contradictions de leur double culture et pose la question de la construction de l’identité d’un individu, sur la puissance insidieuse des normes sociales, sur les monstruosités que peuvent engendrer les meilleures intentions.»; (a-147): «C’est à l’âge de deux ans que ‹le petit franco-maghrébin›, comme il se définit lui-même, est arrivé en France.»; (a-176): «D’où il ressort qu’elles sont ‹fières de leurs origines› et qu’elles veulent ‹donner une image positive de la femme franco-maghrébine, qui a bien changé›».
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rende Recherchen wohl nicht zu erwarten sein. Dem Aussagengehalt der Texte tut diese semantische Unsicherheit indes keinerlei Abbruch. Eine ungefähre Ahnung, was gemeint sein könnte, scheint in diesem Zusammenhang völlig auszureichen. Es drängt sich daher die Frage auf, ob bei den nicht zu klärenden Fällen (oder auch darüber hinausgehend) der genaue Kenntnisstand, also der nachprüfbare Wahrheitsgehalt, wirklich den Kern der relevant gesetzten Information betrifft oder ob die Markierung nicht vielmehr darauf abzielt, eine Person als pas française de souche zu kennzeichnen. Diese Kennzeichnung böte wiederum (bewusste oder unbewusste) Anknüpfungspunkte für Assoziationsketten oder Topoi¹⁶² – beispielsweise die Annahme, die betreffenden Personen besäßen durch ihren kulturellen und religiösen Hintergrund von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Eigenschaften (Deviations-Topos) – oder würde medial die Vorstellung von der Existenz einer abgrenzbaren, homogenen Gruppe verstärken.¹⁶³ Derlei Vorgänge sind eher auf dem Feld der Wahrscheinlichkeit anzusiedeln als auf dem der ‘faktischen’ Wahrheit, also besonders geprägt durch Inferenzprozesse. Dies zeigt u.a. das nachfolgend aufgegriffene Beispiel von Simon Mouktadibillah und die Berichterstattung über den Mord von Ghofrane Haddaoui, ausführlich in Kapitel 7.3 nachgezeichnet. Besonders Letzteres ist ein
162 Hamès (1989, 5) zeigt in seiner einleitenden Reflexion Verknüpfungen von Kolonialzeit und der Situation/Betrachtung von Muslimen in Frankreich auf, die sich auch auf Überlegungen zur französischen Staatsangehörigkeit beziehen: «Depuis lors, une double préoccupation a saisi la société politique en France: ne faut-il pas redéfinir le statut et les modalités de la nationalité française? Ne faut-il pas légiférer sur le statut et les relations avec l’État d’une religion étrangère au laïcisme chrétien national? Le débat semble pour le moment se cristalliser et se bloquer sur les aménagements légaux et institutionnels de ce double problème posé par l’installation de communautés musulmanes en France. Et dans ce contexte, on ne peut pas ne pas se souvenir que partie de ce problème (les modalités d’insertion du culte musulman dans la république française) a été posée et n’a jamais été résolue durant le siècle et demi de colonisation française en Algérie (2).» – Cf. Kastoryano (2005, 17): «Les différentes approches montrent comme la race, aux États-Unis, demeure le fondement d’une altérité permanente, alors que la religion, en France, est devenue source de clivage culturel et s’est instaurée comme une différence institutionnelle, et alors que la religion et la langue ont remplacé la nationalité comme définition de l’étranger, en Allemagne.» – Des Weiteren sind in diesem Kontext Beispiele interessant, die mit Lesegewohnheiten bzw. -erwartungen spielen bzw. diese brechen: (a-166): «Franco-Marocaine (ou l’inverse), née à Paris en 1971, elle a passé une bonne partie de son enfance dans la Babel tangeroise, où on parle avec facilité arabe, espagnol et français.»; (a-167): «‹Mes racines sont algériennes›. Dans l’explication du Franco-Algérien (ou AlgéroFrançais), se lit tout le déchirement de ces enfants de la première génération». 163 (a-146): «C’est là, dans des sacs de pain ou de farine, que l’aîné des deux principaux suspects, d’origine franco-tunisienne, stockait la résine et la poudre blanche».
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Beispiel für die Komplexität von Inferenzprozessen, die durch scheinbar objektive Informationen ausgelöst werden können. Im Februar 2006 tötete ein 42-jähriger Mann seine vierjährige Tochter und wurde dafür zu lebenslanger Haft verurteilt. Er legte gegen das Urteil Berufung ein. Vergleicht man nun die beiden ausgewählten Passagen, so wird deutlich, dass die Relevantsetzung als ‘Franco-Marocain’, die in (a-109) nicht eingesetzt wird, keine für das Verständnis notwendige Information liefert – vorausgesetzt natürlich, man nähme nicht an, dass der marokkanische und, in der Regel in eins gedacht: der muslimische Hintergrund des Vaters, eine (zusätzliche) Erklärung für die Tat lieferte bzw. deren Hintergrund illustrierte:¹⁶⁴ «Condamné à la réclusion à perpétuité par la cour d’assises de la Gironde, Simon Mouktadibillah,¹⁶⁵ un père Franco-Marocain de 42 ans qui a reconnu avoir tué sa fille de 4 ans
164 Vergleichbar verläuft die implizite argumentative Stütze im Artikel 1500 Dresdner gedenken Marwa E. (FAZ 13.07.2009): «Die Dresdner haben am Samstag der 31 Jahre alten Ägypterin gedacht, die am 1. Juli im Dresdner Landgericht von einem Deutschen russischer Herkunft mit 18 Messerstichen getötet worden war. Etwa 1500 Menschen waren vor das Rathaus gekommen. Viele hatten weiße Rosen mitgebracht, die sie zum Gedenken an Marwa E. auf den Rathausstufen niederlegten. Da der Täter offenbar aus ausländerfeindlichen Motiven gehandelt hatte, war die Trauerfeier auch eine Demonstration gegen Rassismus und Rechtsextremismus.» Legt man hier die nachfolgend genannten Leitlinien für die Berichterstattung über Straftaten des deutschen Pressekodexes zugrunde, kann davon ausgegangen werden, dass die russische Herkunft des Mannes als relevant für die Tat betrachtet wird. In logischer Konsequenz stehen im Artikel denn auch «die Dresdner» (Reduzierung) dem «Deutschen russischer Herkunft» gegenüber. – Richtlinie 12.1 Berichterstattung über Straftaten: «In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht [Hervorhebung D.W.]. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.» (http://www.presserat.info/ uploads/media/Pressekodex_01.pdf, abgerufen am 19.08.2010). 165 In der französischen Presse ist es üblich, so Frédéric Bichon, AFP Berlin (22.06.2009, in einem Telefonat mit der Verfasserin), die vollständigen Namen der Personen zu nennen, über die berichtet wird. Bisweilen werde die Abweichung von diesem Usus auch erläutert (beispielsweise, weil die Lage in Deutschland eine andere ist, wo in stärkerem Maße anonymisiert wird) bzw. dieser bewusst nicht befolgt – z.B. um Personen zu schützen; so geschehen im nachfolgenden Fall, wo die Opfer den gleichen Nachnamen tragen wie der Angeklagte: «Un professeur de lettres à la retraite du Loiret, Jean-Pierre O., 73 ans, jugé pour avoir violé pendant des années son fils adoptif et abusé de ses deux petits-fils a été condamné vendredi à 15 ans de réclusion criminelle par la cour d’assises de Savoie. La cour a aussi condamné, à l’issue d’un délibéré de deux heures et demie de délibérations, à trois ans de prison dont 30 mois avec sursis, son épouse Anne-Marie O., 73 ans, qui comparaissait pour ne pas avoir dénoncé
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en février 2006, a fait appel et sera rejugé par la cour d’appel de Charente, à Angoulême, a-t-on appris jeudi auprès de la Cour de cassation.» (a-108) «Condamné à la réclusion à perpétuité par la cour d’assises de la Gironde, Simon Mouktadibillah, un père de 42 ans qui a reconnu avoir tué sa fille de 4 ans en février 2006, a fait appel et sera rejugé à Angoulême, a indiqué hier la Cour de cassation.» (a-109)
In (a-269) werden «les deux jeunes Françaises» sowie «une Franco-Marocaine» und «Franco-Algérienne» quasi synonym verwendet, zugleich mit -Marocaine und -Algérienne jedoch eine Markierung gesetzt, die in (a-270) durch die Abspaltung eines weiteren Satzes noch stärker betont wird. Diese Hervorhebung bietet zunächst einmal keinen Mehrwert für das Verständnis des Geschehens¹⁶⁶ – es sei denn, man nähme an, die beiden Französinnen besäßen als nicht de souche eine größere Tendenz, illegalen Einwanderern zu helfen als Französinnen ohne Migrationshintergrund. Die Fokussierung auf den nationalen Hintergrund der betreffenden Personen kann auf der Grundlage verschiedener Topoi schnell zu einem Erklärungsmuster werden. Dies illustriert folgendes Gedankenspiel: Hätten die beiden illegalen Einwanderer nicht die chinesische, sondern die algerische oder marokkanische Staatsbürgerschaft besessen, käme es nahezu automatisch zur Verknüpfung zweier hier nicht kausal zusammenhängender Tatbestände:¹⁶⁷ Die Frauen stammen ebenfalls aus Algerien bzw. Marokko, also haben sie den beiden Männern wissentlich geholfen. Der Textvergleich macht deutlich: (a-271) kommt ohne den Verweis auf das franco-Kompositum aus, ohne dass dadurch das Textverständnis in irgendeiner Weise beeinträchtigt würde. Auch der Blick auf das Erscheinungsdatum, das im
son mari, ni empêché ses agissements, notamment au domicile conjugal.» (AFP 27.03.2009) – Es gibt bezüglich der Namensnennung (bei AFP) keine (schriftlich fixierten) Vorgaben. Die redaktionelle und umsichtige Einzelfallentscheidung für oder gegen eine Anonymisierung sei in diesem Zusammenhang gefordert (Bichon 09.07.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin). 166 Im Kofferraum der beiden Französinnen, die eine Einkaufstour nach London unternehmen wollten, wurden bei einer Kontrolle zwei illegale Einwanderer aus China gefunden, die beiden Frauen, die angaben, nichts von diesen Mitfahrern gewusst zu haben, daraufhin verhaftet und in England vor Gericht gestellt. Das Verfahren endete mit einem Freispruch. 167 (a-269): «TÉMOIGNAGE FAVORABLE DU CLANDESTIN CHINOIS. L’un des deux clandestins, Zheng Si-hang qui a, depuis, été expulsé en France et a disparu avait déclaré, dans un interrogatoire avant son expulsion, ‹n’avoir jamais vu› les Françaises. Il avait dit avoir payé un passeur qui lui avait ouvert le coffre d’une voiture, à Paris, dans lequel il était monté avec son compatriote».
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Zusammenhang mit einem Mehr an Informationen stehen könnte, verfängt hier nicht: (a-269) und (a-271) wurden am selben Tag veröffentlicht.¹⁶⁸ «Les douze jurés du tribunal de Portsmouth ont jugé non coupables, mercredi 24 octobre, les deux jeunes Françaises accusées d’aide à l’immigration illégale, après la découverte de deux Chinois clandestins dans le coffre de leur voiture. Hanane Cherigui, une Franco-Marocaine de 27 ans, et Samia Bellazouz, une Franco-Algérienne de 29 ans, détenues depuis le 2 juin, étaient jugées sur les chefs d’accusation d’‹immigration illégale› et d’‹assistance à l’immigration illégale›, à l’issue d’un procès commencé le 16 octobre.» (a-269) «Le procès de deux Françaises, accusées d’assistance à l’immigration clandestine, s’ouvre aujourd’hui à Portsmouth, au sud de l’Angleterre. L’une est franco-algérienne et l’autre franco-marocaine. Originaires de la région parisienne et salariées, elles étaient parties en voiture, le 2 juin, pour faire des achats à Londres avant le mariage de l’une d’elles, prévu le 23 juin.» (a-270) «La justice britannique relaxe deux Françaises. […] Le tribunal de Portsmouth a tranché hier: Hanane Cherigui, 27 ans, et Samia Bellazouz, 29 ans, sont acquittées. La défense a réussi à convaincre les jurés que le week-end à Londres des deux jeunes femmes, en juin 2007, était bien un week-end de shopping. Il avait pourtant mal tourné quand les policiers britanniques avaient trouvé dans le coffre de leur voiture deux passagers clandestins chinois. Pour l’accusation, il n’en fallait pas plus pour démontrer que ces deux femmes étaient des ‹trafiquantes d’êtres humains›.» (a-271)
Die Anwendung des oben angeführten Rasters der Bedeutungsvarianten wurde für die vorliegende Untersuchung mangels Praktikabilität verworfen. Doch auch ohne das genaue Wissen um den (juristisch exakten) Status der franco-X können, wie anhand der vorausgehenden Beispiele und im weiteren Verlauf (hier besonders Kapitel 7.3) illustriert, Markierungen und deren Bedeutung herausgearbeitet werden. Denn das Nennen der Nationalität unterliegt, so Frédéric Bichon, AFP Berlin (22.06.2009, in einem Telefonat mit der Verfasserin), einem gewissen Interpretationsrahmen: Erscheint dem Autor die Nationalität einer Person (für das Verständnis, Geschehen) relevant, wird sie erwähnt.¹⁶⁹
168 Auf dem Blog der Union et Solidarité des Français de Grande-Bretagne äußert sich die Anwältin der beiden Frauen, Marie-Claire Sparrow, zum Prozessverlauf. Das franco-Kompositum wird von ihr nicht verwendet. Dem kann freilich nicht entnommen werden, ob die beiden Frauen eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht. Sollte sie vorhanden sein, so scheint sie für den Prozess und seine Urteilsfindung jedenfalls keine vorrangige Bedeutung gehabt zu haben. (http://usf-gb.hautetfort.com/archive/2007/10/27/le-proces-de-samia-belazouz-et-de-hanane-cherigui-devant-la.html, abgerufen am 19.08.2010). 169 Auch im Zusammenhang mit den Leitlinien für die Berichterstattung über Straftaten des deutschen Pressekodexes (http://www.presserat.info/uploads/media/Pressekodex_01.pdf, abgerufen am 19.08.2010, cf. außerdem Fußnote 255) spielt die Relevanz der Information eine Rolle; auch hier gibt es einen gewissen Spielraum bei der Auslegung, ob ein begründbarer Sachbezug für die Nennung der Nationalität besteht. Der explizite Verweis darauf, dass vermieden werden
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Es ist des Weiteren sinnvoll, neben der genauen Betrachtung des Einzeltextes den thematischen Kontext mit einzubeziehen, in dem die Komposita auftauchen. Zeigen sich Bedeutungszusammenhänge – z.B. in Form einer Korrelation bestimmter Themen mit der Frequenz der Komposita –, können Schlüsse auf rekurrente Argumentationsmuster gezogen werden. Die franco-Komposita kommen in allen wesentlichen Nachrichtenrubriken vor. Die überwiegende Zahl der untersuchten Presseartikel lässt sich dabei einer der unten angeführten Rubriken zuordnen. Die Reihenfolge dieser Kategorien korreliert nicht mit einer prozentualen Gewichtung; wie bei der thematischen Einteilung der Deutschtürken ist die Hauptthese für die Kategorisierung der nachstehenden Beispiele ausschlaggebend und wären ansonsten häufig auch Mehrfachzuordnungen möglich:¹⁷⁰ (1) Gesellschaft (immigration, identité, culte, échanges) Bsp.: (a-141)¹⁷¹, (a-143)¹⁷², (a-144), (a-147)¹⁷³, (a-148)¹⁷⁴
soll, durch ihre Erwähnung «Vorurteile gegenüber schutzbedürftiger Gruppen» zu schüren, schränkt den Interpretationsrahmen (formal) ein. – In Frankreich gibt es keinen Presserat zur freiwilligen Selbstkontrolle oder einen Pressekodex, in dem publizistische Grundsätze schriftlich fixiert sind. Die individuelle Abwägung des Journalisten ist hier verstärkt gefordert, doch ist zugleich ein (rechtlicher) Rahmen vorgegeben. Bei der Berichterstattung über Straftaten oder Gerichtsprozesse ist das droit au respect de la présomption d’innocence (code civil, art. 9–1) zu beachten: Solange die Schuld eines Angeklagten oder eines vermeintlichen Täters nicht erwiesen ist, gilt die Unschuldsvermutung. (Direkte und indirekte) Spekulationen über dessen Schuld haben demnach zu unterbleiben. (In der Praxis sind die Grenzen freilich bisweilen fließend.) – Zu den Bestrebungen, einen französischen Presserat zu formieren: siehe die Homepage der Association de préfiguration d’un conseil de presse en France (http://apcp.unblog.fr), deren Text Faux avion, fausse tong: le public comprend-il le journalisme actuel?, 08.06.2009 und deutscher Presserat, Trennungsgebot: Presserat gibt Entscheidungshilfe für Redaktionen, 16.11.2008. 170 Die bereits zitierten Passagen werden lediglich mit der Artikel-Sigle vermerkt, neue Texte mit der Belegstelle angeführt. 171 (a-141): «Cette exposition, comme cela avait été dit, à l’époque, a été complétée par une deuxième série de panneaux. Vendredi, le premier président de la Cour des Comptes, Philippe Séguin, l’inaugurera, à l’occasion du colloque franco-algérien consacré à la ‹responsabilité du gestionnaire public local› aux Champs Libres, à Rennes». 172 (a-143): «L’AMG, fondée en 1981, en grande partie par des Marocains ou des Franco-Marocains, gère en effet les principales mosquées du département (Cenon et El-Huda à Saint-Michel).»; (a-143): «Or, côté ACM, Hacène Boubeker, franco-algérien, a longtemps travaillé comme secrétaire général de la mosquée de la rue des Menuts, rattachée, elle, à la Mosquée de Paris, celle de Dalil Boubakeur, la fédération concurrente de l’UOIF». 173 (a-147): «C’est à l’âge de deux ans que ‹le petit franco-maghrébin›, comme il se définit lui-même, est arrivé en France». 174 (a-148): «Houria, 16 ans, préfère plaisanter en évoquant ‹les vieilles femmes qui coursent les jeunes franco-algériennes dans les rues› de sa petite ville de Kabylie ‹pour les marier à
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(2) Kunst & Kultur (cinéma, musique, théâtre) Bsp.: (a-129), (a-134)¹⁷⁵, (a-155)¹⁷⁶, (a-156)¹⁷⁷, (a-163)¹⁷⁸ (3) Bedrohung (délinquance, crimes, violence, terrorisme) Bsp.: (a-108), (a-113), (a-136), (a-142)¹⁷⁹, (a-151)¹⁸⁰ (4) Wirtschaft Bsp.: (a-107)¹⁸¹, (a-132)¹⁸², (a-145)¹⁸³, (a-154)¹⁸⁴, (a-162)¹⁸⁵
leurs fils›. […] Asmaa, jeune franco-marocaine de 15 ans, supporte mal aussi ‹que les hommes se croient tout permis›». 175 (a-133): «Le projet ‹Métissages› a pris vie au sein de l’établissement et hors les murs, avec la participation de Chourouk Hriech, artiste-plasticienne professionnelle franco-marocaine». 176 (a-155): «Le franco-tunisien Abdellatif Kechiche aborde la crise de l’emploi dans ce troisième film humaniste et sensible, après avoir évoqué la dureté de l’immigration dans La faute à Voltaire (2000) puis les quartiers populaires des banlieues avec L’Esquive, récompensé de quatre César en 2004». 177 (a-156): «Dans la catégorie du meilleur film en langue étrangère figure Indigènes, du réalisateur franco-algérien Rachid Bouchared». 178 (a-163): «L’écrivain franco-marocain [Tahar Ben Jelloun], prix Goncourt 1987, donnait une conférence, hier soir, à l’École des mines d’Alès Il explique qu’au fil des voyages et rencontres, il sème des idées et des mots comme des ‹petits cailloux›». 179 (a-142): «Hanane Cherigui, une Franco-Marocaine de 27 ans, et Samia Bellazouz, une Franco-Algérienne de 29 ans, détenues depuis le 2 juin, étaient jugées sur les chefs d’accusation d’‹immigration illégale› et d’‹assistance à l’immigration illégale›, à l’issue d’un procès commencé le 16 octobre». 180 (a-152): «Des éléments nouveaux ont été révélés par la caméra de vidéo surveillance du parking de l’immeuble où habitait Brahim Déby, ainsi que par le témoignage de la femme qui l’accompagnait ce soir-là, ‹une Franco-Tunisienne rencontrée trois heures plus tôt au VIP Room›, précise Me Ahouéké». 181 (a-107): «Diaa Elyaacoubi fait beaucoup parler d’elle depuis quelque temps. Cette Franco-Marocaine de 36 ans, qui incarne la nouvelle génération d’entrepreneurs promoteurs de l’esprit d’entreprise à la française cher à Nicolas Sarkozy». 182 (a-132): «Le conseil de surveillance vient de coopter un financier franco-algérien dont la nomination doit être approuvée par l’assemblée générale du 19 avril». 183 (a-145): «Echanges franco-tunisiens». 184 (a-154): «Le rachat ces jours-ci par le producteur franco-tunisien Tarak Ben Ammar des laboratoires Eclair constitue pour le pôle post-production un nouveau signe (et pour beaucoup un signal d’alerte) de cette ‹trustite› aiguë». 185 (a-162): «Lancée début décembre 2006 depuis Tanger, la chaîne satellitaire financée par des capitaux franco-marocains mise sur la proximité pour s’imposer face à ses rivales arabes».
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(5) Sport¹⁸⁶ Bsp.: (a-137)¹⁸⁷, (a-138)¹⁸⁸, (a-149)¹⁸⁹, (a-150)¹⁹⁰, (a-151)¹⁹¹ (6) Politik & Geschichte Bsp.: (a-140)¹⁹², (a-153)¹⁹³, (a-161)¹⁹⁴, (a-164)¹⁹⁵, (a-165)¹⁹⁶
186 Auch die Deutschtürken kommen im sportiven Kontext vor, jedoch weitaus seltener, als dies bei den franco-Komposita der Fall ist. Ein möglicher Grund für diese höhere Frequenz könnte im Erfolg der bestreffenden Sportler (und in ihrer Disziplin) zu finden sein: Berichtet wird in der Regel nur über die erfolgreichsten Sportler (und über Fußball häufiger als über andere Sportarten). – (a-159): «Cruisergewichts-Boxprofi Firat Arslan (Universum) wird seinen WM-Kampf gegen WBA-Champion Virgil Hill nun doch in Deutschland bestreiten. Der Deutschtürke aus Rottweil wird am 24. November bei der Universum Champions Night in Dresden als zweiter Hauptkämpfer neben WBO-Halbschwergewichts-Weltmeister Zsolt Erdei (Ungarn) antreten.»; (a-160): «Schnell und geschmeidig bewegt sich der Deutschtürke übers Feld, bissig im Zweikampf, routiniert im Stellungsspiel». 187 (a-137): «Le défenseur central Medhi Benatia […] arrivera demain à Lorient […]. À 21 ans, celui qui possède la double nationalité franco-marocaine et qui a choisi les couleurs de son pays d’origine, viendra prendre la place, dans la rotation défensive, de Carl Medjani». 188 (a-138): «La Franco-Marocaine Kenza Wahbi, l’une des trente meilleures marathoniennes au monde (30e aux Jeux d’Athènes, record à 2 h 36 sur la distance) a remporté dimanche, sous une chaleur accablante, le semi-marathon de Gérone en 1 h 1528 (19e scratch sur 1 000 inscrits)». 189 (a-148): «Brahim Hemdani, défenseur franco-algérien des Glasgow Rangers, a reconnu, hier, qu’il craignait une éviction de l’équipe des non-Ecossais comme conséquence du départ de l’entraîneur Paul Le Guen». 190 (a-150): «Hatem Ben Arfa, le Franco-Tunisien qui avait refusé la sélection tunisienne dirigée par Roger Lemerre se doutait peut-être que la rouge tournerait en rouge et bleu pour lui». 191 (a-151): «Un intérêt partagé de l’autre côté de la Méditerranée puisque, de par sa double nationalité franco-algérienne, Lina Boudiaf s’est vu proposer d’intégrer un jour l’équipe nationale d’Algérie… de natation». 192 (a-140): «‹Le projet d’Union Méditerranéenne doit comporter un volet agricole›, a-t-il déclaré lors d’un point de presse, peu avant la fin d’une visite de 24 heures centrée sur la coopération franco-tunisienne». 193 (a-153): «‹On s’attend à ce qu’il y ait davantage d’ambassadeurs issus de la diversité ces prochaines années. Il serait très bienvenu de combler notre retard›, suggère la diplomate franco-algérienne». 194 (a-161): «Alors que se négocie le traité d’amitié franco-algérien, pour la première fois, Alger a permis la semaine dernière à la presse et aux télévisions étrangères d’accéder à l’ancien site nucléaire». 195 (a-164): «Lundi, à son arrivée, le Président était apparu morose pendant la traversée de Marrakech en voiture au milieu d’une foule clairsemée. Pendant la signature d’accords franco-marocains, il s’avachit dans son fauteuil». 196 (a-165): «Accompagné d’Abdelaziz Bouteflika, il traverse à pied le centre historique décoré de portraits des présidents, de banderoles à la gloire de l’amitié franco-algérienne et pavoisé d’oriflammes».
200
Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
Die angeführten Beispiele deuten auf das bereits erwähnte breite Themenspektrum hin. Als Attribut von Abstrakta¹⁹⁷ oder als Eigenname¹⁹⁸ weist diese Verwendung der franco-Komposita, welche in allen Rubriken vorkommt, in der Regel nicht den hier im Zentrum stehenden impliziten Mehrwert auf; im Bereich (6) ‘Politik & Geschichte’ findet sich kaum eine andere Verwendungsweise. Genau umgekehrt zeigt sich die Situation hinsichtlich des Themenblocks (3) ‘Bedrohung’: Hier werden die Komposita fast nur im Zusammenhang mit Personen und somit den dazu gehörenden Bedeutungsgrauzonen verwendet. Die Tendenz bei (4) wirtschaftlichen und, wenn auch weniger stark ausgeprägt, bei (1) gesellschaftlichen Themen geht stärker zum binationalen Gebrauch,¹⁹⁹ in der Sportberichterstattung (5) überwiegt hingegen das personenbezogene Attribut²⁰⁰ – als Disziplin ist hier der Fußball eindeutig Spitzenreiter. In (2) ‘Kunst & Kultur’ ist die Verteilung der beiden Verwendungsweisen nahezu ausgewogen. Die Nationalität erweist sich insgesamt als wichtiges Unterscheidungsmerkmal – sei es aus diskursiv erworbener Gewohnheit; sei es, um einer Person den Expertenstatus zu verleihen;²⁰¹ sei es – wie bei den Beispielen von Simon Mouktadibillah (s.o.) und Ghofrane Haddaoui (Kap. 7.3) – für eine Einordnung der Ereignisse, die bisweilen spekulativ und nicht zwingend faktenbezogen ausfällt. Es ist daher zu fragen, welchen Zweck eine nationalitätenbezogene Relevantsetzung im Text erfüllt – die Markierung als pas français de souche und damit verknüpfte (implizite) Argumentationsmuster dürften dafür in vielen Fällen ausschlaggebend sein.²⁰²
197 (a-139): Nicholas Sarkozy «a souligné que le roi du Maroc Mohammed VI avait loué, lors d’un de leurs entretiens, le dynamisme des entrepreneurs espagnols et américains, et s’est adressé à la présidente du Medef Laurence Parisot, présente à cette ‹rencontre économique franco-marocaine› dans un hôtel de Marrakech». 198 Z.B. Association culturelle franco-tunisienne d’Oullins et du Grand Lyon (http://acftogl. canalblog.com). 199 Für diese Tendenz ist in der Rubrik ‘Gesellschaft’ die Berichterstattung über Austauschprogramme, Vereine und deren Aktivitäten ein wesentlicher Grund. 200 Im Zusammenhang mit (internationalen) Wettkämpfen wird neben dem franco-Kompositum häufig die doppelte Staatsbürgerschaft explizit erwähnt – z.B. bei den Fußballspielern, die sich dafür entscheiden, in der algerischen oder marokkanischen Nationalmannschaft zu spielen. Immer wieder fließt dabei auch das oben zur Rubrik ‘Gesellschaft’ gerechnete Thema identité mit ein. 201 (a-177): «‹C’est un scrutin de liste à la proportionnelle et à la plus forte moyenne› explique le juriste franco-marocain (et bordelais) Abderrahim Nehnahi». 202 «Le passage des frontières culturelles aux frontières politiques s’opère à travers l’institutionalisation du même et du différent, processus à travers lequel s’élaborent les identités
Inferenzprozesse als Basis impliziter Bewertung
201
Ähnliche Verknüpfungen lassen sich in der Debatte um Integration der Kinder bzw. Kindeskinder der Einwanderergeneration ausmachen – Letztere, überwiegend in Frankreich geboren und aufgewachsen, werden häufig markiert; die Relevantsetzung als autre, als Gegenstück zum nous, erscheint als ein konstituierendes Merkmal verschiedener gesellschaftlicher Debatten.²⁰³ Auch der Leser gehört mit den bei der Textrezeption in der Regel vorhandenen Erwartungen Eine gegebene Information ist wichtig und Die verschiedenen Informationen stehen in einem Kausalitätsverhältnis zueinander zum soeben abgesteckten Spannungsfeld von Einsatz und Wirkung der franco-Komposita. Be relevant im Bezug auf den Nachrichtengegenstand, um eine Grice’sche Konversationsmaxime zu bemühen, und dies nicht auf der Basis enthymemischen Argumentierens, sondern transparenten Informierens – so könnte vor diesem Hintergrund ein Leitspruch für den Produzenten lauten. Inwiefern die Bezeichnung als franco-X konkret Botschaften zwischen den Zeilen anbietet, muss dann anhand jedes einzelnen Textes überprüft werden.²⁰⁴
7.2.9 Weitere Techniken der Distanzierung Als Signal für die Nicht-Übernahme der kommunikativen Regresspflicht, also eines Zurückweisens der Verantwortung für den Inhalt einer bestimmten Aussage, haben die verschiedenen Formen der Distanzierung einen wertenden Charakter. Zu diesem Zweck eingesetzt werden können der Konditional ((a-217), (a-17)) sowie Modalverben²⁰⁵ ((a-13), (a-68)). Wie anhand der Textauswahl deutlich, ist eine entsprechende Interpunktion das tendenziell am häufigsten gewählte Mittel, um eine Distanzierung auszudrücken ((a-215), (a-18), (a-19), (a-17), (a-7), (a-13)). Bei der Verwendung von Anführungszeichen sind in diesem
réciproques et les différences, qu’elles soient raciales, religieuses ou linguistiques.» (Kastoryano 2005, 14). 203 Rigoni et al. (2007) heben in ihren Beiträgen den Aspekt der Alterität hervor, sprechen von einer Ethnisierung der Konflikte in den Banlieues und Lycées oder von «mobiles ethniques ou religieux», welche bei der Diskussion um die délinquance ein weitaus größeres Gewicht einnähmen als soziale Fragestellungen. 204 Zur semantischen und assoziativen Nähe von Nationalität und Religionszugehörigkeit cf. Hamès (1989a,b) für die Printpresse und Deltombe (2005) im Zusammenhang mit der Berichterstattung im Fernsehen, skizziert zu Beginn des Kapitels 3.1. 205 Grundlagenliteratur zur Modalität i.a.: Ludwig (1988); Palmer (22006); Portner (2009).
202
Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
Zusammenhang besonders diejenigen Fälle interessant, in denen lediglich ein Wort oder kurze Wortsequenzen gezeichnet werden.²⁰⁶ (a-215), (a-18), (a-7) und (a-19)/(a-17) zeigen – obgleich jedes Mal Anführungszeichen zur Distanzierung eingesetzt werden – unterschiedliche Formen der Bewertung. Die Art der Bewertung hängt hier nicht vom jeweiligen Schriftbild der Anführungszeichen ab, ihre Form entspricht den gewählten Schriftzeichen des Textes („…“ – "…" – «…»). Um dies bzw. die verschiedenen Varianten zu illustrieren, sind die Anführungszeichen der Originale in eckigen Klammern nachgestellt. In (a-215) handelt es sich beispielsweise um eine Distanzierung von der Inhaltsseite des Verbs étudier, wodurch eine Aufspaltung in ‘Schein’ bzw. ‘Vorwand’ und ‘Sein’ bzw. ‘Realität’ erzielt wird. Der Vorwurf, im weiteren Verlauf des Textes aufgegriffen, lautet: Es geht hier nicht um ein Studium, sondern um Indoktrination, Radikalisierung und infolgedessen bewaffneten Kampf. Bedrohungs- und Verteidigungs-Topos werden aktiviert. Letzterer besonders durch ein Nähesignal: Bei den «plusieurs centaines de Français» handelt es sich nämlich um Mitglieder der eigenen Gesellschaft. «UN FRANÇAIS, étudiant l’arabe à l’institut islamique de Dammaj au Yémen, a été tué, et un Franco-Algérien blessé, lorsque des rebelles chiites ont attaqué dimanche leur établissement, d’obédience salafiste, une version rigoriste de l’islam sunnite. Comme eux, plusieurs centaines de Français ‹étudient› [« étudient »] dans des universités islamiques du Moyen-Orient.» (a-215)
In (a-18) signalisiert das in Anführungszeichen gesetzte «proie facile» eine an dieser Stelle nicht notwendige Zurückweisung der kommunikativen Regresspflicht, denn die Äußerung ist als Ganze «M. Pain» zugewiesen. Diese zusätzliche Markierung deutet darauf hin, dass es sich bei «proie facile» um eine problematische Aussage handelt bzw. der Produzent sicherstellen möchte, dass diese Äußerung nicht auf ihn bezogen wird. In diesem Fall handelt es sich möglicherweise um die (nicht überprüfbare) Strategie, etwas zu sagen, ohne es (selbst) zu sagen bzw. die Verantwortung dafür übernehmen zu müssen.
206 Ein Beispiel aus dem Bereich der Lebensmittelindustrie zeigt, dass bisweilen der Wunsch, einen Aspekt hervorzuheben, stärker wiegt als das Wissen um die Bedeutung der verwendeten Interpunktion: An der Frischetheke eines Supermarktes (REWE) in Bornheim-Sechtem wurde Anfang September 2009 «‹frisches› Gemüse» angeboten. Der Kenner fragt sich nun erstaunt, ob die Mitarbeiter ihre Möhren nicht als frisch, sondern nur als ‘frisch’ betrachten, und ist geneigt, zu einem anderen Produkt zu greifen.
