Deutsch in Sozialen Medien: Interaktiv – multimodal – vielfältig 9783110679885, 9783110678864

Social media have become a virtually indispensable element of everyday life, whether for private communication (such as

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German Pages 394 Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Deutsch in Sozialen Medien: interaktiv, multimodal, vielfältig
Soziale Medien im Spiegel der Zeit
Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel
Schreiben in Sozialen Medien
Spezifische Phänomene Sozialer Medien unter der Lupe
Textqualität in Sozialen Medien
Digitalisierung und soziolinguistischer Wandel
♀ J = ♂ J? Oder: Das Gelächter der Geschlechter 2.0: Emojigebrauch in der WhatsApp-Kommunikation
Zwischen Deliberation und Emotionalisierung: Interaktionsstrukturen in Sozialen Medien
„Fake News“: Aktuelle Desinformation
Soziologische Aspekte sozialer Netzwerke mit Blick auf Relationen in der digitalen Welt
Der Shitstorm im Medium Twitter
Soziale Medien im Einsatz
Soziale Medien im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht: Potenziale und Herausforderungen
Partizipationswunsch oder Prokrastinationsverdacht?
Digitale Diskursanalysen: Das Beispiel Wikipedia
Produktion – Produkt – Rezeption? Medienketten in audiovisuellen Webformaten am Beispiel von Let’s Plays
Methodische Zugänge zu Sozialen Medien
Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem
IBK- und Social Media-Korpora am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache
Kaleidoskop
Die Webkorpora im DWDS – Strategien des Korpusaufbaus und Nutzungsmöglichkeiten
Die Mobile Communication Database 2 (MoCoDa 2)
Das DiDi-Korpus: Internetbasierte Kommunikation aus Südtirol
Öffentlichen Sprachgebrauch auf Facebook untersuchen
Blogs, Bots & Co. – Public Humanities in den Sozialen Medien
Künstliche Intelligenz im Dialog – Ein methodologisches Konzept zur Analyse von Mensch-Maschine-Interaktion
Diskursstrategien in Sozialen Medien
Recherche in Social-Media-Korpora mit KorAP
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Deutsch in Sozialen Medien: Interaktiv – multimodal – vielfältig
 9783110679885, 9783110678864

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Deutsch in Sozialen Medien

Jahrbuch 2019 Redaktion Melanie Kraus

Deutsch in Sozialen Medien Interaktiv – multimodal – vielfältig Herausgegeben von Konstanze Marx, Henning Lobin und Axel Schmidt

ISBN 978-3-11-067886-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067988-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067990-8 ISSN 0537-7900 Library of Congress Control Number: 2019957925 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Ann-Kathrin Lück, Joachim Hohwieler Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Mit dem Thema seiner 55. Jahrestagung richtet das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) den Scheinwerfer auf einen Bereich sprachlicher Kommunikation, der längst in gleißendem Licht zu liegen scheint: „Deutsch in Sozialen Medien“. Kaum ein Thema hat die Öffentlichkeit in den letzten Jahren so sehr beschäftigt, so sehr bewegt und zu so kontroversen Diskussionen geführt wie die allgegenwärtige Kommunikation in Sozialen Medien. Auch die sprachliche Kommuni­ kation darin ist bereits seit längerem Gegenstand der Forschung. Und trotzdem konnte man den Eindruck gewinnen, dass einige ganz offenkundige und zentrale Fragen, die sich bezüglich des Gebrauchs der deutschen Sprache in Sozialen Medien aufdrängen, doch noch nicht gestellt worden sind. Die Jahrestagung des IDS im Jahr 2019 hatte sich deshalb zum Ziel gesetzt, genau dies nachzuholen und nach den besonderen Ausprägungen von Interaktivität und Multimodalität und ganz generell nach der Vielfalt zu fragen, in der sich das Deutsche hier seit einiger Zeit offenbart. Die Themen der Vorträge spiegeln aber auch die Vielfalt der disziplinären und methodischen Zugänge der Forschung wider. Neben unterschiedlichen linguistischen Herangehensweisen stehen solche aus der Soziologie und der Kommunikationswissenschaft. Das Thema macht zudem die minutiöse Analyse des Einzelfalls genauso erforderlich wie die auf großen Datenmengen basierende korpuslinguistische Untersuchung. Und sogar die Erfassung und die Aufbereitung derartiger Daten selbst bildet im Fall von Internet-basierter Kommunikation eine besondere Herausforderung, in rechtlicher wie auch in technischer Hinsicht. All das ist in den Beiträgen des vorliegenden Jahrbuchs zu finden. Der Breite des Gegenstands und seiner Untersuchung entsprach das Medien­ echo auf die Mannheimer Tagung. In Hunderten von Presseberichten und Dutzenden von Radiobeiträgen wurde die keineswegs von Untergangsszenarien geprägte Grundstimmung dieser Jahrestagung weitergetragen. Dies führte in der Öffentlichkeit schon während der Tagung und um so mehr noch in der Zeit danach zu kontrovers geführten Debatten zur Lage der deutschen Sprache in unserer digitalen Gegenwart – ein Effekt, wie ihn sich ein mit seinen Arbeiten auch an die Öffentlichkeit gerichtetes Forschungsinstitut kaum besser wünschen kann. Auf der Tagung selbst konnten gleich 14 neue Mitglieder des Internationalen Wissenschaftlichen Rats des IDS begrüßt werden. Durch diesen Rat ist die internationale sprachgermanistische Forschung kontinuierlich mit der Arbeit des IDS verzahnt. Im Rahmen der Tagung wurde nach drei Jahren erneut auch der HugoMoser-Preis verliehen, der renommierteste Förderpreis im Bereich der germanis-

https://doi.org/10.1515/9783110679885-202

VI 

 Vorwort

tischen Linguistik. Dieses Jahr hatte sich der Wissenschaftliche Beirat des IDS auf die Vergabe an Dr. Simon Pickl für seine Arbeiten zum grammatischen Wandel geeinigt. Und erstmals nahm auch eine Gruppe von zehn internationalen Promovierenden aus zehn verschiedenen Ländern an der Tagung teil. Dies soll, so die Hoffnung, eine Tradition begründen, durch die die Internationalität der germanistischen Linguistik in die nächste Generation getragen wird. Diese Generation junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wird sich zweifellos noch intensiver mit dem so vielfältigen wie faszinierenden Gebrauch der Sprache in Sozialen Medien auseinanderzusetzen haben.

Henning Lobin Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Der Direktor

Inhalt Konstanze Marx/Henning Lobin/Axel Schmidt Deutsch in Sozialen Medien: interaktiv, multimodal, vielfältig 

 XI

Soziale Medien im Spiegel der Zeit Peter Schlobinski Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel Bestandsaufnahme und Perspektiven   3 Christa Dürscheid Schreiben in Sozialen Medien Bestandsaufnahme und Perspektiven 

 35

Spezifische Phänomene Sozialer Medien unter der Lupe Andrea Abel/Aivars Glaznieks Textqualität in Sozialen Medien 

 53

Jannis Androutsopoulos Digitalisierung und soziolinguistischer Wandel Der Fall der digitalen Interpunktion   75 Marcel Fladrich/Wolfgang Imo ♀  = ♂ ? Oder: Das Gelächter der Geschlechter 2.0: Emojigebrauch in der WhatsApp-Kommunikation   95 Hans-Jürgen Bucher Zwischen Deliberation und Emotionalisierung: Interaktionsstrukturen in Sozialen Medien   123 Matthias Kohring/Fabian Zimmermann „Fake News“: Aktuelle Desinformation Eine Begriffsexplikation   147

VIII 

 Inhalt

Christian Stegbauer Soziologische Aspekte sozialer Netzwerke mit Blick auf Relationen in der digitalen Welt   163 Anatol Stefanowitsch Der Shitstorm im Medium Twitter Eine Fallstudie   185

Soziale Medien im Einsatz Nicola Würffel Soziale Medien im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht: Potenziale und Herausforderungen   217 Alexander Lasch Partizipationswunsch oder Prokrastinationsverdacht? Wissenschaftsvermittlung auf Blogs   233 Eva Gredel Digitale Diskursanalysen: Das Beispiel Wikipedia 

 247

Axel Schmidt/Konstanze Marx/Isabell Neise Produktion – Produkt – Rezeption? Medienketten in audiovisuellen Webformaten am Beispiel von Let’s Plays   265

Methodische Zugänge zu Sozialen Medien Michael Beißwenger Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem   291 Harald Lüngen/Marc Kupietz IBK- und Social Media-Korpora am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache   319

Inhalt 

 IX

Kaleidoskop Adrien Barbaresi/Alexander Geyken Die Webkorpora im DWDS – Strategien des Korpusaufbaus und Nutzungsmöglichkeiten   345 Michael Beißwenger/Marcel Fladrich/Wolfgang Imo/Evelyn Ziegler Die Mobile Communication Database 2 (MoCoDa 2)   349 Aivars Glaznieks/Jennifer-Carmen Frey Das DiDi-Korpus: Internetbasierte Kommunikation aus Südtirol 

 353

Daniel Pfurtscheller Öffentlichen Sprachgebrauch auf Facebook untersuchen Zugänge, Probleme, Erste Hilfe   355 Simon Meier Blogs, Bots & Co. – Public Humanities in den Sozialen Medien 

 359

Netaya Lotze Künstliche Intelligenz im Dialog – Ein methodologisches Konzept zur Analyse von Mensch-Maschine-Interaktion   363 Berfin Aktaş/Yulia Clausen/Tatjana Scheffler/Manfred Stede Diskursstrategien in Sozialen Medien   369 Marc Kupietz/Nils Diewald/Eliza Margaretha/Franck Bodmer/Helge Stallkamp/ Peter Harders Recherche in Social-Media-Korpora mit KorAP   373

Konstanze Marx/Henning Lobin/Axel Schmidt

Deutsch in Sozialen Medien: interaktiv, multimodal, vielfältig „Sprache und neue Medien“, so war die 35. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache überschrieben, die vom 16. bis 18. März 1999 stattfand. Genau zwanzig Jahre später stand das Thema wieder auf der Agenda. Von „neuen“ Medien spricht kaum jemand mehr (allenfalls distanziert und als Anachronismus markiert), das ist die erste Erkenntnis, die sich bereits aus der Betitelung der Tagung ergibt. Der Fokus hat sich also verschoben weg von der Faszination, die Geräte und deren Affordanzen auf Sprachbenutzer/innen ausüben, hin zum Sprachgebrauch auf Plattformen, die inzwischen ein konstitutives Element unserer Kommunikation geworden sind. Sie gehören für uns zum Alltag: Das Facebook-Profil ist ein allseits zugänglicher Speicher für persönliche Erinnerungen. Auf Twitter wird politisch debattiert. Instagram möchte man fast als die Wellness-Oase des Internets bezeichnen und über WhatsApp werden Hausaufgaben und Klassenfahrten organisiert – mehr oder weniger effizient. Wer die genannten Plattformen anders nutzt und diese Zuschreibungen nicht nachvollziehen kann, kann trotzdem kompetenter Nutzer oder kompetente Nutzerin sein. So ist letztlich gar nicht klar, ob die genannten Spezifika plattformeninhärent sind oder nur ein Charakteristikum der jeweils von einem individuellen Algorithmus gesteuerten Interaktion. Folglich war das Thema der 55. Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache eines, das neben der Sprache Deutsch als ein sich an die Potenziale des Internets anpassender Gegenstand die Perspektive ausgeweitet hat auf die Merkmale, Muster und Dynamiken der jeweiligen Kommunikationsplattformen. Dabei stellten sich Fragen nach der Zusammensetzung unseres linguistischen Forschungsgegenstandes, denn es drängt sich unmittelbar auf, dass wir uns hier keineswegs nur sprachlichen Zeichen gegenübersehen. Mit Emojis, Hashtags, Memes oder Bewegtbildern sind Kommunikate in Sozialen Medien multimodale Konglomerate verschiedener semiotischer Ressourcen. Das Zusammenspiel wie auch die Erfassung dieser Modi rücken in den Fokus der Betrachtungen. Als dritte Komponente ist der kommunikative Raum als quasi-öffentlicher Raum zu berücksichtigen, in dem sich kulturelle Praktiken herausbilden, die – so zeigte die Diskussion – mit einem genuin linguistischen Zugang allein nicht erschöpfend bearbeitet sind, sondern gerade unserer Disziplin eine Öffnung hin zu ethisch-moralischen Fragestellungen abverlangen. Die folgenden Fragen stellen sich bei der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik „Soziale Medien“ unweigerlich: https://doi.org/10.1515/9783110679885-001

XII 

 Henning Lobin/Konstanze Marx/Axel Schmidt

–– Wirkt sich die Kommunikation in Sozialen Medien auf unser generelles kommunikatives Verhalten aus? –– Inwiefern verändert sich unsere Sprache durch die Kommunikation in Sozialen Medien? –– Welche Auswirkungen hat die Kommunikation in Sozialen Medien auf unsere schriftsprachlichen Kompetenzen? –– Welche Phänomene hat die Kommunikation in Sozialen Medien hervor­gebracht? –– Wie vertrauenswürdig sind Soziale Medien? –– Sind die Kommunikationsbedingungen in Sozialen Medien besonders geeignet für das Ausleben von Diskriminierung und Gewalt? –– Welche Folgen haben Soziale Medien auf gesellschaftliche und politische Pro­zesse? –– Ist die Kommunikation in Sozialen Medien ein Gegenstand, der in den Schulunterricht integriert werden sollte? –– Wie kann man Daten aus Sozialen Medien erheben und für die Forschung verfügbar machen? –– Sind Soziale Medien eine geeignete Plattform für den Wissenschafts­transfer? In den Beiträgen unserer Referent/innen werden diese Fragen folgendermaßen aufgenommen:

1  Soziale Medien im Spiegel der Zeit In seinem Beitrag „Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel. Bestandsaufnahme und Perspektiven“ unternimmt Peter Schlobinski einen Streifzug durch die digitale Entwicklung und setzt sie in Beziehung zu den Entwicklungsschritten der Internetlinguistik. Er nimmt das zum Anlass Desiderata der jungen Schnittstellendisziplin zu formulieren und den Blick auszuweiten auf Aspekte der Vernetzung, die Netzwerkanalysen integrieren. Auch Christa Dürscheid schaut in ihrem Beitrag „Schreiben in Sozialen Medien. Bestandsaufnahme und Perspektiven“ zunächst zurück, um zwanzig Jahre linguistische Internetforschung an der konkreten Gegenüberstellung von neuen und Sozialen Medien zu illustrieren. Sie greift für ihre weiteren Ausführungen das Beispiel der WhatsApp-Kommunikation heraus, um Überlegungen zur neuen Schriftlichkeit anzustellen und dabei insbesondere die Rolle von Emojis herauszuarbeiten und deren Stellenwert für das digitale Schreiben (auch in der Zukunft) zu diskutieren.