Inferenzprozesse als Basis impliziter Bewertung
203
«Le fait qu’il ait critiqué l’islam a d’ailleurs²⁰⁷ fait de lui une ‹proie facile› [„proie facile“], juge M. Pain.» (a-18)
Der erste Auszug aus (a-7) entspricht von der Oberflächenstruktur dem Zitat aus (a-18), die Art der Bewertung ist jedoch dem oben gezeigten «étudient» (a-215) vergleichbar. Wie in (a-18) ist lediglich ein Element mit Anführungszeichen versehen, obwohl die gesamte Aussage einem Sprecher zugewiesen wird. Der Blick auf den Gesamtkontext zeigt, dass ein wesentlicher Aspekt der argumentativen Dynamik dieses Textes die Spannung zwischen Berichtetem vs. Zweifel an der Richtigkeit der referierten Aussagen darstellt (2. Textauszug aus (a-7)). «Ahmadinedschad betonte nach seiner Rückkehr nach Teheran die Einigkeit der beiden Regierungen ‹in vielen Punkten› [„in vielen Punkten“].» (a-7) «Der Konflikt um das iranische Atomprogramm kam den Verlautbarungen zufolge anscheinend nicht zur Sprache.» (a-7)
In (a-19) und (a-17) entsteht durch den Einsatz der Anführungszeichen ein wertendes Gefälle: Die Urteilsbegründung «pour avoir incité à la haine de l’islam» erscheint zusätzlich distanzierungsnotwendig, wohingegen die Beleidigung Mubaraks als Grund für eine Verurteilung lediglich referiert wird. Kontrastiert mit den beiden Auszügen aus (a-216) und (a-15), die keine zusätzliche Interpunktion verwenden, wird der Unterschied augenscheinlich: «Kareem Amer est détenu depuis le 6 novembre 2006. Il a été condamné ce jeudi à trois ans de prison pour avoir ‹incité à la haine de l’islam› [«incité à la haine de l’islam»] plus un an pour avoir insulté Hosni Moubarak, le président égyptien.» (a-19) «La liberté de la presse était déjà bien mince en Égypte. Avec la condamnation à quatre ans de prison prononcée hier par le tribunal d’Alexandrie contre un blogueur pour avoir ‹incité à la haine de l’islam› [« incité à la haine de l’islam »] et insulté le président égyptien Hosni Moubarak sur Internet, c’est la liberté d’expression qu’offre Internet qui est cette fois visée.» (a-17) «Un tribunal d’Alexandrie a condamné jeudi un blogueur à quatre années de prison pour avoir insulté l’islam et le président égyptien Hosni Moubarak sur internet.» (a-216) «Un blogueur égyptien a été condamné hier par le tribunal d’Alexandrie à quatre ans de prison pour avoir insulté l’islam et le président égyptien, Hosni Moubarak, sur Internet.» (a-15)
207 Zur Signalfunktion von d’ailleurs: Kapitel 7.2.4.
204
Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
In (a-13), der zu dem vorangehend erwähnten Fall gehört, wird bei der Formulierung «wegen ‹Beleidigung der Religion und des Präsidenten›» auf den Einsatz eines finiten Verbs verzichtet und so die abgelehnte Übernahme der Regresspflicht angezeigt. Verstärkt wird die Distanzierung durch das an dieser Stelle nicht notwendige Setzen von Anführungszeichen – die Aussage ist ohne deren Einsatz bereits klar auf das Urteil des ägyptischen Gerichts zurückzuführen. Der darauf folgende Satz fügt keine neue Information bezüglich des Nachrichtengegenstandes hinzu, wohl aber hinsichtlich dessen Bewertung. Durch den Einsatz des Modalverbs «soll … haben» werden die Zweifel am Grund für die Verurteilung bzw. deren Rechtmäßigkeit deutlich. In (a-68) dient das Modalverb wiederum zur Einschätzung einer Situation, deren argumentative Verknüpfungen im Zusammenhang mit der Verwendung von jeune (Kap. 7.2.2) bereits aufgezeigt wurden. «Ein ägyptisches Gericht hat einen jungen Blogger wegen ‹Beleidigung der Religion und des Präsidenten› [„Beleidigung der Religion und des Präsidenten“] zu vier Jahren Haft verurteilt. Er soll den Islam und Präsident Husni Mubarak beleidigt haben.» (a-13) «‹Die Betonung auf Disziplin und Gehorsam ist im Islam deutlich stärker ausgeprägt als in anderen Weltreligionen›, sagt Monika Wohlrab-Sahr. So bilden etwa die Fünf Säulen eine feste Struktur, die alle Bereiche des täglichen Lebens strukturiert. Eine Hilfe für all jene, die ihrem Leben eine neue Ordnung geben wollen. So muss es auch bei Silke gewesen sein. Die heute 18-jährige Schülerin erlebte in jungen Jahren ein familiäres Martyrium. Im Alter von elf Jahren kam sie in eine Pflegefamilie, später lebte sie in betreu[t]en Wohnprojekten. Vor zwei Jahren ist sie zum Islam übergetreten.» (a-68)
Die Verwendung des Konditionals in (a-217) ermöglicht Aussagen, deren Inhalt nicht vollständig abgesichert ist, und enthält zugleich eine den Produzenten kommunikativ absichernde Distanzierung.²⁰⁸ Der Verweis auf die vermeintlich
208 Eine durch den Konjunktiv signalisierte Distanzierung hat eine kommunikative, jedoch keine presserechtliche Schutzfunktion. Hier gilt: Jeder, der von Tatsachenbehauptungen in einer Presseveröffentlichung betroffen ist, besitzt einen rechtlichen Anspruch auf Gegendarstellung. Das Gegendarstellungsrecht verleiht der betreffenden Person, Personengemeinschaft bzw. juristischen Person «den einklagbaren Anspruch, in dem Medium zu Wort zu kommen und die Sache aus [der eigenen] Sicht darzustellen. Dabei kommt es nach den Landespressegesetzen nicht darauf an, dass die vorausgegangene Veröffentlichung fehlerhaft oder gar rechtswidrig war.» (Scharlack 2006, 127) Kein Gegendarstellungsanspruch besteht hingegen bei Meinungsäußerungen. Im Unterschied zu (reinen) Tatsachenbehauptungen sind Werturteile und Kritik umfassend durch das Grundrecht auf Meinungs-
Inferenzprozesse als Basis impliziter Bewertung
205
für sich sprechenden Zahlenverhältnisse²⁰⁹ dieses Schlussabsatzes unterstreicht die im Textverlauf dargestellte Diskrepanz zwischen der ‘objektiven’ und der ‘subjektiven’ Wichtigkeit der Nation of Islam, «qui ne révèle pas ses chiffres».²¹⁰ Vermeintlich für sich sprechende Zahlenverhältnisse deshalb, da der im Sinne eines adversativen tandis que verwendete si-Satz über mehrere Unschärfen hinwegtäuscht. Dies gilt besonders im Zusammenhang mit einer präsupponierten Aussage, die im Folgenden näher erläutert wird: Die Wichtigkeit der Nation of Islam wird der Darstellung zufolge durch die sehr viel größere, scheinbar homogene Gruppe zum Islam übergetretener, schwarzer US-Amerikaner relativiert. Die Aussage «surtout depuis le 11 Septembre» suggeriert, dass diese Konvertiten die Anschläge befürworten und, so die Schlussfolgerung, ein Bedrohungspotenzial (für die amerikanische Gesellschaft) darstellen. Dieses scheint umso größer, da die angegebenen «40 % des pratiquants aux Etats-Unis» ohne jegliche Vergleichszahl genannt werden. Der Islam, der hier als Abstraktum zum Agens wird²¹¹ – es sind nicht Menschen, die Muslime werden, sondern es ist der Islam, der sich Anhänger ‘verschafft’ –, fügt sich in die eben dargestellte argumentative Dynamik nahtlos ein. «Si l‘islam, surtout depuis le 11 Septembre, continue de faire des adeptes parmi les Noirs américains, qui seraient environ deux millions, soit 40 % des pratiquants aux Etats-Unis, la Nation d’Islam, qui ne révèle pas ses chiffres, n’en compterait que 50 000.» (a-217)
Der Einsatz des Konditionals in (a-17) dient nicht der Distanzierung vom Inhalt einer Aussage, sondern der Bekräftigung eines Wunsches, d.h. einer vom Autor
freiheit geschützt (Jarass 112011, Art. 5, Rdnr. 3f.), jedenfalls soweit nicht die Verletzung eines entsprechend geschützten Rechts Dritter die Meinungsfreiheit im Einzelfall einschränkt, wie dies etwa bei Aussagen mit beleidigendem oder geschäftsschädigendem Inhalt der Fall sein kann. Allerdings ist die Abgrenzung zwischen Meinungsäußerung und Tatsachenbehauptung regelmäßig schwierig, zumal dem Grunde nach bereits in der Auswahl und Präsentation mitgeteilter – oder fortgelassener – Tatsachen eine wertende Stellungnahme liegt (Wendt 52000, Art. 5, Rdnr. 9). 209 Zahlen vermitteln den Eindruck von Objektivität. Cf. die Überlegungen zur Legitimierung als Experte durch das ‘Label der Wissenschaftlichkeit’ (Kap. 7.2.1). 210 Dargestellt wird diese Diskrepanz beispielsweise anhand der Aussagen und Forderungen Louis Farrakhans, dem ehemaligen Führer der Nation of Islam. Eine wichtige Stellung nimmt außerdem die Aussage «qui ne révèle pas ses chiffres» ein, durch die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Nation of Islam gesät werden. – Cf. außerdem (a-218), der dieselbe Veranstaltung zum Inhalt hat, ohne den hier zitierten Passus jedoch eine völlig andere argumentative Prägung erhält. 211 Cf. Abstrakta als Handelnde (Kap. 6.1.2.1).
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Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
als notwendig erachteten Handlung (Entscheidung), die jedoch nicht zwingend eintreten wird. Zugrunde liegende Topoi wie der Allgemeingültigkeits-Topos²¹² stützen diese Aussage, geben ihr das nötige Gewicht und machen eine weitere Diskussion somit überflüssig. «Après l’organisation en Tunisie du Sommet mondial sur la société de l’information (SMSI) en 2005, l’ONU serait bien inspiré de ne pas donner suite à la candidature égyptienne d’organiser le forum sur la gouvernance d’Internet (IGF) en 2009.» (a-17)
Obschon dem Passus aus (a-182) die Information vorausgeht, dass in Frankreich lebende Marokkaner nicht an den Wahlen ihres Heimatlandes teilnehmen dürfen²¹³ und ihre Wahlabstinenz somit eine ‘verordnete Passivität’ ist, wird die Darstellung von zwei Defizit-Argumenten getragen: (1) der Unbildung von Übersiebzigjährigen, die nicht in der Lage sind, die Situation angemessen zu erfassen («a dire vrai, ces subtilités échappent à», «le plus souvent analphabètes»), und (2) ihrer als fatalistisch und ehrerbietig klassifizierten Haltung. Die Aussage «on acceptera ce que Dieu décidera», die an die arabische Redewendung Inschallah (‘So Gott will’) erinnert, wird hier als Beispiel für einen als islamtypisch präsentierten Fatalismus vorgebracht. Das Adjektiv «fataliste» und die abwertende Einordnung des Sprechers als «pourtant le plus informé en apparence» wirken verstärkend in diesem Sinne. Getragen wird diese Perspektivierung durch den Deviations-Topos. «A dire vrai, ces subtilités échappent à la plupart des ci-devant soldats de l’armée française, largement septuagénaires et le plus souvent analphabètes. Enrôlés pour occuper l’Allemagne dans les années cinquante mais surtout pour aller guerroyer en Indochine (il faut justifier au moins 90 jours en unité combattante pour bénéficier de la précieuse carte et des droits afférents auprès du tribunal des pensions de Bordeaux), ils ont de la politique une vision fataliste et déférente: ‹On acceptera ce que Dieu décidera›, dit l’un d’entre eux, pourtant le plus informé en apparence mais d’une prudence d’éclaireur.» (a-182)
Mit den vorgestellten Beispielen sind die Möglichkeiten der Distanzierung keineswegs erschöpft. So zeigt z.B. der Gebrauch unpersönlicher Konstruktionen im nachfolgenden Kapitel, dass so nicht nur der Eindruck vermeintlicher Allgemeingültigkeit erzielt wird, sondern der Produzent sich dadurch zugleich ein gewisses Maß an Distanzierung sichert (Kap. 7.2.10.1).
212 Allgemeingültigkeits-Topos: Weil bestimmte Rechte/Normen allgemein gültig sind, müssen sie (von allen Menschen/Gesellschaften/Regierungen) geachtet werden (Kap. 8.1.2). 213 (a-182): «Le royaume chérifien organise aujourd’hui ses deuxièmes élections législatives. Ses immigrés de Bordeaux sont intéressés mais passifs, car ils ne pourront pas voter».
Inferenzprozesse als Basis impliziter Bewertung
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7.2.10 Relevantsetzung einer Leerstelle Die Relevantsetzung ist dem semiotischen Begriff der ‘Selektion’ verwandt. Daten auszuwählen und zu präsentieren und sie dadurch in Information zu verwandeln, ist für jede Kommunikation und jede Textproduktion konstituierend. Ein spezifischer Teil einer Datenmenge wird relevant gesetzt, ein anderer bleibt unberücksichtigt. Auch der spezielle Akt des hier behandelten Informierens ist ohne eine Auswahl zu treffen nicht möglich; er gehört zu den Grundvoraussetzungen journalistischen Schreibens – dies gilt für die Themenwahl als solche wie auch für deren textuelle Umsetzung –, und es kommt wie bei vielen Strategien auf den Einsatz im betreffenden Kontext an. Bei den nachfolgend behandelten Leerstellen handelt es sich um unbesetzte Agensrollen, die zu semantischer Vagheit führen, und um Auslassungen, die eine bestimmte Perspektive begünstigen oder falsche Inferenzprozesse anstoßen.
7.2.10.1 Semantische Vagheit In (a-67) verschwimmt die Grenze zwischen den Aussagen Dahmanes und den Einschätzungen des Autors – eine Grauzone, die Anspielungen zulässt. So bleibt ungesagt, wer «ce reproche récurrent» äußert, und damit dem Leser überlassen, die leere Agensstelle auszufüllen. «‹On n’a pas idée de sortir ça à deux mois d’une élection›, s’exclame Abderrahmane Dahmane. Toujours ces²¹⁴ mots de trop. ‹En banlieue, les mecs ne lui pardonnent pas d’avoir été traités de racailles.› Il y a aussi ce reproche récurrent d’‹être trop favorable à Israël›.» (a-67)
In (a-4) gerät aus dem Blick, dass der Schreibende hier eine Situation deutet, bei der er nicht selbst anwesend war («Bei der Vernehmung wurde [wem?] schnell klar, dass …»). Durch diese Art der Darstellung wird eine faktische Eindeutigkeit suggeriert – ein im betreffenden Artikel leitmotivisch eingesetzter Sprachgebrauch. «Im November 2006 stand die Sicherheitspolizei wieder bei Suleiman vor der Tür. Bei der Vernehmung wurde schnell klar, dass die Vernehmungsbeamten Suleiman wegen seiner Ansichten anklagten. ‹Betest Du?›, ‹Fastest Du im Ramadan?›, wollten sie von ihm wissen und machten sich immer wieder über den jungen²¹⁵ Mann lustig.» (a-4)
214 Auf die Komplexität des Demonstrativpronomens wurde bereits unter 6.2.5 hingewiesen. 215 Zum Einsatz des Adverbs jeune/jung: Kapitel 7.2.2.
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Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
Die Agensausblendung dient bisweilen der Verringerung von Komplexität und ist dann Teil der Strategie der Reduzierung. Wie im folgenden Fall: Hier wird der Anschein erweckt, es gebe einheitliche Standards und Einvernehmen, was die Kleidung eines muslimischen Mannes anbelangt. «Explizite Vorschriften für Männer gibt es nicht. Doch sollen sie sich nach dem Vorbild Mohammeds bescheiden kleiden. Westliche Moden wie spitze Kragen oder Krawatte werden nicht gern gesehen. Lange Hosen, langärmlige Hemden und runde Kragen sind erwünscht.» (a-229)
Der Gebrauch unpersönlicher Konstruktionen verleiht Aussagen eine vermeintliche Allgemeingültigkeit, sichert den Produzenten zugleich durch ein gewisses Maß an Distanzierung ab und bietet Raum für Inferenzen. Der fehlende Agens bzw. der unklare Bezug auf eine Referenzgröße (natürliche und juristische Personen, Organisationen …) kann Ausdruck unsicherer Quellen- und Faktenlage sein oder dem Schutz von Informanten dienen. Dies allein anhand des jeweiligen Einzeltextes angemessen zu beurteilen, ist in den meisten Fällen nahezu unmöglich. «Il n’est pas exclu que²¹⁶ l’attentat d’hier ait été commis par une nouvelle ‹génération› de jihadistes locaux rentrés aguerris d’un séjour en Irak. Plusieurs centaines de jeunes Saoudiens sont partis combattre au côté de la rébellion sunnite irakienne et d’Al-Qaeda, contre l’armée américaine et les ‹hérétiques› chiites désormais au pouvoir à Bagdad.» (a-6) «Inoffiziell hieß es, das Gespräch habe sich auch um das iranische Atomprogramm gedreht. Dieses hat bei den Nachbarstaaten Ängste geweckt und eine Debatte über eine mögliche Nutzung der Kernenergie durch die arabischen Golfstaaten ausgelöst.» (a-227)
7.2.10.2 Fokussierung und Auslassung Ein und dieselbe Studie, verschiedene Schwerpunktsetzungen. Die nachfolgenden Überschriften, die – wie immer wieder zu beobachten – nicht in allen Fällen eins zu eins zur inhaltlichen Gewichtung des gesamten Artikels zu sehen sind, zeigen exemplarisch, wie unterschiedlich die Fokussierung auf die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Auftrag gegebene Studie Muslimisches Leben in Deutschland ausfallen kann:
216 Cf. (a-228): «Auch vier Jahre nach dem US-Einmarsch krankt die politische Entwicklung des Landes an Vetternwirtschaft und einer grassierenden Korruption, die für die anhaltende Gewalt mit verantwortlich gemacht werden. Besonders umstritten ist der schiitische Einfluss auf Innenministerium, Polizei und Armee».
Inferenzprozesse als Basis impliziter Bewertung
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«In Deutschland leben mehr Muslime als angenommen» (a-232) «Viel mehr Muslime als gedacht» (a-230) «Der Islam bürgert sich ein» (a-231) «Les musulmans d’Allemagne seraient assez bien intégrés» (a-233)
Die inhaltliche Gewichtung der die Studie betreffenden Artikel fällt naturgemäß unterschiedlich aus. In (a-232) entspricht die Überschrift «In Deutschland leben mehr Muslime als angenommen» auch der Auswahl an Information: Der Text geht lediglich auf die Zahl von in Deutschland lebenden Muslimen ein; kein anderes Ergebnis der Untersuchung wird erwähnt. Eine Fokussierung, die hier insofern problematisch ist, da sie sich zu einer Verknüpfung mit Bedrohungsund Verteidigungs-Topoi geradezu anbietet. Der Vergleich mit (a-234) zeigt, dass dieser Inferenzprozess abgemildert oder verhindert werden kann, indem beispielsweise der Information über die (unerwartet hohe) Anzahl von Muslimen in Deutschland die Information über deren (unerwartet positives) Maß an Integration beigesellt wird: «Die Zahl der hierzulande lebenden Muslime liegt höher als bisher gedacht. Das besagt eine vom Bundesinnenministerium im Vorfeld der Deutschen Islamkonferenz veröffentlichte Umfrage unter 6000 aus dem Ausland zugezogenen Personen. Demnach wohnen bis zu 4,3 Millionen Muslime in der Bundesrepublik – bis zu 5,2 Prozent. Bisher ging man von maximal 3,5 Millionen Muslimen aus. Laut Studie sind 45 Prozent deutsche Staatsangehörige, 55 haben eine ausländische Nationalität.» (a-232) «LES MUSULMANS vivant en Allemagne sont beaucoup plus nombreux, mais aussi mieux intégrés que ne l’avaient imaginé les autorités allemandes. C’est ce que viennent de montrer les résultats d’une étude commandée par le ministère allemand de l’Intérieur. Jusqu’à présent, Berlin estimait à environ 3,4 millions le nombre de musulmans ayant élu domicile outre-Rhin. En réalité, ils sont 4,3 millions, soit 5 % de la population. Mais seulement la moitié d’entre eux possède la nationalité allemande, la législation fédérale leur interdisant de détenir deux passeports.» (a-234)
Die Berichterstattung über Gerichtsverfahren und Inhaftierung des ägyptischen Bloggers Mohammed Abdul Karim Suleiman (Pseudonym: Karim Amer) wurde bereits mehrfach erwähnt²¹⁷ – und wird auch im Topos-Kapitel (Kap. 8.1.2) nochmals aufgegriffen. An verschiedenen Stellen zeigt sich dabei, wie die Auswahl
217 Cf. die Kapitel 6.1.2.1, 7.1.2 sowie 7.2.
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Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
von Informationen bzw. die Art ihrer Darstellung²¹⁸ Inferenzprozesse begünstigen kann: Die Fokussierung auf die Meinungsfreiheit oder inhaltliche Verkürzungen machen beispielsweise den Allgemeingültigkeits-, den Defizitund den Demokratie-Topos anschlussfähig.²¹⁹ So geschehen in den Texten, in denen die Dichotomie Islam vs. Islamkritik als primäre Erklärungsachse dient (religiöse Aspekte werden hier auf Kosten gesellschafts- und machtpolitischer Aspekte zusätzlich aufgewertet²²⁰), oder in den Artikeln, in denen anhand des Gegensatzpaares Regierung (negativ besetzt) vs. demokratische Opposition (positiv besetzt)²²¹ lediglich eine Deutung des Geschehens (aus Sicht Karim Amers, anderer Blogger und Menschenrechtsorganisationen) angeboten wird. Die Präsentation auf der Grundlage dieser beiden Dichotomien erzeugt, in Kombination mit stützenden Topoi, das intuitiv akzeptierte Gefühl der (‘objektiven’) Richtigkeit. Mögliche Gegenpositionen oder Differenzierungen²²² werden im Zuge einer solchen Perspektivierung ausgeblendet oder fallen – aufgrund mangelnder argumentativen Stützung²²³ – nicht ins Gewicht. So werden die bereits zuvor existierenden enthymemischen Schlüsse bestätigt. Exemplarisch die Artikel (a-16) und (a-19), die beide eine Haltung zugunsten des inhaftierten Bloggers anregen:
218 Durch eine entsprechende Zeichensetzung kann zusätzlich eine Wertung mit einfließen: So wird in (a-17) beispielsweise nur für einen Teil der Aussage eine Distanzierung vorgenommen und somit indirekt dieser Verurteilungsgrund in Frage gestellt: «Avec la condamnation à quatre ans de prison prononcée hier par le tribunal d’Alexandrie contre un blogueur pour avoir ‹incité à la haine de l’islam› [« incité à la haine de l’islam »] et insulté le président égyptien Hosni Moubarak sur Internet, c’est la liberté d’expression qu’offre Internet qui est cette fois visée». 219 Siehe i.a. Kapitel 7.2.1 und 8.1.2. 220 Hier spielen Überschriften und Leitabsätze als Eyecatcher bzw. Lesfolie eine wichtige Rolle. Z.B. bei (a-30): «Islam-Kritik – Blogger muss für Jahre in Haft». Cf. Kapitel 7.1.2. 221 (a-33): «Es ist das erste Mal, dass ein Blogger in Ägypten tatsächlich verurteilt wurde. Mehrere Blogger, die ebenfalls im vergangenen Jahr wegen Kontakten zur demokratischen Opposition festgenommen wurden, kamen inzwischen frei.» Die Muslimbrüder, ebenfalls eine Oppositionsgruppe, bleiben in solchen Darstellungen häufig unerwähnt.; (a-29): «Für Bürgerrechtler sind die Internet-Tagebuchschreiber Hoffnungsträger der Demokratisierung». 222 (a-205): «Selbst Blogger-Kollegen, die sich solidarisch mit Abdel Karim zeigen, kritisieren hinter vorgehaltener Hand den antiislamischen Extremismus und die Hitzköpfigkeit des Kollegen, der sich in allen Punkten schuldig bekannt hat. Dennoch reisten sie zu jeder Verhandlung nach Alexandrien, denn es war der erste Prozess, in dem ein Blogger wegen der Inhalte seiner Schriften vor Gericht stand.» – Der Verurteilungsgrund ‘wegen Volksverhetzung’ wurde beispielsweise nur in zwei Artikeln erwähnt ((a-33), (a-4)). 223 Der Versuch, Komplexität zu reduzieren oder mit zugewiesenem Artikelumfang zu haushalten, könnten zwei mögliche Gründe für eine einseitige argumentative Stützung sein.
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«Blogger in Ägypten wegen Beleidigung des Islams verurteilt [Islam vs. Islamkritik] In Ägypten ist ein Blogger zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er in seinem Internet-Forum den Islam und Präsident Husni Mubarak beleidigt haben soll [Distanzierung]. Abdel Karim Suleiman, ein ehemaliger Jura-Student Anfang 20, ist der erste Blogger [suggeriert: weitere werden folgen] in dem arabischen Land, der für seine Veröffentlichungen angeklagt wurde. Menschenrechtler und Kollegen kritisierten das Urteil [Expertenmeinung] vom Donnerstag. Sie fürchten negative Folgen für die Meinungsfreiheit im Internet. Der Muslime und Liberale Suleiman [Relevantsetzung von Attributen] gab vor Gericht zu, die acht umstrittenen Artikel geschrieben zu haben. Allerdings habe er nur seine persönlichen Ansichten dargelegt. In einem schrieb Suleiman, die angesehene Al-Aschar-Universität vermittele extremistische Vorstellungen. Überdies hatte er Mubarak mit diktatorischen Pharaonen aus dem alten Ägypten gleichgesetzt. Das Internet hat sich zum wichtigsten Forum für Kritiker der Regierung entwickelt, da die größten Tageszeitungen und Fernsehsender im Land staatlich kontrolliert werden [Regierung vs. demokratische Opposition].» ((a-16), Kap. II.2) «Egypte: quatre ans de prison pour un blogueur Abdel Kareem Nabil Suleiman, un blogueur égyptien connu sous le pseudo de Kareem Amer, a été condamné jeudi à quatre ans de prison ferme. La raison de son emprisonnement: [Hervorhebung durch Ellipse und Doppelpunkt] des propos tenus sur son blog. Une décision condamnée par Reporters sans frontières [Expertenmeinung]. Kareem Amer est détenu depuis le 6 novembre 2006. Il a été condamné ce jeudi à trois ans de prison pour avoir ‹incité à la haine de l’islam› [Distanzierung], plus un an pour avoir insulté Hosni Moubarak, le président égyptien. Le blogueur dénonçait [Indikativ > assertierte Aussage] régulièrement les dérives [Positionierung durch Wortwahl] religieuses et autoritaires du gouvernement de Hosni Moubarak. Il avait également critiqué les plus hautes institutions religieuses du pays, en particulier l’université sunnite Al-Azhar, dans laquelle il étudiait le droit. Reporters sans frontières (RSF) s’indigne de [Expertenmeinung] cette condamnation, considérée comme ‹un message d’intimidation adressé au reste de la blogosphère égyptienne, qui avait prouvé ces dernières années qu’elle constituait un contrepouvoir efficace aux dérives autoritaires du gouvernement›. L’Egypte figure d’ailleurs [Signalwort²²⁴ leitet wichtiges Pro-Argument für den Blogger ein, Schlussfolgerung: inferenzbasiert] sur la ‹liste des treize ennemis d’Internet 2006› de l’organisation. ‹Suite à cette condamnation, nous demandons aux Nations unies de rejeter la demande faite par ce pays de recevoir en 2009 le forum sur la gouvernance d’Internet (IGF)›. ‹Cette lourde sentence est enfin un camouflet pour les organisations internationales et les Etats qui soutiennent la politique du président Hosni Moubarak. Il est temps que la communauté internationale s’élève contre les atteintes récurrentes à la liberté de la presse et aux droits des internautes [Allgemeingültigkeits-Topos] dans ce pays›, estime RSF [Expertenmeinung].» ((a-19), Kap. II.2)
224 Cf. das Kapitel 7.2.4.
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Dass und wie Fokussierung und Auslassung zu falschen Inferenzprozessen führen können, zeigt die Berichterstattung über den Mord an Ghofrane Haddaoui und das anschließende Gerichtsverfahren (Kap. 7.3).
7.2.11 Interpunktion Die Zeichensetzung gehört so elementar zur Gestaltung eines (schriftlichen) Textes, dass es hier nicht darum gehen kann, ihre Wichtigkeit zu betonen, sondern vielmehr darum, die suggestiven Möglichkeiten, die ihre Anwendung bietet, zu illustrieren. In Kapitel 7.2.9 wurde bereits die Rolle der Anführungszeichen bei verschiedenen Formen der Distanzierung gezeigt. Nicht nur die Anführungszeichen, jedes (Satz-)Zeichen lässt sich auch in einem bewertenden Sinne verwenden.²²⁵ Es ist allerdings nicht der typografische Charakter des einzelnen Zeichens (allein), der eine Bewertung bzw. eine Inferenz in Gang setzt (dies zeigt (a-220), in dem das durch die semantische Information als solches dargestellte Skandalon durch die Satzzeichen reliefartig hervorgehoben wird)²²⁶; es sind die Einbettung in die argumentative Dynamik und/oder die Stützung durch impli-
225 Figueras (2001, 7) weist auf die Wichtigkeit der Zeichensetzung hin, um Struktur und Inhalt eines geschriebenen Textes zu artikulieren, und betont die Schwierigkeit, Normen für dieses «sistema de marcas vinculado a la construccioón del texto» zu definieren. So zeigen die nachfolgenden Sätze verschiedene Möglichkeiten subjektiver Relevantsetzung, die sich voll im Einklang mit der spanischen Grammatik befindet: «a. Ha dicho que irá y se quedará unos días y cumplirá su promesa. b. ¿Ha dicho que irá y se quedará unos días? ¿Y cumplirá su promesa? c. Ha dicho que irá y se quedará unos días; y cumplirá su promesa. d. Ha dicho que irá. Y se quedará unos días y cumplirá su promesa.» (Figueras 2001, 8). Vor diesem Hintergrund wählt Figueras (2001) einen pragmatischen Zugang, um sich Rolle und Funktion der Interpunktion zu nähern. Sie tut dies auch unter Berücksichtigung eines akademischen Sprachgebrauchs. Figueras (2001, 11) betrachtet die Interpunktion als wirksames Mittel der Leserlenkung, die einzelnen Zeichen quasi als Hinweise für die vom Produzenten anvisierte Interpretationsweise des Textes: «Entendemos que solo adoptando un enfoque pragmático resulta viable plantear una teoría que unifique los distintos usos normativos de cada signo. Dese esta perspectiva, la puntuación puede concebirse como un mecanismo cuya función básica es controlar, de modo eficiente, la interpretatción del lector». 226 (a-220): «Denn sie – und darauf kommt es an dieser Stelle an – will als Lehramtsanwärterin in Bremen ‹Biblische Geschichte› unterrichten. Und dabei das Kopftuch tragen dürfen.» Durch die Sequenzierung werden zwei deutliche Hinweise für die Lesart der darin enthaltenen Aussagen relevant gesetzt: Zunächst geht es um den Wunsch, als Muslimin das Fach ‘Biblische Geschichte’ zu unterrichten. Hervorgehoben wird dieses scheinbare Paradoxon durch den Einschub «und darauf kommt es an dieser Stelle an». Dem folgt der, trotz der Konjunktion ‘und’, durch einen Punkt abgetrennte und auf diese Weise ebenfalls markierte Nebensatz («und
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zite Argumentationsmuster, die es zum Hinweis für (s)einen konkreten Mehrwert machen. Ist im Folgenden von ‘Pause’ oder ‘Zäsur’ als dem die Rede, was durch Interpunktion geleistet wird, ist dies eine bewusste Vereinfachung: Natürlich geht es um Intonantionskonturen, zu denen auch Pausen gehören können. In aller Regel spielt die Interpunktion dabei mit dem zusammen, was ohnehin schon semantisch und syntaktisch angelegt ist. Sie ist eine zusätzlich Hilfe, die zeigt, wie der Text gelesen oder rezipiert werden soll. Neben der textstrukturierenden Funktion, die allen Satzzeichen eigen ist, unterscheiden sich die Art der gesetzten Pause und die Stärke ihrer Hervorhebung: So signalisiert eine Klammer z.B. eine Ergänzung durch die eine Unterbrechung (auf der sprachlichen Oberfläche) entsteht²²⁷, oder sie führt eine weitere Diskursebene ein (Figueras 2001, 36)²²⁸; die Abtrennung einer Sequenz vom Komma über das Semikolon hin zum Punkt zeigt eine zunehmende Gewichtung der gesetzten Pause²²⁹, und der Gedankenstrich markiert im Vergleich zu Komma²³⁰ und Dop-
dabei das Kopftuch tragen dürfen»), dessen Konstruktion «will tragen dürfen» zusätzlich die unterstellte Absurdität des Ansinnens illustriert. 227 (a-1): «Le contexte général, en tout cas, n’est guère rassurant. Dans ses notes, l’Uclat s’inquiète notamment du récent ralliement du GSPC (Groupe salafiste pour la prédication et le combat) à al-Qaida. Cette branche dissidente du GIA algérien (aujourd’hui anémié) a d’ailleurs changé de dénomination pour s’appeler ‹al-Qaida pour le Maghreb islamique›. Ce qui traduit, pour les analystes, sa volonté d’‹internationaliser› ses actions.» Die in Klammer gesetzte Information «aujourd’hui anémié» skizziert, szenisch gesprochen, den Hintergrund, vor dem sich der Anschluss der GSPC an Al-Kaida abspielt und für den Leser verständlich wird. Durch die darauffolgende Einschätzung «‹internationaliser› ses actions» (euphemistischer Sprachgebrauch) kommt eine Bedrohung, auch und gerade für Frankreich, ins Spiel. (Zur Rolle des Verteidigungs-Topos cf. auch den Textauszug im Zusammenhang mit den drei Punkten am Ende des Kapitels). 228 (a-67): «‹Sarkozy me parlait de Boubakeur [recteur de la Mosquée de Paris et président depuis l’origine du CFCM, ndlr] comme de mon chef de troupe. ‹Ecoutez votre chef de troupe›, me disait-il. C’était le Concordat revu par la vieille gestion coloniale, sur le mode: les Arabes parlent aux Arabes.›» (Cf. (a-2) im Fließtext). 229 (a-205): «Eine neue Einheit mit dem Titel ‹Kampf gegen Computer- und Internetverbrechen› wurde geschaffen; die Computer des Internetcafes, aus dem die koptische Bloggerin ‹Hala el-Masri› schrieb, wurden konfisziert; zahlreiche Blogger wurden bei Demonstrationen festgenommen. […] Leser seines Blogs warnt er sogleich, dass er ‹zynisch, libertär und säkular› sei. Er hatte im Streit um die Mohammed-Karikaturen publik gemacht, dass eine ägyptische Zeitung Monate zuvor bereits die Zeichnungen abgedruckt hatte, ohne dass dies zu Reaktionen führte, und eine Kampagne ‹Buy Danish› mitorganisiert». 230 Die Hervorhebung der hervorgehobenen Passage ist in (a-14) stärker, die Zäsur deutlicher gesetzt als in (a-219): (a-14): «Abdel Karim Soliman, 22 ans, un étudiant d’Alexandrie, avait dans son journal en ligne, qualifié l’université Al-Azhar du Caire – haut lieu de l’islam sunnite – d’‹université du terrorisme› et critiqué le président Moubarak.»; (a-219): «Etudiant
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pelpunkt²³¹ eine noch stärkere Zäsur.²³² Letzteres rührt unter anderem von einer im Zusammenhang mit dem Doppelpunkt häufig verwendeten Konstruktion her: links die These:²³³ rechts die Ausführung der These – ein Mittel der Leserlenkung, das weniger eine Unterbrechung im Textfluss als dessen Kontinuität betont.²³⁴ Die Umkehrung des eben erwähnten Musters links These: rechts deren Ausführung täuscht in (a-2) eine logische Konsequenz als gegeben vor,²³⁵ die lediglich suggeriert, aber nicht belegt wird. Die Bewegung geht dabei – scheinbar zwingend und Kausalität suggerierend – von (1) den Einzelfällen Deligöz, Ahadi und Ali zur Homogenisierung ‘der muslimischen Frauen’ und (2) verschiedenen Schauplätzen bzw. Kontexten zu ‘den westlichen Gesellschaften’, auch Letzteres eine Reduktion von Komplexität. In der Aufzählung werden des Weiteren zwei
en droit à la prestigieuse université d’Al-Azhar, au Caire, siège des plus hautes autorités de l’islam sunnite, il avait, dans son le 28 octobre 2006, accusé ces dernières de diffuser des idées extrémistes». 231 (a-2): «In anderen Ländern werden Konvertiten zwar nicht von Gerichten bestraft, aber ausgegrenzt: Familie und Freunde wenden sich ab, Menschen verlieren ihren sozialen Rückhalt.»; (a-4): «Meinungsfreiheit zählt in Ägypten nicht viel: Vier Jahre muss ein Blogger ins Gefängnis, weil er sich kritisch über Präsident Mubarak und den Islam geäußert hat. Blogger sehen das Urteil als ‹gefährlichen Präzedenzfall›». 232 Für die Wahl eines Satzzeichens können auch persönliche Vorlieben und Modeerscheinungen eine Rolle spielen. Die Beobachtung der Interpunktion über einen größeren Zeitraum könnte Aufschluss darüber geben, wie die einzelnen Satzzeichen im Verhältnis zu einander und zum Text gewichtet werden, ob sich Veränderungen beim Einsatz von Gedankenstrich und Doppelpunkt oder Punkt und Semikolon etc. aufzeigen lassen und warum dies der Fall sein könnte. 233 These bedeutet hier Argument oder allgemein das Thema, das nach dem Doppelpunkt weiter ausgeführt oder durch Beispiele gestützt wird. 234 Als Varianten bei der Vorgabe von Lesefolien sind außerdem Sätze oder Ellipsen zu nennen, die die Funktion eines (Zwischen-)Titels ausfüllen, ohne typografisch zwingend als solche gekennzeichnet zu sein: (a-6): «Jihadistes aguerris. Une attaque sanglante avait déjà eu lieu aussi à l’été 2004 dans les locaux d’une entreprise occidentale du port pétrolier de Yanbou, sur la mer Rouge, faisant six morts occidentaux (deux Américains, deux Britanniques, un Australien et un Canadien). Quant à la région de Tabouk, elle est très liée aux tribus bédouines de Jordanie, dont certaines ont des ramifications jusque dans l’ouest de l’Irak». 235 Die erstaunliche, durch den Doppelpunkt als logisch angebotene Verknüpfung verschiedener Aussagen macht auch das nachfolgende Beispiel deutlich, in dem ganz nebenbei der Islam, also die Muslime, zu Glaubens-Fanatikern degradiert werden: (a-40): «Die Ex-Muslime wollen sich aber nicht beirren lassen. Jede Aufklärung sorge für ‹heftige Gegenreaktionen›, sagt Michael Schmidt-Salomon, dessen Bruno-Giordano-Stiftung die Kampagne unterstützt. Das ist ein sicheres Indiz, dass es die Ex-Muslime nicht nur auf den Islam, sondern auf Glaubens-Fanatiker insgesamt abgesehen haben: Immerhin war es Schmidt-Salomon, der einst kundtat, er halte das Christentum für ‹die dümmste Religion› überhaupt».
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getrennt voneinander zu betrachtende Themen (Frauenrechte und Apostasie) zu einer Einheit verbunden und mit dem Gegensatzpaar muslimische Gesellschaft vs. westliche Gesellschaft gekoppelt. Es bleibt dem Leser überlassen, den Zusammenhang herzustellen bzw. den «offensichtlich[en]» Schluss daraus zu ziehen: «Der Fall Deligöz, jetzt der Fall Ahadi, dazu die Geschichte von Ayaan Hirsi Ali, die in den Niederlanden für die Rechtsliberalen im Parlament saß, sich unter Kritik vom Islam abwandte und nach Morddrohungen in die USA übersiedelte: Die Probleme muslimischer Frauen in westlichen Gesellschaften sind offensichtlich.» (a-2)
Der Doppelpunkt in (a-222) verknüpft zwei sich widersprechende Aussagen zum selben Geschehen – die Deutung des Schreibenden und die Beurteilung eines Politikers²³⁶ – und evoziert so den Widerspruchs-Topos: «Ses efforts diplomatiques semblent avoir échoué à convaincre également les EtatsUnis et Israël, au cours d’une dernière et étrange réunion avec Ehoud Olmert: ‹Nous ne pouvons pas dire qu’il y a quelque chose de désespéré›, a déclaré samedi M. Abbas au sujet de cette rencontre.» (a-222)
In (a-99) sind nur bei zwei der «fanatischen Terroristen» Angaben zu den Berufen der Eltern von Interesse: Bei Fritz Gelowicz, der wie vermerkt beim Vater aufwuchs, wird der (angesehene) Beruf der Mutter ebenfalls aufgezählt. Dem ist nicht so bei Daniel Schneider. Hier werden lediglich der Beruf des Vaters und die Eigenschaft «getaufter Katholik» erwähnt. Möglich, dass für die Eltern von Attila Selek und Adem Yilmaz keine Informationen vorlagen. Die Auswahl und Darstellung der Informationen legen jedoch die Vermutung nahe, dass es hier nicht um die im Titel²³⁷ angekündigte Aufklärung geht. Stattdessen wird das Bedrohungspotenzial des Islams herausgearbeitet, der für ‘deutsche Jungs’²³⁸ aus gutem Hause – und hierfür sind die Angaben in Klammern argumentativ tragend – eine Verführung darstellt, die sie auf die schiefe Bahn geraten, die Schule schmeißen und zu Terroristen werden lässt. Hervorzuheben ist außerdem eine Umdeutung von Werten, die zeigt, wie wichtig die Kontextualisierung
236 Die Art der Formulierung von Abbas könnte diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet sein und den «échec» indirekt bestätigen; nichtsdestotrotz wird durch diese Form der Präsentation ein Widerspruch relevant gesetzt. 237 «So wurden aus deutschen Jungs Islam-Terroristen». 238 Diese Relevantsetzung ist im vorliegenden Fall für den Textzusammenhang derart wichtig, dass die Gruppe der ‘deutschen Jungs’ nicht ausdifferenziert, sondern der Türke Adem Yilmaz dieser zugerechnet wird – ein in dieser Richtung eher unüblicher Einsatz der Strategie der Reduzierung (Kap. 6.2.8.1).
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einer Aussage für deren Bedeutung ist – und wie variabel Bewertungen gehandhabt werden können. Was ansonsten durchaus positiv bzw. als gesund betrachtet wird (sich des Alkohols zu enthalten, nicht zu rauchen), wird hier negativ bewertet. Die Umdeutung dieser Eigenschaften und Haltungen von positiv zu negativ hängt im vorliegenden Fall mit der als solcher dargestellten Abwendung von der wir-Gruppe zu einer bedrohenden Fremdgruppe zusammen.²³⁹ «Dann der Bruch» gibt den Hinweis für eine entsprechende Lesart. «• Fritz Gelowicz (29, Mutter Ärztin, Vater Unternehmer) wuchs beim Vater auf. Er machte Sport, trank Alkohol, studierte Wirtschaftsingenieurwesen. Dann der Bruch: Er wird Muslim, trinkt keinen Alkohol mehr, raucht nicht mehr, besucht die Moschee. 2006 soll er ein Terrorlager in Pakistan besucht haben. • Daniel Schneider (23, getaufter Katholik, Vater Bankangestellter). Einserschüler, Sportler. Ein Jahr vor dem Abi schmeißt er die Schule, konvertiert. • Atilla Selek (24) war Autolackierer, verkaufte Gebrauchtwagen. Für die Anschläge soll er in Istanbul Zünder besorgt haben. • Adem Yilmaz (30) arbeitete bei der Bahn und am Frankfurter Flughafen. Er soll Männer in Terrorlager vermittelt haben. ‹Ich stehe nur für Allah auf›, hatte er zum Prozessauftakt gesagt und sich geweigert, vor dem Gericht aufzustehen [Unterstreichung im Original enthalten]. Gestern wieder. Richter Ottmar Breitling (62) verordnete zwei Wochen Ordnungshaft.» (a-99)
Was der Einsatz von Klammern argumentativ leisten kann – bzw. im nachfolgenden Fall könnte – zeigt (a-2): Durch die eingeklammerte Aussage wird die Dichotomie wahrer, friedlicher Islam vs. vom wahren Kern abweichender, gewalttätiger Islam aktiviert. Auf dieser Grundlage wird hinsichtlich der «radikale[n] Auslegung [der Scharia]» sowie der «Internet-Islamisten» nicht nur das Bedrohungspotenzial skizziert, sondern beides als unislamisch, da nicht dem Koran gemäß, beurteilt. Dieser Vorgang wird durch «allerdings», das die Aussagen innerhalb und außerhalb der Klammer miteinander verbindet, visualisiert. Die Weglassprobe zeigt, dass die Klammersetzung mit der darin enthaltenen Aussage (*der Koran selbst verbietet weltliche Bestrafung für Konvertiten) keiner weiteren semantischen Hilfestellung bedürfte, um genau diesen Inferenzprozess anzustoßen:²⁴⁰
239 Cf. die Kapitel 6.1.4 und 7.2.7. 240 Ähnlich gelagert ist auch das folgende Beispiel: «In Nordrhein-Westfalen ist Frau K. bereits einmal gescheitert. Und in Bremen, sagt das Bildungsressort, würde sie Konflikte in der Schule ‹geradezu provozieren›. 2005 war Frau K. bereits einmal an einem Gymnasium tätig – zumindest für ein Vierteljahr. Zwar sei es der Schule gelungen, ‹die Konflikte zu beherr-
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«Das islamische Recht der Scharia droht nach radikaler Auslegung Konvertiten mit der Todesstrafe – und damit drohen die Internet-Islamisten auch dem Zentralrat der Ex-Muslime (der Koran selbst allerdings verbietet weltliche Bestrafung für Konvertiten).» (a-2)
Im nachfolgenden Textauszug (a-220) wird mittels Gedankenstrich die Information von Einzelfallregelungen für Kopftuchträgerinnen in «vier anderen Bundesländern» relevant gesetzt. Ein Argument im Sinne der später thematisierten, im Vergleich stärkeren Religionsferne der bremischen Verfassung²⁴¹ und ein Bezug auf den Diskussionsgegenstand der rechtlich garantierten Freiheit der Berufswahl, welcher eine berufliche Ausweichmöglichkeit für Frau K. einbringt. «Und so wurde für Frau K. eigens das bremische Schulgesetz geändert. Keine Referendarin, so steht da jetzt, darf ein Kopftuch tragen, sobald sie in der Schule ‹eigenverantwortlichen Unterricht› geben will. Eine Ausnahme für den Einzelfall ist in Bremen – anders als in vier anderen Bundesländern – im Gesetz nicht vorgesehen.» (a-220)
Die Juxtaposition (unverknüpfte Beiordnung) zweier nicht kausal miteinander zusammenhängender Elemente und deren so erzielte inhaltliche Parallelsetzung von Abkehr von und Einsatz für müsste konsequent weitergedacht im hier nicht unterstellten Umkehrschluss lauten: Wer sich nicht vom Islam abwendet, ist gegen Menschenrechte. «Ex-Muslime rufen zur Abkehr vom Islam auf – Für Menschenrechte» (a-50)
In Kapitel 7.1.2 wurde bereits auf die die Fokussierung des Lesers bündelnde Wirkung von Links- und Rechtsversetzung sowie Ellipsen hingewiesen.²⁴² Eine
schen›, sagt Detlef von Lührte aus dem Bildungsressort. Dennoch habe es ‹erhebliche Auseinandersetzungen› in der Lehrerschaft gegeben. Und schließlich habe ja auch der Radikalenerlass gezeigt, dass nicht jeder, der Lehrer werden wolle, auch als solcher ausgebildet werden müsste [Conclusio].» (a-220) Durch die mittels eines Gedankenstrichs erzielte Rechtsversetzung wird in (a-220) eine für die argumentative Dynamik wichtige Aussage hervorgehoben. Die Zeitangabe «zumindest für ein Vierteljahr» vermittelt durch die mögliche Überprüfbarkeit Faktizität und lanciert zugleich einen Inferenzprozess (länger war dieser Zustand nicht tragbar), in dessen Folge der Bedrohungs-Topos thematisiert und die abschließende Conclusio möglich wird. 241 (a-220): «Und Bremen, die bremische Verfassung, ist religionsferner als andere die Bundesländer [sic]». 242 (a-2): «Auch in Europa ist der Abschied vom Glauben unter Muslimen ein Tabu. Er vollzieht sich allenfalls hinter verschlossenen Türen – und wehe, wer sich nicht an diese Regel hält.» Hier wird der Bedrohungs-Topos aktiviert und – durch das Nähesignal «in Europa», das sich auf die wir-Gruppe bezieht –, zusätzlich auf den Verteidigungs-Topos rekurriert.;
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entsprechende Interpunktion dient auch hier als unterstützendes Hilfsmittel. In Anlehnung an die in Kapitel 7.2.1 bereits vorgestellten Textauszüge nachfolgend die Beispiele (a-264) und (a-263): Der Vergleich von (a-265) und (a-217) zeigt mit (a-264) die Möglichkeit, eine Information mittels eines Einschubs relevant zu setzen. Die Gedankenstriche markieren dabei eine visuell stärkere Zäsur als die Kommata in (a-217), wo die Hervorhebung der Aussage insbesondere von einem semantischen Hilfsmittel, nämlich «surtout», getragen wird. «In Zusammenhang mit seiner plötzlichen Abreise aus Deutschland im Herbst 2001 – kurz nach den Anschlägen vom 11. September – fürchtete sie offenbar, er könne Schlimmes im Schilde führen.» (a-264) «Si l’islam, surtout depuis le 11 Septembre, continue de faire des adeptes parmi les Noirs américains, qui seraient environ deux millions, soit 40 % des pratiquants aux ÉtatsUnis, la Nation d’Islam, qui ne révèle pas ses chiffres, n’en compterait que 50 000.» (a-217)
Für das bereits in Kapitel 7.2.1 erläuterte Beispiel (a-263) ist im Zusammenhang mit der Interpunktion folgende Beobachtung zu ergänzen: «Déménager» und «au plus vite» hängen inhaltlich eng zusammen. Sie werden jedoch durch das Setzen der Punkte visuell voneinander getrennt, um eine stärkere Hervorhebung des jeweiligen Aspekts zu erreichen. Aus dem Blickwinkel der Textdynamik betrachtet, wird die Dringlichkeit der geplanten Handlung bzw. die Situation, die zu diesem Wunsch führte, dadurch unterstrichen. «Déménager. Au plus vite. C’est l’obsession des époux Zakkawi, qui habitent Zekak el-Balat, l’un des nombreux quartiers mixtes de la capitale libanaise: ‹Nous avons peur, explique l’époux. Ma femme n’ose plus sortir. Jamais nous n’aurions pensé que les relations entre musulmans se dégraderaient à ce point là.›» (a-263)
Einen suggestiven Charakter haben rhetorische Fragen bereits per definitionem. Dies gilt auch für die beiden nachfolgenden Textauszüge. In (a-105) wird durch die Antwort auf die Frage, die keine ist (dies ist nicht auszuschließen), der Bedrohungs-Topos anzitiert. In (a-222) ist die (elliptische) Frage an die erste Position
(a-220): «In Nordrhein-Westfalen ist Frau K. bereits einmal gescheitert. Und in Bremen, sagt das Bildungsressort, würde sie Konflikte in der Schule ‹geradezu provozieren›. 2005 war Frau K. bereits einmal an einem Gymnasium tätig – zumindest für ein Vierteljahr.» Und länger, so die Suggestion (< kurzer Zeitraum + semantische Lesehilfe «zumindest»), war Frau K. als Lehrerin in ihrem schulischen Umfeld nicht tragbar.
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des Textkörpers gesetzt und bietet so eine Interpretationsfolie für den gesamten Artikel, die im Zuge der argumentativen Dynamik²⁴³ dann auch eingelöst wird. «‹Wie will man ausschließen, dass aggressive Islamgruppen diese Internetplattform für ihre Zwecke nutzen?›, fragte er.» (a-105) «Bredouille? Le président palestinien Mahmoud Abbas a achevé samedi à Paris une tournée européenne qui l’a mené à Londres, Berlin et Bruxelles, destinée à convaincre les partenaires occidentaux, après l’accord Hamas-Fatah de La Mecque, de la bonne volonté palestinienne à poursuivre sur le chemin de la paix.» (a-222)
Das Ausrufezeichen, durch das visuell eine Aussage bestärkt wird, kommt in informationsbetonten Texten in der Regel²⁴⁴ im Zusammenhang mit Zitaten vor.²⁴⁵ Dass es sich bei der Verwendung dieses Satzzeichens auch um eine Bearbeitung und somit Relevantsetzung handelt, zeigt der Vergleich von (a-184) mit (a-39): «Ihre Kampagne stellten die Ex-Muslime unter das Motto ‹Wir haben abgeschworen›. Den muslimischen Verbänden in Deutschland sprachen sie das Recht ab, für die Mehrheit der in Deutschland lebenden und aus islamischen Ländern kommenden Menschen zu sprechen: ‹Ab heute ist damit Schluss!›, stellten sie unmissverständlich klar.» (a-184) «Die Menschenrechtlerin Mina Ahadi will ein Tabu brechen. Die Kampagne anlässlich der Gründung des Zentralrats der Ex-Muslime ‹Wir haben abgeschworen!› ist nicht zufällig einer Geschichte des Magazins Stern nachempfunden. 1971 ließen sich Frauen auf dem Titel unter dem Satz abbilden ‹Ich habe abgetrieben› – und provozierten einen Skandal.» (a-39)
Neben der Markierung als direkte Rede oder der Kennzeichnung als Eigenname werden Anführungszeichen, die Figueras (2001, 36) generell als Indikatoren für
243 Sich widersprechende Informationsstränge erzeugen einen Gegensatz zwischen Schein und Sein und führen so zu Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Aussagen von Mahmoud Abbas. 244 Und da Ausnahmen bekanntlich die Regel bestätigen, (a-99): «Doch alle 17 Zeugen verweigerten die Aussage!». 245 (a-225): «‹Si vous ne le destituez pas, sanctionnez-le!›, a-t-il poursuivi, s’adressant à John Conyers, représentant démocrate du Michigan et président de la commission juridique de la Chambre, qui se trouvait avec lui sur la scène, dressée dans le stade de football des Lions de Detroit.»; (a-226): «Il s’est même indirectement adressé à ses adversaires de gauche, en lançant: ‹L’autorité, c’est un mot qui vous fait immédiatement soupçonner de préparer rien moins qu’un État policier, un mot qui fait de vous un homme prêt à attenter aux libertés publiques. Un de ces mots qui peuvent vous briser une carrière politique. Un de ces mots qu’on ne prononce pas entre gens bien élevés, entre gens qui ont bonne conscience, presque un gros mot pour les tenants de la pensée unique. Hélas, Mai 68 est passé par là!›».
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die Einführung einer weiteren Diskursebene betrachtet, als Mittel der Distanzierung eingesetzt. Dieser Aspekt wurde bereits bei der Darstellung von Techniken der Distanzierung (Kap. 7.2.9) gezeigt, wie auch dort ist die originale Zeichensetzung zur Illustration in eckigen Klammern nachgestellt. Die folgenden Beispiele unterstreichen die dort gemachte Beobachtung, dass sich besonders anhand der kurzgliedrigen in Anführungszeichen gesetzten Satzteile die Polyfonie des Diskurses bzw. le dire sans dire zeigen lässt:²⁴⁶ «Reste que l’accord Hamas-Fatah signé en Arabie saoudite ne parle que de ‹respect› [„respect“] des accords précédents, sans référence ni à la reconnaissance d’Israël ni à la renonciation à la violence.» (a-222)²⁴⁷ «Ein Austritt aus dem Islam gelte als ‹Hochverrat› [„Hochverrat“], sagt Islamwissenschaftlerin Melanie Kamp vom Zentrum Moderner Orient.» (a-2)
Eine Hervorhebung durch Satzzeichen bezieht sich häufig nicht allein auf die visuell relevant gesetzte Aussage, sondern kann eine Conclusio nahelegen oder, wie bereits dargelegt, zum Bindeglied zwischen Einzeltext und Topos-Ebene werden. Veranschaulicht wird dies abschließend anhand der drei Punkte – Zeichen par excellence, dass etwas mitgemeint ist, ohne dass es explizit ausgedrückt werden muss. Dies gilt bei auf diese Weise bearbeiteten Aussagen Dritter (a-221)²⁴⁸ wie auch für Passagen, in denen nicht auf einen weiteren Sprecher Bezug genommen wird (a-1).
246 (a-217): «Farrakhan fustige George Bush lors de ses ‹adieux›»; (a-223): «Die ‹New York Times› berichtete am Freitag auf ihrer Internetseite, US-Vertreter in Washington hätten die Festnahme Achunds bestätigt. In einem Vorabbericht der deutschen Tageszeitung ‹Die Welt› (Samstagsausgabe) hieß es dagegen, Achund sei schon wieder freigelassen worden. Das Blatt berief sich auf einen ‹Beobachter›». 247 Cf. (a-224), in dem dieselbe Distanzierung an derselben Stelle gesetzt wird – Zweifel also an der zugesagten Respektierung früherer Abkommen: «Umstritten ist, ob die internationalen Finanzsanktionen aufrechterhalten werden sollen, bis die Einheitsregierung die Forderungen der Vermittlergruppe nach einer Anerkennung des Staats Israel und einem eindeutigen Abschwören von jeglicher Gewalt erfüllt. Das Mekka-Abkommen enthält nur die vage Zusage, frühere Abkommen mit Israel zu ‹respektieren›». 248 (a-189): «L’ambiance rappelle celle de 2002 avant l’Irak, quand Bagdad était accusé de fourbir des armes de destruction massive, de soutenir le terrorisme, de ne pas se plier aux résolutions de l»ONU [sic] et d’être le principal obstacle à la démocratisation de la région, confie un expert étranger. Si on remplace le mot Irak par Iran, on n’est pas loin du compte...›». Diese Variante kommt in den Korpustexten häufiger vor als die Variante ohne Referenz auf einen anderen Sprecher bzw. auf ein Zitat.
Fallstudie: Zum Zusammenspiel von Textstrategien und Inferenzprozessen
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«Ayda Demir kennt die Kehrseite. Als nach drei Jahren klar war, dass ihre Ehe am Ende war, war der Umstand, dass sie und ihr Mann verwandt sind, eher von Nachteil. Jeder wollte mitreden. ‹Es hat fast sieben Jahre gedauert›, sagt die 42-Jährige über ihre Scheidung. Auch wenn sie sich mit medizinischen Risiken nie auseinander gesetzt hat, ihre Erfahrungen sind für sie Grund genug, jedem von Verwandtenheirat abzuraten. Auch ihrem Sohn ‹außer er verliebt sich in seine Cousine …›» (a-221)
Die Verwendung der drei Punkte in (a-221) macht neben der suggestiven auch die ökonomische Komponente dieses Zeichens deutlich, wenn es wie folgt decodiert wird: Obwohl Ayda selbst unter der Heirat mit ihrem Cousin bzw. nach der Trennung zusätzlich gelitten hat, würde sie ihrem Sohn aus Liebesgründen eine Verwandtenheirat zugestehen; Zeichen dafür, dass sie den eigentlichen Grund für eine Ablehnung der Verwandtenheirat, nämlich die gesundheitlichen Risiken, (noch) nicht begriffen hat. In (a-1) wiederum könnten die drei Punkte, die im Zusammenhang mit den argumentativ stützenden Bedrohungs- und Verteidigungs-Topoi zu sehen sind, folgendermaßen umschrieben werden: Le danger pour la France est (donc) réel. Méfions-nous-en! «L’an dernier, l’antiterrorisme français a arrêté 140 activistes musulmans. La consultation des forums islamistes sur Internet a explosé, écrit l’Uclat. Un groupe démantelé en Tunisie détenait une vue satellite de l’ambassade de France à Rabat (Maroc) mise en ligne le 26 décembre 2006. Un site a même diffusé un film sur les égouts de Paris, cible potentielle ou voie de repli après la frappe...» (a-1)
7.3 Fallstudie: Zum Zusammenspiel von Textstrategien und der Komplexität von Inferenzprozessen Ein Fall, der in seiner Komplexität nochmals viele der vorgestellten Strategien verdeutlicht, betrifft die Ermordung von Ghofrane Haddaoui, einer 23-jährigen Frau in Marseille im Oktober 2004, sowie die Verurteilung der Täter drei Jahre später (April 2007). Hinweise auf Nationalität bzw. Herkunft des Opfers finden sich mehrfach. Der Begriff franco-tunisienne wird in der betreffenden Berichterstattung hingegen selten verwendet. So ergab die Recherche für die Jahre 2004 und 2007 nur wenige Treffer – insgesamt finden sich lediglich zwei, wird der als Dublette vorhandene Korrespondentenbericht Assises – Jugés pour avoir lapidé une jeune femme à Marseille ²⁴⁹ doppelt gezählt, drei Artikel im
249 (a-113), (a-114): In der Rubrik ‘faits divers’ veröffentlichter, informationsbetonter Text.
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Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
Korpus.²⁵⁰ Stattdessen wird auf Formulierungen wie née à Tunis zurückgegriffen. Der Erwähnung von Ghofranes Nationalität kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu, denn dieser Fall bietet eine Kombination von zwei Aspekten, von denen jeder, für sich genommen bzw. berichtet, weniger spektakuläre Auswirkungen hätte: Zwei junge Männer töten (a) eine 23-jährige Frau, die in Tunesien geboren wurde, und die Tat wird (b) als Steinigung wahrgenommen. Durch die Hinweise auf die tunesische Herkunft des Opfers wird sofort ein Inferenzprozess angestoßen: Die (vermeintliche²⁵¹) tunesische Nationalität lässt auf den muslimischen Glauben schließen, und infolgedessen wird der Tod durch Steine als Vollzug einer spezifisch koranischen Strafe wahrgenommen. Darauf stellen dann eine Reihe von Berichten der nationalen und internationalen Presse ab. Wüsste der Leser, dass die Täter zwei Franzosen aus Marseille waren (und dass das Tatmotiv überhaupt nichts mit Religion zu tun hatte), würde dieser Inferenzprozess kaum in Gang gesetzt. Auffälligerweise ist in den Berichten aus dem Jahr 2004 von der Herkunft der Täter nicht die Rede, und auch im Jahr 2007 sind Informationen zu ihrer Person äußerst selten.²⁵² Vereinzelt wird die (regionale) Herkunft der Mütter der beiden thematisiert;²⁵³ dabei scheint allerdings wichtiger, dass diese alleinerziehend und – so die Suggestion – (daher)²⁵⁴ ihrer erzieherischen Rolle nicht gerecht geworden waren. Dass es sich bei den Tätern um
250 (a-118): «France: Sarkozy rencontre la mère d’une jeune franco-tunisienne assassinée»; (a-118): «Le candidat UMP a rencontré à Aix-en-Provence (sud) la mère de Ghofrane Haddaoui, une franco-tunisienne assassinée à Marseille (sud) à coups de pierre et dont les meurtriers, mineurs au moment des faits, viennent d’être condamnés à 23 ans de prison». 251 Anhand der nachfolgenden Beispiele wird deutlich, dass die Staatsangehörigkeit des Opfers nicht von Anfang an eindeutig geklärt schien. Dies machte verschiedene Konstruktionen nötig, um dennoch einen Verweis auf den tunesischen und somit muslimischen Hintergrund zu ermöglichen. 252 Das Resultat nach einer ausführlichen Online-Recherche: Die Namen der Täter, die im Gegensatz zum Opfer nicht auf eine maghrebinische Herkunft hinweisen, wurden lediglich in (a-119) erwähnt: «François, 16 ans, qui, depuis le meurtre, était incarcéré pour un vol de voiture, a été interrogé. Les enquêteurs ne savent pas s’il a réellement participé au crime. François a affirmé que Terrence avait tué Ghofrane pour lui voler son sac et son portable». 253 (a-178): «Dans le box des accusés ont pris place deux jeunes hommes de 20 ans et 19 ans, élevés par leurs mères respectivement d’origine basque et corse.»; (a-179): «Âgés aujourd’hui de 19 et 20 ans, ils ont été élevés par leurs mères. Ils ont en commun un parcours scolaire chaotique, des passages dans des foyers ou familles d’accueil, avant la prison». 254 (a-180): «Elevés par leurs mères, l’une d’origine basque, l’autre corse, en l’absence des pères, ils ont en commun un parcours scolaire chaotique, des passages dans des foyers ou familles d’accueil, avant la prison.» – Die Hervorhebung der alleinerziehenden Mütter evoziert eine Art Mangel-Topos, der wie folgt paraphrasiert werden könnte: Wenn der Vater fehlt, geraten Kinder aus dem Gleichgewicht/auf die schiefe Bahn.
Fallstudie: Zum Zusammenspiel von Textstrategien und Inferenzprozessen
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zwei in Frankreich geborene Franzosen handelte, war erst durch Korrespondenz mit einem als Anwalt im Prozess von 2007 beteiligten Juristen zu erfahren.²⁵⁵ 2004, also direkt nach dem Mordfall, findet sich zunächst mehrfach der Verweis, dass die getötete Frau in Tunis geboren und der Polizei bekannt sei (a-122). Beide Aussagen erscheinen im selben Satz und werden so intuitiv miteinander in Beziehung gesetzt – eine Mutmaßung, die sich als falsch herausstellt. In der fortlaufenden Berichterstattung verändert sich diese Fokussierung, die die (implizite) Schlussfolgerung zulässt, Ghofrane, «connue des services de police pour violence volontaire en 2002», könnte in Schwierigkeiten geraten und auf nicht geklärte Weise in die Gründe, die zum Mord führten, involviert gewesen sein – 2007 wird dieser Aspekt nicht wieder aufgegriffen: «Le cadavre d’une femme découvert mardi dans les quartiers nord de Marseille peu après celui d’un homme tué par balles, a été identifié, a-t-on appris mercredi de source judiciaire. La victime, Ghofrane Haddaoui, 23 ans, née à Tunis, était connue des services de police pour violence volontaire en 2002.» (a-122) «Le meurtre avait été commis la veille de la découverte de son corps par des riverains, sur un terrain vague jouxtant une voie ferrée près d’un centre commercial. Née à Tunis, Ghofrane Haddaoui était connue des services de police pour violence volontaire en 2002.» (a-121) «La mère de Ghofrane, Myriam Haddaoui, avait affirmé que sa ‹fille a été torturée, lapidée›, dans un entretien publié jeudi par France Soir. Toutefois, de source judiciaire, on précisait, qu’en l’état actuel de l’enquête, rien ne permettait d’affirmer que les pierres ont été jetées vers la jeune femme. ‹Des coups ont été portés avec des pierres, cela ne signifie pas que les pierres ont été jetées›, a-t-on indiqué de même source.²⁵⁶ Née à Tunis, Ghofrane Haddaoui était connue des services de police pour violence volontaire en 2002, mais il s’agissait de ‹broutilles›, a-t-on précisé de source proche du dossier.» (a-123) «Selon une source judiciaire, en l’état actuel de l’enquête, rien ne permet d’affirmer que les pierres ont été jetées sur la jeune femme, comme l’affirme la mère qui parle de ‹lapida-
255 Denis Fayolle (11.08.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin): «Les deux meurtriers de Ghofrane sont français nés à Marseille». 256 Differenzierungsstrategie vor dem Hintergrund der oben erwähnten Steinigung als Todesstrafe im religiösen Kontext. Dies gilt auch für den nachfolgenden Artikel (a-120). In beiden Titeln wird in derselben Konsequenz der Begriff ‘lapidée’ vermieden: (a-123): «Meurtre de Ghofrane tuée à coups de pierre: un deuxième mineur écroué»; (a-120): «Manifestation à Marseille pour Ghofrane, tuée à coups de pierres».
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Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
tion›. ‹Des coups ont été portés avec des pierres, cela ne signifie pas que les pierres ont été jetées›, a-t-on indiqué de même source. Née à Tunis, Ghofrane Haddaoui avait travaillé dans une société de nettoyage puis comme vendeuse. Récemment, selon sa mère, elle suivait une formation d’aide ménagère pour personnes âgées. Elle était connue des services de police pour violence volontaire en 2002, mais il s’agissait de ‹broutilles›, a-t-on précisé de source proche du dossier. Selon la mère, il s’agissait d’une bagarre entre filles, pour une histoire de bijoux.» (a-120)
Die Veränderung der Berichterstattung ist eng im Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen zu sehen. Die Ausgangssituation nach dem Mord scheint von einer dürftigen Informationslage geprägt gewesen zu sein; unklar schien, welche Informationen für das Geschehen und dessen Tathergang wichtig waren. Gerade weil dem so war, deuten, wie anhand der beiden erwähnten Inferenzprozesse²⁵⁷ sichtbar, Auswahl und Relevantsetzung bestimmter Informationen auf bereits bestehende (Denk-)Raster hin, auf Grundlage derer das Geschehen zu fassen bzw. zu vermitteln gesucht wird: «La victime, Ghofrane Haddaoui, 23 ans, née à Tunis, était connue des services de police pour violence volontaire en 2002.» (a-122)
Es ist auf den ersten Blick nicht zwingend ersichtlich, welchen Erkenntnisgewinn das Nennen der Geburtsstadt Ghofranes vermittelt. Ihre tunesische Herkunft schien (den Autoren) relevant, und so erlaubte dieser Hinweis, Ghofranes tunesische Herkunft und indirekt den muslimischen Glauben zu thematisieren, ohne auf die (vermutlich nicht bekannte) Nationalität einzugehen. Im Zuge der fortschreitenden Berichterstattung verändert sich der Verweis auf eben diese Abstammung – «né à Tunis» (a-122); «jeune Tunisienne» (a-121); «jeune femme d’origine tunisienne» (a-120) – und verliert bereits 2004, der nachlassenden Erwähnung nach zu urteilen, zunehmend an Wichtigkeit. 2007 taucht die Nationalität Ghofranes praktisch nicht mehr auf.²⁵⁸ 2004 findet sich
257 (1) Die Suggestion einer religiös motivierten Tat, welche nicht gegeben war.; (2) Die insinuierte Verbindung zwischen der Information, Ghofrane Haddaoui sei der Polizei bekannt gewesen, und ihrer Ermordung. 258 (a-125): «Meurtre de Ghofrane: les policiers mettent en cause deux des accusés»; (a-125): «Les deux hommes accusés du meurtre de Ghofrane Haddaoui, une jeune femme tuée à coups de pierres en octobre 2004 à Marseille, ont participé au crime»; (a-126): «Trente ans de réclusion criminelle ont été requis vendredi à huis clos devant la cour d’assises des mineurs des Bouches-du-Rhône contre deux jeunes hommes accusés du meurtre à coups de pierre, en 2004, de Ghofrane Haddaoui, une jeune fille de 23 ans.» – Eine der ‘berühmten’ Ausnahmen von der Regel ist der bereits zitierte (a-118): «France: Sarkozy rencontre la mère d’une jeune franco-tunisienne assassinée».
Fallstudie: Zum Zusammenspiel von Textstrategien und Inferenzprozessen
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neben den oben genannten Varianten²⁵⁹ ebenso der Hinweis auf eine (oder, wie es die Formulierung «d’origine tunisienne» nahelegen würde, die ausschließliche) französische Staatsbürgerschaft.²⁶⁰ Ghofrane besaß jedoch die doppelte Staatsbürgerschaft, so die Auskunft von Denis Fayolle (11.08.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin). Der Grund dafür, dass ihre tunesische Abstammung bei fortlaufender Berichterstattung immer seltener erwähnt wurde, lag also nicht an der fehlenden tunesischen Staatsangehörigkeit; diese lag vor. Plausibel erscheint, dass der Hinweis auf die Nationalität der ermordeten Frau nicht mehr im selben Maße relevant erschien wie zu Beginn der Berichterstattung – bzw. sich die (insinuierte) Verbindung von Herkunft (+ implizierter Religionszugehörigkeit) des Opfers und Art des Verbrechens so als nicht haltbar erwies.²⁶¹ Die veränderte Perspektivierung trägt außerdem, wie am Ende dieser Ausführung erwähnt, den im Jahr 2007 anders gelagerten thematischen Schwerpunkten Rechnung.²⁶² Die Verwendung von franco-tunisienne im Zusammenhang mit lapider trifft, wie bereits erwähnt, einen sensiblen Bereich, da die Steinigung als Form der
259 «Né à Tunis» (a-122); «jeune Tunisienne» (a-121); «jeune femme, d’origine tunisienne» (a-120). 260 (a-119): «Ghofrane Haddaoui était une Française d’origine tunisienne.»; (a-124): «Française née en Tunisie, Ghofrane devait se marier après le ramadan». 261 Wie am Vergleich der Berichterstattung zu Ehrenmord und Familiendrama sichtbar wird (Fußnote 114), hängt ein Teil der Berichterstattung bzw. deren Fokussierung auch von bereits existierenden Denkmustern ab. Dies gilt für die Produktions- wie die Rezeptionsseite. Wahrnehmung kann dadurch einseitig oder verzerrt werden. Ein Artikel von Le Monde diplomatique (Mai 2005) befasst sich mit unterschiedlichen Wahrnehmungen (Beurteilung abhängig vom gesellschaftlichen Status des Täters), der von kulturellen Hintergründen geprägten Einordnung bzw. der Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen: «Quand une femme est maltraitée ou tuée par son compagnon ou ex-compagnon, ou par un prétendant éconduit, l’interprétation de l’acte dépend de l’appartenance culturelle du coupable. En octobre 2004, le meurtre à coups de pierres de la jeune Marseillaise Ghofrane Haddaoui, par un mineur dont elle avait, semble-t-il, refusé les avances, a suscité un début d’emballement médiatique lorsque le terme de ‹lapidation› a circulé – ‹Ma fille a été lapidée›, titrait ainsi France-Soir [25.11.2004]. […] L’invisibilité des violences sexistes ‹de souche›, quant à elle, reste encore et toujours due à l’invocation de la ‹passion›. Cinq jours après le meurtre de Ghofrane Haddaoui, en Vendée, Aurélie, 16 ans, est enlevée, violée et tuée par son ancien petit ami, qui retourne ensuite l’arme contre lui; ce crime n’est pourtant pas perçu comme sexiste. Le meurtrier, selon la presse, se disait ‹fou amoureux [Libération, 25.10.2004]› d’Aurélie et n’avait pas supporté la rupture – ce qui ne l’a pas empêché de violer une autre jeune fille la veille des faits». 262 Es handelte sich (1) um die Berichterstattung über das Gerichtsverfahren und (2) um den Präsidentschaftswahlkampf.
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Hinrichtung für zinā’ ²⁶³ aus der islamischen Rechtsprechung bekannt ist²⁶⁴ – sie wird beispielsweise in Saudi-Arabien und Iran noch vollzogen – und Tunesien als muslimisch geprägtes Land mit diesem Thema schnell in Zusammenhang gebracht wird. Betrachtet man vor diesem Hintergrund zudem die (assoziativ bestehende) semantische Nähe von tunisienne und musulmane, ist
263 Unter den Begriff zinā’ fallen: Unzucht und Ehebruch, Prostitution und homosexueller Geschlechtsverkehr. Unzucht (zinā’) wie auch die falsche Bezichtigung der Unzucht, also die Verleumdung (al-qadhf), gehören neben Weinkonsum (sharb al-khamr), Diebstahl (al-sariqa) und Straßenraub (qat’ al-tarîq) zu den sogenannten Hadd-Strafen, im Koran erwähnte Strafen. – Peines coraniques fixes. «En droit musulman (fiqh), les hudûd sont les peines légales mentionnées dans le Coran et qu’il détermine pour certains crimes (parfois appelés eux aussi hadd par extension). Il s’agit de châtiments corporels sévères qui peuvent aller jusqu’à la peine de mort et qui ne sont pas négociables, à l’inverse des autres châtiments du droit pénal musulman, les ta’zîrs, qui sont à la discretion du juge et ne peuvent pas en principe être plus sévères que les hudûd. Si ces peines ne sont pas négociables, tout a été conçu dans l’ordre légal musulman classique pour qu’elles soient particulièrement difficiles à mettre en application. D’abord, parce que la doctrine des hudûd est doublée d’une doctrine de la repentance (al-tawba): lorsque la peine infligeable est réputée ‹faire droit à Dieu› (huqûq Allâh), et non aux humains, le coupable échappe à la peine s’il s’en repent. Dieu accepte sin repentir et il n’appartient plus aux humains de le châtier. Ensuite, et cela concerne toutes les peines fixes, parce que la sunna recommande avec insistance que l’on évite de les appliquer: ‹Rejetez les peines à l’aide des équivoques›, aurait dit le Prophète.» (Amir-Moezzi 2007) – Brunner (12.06.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin): «The symbolic significance and the severe legal consequences of adultery (cf. Q 24/2) notwithstanding, the Qur’anic prescriptions make it next to impossible to prove it in practical terms: on the one hand, four witnesses are required – unless the one who raises the accusation of adultery becomes guilty of false accusation (qadhf, cf. EI2 4/373) which itself belongs to the hadd penalties (cf. Q 24/4). In addition to that, there is a Qur›anic procedure by which both the accusation and the punishment can be diverted. This practice called li’an (lit. ‹mutual curse›) is laid down in Q 24/6-9. The usual legal consequence in such a case was therefore divorce; cf. in detail EI2 5/730-32». 264 Diese Form der Bestrafung für Unzucht ist im Koran nicht erwähnt. Dazu Brunner (10.06.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin): The «punishment of stoning for adultery is not prescribed by the Qur›an. Instead, punishing adulterers is referred to in Q 4/15-16 in an unspecified way, in Q 24/2 rather clearly. There were, however, a number of hadiths, in which stoning was mentioned as Muhammad’s usual way of punishing zina›. As it would have been problematic to place the hadith above the Qur’an, Muslim jurists early on accepted the theory that there had originally been a ‹stoning verse› in the Qur’an as well, which had been left out of its final version but whose ruling remained in effect. This legal construction in turn is equally based on a hadith in which the second caliph, ’Umar, insists on the original revelation of the stoning verse. Cf. in detail Encyclopaedia of the Qur’an 1/17f., 1/28-30 and 5/129f.; J. Burton: The Sources of Islamic Law. Islamic Theories of Abrogation, Edinburgh 1990, 122-64». – Ergänzend: Sidahmed (2001). Der Autor untersucht Probleme zeitgenössischer islamischer Rechtsprechung anhand der Bestrafung für Unzucht und sieht hier die Frauen in einer klar benachteiligten Situation.