Deutsch in Sozialen Medien: Interaktiv, multimodal, vielfältig 

 XIII

2  Spezifische Phänomene Sozialer Medien unter der Lupe Andrea Abel und Aivars Glaznieks wenden sich der „Textqualität in Sozialen Medien“ und damit der Frage zu, ob das Schreiben kürzerer Texte zum Zwecke der Interaktion Einfluss nimmt auf die Fähigkeit monologische Texte zu verfassen. Um diese Frage zu beantworten, vergleichen die Autor/innen Konnektoren (weil, denn, da) in Facebook-Posts, in dialogisch ausgerichteten Wikipedia-Texten und monologischen Zeitungskommentaren und Texten von Schüler/innen. Jannis Androutsopoulos untersucht in seinem Beitrag „Digitalisierung und soziolinguistischer Wandel: Der Fall der digitalen Interpunktion“ die Formen und Funktionen des Gebrauchs von Interpunktion in der schriftbasierten, interaktionsorientierten Internetkommunikation. Statt in normativistischer Manier einen fehlerhaften Gebrauch oder ein Verschwinden der Interpunktion in digitalen Kontexten zu beklagen, rekonstruiert der Beitrag neue pragmatische und strukturelle Aufgaben von Interpunktionszeichen. Auf der Grundlage empirischer Daten zu drei ausgewählten, besonders wichtigen Interpunktionszeichen in digitalen Kommunikationsumgebungen (beitragsfinaler Punkt, Auslassungspunkte und iteriertes Ausrufezeichen) wird das veränderte Funktionspotenzial der Interpunktionszeichen aufgezeigt. Theoretisch wird für ein Verständnis solcher Prozesse als distributive Umstrukturierung des Interpunktionsrepertoires bzw. als Wandelprozesse der Pragmatikalisierung (am Beispiel des beitragfinalen Punktes), Syntaktisierung (am Beispiel der Auslassungspunkte) und Ikonisierung (am Beispiel des iterierten Ausrufezeichens) plädiert, die zugleich – in sprachideologischer Hinsicht – zu einer Ent-Binarisierung (Aufgabe der normativen Orientierung an Schriftsprache) beitragen. Marcel Fladrich und Wolfgang Imo identifizieren in ihrem Beitrag „♀ = ♂ ? Oder: Das Gelächter der Geschlechter 2.0: Emojigebrauch in der WhatsApp-Kommunikation“ den geschlechtsspezifischen Gebrauch von Emoticons und Emojis als neuen Untersuchungsgegenstand der Genderlinguistik, deren Forschungsfeld sich auf den der computervermittelten Kommunikation ausgeweitet hat. Sie stellen in ihrer Analyse WhatsApp-Gruppen-Interaktionen von Frauen- und Männergruppen gegenüber und werten diese sowohl quantitativ als auch qualitativ aus. Hans-Jürgen Bucher analysiert in seinem Beitrag „Zwischen Deliberation und Emotionalisierung: Interaktionsstrukturen in Sozialen Medien“ drei OnlinePlattformen und arbeitet neben Interaktionsstrukturen, Akteurs-Netzwerken und Inhalts- und Themenstrukturen die nicht nur als vierte relevante, sondern auch für die Erklärbarkeit grundsätzlich notwendige Analyse-Dimension heraus. Vor diesem Hintergrund kann er zeigen, dass Soziale Medien nicht nur Echokammern sind, sondern neben der monologischen auch die dialogische Beteiligungsstrategie und damit interaktionale Meinungsbildung erlauben.

XIV 

 Henning Lobin/Konstanze Marx/Axel Schmidt

Matthias Kohring und Fabian Zimmermann nehmen in ihrem Beitrag „‚Fake News‘: Aktuelle Desinformation“ ein eng mit Sozialen Medien assoziiertes Phänomen aus einer kommunikations- und medienwissenschaftlichen Perspektive in den Blick. Sie setzen der ethnokategorischen Verwendung von Fake News eine Explikation des Begriffs entgegen und plädieren dafür, von aktueller Desinformation zu sprechen, um Kommunikation erfassen zu können, in deren Rahmen wissentlich und empirisch falsche Informationen mit dem Anspruch auf Wahrheit kolportiert werden. Mit dem zweiten interdisziplinär ausgerichteten Beitrag „Soziologische Aspekte sozialer Netzwerke mit Blick auf Relationen in der digitalen Welt“ von Christian Stegbauer rücken Fragen zur Verbindung zwischen Sprache, Kultur und Netzwerken in den Mittelpunkt der Betrachtung. Am Beispiel des Shitstorms wird illustriert, wie Netzwerke, die sonst keine Berührungspunkte aufweisen und eigene Öffentlichkeiten generiert haben, aufeinander einwirken. Der Beitrag „Der Shitstorm im Medium Twitter. Eine Fallstudie“ von Anatol Stefanowitsch führt uns mit einer dezidierten Analyse eines spezifischen Shitstorms zurück auf die linguistische Ebene. In diesem Zusammenhang werden grundlegende internetlinguistische Fragen und die twitter-inhärenten Mechanismen, die digitale Gewalt begünstigen, diskutiert. Zudem werden Wege aufgezeigt, wie sich die Sprachwissenschaft stärker in gesellschaftliche Debatten um Sprache und Sprechen in der (digitalen) Öffentlichkeit einbringen kann.

3  Soziale Medien im Einsatz Nicola Würffel entkräftet in ihrem Beitrag „Soziale Medien im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht: Potenziale und Herausforderungen“ recht weit verbreitete Hypothesen zum (Fremdsprachen-)Lernen und zeigt anhand des kooperativen Schreibens und der Verbindung von formellem und informellem Lernen auf, wann es sich lohnt, im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht auf Soziale Medien, insbesondere auf Soziale Netzwerke, zurückzugreifen. Alexander Lasch befasst sich in seinem Beitrag „Partizipationswunsch oder Prokrastinationsverdacht? Wissenschaftsvermittlung auf Blogs“ mit wissenschaftlichen Publikations- und Bewertungspraxen. Er skizziert Blogs als Erprobungsorte für Ideen und deren Formulierung, die insbesondere für Wissenschaftler/innen in der Qualifikationsphase attraktiv erscheinen, macht aber auch das Potenzial deutlich, das Blogs für die Verzahnung von Forschung und Lehre sowie von Wissenschaft und Öffentlichkeit haben. Eva Gredel unterbreitet in ihrem Beitrag „Digitale Diskursanalysen: Das Beispiel Wikipedia“ den Vorschlag, das Methodeninventar der „analogen“ Diskurslin-



Deutsch in Sozialen Medien: Interaktiv, multimodal, vielfältig 

 XV

guistik auf digitale Diskursanalysen zu erweitern. Am Beispiel der Wikipedia entwickelt sie ein Analysemodell mit dem Anspruch, einen umfassenden Rahmen für die Untersuchung von digitalen Diskursen bereitstellen zu können. Axel Schmidt, Konstanze Marx und Isabell Neise stellen in ihrem Beitrag „Produktion – Produkt – Rezeption? Medienketten in audiovisuellen Webformaten am Beispiel von Let’s Plays“ kommunikative Praktiken in aufgezeichneten und live ausgestrahlten Webformaten vor, in denen Videospiele für Zuschauer/ innen gespielt werden. Dabei wird deutlich, dass im Zuge von Live-Ausstrahlungen diejenigen, die sonst nur passiv zuschauen, interaktiv in das Medienprodukt eingebunden werden können. Diese Formate sind daher besonders gut geeignet, um zu zeigen, dass Soziale Medien zur Aufhebung von lange etablierten Kategorien, wie Produktion, Produkt und Rezeption beitragen.

4  Methodische Zugänge zu Sozialen Medien Im Beitrag „Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem“ begibt sich Michael Beißwenger auf die Suche nach dem Basisformat internetbasierter Kommunikation, um das spezifisch Neue gewinnbringend mit in der Linguistik bewährten Zugängen zur Interaktion und zu sprachlichem Handeln im Text zu verknüpfen und ein Beschreibungsmodell abzuleiten. Wie komplex die Fragen sind, die beim Aufbau von Social-Media-Korpora zu beantworten sind, zeigt der Beitrag von Harald Lüngen und Marc Kupietz. Sie erläutern, wie dafür urheber- und datenschutzrechtliche Voraussetzungen zu schaffen und welche texttechnologischen Besonderheiten zu berücksichtigen sind, wenn man derartige Korpora für unterschiedliche Forschungsinteressen adäquat aufbereiten will. Auch in der Struktur der Daten selbst finden sich viele Besonderheiten, wie bereits aus den wenigen schon bestehenden Social MediaKorpora für das Deutsche erkennbar ist. Die Beiträge zum Kaleidoskop zeigen innovative methodische Zugänge zum Datenmaterial in Sozialen Medien auf. Adrien Barbaresi und Alexander Geyken beschreiben Strategien des Korpusaufbaus und Nutzungsmöglichkeiten am Beispiel der Webkorpora des DWDS. Michael Beißwenger, Marcel Fladrich, Wolfgang Imo und Evelyn Ziegler stellen mit der Mobile Communication Database 2 (kurz: MoCoDa2) ein Forschungs- und Lehrkorpus zur Sprache und Interaktion in mobiler Messaging-Kommunikation vor. Aivars Glaznieks und Jennifer-Carmen Frey präsentieren mit dem DiDi-Korpus mehrsprachige internetbasierte Kommunikation aus Südtirol. Zugänge, Probleme und erste Hilfe bei der Untersuchung öffentlichen Sprachgebrauchs auf Facebook werden von Daniel Pfurtscheller

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 Henning Lobin/Konstanze Marx/Axel Schmidt

zusammengefasst. Simon Meier nimmt mit Blogs, Bots & Co Public Humanities in den Sozialen Medien in den Blick. Netaya Lotze thematisiert Methoden der Mensch-Maschine-Interaktionsforschung. Tatjana Scheffler, Manfred Stede, Berfin Aktaş und Yulia Clausen stellen ein Projekt zur Diskursvariabilität in Sozialen Medien vor. Marc Kupietz, Nils Diewald, Eliza Margaretha, Franck Bodmer, Helge Stallkamp, Peter Harders geben Anleitungen zur Recherche in Social-Media-Korpora mit KorAP.

Soziale Medien im Spiegel der Zeit

Peter Schlobinski (Hannover)

Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel Bestandsaufnahme und Perspektiven Abstract: In dem einleitenden Beitrag wird in groben Zügen 1.  ein Überblick über die digitale Entwicklung und die Entwicklung der Internetlinguistik gegeben und 2. auf Probleme und Desiderata hinsichtlich theoretischer und empirischmethodischer Aspekte in der Forschung eingegangen, wobei 3. perspektivisch auf Vernetzung und Netzwerkanalysen fokussiert wird. Dies wird schlaglichtartig reflektiert vor dem Hintergrund der Entwicklung eines maschinenbasierten Digitalkapitalismus.

1  Einführung Die Digitalisierung hat in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten eine rasante Entwicklung genommen. Nach dem Global Digital Report 20181 nutzen 4 Milliarden Menschen das Internet, was 53  Prozent der Weltbevölkerung entspricht, 1997 waren es 121 Millionen. Waren in Deutschland 1995 noch weniger als 5 Prozent online, sind es zehn Jahre später bereits 37,5 Prozent, 2015 65,1 Prozent und Ende letzten Jahres 90,3 Prozent.2 Parallel zu dieser Entwicklung hat die tägliche Nutzungsdauer des Internets zugenommen. Nach der ARD/ZDF-Onlinestudie 2018 (Frees/Koch 2019) nutzen neun von zehn Deutschen regelmäßig Angebote im Netz, rund 77 Prozent sogar täglich. User/innen im Alter von 14 bis 29 Jahren sind täglich knapp 6 Stunden online. Ein wichtiger Dynamisierungsfaktor war die Entwicklung des mobilen Internets, verbunden mit der Einführung von UMTS (2002) und der Entwicklung des Smartphones3. Dies und entsprechende Anwendungssoftware für Mobilgeräte waren und sind die Basis für die Erhöhung der Konnektivität, Vernetzung der User/­innen untereinander und in Folge für Anwendungen wie der 2009 gegrün-

1 http://digitalreport.wearesocial.com (Stand: 13.2.2019). 2 Daten bis 2017 nach dem Statistikportal statista [de.statista.com, Stand: 6.2.2019], für 2018 ARD/ZDF-Onlinestudie 2018 (Frees/Koch 2019). 3 Der Begriff setzte sich seit 2003 durch. https://doi.org/10.1515/9783110679885-002

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 Peter Schlobinski

dete und heute viel genutzte Instant-Messaging-Dienst WhatsApp. Wurden im Oktober 2011 eine Milliarde WhatsApp-Nachrichten täglich verschickt, waren es im Mai 2018 65 Milliarden.4 Die Digitalisierung hatte und hat große Auswirkungen auf weite Teile der Gesellschaft: Arbeitswelt, soziale Beziehungen, Kommunikation, all dies wird durch die fortschreitende Digitalisierung erfasst; „Vernetzung, Allverfügbarkeit und Allgegenwärtigkeit von Kommunikation und Information mündet zwangsläufig in eine 24-Stunden-Gesellschaft“ (Siever 2014, S. 211). Gegenwärtiger Trend ist die digitale Vernetzung (ehemals) analoger Objekte wie Thermostate oder Lichtschalter, das Stichwort hierzu lautet „Internet der Dinge“ (mehr in Kap. 2 und 4). Parallel zu Beginn der gesellschaftlichen Dynamisierung der digitalen Vernetzung Mitte der 1990er Jahre rücken die sprachlichen und kommunikativen Aspekte dieser Entwicklung in den Fokus der Sprachwissenschaft. Es sind drei Publikationen, die hier von besonderer Relevanz sind. Zum Ersten der 1996 von Susan Herring herausgegebene Sammelband Computer-Mediated Communication, in dem u.a. Arbeiten zur Mail- und Chatkommunikation versammelt sind. Als Zweites ist der 1997 von Rüdiger Weingarten herausgegebene Sammelband Sprachwandel durch Computer hervorzuheben, hier insbesondere der Beitrag von Martin Haase et al., Internetkommunikation und Sprachwandel, sowie der von Ulrich Schmitz, Texte in multimodalen Kontexten. Als Drittes ist die erste Monografie zum Thema mit dem Titel Sprache und Kommunikation im Internet (Runkehl/Schlobinski/ Siever 1998) zu nennen. In der Folge sind zahlreiche Arbeiten erschienen (mehr in Kap. 2) und es hat sich schließlich ein Label für die entsprechenden Forschungen gefunden: Internetlinguistik. Der Begriff wurde von David Crystal 2011 eingeführt (Internet Linguistics) und von Konstanze Marx und Georg Weidacher 2014 fürs Deutsche etabliert.

2  Aspekte zur Geschichte der digitalen Vernetzung Als Lehrender an der Leibniz Universität Hannover sei mir ein Wort zum Urvater der Digitalisierung, Gottfried Wilhelm Leibniz, erlaubt. Leibniz hat nicht nur zwischen 1685 und 1690 eine Rechenmaschine konstruiert und in einer Abhandlung von 1702 den Binärcode erfunden, sondern sich intensiv mit Sprache auseinandergesetzt.

4 http://de.statista.com/statistik/daten/studie/868733/umfrage/anzahl-der-taeglich-verschick ten-whatsapp-nachrichten-weltweit (Stand: 23.10.2018).



Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

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Er war der Überzeugung, dass ein Algorithmus gefunden werden kann, mit dessen Hilfe jede beliebige Wahrheit ableitbar ist (ars inveniendi), oder ein Verfahren entwickelt werden, anhand dessen für jede Aussage entschieden werden kann, ob sie wahr oder falsch ist (ars iudicandi). Was also Leibniz zu schaffen beabsichtigte, dies ist bekannt als characteristica universalis, als lingua universalis und calculus ratiocinator. Damit gemeint ist eine Kunstsprache, in der festgelegt ist, welche Symbole benutzt und wie aus den Symbolen Wörter und Aussagen gebildet werden sollen – und wie die Objekte der Kunstsprache inhaltlich zu interpretieren sind. Und dann sollte ein calculus ratiocinator, also eine Art intelligenter Algorithmus, geschaffen werden, durch dessen Ausübung das unsichere inhaltliche Schließen innerhalb der Disziplin ersetzt wird durch ein sicheres Rechnen mit den Symbolen, Wörtern und Aussagen der Kunstsprache. Beide Instrumente zusammen sollten eine mathesis universalis bilden, eine Erweiterung des Kompetenzbereichs des mathematischen Denkens auf alle nicht-mathematischen Disziplinen der Menschheit. (Barth 2004, S. 2)

Es geht also schlicht um eine universale Zeichensprache auf der Folie von Algo­ rithmen,5 und dieses Modell ist hochaktuell in der Diskussion um die Bedeutung von Algorithmen und die Berechenbarkeit von allem und jedem. Die Basiselemente in der heutigen digital vernetzten Welt bilden Computer, und die Entwicklung der Vernetzung und Computerisierung ist an militärische, wissenschaftliche und ökonomische Fragen und Innovationen gebunden. Entwickelte sich der Computer, wie wir ihn mit der Von-Neumann-Architektur heute kennen, als Antwort auf das Problem der Berechenbarkeit zur Zündung einer Atombombe, so ist die Idee der Vernetzung durch die Überlegungen von Paul Baran (1964) motiviert, wie die Aufrechterhaltung einer Infrastruktur bei Zerstörung eines zentralen Kontenpunktes weiterhin gewährleistet werden kann. In einer Studie der RAND  Corporation befasste sich Baran mit der Ausfallsicherheit von Kommunikationsnetzen im Falle eines Atomraketenangriffes und entwickelte das Prinzip von verteilten Netzknoten (Abb. 1 rechts). In einem zentralisierten Netzwerk (Abb. 1 links) würde die Zerstörung des zentralen Knotenpunktes zu einer völligen Zerstörung der Netzwerkstruktur führen. Anders bei verteilten Netzknoten: Wird ein Knoten zerstört, bestehen ausreichende Kommunikationsrelationen, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten.6 Von der technischen Seite her gesehen ist das heutige digitale Netzwerk (Internet) eine Anwendung in einem gigantischen verteilten Netzwerk mit gewissen Knoten als Schnittstellen (wie IXPs).

5 Weiterführend siehe Schlobinski (2009). 6 Barans zweite revolutionäre Idee bestand darin, Daten in einzelne Nachrichtenblöcke aufzuteilen, die erst am Zielort wieder zusammengesetzt werden sollten.

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 Peter Schlobinski

Abb. 1: Netzwerkstrukturen nach Baran (1964, S. 2)

Als erste Geburtsstunde des Internets kann das ARPANET7 angesehen werden, aus welchem das Internet hervorging. 1969 verband das ARPANET vier Netzwerkknoten der University of California, Los Angeles, des Stanford Research Institute, der University of California, Santa Barbara, und der University of Utah; später kamen weitere Knotenpunkte hinzu. 1989 wurde das mittels TCP/IP (1983) längst ins Internet integrierte ARPANET aufgelöst, doch im selben Jahr sollte es eine zweite Geburtsstunde für das Internet geben. 1989 beantragte Tim Berners-Lee am CERN das Projekt World Wide Web und verhalf damit dem Internet zum Durchbruch. 1990 waren der erste Webserver und der erste Webbrowser fertig: Das World Wide Web war geboren. Der Zugang zu HTML-Dokumenten über Datenleitungen wurde am 30. April 1993 für die öffentliche Nutzung freigeschaltet. 2018 umfasst das Web je nach Statistik zwischen 1,34 und 1,8 Milliarden Webseiten. An erster Stelle der meistaufgerufenen Domains steht google.com, gefolgt von youtube.com, facebook.com, baidu.com und wikipedia.org.8

7 Die ARPA (Advanced Research Project Agency), später DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), war eine Behörde des Verteidigungsministeriums der USA. 8 http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_meistaufgerufenen_Websites (Stand: 8.2.2019).

Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

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Die Bedeutung der Vernetzung im Hinblick auf Medienrevolutionen hat der Biologe und Informatiker Joël de Rosnay bereits 1995 in seinem Buch L’homme symbiotique, regards sur le troisième millénaire [dt. Homo symbioticus. Einblicke in das 3. Jahrtausend, 1997] im Blick (Abb. 2). „Die Digitalisierung lässt die Verarbeitung von Informationen (Ton, Bild, Text, Software) mit einer einzigen universellen Sprache zu, einer Art Esperanto der Kommunikationsmaschinen“ (de Rosnay 1997, S. 93). Es entwickle sich „eine neue Kommunikationssprache für das 3. Jahrtausend, und Multimedia ist ihr Medium“ (ebd., S. 96). Rosnay fasst dies unter dem Begriff Unimedia zusammen, die Schnittstelle der Integration bilden digitale Netzstrukturen.

Abb. 2: Unimediale Vernetzung (Rosnay 1997, S. 96)

So findet eine Integration verschiedener Kommunikationsweisen in ein interaktives Netzwerk statt, „die Herausbildung eines Hypertextes und einer Meta-Sprache, die sich erstmals in der Geschichte der schriftlichen, oralen und audiovisuellen Spielarten der menschlichen Kommunikation in dasselbe System integrieren“ (Castells 2001, S. 376). Intermedialität und funktionale Abstimmung unterschiedlicher Ein-

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 Peter Schlobinski

zelmedien bilden das Fundament der Integration und Hybridisierung. Dies findet seinen Niederschlag im Konzept von Hypermedia, in dem Bild, Ton und Schrift integral und durch Linkstrukturen vernetzt aufeinander bezogen sein können. Die Vernetzung von physischen und virtuellen Objekten mit dem Internet oder anderen Informations- und Kommunikationstechnologien, damit diese Gegenstände über diese Technologien miteinander kommunizieren können, ist mit dem Schlagwort „Internet der Dinge“ (Internet of Things, IoT) verbunden, und verschiedene Innovationen wie selbstfahrende Autos, Smart Home, Smart City, Gesundheits-Apps, digitaler Handel spielen in der gegenwärtigen Vernetzungsphase (vgl. 5G) eine wichtige Rolle und verändern nicht nur die Arbeitswelt. Die grundlegenden Aspekte dieser Art von Vernetzung hat der Informatiker Mark Weiser in seinem visionären Beitrag The Computer for the 21st Century von 1991 unter dem Begriff Ubiquitous Computing herausgearbeitet. Seine Vision war die Vernetzung von allem und jedem: Hundreds of computers in a room could seem intimidating at first, just as hundreds of volts coursing through wires in the walls did at one time. But like the wires in the walls, these hundreds of computers will come to be invisible to common awareness. People will simply use them unconsciously to accomplish everyday tasks. (Weiser 1991, S. 2)

Und: In addition to showing some of the ways that computers can find their way invisibly into people’s lives, this speculation points up some of the social issues that embodied virtuality will engender. Perhaps key among them is privacy: hundreds of computers in every room, all capable of sensing people near them and linked by high-speed networks, have the potential to make totalitarianism up to now seem like sheerest anarchy. Just as a workstation on a local-area network can be programmed to intercept messages meant for others, a single rogue tab in a room could potentially record everything that happened there. (Ebd., S. 7)

Das Problem der Vernetzung im Hinblick auf die Privatsphäre wird in Kapitel 5 tangiert.

3  Zur Geschichte der Internetlinguistik Zu Beginn der Forschung „in den Neuen Medien (zunächst: Web 1.0) war der Blick auf die unterschiedlichen Kommunikationspraxen und ihre sprachlichen Realisierungen gerichtet“ (Runkehl 2018, S. 234). In den ersten systematischen, korpusbasierten Untersuchungen (vgl. Kap. 1) steht die strukturfunktionale Analyse linguistischer Merkmale spezifischer Kommunikationsformen im Vordergrund. In



Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

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unseren Untersuchungen von 1998 (Runkehl/Schlobinski/Siever 1998) wurden E-Mail-Kommunikation, Chatkommunikation (IRC, AOL-Chat, Webchat), Kommunikation in Newsgroups sowie in MUDs untersucht. Dabei wurden bestimmte Merkmale wie Rückkopplungseffekte aus der gesprochenen Sprache (ham statt haben, ne statt eine, ma statt mal ), Inflektive und Inflektivkonstruktionen (*umklopp*, *am boden liegen seh*) oder der Gebrauch graphostilistischer Mittel wie Smileys genauer analysiert (vgl. Abb. 3).



B. du bespringst C ?





E: tut mir leid, keine ahnung



* B

findet ihr mirc eigentlich ganz gut..



*** Signoff: F (Leaving)





A willste auchma *anspring*



* [G]

mag sein ircII auch





G *gratulier*





B: ahem



*** I has left channel #berlin







G, was fuer fiese sachen kann denn dieses ulkige lice script dingsda?



* [G]

muss mal ebend drauf hinweisen..morgen schreiib ich ne klausur





C: ?? Nix fieses





B: kann ich mich noch auf den beinen halten, wenn du springst ?



* [G]

nutzt keine fiesen skripte





G, und was fuer feines kann es? :)





B, *abprallen lass*





B, *am boden liegen seh*





C: alles!:)





B *umklopp*

oh H hoi

Abb. 3: Ausschnitt aus dem IRC9 (Runkehl/Schlobinski/Siever 1998, S. 110)

Am Beispiel der Smiley-Analyse – japanische Smileys wie (^_^) wurden zum damaligen Zeitpunkt in deutschen Chats nicht verwendet, Emojis gab es noch nicht – lassen sich Fragestellungen und Vorgehensweise exemplifizieren. Auf der Basis

9 Nicknamen sind durch Großbuchstaben ersetzt. IRC (Internet Relay Chat) ist vielen heute unbekannt und das Beispiel wird vielen auch als ungewöhnlich erscheinen; am bekanntesten ist heute der IRC-Client für Windows namens mIRC. Eine aktuelle Untersuchung auch zu IRC findet sich in Mostovaia (2018).

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 Peter Schlobinski

eines Chatkorpus wurden Smileys mit ihren Varianten quantifiziert (Abb. 4), hinsichtlich der Position im Chatbeitrag bestimmt und in Bezug auf die kommunikative Funktion analysiert.