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der Schritt, im Mord an Ghofrane eine religiös motivierte Tat zu sehen und in der Folge den Islam als Bedrohung zu betrachten, ein scheinbar natürlicher. Daher bedarf die Berichterstattung hier einer gewissen Sensibilität; Sensibilität walten zu lassen, bedeutet in diesem Zusammenhang keine Autozensur, sondern die Trennung von Ebenen, die hier nicht kausal miteinander in Beziehung stehen: die Steinigung als Form der Hinrichtung für zinā’ vs. eine nicht religiös motivierte Tat.²⁶⁵ Im Umgang mit eben diesem Aspekt nachfolgend einige Beispiele aus der Berichterstattung zum ‘Fall Ghofrane Haddaoui’. Der Vergleich von (a-113; a-114) mit einem ebenfalls am 10. April 2007 veröffentlichten Text zeigt: Es fehlt in (a-117) nicht nur das Attribut franco-tunisienne, sondern es unterscheidet sich auch die Überschrift in einem semantisch wichtigen Punkt: «Meurtre à coups de pierres de Ghofrane à Marseille: première journée du procès» verzichtet auf das Verb ‘lapider’: «A PARTIR D’AUJOURD’HUI, la cour d’assises des mineurs des Bouches-du-Rhône juge à huis clos, à Aix-en-Provence, les assassins présumés de Ghofrane Haddaoui, une jeune femme franco-tunisienne tuée à coups de pierres dans les quartiers Nord de Marseille à l’âge de 23 ans, le 17 octobre 2004.» (a-113; a-114) «Le procès à huis clos de deux jeunes hommes accusés du meurtre de Ghofrane Haddaoui, 23 ans, sauvagement tuée à coups de pierres en octobre 2004 à Marseille, s’est ouvert mardi devant la cour d’assises des mineurs des Bouches-du-Rhône.» (a-117)
Eine weitere Möglichkeit der Differenzierung, die auf den Mord eingeht, ohne ihn automatisch auf den oben erwähnten islamischen Kontext zu beziehen, zeigt der folgende Passus: «La Ligue du droit des femmes s’est dite mardi dans un communiqué ‹solidaire de la famille de Ghofrane›, tout en réagissant au titre du livre que vient de publier la mère de Ghofrane, Monia Haddaoui: ‹Ils ont lapidé Ghofrane›. L’association reconnaît qu’‹il ne s’agit pas d’une lapidation au sens habituel du terme puisque la mort ne lui a pas été infligée à la suite d’une décision d’un tribunal en application d’une loi religieuse›.» (a-117)
Anders verfährt (a-115): Der Mord wird hier mit dem Islam an sich und in mehrfacher Weise mit dem Thema ‘Bedrohung’ verknüpft. Die wiederholte Hervorhebung als erste Tat suggeriert eine lange Reihe zu erwartender ähnlicher
265 Sehr anschaulich führen die beiden nicht zum Korpus gehörenden Artikel (a-115) und (a-116) den entgegengesetzten Weg vor, weshalb sie zur Illustration in die nachfolgenden Ausführungen mit einbezogen werden.
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Fälle und transportiert zugleich eine Warnung, die mit Wehret den Anfängen! umschrieben werden kann; die Ausrufezeichen betonen die (sich anbahnende) Gefahr auch visuell, und neben dem Verteidigungs- und Bedrohungs-Topos [VT; BT] werden Deviations-Topos [DT] und Schutz-Topos [ST] zur argumentativen Stütze herangezogen: «Die erste Steinigung in Europa! [VT] Ghofrane Haddaoui (Foto) ist die erste Frau, die mitten in Europa [VT; BT] gesteinigt wurde. Ihre Mutter Myriam hat die minderjährigen Mörder aufgespürt. […] Jetzt wurde die Franco-Tunesierin im Leichentuch in ihre Heimat transportiert – doch ihre Onkel weigerten sich, die Ermordete traditionell zu beerdigen. Sie wollten keinen ‹dreckigen› Körper bestatten, hieß es. [DT] Sie hatten von Journalisten gehört, Ghofrane sei im Viertel ein ‹bekanntes Mädchen› gewesen. Nachts um halb elf verscharrten Mutter und Geschwister allein den Körper in tunesischer Erde. Ghofrane ist das erste Opfer einer Steinigung mitten in Europa [VT; BT]. Wobei die Experten sich noch darüber streiten, ob die Steine auf sie geworfen wurden oder ob mit den Steinen auf sie eingeschlagen wurde. Am 27. November gingen in Paris 8.000 und in Marseille rund 2.000 Menschen, vor allem Frauen, auf die Straße, angeführt von der Migrantinnen-Organisation ‹Ni putes– ni soumises› (Weder Hure, noch Unterworfene). Die Organisation erinnerte daran, dass allein in Frankreich mindestens eine Frau pro Woche an der Gewalt des eigenen Mannes stirbt. Und: Dass im Iran die offizielle Steinigung der zum Tode verurteilten Djila Izadi bevorsteht. Das Verbrechen der 13-Jährigen(!): angebliche sexuelle Kontakte. [ST]» (a-115)
Auch in (a-116) wird der Mord an Ghofrane mit dem Islam verknüpft. Argumentiert wird unter anderem auf der Grundlage des Verteidigungs- [VT] und des Bedrohungs-Topos [BT]. Die Conclusio mündet schließlich in der Gefährdung ganz Europas bzw. des Westens, der als «liberal democracies» zu «[the] Muslims» in Opposition gesetzt wird [Dichotomiebildung]. Angepasst an diese argumentative Dynamik wird Ghofrane zunächst als «Tunisian-born Frenchwoman», dann explizit als «the young Muslim» bezeichnet. Die Verwendung von «lapidation» anstelle von ‘stoning’ betont die Nähe zum Französischen, und die Setzung der Anführungszeichen wird intuitiv plausibel – eine formale Distanzierung, die es ermöglicht, die Tat nun doch mit einer religiös Motivation zu verbinden. Dasselbe gilt für die Einschränkung «although the circumstances of the murder are not clear», die an der Conclusio «can no longer tolerate the excesses of an alien culture in its midst» nichts ändert, da sie keine argumentative Stützung erhält. Mehrfache Reduzierungen unterstreichen zudem den im Text(duktus) beanspruchten allgemeingültigen Charakter der Aussagen:
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«Stoned to death... why Europe [Reduzierung] is starting to lose its faith in Islam [Reduzierung] Islamic fundamentalism is causing a ‹clash of civilisations› between liberal democracies and Muslims [Dichotomiebildung; VT; BT] DAYS before she was due to be married, Ghofrane Haddaoui, 23, refused the advances of a teenage boy and paid with her life. Lured to waste ground near her home in Marseilles, the Tunisian-born Frenchwoman was stoned to death, her skull smashed by rocks hurled by at least two young men, according to police. Although the circumstances of the murder are not clear, the horrific ‹lapidation› of the young Muslim stoked a French belief that the country can no longer tolerate the excesses of an alien culture in its midst.» (a-116)²⁶⁶
In der oben suggerierten Eindeutigkeit kommt die als «French belief» bezeichnete Einstellung in den analysierten französischen Artikeln nicht vor. 2007 wird die Ermordung Ghofranes in der Regel im Zusammenhang mit dem Präsidentschaftswahlkampf thematisiert, im Zuge dessen auch die Behandlung rückfällig gewordener Straftäter diskutiert wird,²⁶⁷ oder sie wird in der Berichterstattung zur Gerichtsverhandlung selbst aufgegriffen. Die argumentative Ausrichtung dieser Texte gründen nicht auf islambasierten Topoi – ein zusätzliches Argument dafür, dass eine religiös motivierte Tat nur durch die Referenz auf die tunesische Herkunft des Opfers ins Spiel gebracht werden konnte. Der Fall Ghofrane Haddaoui zeigt also eindrücklich, wie Fokussierung und Auslassung zu falschen Inferenzprozessen führen können: Die Hinweise auf die tunesische Herkunft des Opfers suggerieren, dass es sich bei der Tat um einen
266 (a-119): «Depuis que cette affaire est publique, l’histoire de la jeune femme a fait le tour du monde. Du Canada au Maghreb, les articles se multiplient, évoquant pêle-mêle, aux côtés de l’affaire Haddaoui, l’exécution de l’otage Margaret Hassan en Irak, l’assassinat par des islamistes de Theo Van Gogh en Hollande, la condamnation à la lapidation d’une Iranienne de 13 ans, la mort de Khadija, égorgée par son mari à Limoges, etc.». 267 Dieses Ereignis wurde im Zuge der Präsidentschaftswahlen zum Wahlkampfthema Nicolas Sarkozys, von der Presse unter anderem als Stimmenfang im rechten Wählerlager und als Instrumentalisierung thematisiert. Die tunesische Abstammung von Ghofrane und ihrer Familie spielt in dieser Berichterstattung keine erwähnenswerte Rolle: (a-110): «Les candidats se saisissent des faits divers. Après Nicolas Sarkozy qui avait reçu, lors d’une réunion publique le 14 avril dans le Vaucluse, la mère de Ghofrane Haddaoui, une jeune femme lapidée en 2004 et dont les meurtriers viennent d’être condamnés»; (a-111): «A chacun son fait divers. Mais, aussi, à chacun ses ‹libertés›. Samedi, dans les Bouches-du-Rhône, Nicolas Sarkozy s’était emparé du cas de Ghofrane Haddaoui, jeune Marseillaise lapidée à mort. Au point de prendre dans ses bras la mère de la victime (Libération d’hier).»; (a-112): «Après avoir rencontré la mère de Ghofrane Haddaoui, tuée en 2004 à Marseille et dont les meurtriers, mineurs, viennent d’être condamnés à de lourdes peines, Nicolas Sarkozy a poursuivi à Aix-en-Provence sa tentative de conquête de l’électorat d’extrême droite».
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sogenannten Ehrenmord handelt. Die fehlenden Angaben zu Herkunft und Staatsangehörigkeit der Täter, die diese Deutung entkräften könnten,²⁶⁸ erleichtern zusätzlich die Annahme, dass es sich bei diesem Mord um eine Steinigung mit religiösem Hintergrund handelt; in manchen Texten wird diese Sichtweise nicht nur suggeriert, sondern aktiv propagiert. Auch die bereits erwähnte, durch Aneinanderreihung von Informationen²⁶⁹ im Text angelegte (implizite) Schlussfolgerung, Ghofrane, «connue des services de police pour violence volontaire en 2002», könnte in Schwierigkeiten geraten und auf noch nicht geklärte Weise in die Gründe, die zum Mord führten, involviert gewesen sein, hat sich als falsche Fährte erwiesen. Die dieser Mutmaßung zugrunde liegende Verknüpfung basiert auf der Annahme, dass Ausländer im Vergleich zu Nicht-Ausländern eine größere Neigung zu Straftaten hätten. Der Hinweis auf ein fremdländisches Aussehen oder, wie im vorliegenden Fall, der Verweis auf die Herkunft des Opfers genügt im Zusammenhang mit der Tat, um derartige Inferenzen in Gang zu setzen. Die Umstände im Zusammenhang mit dem bereits in Kapitel 6.1.4 erwähnten Tod einer Ägypterin in einem deutschen Gerichtssaal deuten möglicherweise auf fatale Auswirkungen einer solchen Verknüpfung hin: Ein nachträglich zum Tatort geeilter Polizeibeamter schoss versehentlich auf die falsche Person, nämlich auf den Ehemann des Opfers. Das als ausländisch wahrgenommene Aussehen des Ehemannes könnte unbewusst Einfluss auf die in Sekundenschnelle getroffene Täterauswahl des eingreifenden Polizeibeamten gehabt haben – eine Deutung, die allerdings nicht unumstritten ist.²⁷⁰ Der nachfolgende Versuch von (a-235), auf eine solche, möglicherweise unbewusst vorhandene Verknüpfung hinzuweisen, schlägt fehl, denn eben diese Verbindung wird unkommentiert reproduziert: Nicht das vermeintlich ausländische Aussehen des Ehemannes des Opfers ist im vorliegenden Fall problematisch («der am ehesten wie ein Ausländer aussah»), sondern der vermeintlich daraus gezogene Schluss sieht am ehesten wie ein Ausländer aus > ist am ehesten der Aggressor. Der Kern
268 Die beiden Täter sind, wie bereits erwähnt, in Marseille geborene Franzosen. 269 2004, also direkt nach dem Mordfall, findet sich im selben Satz der Hinweis, dass die getötete Frau in Tunis geboren und der Polizei bekannt sei (a-122). 270 Cf. (a-235) und (a-271): «Nach Ansicht des Gerichts […] habe der aus einem benachbarten Gerichtssaal herbeigeeilte Beamte in dem Ehemann lediglich den aktiveren Teil der beiden miteinander ringenden Männer gesehen und deshalb auf diesen und nicht auf den eigentlichen Täter geschossen. ‹Er hatte das Gefühl, er muss das ganze irgendwie beenden›, sagte der Gerichtssprecher. Bei der Tat vom 1. Juli hatte ein Russlanddeutscher die Ägypterin in einem Dresdner Gerichtssaal getötet».
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des Problems, nämlich ein mit dem Aussehen kausal verknüpftes Argumentationsmuster, bleibt unbenannt und die entsprechende Schlussfolgerung somit unangetastet: «Der Vater der toten Ägypterin forderte in der ‹Bild›-Zeitung bereits die Todesstrafe für Alexander W. Auch für den Polizisten, der irrtümlich auf Elwi Okaz schoss und gegen den wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt wird, verlangt er die höchstmögliche Strafe. Der Beamte hatte, möglicherweise unbewusst, gerade auf jenen Mann geschossen, der am ehesten wie ein Ausländer aussah.» (a-235)
7.4 Zwischenergebnis Durch den Einsatz kommunikativer Strategien erhalten Texte, wie bereits erwähnt, ihr sichtbares Rückgrat (Kap. 6.1). Informationen werden anhand dieser Hilfsmittel auf bestimmte Weise dargeboten – und dadurch auch moduliert. Betrachtet man den Einsatz von Textstrategien vor dem Hintergrund von Bewertung, zeigt sich eine Vielzahl an Möglichkeiten, durch die diese mit einfließen kann:²⁷¹ Adjektive und Adverbien (Kap. 7.1.1)²⁷² zählen hierbei zu den expliziten Varianten, ebenso syntaktische Formen der Hervorhebung (Kap. 7.1.2)²⁷³, mithilfe derer dem Rezipienten Lese- bzw. Deutungsfolie angeboten werden. Einen Aspekt oder ein Attribut hervorzuheben bzw. relevant zu setzen, bedeutet stets seine mögliche Auswahl unter verschiedenen anderen; dieser Vorgang ist daher dem in der Semiotik als ‘Selektion’ bezeichneten Prozess verwandt. Eine intuitiv problemlos zugängliche – bewusst nicht immer wahrgenommene – Form der Bewertung ist die Verwendung hierarchisch strukturierter Dichotomien, die im Extremfall die äußersten Pole auf einer Bewertungsskala
271 Die nachfolgend angeführten Beispiele wurden in der Regel in den entsprechenden Kapiteln behandelt. 272 (a-61): «Die Valentinsfatwa ist aber durchaus symptomatisch für den Zustand des institutionalisierten Islams: kulturell defensiv, scholastisch erstarrt und irgendwie freudlos.»; (a-67): «Curieusement, les ambassadeurs de quatre pays arabes Maroc, Tunisie, Algérie et Egypte étaient présents à ce rassemblement des ‹musulmans de France›». 273 (a-31): «Très critique envers le gouvernement et l’Université Al Azhar (plus haute autorité de l’islam sunnite en Egypte), Karim Amer est en prison depuis le 7 novembre dernier.»; (a-221): «Ich hab´ Ja gesagt und bin mit nach Deutschland gegangen. Meinen Cousin habe ich erst bei unserer Trauung wiedergesehen – nach zwölf Jahren».
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Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
von gut vs. schlecht darstellen.²⁷⁴ Als strukturelles wie auch semantisch-logisches Werkzeug dient die Dichotomiebildung sehr häufig zur Strukturierung von Texten. Eine Einteilung in Oppositionspaare wie richtig vs. falsch, Osten vs. Westen²⁷⁵ erscheint als eine Grundkonstante auch der medialen Informationsvermittlung, die nahezu automatisiert eingesetzt werden kann. Anhand zweier Gegenpole lassen sich Nachrichten ökonomisch und anschaulich vermitteln, für eine aufwendige Auffächerung in Details sind bisweilen weder Zeit und Platz noch die Lesebereitschaft seitens der Rezipienten vorhanden. Aufgrund verschiedenster assoziativer Verbindungen, die mit derartigen Dichotomien zusammenhängen, ist eine solche Verwendung allerdings selten völlig bewertungsfrei – und dies ganz unabhängig davon, ob Produzent und Rezipient sich dessen bewusst sind. Inferenzen, inhaltliche Ergänzungen, die im Spannungsfeld zwischen schriftlich fixierter Sprache und kognitiver Eigenleistung anzusiedeln sind,²⁷⁶ bilden, wie gezeigt, die Grundlage impliziter Bewertung. Diese Prozesse sind auf den ersten Blick schwieriger zu erfassen als beispielsweise die Wahl wertender Adjektive und Adverbien oder der Einsatz spezifischer syntaktischer Muster. Es zeigen sich anhand des Textvergleichs jedoch Regelmäßigkeiten, die, einmal benannt, dem Betrachter ein tieferes Verständnis der Darbietung von Informationen vermitteln: So hat die Referenz auf Expertenwissen (Kap. 7.2.1) oder auf das jugendliche Alter einer bestimmten Person (Kap. 7.2.2) die Bewertung von damit verknüpften Aussagen zur Folge, die die Perspektive eines Artikels mitbestimmt; dabei gilt, wie für die meisten der nachfolgend aufgezählten inferenzbasierten Bewertungen, dass sie nicht per se negativ oder positiv besetzt sind. Ihre Stellung und Einbindung im jeweiligen Text ist für ihre diesbezügliche Bedeutung entscheidend. So z.B. auch im Falle der Erwähnung eines oder einer Ersten (Kap. 7.2.3) – diese Referenz zieht die Erwartung von Folgezahlen nach sich, die dann argumentativ eingesetzt werden können.²⁷⁷ Eine ganz nebenbei (Kap. 7.2.4) gemachte Aussage ist, konträr zum semantischen Gehalt des Aus-
274 (a-22): «Mit der Offensive soll sektiererische Gewalt vor allem in Bagdad unter Kontrolle gebracht werden», cf. Kap. 6.1.1. 275 Das Oppositionspaar Islam vs. Westen gerät bereits aufgrund der verschiedenen Bereiche, denen die beiden Begriffe entnommen sind, in eine Schieflage. 276 Zu den Schlussfolgerungen im Besonderen: cf. Kapitel 7. 277 (a-115): «Ghofrane Haddaoui (Foto) ist die erste Frau, die mitten in Europa gesteinigt wurde. […] Ghofrane ist das erste Opfer einer Steinigung mitten in Europa.»; (a-12): «‹C’est la première fois qu’un blogueur est condamné pour des propos tenus sur son blog›, s’émeut Alaa. ‹Je trouve les deux accusations injustes. Elles auront des répercussions néfastes pour la liberté d’expression›».
Zwischenergebnis
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drucks, häufig ein Signal für die Wichtigkeit der nachfolgenden Sequenz(en).²⁷⁸ Techniken der Distanzierung signalisieren die Nicht-Übernahme der kommunikativen Verantwortung für bestimmte Inhalte und können auch dazu dienen, kritische Aussagen in einem auf diese Weise geschützten Raum zu formulieren (Kap. 7.2.9).²⁷⁹ Anhand des Einsatzes von Satzzeichen, die einen visuellen und generell textstrukturierenden Charakter haben, lassen sich graduelle Unterschiede der Bearbeitung von Informationen bzw. Aussagen aufzeigen (Kap. 7.2.11).²⁸⁰ Leerstellen (Kap. 7.2.10), seien sie semantischer, syntaktischer oder inhaltlicher Art, zeichnen sich im Gegenteil zur Interpunktion gerade dadurch aus, dass etwas nicht sichtbar bzw. nicht materialisiert ist, was die Textrezeption dennoch entscheidend beeinflussen kann.²⁸¹ Bei der Markierung von Fremdheit bzw. der Zuschreibung von Alterität, einer speziellen Form der Dichotomiebildung,²⁸² sind Inferenzprozesse notwendiger Bestandteil, damit diese Techniken der Vertextung als solche überhaupt funktionieren; im Zusammenhang mit islambasierten Themen hängt davon nicht selten die implizite Basis der Textkonstitution ab: Betrachtet man beispielsweise Muslime als Fremde der eigenen Gesellschaft²⁸³ oder hingegen als Bestandteil derselbigen, hat dies Kon-
278 (a-18): «Le fait qu’il ait critiqué l’islam a d’ailleurs fait de lui une ‹proie facile›, juge M. Pain.»; (a-209): «Doch auch Güls Frau trägt das Kopftuch – Gönüls Gattin übrigens nicht». 279 (a-215): «Comme eux, plusieurs centaines de Français ‹étudient› dans des universités islamiques du Moyen-Orient.»; (a-7): «Der Konflikt um das iranische Atomprogramm kam den Verlautbarungen zufolge anscheinend nicht zur Sprache.»; (a-13): «Ein ägyptisches Gericht hat einen jungen Blogger wegen ‹Beleidigung der Religion und des Präsidenten› zu vier Jahren Haft verurteilt. Er soll den Islam und Präsident Husni Mubarak beleidigt haben». 280 Die folgenden Beispiele stammen aus Kapitel 7.2.9: (a-15): «Un blogueur égyptien a été condamné hier par le tribunal d’Alexandrie à quatre ans de prison pour avoir insulté l’islam et le président égyptien, Hosni Moubarak, sur Internet.»; (a-17): «Avec la condamnation à quatre ans de prison prononcée hier par le tribunal d’Alexandrie contre un blogueur pour avoir ‹incité à la haine de l’islam› et insulté le président égyptien Hosni Moubarak sur Internet»; (a-13): «Ein ägyptisches Gericht hat einen jungen Blogger wegen ‹Beleidigung der Religion und des Präsidenten› zu vier Jahren Haft verurteilt». 281 (a-67): «‹On n’a pas idée de sortir ça à deux mois d’une élection›, s’exclame Abderrahmane Dahmane. Toujours ces mots de trop. ‹En banlieue, les mecs ne lui pardonnent pas d’avoir été traités de racailles.› Il y a aussi ce reproche récurrent d’‹être trop favorable à Israël›.»; (a-227): «Inoffiziell hieß es, das Gespräch habe sich auch um das iranische Atomprogramm gedreht.» – In den Bereich der inhaltlichen Leerstellen fällt unter anderem die Berichterstattung zu Ghofrane Haddaoui (Kap. 7.3). 282 Eine Dichotomiebildung basiert auf Gegensätzen bzw. vermeintlichen Gegensätzen. 283 Cf. (a-265): «Nicolas Sarkozy défend dans une tribune publiée dans ‹le Monde› le ‹métissage› de l’identité nationale mais demande aux musulmans de France de ‹ne pas heurter ceux qui accueillent›. […] Sarkozy plaide, pour ‹celui qui accueille›, ‹la reconnaissance de ce que
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Textstrategien im Kontinuum von Bewertung
sequenzen für die Darbietung von Information bzw. für die Anschlussfähigkeit bestimmter Argumentationsmuster. So legt z.B. das semantische Gegensatzpaar [deutsch + nicht muslimisch + integriert] vs. [nicht deutsch + muslimisch + nicht integriert]²⁸⁴ aus der Debatte um islamische Sendungen in Rundfunk und Fernsehen im Frühjahr 2007 die argumentative Ausrichtung fest, anhand derer betreffende Texte rezipiert werden (Textauszüge: Kap. 7.1.3). Inferenzen können außerdem, wie das Beispiel der Berichterstattung über den Mord an Ghofrane Haddaoui gezeigt hat (Kap. 7.3), zu falschen Schlussfolgerungen und Fehlannahmen führen. Je nach argumentativer Dynamik also sind auf der Grundlage von Inferenzen Suggestionen transportierbar, brauchen Vorannahmen nicht diskutiert, sondern lediglich bestätigt zu werden oder sind bestimmte Schlussfolgerungen eine scheinbar zwingende Konsequenz (Kap. 7.2.7 und 7.2.8). Nachdem im vorausgehenden Kapitel verschiedene Formen von Bewertung sowie Mechanismen, die diese in Gang setzen, untersucht wurden, widmet sich das nachfolgende Kapitel dem Bereich enthymemischen Schlussfolgerns und argumentativer Stützregeln – auf die theoretische Einordnung dieses Phänomens folgt in einem zweiten Schritt die Darstellung der Ergebnisse aus der Textanalyse. Von den kommunikativen Strategien wird somit der Bogen zu den nicht oder unvollständig materialisierten Argumentationsmustern (Topoi) geschlagen, deren Zusammenspiel sich für einen Text als konstitutiv erweist. Es zeigt sich dort – wie bereits im Zusammenhang mit den soeben behandelten Textstrategien – eine Mischung aus Allgemeinem und Speziellem, d.h. aus themenübergreifenden Argumentationsmustern, die auch in anderen Diskursen und Zusammenhängen zu finden sind, und solchen, die genuin mit dem Thema ‘Islam’ verbunden werden.
l’autre peut lui apporter›, et pour ‹celui qui arrive›, le ‹respect de ce qui était là avant lui›.» Bei dieser Einteilung ist zu fragen, welcher Kategorie die in Frankreich geborenen Muslime zugeordnet werden sollen. 284 Nachfolgend eine Variation dieses Gegensatzpaares: [nicht muslimisch (säkular) + integriert] vs. [muslimisch (religiös) + nicht integriert]: (a-2): «Säkulare Menschen, die in Deutschland leben und integriert sind, müssten verteidigt werden. ‹Wir wollen unserer Gesellschaft zu einem besseren Zusammenleben verhelfen. Ich hoffe auf mehr Frieden›».
8 Topoi – Anker für die Sinnbildung in der Kommunikation¹ Wie im Zusammenhang mit den Textstrategien bereits mehrfach angedeutet, sind Topoi für Textproduktion und -rezeption wie auch für die Textanalyse wichtig. Sie werden nun zunächst terminologisch näher definiert und in das theoretische Gesamtkonzept der Arbeit eingebunden; dem schließt sich, anhand von Textbeispielen, eine genauere Betrachtung von Argumentationsmustern an, die im Zusammenhang mit dem Thema ‘Islam’ häufig vorkommen. Ein Text, sei er schriftlicher oder mündlicher Natur, schreibt sich stets in eine Tradition ein – dies gilt sowohl in gattungs- als auch in diskursgeschichtlicher Hinsicht. Nimmt man bei der Einzeltextanalyse den Prozess des Mitsagens genauer in den Blick und versucht das zwischen den Zeilen Stehende zu (er) fassen, kommt man nicht umhin, dafür eine größere Textsammlung, ein Korpus, mit einzubeziehen. Erst die Lektüre einer größeren Anzahl von Texten macht es möglich, wiederholt auftretende Topoi zu benennen. Letztere werden hier nicht verstanden als (literarisches) Motiv – wie z.B. bei der Vorstellung der ‘Welt als Uhrwerk’, später abgelöst durch die Metapher von der ‘vernetzten Welt’ –, sondern nach dem bereits in der aristotelischen Topik erwähnten Ausdruck von Sachverhaltszusammenhängen und somit als enthymemische Schlussregeln.² Dieser Vorstellung liegt das Schema von Toulmin (82008, 87ss.) zugrunde, bei dem die Verknüpfung von Argument und Konklusion durch die Schlussregel, den Topos, gestützt wird.³ Allerdings ist nicht jede als Schlussregel gebrauchte
1 Cf. Bornscheuers Formulierung der Topoi als dynamische Konzentrationspunkte eines sinnkonstitutiven Horizonts (1976, 103). Er verwendet diese Begrifflichkeit in Anlehnung an die aristotelische Gleichsetzung des Topos mit einem stoicheion und verknüpft sie, wie weiter unten zu sehen ist, mit dem Topos-Bestimmungsmerkmal der ‘Symbolizität’. 2 Zum Begriff der Schlussregel formuliert Kienpointner (1992, 46) wie folgt: «Schlußregeln sind ein Teil des gemeinsamen Weltwissens in einer Sprechgemeinschaft und werden deshalb in der Argumentation oft als implizite Prämissen vorausgesetzt. Dabei gilt natürlich nur für einen Teil des Weltwissens, daß er von allen Mitgliedern einer Sprechgemeinschaft in gleicher Weise akzeptiert bzw. für sie verbindlich ist. Insbesondere weltanschauliche, aber auch generationsspezifische und geschlechtsspezifische Differenzen sind für Subgruppen einer Sprechgemeinschaft charakteristisch». 3 Zur Rolle von Schlussregeln schreibt Kopperschmidt (1989, 126): Obwohl Schlussregeln nicht immer expliziert würden, «sondern auch implizit bleiben bzw. bloß ‹präsupponiert› sind [Öhlschläger 1979, 88ss.], ist eine Argumentation ohne sie schlechterdings nicht möglich [Toulmin 1975, 91], weil informative Äußerungen erst im Lichte solcher Schlußregeln zu Daten,
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Formulierung zugleich ein Topos, zu dessen wesentlichen Eigenschaften Wiederholbarkeit (des Argumentationsmusters) und Rekurrenz (in verschiedenen Texten, Diskursen) gehören. Auch die von Perelman/Olbrechts-Tyteca (31976, 229) im Zusammenhang mit dem argumentativen Gehalt der Anspielung als notwendig erwähnte Zustimmung und Teilhabe bzw. des gemeinschaftlich geteilten Wissens deuten in diese Richtung.⁴ Topoi sind keine monolithischen Größen; sie weisen eine gewisse sprachliche Varianz auf, die es für die Beschreibung zu bündeln gilt. Topoi existieren in verschiedenen Aggregatzuständen und lassen sich in unterschiedlichen Abstraktionsstufen und Konkretisierungsformen beschreiben. Davon später mehr. Zunächst geht es um das grundlegende Verständnis des Topos als Argumentationsmuster, das sich anhand des nachfolgenden Schaubilds illustrieren lässt:
Schlussregel = inhaltliche Relation zwischen A und K (Topos)
Argument (A)
Konklusion (K)
Auch der im Alltag eher gekünstelt wirkende Syllogismus besteht aus einer Dreiteilung, welche der Form nach vom eben dargestellten Schema nicht weit entfernt ist: Der klassische Syllogismus⁵ setzt sich aus Ober-, Unterprämisse und Konklusion zusammen. Der Topos entspräche in diesem Fall der Oberprämisse. Der Unterschied zur nicht streng logischen, alltäglichen Argumentation besteht nun in der Fokussierung: Im ersten Fall zielt diese auf (Allgemein-)Gültigkeit,
d.h.: zu möglichen Funktionsträgern argumentativer Geltungssicherung werden [Hervorhebung D.W.], ähnlich – so Toulmins forensische Analogie – wie bestimmte Tatsachen erst aufgrund strafrechtlicher Normen zu gerichtlich relevanten Tatbeständen werden, die immanente Sanktionsfolgen nach sich ziehen». 4 Perelman/Olbrechts-Tyteca (31976, 229): «Certaines figures, comme l’allusion, ne se reconnaissent jamais que dans leur contexte, car leur structure n’est ni grammaticale, ni sémantique, mais tient à un rapport avec quelque chose qui n’est pas l’objet immédiat du discours. Si cette manière de s’exprimer est perçue comme inaccoutumée nous aurons une figure: c’est le mouvement du discours, l’adhésion de l’auditeur à la forme d’argumentation qu’elle favorise, qui détermineront le genre de figure auquel on a affaire. Notons, dès à présent, que l’allusion aura presque toujours valeur argumentative, parce qu’elle est essentiellement élément d’accord et de communion [Hervorhebung D.W.]». 5 Bsp.: Alle Menschen sind sterblich. – Alle Griechen sind Menschen. – Alle Griechen sind sterblich.
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im zweiten Fall auf Wahrscheinlichkeit ab. Die Prozesse alltäglicher Argumentation verlaufen häufig unbewusst und sind nicht ohne Weiteres zu entwirren. Charakteristisch für enthymemisches Argumentieren ist, dass nicht alle Teilschritte explizit ausgeführt werden; diese müssen dann vom Zuhörer entsprechend ergänzt werden (Ottmers 1996, 74s.) – die sogenannte Inferenz(leistung). Laut Ottmers (1996, 75) fehlt beim enthymemischen Schluss fast immer «die Schlußregel, so daß nur Argument und Konklusion ‹sichtbar› werden (wobei die Argumentation aber nach wie vor auf allen drei Komponenten basiert!)». Im Extremfall wird neben der Schlussregel auch auf die Konklusion verzichtet und nur das Argument benannt. Topoi werden also selten vollständig bzw. explizit thematisiert und müssen daher interpretativ erschlossen werden – eine Vorgehensweise, mit der auch die in dieser Arbeit vorgestellten Topoi herausgearbeitet wurden. Nimmt man nun anhand eines Beispiels, das Wengeler (2003, 300s.) entlehnt ist, die beiden Folien aus Toulmin-Schema und Syllogismus zusammen, lässt sich dies wie folgt illustrieren: Wenn die Geschichte lehrt, dass bestimmte politische Entscheidungen bestimmte politische Folgen haben, sollten die anstehenden Entscheidungen getroffen/nicht getroffen werden.
Die Geschichte lehrt, dass bestimmte politische Entscheidungen bestimmte politische Folgen haben.
Also sollte die anstehende Entscheidung (von der unterstellt wird, dass sie in relevanter Hinsicht dem aus der Geschichte entnommenen Beispiel gleich ist) getroffen/nicht getroffen werden.
In der in Klammer gesetzten Bemerkung der Konklusion findet sich zusätzlich der Analogie-Topos, der als Stütze des von Wengeler so genannten Geschichts-Topos fungiert. Wengeler (2003, 301) weist des Weiteren darauf hin, dass es für die Formulierung argumentativer Topoi neben der konditionalen Konjunktion ‘wenn’ auch die Möglichkeit des konditionalen ‘weil’ gibt,⁶ «was es ermöglicht,
6 Die Auflistung der Topoi (Kap. 8.3) zeigt beide Formulierungsweisen. Das konditionale ‘weil’ überwiegt bei den vorgeschlagenen Formulierungen zahlenmäßig.
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die Konklusion des Argumentationsmusters als Konklusion und nicht nur als mögliche Schlussfolgerung bei Erfülltsein der Unterprämisse in einem Satz zum Ausdruck zu bringen». Für den oben gewählten Topos würde diese Formulierung lauten: «Weil die Geschichte lehrt, dass bestimmte Entscheidungen bestimmte Folgen haben, sollte die anstehende Entscheidung (von der unterstellt wird, dass sie in relevanter Hinsicht dem aus der Geschichte entnommenen Beispiel gleich ist) getroffen/nicht getroffen werden.» (Wengeler 2003, 301)
Zurück zum Toulmin-Schema. Damit die skizzierte Argumentationsstruktur funktioniert, muss es eine inhaltliche Verknüpfung zwischen Argument und Konklusion gegeben, d.h. das Argument muss in Bezug auf die Konklusion relevant sein. Diesen Aspekt der notwendigen Interrelation bzw. Verknüpfung der einzelnen, eine Argumentation konstituierenden Elemente hebt auch Kopperschmidt in seiner an der Funktionalität ausgerichteten Definition des Begriffs ‘Argument’ hervor: Der Begriff ‘Argument’ bezeichnet in diesem Zusammenhang eine Funktionskategorie, «spezifiziert [also] keine einzelne Äußerung als Sprechhandlung, sondern benennt vielmehr […] den ‹pragmatischen Sinn› (Metzing 1975, S. 131) bzw. die spezifische Rolle, die eine bestimmte Sprechhandlung kontextuell spielt. D.h.: ‹Argument› ist eine Funktionskategorie, die nach dem bisher Gesagten die Rolle einer Äußerung als Geltungsanspruch für den problematisierten GA [Geltungsanspruch] einer anderen Äußerung kennzeichnet. Dieser Explikationsversuch macht zugleich deutlich, daß von ‹Argument› nur in Relation zu einer anderen Äußerung gesprochen werden kann: ‹Argument› ist eine sequenzbezogene Funktionskategorie, weil die mit ihr spezifizierte Rolle einer Äußerung, nur innerhalb einer mehrgliedrigen Sequenz von Äußerungen bereitsteht.» (Kopperschmidt 1989, 94s.)
Diese Betrachtungsweise fügt sich problemlos in das Toulmin-Schema ein und ist insofern praktikabel, als sie diesem vielschichtigen Phänomen mit einer gewissen Flexibilität begegnet: Kopperschmidts «Argument» kann auf verschiedene Positionen im Argumentationskomplex bezogen werden; das gilt für die Schlussregel wie auch für die These. Indem Kopperschmidt deutlich macht, dass unter Argumenten kognitive Einheiten zu verstehen sind und nicht die jeweiligen sprachlich gebundenen Formen, liefert er ein weiteres Argument für die hier vorgestellte Herangehensweise. Der Begriff Argument ist in der vorliegenden Untersuchung so weit gefasst, dass an die Position von A im ersten der beiden obigen Schaubilder das Textthema bzw. die These rücken kann. Für den Begriff These gilt dieselbe Kategorisierung wie für den Begriff Argument: Es handelt sich dabei nicht (oder nicht ausschließlich) um eine Hypothese im engeren Sinne, sondern um das, über das etwas ausgesagt wird – um das Thema. Ein
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Relevanz-Verhältnis zwischen A und K besteht in Anlehnung an Sperber/Wilson (1986) dann, wenn die kontextuellen Effekte des Arguments groß, die kognitiven Anstrengungen zur Herstellung eines passenden Zusammenhangs hingegen klein sind (Kienpointner 1992, 21):⁷ «Relevance Extent condition 1: an assumption is relevant in a context to the extent that its contextual effects in this context are large. Extent condition 2: an assumption is relevant in a context to the extent that the effort required to process it in this context is small.» (Sperber/Wilson 1986, 125)
Je gebräuchlicher die Verwendung bestimmter Argumentationen/Argumente also ist, desto leichter fällt es, den entsprechenden Sachverhaltszusammenhang (Topos) herzuleiten. Und je gebräuchlicher die Verwendung eines Topos ist, desto weniger explizit muss er benannt werden, um argumentativ stützend wirken zu können. Auch dessen Andeuten oder Anzitieren reicht dann aus, um vorhandene Denk- und Argumentationsmuster abzurufen. Nimmt man nun an, dass für jedes relevante Argument Schlussregeln rekonstruierbar sind (cf. Kienpointner 1992, 21), wird die Wichtigkeit der Topoi gerade für habituelle Argumentationsgänge augenscheinlich. Doch nicht nur der argumentationsanalytische, auch der historische Zugang legt diese Einschätzung nahe: Der geschichtliche Exkurs in Kapitel 3 zeigt, dass bestimmte – literarische wie argumentationsanalytische – Topoi zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich stark präsent sind und insgesamt eine beachtliche Kontinuität aufweisen können. (Diskursspezifische) Topoi, die in aktuellen/gegenwärtigen Texten stützend wirken, stellen häufig keine völlig neuen Sachverhaltszusammenhänge dar, sondern wurden bereits früher thematisiert. Diese Topoi sind dann nicht kontinuierlich im kommunikativen Gebrauch präsent und daher in der allgemeinen Wahrnehmung nicht (mehr) aktiv vorhanden. Aufgezeigt hat dies unter anderem Wengeler (2006). Er hat am Beispiel des Redens über Migration in Deutschland die historische Kontinuität der damit verknüpften Argumentationsmuster untersucht. Anhand der im Februar 2000 von Bundeskanzler Schröder initiierten Green-Card-Debatte zeigt sich demnach, dass der – seinerzeit als neu wahrgenommene – «Topos vom wirtschaftlichen Nutzen»⁸
7 Cf. dazu auch Kopperschmidt (1989, 102) über die «material-inhaltliche Beziehung zwischen [einer Aussage] p und [einer Aussage] q», bei der Verknüpfung «p, weil q». 8 Der «Topos vom wirtschaftlichen Nutzen» (Wengeler 2006, 18; 26): «Wenn eine Handlung/ eine Entscheidung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten positive Folgen hat, sollte sie ausgeführt werden».