Abb. 4: Smiley-Verteilung in Chats (Runkehl/Schlobinski/Siever 1998, S. 97)

Die Smileys standen in der Regel am Ende eines Chatbeitrages, isolierter Gebrauch oder initiale Position waren kaum belegt. Gegenüber damaligen Smileylisten, bei denen die Bedeutung eines Smileys allein aus der Ikonografie abgeleitet wurde, „was nur eine äußerst begrenzte Analyse zulässt, muss (vielmehr) die konkrete Verwendungsweise hinzugezogen werden“ (Runkehl/Schlobinski/Siever 1998, S.  97). Die Gebrauchsanalyse ergab, dass zwei grundlegende Funktionen mit dem Gebrauch von Smileys verbunden sind: eine expressive, insbesondere emotive Funktion und eine evaluative. Neben diesen beiden Basisfunktionen konnte eine weitere, eine kommunikativ-regulative Funktion identifiziert werden, bei der die Smileys als eine spezifische Art von Adressatenhonorifikation fungieren (siehe ebd., S. 98) Seit den ersten Analysen, beginnend Mitte der 1990er Jahre, hat es eine Flut von Untersuchungen und Publikationen gegeben. In unserem Portal http://mediensprache.net haben wir allein 3.700 Publikationen zur digitalen und mobilen Kommunikation aufgenommen, und die Erfassung ist bei Weitem nicht vollständig. Bei der Ausdifferenzierung des Forschungsparadigmas bis hin zu einem relativ



Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

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fest umrissenen Paradigma, nämlich dem der Internetlinguistik als „eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung der Sprachverwendung in Abhängigkeit von der spezifischen Online-Umgebung beschäftigt“ (Wikipedia10), lassen sich interessante Prozesse beobachten. 1. Bestehende Kommunikationsformen werden unter neuen Aspekten untersucht. Chatkommunikation ist die bestuntersuchte Kommunikationsform. Gegenüber strukturfunktionalen Analysen (s.o.) wurden stärker pragmatische Aspekte wie Handlungskoordinationen (Beißwenger 2007) oder interaktionale Phänomene (Günthner 2011) untersucht. Insgesamt lässt sich feststellen, dass einzelne Aspekte tief und detailliert untersucht wurden, andererseits ist eine deutliche Verschiebung der Analysen in Richtung Pragmatik und speziell im Hinblick auf dialogische Strukturen zu beobachten sowie eine Hinwendung zu textlinguistischen Strukturen und Formen und Praxen des Schreibens, wie allein ein Blick in die empfehlenswerte Einführung von Marx/Weidacher (2014) zeigt. 2. Mit dem Aufkommen neuer Kommunikationsformen werden linguistische Ana­ lysen auf diese ausgeweitet; Beispiel hierfür sind die zahlreichen Analysen zu SMS-Beiträgen und WhatsApp-Postings.11 3. Kommunikationsformen werden miteinander verglichen, z.B. SMS- mit WhatsApp-Beiträgen (Dürscheid/Frick 2014) und IRC mit WhatsApp (Mostovaia 2018); auch Kommunikationssysteme/-formen werden kontrastiert, z.B. Telefon vs. Chat (Polotzek 2001). 4. Einzelne Kommunikationsformen oder einzelne linguistische Phänomene werden sprach- und kulturvergleichend untersucht. So wurden in einem internationalen Projekt Mikroblogs, speziell Tweets, aus der Perspektive von zehn Sprachen und elf Ländern hinsichtlich unterschiedlicher linguistischer Variablen und Parameter analysiert (Siever/Schlobinski (Hg.) 2013), in einem weiteren Projekt Nicknamen in Sozialen Medien in 14 Sprachen (Schlobinski/ Siever (Hg.) 2018). 5. Fragestellungen aus anderen linguistischen Teilgebieten werden übertragen bzw. integriert. Paradebeispiel ist die quantitativ und qualitativ angelegte Untersuchung von Siebenhaar (2005), in der soziolinguistische Fragestellungen verfolgt werden, indem in Schweizer Chaträumen das Neben- und Miteinander von Standardsprache und Dialekt im Hinblick auf Code-Alternation und Code-Switching analysiert wird. Weiter ergeben sich soziolinguistische

10 http://de.wikipedia.org/wiki/Internetlinguistik (Stand: 7.2.2019). 11 Siehe u.a. www.sms4science.org, www.whatsup-switzerland.ch sowie www.mediensprache. net/networx (Stand: 7.2.2019).

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 Peter Schlobinski

Aspekte im Zusammenhang mit Social-Media-Plattformen. Im Rahmen der Forschungen zu multimedialen, multimodalen und hypertextuellen Eigenschaften wurden medienlinguistische Ansätze von der Internetlinguistik aufgenommen,12 so bei Text-Bild-Analysen (C.M. Siever 2015). Auf der methodisch-empirischen Ebene wurden die Untersuchungen ausgeweitet und partiell vertieft. Auffällig ist, dass es nur wenige diachrone Untersuchungen (siehe aber z.B. Siebenhaar 2018; Henn-Memmesheimer/Eggers 2010; in Kap. 4 dazu mehr) und Big-Data-Analysen vorliegen. Während in den letzten zwei Jahrzenten viele Daten geschürft und analysiert wurden, ist auf der theoretischen Ebene, auf der Ebene von Modellbildungen, wenig zu verzeichnen. Zwar wurden Begriffe/Konzepte kontrovers diskutiert – so der Begriff Emoticon und welche Phänomene darunter zu fassen sind (wie Inflektive) – und neue Begriffe eingeführt – wie „Keyboard-to-screen Communication (KSC)“ (Jucker/Dürscheid 2012) oder jüngst „Wikipedistik“ (Gredel in diesem Band)13 –, übergeordnete theoretisch fundierte Überlegungen oder Modellbildungen stehen jedoch aus. Aus meiner (heutigen) Sicht bestehen Desiderata in der Internetlinguistik 1. auf der theoretischen Ebene, 2. auf der Ebene der Methodik und Empirie und 3. in Hinsicht auf den Anschluss an die anwendungsbezogenen Wissenschaften (Informatik/KI-Forschung).

4  Desiderata in der Internetlinguistik Vielen Arbeiten, die in der Internetlinguistik entstanden sind, merkt man das enthusiastische Interesse an digitalen Kommunikationsformen und die Freude an den Analysen recht unterschiedlicher Phänomene an. Auch die Entdeckung des ‚Neuen‘ wie z.B. WhatsApp (2009 gegründet) oder Twitter (2006 gegründet) spielte für durchgeführte Projekte eine große Rolle. Demgegenüber sehe ich ein Defizit im Hinblick auf übergeordnete theoretisch fundierte Fragestellungen und Überlegungen im Sinne von Gedankenexperimenten oder Modellbildungen. Eine entsprechend deduktiv orientierte Vorgehensweise erscheint unter verschiedenen Aspekten sinnvoll. 1. Aus theoretisch formulierten Modellen können Leithypothesen für empirische Untersuchungen gewonnen werden; zudem können 2.  empirische Ergebnisse zur Überprüfung der Modelle an diese rückgebunden werden mit 3. dem

12 Dies hat auch zum Ansatz einer eigenständigen Bildlinguistik (Diekmannshenke/Klemm/ Stöckl (Hg.) 2011) bzw. Bild-Linguistik (Große 2011) geführt. 13 Es sei der Begriff „Tweetologie“ als Spezialgebiet der „Mikroblogistik“ (Teilgebiet der „Blogistik“) angemerkt.



Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

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Ziel, z.B. Entwicklungen von Kommunikations- und auch Sprachwandelprozessen besser prognostizieren zu können. In Verbindung mit sich neu entwickelnden Forschungsansätzen und Anwendungen könnte 4.  die Internetlinguistik direkt an neueren Entwicklungen beteiligt und nicht auf die Rolle einer den (technologischen) Innovationen hinterherhinkenden Wissenschaft reduziert werden. An zwei Gedankenexperimenten soll eine deduktive Vorgehensweise illustriert werden. Ausgangspunkt der ersten Überlegung bildet die Annahme, dass 100 unter­ schiedliche Zeichen zur Verfügung stehen: 50 ASCII-Zeichen und 50 Bildzeichen (BZ), u.z. Smileys/Emojis. Mit diesen können Texte bis zu einer Länge (L) von maximal 100 Zeichen geschrieben werden. Damit gibt es mehr Zeichen-Kombinationen als Atome im Weltall, nämlich 100100. Wir gehen von folgendem Theorem aus: ‚Ein Bild sagt mehr als tausend Worte‘. Oder präzisiert: Je syntaktisch dichter ein Zeichen ist, desto höher ist seine Semantizität. Der Begriff syntaktische Dichte stammt von dem Philosophen Nelson Goodman (1968), um Bildzeichen von Symbolen zu unterscheiden. Bildzeichen können nicht buchstabiert werden und sind im Gegensatz zu einem Alphabetzeichen weder syntaktisch disjunkt noch differenziert, es bestehen keine klaren syntaktischen Kompositionsprinzipien. Sie sind in der Definition von Nelson Goodman ‚syntaktisch dicht‘. Goodman (ebd., S. 136) definiert syntaktische Dichte wie folgt: „A scheme is syntactically dense if it provides for infinitely many characters so ordered that between each two there is a third.“ Ein Bereich von Entitäten ist also syntaktisch dicht, wenn zwischen zwei beliebig gewählten Zeichen stets ein drittes liegt. Die rationalen Zahlen sind in diesem Sinne dicht geordnet. In einem nicht bzw. weniger syntaktisch dichten System sind Zeichen hingegen als Klassen disjunkt und differenziert. Das Foto eines brennenden Hauses hat auf der Folie dieses Ansatzes einen anderen Zeichenstatus als der Satz Das Haus brennt. In dem Satz ist das Zeichen Haus als Element eines syntaktisch disjunkten Symbolschemas von Maus oder Hass eindeutig unterscheidbar. Anders das Bild: Dieses lässt sich nicht so leicht individuieren und man kann stufenweise das Dach verändern, Türen und Fenster einfügen oder entfernen, d.h., viele Klassen von Eigenschaften, die das Bild des Hauses ausmachen, gehen ineinander über. Ein Bildzeichen ist also definiert, dass es zu einem System mit syntaktisch dichtem Symbolschema gehört, z.B. in Bezug auf farb­ liche Aspekte, hinsichtlich der Größe etc. Wenden wir dies zunächst auf Piktogramme an. Piktogramme wie    oder oder :-) scheinen eine gewisse Nähe zu sprachlichen Zeichen zu besitzen. Sie haben zwar eine relativ geschlossene Bedeutung, sind aber gegenüber z.B. einem Porträtfoto schematisch, indem charakteristische Züge akzentuiert sind. Während das erste Piktogramm durch Fülle gekennzeichnet und insofern syntaktisch dichter ist als das zweite und dritte, besteht der Smiley :-) aus Zeichen des deutschen orthografischen Systems, wobei bedeutungstragende



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 Peter Schlobinski

Bestandteile isoliert werden können, man denke an :-))). Aber: Wer in dem Smiley die Alphabetzeichen sucht, versteht den Smiley nicht als Smiley. Die Bedeutung des Smileys, seine Funktion, liegt – mit Bezug auf Wittgenstein – in Sprachspielen bzw. Zeichenspielen, genauer: in einem Bildzeichenspiel. Und nur wer in der Lage ist, dieses Spiel zu spielen, wird den Smiley als Smiley und nicht als Folge der Zeichen Doppelpunkt, Bindestrich und runde Klammer verstehen können. Ausgehend von diesen Überlegungen lässt sich das Postulat aufstellen, dass Bildzeichen (BZ) wahrscheinlicher auftreten, je kürzer ein (semantisch sinnvoller) Text ist. Wenn ein Text genau aus einem Zeichen besteht, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass dieses ein BZ und nicht ein ASCII-Zeichen ist. Wenn L → 1 Z, dann P(BZ14) > P(ASCII-Z). Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass in Mikro-Messaging-Systemen (SMS, Tweets) eine höhere Wahrscheinlichkeit an Bildzeichen besteht als in Langtext-Systemen (Blogs). Auch wenn dies nicht systematisch untersucht ist, so scheinen Analysen von Mikrotexten dies zu bestätigen. Im zweiten Gedankenexperiment soll es um die Ausbreitung von Zeichen im Internet gehen, wobei wir an ein Virus-Modell anknüpfen. Digitale Botschaften können sich effizient und schnell wie ein ‚Virus‘ über digitale Kommunikationsnetze verbreiten. Wir gehen vom WWW aus und betrachten dieses als ein dynamisches Netzwerk. Das Bildzeichen tritt zu einem bestimmten Zeitpunkt ti von der analogen Welt in die digitale ein und verbreitet sich dort viral über die Interaktionsnetze, die Kommunikationsformen zugrunde liegen (siehe Abb. 5). Die Verbreitung erfolgt aber nicht ungehindert und in gleicher Geschwindigkeit, sondern es gibt ‚Infektionsbarrieren‘. Wir gehen von der Annahme aus, dass in Formen der Kommunikation, in denen standardschriftsprachliche Normen hohe Geltung haben, diese Barrieren bilden, die die Ausbreitung eines Bildzeichens wie oben blockieren. Allgemein formuliert: Die Wahrscheinlichkeit, dass Bildzeichen in Formen der Kommunikation mit hoher schriftstandardsprachlicher Geltung auftreten, ist signifikant geringer als in jenen mit entsprechend geringer Geltung. In Abbildung 5 sind zwei Kommunikationsformen angenommen, deren Infektionsbarrieren unterschiedlich stark sind (ausgedrückt durch die Kurven); in KF1 ist die Barriere höher als in KF2 und somit werden sich dort deutlich weniger Bildzeichen durchsetzen als in KF2.

14 P(🙂) > P(:-)).

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Abb. 5: Infektionsbarrieren-Modell

Aus der Perspektive der Vernetzung betrachtet, wird an einem bestimmten Knotenpunkt (in KF2) mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Bildzeichen realisiert als an einem anderen Knotenpunkt (in KF1). Eine konkrete Hypothese kann lauten, dass Chatkommunikation für Bildzeichen durchlässiger ist als in Kommentaren auf Nachrichtenportalen wie FAZ.net. Empirisch kann man diese Hypothese in unterschiedlicher Art und Weise prüfen. Gängig ist 1.  die Erhebungsmethode nach Saussure’schen Schnitten, interessanter und adäquater sind allerdings 2.  Netzwerkanalysen, die in der Informatik und bei Big-Data-Analysen eine große Rolle spielen, in der Internetlinguistik bisher allerdings nicht. Bei der Methode der Saussure’schen Schnitte wird/werden zu einem bestimmten Zeitpunkt ti ein Korpus oder mehrere Korpora erhoben und dieses bzw. diese werden bezüglich ausgewählter Parameter untersucht. In diachroner Perspektive, die wie gesagt in der Internetlinguistik bisher kaum eingenommen wurde, werden Korpora an mindestens zwei Zeitpunkten ti, tj erhoben, und über eine Vergleichsanalyse der Korpora wird auf die zeitliche Entwicklung eines bestimmten Phänomens geschlossen. Die Untersuchungen von Henn-Memmesheimer/Eggers (2010) zu netzspezifischen Formen und die von Zimmer (2018) sowie T. Siever (2015) zu Wortkarrieren sind hier einschlägig. In der Untersuchung von Henn-Memmesheimer/Eggers geht es um Inflektive und verwandte Formen (grins, frechgrins, *g* oder *gg* usw.). Anhand von Korpusanalysen aus den Jahren 2002, 2004, 2007 und 2009 wird u.a. gezeigt, dass die Varianten insgesamt zunehmen, ab 2007 steht eine große Zahl von Varianten nebeneinander. Auf der anderen Seite ist der Rück-

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 Peter Schlobinski

gang zentraler Elemente der Chat-internen Konventionen von 2002 an akronymischen Syntagmen quantitativ belegt; die konkrete Variante *gg* nimmt konstant ab (Abb. 6). Über die untersuchten Jahre hinweg konnte auch generell ein Rückgang von mit Sternchen versehenen Einheiten festgestellt werden.

Abb. 6: Entwicklung der Abkürzung *gg* in der Chatkommunikation (Henn-Memmesheimer/ Eggers 2010, S. 22)

Anhand einer Teilkorpusanalyse (a) des DEREKO-Korpus (Archiv W)15 und (b) einer Korpusanalyse des ZEIT-Korpus des DWDS konnten (a) Zimmer (2018) und (b) T. Siever (2015) den Verlauf der grammatischen Integration des Anglizismus Internet an der Genitiv-Markierung über zwei Jahrzehnte nachzeichnen (Abb. 7a,  b). Die Analyse von Zimmer (siehe Abb. 7a) zeigt eine exponentielle Abnahme der -Ø-Form (mit kleinen Ausschlägen). Die Form Internet ist demnach morphologisch voll ins Deutsche integriert worden und hat den Wechsel vom Fremd- zum Lehnwort vollzogen. Auch nach der Analyse von Siever ist die morphologische Integration abgeschlossen (siehe Abb. 7b), allerdings liegt ein Sprung von über 40 Prozent zwischen 2004 und 2005 vor. Dieser Quantensprung bei der Integration im Jahr 2005 ist vermutlich durch das Inkrafttreten der Rechtschreibreform (am 1.8.2005) und der damit bereits im Vorfeld verbundenen Aufmerksamkeit auf Schreibungen motiviert; es wäre hier interessant, eine Umfrage in der ZEITRedaktion durchzuführen.

15 www.ids-mannheim.de/cosmas2/projekt/referenz/archive.html (Stand: 21.3.2019).

Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

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Abb. 7a: Entwicklung des Genitivs von Internet (Zimmer 2018, S. 136)

Abb. 7b: Entwicklung des Genitivs von Internet (T. Siever 2015, S. 56)

So interessant und verdienstvoll die Analysen von Henn-Memmesheimer/Eggers sowie Zimmer und Siever sind, es wäre sicherlich von Interesse, genauere, feinere Analysen durchzuführen. Wie sind die Interaktionsverläufe der User/innen im Chat in Bezug auf Inflektive und akronymische Syntagmen? Wie verlief die Genitivkennmarkierung bzw. die Integration von Internet in den Sozialen Medien und sind die Ergebnisse den Zeitungskorpusanalysen vergleichbar? Die Analyse von Kommunikations- und sprachlichen Strukturen im Netz, besonders in Social Media, bietet völlig neue Perspektiven, da erstmalig über

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 Peter Schlobinski

große Datenmengen Interaktionsstrukturen und Gruppenprozesse in einer Feinheit analysiert werden können, wie es bisher nicht möglich war. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Analysen zur sprachlichen Variation und zum Sprachwandel; entsprechende internetlinguistische Studien stehen allerdings bis dato aus. In ihrer Studie zur Entstehung und Evolution spezifischer Konventionen in sozialen Onlinenetzwerken am Beispiel Twitter untersuchten Kooti et al. (2012), wie Retweet-Varianten entstehen und sich durchsetzen. Da Retweets durch @ markiert sind, geht es um den linken Kotext vom At-Zeichen (via @xxx, RT @xxxx, Retweet @xxx etc.). Datengrundlage bildete ein Korpus von 1,7 Milliarden öffentlichen Tweets aus den Profilen von 52 Millionen Nutzer/innen im Zeitraum zwischen 2006 und 2007. Die Verfasser/innen zeigen im Detail vom ersten Aufkommen einer Variante (via) an, wie diese und andere Varianten sich ausbreiten. So finden sie u.a. heraus, dass die früh gebrauchte und am 16.3.2007 entstandene Variante via sich wesentlich weniger stark durchsetzt als die Abkürzung RT für ‚Retweet‘, obwohl diese erstmalig am 25.1.2008 gebraucht wurde. Sie weisen nach, „that the early adopters of the retweeting convention are active and innovative users, who explore more features provided by Twitter than the average user“ (ebd., S. 198). Das Interaktionsnetzwerk wurde ausschnittsweise berechnet (für die ersten 500 Adopters) und grafisch veranschaulicht (Abb. 8).

Abb. 8: Diffusionsnetzwerk der ersten 500 Adopters bzgl. RT (Kooti et al. 2012, S. 198)



Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

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Über eine Big-Data-Analyse können im Hinblick auf linguistische Parameter auf der einen Seite komplexe Netzstrukturen, auf der anderen Seite auf der Basis von Clusteranalysen Gruppenprozesse analysiert werden. Hierin liegt meiner Meinung nach ein zukunftsweisender Wendepunkt für die Internetlinguistik, denn „Interaktionen im Internet [können] nahezu vollständig erfasst werden und [bieten] somit einen idealen Gegenstand für die Untersuchung sprachlicher Interaktionen überhaupt“ (Lobin 2018, S. 133). Wir wissen aus der Variations- und Sprachwandelforschung, wie schwierig, ja, nahezu unmöglich es ist, Wandelprozesse in komplexen Systemen wie Sprachgemeinschaften nachzuverfolgen. So ist es ein notorisches Problem in der Jugendsprachforschung, die Entwicklung und den Verlauf von lexikalischen Varianten nachzuvollziehen. Analysen digitaler Netzstrukturen ermöglichen die Rekonstruktion von detaillierten Diffusionsprozessen; sichtbar gemacht werden kann zumindest, wie die oft zitierte ‚unsichtbare Hand‘ arbeitet. Mit Verfahren der Netzwerkanalyse wird auch ein im Hinblick auf Untersuchungen des Sprachwandels hervorragend geeignetes und bislang kaum berücksichtigtes Datenreservoir erschlossen. Vor diesem Hintergrund steht zu erwarten, dass die Analyse sprachlicher Netzwerke eine erhebliche Bedeutung für einen diachronic turn der Linguistik haben dürfte (Mehler et al. 2010, S. 424)

– der Turn steht allerdings immer noch aus. Im Jahr 2012 haben wir in Hannover die Idee verfolgt, Netzwerkuntersuchungen u.a. im Usenet im Hinblick auf linguistische Diffusionsprozesse durchzuführen.16 Das Usenet, ein Internetdienst neben dem WWW, bietet den Vorteil, dass 1. Daten bis in die 1980er Jahre vorliegen, 2. das umfangreiche Archiv leicht zugänglich ist und 3. bzgl. lexikalischer Einheiten (Fachjargonismen) in einzelnen Newsgroups interessante Lemmata vorliegen. Anhand eines Newsgroup-Probenkorpus wurden erste Erhebungen der Netzwerkstruktur von sprachlichen Einheiten in einem sozialen Netz durchgeführt. Dabei wurde u.a. exemplarisch die Verteilung von Smileys auf der Folie der Interaktionsstruktur in einer Newsgroup abgebildet. Die Daten konnten automatisch ausgewertet (Posting) und als Punkt-Diagramm (Abb. 9) dargestellt werden. Ein einzelner Punkt im Diagramm stellt ein Posting dar, das zu einer bestimmten Zeit von einem bestimmten Nutzer oder einer bestimmten Nutzerin gepostet wurde. Die X-Achse zeigt dabei den Zeitpunkt an und die Y-Achse die sendende Person (unique user). Mithilfe von Pfeilen kann die Beziehung zwischen zwei Postings dargestellt werden. In Abbildung 9 werden die References

16 Pilotprojekt von Linguist/innen (Gruppe Schlobinski), Informatiker/innen (Gruppe Nejdl vom L3S Research Center) und einem theoretischen Physiker (Raoul-Martin Memmesheimer), der für die Netzwerkmodellierung zuständig war. Das geplante Hauptprojekt wurde von der DFG abgelehnt.

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 Peter Schlobinski

genutzt. Ein Pfeil zeigt von Punkt A nach Punkt B, wenn das Posting von Punkt B sich mit auf das Posting von Punkt A bezieht. Zum Beispiel beziehen sich zwei Postings (von User_Id 10 und 25) auf das vorausgegangene Posting des Nutzers mit der User_Id 15.

Abb. 9: Darstellung der Beziehungen zwischen Postings mithilfe von References

In einer Darstellung als Netzwerk können entweder die einzelnen Personen (User_ IDs) oder die Smileys im Text als Knoten angenommen werden. Kanten können bspw. References sein, da durch sie eine Adressierung des Postings erfolgt. Die Interagierenden innerhalb des Netzwerks scheinen sich im Sinne eines interaktiven Alignments mit dem Gebrauch von Smileys ‚anzustecken‘, wie man es aus der Virusforschung kennt (s.o.). Als Ausgangspunkt können zunächst alle möglichen Interagierenden als verbunden angesehen werden. Innerhalb einer Newsgroup ergibt sich dann ein voll verbundenes Netzwerk. Eine andere Möglichkeit ist es, die Kanten aus früheren Interaktionen zu gewinnen. Damit sind nur effektive oder bestätigte Interagierende verbunden. Die Interaktionen können dabei sehr unterschiedlich markiert sein: z.B. durch References, Adressierungen oder Quotings. Das Kantengewicht kann davon abhängig gemacht werden, wie oft eine Interaktion stattfand, ebenso kann eine Interaktions- und entsprechend eine Kantenrichtung abgeleitet werden. Es ergibt sich ein gewichtetes und gerichtetes Netzwerk, welches als Grundlage für eine dynamische Modellierung der sprachlichen Interaktionen dient. Hierfür sollte im Speziellen und müsste im Allgemeinen ein Suchalgorithmus verwendet werden, mit dem 1. linguistische Formen in einer Netzwerkstruktur zum Ursprung zurückverfolgt werden können, wobei die Pfade skalierbar sein sollten, 2. linguistische Formen in einer Netzwerkstruktur zeitlich abgebildet



Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

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werden können, 3. linguistische Formen in Abhängigkeit voneinander in Netzwerkstrukturen abgebildet werden können, 4. linguistische Formen in Abhängigkeit von anderen Parametern (User, Gruppen, Metadaten) dargestellt werden können und 5. Einschränkungen auf spezifische Parameter wie Sprache, Domäne etc. festgelegt werden können. Das aus den Daten gewonnene statische Interaktionsnetzwerk bildet dann die Grundlage für ein Modell, in dem Kommunikationsbeiträge oder Elemente (Smiley, Neologismus etc.) als Pulse modelliert werden. Ausgangspunkt der Überlegungen bildeten hierfür die sog. Hawkes-Prozesse (Hawkes 1971a, b). Für weiterführende Überlegungen zu Netzwerkanalysen sei der Sammelband von Mehler et al. (Hg. 2016) empfohlen. Trotz der zunehmenden Bedeutung von Netzwerkanalysen im Bereich der Informatik, der Soziologie (vgl. Stegbauer in diesem Band und Stegbauer 2016) und bei der Analyse von Social Media seitens der Digitalkonzerne (mehr in Abschnitt 5), stehen entsprechende Untersuchungen in der Internetlinguistik bislang aus. Es gibt einen dritten Punkt, der bisher in der Internetlinguistik zu wenig berück­ sichtigt wurde, der mit der Entwicklung von Künstliche-Intelligenz-Systemen als Basis für gesprochensprachliche Mensch-Maschine-Kommunikationen und Textbots zusammenhängt. Was wir in den letzten Jahren beobachten, ist eine rasante Zunahme von Sprachassistenzsystemen sowie anderer vergleichbarer Bots. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2014 von Google (N = 1.400)17, nutzen in den USA 55 Prozent der Teenager und 41 Prozent der Erwachsenen mehr als einmal pro Tag eine sprachgesteuerte Suche, was zeigt, dass die Kommunikation mit Sprachassistenzsystemen immer selbstverständlicher wird. Diese Entwicklung ist verbunden mit neuen und immer erfolgreicheren Entwicklungen in der KI-Forschung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren linguistische KI-Expertensysteme letztlich Modelle des Typs Eliza, jenes 1966 von Joseph Weizenbaum entwickelten Computerprogramms (siehe Abb. 10), das nach dem Prinzip funktioniert, dass nur das ausgegeben werden kann, was einprogrammiert ist, und das vom Bestehen des Turing-Tests weit entfernt ist.

ELIZA:

How do you do. Please tell me your problem.



PS:

I have no problem.



ELIZA:

Why ‘no’ ?



PS:

Because I am happy.



ELIZA:

Can you explain why you are suddenly happy ?



PS:

the sun is shining.

17 www.seo-suedwest.de/876-erwachsene-schaemen-sich-oft-sprachsteuerung-studie.html (Stand: 9.2.2019).

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 Peter Schlobinski

ELIZA:

Does talking about this bother you ?