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der Einwanderung keineswegs neu, sondern in Texten bereits 20 Jahre früher nachzuweisen war. Neu erschien er in der Debatte deshalb, weil er für zwei Jahrzehnte in der öffentlichen Diskussion nicht mehr aufgetaucht und somit der (bewussten) Wahrnehmung entzogen war. Eine Topos-Analyse kann also den Wissensbestand einer Gesellschaft illustrieren helfen, kann aufzeigen, wie sich argumentativ gesetzte Schwerpunkte im Diskurs verschieben oder welche Kontinuität sie aufweisen. Dazu bedarf es u.a. eines entsprechend langen Untersuchungszeitraums. Die Topoi lassen sich, von ihrer historischen Dimension einmal abgesehen, in folgende Kategorien einteilen: Kognitive Ebene
‘ Topos als Idee’ (normative) Argumentationsvorlagen, zum Teil mit hierarchischen Verknüpfungen
kontextabstrakt
zunehmende thematische Spezifiziertheit ‘Topos als Konkretisierungsform’ diskursabstrakte(re) Topoi diskursspezifische(re) Topoi
kontextspezifisch
Konkrete Realisierung in einer Einzelsprache
‘ Topos als Realisierungsform’ Evozieren – Abrufen – Anzitieren von Topoi
Wie das Schaubild illustriert, sind auf der kognitiven Ebene zwei kontextuelle Kategorien zu unterscheiden: Dabei handelt es sich zunächst um die von Text und Einzelsprache unabhängige, kontextabstrakte Ebene, in der sich der ‘Topos als Idee’ in seiner höchsten Abstraktionsstufe ansiedeln lässt, so z.B. der Topos der Quantität (Mehr ist besser als weniger). Diese Funktionsvorlagen werden dann inhaltlich gefüllt und damit in die kontextspezifische Ebene überführt, wo der ‘Topos als Konkretisierungsform’ zu verorten ist. Dieser Wechsel der Ebenen
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korreliert mit einer Zunahme an thematischer Spezifiziertheit (von abstrakt zu konkret, weiterhin von diskursabstrakt zu diskursspezifisch) und der Zunahme an einzelsprachlichen Merkmalen. Der ‘Topos als Konkretisierungsform’ findet schließlich als ‘Realisierungsform’ im in der jeweiligen Einzelsprache realisierten Text seinen Niederschlag. Obwohl die beiden letztgenannten Formen dieselbe inhaltliche Dichte aufweisen, ist ihre konzeptuelle Unterscheidung für die Analyse unabdingbar. Nur über die konkrete Realisierung im Text können Rückschlüsse auf die kognitive Ebene gezogen werden. Des Weiteren ist die jeweils eingenommene Perspektive eine andere: Bei der Betrachtung der Ebene der kognitiven Konkretisierung liegt der Fokus auf dem Vorhandensein einer Anzahl mehr oder weniger (diskurs-) spezifischer Topoi. Gerade auch die Differenzierung innerhalb der kontextspezifischen Ebene erscheint aus verschiedenen Gründen sinnvoll: Sie stellt das Diskursübergreifende heraus, indem klar wird, welche der Topoi auch in thematisch anderen Kontexten verwendet werden könn(t)en, und fokussiert zugleich das Diskursspezifische, indem Argumentationsmuster benannt werden, für deren Einsatz in anderen Diskursen kein accord zu erzielen wäre. Sie ist für das Verständnis von Text und Diskurs bzw. der Vernetzung von Argumentationsstrukturen hilfreich. So lassen sich die beiden nachfolgenden, von Wengeler als kontextspezifisch klassifizierten Topoi aufeinander beziehen und zusätzlich mit dem Attribut diskursabstrakt kennzeichnen, da sie nicht nur im Einwanderungsdiskurs verwendet werden können:⁹ «Rechts-Topos: Weil wir uns an die Gesetze/das bestehende/kodifizierte Recht halten sollten, ist eine Entscheidung/Handlung zu befürworten/abzulehnen.» (Wengeler 2003, 317) «Gesetz-Topos:
Weil ein Gesetz oder eine anderweitig kodifizierte Norm oder eine gerichtliche Entscheidung eine bestimmte Handlung vorschreibt bzw. nahelegt/verbietet, sollte diese ausgeführt/nicht ausgeführt werden.» (Wengeler 2003, 309)
Für das Vorliegen des Gesetz-Topos gilt im Vergleich zum Rechts-Topos, dass «das entsprechende Gesetz explizit genannt wird bzw. aus dem Kontext klar wird, auf welches Gesetz oder welche Gerichtsentscheidung sich berufen wird.» (Wengeler 2003, 309s.) Damit der Gesetz-Topos als solcher funktioniert, muss ihm aber als Stütze das Einvernehmen bzw. der Argumentationsrahmen zugrunde liegen, dass man sich prinzipiell an bestehendes Recht zu halten habe,
9 Dies gilt im Übrigen für die Mehrzahl der von Wengeler angeführten kontextspezifischen Topoi.
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was beispielsweise durch den ‘abstrakteren’ bzw. ‘globaleren’ Rechts-Topos ausgedrückt wird. Im Vergleich zu diesen beiden kontextspezifisch-diskursabstrakten Topoi zeigt der Verlagerungs-Topos derart diskursspezifische Merkmale bzw. eine solche thematische Spezifiziertheit, dass er nur schwerlich in anderen Zusammenhängen als Argumentationsmuster eingesetzt werden kann: «Verlagerungs-Topos: Weil die Menschen einwandern, um Arbeit und Verdienst zu finden, sollten Arbeitsplätze in die Herkunftsländer der Zuwanderer ‹verlagert› werden, um die Zahl der Zuwanderer zu begrenzen.» (Wengeler 2003, 317)
Alle drei soeben nach Wengeler zitierten Topoi existieren auf der kognitiven Ebene. Auf der Ebene der Realisierung, der letzten Stufe der Konkretisierungsskala, geht es dann um die im Einzeltext manifesten Äußerungen bzw. erscheinenden Sachverhaltszusammenhänge. Die realisierten Topoi werden nunmehr als (mehr oder weniger implizite) Argumentationsstützen (Schlussregeln¹⁰) wirksam, denen, wie soeben gezeigt, wiederum andere – häufig kontextabstrakte(re) – Topoi als argumentative Absicherung (backing) dienen (können). Eine derartige Unterscheidung macht u.a. dort besonders Sinn, wo versucht wird, die verschiedenen Argumentationsebenen eines Textes zu beleuchten und deren Interaktion zu beschreiben. Bornscheuer hat 1976 eine solche konzeptionelle Trennung bereits erwähnt, sie jedoch nicht in letzter Konsequenz zu einer terminologischen Differenzierung ausgeführt: «Der Topos ist ein inhaltlicher oder formaler Gesichtspunkt, der in vielen konkreten Problemerörterungen verwendbar ist und in der die verschiedenartigsten Argumentationen bzw. amplifikatorischen Explikationen ermöglicht. Jeder Topos ist unbestimmt-allgemein [Hervorhebung D.W.], eröffnet jedoch in einem bestimmten Problemzusammenhang für die verschiedenartigsten Interessen konkrete Argumentationsperspektiven. Die Anwendung eines Topos, das Wissen, welcher Topos in welchem Augenblick am brauchbarsten ist, bleibt der schöpferischen Einbildungskraft, dem Einfall bzw. dem durch Übung geschulten Assoziations- und Interpretationsvermögen überlassen. Da ich im Gegensatz zu vielen jüngeren Forschungsbeiträgen davon spreche, daß ein ‹Topos› auch die Funktion eines ganz konkreten ‹Arguments› annehmen kann [Hervorhebung D.W.], während soeben gerade die wesensmäßige Unbestimmtheit und Allgemeinheit hervorgehoben wurde, sei hier ergänzend hinzugefügt, daß das konkrete Verständnis eines Topos, seine unmittelbare Überzeugungskraft, jeweils abhängig ist von dem Grad der interpretatorischen Übereinstimmung zwischen den Disputanten [also vom accord zwischen Produzent und Rezipient – Anm. und Hervorhebung D.W.]. Wo der allgemeine Gesichtspunkt von allen Beteiligten in einem eindeutigen Sinne auf eine Problemfrage appliziert wird, hat er die Funktion eines unmittelbaren Arguments.» (Bornscheuer 1976, 99)
10 Im Falle von ‘weil-Formulierungen’ auch Konklusionen.
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Der von Bornscheuer erwähnte «unbestimmt-allgemein[e]» Aspekt weist in Richtung Kontextabstraktheit, wohingegen die Erwähnung, ein Topos könne «auch die Funktion eines ganz konkreten ‹Arguments› annehmen», die argumentationsanalytische Komponente betont und auf ein höheres Maß an Kontextspezifiziertheit sowie auf den im Einzelnen realisierten argumentativen Gehalt verweist. In der vorliegenden Arbeit kommt den inhaltlichen Gesichtspunkten der Topoi eine größere Aufmerksamkeit zu als den formalen Charakteristika, da die vorliegende Einteilung Resultat der praktischen Analyse von Texten ist. So lassen sich z.B. die kontextspezifischen Topoi in Bezug auf den jeweiligen Diskurs – also hinsichtlich ihrer thematisch-argumentativen Spezifiziertheit – näher bestimmen: (1) Diskursabstrakte Topoi Sie beziehen sich nicht (nur) auf einen spezifischen Diskurs, sondern tauchen in verschiedenen Bereichen auf. Bsp.: Verteidigungs-Topos: Wenn eine/unsere Gesellschaft oder das friedliche Zusammenleben bedroht ist, müssen/dürfen Gegenmaßnahmen ergriffen werden. (2) Diskursspezifische Topoi Sie sind eng mit einem bestimmten Diskurs verbunden und lassen sich nicht (oder nicht ohne Weiteres) auf andere Bereiche übertragen. Bsp: Demokratieuntauglichkeits-Topos: Weil im Islam bestimmte demokratische Grundwerte/Prinzipien (Gleichheit, Meinungsfreiheit, Frauenrechte) nicht gewährleistet sind, ist der Islam bzw. dessen (öffentliche) Praktizierung mit der Demokratie nicht vereinbar. Die Grenzen zwischen beiden Kategorien sind durchlässig, und nicht immer sind die Topoi zweifelsfrei der einen oder anderen zuzuordnen. Aus diesem Grund bietet sich der Begriff des Kontinuums an, dessen äußerstem Pol der Abstraktion sich solche argumentative Grundmuster zuordnen lassen, die – von der aristotelischen Topik bis zum Traité de l’Argumentation von Perelman/Olbrechts-Tyteca (31976, 112ss.) immer wieder benannt – eine Art Formatvorlage für verschiedene Argumentationsmuster bieten. Hier ließen sich z.B. der Topos der Quantität (Mehr ist besser als weniger) oder der Topos der Qualität (Das Seltene ist besser als das Häufige) nennen. Dazu gehören ebenso der Topos der Reihenfolge (Verknüpfung von Vor- und Nachzeitigem, von Ursache und Wirkung) wie auch der Topos der Existenz (Das Reale/Vorhandene ist dem Möglichen/Etwaigen überlegen). Eine hohe Diskursspezifizität zeigen im Vergleich der bei der exemplarischen Textanalyse behandelte Bedrohungs-topos wie auch der bereits erwähnte Demokratieuntauglichkeits-Topos. Neben der im obigen Schaubild illustrierten Kategorisierung der Topoi ist eine weitere strukturelle Differenzierung sinnvoll. Bornscheuers (1976, 95–108)
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Strukturmerkmale – Habitualität, Potenzialität, Intentionalität und Symbolizität –, die erst in ihrem Zusammenspiel den Topos als solchen bedingen, können ergänzend herangezogen werden, da sie Funktionsmerkmale benennen, die sich in der Textanalyse durchaus bestätigen. Ausgangspunkt ist auch hier Aristoteles bzw. seine Reflexion über Wirkung und Funktion tradierter, überkommener bzw. herrschender Meinungen, griech. éndoxa, was zur bereits erwähnten Grundannahme passt, die Topoi eng in Bezug mit enthymemischem Folgern und Argumentieren zu setzen:¹¹ Zentral ist die Eigenschaft der Habitualität. Gerade beim Mitsagen und Mitmeinen, einem impliziten Prozess des Argumentierens, ist der Topos als Schlussregel nur dann einsetzbar, wenn er bekannt, sprich habituell ist. Der Prozess der gesellschaftlichen Tradierung sichert zudem den notwendigen accord zwischen Produzent und Rezipient. Des Weiteren muss man einen bestimmten Sachverhaltszusammenhang zuerst einmal kennen, damit er stützend gebraucht werden kann. Sogar bei der inhaltlichen oder formalen Ablehnung eines Argumentationsmusters ist dessen Thematisierung kaum zu vermeiden – womit ihm dann, bisweilen wider Willen, eine Existenz im Diskurs verliehen wird. Ein Dilemma, das gerade beim Versuch einer differenzierenden Berichterstattung auftreten kann. Die zum Merkmal der Potenzialität gehörige Doppelung von formal und inhaltlich bzw. allgemein-unbestimmt und argumentativ-spezifisch wurde bereits genannt. Bornscheuer (1976, 194) erwähnt noch eine weitere Zweiseitigkeit, mit der er sich in der Nachfolge von Aristoteles befindet: «[D]erselbe Topos kann bei derselben Problemfrage beiden Kontrahenten nützlich sein (in utramque partem-Prinzip).» Als Beispiel ließe sich wiederum der Demokratie-Topos bemühen. Das Strukturmerkmal der Intentionalität ist für die Analyse impliziter Argumentation dann praktikabel, wenn Intentionalität nicht mit bewusstem sprachlichem Handeln gleichgesetzt wird. (Ein gewisses Maß an Unbewusstheit ist allein schon aufgrund von Faktoren wie Sprachökonomie, Gewohnheit und Zeitdruck anzunehmen.) Wird ‘Intentionalität’ handlungstheoretisch gewertet, d.h. ist die Ausrichtung auf die Produktion eines kohärenten, auf Informationsvermittlung ausgerichteten Textes gemeint, kann auch dieses Funktionsmerkmal den in der Textanalyse herausgearbeiteten Topoi als Parameter zugrunde gelegt werden.¹²
11 «Das eigentliche Telos des topischen Apparats ist seine Funktion im Rahmen der vorwissenschaftlichen Problemlösung und Meinungsbildung.» (Bornscheuer 1976, 106). 12 Wengeler (2003, 195s.) weist zu Recht darauf hin, dass dieser Ansatz dem sich auf Foucault berufenden poststrukturalistischen Ansatz widerspricht, da er dem Produzenten – trotz des
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Abschließend ist die Symbolizität zu nennen, das Bestimmungsmerkmal mit der höchsten Abstraktionsstufe: Bornscheuer (1976, 103) hebt in diesem Zusammenhang die hohe Komplexität und den autonomen Selbstwert des Topos hervor und nimmt an, dass «derselbe Topos verschiedene Grade sowohl der verbalen wie der semantischen Konzentration annehmen» kann. Die in den Pressetexten stützend wirkenden Topoi zeichnen sich in der Regel allerdings nicht durch komplexe, sondern durch klare, in Teilen stereotype Strukturen aus; dieses Attribut ist also weniger auf den Topos als solchen denn auf dessen Verortung zwischen explizit formulierten und implizit wirkenden (Text-)Ebenen zu beziehen. Der Aspekt der unterschiedlich ausgeprägten verbalen Konzentration ist für implizite Argumentationsmuster besonders dort relevant, wo diese (mit lexikalischen Mitteln) anzitiert werden. Wengeler (2003, 197ss.) verweist außerdem darauf, dass die divergierende semantische Konzentration die Möglichkeit bietet, denselben Topos in unterschiedlichen sprachlichen Realisierungen zu vermuten. Hervorzuheben ist schließlich die in der Symbolizität angelegte Eigenschaft der Merkfähigkeit des Topos, welcher nach Bornscheuer als Kern einen gewissen Elementarcharakter besitzt, der erwähnte autonome Selbstwert. Gerade diese Merkform und die dadurch ermöglichte diskursive Tradierung sind zentral für die Beständigkeit argumentativer Topoi. Eine wohlbekannte (Merk-) Form tradierten enthymemischen Wissens, die der kontextspezifischen Ebene zugeordnet werden kann, sind die Sprichwörter, als deren Stütze sich häufig (kontextabstrakte) Topoi identifizieren lassen. So verbirgt sich hinter den Äußerungen «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.»/«Un tiens vaut mieux que deux tu l’auras.» und «Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben.»/«Don’t count your chickens before they hatch.» der Topos der Existenz (Das Reale/Vorhandene ist dem Möglichen/Etwaigen überlegen). Verschiedene sprachliche Einkleidungen können also dieselbe Idee vermitteln. Kuusi (1966, 97) hat für den speziellen Bereich der Sprichwörter auf diese Unterscheidung hingewiesen: «Es gibt drei Aspekte, nach denen man die Sprichwörter zu Gruppen zusammenfassen kann: 1. nach der Idee, 2. nach der Struktur (finnisch: formula), 3. nach dem Baukern. Sprichwörter mit der gleichen Idee sind synonyme Sprichwörter. Sprichwörter, die nach
erwähnten Habitualitätsfaktors – eine gewisse (sprachliche) Handlungsfreiheit zugesteht. Bornscheuers Topos-Begriff entspricht nach Wengeler daher eher dem Konzept der ‘Historischen Semantik’ von Busse (cf. i.a. Busse (1987) und (2007); Busse/Hermann/Teuberts (1994)). Die Beiträge des Sammelbandes Diachrone Semantik und Pragmatik von Busse (1991) setzen sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem theoretischen und methodischen Fundament einer pragmatisch fundierten diachronen Semantik auseinander.
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gleichem Schema gebildet sind, bilden strukturgleiche Sprichwörter. Sprichwörter, die sich um gleiche bzw. sinngleiche Bilder oder Wortfiguren gruppieren, sind baukerngleiche Sprichwörter.»
Kuusis Dreierschema lässt sich problemlos in das bereits dargelegte TopoiSchema integrieren: Die (einzel)sprachliche Struktur und die verwendete Metaphorik setzen eine Idee um und sind als deren Konkretisierungen auf der kontextspezifischen Ebene anzusiedeln. Die konkrete Anwendung des jeweiligen Sprichwortes findet sich schließlich als Realisierungsform auf der Textebene wieder. Nun sind Topoi nicht nur immer wieder (habituell), sondern, wie bereits erwähnt, auch als Stütze für konträre Aussagen einsetzbar. Anhand des Demokratie-Topos lässt sich das bereits bei Aristoteles erwähnte in utramque partem-Prinzip veranschaulichen: Der Islam ist vereinbar mit der Demokratie, weil er bestimmte Werte/Prinzipien wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit gewährleistet. Der Islam ist nicht vereinbar mit der Demokratie, weil er bestimmte Werte/Prinzipien wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit nicht gewährleistet.
Ob die Topoi stützend funktionieren, hängt genuin mit dem Koordinatensystem zusammen, in dem sie verankert werden.¹³ Da es sich hierbei in aller Regel um ein System handelt, das sich stark an enthymemischen Schlüssen orientiert, ist die Akzeptanz der zugrunde liegenden Prämissen durch den Adressaten unabdingbar. Verweigert er diese, ist dem Topos als Schlussregel die Grundlage entzogen. Im ersten Kapitel von Le dire et le dit beschäftigt sich Ducrot zunächst aus dem Blickwinkel des Produzenten – bzw. dessen Art der Präsentation – mit Form und Funktion von Präsuppositionen. Seine Gedanken (Ducrot 1984, 20s.) beleuchten die bereits vorgebrachten Überlegungen zu Schlussregel, Koordinatensystem und accord aus einem anderen Blickwinkel: «Pour décrire ce statut particulier du présupposé, on pourrait dire […] qu’il est présenté comme une évidence, comme un cadre incontestable où la conversation doit nécessairement s’inscrire, comme un élément de l’univers du discours. En introduisant une idée sous forme de présupposé, je fais comme si mon interlocuteur et moi-même nous ne pou-
13 Cf. dazu die «Materiale Argumentationsanalyse» bei Kopperschmidt (1989, 143ss.), in deren Mittelpunkt die Beschäftigung mit der materialen Zugehörigkeit von Argumenten/Argumentationen zu kategorialen Sprachsystemen steht. Die materiale Analyse wird der funktionalen Analyse beigeordnet, die Argument und Argumentation handlungstheoretisch, d.h. in ihrer Funktion untersucht (im Sinne Toulmins Beschreibung der spezifischen Rollen).
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vions faire autrement que de l’accepter. Si le posé est ce que j’affirme en tant que locuteur, si le sous-entendu est ce que je laisse conclure à mon auditeur, le présupposé est ce que je présente comme commun aux deux personnages du dialogue, comme l’objet d’une complicité fondamentale qui lie entre eux les participants à l’acte de communication. Par référence au système des pronoms, on pourrait dire que le présupposé est présenté comme appartenant au ‘nous’, alors que le posé est revendiqué par le ‘je’ et que le sous-entendu est laissé au ‘tu’. Ou encore, si l’on préfère les images temporelles, on dira que le posé se présente comme simultané à l’acte de communication, comme apparaissant pour la première fois, dans l’univers du discours, au moment de cet acte. Le sous-entendu, au contraire, se donne comme postérieur à cet acte, comme surajouté par l’interprétation de l’auditeur; quant au présupposé, même si, en fait, il n’a jamais été introduit avant l’acte d’énonciation […], il essaie toujours de se situer dans un passé de la connaissance, éventuellement fictif, auquel le locuteur fait semblant de se référer.»
Was Ducrot im Zusammenhang mit dem Begriff der Präsupposition (présupposé) beschreibt, entspricht aus der Perspektive der Argumentationsanalyse der Schlussregel, was er unter den Terminus des Mitzuverstehenden (sous-entendu) fasst, wiederum der implizit gezogenen Konklusion. Als der Präsupposition inhärentes Merkmal betont Ducrot des Weiteren den accord und hebt damit auch die Wichtigkeit des oben erwähnten Koordinatensystems¹⁴ für eine gelingende Kommunikation hervor. Das sous-entendu ist in der Äußerung angelegt, ohne dass der Produzent die Regresspflicht dafür übernimmt bzw. übernehmen müsste. Im Fall einer Kontroverse ist es ihm daher stets möglich, sich auf das nachweislich Gesagte zurückzuziehen. Insofern weist die Zuordnung zum Rezipienten, der die implizite Schlussfolgerung zu ziehen hat, auf einen wesentlichen Punkt hin. Dies würde aber zu kurz greifen, wenn es nur dabei bliebe. Dasselbe gilt für die Korrelation mit der Nachzeitigkeit: Würde das Mitzuverstehende ‘nur’ als Supplement, als nachträglich Hinzugefügtes gewertet, bliebe der Blick darauf verstellt, dass es sich dabei auch um das Abrufen von bereits vorhandenem Wissen handeln könnte, einen Vorgang, den Ducrot im Zusammenhang mit der Präsupposition im letzten Satz des oben zitierten Abschnitts in den Blick nimmt. Allerdings schwingt in Ducrots faire semblant noch ein gewisses Maß an Distanzierung mit, denn der Sprecher tut (nur) so, als ob er referierte. Mit der Grundannahme der tatsächlichen Referenz auf eine kognitive Ebene erhält dieser Vorgang eine neue Wichtigkeit und wird nicht mehr nur im Zusammenhang mit der Sprecher-/ Produzentenrolle betrachtet.
14 «Ce qui définit la présupposition en général, […] c’est ce que j’ai appelé ‹loi d’enchaînement›. L’information présupposée est présentée comme ne devant pas être le thème du discours ultérieur, mais seulement le cadre dans lequel il se développera.» (Ducrot 1984, 92).
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Beide, présupposé und sous-entendu, sind nicht direkt aus den sprachlich realisierten Bestandteilen, dem so Vorgebrachten (posé), zu gewinnen. Diese Mehrschichtigkeit der Äußerung illustriert Ducrot durch die unterschiedliche Zuordnung mit Personalpronomina und Tempusformen: Mit dem posé verknüpft er die erste Person Singular (je) sowie die Gleichzeitigkeit; mit dem présupposé korrelieren die erste Person Plural (nous) und die Vorzeitigkeit; dem sousentendu sind die zweite Person Singular (tu) und die Nachzeitigkeit zugeordnet. Die Überlegungen Ducrots lassen sich nun in systematischer Gesamtschau in das integrale Textmodell (cf. Kap. 5.2) überführen: Présupposé und sous-entendu werden dabei auf der kognitiven Ebene, das posé im Textkörper selbst verankert. Die Textstrategien sichern den Transfer zwischen den verschiedenen Ebenen, und im Zusammenspiel der verschiedenen Schichten entsteht schließlich die Äußerung als solche: Kommunikation ist stets mehr als die Summe ihrer einzelnen Bestandteile (Gesetz der Übersummativität). Die strikte Trennung von présupposé und sous-entendu ist für die vorliegende Arbeit nicht zielführend. Ducrot (1984, 39; 92ss.) selbst nimmt sie im weiteren Verlauf von Le dire et le dit zurück und entwickelt eine Konzeption, die zwar aus der Perspektive der Sprechakttheorie formuliert ist, die Präsupposition dennoch nahe an den hier verwendeten Topos-Begriff heranführt: «Il faut donc admettre qu’[une présupposition] peut apparaître au seul niveau de l’énoncé, et même qu’elle peut apparaître sous forme de sous-entendu. Il y aurait des présuppositions sous-entendues, comme il y a des demandes sous-entendues.» (Ducrot 1984, 39)
Betrachtet man den Topos im argumentationsanalytischen Sinn, geht der von Ducrot verwendete Begriff der Präsupposition darin auf. Letzterer findet daher nachfolgend keine weitere Verwendung. Trotz der Unterschiede zwischen dem hier verwendeten Topos-Begriff und der Ducrot’schen Definition der Präsupposition lassen sich Parallelen in deren Beschreibung entdecken; so z.B. Ducrots Überlegung hinsichtlich der Verortung der Präsupposition: «[La] détection des présupposés n’est pas liée à une réflexion individuelle des sujets parlants, mais […] elle est inscrite dans la langue.» (Ducrot 1984, 25)
Das Untersuchungsobjekt weist also über den einzelnen Sprecher hinaus, schreibt sich gewissermaßen in die Sprache ein. Eine solche ‘Einschreibung’ kann einen primär reproduzierenden, perpetuierenden oder einen die Tradition verändernden Charakter haben. Sie manifestiert sich im bzw. ist zugleich konstituierend für den jeweiligen Diskurs.¹⁵ Mit der am Ende von Le dire et le dit
15 Ganz nebenbei ein Argument dafür, dass eine solche Analyse stets ein Textkorpus umfas-
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gegebenen Charakterisierung von Präsuppositionen, die so ähnlich für die Toulmin’sche Schlussregel formuliert werden könnte, lässt sich ein erneuter Bogen zur vorliegenden Arbeit schlagen: «D’où cette caractéristique de la présupposition: tout en prenant la responsabilité d’un contenu, on ne prend pas la responsabilité de l’assertion de ce contenu, on ne fait pas de cette assertion le but avoué de sa propre parole.» (Ducrot 1984, 233)
Ob im Fall einer isoliert betrachteten Äußerung oder eines ganzen Diskurses, stets ist der accord als eine der wesentlichen Voraussetzungen gelingender Kommunikation zu werten. Perelman/Olbrechts-Tyteca (31976, 87ss.) haben dieses Einvernehmen als Dreh- und Angelpunkt jeder Argumentation ausführlich beschrieben, und auch von Bornscheuer (1976, 99) wurde es, wie oben zitiert, hervorgehoben. Je nachdem, an welches Publikum sich ein Produzent bzw. sein Text richtet, variieren die Schlussregeln, die als akzeptierbar gewertet werden.¹⁶ So werden Argumentationen, die sich auf die Geltung der Menschenrechte, auf abstrakte bzw. globale Werte und Normen wie die Humanität oder die Souveränität eines Staates berufen, tendenziell bei einem größeren Adressatenkreis als akzeptabel gewertet denn kontext- und diskursspezifischere Varianten, die z.B. innerhalb von Expertenkreisen aus Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst als diskussionswürdig erachtet werden oder dort konsensfähig sind. Beide hängen von vorher gesetzten Prämissen, dem oben erwähnten Koordinatensystem, ab. Die etwaige Ablehnung eines Argumentationsmusters als inakzeptabel entspräche der argumentativen Grundebene (1), die Perelman/Olbrechts-Tyteca (31976, 88) unter weiteren für eine mögliche Ablehnung einer Äußerung anführen: (1) L’accord concernant les prémisses (2) Le choix des prémisses (3) La présentation des prémisses
Auch im Bereich der Presse ist die Wichtigkeit des accord nicht zu unterschätzen. Zu nennen wären hierbei die (intuitive) Annahme des Lesers, das Geschriebene sei für ihn relevant,¹⁷ sowie die Bevorzugung bestimmter Inhalte. So stellte
sen muss. Denn wie sonst als in einer vergleichenden Zusammenschau sollte ein systemisches Merkmal an einem Einzeltext erfasst und bearbeitet werden können? 16 Kopperschmidt (1989, 117ss.) verweist bei seinen Überlegungen hinsichtlich der Trennung von ‘überzeugen’ und ‘überreden’ auf die Unterscheidung Perelmans zwischen ‘auditoire universel’ und ‘auditoire particulier’, um zu einem operationalisierbaren Maßstab zu gelangen. 17 Diese positive Grundeinstellung wird von Perelman/Olbrechts-Tyteca (31976) hervorgehoben und schlägt sich im Bereich der Konversationsanalyse auch in den Grice’schen Konversationsmaximen nieder (cf. Grice 1975).
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Donsbach (1991) in einer Studie fest, dass (deutsche) Zeitungsleser Medien und Artikeln zuneigten, von denen sie die Bestätigung der eigenen Meinung erwarteten. Diese selektive Rezeption kommt bei positiven und negativen Informationen unterschiedlich zum Tragen: «[N]egative Meldungen sowie Berichte über Personen [fallen] der Selektion durch die Rezipienten seltener zum Opfer als positive Meldungen sowie Berichte über Sachthemen[.] Selektive Wahrnehmung setzt ferner bereits vorhandene Einstellungen voraus. Sind die Prädispositionen eines Menschen nur relativ schwach ausgeprägt oder überhaupt nicht vorhanden, so fehlt ihm das für die Verstärkerhypothese¹⁸ relevante Selektionskriterium.» (Brettschneider 2009, 106)¹⁹
Donsbach (1991, 211) hebt des Weiteren hervor, dass die Publizistikwissenschaft in der Zeit ihres Paradigmas der schwachen Medienwirkungen die Selektivität überschätzt und die Wirkungen unterschätzt habe und, so sein abschließendes Fazit, «daß eine Selektivität der Rezipienten entsprechend ihrer bereits vorhandenen Einstellungen zwar empirisch nachweisbar ist, aber aufgrund ihrer relativ
18 Dazu Klapper (1960,49s.): «Communication research strongly indicates that persuasive mass communication is in general more likely to reinforce the existing opinions of its audience than it is to change such opinions». Heute lässt sich diese Verstärkerhypothese nach Brettschneider (2009, 106s.) jedoch nicht mehr verallgemeinern: Die «selektive Wahrnehmung – die Voraussetzung für Verstärkereffekte – [setzt] unterschiedliche Medieninhalte voraus, die jedoch auch in westlichen Demokratien nicht immer gegeben sind. Darüber hinaus kann Selektion mittels der formalen Betonung von Artikeln oder Beiträgen abgeschwächt werden. Einen gut platzierten, bebilderten und mit einer großen Überschrift versehenen Artikel lesen auch Menschen, bei denen sich der Inhalt im Gegensatz zu ihren Voreinstellungen befindet.» Was Brettschneider (2009) im Zusammenhang mit Massenmedien und Wahlkampf beobachtet, lässt sich im Bereich der Prädispositionen und Themenorientierung auch auf andere Bereiche übertragen: «Priming verändert nicht die der Bewertung einer Partei zugrunde liegenden Einstellungen (Persuasion), sondern es betont einige der bereits bestehenden Einstellungen und verleiht ihnen damit für die Gesamtbewertung ein besonderes Gewicht. Zur Bewertung einer Partei ziehen Menschen nämlich nicht sämtliche verfügbaren Informationen über die innenpolitischen, außenpolitischen, wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen und vermeintlichen Kompetenzen der Partei heran. Dies wäre viel zu aufwändig. Stattdessen beurteilen sie die Partei anhand derjenigen Informationen, die zum Zeitpunkt der Bewertung ‹topof-the-head›, also gedanklich gerade präsent sind (vgl. Iyengar/Kinder 1987). Welche Themen dies sind, wird auf dem Weg des Agenda-Setting maßgeblich von der Medienberichterstattung bestimmt: Durch die Häufigkeit der Berichterstattung über ein Thema und durch die Platzierung und Aufmachung der entsprechenden Berichte legen die Massenmedien fest, welche Themen von der Bevölkerung als wichtig, dringlich und als lösungsbedürftig angesehen werden – und welche Themen unter den Tisch fallen». (Brettschneider 2009, 107). 19 Kunczik (42002, 22) weist darauf hin, dass es leichter möglich ist, ein positives Image zu beschädigen, als die Einstellung gegenüber einem negativen Image zu verbessern.
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geringen Einflußstärke, der vielen einschränkenden Randbedingungen und der Möglichkeiten des Mediums, sie auszuschalten, keinen wirksamen Schutz gegen Meinungsänderungen darstellt.» Die Topoi, die zu den von Brettschneider (2009, 206) genannten Prädispositionen²⁰ gehören, können durch die Berichterstattung abgerufen oder forciert werden. Diese Sachverhaltszusammenhänge beziehen ihre Wirkkraft häufig aus einer ihnen zugrunde liegenden Hierarchie, welche die Argumentation stützt und dabei – und darauf kommt es in diesem Zusammenhang besonders an – meist implizit bleibt. Diese Hierarchien, deren Wichtigkeit im nachfolgenden Zitat von Perelman/Olbrechts-Tyteca zum Ausdruck kommt, lassen sich auch zu den von Kopperschmidt illustrierten normativen Geltungsansprüchen zählen.²¹ «Les hiérarchies de valeurs sont, sans doute, plus importantes au point de vue de la structure d’une argumentation que les valeurs elles-mêmes. En effet, la plupart de celles-ci sont communes à un grand nombre d’auditoires. Ce qui caractérise chaque auditoire, c’est moins les valeurs qu’il admet, que la manière dont il les hiérarchise.» (Perelman/Olbrechts-Tyteca 31976, 109)
Perelmans und Olbrechts-Tytecas Unterscheidung von Fakten (faits) und Werten (valeurs) ist im vorliegenden Zusammenhang allerdings von geringerer Bedeutung, da es bei den argumentationsanalytischen Topoi – wie auch beim enthymemischen Schlussfolgern insgesamt – mehr um Plausibilität als um einen wie auch immer gearteten Faktengehalt oder nachprüfbaren Wahrheitswert geht.²² Lautet der die Konklusion stützende Sachverhaltszusammenhang z.B. Wenn eine Gesellschaft die Aufklärung durchlaufen hat, ist sie anderen, nicht aufgeklärten Gesellschaften (moralisch) überlegen oder Weil bestimmte Rechte/Normen allgemein gültig sind, müssen sie (von allen Menschen/Gesellschaften/Regierungen) geachtet werden, dann wird deutlich, dass es sich bei diesen Argumentationsmustern nicht um die Äußerung ‘objektiver’ Fakten handelt und dass ebenso
20 Dies gilt für den Produzenten wie den Rezipienten der Texte. 21 Implizite normative Implikate können so lange unthematisch, sprich unerwähnt bleiben, «als sich das Interesse der kommunizierenden Subjekte – statt auf die normativen Geltungsbedingungen ihrer Äußerungen – auf den informativen Gehalt der Äußerungen konzentriert.» (Kopperschmidt 1989, 19). 22 Alltagsargumentation wäre im Sinne einer rein syllogistischen Vorgehensweise gar nicht möglich, bzw. nach Kopperschmidt (1989, 114 in Anlehnung an Öhlschläger (1979, 118ss.) und Toulmin (1975, 122s., 148ss.)) wären die Möglichkeiten rationaler Verständigung äußerst klein, Argumentation als Raum potenzieller Verständigung ziemlich irrelevant, «denn als logisch korrekte Deduktion kann eine Argumentation in ihrer Konklusion nichts enthalten, was nicht schon im materialen Gehalt ihrer Prämissen enthalten ist».