PS:

No

ELIZA:

Are you saying no just to be negative?

PS:

No, I answered your question.

ELIZA:

You are being a bit negative.

PS:

Fuck off.

ELIZA:

Do you feel strongly about discussing such things ?

Abb. 10: Peter Schlobinski im Test mit Eliza1⁸

Lotze (2016) hat in ihrer Dissertation fortgeschrittene Lingubot-Varianten des Typs Eliza untersucht und insbesondere die menschliche Interaktion mit dem jeweiligen System (Human computer interaction, HCI) in den Untersuchungsfokus gestellt. Hier spielt das sog. Alignment eine wichtige Rolle. So konnte Lotze u.a. zeigen, dass zwar syntaktische Persistenzen um 20 Prozent weniger häufig auftreten als lexikalische und dass in der HCI deutlich weniger syntaktisches Alignment zu beobachten ist als in der Mensch-Mensch-Interaktion (siehe Abb. 11). Dass aber syntaktisches Alignment „überhaupt in der HCI beobachtet werden kann, ist ein starkes Argument für vorbewusste Priming-Mechanismen in der Interaktion mit dem artifiziellen Gegenüber“ (ebd., S. 260).

Abb. 11: Syntaktisches Alignment gemäß Lotze (2016, S. 261)

18 www.masswerk.at/elizabot (Stand: 16.2.2019).



Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

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Die Arbeit von Lotze zeigt, wie aufwendig HCI-Untersuchungen sind und wie schnell Untersuchungen von technologischen Entwicklungen überholt werden können. Mit der Entwicklung von KI auf Basis künstlicher neuronaler Netze seit der Jahrtausendwende, wurden und werden im Hinblick auf spezifische Aufgaben enorme Erfolge erzielt. Künstliche neuronale Netze (KNN) sind von biologischen Nervennetzwerken inspiriert und ‚lernfähig‘, weshalb auch der Begriff Deep Learning auf sie angewendet wird. Zwei Lernstrategien sind in der Praxis besonders erfolgreich: 1. unüberwachtes Lernen (unsupervised learning) und 2. bestärkendes Lernen (reinforcement learning). Beim unüberwachten Lernen versucht das KNN Muster in den Eingabedaten zu erkennen, beim bestärkenden Lernen hingegen kommt das Netz ohne jede Trainingsdaten aus. In der Google-Suche kommen KNNModelle zur Anwendung, sodass Abfragen der folgenden Art möglich sind: „Hey Google, wer betrat als erster Mensch den Mond?“ − „Das war Neil Armstrong.“/ „Und wann war das?“ − „1969.“ (Mensch − Google Assistant). Bei Deep-LearningChatbots können sich unerwünschte Nebeneffekte einstellen, wie sich 2016 bei Tay zeigte, einem KNN-Chatbot von Microsoft. Diese sollte im Netz (unüberwacht) lernen, wie junge Menschen kommunizieren, und wurde mit TwitterDaten von 18- bis 24-Jährigen trainiert. Tay wurde nach einem Tag abgeschaltet, da das System auch antifeministische, rassistische und hetzerische Tweets produzierte (Abb. 12).

Abb. 12: Tay-Posting auf Basis unüberwachten Lernens19

19 http://thehackernews.com/2016/03/artificial-intelligence-bot.html (Stand: 25.3.2016).

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 Peter Schlobinski

Abb. 13: Generierte Nachrichtensprecherin der Nachrichtenagentur Xinhua20

In der Interaktion mit ‚Personae‘ auf Social-Media-Plattformen können wir nicht mehr sicher sein, ob wir mit Menschen oder Bots kommunizieren. Die Diskussionen um Fakes und Einflussnahmen im Wahlkampf oder Bot-Influencer im Bereich von Dienstleistungen und des Marketings reflektieren diese Entwicklung. Die NonprofitForschungseinrichtung OpenAI hat ein KI-Modell namens Gpt2 entwickelt, welches menschliche Sprache analysieren und dann Texte so gut verfassen kann, dass die Wissenschaftler und die Wissenschaftlerin das Programm nicht öffentlich machen wollten. Ihre Befürchtung: Das System „könnte dazu genutzt werden, um kostengünstig Fake News zu verfassen, die Identität von Nutzern in Gesprächen zu imitieren oder die Produktion und Distribution von Spam oder Fake-Inhalten in sozialen Netzwerken zu automatisieren.21“ Das Grauen, das den Historiker Niall Ferguson bei der Vorstellung überfällt, was passieren mag, wenn KI dazu führt, dass gefälschte und echte News nicht mehr zu unterscheiden sind,22 ist bereits nicht mehr an dystopische Fantasien gebunden, sondern hat sich angesichts der realen Entwicklungen bereits eingestellt. Die Diskussionen um Pseudonymität, Identität und Authentizität aus den 1990er-Jahren (Döring 1999) erfahren durch ubiquitäres

20 http://futurezone.at/digital-life/in-china-ersetzen-roboter-nachrichtensprecher/400426244 (Stand: 6.3.2019); vgl. dort auch den Videomitschnitt. 21 http://t3n.de/news/ki-textgenerator-fuer-zu-gefaehrlich-gehalten-openai-1144246 und http:// d4mucfpksywv.cloudfront.net/better-language-models/language-models.pdf (Stand: 16.2.2019). 22 Interview in Die Zeit vom 14.2.2019, S. 20.



Sprache, Kommunikation und digitaler Wandel 

 25

Datenschöpfen und die Entwicklung von KI-Assistenzsystemen eine neue und brisante Aktualität. Die von der chinesischen Nachrichtenagentur auf der Basis von KI für Mimik, Gestik und Sprachausgabe eingesetzte generierte Nachrichtensprecherin (Abb. 13) ist von einer natürlichen Nachrichtensprecherin kaum zu unterscheiden. iFlytek, Chinas Unternehmen Nummer eins bei der Spracherkennung, das Sprachassistenzsysteme für VW und Mercedes liefert, wirbt: „Lasst die Maschinen hören und sprechen, lasst sie verstehen und bewerten. Lasst uns mit künstlicher Intelligenz eine schöne neue Welt errichten“ (Strittmatter 2018, S. 173). Zusammen mit dem Ministerium für öffentliche Sicherheit arbeitet iFlytek am Aufbau einer nationalen Sprachmuster- und Stimmdatenbank.

5  Die siebte Sprachfunktion Im Digitalisierungsprozess befinden wir uns in einer Phase, in der ubiquitäres Computing Realität wird: Alles und jeder wird vernetzt, die dahinterliegenden Prozesse sind ,unsichtbar‘ für die Menschheit: Die modernen Digitaltechnologien „weave themselves into the fabric of everyday life until they are indistinguishable from it“, wie es Weiser (1991, S. 1) formuliert hat. Der CEO von Sidewalk Labs, Daniel Louis Doctoroff, sieht uns an einem Wendepunkt zur vierten technologischen Revolution: We really believe that we are at the cusp of what I would call the fourth technology revolution in modern cities. By that I mean the digital network sort of era where you’ve got ubiquitous connectivity, sensors, location-based services, social networks, advanced computing power, the ability to analyze data, and new design and fabrication technologies like 3-D printing and robotics.23

Die Kehrseite dieser vierten technologischen Revolution ist die Reduktion von allem und jedem, von Interaktion und Kommunikation auf Daten, seien die Objekte belebt oder unbelebt oder handele es sich um Mensch-Mensch- oder MenschMaschine-Interaktionen. Die Daten sind der Rohstoff, mit denen Digitalunternehmen ihre Gewinne abschöpfen und Staaten ihre Bürger zu überwachen oder gar zu kontrollieren suchen. Dabei steht die digital vernetzte Kommunikation der Menschen untereinander und der Menschen mit maschinenbasierten Architekturen im Zentrum der Analyse (Datenextraktion) und der daraus abgeleiteten Lenkungsfunktionen.

23 www.fastcompany.com/3056964/how-google-is-turning-cities-into-rd-labs (Stand: 4.2.2019).

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In dem aus linguistischer Perspektive überaus lesenswerten Roman Die siebte Sprachfunktion von Laurent Binet (2017) fügt dieser den berühmten Jakobsonschen Sprachfunktionen24 eine weitere, „performative“ Sprachfunktion hinzu. Über diese nicht weiter spezifizierte, aber für den Plot des Romans so wichtige Funktion heißt es: Stellen wir uns eine Sprachfunktion vor, die sehr viel extensiver irgendjemanden davon überzeugen könnte, irgendetwas in irgendeiner Situation zu tun. […] Wer diese Funktion kennt und beherrscht, wäre praktisch Herr der Welt. […] Er könnte […] die Massen mobilisieren, Revolutionen auslösen, Frauen verführen, jedes beliebige vorstellbare Produkt verkaufen, Imperien errichten, die ganze Welt betrügen, alles bekommen, was er will. (Binet 2017, S. 277)

Diese das Verhalten von Menschen im weitesten Sinne steuernde Sprachfunktion scheint mir ein Sinnbild für das zu sein, was in der gegenwärtigen Entwicklung der Digitalgesellschaften zunehmend zu beobachten ist und überhaupt erst durch die Digitalisierung als reale Möglichkeit erscheint, nämlich das Kommunikationsund Interaktionsverhalten der Menschen zu erfassen, zu analysieren und in letzter Instanz zu prognostizieren. Es sind drei gesellschaftliche Triebkräfte, die diese Entwicklung vorantreiben: 1. ökonomische Interessen, nach denen Menschen und die Interaktionen der Menschen untereinander und mit Dingen als Daten und somit als ein gewinnbringendes Produkt gesehen werden, 2. militärische Interessen im Hinblick auf Staats- und Heimatschutz und Abwehr von Cyberangriffen (Stichwort: NSA) und 3. politische Interessen, nach denen das Verhalten von Staats­ bürger/innen kontrolliert und gesteuert werden soll bzw. zur Förderung der ,harmonischen Gesellschaft‘ (Xi Jinping). Aus linguistischer Sicht sind ökonomisch motivierte Verhaltenssteuerung aus der Werbesprache-Forschung (vgl. Janich 2010) wie auch der Versuch der sprachpolitischen Lenkung in totalitären Systemen nichts Unbekanntes.25 Die neue Qualität ist durch die digitale Basis begründet: eine allgegenwärtige und vernetzte Infrastruktur. Der digitalisierte Überwachungskapita-

24 Jakobson (1979) unterscheidet die referenzielle, emotive, poetische, konative (appellative), phatische und metasprachliche Sprachfunktion. 25 Unter Sprachlenkung versteht man das Ziel, Definitionen, Bedeutungen und Wertungen in der öffentlichen und letztlich in der Allgemeinsprache so durchzusetzen, dass sie den eigenen Interessen, der eigenen Ideologie dienen. Sprachlenkung als Instrument der Unterdrückung und Manipulation wird insbesondere mit totalitären Systemen in Verbindung gebracht, findet sich aber ansatzweise in allen Gesellschaftssystemen. Der Versuch, durch Sprache das Denken der Menschen zu beeinflussen, ja, zu manipulieren, ist modellhaft in George Orwells bekannter Dystopie 1984 (Orwell 1992) literarisch verarbeitet, die er zwischen 1946 und 1948 schrieb. Die Handlung spielt in einem totalitären Überwachungsstaat, in dem mit der offiziellen Neusprache



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lismus führt zu einer Form der Macht, die Shoshana Zubuff (2018) als „instrumentäre Macht“ bezeichnet; diese „kennt und formt menschliches Verhalten im Sinne der Ziele anderer. Anstatt Waffen und Armeen bedient sie sich zur Durchsetzung ihres Willens eines automatisierten Mediums: der zunehmend allgegenwärtigen rechnergestützten Architektur ‚intelligenter‘ vernetzter Geräte, Dinge, Räume“ (Zuboff 2018, S. 23). Die „konkreten operativen Praktiken der Enteignung, mit denen das Überwachungskapital menschliche Erfahrung als Rohstoff für die Verdatung und alle darauf folgenden Operationen beansprucht […]“, nennt Zuboff (ebd., S. 270) „Rendition“. Betriebssysteme wie Android erfassen u.a. E-Mails, SMS-Mitteilungen, Anrufe, Internetzugriffe und den jeweiligen Standort, auch dann, wenn Ortungsdienste und Apps ausgeschaltet sind. Nach einer Untersuchung von 211 zufällig ausgewählten Diabetes-Apps aus dem Jahre 2016 werden von diesen mehrheitlich Verbindungsdaten erfasst (Abb. 14), von einigen Apps ferner Audiodaten, WiFiVerbindungen und sämtliche Bilder und Videos gesammelt. Noch einen Schritt weiter ist Facebook kürzlich mit einer ‚Research-App‘ gegangen. Facebook zahlte iPhone-Nutzer/innen im Alter von 13 bis 35 Jahren bis zu 20 US-Dollar pro Monat in Form von Gutscheinkarten dafür, dass es Einblicke in alle verwendeten Apps, Kommunikationen, Kontaktpersonen und in das Surfverhalten erhielt; über das sog. Root-Zertifikat konnte das Unternehmen zudem Einblick in alle verschlüsselten Verbindungen gewinnen (Becker 2019). Permission

H211(x)

h211(x)

Full network access

174

82,5

Modify or delete the contents of user’s USB storage

135

64,3

View network connections

133

Read phone status and identity

65

30,8

Receive data from internet

39

18,5

Precise location

31

14,7

Take pictures and videos

24

11,4

Read user’s contacts

12

5,7

8

3,8

Record audio

Abb. 14: Auswahl erfasster Daten von 211 Diabetes-Apps nach Blenner et al. (2016, S. 1052)

(oder auch Neusprech, engl. Newspeak) den Menschen die Fähigkeit zum eigenständigen Denken genommen werden soll, um sie in willfährige Erfüllungsgehilfen des Englischen Sozialismus (Engsoz) zu verwandeln.

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 Peter Schlobinski

Während bei der ‚Schnüffelpuppe‘ Cayla, durch die Kinder seitens ihrer Eltern komplett abgehört werden konnten, die öffentliche Empörung groß war und die Puppe vom Markt genommen werden musste, sind die Praktiken der Großkonzerne weniger im Fokus der Öffentlichkeit. Bei Samsung heißt es im ,Global Privacy Policy – SmartTV Supplement‘: „Please be aware that if your spoken words include personal or other sensitive information, that information will be among the data captured and transmitted to a third party through your use of voice recognition.“26 Durch digitales Tracking, exhaustives Datenschöpfen und die Überwachung von Nutzer7innen und Nutzergruppen können Unternehmen versuchen, das Userverhalten zu steuern, sei es, um Produkte besser verkaufen zu können, sei es, um bestimmte Images aufzubauen. In politischen Kontexten hat das Thema ‚Wahlkampfbeeinflussung‘ und die Facebook-Studie „A 61-MillionPerson Experiment in Social Influence and Political Mobilization“ die Öffentlichkeit elektrisiert. Die Ergebnisse der Studie von 61 Millionen Facebooknutzenden während der US-Kongresswahl 2010 zeigen, that the messages directly influenced political self-expression, information seeking and realworld voting behaviour of millions of people. Furthermore, the messages not only influenced the users who received them but also the users’ friends, and friends of friends. (Bond et al. 2012, S. 295)

In einer Folgestudie in Zusammenarbeit von einem Facebook-Team und Wissen­ schaftler/innen der Cornell University wurde eine Gruppe von 689.003 FacebookNutzer/innen in ihren Newsfeeds positiven emotionalen Äußerungen, eine zweite Gruppe negativen emotionalen Äußerungen ausgesetzt. „Posts were determined to be positive or negative if they contained at least one positive or negative word, as defined by Linguistic Inquiry and Word Count software.“ (Kramer/Guillory/Hancock 2014: 8789) Die Ergebnisse zeigen, dass die Auslöseanreize viral wirkten: When positive expressions were reduced, people produced fewer positive posts and more negative posts; when negative expressions were reduced, the opposite pattern occurred. These results indicate that emotions expressed by others on Facebook influence our own emotions, constituting experimental evidence for massive-scale contagion via social networks. (ebd., S. 8788)

Das wohl größte sozialkybernetische Experiment aller Zeiten im Hinblick auf Kontrolle der Staatsbürger und einer sozial konformen Verhaltensnormierung unter dem Motto ‚Big Data is watching you!‘ findet in Rongcheng (China) statt. Dabei

26 www.samsung.com/uk/info/privacy-SmartTV (Stand: 1.2.2018).



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handelt es sich um ein Sozialkreditsystem, das von dem ‚Büro/Amt für Kreditwürdigkeit‘ – zuvor hieß es ‚Büro/Amt für Ehrlichkeit‘ (诚信办) – getestet wird und ab 2020 auf ganz China ausgedehnt werden soll. In einer Anweisung des Staatsrats der Volksrepublik China heißt es: The main objectives of the construction of a social credit system are: by 2020, basically having established fundamental laws, regulations and standard systems for social credit, basically having completed a credit investigation system covering the entire society with credit information and resource sharing at the basis, basically having completed credit supervision and management systems, having a relatively perfect credit service market system, and giving complete rein to mechanisms to encourage keeping trust and punish breaking trust. (Creemers 2015)

Jede Person wird bewertet, zu jeder Zeit und an jedem Ort. In Rongcheng bekam ab 2014 jeder Bürger und jede Bürgerin ein öffentlich zugängliches Punktekonto, auf dessen Grundlage der Staat bestrafen oder belohnen kann. Jedes Subjekt „startet mit 1.000 Punkten. Dann kann e[s] sich verbessern oder verschlechtern“ (Strittmatter 2018, S. 184). Der Beamte Zhang Jiang hat mit 1.015 Punkten Grund zur Freude: Hier, sehen Sie mal, dort habe ich ein paar Abzüge. Fünf insgesamt. Einmal, weil ich bei Rot über die Ampel gegangen bin. Aber hier: meine Leistung bei der Arbeit, dafür habe ich gleich 20 Pluspunkte gesammelt! Hätte ich ein B bekommen, würde es nichts werden mit der Beförderung. Beamte im öffentlichen Dienst, wie ich, brauchen mindestens ein A.27

Wer allerdings auf weniger als 599 Punkte abrutscht, gilt als unehrlich, nicht vertrauenswürdig und sein Name kommt auf eine schwarze Liste; er wird sozial und materiell gebannt: Namen, Fotos und ID-Nummern von auf der schwarzen Liste aufgeführten Bürger/innen werden veröffentlicht, sie können keine Kredite mehr beantragen, der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wird eingeschränkt und anderes mehr. Der Schriftsteller Murong Xuecun sagt dazu in einem Interview: Wenn das System mal läuft, wird China George Orwells Ozeanien noch übertreffen. Und ich als politisch unzuverlässiger Vogel kriege eine richtig miese Bewertung. Vielleicht kann ich nicht mehr ausreisen und keine Züge mehr nehmen, vielleicht wirft mich mein Vermieter auf die Straße. Dann schlaf ich eben unter der Brücke. (zitiert aus Strittmatter 2018, S. 193 f.)

27 www.deutschlandfunkkultur.de/chinas-sozialkredit-system-auf-dem-weg-in-die-it-dikta tur.979.de.html?dram:article_id=395126 (Stand: 28.2.2019).

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 Peter Schlobinski

Als ‚politisch unzuverlässiger Vogel‘ gilt, wer eine Kritik am Gesellschaftssystem postet, wer sich ‚abfällig‘ über die kommunistische Partei äußert, wer sich politisch inkorrekt äußert, und all dies kann flächendeckend überwacht werden: im Netz, auf der Straße (CTTV), im Bus – überall und jederzeit. Umgekehrt bedeutet dies: Wer dem Imperativ der sprachlichen Korrektheit im Sinne des Herrschaftssystems folgt, wer keine Kritik äußert, politisch ironische Kommentare vermeidet, wer also politisch und somit auch sprachpolitisch ‚zuverlässig‘ ist, hat keine Nachteile zu befürchten. Das Perfide an dem Sozialkreditsystem ist, dass die Bürger/innen sich dem System nicht einfach nur unterwerfen sollen, sondern „sie sollen es proaktiv begehren und sich mit dem Blick des Staates so betrachten, als sei es ihr eigener Blick“ (Assheuer 2017, S. 47), und die Tatsache, dass 82 Prozent der städtischen und 68 Prozent der ländlichen Bevölkerung Sozialkreditsystemen gegenüber positiv eingestellt sind,28 spricht für den zukünftigen Erfolg der landesweiten Implementierung eines solchen Kontrollsystems. Und so stehen am Ende dieser Entwicklung womöglich jenes Neusprech, das der Sinologe Geremie R. Barmé (2018) „New China Newspeak“ genannt hat, sowie das Orwell’sche ‚Doppeldenk‘ – die Fähigkeit, Unwahrheiten wider besseres Wissen nicht nur zu äußern, sondern auch zu glauben und flexibel jeder neuen Situation anzupassen.

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28 www.wissen.de/chinas-sozialkreditsystem-zufriedene-ueberwachte (Stand: 25.2.2019).



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Christa Dürscheid (Zürich)

Schreiben in Sozialen Medien Bestandsaufnahme und Perspektiven Abstract: Einleitend stellt der Beitrag unter Bezugnahme auf die Jahrestagungen des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache von 2019 und 1999 die Bezeichnungen Soziale Medien und neue Medien gegenüber. Dann steht die schriftbasierte WhatsApp-Kommunikation im Fokus, es werden aber auch Beispiele aus anderen Kommunikationsformen angeführt (z.B. Zeitungsartikel auf Facebook, Texte aus der Unternehmenskommunikation). Gezeigt werden soll, wie sich die Verwendung von Emojis in diesen Texten gestaltet. Im Anschluss daran geht es um die Frage, welchen Stellenwert das Schreiben in Sozialen Medien in der Schule hat und welchen Stellenwert es künftig haben wird. Diese Frage leitet über zu dem im Titel unter Perspektiven angedeuteten Blick in die Zukunft: Hier wird zum einen diskutiert, ob die Popularität von Emojis noch zunehmen wird, zum anderen wird gefragt, ob das digitale Schreiben in Zukunft möglicherweise von anderen Praktiken abgelöst wird.

1  Vorbemerkungen Der vorliegende Beitrag beginnt mit einem Rückblick auf das Jahr 1999 und wird mit einem Ausblick auf das Jahr 2039 enden. Dazwischen liegen 40 Jahre, in denen die linguistische Forschung zur Internetkommunikation – dies kann schon zum jetzigen Zeitpunkt konstatiert werden – eine beachtliche Entwicklung durchlaufen hat. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sich durch die neuen digitalen Möglichkeiten der Untersuchungsgegenstand laufend verändert, zum anderen damit, dass bestimmte Themen bereits gut erforscht sind und sich der Fokus deshalb auf andere, neue Fragen richtet.1 Im Folgenden werde ich zunächst das Jahr 1999 in den Blick nehmen – und zwar aus folgendem Grund: Es ist dies

1 So verschoben sich durch die Einführung des Smartphones im Jahr 2007 die Forschungsper­ spektiven (vgl. Schlobinski 2012). Seither befasst man sich z.B. mit der Frage, welche Praktiken daraus resultieren, dass das Handy als internetfähiger Mini-Computer genutzt wird und das Schreiben immer häufiger von unterwegs und nicht mehr an einer physischen Tastatur, sondern an einem Touchscreen erfolgt. https://doi.org/10.1515/9783110679885-003

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 Christa Dürscheid

das Jahr, in dem sich die Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) das erste Mal mit den „konkreten Auswirkungen von Computertechnik und Internet auf Sprache und Kommunikationsformen“ befasste (so ein Zitat von der Tagungswebsite unter www1.ids-mannheim.de/aktuell/veranstaltungen/tagungen/1999.html, Stand: 7.4.2019). Die Tagung stand unter dem damals sehr passenden Motto „Sprache und neue Medien“, das dazu gehörige Jahrbuch wurde von Werner Kallmeyer herausgegeben (Kallmeyer (Hg.) 2000). Es umfasst drei Themenblöcke (Mediengeschichte und Medientheorie, Aktueller Wandel von Sprache und Kommunikationsformen im Gebrauch neuer Medien, Neue Medien als Arbeits­ instrument der Linguistik); vorangestellt sind diesen ein Grußwort von Gerhard Stickel, dem damaligen Direktor des IDS, das unter der Überschrift „Konventionellmedialer Auftakt“ steht. Auf dieses Grußwort wird weiter unten Bezug genommen. Der folgende Abschnitt stellt die Tagungen von 1999 und 2019 kurz gegenüber und erläutert die beiden Bezeichnungen im Titel, neue Medien (1999) und Soziale Medien (2019).2 Dann liegt der Schwerpunkt auf dem WhatsApp-Schreiben und es wird aufgezeigt, in welcher Relation hier der Text zur Verwendung von Emojis steht (Abschn. 3). Auch Beispiele aus anderen Kommunikationsformen werden angeführt, die zeigen, dass Emojis mittlerweile in ganz verschiedenen Kontexten zur Anwendung kommen. Abschließend wird es um die Frage gehen, welche Entwicklung das Schreiben in Sozialen Medien nehmen wird und wie sich die Situation zukünftig darstellt (Abschn. 4). In diesem Zusammenhang gehe ich auch darauf ein, welchen Stellenwert das Thema im schulischen Unterricht hat – und welchen Stellenwert es in Zukunft haben wird. Den Ausführungen in diesem letzten Abschnitt des Beitrags liegt u.a. das Strategiepapier der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2016 zu Grunde, das den Titel „Bildung in der digitalen Welt“ trägt und allen Bundesländern die Umsetzung der darin genannten Kompetenzbereiche zur Vorgabe macht (KMK 2016).

2  Neue Medien – Soziale Medien Wie bereits erwähnt, lautete der Titel der IDS-Jahrestagung von 1999 „Sprache und neue Medien“. Das hatte damals insofern seine Berechtigung, als die neuen Medien (z.B. vernetzter Computer, Handy) tatsächlich noch neu waren. Die Vor-

2 Im Tagungstitel wird das Adjektiv sozial großgeschrieben, was darauf verweist, dass der Ausdruck Soziale Medien hier als feststehender Terminus angesehen wird. Ich übernehme diese Schreibweise.