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wenig zwei gleichwertige Zustände miteinander in Beziehung gesetzt werden: Es besteht ein Gefälle zwischen einem besseren/zu erstrebenden und einem schlechteren/zu vermeidenden Zustand. Formulierungen wie ‘die Achse des Bösen’ oder ‘der verderbte Westen’ und darauf rekurrierende Argumentationen liegen Dichotomien und Konzepte zugrunde, denen die eben genannte Hierarchisierung inhärent ist.²³ Dieser vorerst skizzenhafte Überblick wird im weiteren Verlauf hinsichtlich der für die Pressetexte zentralen Aspekte vertieft. Die im Zusammenhang mit der Textanalyse entstandene Einteilung der Topoi wie auch die der kommunikativen Strategien ist nicht als eine absolute Typologie zu verstehen, sondern als eine anwendungsbezogene Kategorisierung. Der an einem umfassenden typologischen System interessierte Leser sei daher auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen.²⁴
8.1 Der Topos als stützender Sachverhaltszusammenhang in Pressetexten Argumente lassen sich nicht nur in meinungsbetonten Pressetexten finden. Auch ein informationsbetonter Artikel bedarf argumentativer Strukturen, um die Information als plausible Nachricht vermitteln zu können. Als argumentativ wird in diesem Zusammenhang ganz allgemein die auf Vermittlung thematischer Inhalte hin ausgerichtete (Text-)Bewegung verstanden, die auf verschiedene Mechanismen zurückgreift, um ein kohärentes Textganzes zu erzeugen. Dabei zielt diese Darbietung, die unter anderem auf Selektion und Perspektivierung beruht, darauf ab, vom Leser grundsätzlich akzeptiert, bestenfalls als wahr bewertet zu werden. Diesem Aspekt kommt insbesondere dort große Wichtigkeit zu, wo ohne (viele) Worte mitgesagt bzw. mitgemeint wird. Es stellt sich nun die Frage, wo und wie gerade hier dieses Einvernehmen, der Perelman’sche accord, eine Rolle spielt.
23 Cf. in diesem Zusammenhang auch die Textstrategie der Dichotomiebildung (Kap. 6.1.1) und das Thema der Alteritätszuschreibung (Kap. 6.1.4, 7.2.7 und 7.2.8). 24 Als Beispiele im Bereich der Alltagslogik wären der bereits erwähnte Kienpointner (1992) zu nennen, der nach einem Überblick über relevante Typologien eine eigene Typologie vorstellt, oder Eggs (1984), der die Rhetorik des Aristoteles unter anderem unter argumentationsanalytischen Gesichtspunkten betrachtet. Die Beiträge des von Eggs (2002) herausgegebenen Sammelbandes Topoï, discours, arguments verankern allesamt den Topos innerhalb einer Argumentationstheorie.
Der Topos als stützender Sachverhaltszusammenhang in Pressetexten
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Um diesen Prozess besser nachvollziehen zu können, ist die konzeptuelle Trennung der verschiedenen Textebenen hilfreich und sinnvoll: Zu einem integralen, also einem die metatextliche Ebene einbeziehenden Textmodell gehört, wie in Kapitel 5.2 bereits dargestellt wurde, neben der grammatischen und der semantischen Ebene, die zusammen mit der Ebene der Organisation der Äußerung den manifesten Text bilden, die kognitive Ebene. Sie ist, so wurde dort ausgeführt, dem Textkörper als eine Art passiv vorhandene, teilweise unbewusste Makrostruktur zugeordnet und hält Topoi in verschiedenen Abstraktionsstufen, Wertehierarchie(n), kulturelle Kontexte, Wissen um Gattungen und kommunikative Strategien u.Ä. in mehr oder weniger linearisierter Form bereit. Aus diesem Fundus schöpft, wie im weiteren Verlauf zu zeigen sein wird, jeder Text. Weder Textproduktion noch Textrezeption sind losgelöst von dieser Ebene möglich. Das Zusammenspiel der vier Ebenen schließlich erzeugt ja die (Text-)Kohärenz, die den Text zum verständlichen Sinngebilde macht. Wie sehr Menschen auf die Sinnsuche hin ausgerichtet sind, zeigt sich, um diesen Punkt nochmals hervorzuheben, beispielsweise an der Tatsache, dass auch in völlig unzusammenhängenden Sätzen oder Satzgebilden nach Sinn und einem verbindenden Zusammenhang gesucht wird – ob dieser nun vorhanden ist oder nicht, spielt dafür zunächst keine Rolle. Am Extrembeispiel auch dort Sinn zu suchen, wo eigentlich gar keiner zu finden ist,²⁵ lässt sich das Gesetz der Inferenz veranschaulichen (cf. Kap. 7.2). Ohne diesen, bereits mehrfach erwähnten, kognitiven Prozess, bei dem unausgesprochene, aber für das Textverständnis relevante Inhalte und eigenes mitgebrachtes Wissen zu einem gemeinsamen Textinhalt verschmolzen werden, wäre schriftliche wie auch mündliche Kommunikation, eine gelingende Textverarbeitung insgesamt, nicht möglich. Zurück zum Prozess des Mitsagens/Mitmeinens. Wie kann etwas gesagt oder vermittelt werden, ohne dass es wörtlich benannt wird, bzw. wie funktioniert das gemeinhin bekannte Zwischen-den-Zeilen-Schreiben? Eine Untersuchung dieser Fragestellung führt nur dann zum Ziel, wenn der Text in seiner Mehrschichtigkeit betrachtet wird. Mit den Topoi und den im vorausgehenden Kapitel untersuchten Textstrategien wurden bereits zwei wesentliche Faktoren ausgemacht, die auf spezifische Weise zum Zusammenspiel der verschiedenen Textebenen beitragen. Ein Aspekt des Mitsagens und Mitmeinens ist außerdem, dass es sich für dessen Gelingen nicht einmal um bewusste Vorgänge handeln muss – einer der Gründe dafür, dass sich die vorliegende
25 Man unterbreite einer Zuhörer- oder Leserschar ein Konglomerat unzusammenhängender Äußerungen und wird über die ‘sinnvollen Resultate’ erstaunt sein.
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Arbeit nicht als Rekonstruktion der Autorenabsicht versteht. Es sind mehr oder weniger intuitive Mechanismen, die sich hier abspielen. Und nicht immer sind klare typologische oder lexikalische Marker auffindbar, wie z.B. im Fall der drei Punkte (…), Signal an den Rezipienten: Hier wird etwas angedeutet, ohne wirklich ausgeführt zu werden (Kap. 7.2.11). Der Schritt über den (Einzel-)Text hinaus hilft, die nicht ohne Weiteres sichtbaren Vorgänge besser in den Blick zu bekommen: Es geht – beim Schreiben, beim Rezipieren wie auch beim Analysieren – darum, den Bezug zur erwähnten kognitiven Ebene herzustellen und so Wissen zu aktivieren, das dort unter anderem in Form von tradierten, habituellen Argumentationsmustern vorhanden ist. Als Beispiel wäre hier der Verteidigungs-Topos zu nennen: Wenn eine/unsere Gesellschaft bedroht ist, dürfen/müssen Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Eine derartige Verknüpfung gelingt natürlich nur dann, wenn ein gemeinsames (intuitives) Wissen vorhanden und aktivierbar ist. Die nachfolgenden Beispiele zeigen, in welchem Maße implizite Argumentationsstrukturen konstituierend für einen Text sind bzw. sein können. Zur Vorgehensweise: Es werden unter anderem Texte angeführt, die bereits für die Illustration verschiedener kommunikativer Strategien herangezogen wurden und so um eine argumentative Komponente ergänzt.²⁶ In Kapitel 8.3 findet sich schließlich eine (offene) Liste mit den in den Korpustexten am deutlichsten zu Tage getretenen Topoi. Eine Großzahl dieser Argumentationsmuster, die sich an bestimmten Vorstellungen orientieren, kann, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, mit dem Leitsatz Wenn es um Recht und Ordnung geht … überschrieben werden.
8.1.1 Widerspruchs-Topos, Bedrohungs-Topos, Gesetzes-Topos Als erstes Beispiel für die Stützwirkung impliziter Argumentationen dient der der Berichterstattung aus dem Irak entnommene (a-23). Im Zusammenhang mit der kommunikativen Strategie der Dichotomiebildung (Kap. 6.1.1)²⁷ wurde festgehalten, dass die beiden Hauptthesen nicht zu kontrollierende Gewalt und positive Bilanz in ein hierarchisches Oppositionsverhältnis gesetzt werden und im Zuge dessen die positive Bilanz als unwahr oder zumindest beschönigt präsen-
26 In den Kapiteln 5 bis 7 wurde, wo dies angebracht erschien, bereits der ein oder andere Topos erwähnt. 27 Siehe zur betreffenden Berichterstattung auch Abschnitt I.4.2 des Anhangs.
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tiert wird. Warum diese Perspektivierung letztlich ohne weiterführende Argumentation oder Erläuterung plausibel erscheint, lässt sich erklären, wenn die rein textimmanente Sicht verlassen wird. Durch die Überschrift «100 Tote bei Anschlägen – aber Iraks Premier beschwört Erfolge»²⁸ und die Formulierung «im krassen Widerspruch»²⁹ wird ein Topos anzitiert, der die argumentative Dynamik des Textes implizit stützt: Widerspruchs-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Wenn die Aussage eines Politikers/einer Person einem (als wahr, gültig angenommenen/ dargestellten) Sachverhalt widerspricht, dann ist dem Sachverhalt mehr Glauben zu schenken als der Aussage des Politikers/der betreffenden Person.³⁰
Durch das Anzitieren dieses Sachverhaltszusammenhangs wird auf einer kognitiven Ebene vorhandenes Wissen aktiviert und werden Textbausteine dazu in Beziehung gesetzt – die durch die argumentative Dynamik vermittelte Perspektive wird übernommen. Der Vergleich mit (a-22)³¹ zum gleichen Thema zeigt, dass es auf das Zusammenspiel der verschiedenen Textebenen ankommt. Hier sind die beiden Informationsstränge ebenfalls auf hierarchische Weise einander zugeordnet, der Widerspruchs-Topos wird auch hier anzitiert, dessen Wirkung jedoch abgeschwächt: Die Überschrift hebt im Gegensatz zu (a-23) den Gewaltaspekt hervor, ohne ihn kontrastiv mit Al-Malikis Aussage zu verknüpfen.³² Abschwächend auf
28 Der Gedankenstrich hebt den Widerspruch auch visuell hervor. Zu Rolle und Funktion von Satzzeichen cf. Kapitel 7.2.11. 29 (a-23): «Ungeachtet der amerikanisch-irakischen Sicherheitsoffensive sind am Wochenende wieder mehr als 100 Iraker Opfer von Anschlägen geworden. Die anhaltende Gewalt stand im krassen Widerspruch zu der positiven Bilanz, die Ministerpräsident Nuri al-Maliki zog. In Bagdad gebe es ‹keine sicheren Zufluchtsorte für Rechtsbrecher› mehr, sagte der Regierungschef». 30 Es ist möglich, bei der Frage nach der Grundlage des Widerspruchs-Topos die Abstraktionsstufe um einen weiteren Schritt zu erhöhen: Der Widerspruchs-Topos lässt sich auf den hier als kontext- und diskursabstrakt klassifizierten Topos der Existenz rückbeziehen. Letzterer, hier nicht in der ‘wenn-dann’-Konstruktion als Das Reale/Vorhandene ist dem Möglichen/Etwaigen überlegen formuliert, stellt quasi die Form dar, in die der argumentativ zu verwendende Sachverhaltszusammenhang dann gegossen wird. 31 Dieser Artikel ist bis auf Überschrift und einen gestrichenen Satz im Lead-Teil mit der Agenturvorlage (a-260) deckungsgleich (eine Zusammenschau der Texte findet sich im Abschnitt I.4.2 des Anhangs). Im Gegensatz zu (a-23) wird diese Quelle hier allerdings nicht kenntlich gemacht. 32 (a-22): «Schiitische Universität und sunnitische Moschee angegriffen. Blutiges Wochenende mit mehr als 100 Toten im Irak»; (a-23): «100 Tote bei Anschlägen – aber Iraks Premier beschwört Erfolge».
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den Widerspruchs-Topos wirkt die in (a-22) referierte, von der Vorlage übernommene Aussage des US-Kommandanten Mixon, «vor der Sicherheitsinitiative seien offenbar viele Extremisten in die Provinz Dijala ausgewichen», die auf Al-Malikis Aussage zur Lage in Bagdad rückbezogen werden kann. Die Funktion der Topoi kann, wie dieser Vergleich zeigt, unterschiedlich gewichtig für die Gesamtaussage des Textes sein und hängt mit von ihrer Stellung innerhalb der argumentativen Dynamik ab. Des Weiteren ist das Berichten über eine Sache zu unterscheiden vom Argumentieren mit einem Sachverhalt: Ist z.B. von einem Anschlag muslimischer Extremisten die Rede, spielt notwendigerweise der Gewaltaspekt bzw. die Gewalt-Semantik eine Rolle. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Einsatz des Bedrohungs-Topos als argumentative Stütze,³³ was anhand der beiden nachfolgend angeführten Artikel illustriert werden soll: (a-27) erschien in Verbindung mit einem im Februar 2007 in Saudi-Arabien verübten Anschlag auf eine Gruppe französischer Staatsbürger. Er schildert die neuen Entwicklungen und kontextualisiert diese – ohne sich dabei auf den Bedrohungs-Topos zu stützen. «Le bilan de l’attentat en Arabie contre des Français passe à 4 morts Le bilan de l’attentat en Arabie contre des Français passe à 4 morts. Le bilan de l’attentat perpétré lundi contre un groupe de Français dans le nord-ouest de l’Arabie saoudite est passé hier à quatre morts, avec le décès d’un jeune homme de 17 ans des suites de ses blessures dans un hôpital de Médine. Le roi Abdallah d’Arabie saoudite a présenté ses condoléances au président français Jacques Chirac, lui assurant que les auteurs de cet ‹acte terroriste› n’échapperaient pas à la justice, selon l’agence officielle SPA. Perpétré par des inconnus, l’attentat n’avait toujours pas été revendiqué hier en fin d’après-midi. Il a fait resurgir le spectre des sanglants attentats anti-occidentaux des années 2003 et 2004, au plus fort d’une vague d’attaques revendiquées par la branche locale du réseau terroriste Al-Qaïda. Il s’agit du premier attentat meurtrier contre des étrangers en Arabie depuis la mort, le 26 septembre 2004 à Djeddah d’un Français travaillant pour un groupe français d’électronique. Les quatre victimes faisaient partie d’un groupe de neuf Français, membres de trois familles résidant à Ryad, qui faisaient une excursion dans cette région désertique prisée des étrangers, notamment en raison de la présence de Madaen Saleh, un lieu historique situé à mi-chemin entre Médine et, plus au nord, la ville de Tabouk. Les cinq autres membres du groupe, les épouses des trois premières victimes, ainsi que deux enfants, un garçon de 15 ans et sa soeur de 11 ans, sont indemnes. Ces survivants se trouvaient mardi dans un hôtel de Médine avec des diplomates français sous la protection des forces de sécurité saoudiennes.» ((a-27), Kap. II.2)
33 Cf. i.a. das Kapitel 7.2.8.
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Der Korrespondentenbericht (a-26), ebenfalls im Februar 2007 veröffentlicht, thematisiert Forderungen des Muslimischen Rats Großbritanniens (Muslim Council of Britain), eines Verbandes, der verschiedene muslimische Organisationen unter seinem Dach vereint – dass daraus die Interessen ‘der britischen Muslime’ werden, ist ein Beispiel für die in Kapitel 6.1.2 erwähnte kommunikative Strategie der Reduzierung. Dieser Vorgang ist Teil der argumentativen Dynamik des Textes, der sich besonders auf zwei Topoi stützt, den Bedrohungs-Topos und den Gesetzes-Topos³⁴: Bedrohungs-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil aus dem Islam hergeleitete Ansprüche/Haltungen eine Gefahr darstellen, müssen Forderungen mit Argwohn betrachtet, Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Gesetzes-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil ein Gesetz/eine kodifizierte Norm/eine gerichtliche Entscheidung eine bestimmte Handlung vorschreibt/nahelegt/verbietet, sollte/muss dies beachtet werden.
Für die Aktivierung des Bedrohungs-Topos spielt bei (a-26) besonders der in der Online-Ausgabe vorhandene Infokasten eine Rolle. Durch die adverbiale Satzbestimmung «par ailleurs» (cf. Kap. 7.2.4) wird eine scheinbar nebensächliche Information eingeführt: Ein Terrorverdächtiger hatte sich im Schutz einer «robe islamique» geflüchtet. Was genau mit diesem Begriff gemeint ist, bleibt unklar (Ein Kleidungsstück für Frauen oder Männer? Welches Kleidungsstück genau?) – eindeutig hervorgehoben wird hingegen dessen Bedrohungspotenzial. Durch den natürlichen Vorgang der Inferenz im Leseprozess wird diese Schilderung mit dem (von einem Gericht bestätigten) Schulverweis einer muslimischen Schülerin verknüpft, die den Niqāb (Gesichtsschleier) im Unterricht tragen wollte. Zugleich wird diese Entscheidung der Richter bekräftigt bzw. legitimiert. Die suggerierte Verknüpfung der beiden Informationsstränge wird zusätzlich gestützt durch den Bedrohungs-Topos. Dessen Aktivierung führt unter anderem dazu, dass die Forderungen des MCB in eine Gefahren-Semantik eingebettet werden und so der Unterschied zwischen dem Wunsch einer einzelnen Schülerin nach vollständiger Verschleierung («le voile intégral») und der Forderung, britischen Schülerinnen das Tragen des Kopftuchs zu erlauben (hier als «foulard islamique» bezeichnet), nivelliert wird. Die häufig eingesetzten Modalverben (im Text gefettet) verstärken den Eindruck einer (über)großen Anzahl an Forderungen, denen der argumentativen Dynamik des Textes zufolge
34 Die Anregung bzw. Sensibilisierung für die Existenz dieses Topos, dessen Name und Formulierung sprachlich lediglich minimal verändert wurden, stammt aus Wengeler (2003, 309).
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zu Recht die Legitimation abgesprochen wird. Erreicht wird diese Perspektivierung durch den anhand der Verlautbarung des Bildungsministeriums³⁵ anzitierten Gesetzes-Topos, welcher in Verbindung mit dem Bedrohungs-Topos die stützende Grundlage des Artikels bildet. «Les musulmans britanniques veulent que l’école s’adapte à la ‹morale islamique› LONDRES CORRESPONDANT Les jeunes musulmans doivent pouvoir porter [Hervorhebung D.W.]³⁶ la barbe à l’école, les jeunes filles revêtir le foulard islamique pendant tous les cours, y compris ceux d’éducation physique, les étudiants doivent pouvoir être dispensés des leçons d’éducation sexuelle. Telles sont quelques-unes des demandes faites par le Conseil musulman de Grande-Bretagne (MCB), la principale organisation représentative des 1,6 million de musulmans qui vivent dans le royaume. [zusammenfaltbarer Infokasten: Anfang; Anm. D.W.] La Haute Cour contre le port du voile intégral à l’école Un arrêt de la Haute Cour de justice a donné raison, jeudi 22 février, à une école qui avait expulsé une élève musulmane de 12 ans qui exigeait le droit de porter le ‹niqab›, le voile intégral, pendant les cours. Par ailleurs, lors de la comparution devant la justice des accusés des attentats manqués du 21 juillet 2005 à Londres, la vidéo d’une caméra de surveillance a attesté que l’un d’eux s’était enfui, dissimulé dans une robe islamique. [zusammenfaltbarer Infokasten: Ende; Anm. D.W.] Dans un document de 72 pages rendu public le 21 février, le MCB demande au gouvernement de permettre aux 400 000 jeunes musulmans d’exprimer plus librement leurs pratiques religieuses dans les écoles publiques, où 96 % d’entre eux étudient. Les autres fréquentent des écoles privées, ou l’une des cinq écoles d’Etat musulmanes. Le MCB regrette que certaines écoles n’aient pas été ‹réceptives aux revendications légitimes et raisonnables des parents et des enfants musulmans quant à leurs préoccupations dictées par la foi›. Le document du MCB tient à la fois du catalogue de recommandations et du cahier de doléances. Son importance politique découle de l’influence du MCB. Cette organisation, fondée en 1997, chapeaute plus de 400 associations religieuses, culturelles, sociales et professionnelles musulmanes. Elle veut parler [Distanzierung]³⁷ au nom de la principale minorité religieuse du Royaume-Uni. Le gouvernement de Tony Blair a fait du MCB son interlocuteur musulman privilégié, notamment depuis les attentats de Londres en juillet 2005.
35 «Ce document, a-t-il déclaré, ne cadre pas avec ‹le code de conduite› officiel en vigueur dans les écoles publiques, et n’a donc ‹aucun caractère obligatoire›». 36 Um die anvisierten Aspekte schnell zugänglich zu machen, sind die betreffenden Passagen der Presseartikel wie bereits in den Beispielen zu den Textstrategien (Kapitel 6 und 7) durch Fettung markiert. Da es sich hierbei um eine durchgängige Hervorhebung handelt, habe ich darauf verzichtet, dies bei jeder Kennzeichnung zu erwähnen. Sollte eine Hervorhebung im Original vorhanden sein, wird explizit darauf hingewiesen. Bei nicht zu Korpustexten gehörenden Zitaten wird eine von mir vorgenommene Hervorhebung durch ‘[Hervorhebung D.W.]’ gekennzeichnet und ansonsten die Original-Kennzeichnung ohne Kommentierung übernommen. 37 Cf. auch Kapitel 7.2.9.
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Le MCB souhaite que garçons et filles puissent exprimer leur fidélité au concept musulman de haya (‹pudeur›) dans leurs tenues vestimentaires. Les étudiantes doivent pouvoir être coiffées à tout moment du foulard islamique ou revêtir le jilbab, une longue robe qui descend jusqu’aux chevilles. Le MCB ne dit pas un mot du niqab, le voile intégral qui ne laisse apparaître que les yeux. Lors des cours d’éducation physique, le MCB recommande aux élèves de porter un survêtement, et aux jeunes filles de se coiffer du foulard islamique ‹en le nouant d’une manière sûre›. La mixité doit être exclue des sports collectifs impliquant des contacts physiques, comme le football et le basket-ball. Le MCB demande que les élèves puissent se changer dans des cabines individuelles, et non en groupe, et qu’ils soient dispensés de douche après le sport si celle-ci expose leur corps à la vue des autres enfants, car ‹l’islam interdit d’être nu devant les autres ou d’apercevoir la nudité des autres›. Les leçons de natation enseignées aux garçons et aux filles ensemble sont ‹inacceptables pour des raisons de décence, aux yeux des parents musulmans›. ‹PERSPECTIVES MORALES› Si l’école ne peut séparer les sexes, les enfants doivent pouvoir être dispensés de ces cours. Même chose pour les leçons de danse, cette dernière n’étant pas ‹une activité normale pour la plupart des familles musulmanes›. La danse, souligne le MCB, ‹n’est pas compatible avec les exigences de la pudeur islamique, car elle peut revêtir des connotations et adresser des messages sexuels›. L’éducation sexuelle, obligatoire dans le secondaire, doit, selon le MCB, être enseignée aux élèves par des professeurs du même sexe. Le recours à des objets ou à des ‹schémas représentant les organes génitaux› pour illustrer des leçons sur la contraception ou sur les préservatifs est ‹totalement inapproprié, car encourageant un comportement moralement inacceptable›. Les écoles doivent prendre en compte ‹les perspectives morales islamiques›. La publication du manifeste du MCB a suscité une mise au point du ministère de l’éducation. Ce document, a-t-il déclaré, ne cadre pas avec ‹le code de conduite› officiel en vigueur dans les écoles publiques, et n’a donc ‹aucun caractère obligatoire›. Un porte-parole du syndicat des chefs d’établissement a critiqué ‹cette liste de demandes› qui risque de provoquer ‹un retour de manivelle›.» ((a-26), Kap. II.2)
8.1.2 Experten-Topos, Allgemeingültigkeits-Topos, Defizit-Topos, Demokratie-Topos In einer disparaten Welt, die für den Einzelnen kaum zu überblicken ist, erscheint Expertenwissen als Garant für fundiertes Urteilsvermögen und Verlässlichkeit von Informationen. Die Bedeutung von Experten für die Textkonstituierung zeigt sich in verschiedenen Zusammenhängen und ist nicht an einen bestimmten Diskurs gebunden.³⁸ Als ‘Experten’ werden bei der vorliegenden Untersu-
38 Nachfolgend die anhand der Korpustexte erarbeiteten Expertenkategorien mit jeweils einem Beispiel (die ausführliche Darstellung findet sich im Kapitel 7.2.1): Legitimierung als
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chung diejenigen Personen und Organisationen verstanden, denen innerhalb eines Diskurses bzw. der argumentativen Dynamik eines bestimmten Textes (und darauf kommt es an dieser Stelle an) eine Referenzgröße zugebilligt wird (Kap. 7.2.1). Möglich wird die Anerkennung der Expertenrolle einer bestimmten Person/Organisation durch eine im Weltwissen verankerte Annahme, die aufgrund ihrer rekurrenten Struktur als Experten-Topos bezeichnet werden kann: Experten-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Wenn ein Experte dieser Meinung ist, stimmt diese Aussage/Darstellung.
In der Regel wird auf der Grundlage dieser Argumentationsstruktur die Wichtigkeit oder auch die Richtigkeit einer Aussage unterstrichen und die betreffende Person im thematischen Zusammenhang als Rednerin legitimiert. Die Referenz auf eine spezifische Expertenmeinung ermöglicht es, auf eine weitere Diskussion der dargelegten Sicht zu verzichten, oder kann, aufgrund der Existenz von Expertenhierarchien, Gegenpositionen von vorneherein abschwächen. So hat die Meinung eines Mitarbeiters von Human Rights Watch einen anderen Stellenwert als die eines als regierungstreu ausgewiesenen ägyptischen Richters.³⁹ Gekoppelt mit dem als verlässlich erscheinenden Expertenwissen tritt in den untersuchten Texten immer wieder der Allgemeingültigkeits-Topos auf. Dieser beruht auf der Annahme ebenso verlässlicher, da universaler Rechte: Allgemeingültigkeits-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil bestimmte Rechte/Normen allgemein gültig sind, müssen sie (von allen Menschen/ Gesellschaften/Regierungen) geachtet werden.
Auch im mehrfach erwähnten Fall von Mohammed Abdul Karim Suleiman (Pseudonym: Karim Amer)⁴⁰ kommen Allgemeingültigkeits- und Experten-To-
Experte durch Profession und Funktion ((a-105): «forderte der gelernte Fernsehjournalist»); Legitimierung als Experte durch räumliche Nähe und explizite Zuweisung des Expertenstatus ((a189): «de notre envoyé spécial à Abu Dhabi»); Legitimierung als Experte durch Herkunft oder Abstammung ((a-182): «pour le juriste franco-marocain»); Legitimierung als Experte durch Religionszugehörigkeit ((a-46): «Elle vient de créer avec d’autres musulmans d’origine le Conseil central des ex-musulmans (Zde).»); Legitimierung als Experte durch Legitimation des Anliegens ((a-12): «Rawda Ahmed Said, l’avocate de Karim, membre de l’Association arabe des droits de l’homme»); Legitimierung als Experte durch das ‘Label der Wissenschaftlichkeit’ ((a-68): «Monika Wohlrab-Sahr vom Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig»); Aufwertung durch Bezugnahme auf namenlose Experten ((a-25); «c’est l’avis des sondeurs»). 39 Eine Rolle hierfür spielen die Konstituierung von Alterität, die Existenz hierarchisierter Dichotomien sowie Automatismen bei der Anerkennung eines Redners als Experte (i.a. Kap. 6.1.1 und 7.2.1). 40 Siehe Kapitel 6.1.2.1, 7.1.2 sowie 7.2.
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pos vor: Durch die Referenz auf Experten oder Forderungen, die auf die liberté d’expression gründen, aktiviert, bestimmt der Allgemeingültigkeits-Topos die Grundausrichtung der Mehrzahl zu diesem Thema im Korpus befindlichen Artikel. Der Experten-Topos wiederum sichert die argumentative Rolle der Expertenmeinung. Werden Rechte wie z.B. die freie Meinungsäußerung als allgemeingültig betrachtet und diese Rechte ins argumentative Zentrum gerückt, kommt es zur Anerkennung des Expertenstatus und zur Allgemeingültigkeit geäußerter Stellungnahmen: Dies gilt für Amnesty International (häufiger in den deutschsprachigen Artikeln zitiert)⁴¹, Reporters sans frontières (vorrangig in französischen Artikeln erwähnt)⁴², Human Rights Watch⁴³ oder schlicht für als Menschen-⁴⁴ und Bürgerrechtler⁴⁵ bezeichnete Personen. Der Expertenstatus, im ersten Textbeispiel relevant gesetzt, erhöht also das Gewicht einer Aussage. Dies illustriert der nachfolgende Vergleich, bei dem auch die Verbwahl die jeweilige Fokussierung unterstreicht: «‹Le jugement n’a pas été rendu sur la base de la loi. Il s’agit d’un verdict religieux, semblable à ceux de l’Inquisition›, a dénoncé l’avocat, également président de l’ONG ‹Réseau arabe pour les informations sur les droits de l’Homme›.» (a-34) «‹Ce verdict n’a pas été rendu sur des fondements juridiques›, a regretté Gamal Eid, l’un des avocats de Souleïmane. ‹C’est un verdict religieux similaire à ceux de l’Inquisition›, a-t-il ajouté.» (a-35)
Anklänge findet im Rahmen dieser Berichterstattung auch der durch den Allgemeingültigkeits-Topos gestützte Defizit-Topos. Dies kann durch eine Zuspitzung auf die Islamkritik⁴⁶ (und unter Vernachlässigung der Regimekritik) als
41 (a-11): «‹Dieses Urteil ist eine weitere Ohrfeige für die Meinungsfreiheit in Ägypten›, erklärte die stellvertretende ai-Beauftragte für den Nahen Osten und Nordafrika, Hassiba Hadj Sahraoui». 42 (a-19): «Une décision condamnée par Reporters sans frontières». 43 (a-18): «‹Un précédent effrayant›, ajoute Elijah Zarwan, porte-parole de Human Rights Watch (HRW) au Caire, qui craint que le jugement ‹ne ferme des fenêtres cruciales pour la liberté d’expression›». 44 (a-35): «Un internaute égyptien qui avait critiqué sur un site Internet le pouvoir et la grande université islamique Al-Azhar a été condamné jeudi à quatre ans de prison pour insultes envers l’islam et le président Moubarak, malgré les critiques des défenseurs des droits de l’homme». 45 (a-29): «Für Bürgerrechtler sind die Internet-Tagebuchschreiber Hoffnungsträger der Demokratisierung». 46 (a-30): «Islam-Kritik – Blogger muss für Jahre in Haft», durch Fehlen eines Artikels bei der Formulierung «für Jahre» wird die Wirkung der Aussage erhöht.; (a-33): «Wegen islamkriti-
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Verurteilungsgrund geschehen, durch den Verweis auf bestimmte Meinungen⁴⁷ oder durch Relevantsetzungen wie der Strenggläubigkeit des Vaters⁴⁸ des Bloggers: Defizit-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil im Islam/in muslimischen Ländern allgemein gültige Rechte und Normen nicht garantiert werden bzw. damit nicht kompatibel sind, muss Kritik geübt/muss eine Veränderung herbeigeführt werden.
Bei der Verwendung des Defizit-Topos wäre eine weitergehende Untersuchung lohnend, die sich damit befasst, wann dieses Argumentationsmuster im Zusammenhang mit arabischen Ländern (ohne Religionskomponente), wann in Bezug auf muslimisch geprägte Länder (Fokus auf Religionsmerkmalen) verwendet wird. Dabei wäre beispielsweise zu fragen, ob aktuell ein Wissen (bei Produzent und Rezipient) um die Verschiedenheit der Begriffe ‘arabisch’ und ‘muslimisch’ besteht, diese also nicht nur auf der Ausdrucksseite unterscheidbar sind, sondern auch auf konzeptioneller Ebene voneinander getrennt werden.⁴⁹ Eine Klärung dieser Frage ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten.⁵⁰
scher Äußerungen wurde in Ägypten ein 22-Jähriger zu vier Jahren Haft verurteilt.»; Cf. Kapitel 7.2.9 und 7.2.11. 47 (a-12): «L’imam alexandrin Yasser Mitoualli, un ami de la famille présent au tribunal, estime lui que Karim Amer, a été ‹la victime des idées athées que l’on trouve sur l’Internet et de la société civile qui l’a encouragé.›»; (a-29): «So demonstriert das offizielle Ägypten an Nabil, wie es mit der neuen Netz-Öffentlichkeit umzugehen gedenkt und weiß sich dabei im Einklang mit empörten Muslimen auf der ganzen Welt, die Nabil Morddrohungen schickten – per Internet». 48 (a-4): «Sein strenggläubiger Vater verstieß den Sohn öffentlich und forderte, die Gesetze der Sharia anzuwenden.» (Kap. 7.2.2). 49 Freitag (2003) beschäftigt sich mit historischen Zusammenhängen zwischen Arabern und dem Islam und geht anhand einiger ausgewählter arabischer Länder auf die heutige Rolle des Islams ein. Der Hinweis, politische Fragen würden «im Nahen Osten unter Rückgriff auf das Arabertum und den Islam» (Freitag 2003, 31) artikuliert, deutet darauf hin, dass die Koppelung muslimisch – arabisch ein komplexes Untersuchungsobjekt darstellt. So bemerkt Turki (2004, 59) zum Thema ‘Erinnerung und Identität’ im arabisch-islamischen Denken: «Seitdem [seit der Verbreitung des Islams] beruht die arabische Kultur wesentlich auf zwei Säulen: Sprache und Religion. Die Sprache ist sogar eins mit der Religion geworden und gilt als identitätsstiftend und als Referenzsystem der gesamten Kultur». 50 Diesbezügliche Hinweise und Tendenzen finden sich bei Said (2003). Dessen Buch erschien allerdings bereits 1978, und seine Analysen betreffen somit keine aktuellen Texte oder Ereignisse. Mehrere der von Said untersuchten Autoren ziehen keine klare Grenze zwischen ‘Muslim’ und ‘Araber’. Bei der Behandlung dieses Themas muss freilich auch der historische Kontext beachtet werden: Geht es um die frühislamische Zeit, dann stimmt diese Analogie, denn die betreffenden Muslime waren Araber. Problematisch wird es dort, wo es um spätere Pha-
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Im Zusammenhang mit dem Thema ‘Karim Amer’ tritt der DemokratieTopos auf, der – ähnlich dem Allgemeingültigkeits-Topos – tendenziell die Perspektivierung der entsprechenden Texte bzw. die Grundausrichtung ihrer argumentativen Dynamik stützt.⁵¹ Die hier formulierte, nicht genuin mit dem Islam verknüpfte Stützregel wird eher von einer Außensicht – z.B. von Deutschland, Frankreich auf Ägypten – her formuliert, die teleologisch auf einen bestimmten gesellschaftlichen bzw. staatlichen Wunschzustand ausgerichtet ist:
sen geht oder Repräsentationen und Stereotype behandelt werden, die gegebenenfalls noch wirksam sind – hier sind klare Begrifflichkeiten vonnöten. Das Augenmerk Saids liegt, wie die nachfolgenden Ausschnitte andeuten, in diesem Zusammenhang nicht auf den erwähnten Begrifflichkeiten, sondern vorrangig auf den Mechanismen der Generalisierung, der Konzeptualisierung bzw. Typisierung als Orientale, Araber, Muslim. – «Each in a sense obliterated the distinction between the type–the Oriental, the Semite, the Arab, the Orient–and ordinary human reality. […] The scholarly investigator took a type marked ‹Oriental› for the same thing as an individual Oriental he might encounter.» (Said 2003, 230); «This allows ‹us› to say in the first sentence that all political and social life are ‹clothed› in religious dress (Islam can thus be characterized as totalitarian), then to say in the second that religion is only a cover used by the Muslims (in other words, all Muslims are hypocrites essentially). In the third sentence, the claim is made that Islam–even while laying hold upon the Arabs faith–has not really reformed the Arab’s basic pre-Islamic conservatism.» (Said 2003, 236) – Ohne dass dies der Intention des Autors entsprechen muss, veranschaulichen die nachfolgend unterstrichenen Passagen die Gefahr einer synonymen Lesart von ‘Muslims’ und ‘Arabs’: (1) Unter dem Punkt ‘popular images and social science representations (since World War II)’ zeichnet Said verschiedene Repräsentationen und Bilder nach, die mit the Arab (der Begriff ‘the Muslim’ wird dabei nicht erwähnt) verbunden seien, und schließt: «Lurking behind all of these images is the menace of jihad. Consequence: a fear that the Muslims (or Arabs) will take over the world [Hervorhebung D.W.].» (Said 2003, 287); (2) Bernard Lewis will «publish a chapter called ‹The Revolt of Islam› in a book in 1964, then republish much of the same material twelve years later, slightly altered to suit the new place of publication […] and retitled ‹The Return of Islam.› From ‹Revolt› to ‹Return› is of course a change for the worse, a change intended by Lewis to explain to this latest public why it is that Muslims (or Arabs) still will not settle down and accept Israeli hegemony over the Near East. [Hervorhebung D.W.]» (Said 2003, 316); (3) Unter dem Schlagwort ‘Muslims’ finden sich im Index keine Seitenangaben, sondern folgender Verweis: «Muslims: see Arabs, Islam [Hervorhebung D.W.]». Ein analoger Eintrag ist im Index von Said (1997) aufgeführt. 51 (a-31): «Une première victoire qui témoignage [sic] de l’influence grandissante des blogueurs. Au point d’induire un véritable changement dans le pays?»; (a-29): «Genau davon träumen Bürgerrechtler, von denen einige Ägyptens Blogger bereits als Hoffnungsträger einer digitalen Graswurzel-Demokratisierung betrachten. Von einer ‹Erfolgsgeschichte› der ägyptischen Blogosphäre schwärmt ‹The Nation›».
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Demokratie-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil die Demokratie mit den zu ihr gehörenden Rechten (Menschenrechte, Gleichberechtigung, freie Meinungsäußerung) die letztlich erstrebenswerte Herrschaftsform darstellt, sollte sie als Ziel angestrebt werden und andere Staats- oder Regierungsformen ablösen.
8.1.3 Demokratieuntauglichkeits-Topos, Verteidigungs-Topos, Schutz-Topos, Bart-Topos Der durch den Demokratie-Topos gestützte Demokratieuntauglichkeits-Topos konnte bei der Analyse der Artikel zu Karim Amer nicht festgestellt werden: Demokratieuntauglichkeits-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil im Islam bestimmte demokratische Grundwerte/Prinzipien (Gleichheit, Meinungsfreiheit, Frauenrechte) nicht gewährleistet sind, ist der Islam bzw. dessen (öffentliche) Praktizierung mit der Demokratie nicht vereinbar.
Der Demokratieuntauglichkeits-Topos argumentiert im Vergleich zum tendenziell aus der Außensicht formulierten Demokratie-Topos stärker aus einer innersystemischen Perspektive: Die Demokratie gilt hier als erreichtes Gut und Grundlage, mit der der Islam in Beziehung gesetzt wird. Diese innersystemische Perspektive ist bei der Berichterstattung über den Zentralrat der Ex-Muslime gegeben. Die Aktivierung des Demokratieuntauglichkeits-Topos geschieht über konkrete Thematisierung bzw. eine Perspektivierung, die lediglich aus dem Blickwinkel der Ex-Muslime berichtet.⁵² Letzteres ist für die Gesamtwirkung der Texte entscheidend. Denn freilich werden hier Meinungen und Forderun-
52 (a-262): «Die 1952 in Ostanatolien geborene Publizistin rechnet radikal mit dem Islam ab. Die Scharia akzeptiere sie nicht. Diese stehe im Widerspruch zu den Menschenrechten und dem Grundgesetz. Der Islam sei frauenfeindlich. […] Der Islam sei auch männerfeindlich. [Toker] beruft sich auf einen deutschen Philosophen: ‹Nietzsche sagt, Gott ist tot. Es lebt sich gut mit Selbstverantwortung.› Sie will nicht unterscheiden zwischen Islam und Fundamentalismus. ‹Der Islam ist an und für sich radikal.›» Bestätigung dieser Sicht auf den Islam durch den Schlusssatz des Artikels: «Die Veranstaltung in Berlin stand nicht zufällig unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen.»; (a-20): «Der neue Verein attackiert den Islam scharf: ‹Da der Islam in seiner konsequenten Form mit diversen Artikeln des Grundgesetzes kollidiert, kann er nicht den vollen Schutz des Grundgesetzes für sich in Anspruch nehmen›, heißt es in einem Faltblatt. Dort kritisieren frühere Muslime auch das Tragen des Kopftuchs im öffentlichen Dienst.» – Der Islam als Abstraktum (Strategie der Reduzierung) ist eine nur scheinbar homogene Größe, die letztlich gar nicht «scharf attackiert» werden kann. Wenn überhaupt, dann geht es um diejenigen Menschen, die ihren Glauben auf die eine oder andere Art praktizieren, bzw. ihre Auslegung/Haltungen/Einstellungen.
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gen von Menschen referiert, die sich vom Islam abgewandt haben – und sich dementsprechend positionieren. Indem die Ex-Muslime als Verfechter von Menschenrechten allgemein und Frauenrechten im Besonderen dargestellt werden, erhalten sie jedoch einen Expertenstatus, der über sie als Einzelpersonen hinausweist und sie zu einer Kritik des Islams⁵³ berechtigt. Auch das von ihnen hervorgehobene Bedrohungspotenzial des Islams entfaltet auf diese Weise ein größeres argumentatives Gewicht, als dies bei Gegenthesen oder -positionen der Fall ist. Der im Zusammenhang mit den kommunikativen Strategien wie auch einleitend zu diesem Kapitel erwähnte Verteidigungs-Topos sowie der bereits angeführte Bedrohungs-Topos (Kap. 8.1.1)⁵⁴ stellen innerhalb dieser Berichterstattung dominierende argumentative Stützregeln dar. Verteidigungs-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Wenn eine/unsere Gesellschaft oder das friedliche Zusammenleben bedroht ist, müssen/ dürfen Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
Des Weiteren wird das Thema ‘(Nicht-)Integration von Muslimen’ in diesem Zusammenhang mit als solchen dargestellten gesellschaftlichen Desiderata in Verbindung gebracht. Das semantische Gegensatzpaar [deutsch + nicht muslimisch (+ integriert)] vs. [nicht deutsch + muslimisch (+ nicht integriert)] findet sich auch bei der Diskussion um islamische Sendungen in Rundfunk und Fernse-
53 Auffallend häufig werden Abstrakta verwendet, wenn es um das vermeintliche Bedrohungspotenzial des Islams geht. Das gilt für direkte und indirekte Zitate, aber auch für inhaltliche Zusammenfassungen oder Kontextualisierungen: (a-40): «Das ist ein sicheres Indiz, dass es die Ex-Muslime nicht nur auf den Islam, sondern auf Glaubens-Fanatiker insgesamt abgesehen haben». Die Parallelsetzung («nicht nur […], sondern») impliziert folgende Aussage: Die Ex-Muslime haben es «auf Glaubens-Fanatiker insgesamt abgesehen», als Teil dessen wird «der Islam» betrachtet – will heißen: Gläubige Muslime sind Glaubens-Fanatiker.; (a-20): «Der neue Verein attackiert den Islam scharf: ‹Da der Islam in seiner konsequenten Form mit diversen Artikeln des Grundgesetzes kollidiert, kann er nicht den vollen Schutz des Grundgesetzes für sich in Anspruch nehmen›, heißt es in einem Faltblatt.» Abstraktum als Agens, Differenzierung, die zugleich inhaltlich vage bleibt.; (a-41): «Auch ohne das öffentliche Bekenntnis, keine Muslima mehr zu sein, müssten sie und andere islamkritische Menschen Angst vor einigen Organisationen haben. ‹Wenn wir nichts sagen, werden diese Organisationen nur stärker›, sagt Ahadi, die sich seit Jahren für die Rechte islamischer Frauen stark macht.»; Ein Textauszug aus (a-39) als Vergleich für eine mögliche Differenzierung: «‹Wir wehren uns mit aller Entschiedenheit dagegen, dass muslimische Organisationen wie der Islamrat oder der Zentralrat der Muslime den Anspruch erheben, uns und unsere Interessen vertreten zu können›, sagt Ahadi». 54 Siehe oben: (a-40), (a-41).
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hen und ist Indikator für die Dichotomisierung von Eigen- und Fremdgruppe.⁵⁵ Gerade dieser Punkt eignet sich zu einer argumentativen Verknüpfung mit dem Demokratieuntauglichkeits-Topos – eine mangelnde Integrationsfähigkeit von (praktizierenden) Muslimen wird durch eine generelle Inkompatibilität von Islam und Demokratie begründet.⁵⁶ Auch hier handelt es sich größtenteils um
55 (a-2): «Säkulare Menschen, die in Deutschland leben und integriert sind, müssten verteidigt werden.»; (a-42): «SWR plant deutschsprachiges ‹Islamisches Wort›», Relevantsetzung von ‘deutschsprachig’ deutet auf das zugrunde liegende Bedeutungspaar deutsch(sprachig) + nicht muslimisch hin.; (a-42): «Wie der Sender am Donnerstag in Stuttgart mitteilte, hält SWR-Intendant Peter Voß damit ausdrücklich an seiner im Oktober 2006 erklärten Absicht fest, durch religiöse islamische Sendungen im SWR einen Beitrag zur Integration muslimischer Mitbürger in Deutschland zu leisten.» Bedeutungspaar s.o., Doppelung: religiös + islamisch (= Hyponym, Unterbegriff von ‘religiös’) – cf. *durch religiöse katholische Sendungen.; (a-42): «Wer dem Islamismus entgegentreten wolle, müsse gerade deshalb die Zusammenarbeit mit den Vertretern eines demokratischen und toleranten Islam suchen und seinen Beitrag zur Integration und zur Stärkung der aufgeklärten muslimischen Kräfte leisten.»; (a-76): «Derzeit registriert er in Bingen ein gestiegenes Interesse an nicht-deutschen und vor allem an muslimischen Nachbarn.» – Zur Thematik der ‘Zuspitzung von Identitäten’ – wir (die Deutschen) vs. ihr (die Muslime)/ihr (mit Migrationshintergrund): faz.net (12.03.2009); Kermani (2009); Planet Interview (02.02.2009). Cf. außerdem die Studie Muslimisches Leben in Deutschland: «Mit der Studie ‹Muslimisches Leben in Deutschland› des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge liegt die erste bundesweit repräsentative Datenbasis vor. Anlässlich der vierten Plenarsitzung der Deutschen Islam Konferenz wurde sie am 25.06.2009 in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt.» Die von der Deutschen Islam Konferenz in Auftrag gegebene Studie zeichnet ein differenziertes Bild der in Deutschland lebenden Muslime. Die Ergebnisse können eingesehen werden und stehen, wie auch die Studie, auf der Homepage der Deutschen Islam Konferenz zum Download bereit (http://www.deutsche-islam-konferenz.de). – Eine vergleichbare Studie von offizieller Seite wurde in Frankreich nicht erstellt. So lautete die Antwort seitens des Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE) auf eine diesbezügliche Anfrage: «Nous ne disposons pas d’information sur une religion en particulier, les informations dont nous disposons concerne la pratique d’une religion au sens large.» (Service INSEE Contact 19.10.2009, in einer E-Mail an die Verfasserin). Die Zusammenfassung der eher allgemeinen Erhebung L’état de la pratique religieuse en France aus dem Jahr 1998 ist auf der Internetseite von INSEE zum Download bereitgestellt: «La pratique régulière d’une religion se renforce avec l’âge, est plus fréquente chez les femmes et les étrangers, mais ne dépend pas de la position sociale. Sa progression par rapport à 1987 n’est sensible que chez les personnes âgées. La part des personnes ne déclarant ni pratique religieuse ni sentiment d’appartenance a également augmenté, surtout chez les plus jeunes.» (http://www.insee.fr/fr/themes/document.asp?reg_id= 0&ref_id=ip570, abgerufen am 12.08.2010) Es wäre sicherlich interessant, einen Vergleich dieser Ergebnisse mit der aktuellen Situation zu ziehen. 56 (a-2): «Säkulare Menschen, die in Deutschland leben und integriert sind, müssten verteidigt werden. ‹Wir wollen unserer Gesellschaft zu einem besseren Zusammenleben verhelfen. Ich hoffe auf mehr Frieden.›» Der Umkehrschluss dieser Aussage lautet: nicht säkulare Menschen, die nicht integriert sind, stellen eine Bedrohung dar.; So explizit wie in (a-38), einem
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referierte Aussagen, deren jeweilige Einbindung in die argumentative Dynamik eine tragende Rolle für die relevant gesetzten Informationen spielt. So war bei der Lektüre einiger Texte auffallend, dass, obwohl neben den Positionen der Ex-Muslime anderen Sichtweisen ebenfalls eine Stimme gegeben⁵⁷ und auch Differenzierungsstrategien⁵⁸ angewandt wurden, diese keine vergleichbare Verankerung innerhalb der argumentativen Dynamik erreichten. Als Ursachen für die abgeschwächte Wirkung gewisser Thesen/Textpassagen kommen in Betracht: – eine (bewertende) Kontextualisierung und die grundsätzliche Ausrichtung der argumentativen Dynamik – die Relevantsetzung von Informationen (Expertenstatus, Adjektiva etc.) – die Gewichtung von Inhalten (Länge, Ausführlichkeit, Stellung im Text) – die Dominanz der Argumentationsmuster Bedrohung [durch den Islam],⁵⁹ Verteidigung [der Gesellschaft vor Gefahr] sowie der Schutz [von Frauen]⁶⁰ – der Demokratieuntauglichkeits-Topos als implizite oder explizite conclusio, welche sich u.a. aus dem Zusammenspiel verschiedener Punkte ergeben kann.
Zitat, das einem Porträt der Rubrik ‘Panorama’ entnommen ist, wird der Demokratieuntauglichkeits-Topos selten anzitiert: «Sie polemisiert, und sie tut dies, weil der Islam aus ihrer Erfahrung nicht demokratiefähig ist». 57 (a-2): «Dessen Vorsitzender Ayyub Axel Köhler sagte der ‹taz›, er könne die Motivation des Vereins ‹einfach nicht verstehen›. Aber ‹in diesem Land kann sich jeder organisieren, das Recht dazu haben sie natürlich›.»; (a-184): «Die Islam-Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Lale Akgün, kritisierte die Neugründung. Wenn die Ex-Muslime behaupteten, der Islam sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, sei das unzulässige Verallgemeinerung und heize ‹Islamophobie› an.» – Im Vergleich zu (a-184) verzichtet der folgende Artikel auf das – in Anführungszeichen gesetzte und somit distanzierend markierte – Reizwort ‘Islamophobie’. Dies verleiht der Aussage mehr Gewicht, da nicht im gleichen Maße Emotionen (z.B. Abwehrreaktionen aufgrund dieser Etikettierung) hervorgerufen werden: (a-266): «Die scharfen Töne ärgern die Islambeauftragte der SPD, Lale Akgün. ‹Es stimmt nicht, dass der Islam nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das ist eine unzulässige Verallgemeinerung›». 58 (a-267): «‹Ich kenne den politischen Islam›, so Ahadi. ‹Wenn wir uns nicht wehren, werden wir hier eines Tages noch selbst gesteinigt.›» Schutz-Topos, Bedrohungs-Topos und Verteidigungs-Topos werden evoziert. Diese wiegen argumentativ stärker als die differenzierende Bezeichnung «den politischen Islam», dem kein positives Pendant gegenübergestellt wird. – Cf. hierzu (a-39), in dem der Islam nicht näher spezifiziert wird: «‹Ich kenne den Islam, und für mich bedeutet er Tod und Schmerz›, sagt Ahadi». 59 (a-41): «Mina Ahadi lässt sich durch die Drohungen nicht beirren. ‹Ich habe gewusst, dass so etwas kommen wird. Genau deswegen habe ich diesen Schritt gewagt.› Auch ohne das öffentliche Bekenntnis, keine Muslima mehr zu sein, müssten sie und andere islamkritische Menschen Angst vor einigen Organisationen haben. ‹Wenn wir nichts sagen, werden diese Organisationen nur stärker›, sagt Ahadi, die sich seit Jahren für die Rechte islamischer Frauen stark macht». 60 Der Schutz-Topos folgt im Anschluss.
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Die eben aufgeführten Merkmale sind nicht an die Berichterstattung über den Zentralrat der Ex-Muslime gebunden. Bei anderen Themen sind dieselben Mechanismen zu beobachten. Lediglich die stützenden Topoi sind dann anders gelagert. Für die Wirkung von Aussagen und Thesen sind also ihre Rolle und Funktion im Textganzen und besonders die Tiefe ihrer argumentativen Verankerung wesentlich. So ist z.B. die einer Aussage oder Argumentation zugewiesene Textlänge nicht per se für ihr argumentatives Gewicht entscheidend. Das kurze Anzitieren eines Topos kann völlig ausreichen, um die Grundausrichtung der argumentativen Dynamik festzulegen – welche dann wiederum Gegenthesen von vorneherein abschwächt.⁶¹ Zu einem solch tragfähigen Argumentationsmuster gehört beispielsweise auch der innerhalb der Berichterstattung über den Zentralrat der Ex-Muslime aufscheinende Schutz-Topos. Er speist sich aus einer Haltung, die mit Den Schwachen und Unterdrückten muss geholfen werden umschrieben werden könnte und mit Allgemeingültigkeits- und DefizitTopos (Kap. 8.1.2) gekoppelt ist. Bereits im Zusammenhang mit der Illustration der kommunikativen Strategien wurde mehrfach auf dieses Argumentationsmuster verwiesen,⁶² das nahezu automatisiert durch das Erwähnen des Kopf-
61 Dies gilt per definitionem beim Widerspruchs-Topos (Kap. 8.1.1): In Kapitel 7.1.1 wurde bereits auf die Berichterstattung über eine Europa-Reise von Mahmud Abbas Bezug genommen. In (a-222) kollidieren leitmotivisch zwei gegenläufige Informationsstränge – die wiedergegebenen Aussagen des Politikers Mahmud Abbas und die Darstellung bzw. Kontextualisierung durch den Textproduzenten – und hinterlassen so Zweifel an Aussagen und Integrität von Abbas. Eine überarbeitete Version des Artikels (a-222), (a-268), die etwa eine Stunde später online gestellt wird, bringt mehrere Veränderungen, durch die Mahmud Abbas insgesamt integrer erscheint. Dazu gehört beispielsweise eine zuvor nicht vorhandene Stellungnahme von Philippe Douste-Blazy, seinerzeit französischer Außenminister, welche die Aussagen von Abbas legitimiert. – (a-222): «Le président palestinien, qui a également rencontré le chef de la diplomatie Philippe Douste-Blazy, bouclait à Paris une tournée européenne qui l’aura mené à Londres, Berlin et Bruxelles, destinée à présenter à ses partenaires européens l’accord signé avec le Mouvement de la résistance islamique, prélude à la constitution d’un gouvernement d’union nationale.»; (a-268): «Le président palestinien a également rencontré le chef de la diplomatie Philippe Douste-Blazy. ‹J’ai encouragé Mr Abbas à persévérer dans ses efforts pour former rapidement le gouvernement. Si ce gouvernement est formé sur la base des accords de la Mecque, j’ai dit au président palestinien› que ‹la France sera disposée à coopérer avec lui. Et notre pays plaidera en ce sens au sein de l’Union Européenne et auprès des autres partenaires de la communauté internationale›, a déclaré M. Douste-Blazy. M. Abbas a déclaré avoir constaté une position française ‹claire, positive›». 62 In (a-202) wird der Schutz-Topos in negativo, d.h. durch die Ablehnung der beiden Musliminnen thematisiert: «Quelques rangs plus loin, Karima et Rafika, deux mères de famille d’origine algérienne et marcocaine [sic], le visage encadré du voile islamique, entament une discussion passionnée en attendant le discours de M. Sarkozy. […] ‹J’aurais bien voté pour elle
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tuchs einer (muslimischen) Frau abgerufen werden kann. Der Schutz-Topos ist eine spezifische Ausprägung des Entwicklungs-Topos (cf. Kap. 8.1.4). Diese Verbindung wurde bereits anhand des in Kapitel 7.2.7 besprochenen Textes (a-200) deutlich: Trägt eine Frau Kopftuch, so könnte die zugespitzte Formulierung lauten, wird sie unterdrückt, umgekehrt scheint das offen getragene Haar gleichbedeutend mit Modernität, Aufgeschlossenheit und Bildung. (Gesellschaftliche) Entwicklung scheint hier ausschließlich von Frauen ohne Kopftuch auszugehen.⁶³ Schutz-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil Frauen im Islam unterdrückt werden, sind sie zu bedauern/müssen sie geschützt werden/müssen sie befähigt werden, sich zu emanzipieren.
Zu der Markierung von Fremdheit (Kap. 7.2.7) gehört neben dem Kopftuch auch der Bart als fokussiertes und Topos evozierendes Signalwort. Durch ihn wird, wie sich anhand der Beispiele zeigen ließ, die Bedrohung der entsprechenden Person unterstrichen.⁶⁴ Dem zugrunde liegt unter anderem die Annahme, dass der Bart ein distinktives Merkmal sei, an dem sich religiöse Prägung oder Weltanschauung ablesen lässt. In diese Richtung deuten Ergebnisse einer nicht
[Ségolène Royale], mais le problème, c’est qu’elle fait des amalgames›, lui rétorque son amie. ‹Je l’ai entendue parler des ‘femmes battues, violées et voilées’›, dit-elle, faisant réfléchir Karima, qui, du coup, ne sait plus très bien ce qu’elle fera le 22 avril.» (Cf. die Analyse des Artikels in Kap. 7.2.7.); (a-39): «Die Ziele dieser Verbände seien frauen- und menschenfeindlich. Ein Ausdruck dieser Haltung sei, dass Frauen auch in Deutschland das Kopftuch vorgeschrieben werden soll.»; (a-46): «‹Le conseil central des ‹ex› se dresse contre les atteintes aux droits de l’homme en Islam, l’oppression des femmes et les crimes d’honneur.›» Weitere Beispiele: Kapitel 7.2.1, 7.2.7, 7.2.8. 63 (a-200): «Die Muslimbrüder, aber auch einige Mitglieder der Regierungspartei NDP, deren Ehefrauen und Töchter Kopftuch tragen, fordern seinen Rücktritt. […] Die Autorin, die selbst unverschleiert ist ‹und es auch immer bleiben wird›, versucht, in ihrem 2002 veröffentlichten Buch zu beweisen, dass die Frau gemäß dem Koran kein Kopftuch tragen muss. […] Genau wie Husni ist auch Barakat der Meinung, ‹dass der wahre Schleier einer Frau ihre innere Einstellung und daher unsichtbar ist›. Auch die einzige Frau am ägyptischen Verfassungsgericht, Richterin Tahani al-Gebali, teilt diese Auffassung. Beide Frauen gehören zur gleichen Generation wie die ebenfalls unverschleierte Präsidentengattin Suzanne Mubarak, die bei ihrer Bildungs-Initiative ‹Lesen für Alle› seit Jahren mit Kulturminister Husni zusammenarbeitet». 64 (a-193): «Der neue Albtraum am Hindukusch heißt Mullah Dadullah, trägt tiefschwarzen Bart, stets eine Militärjacke und ist medial omnipräsent.»; (a-98): «COIFFÉS de leur calotte blanche, les quatre jeunes barbus – trois Allemands et un Turc – étaient animés par la même ambition morbide: faire au moins autant de victimes que lors des attentats de Madrid et de Londres.» Weitere Beispiele: Kapitel 7.2.7.
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repräsentativen Umfrage (524 Personen⁶⁵) von Wietig (2005), Teil ihrer Dissertation, in der sie den Bart aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive näher betrachtet. Für die Rückschlüsse auf die Gesinnung des Bartträgers ist auch die Art des Bartes entscheidend.⁶⁶ Das dieser automatischen Verknüpfung zugrunde liegende Argumentationsmuster kann wie folgt umschrieben werden: Bart-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Wenn (muslimische)⁶⁷ Männer einen (langen/einen Voll-)Bart tragen, sind sie gefährlich/ neigen sie zur Radikalität/sind sie Terroristen.
65 Die befragten Personen sind zu 55,9 % Christen, 36,6 % ohne Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft sowie 6,9 % Muslime und Angehörige einer anderen Religionsgemeinschaft (Wietig 2005, 44). 66 «Die Fragestellung, ob die Form eines Bartes Auskunft über die Weltanschauung seines Trägers gebe, beantworten 60 % der 60jährigen und älteren Nichtbartträger mit ja, sowie 25 % der 30-44jährigen Nichtbartträger und 21 % der 16-29jährigen Nichtbartträger. Die 45-59jährigen Nichtbartträger lehnen diese total ab. 25 % der 60jährigen und älteren Bartträger bejahen diese, ebenso 18 % der 16-29jährigen Bartträger sowie 17 % der 45-59jährigen Bartträger und 15 % der 30-44jährigen Bartträger.» (Wietig 2005, 61) Hervorzuheben ist die kleine Veränderung, die bei der Frage nach dem Zusammenhang von Bart und Religion zu beobachten ist: Hier geht es um einen langen Bart (cf. die Beispiele aus Kapitel 7.2.7). Es ist anzunehmen, dass dieser Unterschied wesentlich dazu beiträgt, dass, im Vergleich zur vorherigen Frage, ein höherer Prozentsatz der Befragten mit ja antwortet: «Die Fragestellung, ob lange Bärte die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ausdrückten, wird von 53 % der 60jährigen und älteren Nichtbartträger bejaht, ebenso von 46 % der 30-44jährigen Nichtbartträger und 43 % der 16-29jährigen Nichtbartträger. Jeder vierte der 45-59jährigen Nichtbartträger bestätigt diese. 39 % der 16-29jährigen Bartträger stimmen dieser Frage zu, ebenso 35 % der 30-44jährigen Bartträger, auch 17 % der 60jährigen und älteren Bartträger, sowie 11 % der 45-59jährigen Bartträger.» (Wietig 2005, 62, http://www2.sub.uni-hamburg.de/opus/volltexte/2005/2590, abgerufen am 14.01.2011). 67 Das Wort ‘muslimisch’ wurde bewusst in Klammern gesetzt, um darauf hinzuweisen, dass hier sehr wahrscheinlich keine saubere Trennung der Begrifflichkeiten vorliegt: Wenn ein Mann Vollbart trägt, dann ist er ein Terrorist, könnte so oder so ähnlich intuitiv assoziiert werden. (Inwieweit ‘Terrorist’ und ‘Muslim’ in diesem Zusammenhang synonym gedacht bzw. verwendet werden, müsste dann überprüft werden.) Des Weiteren ist anzunehmen, dass dieses Argumentationsmuster nicht zwingend vor nicht muslimischen Bartträgern mit einem entsprechenden Äußeren Halt macht. Es stellt sich des Weiteren die Frage, ob bzw. in welchem Maße dieses visuell kodierte Argumentationsmuster (cf. das Merkmal der ‘Symbolizität’ nach Bornscheuer (1976, 103), siehe auch die Einführung zu diesem Kapitel) sich in ablehnenden Reaktionen im Alltag niederschlägt oder sich auf von Zoll- und Polizeibeamten durchgeführte Personenkontrollen auswirkt. – Cf. außerdem die Assoziationsketten der in Kapitel 7.2.8.1 bereits erwähnten Studie Diskriminierung im Alltag – Wahrnehmung von Diskriminierung und Antidiskriminierungspolitik in unserer Gesellschaft der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Juli 2008).
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8.1.4 Deviations-Topos, Jugend-Topos, Gutmenschen-Topos, EntwicklungsTopos, Aufklärungs-Topos Die Wichtigkeit der Perspektivierung für einen Text wurde bereits hervorgehoben. Nachfolgend wird des Weiteren deutlich, dass die argumentative Grundausrichtung eines Textes nur im Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen sichtbar wird bzw. das Herausgreifen einzelner Textelemente nicht ausreicht, um die Argumentationsbasis erfassbar zu machen. In dem am 1. März 2007 veröffentlichten Artikel (a-37) setzt die Perspektivierung, ähnlich einer filmischen Nahaufnahme, Emotion und Argumentation der «beiden führenden Protagonistinnen des ‹Zentralrats der Ex-Muslime›» Mina Ahdi und Arzu Toker in Szene.⁶⁸ Die beiden Frauen werden durch ihre Erfahrungen und Biografien als Expertinnen auf dem Gebiet der Islamkritik ausgewiesen, ihre Forderungen werden dadurch legitimiert. Die zunächst als Differenzierung einzuordnende Formulierung «politischen Islam» verliert an Gehalt, da kein Pendant, kein ‘anderer Islam’ erwähnt wird und sofort die vehemente Ablehnung des Zentralrats der Muslime als Sprachrohr für die Muslime in Deutschland folgt. Dadurch kommt es zu einer impliziten Verknüpfung, infolge derer der Zentralrat der Muslime in die Nähe des «politischen Islam[s]» gerückt wird. Der Bedrohungs- und der Verteidigungs-Topos sorgen für diese Verknüpfung und die entsprechende argumentative Stützung. Die differenzierende Information, dass auf der Islamkonferenz ebenso viele säkulare wie religiöse Muslime vertreten seien, wird relativiert, indem nur der Begriff ‘Säkulare’ in Anführungszeichen gesetzt und damit in Zweifel gezogen wird [Strategie der Distanzierung]. Die Aussage von Lale Akgün wirkt in der verkürzten Form als reflexhafter Gegenvorwurf. Dieser Eindruck wird besonders durch die in der Fußnote 71 veranschaulichte Inferenzleistung getragen. «Harsche Kritik vom ‹Zentralrat der Ex-Muslime› 1. März 2007, 00:00 Uhr Berlin – Mit reichlich Wut im Bauch präsentierten sich gestern die beiden führenden Protagonistinnen des ‹Zentralrats der Ex-Muslime›, die Deutsch-Iranerin Mina Ahadi und die Deutsch-Türkin⁶⁹ Arzu Toker in der Bundespressekonferenz erstmalig der
68 Die emotionale Einfärbung des Textes gestattet eine zweite, geradezu gegensätzliche Lesart: Die erste ist die Perspektivierung der Legitimierung. Die zweite Lesart ist die Lesart der Emotionalisierung: Die dargestellten Emotionen wirken diskreditierend, die Kampagne infolgedessen als überzogen, zu wenig rational. 69 Cf. Kapitel 7.2.8.1.
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Öffentlichkeit. Wer es bis dahin nicht wusste, konnte hier erleben: Dieser ‹Zentralrat› ist keine Witzveranstaltung. Das Unternehmen kommt mit dem ganzen Ernst eines biografischen Risikos daher: Ahadi hatte sich als Medizinstudentin im Iran der Mullahs [Reduzierung] geweigert, das Kopftuch zu tragen – daraufhin war ihr Mann an ihrer Stelle verhaftet und hingerichtet worden, weil sie zufällig nicht in der Wohnung war. ‹Ich kenne den politischen Islam [Differenzierung]›, so Ahadi. ‹Wenn wir uns nicht wehren, werden wir hier eines Tages noch selbst gesteinigt.› [Bedrohungs-Topos; Verteidigungs-Topos] Toker stammt aus Anatolien und war Näherin in der Türkei, hatte viele Freunde im Militärputsch verloren und war 1974 emigriert. Es macht die beiden rasend, dass ein Zentralrat der Muslime in Deutschland in ihrem Namen mit dem Bundesinnenminister spricht. ‹Für wen sprechen die? Sie sind erledigt, ab heute!› Dass ebenso viele ‹Säkulare› an der Islam-Konferenz [durch Distanzierung relativierte Differenzierung] teilnahmen, kann sie nicht besänftigen. Demnächst wollen sie ‹eine kritische Islam-Konferenz›. Ein Mitarbeiter Wolfgang Schäubles verfolgte die Pressekonferenz mit leicht angestrengtem Lächeln. Arzu Toker fordert, in Anspielung auf die Debatte um das ‹Wort zum Freitag›, ein ‹Wort zum Montag›: ‹Da werde ich Friedrich Nietzsche vorlesen: Gott ist tot, und Eigenverantwortung ist eine feine Sache.› [Inferenzleistung⁷⁰] Tatsächlich [direkte Anknüpfung führt zur Objektivierung der obigen Aussagen] war ein zentrales Problem der ‹Islam-Konferenz› nicht nur, wer in Deutschland autorisiert ist, für die 3,5 Millionen Muslime zu sprechen, sondern auch, wer überhaupt als Muslim zu gelten hat. Auch die Grünen bekamen ihr Fett weg [Reduzierung]: ‹Volker Beck engagiert sich stets für die Muslime – warum stört ihn das Verbot der Homosexualität nicht?› Der Zentralrat, der von der Giordano-Bruno-Stiftung unterstützt wird, machte mit der Kampagne ‹Wir haben abgeschworen!› auf sich aufmerksam, die der Abtreibungskampagne des ‹Sterns› von 1971 bewusst nachempfunden ist. Lale Akgün (SPD) befürchtet, so werde ‹die Islamophobie geschürt›. [direkte Anknüpfung führt notwendigerweise zu Inferenzen⁷¹, fehlende Kontextualisierung, Verkürzung]» ((a-37), Kap. II.2)
Die argumentative Dynamik von (a-46), bereits im Zusammenhang mit der Legitimierung als Experte durch Religionszugehörigkeit betrachtet (cf. Kap. 7.2.1), wird durch den Rückgriff auf die anzitierten Topoi getragen [Hervorhebungen im Text]. Im Fall des zweimal suggerierten Defizit-Topos wird deutlich, dass sowohl die Bejahung (Zitat Mina Ahadi) als auch die Verneinung (Lale Akgün)
70 Anders formuliert: «Wer an Gott glaubt, übernimmt keine Eigenverantwortung.» Hier wird eine Person zitiert, die sich dagegen entschieden hat, zu glauben. Diese Aussage entfaltet innerhalb der argumentativen Dynamik aber noch eine weitere Komponente: Durch die vorherige, auch biografische Kontextualisierung zielt sie (primär) auf gläubige Muslime. 71 Die Abtreibungskampagne des Stern hatte durch Tabubruch ein Thema in die gesellschaftliche Diskussion gebracht. Die unverbunden angefügte Aussage Akgüns wird durch Inferenzleistung automatisch mit der vorangehenden Aussage in Verbindung gebracht. Da sie stark verkürzt wiedergegeben wird, wirkt die Warnung, «so werde ‹die Islamophobie geschürt›», überzogen und verliert in der Darstellung insgesamt an argumentativem Gewicht.
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einer Argumentationsstruktur auf deren Vorhandensein im Diskurs hinweist. Im nachfolgend wiedergegebenen Artikel wird des Weiteren eine bisher noch nicht erwähnte Stützregel aktiviert: der Deviations-Topos.⁷² Dieser Topos ist innerhalb des Korpus beispielsweise im Zusammenhang mit Berichten über eine Demonstration irakischer Schiiten feststellbar, welche ‘wider Erwarten’ ruhig verlaufen war:⁷³ Deviations-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil Muslime bestimmte religiös (oder ethnisch-kulturell) geprägte Eigen schaften und Mentalitäten haben, reagieren sie in bestimmten Situationen auf eine zu kritisierende (oder begrüßenswerte) Weise.
Mina Ahadi erhält durch eine biografische Kontextualisierung auch hier den Status der Expertin. Die Aussage von Lale Akgün, die durch Relevantsetzung («turque d’origine et responsable du SPD pour l’intégration») ebenfalls als solche gekennzeichnet wird, ist weniger verkürzt dargestellt als im vorangehenden Beispiel (a-37). Ihre Aussage wird durch eine Distanzierungsstrategie («juge quant à elle que») jedoch klarer auf sie als Einzelperson bezogen, als dies bei den Aussagen Ahadis der Fall ist («Mina Ahadi mettait même en garde»; «Mais assure-t-elle ‹cela ne sera jamais pire›»). «Ces⁷⁴ musulmans qui abjurent leur foi Mina Ahadi, Iranienne, réfugiée à Cologne depuis 1990, n’a pas peur. Elle vient de créer avec d’autres musulmans d’origine le Conseil central des ex-musulmans (Zde). ‹Nous avons abjuré!›: le slogan s’étale en travers de l’affiche qui réunit leur visage, et orne leur site web (http://www.ex-muslime.de). Le Zde se veut ‹une troisième force›, face aux organisations musulmanes traditionnelles. ‹Une troisième force qui se refuse à ériger une île et une société parallèle pour les musulmans en Allemagne, comme le veulent de fait les organisations traditionnelles [Intergationsdebatte]. Le conseil central des ‹ex› se dresse contre les atteintes aux droits de l’homme en Islam [Defizit-Topos], l’oppression des femmes et les crimes d’honneur [Schutz-Topos].›
72 Die Sensibilisierung für dieses Argumentationsmuster verdanke ich dem in Wengeler (2003, 312) erwähnten Kultur-Topos, der im Migrationsdiskurs (1960–1985) festgestellt worden war. 73 (a-47): «Des Irakiens ont manifesté samedi dans le calme dans de nombreuses localités chiites pour dénoncer la détention pendant plusieurs heures la veille du fils d’Abdoul Aziz Hakim, l’un des chefs de file les plus puissants de la communauté chiite irakienne. […] Aucun débordement de violence n’a en revanche été signalé en marge des manifestations de soutien à Ammar Hakim, le fils du chef de file du Conseil suprême pour la révolution islamique en Irak (CSRII)». 74 Zum Einsatz von Demonstrativpronomina cf. Kapitel 7.2.5.
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Mina Ahadi mettait même en garde récemment les autorités contre les comportements ‹conformes à la charia›, qui commenceraient à s’instaurer en Allemagne même [Bedrohungs-Topos]. Rien d’étonnant donc si elle reçoit des tas de lettres de menaces [Deviations-Topos]. Mais assure-t-elle ‹cela ne sera jamais pire que ce que j’ai connu en Iran, lorsque je me suis engagée politiquement.› Mina Ahadi, née en 1956 près de Téhéran, est membre du Parti communiste des travailleurs iranien. ‹Critiquer l’islam, c’est briser un tabou, mais qui se défile se rend coupable à l’égard des générations à venir›. Le Zde connaît aujourd’hui un sacré succès médiatique. Mais Lale Akgün, turque d’origine et responsable du SPD pour l’intégration, juge quant à elle que les affirmations du Zde selon lequel l’islam est ‹incompatible avec les droits de l’homme› [Defizit-Topos] est spécieuse et ‹ne fait que renforcer l’islamophobie.›» ((a-46), Kap. II.2)
Eine bereits im Zusammenhang mit der Polyvalenz des Jugendbegriffs (Kap. 7.2.2) erwähnte Stützregel und diskursabstrakte Variante des soeben erwähnten Deviations-Topos ist der Jugend-Topos: Jugend-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil Jugendliche bestimmte Eigenschaften und Verhaltensmuster haben, reagieren sie (in bestimmten Situationen) auf eine für sie spezifische Weise.
In Kapitel 7.2.2 wurde gezeigt, dass der Verweis auf das jugendliche Alter häufig über eine rein deskriptive Funktion hinausgeht. Auf der Grundlage des Jugend-Topos dient das Alter der betreffenden Konvertiten, Attentäter und Terroristen, Justiz- oder Mordopfer als Erklärung für übereilte oder unreife Entscheidungen⁷⁵, wird zum Rechtfertigungsgrund für mildernde Umstände,⁷⁶ setzt die Härte einer Strafe⁷⁷ oder die Brutalität einer Tat⁷⁸ relevant. Mithilfe des
75 (a-68): «Eigentlich dachte die junge Frau immer, der Buddhismus würde sie am ehesten ansprechen. […] Die junge Frau, die einen figurbetonten Pulli trägt, sagt, sie befinde sich in vielen Dingen noch auf dem Weg». 76 (a-4): «Hier ging es nicht mehr um ein paar Äußerungen eines wütenden jungen Mannes, hier sollte ein Exempel statuiert werden im Kampf um das Recht auf Meinungsfreiheit. Die ungeliebten, aufmüpfigen Blogger sollen eingeschüchtert werden». 77 (a-205): «Der Vater hatte sein Urteil bereits gefällt. Er sagte sich öffentlich von seinem 22-jährigen Sohn Abdel Karim Nabil Soleiman los und forderte eine Bestrafung nach islamischem Scharia-Recht: Zeigt der junge Mann nach drei Tagen keine Reue, soll er getötet werden. Dagegen wirkt die Strafe des ägyptischen Staates gegen den Blogger Abdel Karim fast gnädig: Wegen ‹Beleidigung des Islam› und ‹Kritik am Präsidenten› ist der junge Mann am Donnerstag in Alexandrien zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden». 78 (a-113): «A PARTIR D’AUJOURD’HUI, la cour d’assises des mineurs des Bouches-du-Rhône juge à huis clos, à Aix-en-Provence, les assassins présumés de Ghofrane Haddaoui, une jeune
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jugendlichen Alters werden des Weiteren der Verführungscharakter⁷⁹ und das Bedrohungspotenzial des Islams ⁸⁰ unterstrichen. Artikel (a-43) beschäftigt sich mit der bereits erwähnten deutschen Debatte um das Für und Wider von islamischen Sendungen in Rundfunk und Fernsehen. Er zeigt, dass die französische Korrespondentin den in der Diskussion vorhandenen Bedrohungs-Topos⁸¹ erkannt hat. Er wird mit Informationen hinsichtlich des Worts zum Sonntag in Beziehung gesetzt und als Mechanismus auf diese Weise ersichtlich bzw. hinterfragt. Es fällt des Weiteren eine Perspektivierung auf, die in den deutschen Korpustexten zum Thema so nicht auftritt: «La chaîne ZDF doit désormais compter avec les revendications des Juifs.» Wo hier von den Juden die Rede ist [Strategie der Reduzierung], wird in den deutschen Artikeln wenn nicht von Salomon Korn, auf den diese Aussage zurückzuführen ist, dann vom Zentralrat der Juden gesprochen. Die «revendications des Juifs» werden in (a-43) in einem Ursache-Wirkungsverhältnis präsentiert, zu dem es zweierlei anzumerken gibt: Die angekündigten Forderungen wurden bereits geäußert. Sie bezogen sich auch auf das Primat des katholisch-evangelischen Worts zum Sonntag, welches ein Anachronismus und in dieser Form zu überdenken sei.⁸² Im Artikel als solche nicht erkenntlich, gehört die nachfolgende Aussage ebenfalls zu Korns Überlegungen: «Viendraient y dialoguer aussi bien des chrétiens que des juifs, des musulmans, des bouddhistes ou des agnostiques.» Der Text
femme franco-tunisienne tuée à coups de pierres dans les quartiers Nord de Marseille à l’âge de 23 ans, le 17 octobre 2004». 79 (a-68): «So bilden etwa die Fünf Säulen eine feste Struktur, die alle Bereiche des täglichen Lebens strukturiert. Eine Hilfe für all jene, die ihrem Leben eine neue Ordnung geben wollen. So muss es auch bei Silke gewesen sein. Die heute 18-jährige Schülerin erlebte in jungen Jahren ein familiäres Martyrium». 80 (a-68): «Eine neue Entwicklung zeichnet sich auch bei jungen, in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Muslimen auf [sic]. Diese größtenteils säkular aufgewachsenen Muslime entdecken den Islam oft im Erwachsenenalter neu und vollziehen häufig einen raschen Wandel zur Frömmigkeit. So wie Ashraf. […] Zwar spricht sich der 23-Jährige für Offenheit und Toleranz aus, doch steht für ihn das Wort des Propheten Mohammed über allem. […] Für den Propheten wäre der junge Gläubige auch bereit zu kämpfen. ‹Wenn jemand Medina angreifen würde, wäre ich dabei›, sagt er». 81 Beispielsweise arbeiten Formulierungen wie «Von Mai an soll die islamische TV-Andacht auf der ZDF-Internetseite gezeigt werden.» (a-44) oder «Kategorisch erklärte er: ‹Deutschland braucht keinen Moschee-Sender›.» (a-45) auf der Grundlage des Bedrohungs-Topos. 82 (a-51): «Ein ‹Anachronismus› sei das ‹Wort zum Sonntag›, hatte der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, gesagt. Die ARD solle über ein neues Konzept für die 53 Jahre alte Sendung nachdenken und alle Glaubensbekenntnisse berücksichtigen, sagte Korn dem ‹Spiegel› und schlug stattdessen ein journalistisches Gespräch der Religionen vor».
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gibt aber keinen weiteren Anhaltspunkt, mit dem an die Aussage des Untertitels angeknüpft werden könnte. Es ist anzunehmen, dass hier ein (ressentimentbasierter) Topos anzitiert und als sogenannter Teaser eingesetzt wird. An dieser Stelle ist nicht zu klären, ob die grundsätzliche Perspektivierung des Artikels dadurch verändert wird. Eine vergleichende Analyse müsste zeigen, ob es sich hier um das Argumentationsmuster eines Einzeltextes handelt, und wenn nicht, wie der entsprechende Topos zu formulieren wäre bzw. wie es im Diskurs wirkt. «La ‹télé-mosquée› fait débat en Allemagne. La chaîne ZDF doit désormais compter avec les revendications des Juifs. BERLIN (de notre correspondante). – En annonçant sa volonté de proposer aux musulmans d’Allemagne une émission hebdomadaire qui leur serait consacrée, Nikolaus Brender, le rédacteur en chef de la chaîne ZDF – l’une des deux grandes chaînes publiques allemandes – ne s’imaginait sans doute pas qu’il lancerait un tel pavé dans la mare. Son intention n’était pourtant, au départ, que de créer un rendez-vous similaire à ‹Wort zum Sonntag› (‹Le mot du dimanche›), qui, depuis plus de 50 ans, donne la parole en alternance aux Églises catholique et protestante d’Allemagne sur la chaîne publique concurrente ARD. Mais la mise en oeuvre de l’émission ‹Forum du vendredi›, dont la diffusion doit commencer en mai, d’abord exclusivement sur le site Internet de ZDF, puis éventuellement sur le petit écran, n’en finit pas de faire débat. À qui en confier le contenu? À des journalistes de ZDF ou à des représentants de la communauté musulmane d’Allemagne (3,2 millions de personnes)? Car ce sont bien des membres des Églises catholique et protestante qui décident du sommaire de ‹Wort zum Sonntag›. Autre problème: comment choisir ces représentants de l’islam, alors que l’Allemagne ne dispose d’aucun équivalent du Conseil français du culte musulman et que ses interlocuteurs se répartissent en quatre grandes organisations? ZDF a finalement décidé de s’attribuer la responsabilité de l’émission, tout en choisissant ses intervenants en partenariat avec les organisations musulmanes. Celles-ci n’ont guère apprécié ce qu’elles ont qualifié de ‹jeu de dupes›. Viendraient y dialoguer aussi bien des chrétiens que des juifs, des musulmans, des bouddhistes ou des agnostiques. Une solution qui répondrait au concept de l’émission telle que l’envisage ZDF – non pas une prédication, mais des commentaires sur le texte religieux et des entretiens avec des invités – et qui aurait le mérite de calmer les esprits: certains en Allemagne parlent déjà de ‹télé-mosquée›.» ((a-43), Kap. II.2)
Anhand der nachfolgend angeführten Zitate, die auf Aussagen der Mitglieder des Zentralrats der Ex-Muslime beruhen, wird eine Argumentationsstruktur fassbar, die sich mit dem Satz Wehret den Anfängen! umschreiben ließe und durch Bedrohungs-Topos wie auch durch den Verteidigungs-Topos gestützt wird:
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Gutmenschen-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil durch falsch verstandene Toleranz Gefahren verkannt, sogar heraufbeschworen werden, muss sofort gegengesteuert/gehandelt werden.
In (a-48) wird der Gutmenschen-Topos durch eine Freund-Feind-Dichotomie verstärkt, in (a-50) wird er mit dem Schutz-Topos (Kap. 8.1.3) verknüpft. Des Weiteren klingt hier der oben erwähnte Deviations-Topos an: «Les 140 membres de l’association ne s’en prennent pas qu’aux islamistes. Leur combat vise largement les politiciens allemands, accusés de ‹pactiser avec l’ennemi au nom du sacro-saint respect des différences culturelles›.»⁸³ (a-48) «Einer der Gründer der Organisation, Arzu Toker, erklärte, durch die tolerante Politik der Bundesregierung und der anderer europäische [sic] Länder würden sich die muslimischen Gruppen nicht ändern. Das heiße, weitere Mädchen würden vom Sport und Gleichberechtigung ausgeschlossen.» (a-50)
Die beiden folgenden Textauszüge sind ebenfalls dem Gutmenschen-Topos zuzuordnen; diesem werden der Bedrohungs- und Verteidigungs-Topos zugesellt. Die Auszüge entstammen einem Porträt von Mina Ahadi (a-49), welches auf Seite 2 des Politikteils erschien, sowie einem Artikel, der in der Rubrik ‘Panorama’ veröffentlicht wurde (a-32). Beide Texte sind informationsbetont und geben Hintergrundinformationen. Die unterschiedliche Rubrik-Zuordnung ist ein erstes Signal, das sich nach einer genaueren Lektüre bestätigen lässt: (a-32) weist trotz Informationsfülle eine stärkere Meinungsorientierung⁸⁴ auf als (a-49). Die beiden Zitate werden, obwohl besonders (a-32) nicht als primär informationsbetonter Text gelten kann, an dieser Stelle aufgeführt, da die porträtierende Nähe zur beschriebenen Person eine größere Explizitheit von Argumentationsmustern ermöglicht, als dies in anderen Textsorten der Fall ist. Dies ändert nichts daran, dass deren inhaltliche Komponenten sich auch in stärker
83 Au «nom du sacro-saint respect des différences culturelles» – wohlgemerkt culturel nicht religieux: Religion wird als zu einer bestimmten Kultur zugehörig dargestellt. Diese Formulierung verstärkt den Freund-Feind-Gegensatz, greift das Alteritätskonzept (cf. Kap. 6.1.4, 7.2.7 und 7.2.8) auf und weist in Richtung Kulturkreis- bzw. Kulturschock-Debatte (Kap. 3). 84 (a-32) arbeitet mit einer stärkeren argumentativen Zuspitzung, Generalisierendes (aus der Sichtweise der Ex-Muslime) wird mit fachlicher Hintergrundinformation (Aussagen des Islamwissenschaftlers Abdel Theodor Khoury) zusammengeführt und Differenzierungen durch die explizite Conclusio am Ende des Textes nicht nur in Frage gestellt, sondern nivelliert: «Ob diese von allen gelesen und akzeptiert ist, oder nur das Papier geduldig ist, und nicht die Mitglieder, wird sich nach dem 28. Januar herausstellen, wenn sich mehr als 40 Abschwörer geoutet haben».
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informationsbetonten Korpustexten finden;⁸⁵ hier bedingen sie die Perspektivierung der Texte und entfalten so ein großes argumentatives Gewicht. «Der Zentralrat der Ex-Muslime wirft der Bundesregierung und der deutschen Öffentlichkeit eine ‹falsche Toleranz› gegenüber islamischen Organisationen im eigenen Land und eine ‹Kuscheldiplomatie› gegenüber Staaten vor, in denen das islamische Recht der Scharia gilt. […] Keine falsche Toleranz heißt für den ZdE: Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, Sportkurse, Sexualkundeunterricht und Klassenfahrten auch für Mädchen aus moslemischen Familien, Verbot des Tierschächtens für alle religiösen Gemeinschaften.» (a-49) «Für die Initiatoren ist ihre Aktion deshalb die Flucht nach vorn: Sie wollen vor Islamisierungstendenzen und falscher Toleranz warnen. Vertreter von Parteien, wie die Vorsitzende der Grünen, die doch einmal für Frauenrechte eingetreten seinen [sic], empört sich die Feministin Azur Toker, würden plötzlich auf dem Gebetsteppich einer Moschee niederknien. Wenn schon Anpassung, dann erwartet sie diese von muslimischer Seite. Wer aber ein öffentliches Leben nach den Regeln der Scharia wolle, dem könne sie nur sagen: ‹Niemand wird in Deutschland festgehalten.›» (a-32)
Der Begriff der ‘falschen Toleranz’ wird im Korpus nur an den beiden soeben zitierten Stellen verwendet. Es scheint eine gewisse Sensibilisierung bzw. Vorsicht im Umgang mit dieser Begrifflichkeit zu geben. Die Problematik: Der Gutmenschen-Topos und die ihn stützenden Bedrohungs- oder Verteidigungs-Topoi werden nicht vermieden, indem nur die Schlüsselwörter nicht zum Einsatz kommen. Wird an der Perspektivierung des Textes nichts verändert bzw. werden die Argumentationsstrukturen lediglich auf eine andere, schwieriger fassbare Ebene des Textes transferiert, bleiben sie wirksam und im Diskurs vorhanden – nicht zuletzt, weil sie, wie alle enthymemischen Argumentationsstrukturen, durch eine intuitiv zugängliche, scheinbar natürliche Logik gekennzeichnet sind. Diese intuitiv zugängliche Logik ist besonders auch den Topoi eigen, die auf einer teleologischen Weltsicht und Geschichtsdeutung aufbauen, die den Ablauf historischer Gegebenheiten als eine zwingende, quasi natürlich vorgegebene Abfolge auffassen. Bei der vorliegenden Untersuchung sind diese Argumentationsmuster zumeist von einer Außensicht geprägt. Diese ist unter anderem der Stellung des Produzenten und des Rezipienten geschuldet,⁸⁶ die sich
85 Zwei explizite Beispiele, jeweils die Referenz auf eine ‘Expertenaussage’ in informationsbetonten Texten, wurden mit (a-48) und (a-50) oben bereits angeführt. 86 Der nachfolgend angeführte Entwicklungs-Topos wäre in ähnlicher Form auch als Argumentationsmuster in einem innerislamischen Diskurs denkbar, müsste dann aber innerhalb desselben untersucht und eingeordnet werden.
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eines bestimmten Themas ‘von außen’ nähern und eine bestimmte Situation, ein bestimmtes Ereignis an der eigenen Überzeugung bzw. auf der Grundlage des eigenen Weltwissens messen. Anhand des Demokratie-Topos (Kap. 8.1.2) wurde dieser Umstand bereits illustriert. Er gilt ebenso für den nachfolgend angeführten Entwicklungs-Topos: Wird auf bestimmte, angenommene Desiderate hingewiesen, die im Islam, bei Muslimen oder in muslimischen Ländern so ‘noch nicht’ zu finden sind, liegt diesem Hinweis häufig die Annahme zugrunde, dass es eine Entwicklung hin auf bestimmte Ziele geben müsse – quasi in Analogie zu Entwicklungen im Christentum, bei Christen oder in nicht muslimischen Ländern westlicher Prägung. Entwicklungs-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil der Islam bestimmte, als notwendig erachtete Veränderungen/Phasen noch nicht durchlaufen hat, muss er sich weiterentwickeln/muss er reformiert werden.
Mit dem Entwicklungs-Topos als Stützargumentation formuliert der Aufklärungs-Topos ein spezifisches Ziel. Vergleichbar sind hier der Demokratie-Topos (Kap. 8.1.2) und der Schutz-Topos (Kap. 8.1.3). Mit dem Demokratie-Topos wird eine bestimmte Regierungsform anvisiert, der Schutz-Topos bezieht sich auf die Rolle bzw. Emanzipation der Frau, und beim Aufklärungs-Topos wiederum liegt der Fokus auf einer als Errungenschaft wahrgenommenen und zu durchlaufenden geistesgeschichtlichen Phase. Die beiden nachfolgend im Aufklärungs-Topos zusammengefassten Aspekte sind, bei gleicher Anknüpfungsbasis (höhere Entwicklungsstufe): (1) eine Perspektive der Überlegenheit und (2) das Desiderat und die daraus resultierende Notwendigkeit zum Handeln (zu erstrebendes Ziel) – je nach argumentativem Schwerpunkt kommt jeweils der Aspekt (1) oder (2) stärker zum Tragen: Aufklärungs-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil eine Gesellschaft/Religion durch die Aufklärung auf eine höhere Entwicklungsstufe gelangt, ist sie anderen, nicht aufgeklärten Gesellschaften (moralisch) überlegen/ist die Aufklärung ein zu erstrebendes Ziel.
Eine nachfolgend veranschaulichte, nicht nur in diesem Zusammenhang eingesetzte Strategie betont Wichtigkeit und Richtigkeit eines Argumentationsmusters, ohne dass dies (scheinbar) weiter diskutiert werden müsste. Man könnte diesen Vorgang das ‘(Augen-)Zeugen-Prinzip’ nennen: Bestätigt das Mitglied einer Fremdgruppe – das sich, so die Annahme, durch ein Mehr an Wissen gegenüber Nichtmitgliedern auszeichnet – eine bestimmte Meinung oder Haltung, erhält diese quasi die Stellung eines Faktums; weitere (argumentative) Auseinandersetzungen scheinen somit hinfällig (Kap. 7.2.1 und 8.1.2). Eine solche
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Funktion kommt Meinungen der bereits mehrfach erwähnten Ex-Muslime⁸⁷ zu. Als frühere Mitglieder einer muslimischen Religionsgemeinschaft können sie den Expertenstatus erhalten, der ihrer Position größeres argumentatives Gewicht verleiht. Die nachfolgenden Zitate kommen zu konträren Schlussfolgerungen und werden doch beide Mina Ahadi zugewiesen: In (a-49) spielen sowohl der Entwicklungs- als auch der Aufklärungs-Topos eine Rolle, Letzterer ist durch den Einsatz des Schlüsselwortes ‘Aufklärung’ vorherrschend. (a-48) ist der Entwicklungs-Topos unterlegt, auch wenn das gewünschte Ziel dieser Entwicklung, die Modernisierung, als Möglichkeit verneint wird: «Ahadi ist überzeugt, dass man den Islam im Sinne der Aufklärung auch reformieren kann, wenn man außerhalb der Gemeinschaft steht.» (a-49) «Pour expliquer son geste aux allures de provocation, Mina Ahadi assure: ‹Il est impossible de moderniser l’islam.›» (a-48)
8.2 Zwischenergebnis Topoi geben Texten bzw. Textaussagen ihre argumentative Basis und somit eine spezifische Grunddynamik. Für den Nachweis des jeweiligen Argumentationsmusters ist es zunächst unerheblich, ob der Topos bejaht oder verneint wird. Dies zeigt der Vergleich zwischen den beiden letztgenannten Beispielen (a-49) und (a-48) (Kap. 8.1.4), in denen beide Male der Entwicklungs-Topos anzitiert wird. Die daraus gezogenen Schlussfolgerungen stehen jedoch in einem konträren Verhältnis zueinander: In (a-49) wird die Aufklärung als Entwicklungsziel anvisiert, in (a-48) wird die Modernisierung als Möglichkeit rundweg verneint. In der Mehrzahl der dieser Arbeit zugrunde liegenden Texte wurden die vorgestellten Topoi in bejahender Weise verwendet. Dies ist jedoch für die vorliegende Untersuchung nicht von Bedeutung. Betrachtet man diese Topoi im Vergleich und setzt sie zueinander in Verbindung, lassen sie sich anhand unterschiedlicher Kriterien zusammenfassen. Einleitend wurde die Unterteilung in diskursabstrakte und diskursspezifische Topoi eingeführt. Die in den Kapiteln 8.1.1 bis 8.1.4 vorgestellten Argumentationsmuster lassen sich außerdem auf der Grundlage eines jeweils vorherrschenden Merkmals den Kategorien (1) hierarchische Struktur, (2) Zustandsbeschreibung und (3) Handlungsanweisung zuteilen. In weniger dominanter Form sind bei verschiedenen Topoi auch mehrere der genannten Merkmale zu finden; auf
87 Cf. i.a. die Kapitel 6.1.1, 7.2.1, 8.1.3, 8.1.4.
Zwischenergebnis
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eine Mehrfachzuordnung wird nachfolgend allerdings verzichtet. Nach der Auflistung der verschiedenen Merkmalsgruppen werden in Kapitel 8.3 in Form einer tabellarischen Übersicht die Querverbindungen gezeigt, die zwischen bestimmten Topoi bestehen und die im Laufe der Arbeit an verschiedenen Stellen bereits erwähnt wurden.⁸⁸ (1) Die meisten Topoi sind hierarchisch aufgebaut. Bei einem Teil der Argumentationsmuster muss dieses Gefälle erst herausgearbeitet werden, bei den nachfolgend erwähnten Topoi ist die hierarchische Struktur bereits an der sprachlichen Formulierung selbst erkennbar: So stuft der Widerspruchs-Topos (Kap. 8.1.1) im Falle eines inhaltlichen Konflikts das (vermeintlich) Faktische im Vergleich zu einer individuellen Aussage als glaubwürdiger ein. Der Demokratie-Topos (Kap. 8.1.2) setzt die Demokratie als Regierungs- bzw. Gesellschaftsform absolut, und der Aufklärungs-Topos (Kap. 8.1.4) bewertet in einer teleologischen Perspektive die Aufklärung in vergleichbarer Weise. (2) Fünf der herausgearbeiteten Topoi können als Zustandsbeschreibungen aufgefasst werden: Der Deviations-Topos (Kap. 8.1.4) schreibt Muslimen bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen zu, die allein durch ihr Muslim-Sein begründet werden. Analog dazu verfährt der für das Kapitel 7.2.2 konstitutive Jugend-Topos – hier wird das jugendliche Alter als Erklärung für Eigenschaften und Verhaltensmuster herangezogen. Der Experten-Topos (Kap. 7.2.1 und 8.1.2) geht von der faktischen Richtigkeit einer bestimmten Darstellung oder Meinung aus, und der Bart-Topos (Kap. 8.1.3) stuft die betreffende Person als gefährlich, radikal bzw. als Terrorist ein. Der Demokratieuntauglichkeits-Topos (Kap. 8.1.3) wiederum stellt die Unvereinbarkeit von Demokratie und Islam fest. (3) Die überwiegende Anzahl der aus der Textanalyse stammenden Topoi zeigt eine primär handlungsanweisende Struktur: Ist eine Gesellschaft in Gefahr, so müssen Gegenmaßnahmen ergriffen werden – diese im Verteidigungs-Topos (Kap. 8.1.3) enthaltene Aussage wird im Hinblick auf eine vom Islam ausgehende, als gegeben betrachtete Gefahr durch den Bedrohungs-Topos (Kap. 8.1.1) spezifiziert. Der Gesetzes-Topos (Kap. 8.1.1) mahnt die Einhaltung einer gesetzlich oder richterlich festgelegten Norm an, wohingegen der Allgemeingültigkeits-Topos (Kap. 8.1.2) auf die Beachtung von als Länder und Gesellschaften übergreifend gewerteten Rechten pocht. Der Defizit-Topos (Kap. 8.1.2) begründet aus einer als Mangel betrachteten Lage einen Handlungsbedarf, welchen der Schutz-Topos (Kap. 8.1.3) mit einer vergleichbaren Argumentations-
88 Unter Kapitel 8.3 ist eine tabellarische Übersicht der Topos-Verbindungen zu finden und im Abschnitt IV des Anhangs eine alphabetisch angeordnete Auflistung der in der Textanalyse gewonnenen Topoi.
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struktur auch für die Lage und Rechte muslimischer Frauen anmahnt. Der Gutmenschen-Topos (Kap. 8.1.4) fordert die Korrektur einer als falsch dargestellten Einstellung, während der Entwicklungs-Topos (Kap. 8.1.4) auf die Reformierung des Islams abhebt. An verschiedenen Stellen wurde bereits darauf hingewiesen, dass bestimmte Topoi enger miteinander in Verbindung stehen als andere. Die nachfolgende tabellarische Übersicht (Kap. 8.3) stellt diese Bezüge noch einmal im Zusammenhang dar und schließt das Topos-Kapitel damit ab.
8.3 Tabellarische Übersicht der Topos-Verbindungen Die unten aufgeführten Topos-Verbindungen folgen der Bewegung vom Allgemeinen zum Speziellen. Eine Abweichung der ansonsten durchgängig mit diesem Grundmuster korrelierenden Bewegung von diskursabstrakt zu diskursspezifisch ist beim Entwicklungs-Topos und den ihm zugeteilten Topoi zu finden: Der diskursspezifische Entwicklungs-Topos ist die inhaltlich allgemeine Vorlage für verschiedene Entwicklungsziele, die die diskursabstrakten Aufklärungs- und Demokratie-Topoi sowie den diskursspezifischen Schutz-Topos umfassen. Der Jugend- und der Deviations-Topos werden von der Tabelle gesondert angegeben: Hier ist die Unterteilung in allgemein und speziell nicht anwendbar, da die beiden Topoi sich als Varianten desselben Musters lediglich im Merkmal ‘diskursabstrakt’ bzw. ‘diskursspezifisch’ unterscheiden. Vom Allgemeinen
→
zum Speziellen
Allgemeingültigkeits-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil bestimmte Rechte/Normen allgemein gültig sind, müssen sie (von allen Menschen/ Gesellschaften/Regierungen) geachtet werden.
Defizit-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil im Islam/in muslimischen Ländern allgemein gültige Rechte und Normen nicht garantiert werden bzw. diese mit dem Islam nicht kompatibel sind, muss Kritik geübt/muss eine Veränderung herbeigeführt werden.
Demokratie-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil die Demokratie mit den zu ihr gehörenden Rechten (Menschenrechte, Gleichberechtigung, freie Meinungsäußerung) die letztlich erstrebenswerte Herrschaftsform darstellt, sollte sie als Ziel angestrebt werden und andere Staatsoder Regierungsformen ablösen.
Demokratieuntauglichkeits-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil im Islam bestimmte demokratische Grundwerte/Prinzipien (Gleichheit, Meinungsfreiheit, Frauenrechte) nicht gewährleistet sind, ist der Islam bzw. dessen (öffentliche) Praktizierung mit der Demokratie nicht vereinbar.
Tabellarische Übersicht der Topos-Verbindungen
Vom Allgemeinen
→
283
zum Speziellen
Verteidigungs-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Wenn eine/unsere Gesellschaft oder das friedliche Zusammenleben bedroht ist, müssen/ dürfen Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
Bedrohungs-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil aus dem Islam hergeleitete Ansprüche/ Haltungen eine Gefahr darstellen, müssen Forderungen mit Argwohn betrachtet, Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
Entwicklungs-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil der Islam bestimmte, als notwendig erachtete Veränderungen/Phasen noch nicht durchlaufen hat, muss er sich weiterentwickeln/muss er reformiert werden.
Aufklärungs-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil eine Gesellschaft/Religion durch die Aufklärung auf eine höhere Entwicklungsstufe gelangt, ist sie anderen, nicht aufgeklärten Gesellschaften (moralisch) überlegen/ist die Aufklärung ein (notwendigerweise) zu erstrebendes Ziel. Demokratie-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil die Demokratie mit den zu ihr gehörenden Rechten (Menschenrechte, Gleichberechtigung, freie Meinungsäußerung) die letztlich erstrebenswerte Herrschaftsform darstellt, sollte sie als Ziel angestrebt werden und andere Staats- oder Regierungsformen ablösen. Schutz-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil Frauen im Islam unterdrückt werden, sind sie zu bedauern/müssen sie geschützt werden/müssen sie befähigt werden, sich zu emanzipieren.
Topos-Varianten Jugend-Topos (kontextspezifisch, diskursabstrakt) Weil Jugendliche bestimmte Eigenschaften und Verhaltensmuster haben, reagieren sie (in bestimmten Situationen) auf eine für sie spezifische Weise.
Deviations-Topos (kontextspezifisch, diskursspezifisch) Weil Muslime bestimmte religiös (oder ethnisch-kulturell) geprägte Eigenschaften und Mentalitäten haben, reagieren sie in bestimmten Situationen auf eine zu kritisierende (oder begrüßenswerte) Weise.
9 Schlussbemerkung «Von der eigenen Biographie über das Weltgeschehen bis hin zu Nachrichten – alles drechseln wir zu ‹sinnhaften› Geschichten. Damit verzerren wir die Wirklichkeit – und das beeinträchtigt die Qualität unserer Entscheidungen. Sie wollen gegensteuern? Dann pflücken Sie die Geschichten auseinander. Fragen Sie sich: Was will die Geschichte verbergen?» (FAZ 29.11.2010, 30)
In der Tat ist es in vielerlei Hinsicht lohnend, die verschiedenen Sinnzusammenhänge von Texten genauer zu betrachten. Dies war Aufgabe und zugleich Ziel dieser Arbeit. Um nicht nur die Organisationsebene und somit die sichtbare Seite der Texte in die Untersuchung einbeziehen zu können, habe ich die funktionale Satzanalyse nach František Daneš zu einer funktionalen Textanalyse umgestaltet.¹ Auf diese Weise konnten zwei für die Sinnbildung in Texten wichtige Phänomene gleichermaßen berücksichtigt werden: (a) die kommunikativen (Text-) Strategien, also Mechanismen der Textorganisation und Verknüpfungselemente zwischen der kognitiven und der Organisationsebene des Textes (Kap. 6 und 7), sowie (b) die Topoi, Phänomene des kognitiven Textüberbaus und argumentationsanalytisch als Sachverhaltszusammenhänge zu verstehen (Kap. 8). Bei den kommunikativen (Text-)Strategien hat sich vor dem Hintergrund der Frage nach dem Text hinter dem Text eine Zweiteilung der Blickrichtung als hilfreich erwiesen. Die auf der formalen Ebene betrachteten zentralen kommunikativen Strategien² geben Texten zunächst einmal ihr Rückgrat und helfen, diese zu strukturieren – gleichzeitig können ihnen aber bereits persuasive Funktionen innewohnen. Bei anderen Textstrategien liegt die Betonung auf ihrer wertenden Funktion. Anhand eines Bewertungskontinuums wurde eine Vielzahl solcher Strategien untersucht, und es konnte dargestellt werden, welche sich eignen, um eher explizit(er)e³ oder eher implizit(er)e⁴ Bewertungen in einen Text einflie-
1 Cf. das der Arbeit zugrunde liegende Textmodell (Kap. 5.2). 2 Dichotomiebildung (Kap. 6.1.1); Reduzierung (Kap. 6.1.2); Differenzierung (Kap. 6.1.3); sprachliche Techniken zur Markierung von Fremdheit (Kap. 6.1.4). 3 Unter die expliziten Formen der Bewertung fällt der Einsatz von Adjektiven und Adverbien (Kap. 7.1.1) sowie syntaktische Formen der Hervorhebung (Kap. 7.1.2). 4 Im Zusammenhang mit Inferenzprozessen als Basis für implizite Bewertungen wurden untersucht: der Einsatz des Expertenstatus (Kap. 7.2.1); die Polyvalenz der Jugend (Kap. 7.2.2); ‘der/die Erste’ (Kap. 7.2.3); ‘ganz nebenbei’ (Kap. 7.2.4); die Referenz auf Prototypen (Kap. 7.2.5); intertextuelle Verweise (Kap. 7.2.6); die Markierung von Fremdheit (Kap. 7.2.7); die Komposita ‘Deutschtürken’ und ‘franco-maghrébins’ (Kap. 7.2.8); weitere Techniken der Distanzierung (Kap. 7.2.9); die Relevantsetzung einer Leerstelle (Kap. 7.2.10); die Interpunktion (Kap. 7.2.11).
286
Schlussbemerkung
ßen zu lassen. Ein Schwerpunkt der Analyse lag naturgemäß auf der Untersuchung der Möglichkeiten impliziter Bewertung, handelt es sich doch hier um den Raum, der ‘zwischen den Zeilen’ und somit ‘hinter’ dem sichtbaren Text liegt. Anhand der Fallstudie über die Berichterstattung zum ‘Fall Ghofrane Haddaoui’ (Kap. 7.3) ließ sich das Zusammenspiel von Textstrategien und die Komplexität von Inferenzprozessen verdeutlichen: Ein Verweis auf die Herkunft des Opfers genügte, um eine Vielzahl von Rückschlüssen in Gang zu setzen, die zu nachweislich falschen Annahmen führten. Mit dem Parameter des faktisch Falschen oder Richtigen kommt nicht zwingend weiter, wer den Blick unter die Oberfläche richtet, um das argumentative Grundgerüst des Textes freizulegen. Dieser Blick hat gezeigt, dass Aussagen der Tagesberichterstattung über den Islam regelmäßig durch eine überschaubare Anzahl von Topoi gestützt werden. Die événements werden hier also von Argumentationsmustern untermauert, die auf der Ebene der longue durée anzusiedeln sind. Wie der Name der longue durée bereits andeutet, ist ein wesentliches Kennzeichen dieser Ebene ihre Beständigkeit. Dieser Vorgang führt, ganz unabhängig vom spezifischen (aktuellen) Gegenstand der Nachricht, zu einem Wiedererkennungseffekt von bestimmten Inhalten und zu ihrer intuitiven Akzeptanz. Gleichzeitig werden so die diskursiv tradierten Topoi beständig gefestigt. Sie sind Teil des gemeinsamen Weltwissens einer Sprechgemeinschaft und durch Wiederholbarkeit bzw. Rekurrenz gekennzeichnet; sie müssen akzeptiert werden, um ihre Stützkraft in Texten entfalten zu können. Im Zusammenhang mit ‘dem Islam’ werden sowohl diskursabstrakte wie auch diskursspezifische Argumentationsmuster verwendet (Kap. 8).⁵ Ihre überwiegende Anzahl besitzt einen normativen Charakter,⁶ auch Zustandsbeschreibungen⁷ kommen häufig vor. Den meisten Topoi ist eine hierarchische Grundstruktur eigen, in einigen ist diese bereits an der sprachlichen Formulierung erkennbar.⁸ Der Prozess der impliziten argumentativen Stützung von Aussagen läuft in der Regel auf einer Textebene ab, auf die bei einer einmaligen Lektüre
5 Dem Anhang ist unter IV eine alphabetische Übersicht über die Topoi zu entnehmen, in der auch die einzelnen Eigenschaften aufgeführt werden. 6 Bedrohungs-Topos (Kap. 8.1.1); Gesetzes-Topos (Kap. 8.1.1); Defizit-Topos (Kap. 8.1.2); Schutz-Topos (Kap. 8.1.3); Verteidigungs-Topos (Kap. 8.1.3); Allgemeingültigkeits-Topos (Kap. 8.1.2); Entwicklungs-Topos (Kap. 8.1.4); Gutmenschen-Topos (Kap. 8.1.4). 7 Experten-Topos (Kap. 7.2.1 und 8.1.2); Bart-Topos (Kap. 8.1.3); Demokratieuntauglichkeits-Topos (Kap. 8.1.3); Deviations-Topos (Kap. 8.1.4); Jugend-Topos (Kap. 8.1.4). 8 Widerspruchs-Topos (Kap. 8.1.1); Demokratie-Topos (Kap. 8.1.2); Aufklärungs-Topos (Kap. 8.1.4).
Schlussbemerkung
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nicht unmittelbar zugegriffen werden kann. Er ist in der Makrostruktur des Textes verortet und vollzieht sich häufig unbewusst. Gelingt es, derartige unbewusste Prozesse sichtbar zu machen, dient dies der Transparenz von Nachrichten-Vermittlung und einem besseren Verstehen der Funktionsweise von (Presse-)Texten überhaupt. Auch eine (konstruktive) Auseinandersetzung mit Textaussagen wird auf diese Weise erleichtert. Doch alles Wissen und Beschreiben reicht nicht aus, wenn es nicht angewandt wird. Es bedarf also einer mündigen Leserschaft ebenso wie aufmerksamer Schreibender, die in der Routine des Alltags den Text hinter dem Text immer wieder hinterfragen.
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11 Anhang I Korpus I.1 Liste der Suchwörter und Suchwort-Kombinationen Suchwörter deutsch
Suchwörter französisch
Imam Islam islamisch Islamist islamistisch Kopftuch Koran Mohammed Muhammad Moschee Moslem Muslim Muslimin Muslima muslimisch moslemisch Scharia Sharia Schiit Schiitin schiitisch Schleier Sunnit Sunnitin Sunnitisch Tchador Wahhabit Wahhabitin wahhabitisch
coran foulard imam islam islamique islamiste Mohammed Muhammad mosquée musulman musulmane sharia Sharia shiite sunnite tchador voile wahhabite
314
Anhang
Suchwort-Kombinationen deutsch (Islam|islamisch) (Religion|Religiosität) (Imam|Prediger) (Minarett|Moschee) (Islam|islamisch) (Moslem|Muslim) islam* muslim* (Islam|islamisch) (Muslimin|Moslemin|Muslima) (Islam|islamisch) Prophet (Mohammed|Muhammad) islam* AND (sunnit* OR schiit* OR wahhabit*) (islam|islamisch) (Sunnit|Sunnitin|sunnitisch|Schiit|Schiitin|schiitisch|Wahhabit|Wahhabitin|wahhabitisch) (Muslimin|Moslemin|Muslima) (Kopftuch|Schleier|Hijab|Tschador|Burka) (Islam|islamisch) (Fundamentalismus|fundamentalistisch|Islamismus|islamistisch|Terrorismus| terroristisch) Europa Islam* AND fundamentalis* OR islamis* OR terroris* islam* AND extremist* OR militant* OR radikal* (Islam|islamisch) (Wirtschaft|wirtschaftlich) (Islam|islamisch) (Kultur|kulturell) Europa (Islam|islamisch) Koran (Gott|Allah) (Islam|islamisch) (Integration|Integrations-) (Islam|islamisch) (Einwanderungs-|Einwanderung|Einwanderer|Einwanderin|Immigration) (Islam|islamisch) (Scharia|Sharia) (Islam|islamisch) (Ausbildung|Bildung|Schule|schulisch|Universität|universitär)
Suchwort-Kombinationen französisch (islam|islamique) (religion|religiosité) (islam|islamique) musulman (islam|islamique) musulmane (imam|prédicateur) (minaret|mosquée) (islam|islamique) (sharia|Sharia) (islam|islamique) (sunnite|chiite|shiite|wahhabite) musulmane (foulard|voile|hijab|tchador|burka) (islam|islamique) (fondamentalisme|fondamentaliste|intégrisme|intégriste|terrorisme| terroriste) Europe (islam|islamique) (économie|économique) (islam|islamique) (culture|culturel) Europe (islam|islamique) (coran|Coran) (Dieu|dieu|Allah) (islam|islamique) intégration (islam|islamique) (immigration|immigré|immigrée) (islam|islamique) (formation|éducation|école|scolaire|université|universitaire) (islam|islamique) (prophète|Prophète) (Mohammed|Muhammad) (islam|islamique) (prophète|Prophète) (Mohammed|Muhammad|Mahomet)
Korpus
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I.2 DTD
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Anhang
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Anhang
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Korpus
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324
Anhang
I.3 Exemplarische Korpustexte¹ ((a-21), Kap. II.2)
D
Reuters http://preview.factiva.com/du/article.aspx?wp=ODE& accessionNo=FDG0000020070226e32q0007z 2007-02-26 18:11 Madrid -- Reuters
Angeklagter weist Vorwürfe in Madrider Attentats-Prozess zurück