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tragenden befassten sich u.a. mit dem Sprachgebrauch in Newsgroups und Mailinglisten (Wilfried Schütte), in Videokonferenzen (Christoph Meier) und in Hypertexten (Angelika Storrer), es wurden aber auch grundsätzliche Fragen zum Zusammenhang von Medien und Sprache gestellt (Sybille Krämer). Heute dagegen stehen andere digitale Kommunikationsformen im Fokus (siehe auch die Beiträge in diesem Band), außerdem wird die Bezeichnung neue Medien immer seltener gebraucht – und wenn, dann meist in idiomatisierter Bedeutung; die Semantik von neu ist in den Hintergrund getreten. Populärer sind inzwischen andere Bezeichnungen, wie z.B. der Ausdruck Soziale Medien, der ja auch namen­ gebend für die IDS-Jahrestagung von 2019 war.3 Beide Termini dürfen aber – dies sei eigens betont – nicht gleichgesetzt werden, auch wenn darunter z.T. ähnliche Forschungsfragen fallen. Zu den Sozialen Medien gehören, wie der Medienwissenschaftler Christian Fuchs in seiner Einführung mit dem Titel „Soziale Medien und Kritische Theorie“ schreibt, „neue Internetanwendungen wie soziale Netzwerke (Facebook), Blog-Plattformen (z.B. Tumblr, WordPress, Blogger), Mikroblogs (z.B. Twitter, Weibo), Wikis (z.B. Wikipedia) und Plattformen zur Teilung von Inhalten (z.B. YouTube, Instagram, Flickr)“ (Fuchs 2018, S. 9).4 Der Ausdruck neue Medien ist dagegen ein Oberbegriff, der sowohl zur Bezeichnung der Geräte (z.B. Computer) als auch der damit verbundenen Nutzungsformen (z.B. E-Mail) verwendet wird. An die Stelle dieses Terminus ist heute neben anderen Bezeichnungen auch der Ausdruck digitale Medien getreten, der ebenfalls beides, die Geräte (z.B. das Smartphone) und die verschiedenen Anwendungen (z.B. digitales Fernsehen), umfasst. Noch einmal zurück zur IDS-Tagung im Jahr 1999: In seinem Grußwort zum Auftakt der Tagung wies Gerhard Stickel darauf hin, dass man kurz erwogen habe, „die Tagungseröffnung themengerecht medial zu inszenieren“ (Stickel 2000, S. 2). Man habe aber darauf verzichtet, denn es hätte während der Vorträge ein konstitutives Element gefehlt: „die Möglichkeit zur Interaktion im selben Medium“. Hierzu hätte man, so Stickel weiter, „für jeden von ihnen [sic] einen PC mit Bild-

3 Die Zahl der Abfragen auf Google Trends zeigt, dass in den vergangenen Jahren immer seltener nach dem Ausdruck neue Medien gesucht wurde, der Suchbegriff Soziale Medien aber kontinuierlich an Popularität gewonnen hat. Siehe dazu unter https://trends.google.de/trends/explore? date=all&geo=DE&q=soziale%20Medien,neue%20Medien (Stand: 8.4.2019). 4 Alternativ dazu spricht man im Deutschen auch von Sozialen Netzwerken, vom Social Web oder von Social Media; die Abgrenzungen sind fließend. Angemerkt sei weiter, dass in der Medienwissenschaft ein übergeordneter Terminus im Gebrauch ist, der auch die Sozialen Medien umfasst: die Intermediäre (vgl. Jarren 2019). Dazu werden alle Plattformen gezählt, die Anbieter- und Nutzerinteressen miteinander verbinden (wie z.B. Facebook und LinkedIn, aber auch Suchmaschinen oder Verkaufsplattformen wie ebay).

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schirm und Netzanschluss bereitstellen müssen“ (Stickel 2000, S. 2). Das war damals noch nicht möglich, insofern musste es bei einem „konventionell-medialen Auftakt“ (so die Überschrift des Grußwortes im 2000er Jahrbuch) bleiben. Heute dagegen stellt sich die Situation anders dar. Im Konferenzsaal ist der Internetanschluss über WLAN gewährleistet, und den Laptop, das Tablet oder das Smartphone haben viele ohnehin immer dabei. Insofern ist das, was Gerhard Stickel damals als Szenario beschrieb, Wirklichkeit geworden: Die Interaktion am „PC mit Bildschirm und Netzanschluss“ kann jederzeit stattfinden. Doch werden die Nachrichten nicht für alle sichtbar auf eine Leinwand projiziert, vielmehr erfolgt der Nachrichtenaustausch diskret (z.B. über eine Mitteilung, die während des Vortrags an eine Kollegin im selben Raum geschickt wird) und wird von den Anwesenden in der Regel gar nicht wahrgenommen. Diese Möglichkeit der unauffälligen Nebenkommunikation (z.B. über E-Mail oder WhatsApp) gehört inzwischen zu unserem medialen Alltag und wurde vermutlich auch bei der IDS-Tagung 2019 rege genutzt. Doch erstmals kam noch eine weitere Online-Interaktion dazu: Auf Twitter konnte man unter dem Hashtag #IDSJT19 Kommentare zu den Vorträgen austauschen und Videos oder Fotos vom Tagungsgeschehen posten. Bis zum Ende der Tagung kamen auf diese Weise 1.042 Tweets zusammen.5 Damit baute sich parallel zu dem fachwissenschaftlichen Austausch vor Ort eine zweite Diskurswelt auf, die für viele Tagungsteil­neh­ mer/innen unbemerkt blieb, über das Internet aber einen großen Resonanzraum hatte (was sich u.a. an den vielen Retweets zeigte). Interessant wäre natürlich zu untersuchen, wie sich das Schreiben in diesen Tweets in sprachlicher Hinsicht gestaltete. Doch darauf soll hier nicht eingegangen werden, da es sich dabei um einen speziellen Fall von Online-Kommunikation handelt (Tweets von einem Fachpublikum über sprachwissenschaftliche Themen).6 Möchte man die Perspektive dagegen ausweiten und das Schreiben auf Twitter, Instagram, Facebook, WhatsApp oder anderen Messenger-Diensten in einem größeren Rahmen betrachten, dann ist der Untersuchungsgegenstand wiederum zu heterogen. Denn bekanntlich spielen in dieses Schreiben verschiedene Faktoren hinein (z.B. der Schreibanlass, der Grad an Dialogizität, die Vertrautheit der Beteiligten, das jeweils benutzte Medium), so dass keine verallgemeinernden Aussagen möglich sind.

5 Am 12.3.2019 wurden 313 Tweets gepostet, am 13.3.2019 waren es 454 und am 14.3.2019 noch 275. Diese Zahlen beziehen sich nur auf die originären Tweets, nicht auf mögliche Weiterleitungen (Retweets). Ich danke Sascha Wolfer und Mark Dang-Anh (beide IDS) für diese Angaben. Siehe zur Anzahl der Tweets auch die Auswertungen unter https://twitter.com/mdanganh/status/11062198 04254441472 (Stand: 12.4.2019). 6 Vgl. zur Analyse fachwissenschaftlicher Online-Kommunikation (am Beispiel von Weblogs in der Soziologie) die Dissertation von Meiler (2018).



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Pointiert gesagt: Es können ganz verschiedene Register gezogen werden – und dies sowohl auf stilistischer als auch auf grafischer Ebene (vgl. Androutsopoulos/ Busch (Hg.) i.Vorb.). Im nächsten Abschnitt werde ich den Schwerpunkt daher auf nur einen Aspekt dieses Schreibens legen: auf das Vorkommen von Emojis. Dabei ist zu unterscheiden, ob Emojis im Text oder anstelle von Text erscheinen.

3  Emojis und Text Emojis umfassen nur einen Teilbereich aller bildlichen Ausdrucksmittel, daneben kommen in Sozialen Medien auch Fotos, Videos, Sticker, GIFs, Memes oder über ASCII-Zeichen dargestellte Emoticons zum Einsatz. Herring/Dainas (2017) haben als Oberbegriff hierfür den Ausdruck „Graphicons“ geprägt. Damit aber wird nahegelegt, dass alle diese Elemente Schriftcharakter haben würden. Das kann unter bestimmten Bedingungen zwar der Fall sein, doch für Fotos und Videos beispielsweise trifft dies nicht zu, sie stehen nicht auf einer Linie mit Schriftzeichen und lassen sich nicht auf dieselbe Weise wie diese in den Text einfügen. Emojis dagegen sind (wie z.B. auch ASCII-Emoticons) in den Schreibprozess integriert – und das in zweierlei Hinsicht: Sie können über einen Tastendruck bzw. eine Unicode-Zeichenkombination in eine Nachricht hineingeholt werden (prozessorientierte Sicht) und sie sind, vom Resultat her betrachtet, direkte Bestandteile der jeweiligen Nachricht (produktorientierte Sicht). Weiter gibt es die Möglichkeit, dass in einer Nachricht nur Emojis stehen – ganz ohne Text. Das ist z.B. der Fall, wenn in einem WhatsApp-Dialog auf die Frage nach der Befindlichkeit ein lachendes Gesicht als Antwort geschickt wird. Auch in diesem Fall wird das Emoji wie ein Schriftzeichen generiert, es nimmt aber andere Proportionen an. Man vergleiche nur das Daumenhoch-Emoji, das zusammen mit Text, mit dem Daumenhoch-Emoji, das anstelle von Text geschickt wird. Letzteres ist größer.7 Emojis, die zusammen mit Text auftreten, können die Aussage illustrieren oder kommentieren (z.B. Super ☺), sie können aber auch auf Phrasenebene, Wort­ ebene, Morphemebene oder Graphemebene stehen und Schriftzeichen ersetzen. Dazu seien hier nur vier konstruierte Beispiele angeführt, authentische Belege aus einem großen WhatsApp-Korpus (siehe unten) finden sich bei Dürscheid/ Frick (2016). In der Sequenz Ich bringe 🥐 mit steht das Emoji für ein Wort (z.B.

7 Dies hat zur Folge, dass der Bildcharakter stärker in den Vordergrund tritt – analog zu Stickern beispielsweise. Besteht eine Nachricht aus mehreren Emojis, dann verschieben sich die Größenverhältnisse aber wieder: Nach vier Zeicheneingaben haben die Emojis wieder die Größe von Buchstaben.

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Ich bringe Croissants mit), in der Nominalphrase das 🚲 für das Wort Rad, Fahrrad oder schweizerisch Velo, in dem Wort Fahr🚲 ersetzt es das zweite Kompositionsglied und in S🎇nne das Graphem . Das erstgenannte Beispiel kann auch gelesen werden als Ich bringe Hörnchen mit/Ich bringe die Hörnchen mit/Ich bringe die Croissants mit, und auch Singularvarianten sind denkbar (Ich bringe das/ein Hörnchen; das/ein Croissant mit). Bereits daran sehen wir, dass es bei Emojis keine Eins-zu-Eins-Relation zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite gibt. Es wäre allein deshalb schon falsch anzunehmen, dass Emojis jemals das Potenzial hätten, Basis für eine Universalsprache zu sein (vgl. dazu ausführlich Dürscheid/ Siever 2017, S. 261–264).8 An dieser Stelle ist noch ein Hinweis auf das WhatsApp-Korpus erforderlich, das bereits erwähnt wurde und in dem sich zahlreiche Belege für die oben angeführten Verwendungsweisen finden. Das Korpus wurde im Jahr 2014 in der Schweiz erstellt und umfasst 1.225.569 Nachrichten aus 617 Chats in allen vier Landessprachen (Angaben basierend auf der Korpusversion 6.0 vom 29.1.2018). Von diesen Nachrichten können allerdings nur 763.644 für Forschungszwecke verwendet werden, da nur für diese das Einverständnis der Schreiber/innen vorliegt.9 Im gesamten Korpus kommen 347.889 Emojis vor, an der Spitze steht mit 43.186 Vorkommen ein Gesichtszeichen-Emoji, genauer: ein Emoji, das ein lachendes Gesicht mit Freudentränen darstellt und im internationalen Unicode-Zeichensatz die Bezeichnung „Face With Tears Of Joy“ trägt (U+F602). Die Frage stellt sich natürlich, in welchen pragmatischen Funktionen dieses Emoji jeweils im Korpus verwendet wird. Eine systematische Überprüfung dazu steht noch aus, es darf aber angenommen werden, dass es v.a. zur Kommentierung bzw. Illustration dient und nicht etwa zur Substitution von sprachlichem Material auf Phrasen-, Wort-, Morphem- oder Graphemebene. Würde man dem Vorschlag von Pappert (2017, S. 188 f.) folgen, dann müsste man allerdings noch viel genauer differenzieren. Pappert unterscheidet insgesamt neun kommunikativpragmatische Emoji-Funktionen (Rahmung, Ökonomisierung, Beziehungsgestaltung, Modalisierung, Kommentierung/Evaluierung, Strukturierung, Darstellung,

8 Umso mehr erstaunt es, dass in einer linguistischen Arbeit eben dies insinuiert wird. Ge/Herring (2018, o.S.) schreiben: „Our study largely supports the idea that emoji are developing into an independent language: They can substitute for words, and emoji sequences can resemble complete utterances with subject, verb, and object“. Möglicherweise hängt dies in dem betreffenden Artikel damit zusammen, dass der Fokus auf dem Chinesischen liegt, doch auch mit Blick auf ein logografisches Schriftsystem ist diese Aussage nicht nachvollziehbar. 9 Das Korpus wurde im Kontext eines vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts erstellt (Fördernummer CRSII1_160714). Für weitere Informationen siehe unter www.whatsup-switzerland.ch (Stand: 31.3.2019).



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ludische Funktion, Ausschmückung). In der Praxis gestaltet es sich allerdings als schwierig, Emojis jeweils passgenau einer dieser Funktionen zuzuordnen. Im Schweizer WhatsApp-Korpus beispielsweise scheitert das nicht nur an ihrer immensen Zahl, es ist auch in sachlicher Hinsicht problematisch, denn die Abgrenzungen zwischen den einzelnen Funktionen sind unscharf, zudem weisen viele Emojis gleichzeitig mehrere Funktionen auf. Darauf weisen Steffen Pappert und Michael Beißwenger in einem aktuellen Handbuch-Beitrag denn auch selbst hin. Hier halten sie fest, dass in der von Pappert (2017) vorgeschlagenen Einteilung jeweils „nur die dominante [Funktion] festgesetzt wurde“ (Beißwenger/Pappert 2018, S. 455). Damit wird aber auch postuliert, dass jeweils eine der Funktionen als die dominante bestimmt werden kann. Doch wie ist das bei einer solch detaillierten Untergliederung in neun Funktionen überhaupt zu entscheiden? Streng genommen müsste man die Schreiber/innen, die diese Emojis verwendet haben, nach ihren Intentionen befragen, um die jeweils dominante Funktion bestimmen zu können.10 Bislang wurde nur auf das Vorkommen von Emojis in WhatsApp-Nachrichten eingegangen. Dabei handelt es sich um eine interpersonale Kommunikation, die sich in einem geschlossenen, für Außenstehende nicht zugänglichen Kommunikationsraum vollzieht und stark dialogischen Charakter hat. Interessant wäre es nun, den Einsatz von Emojis in diesen Chats mit Texten aus der öffentlichen Kommunikation zu vergleichen (siehe zu den Termini öffentlich vs. nicht-öffentlich Dürscheid 2007). Nachrichten beispielsweise, die auf Twitter einem Hashtag zugeordnet sind, werden auf diese Weise zur öffentlichen Kommunikation, solche Tweets können von allen gelesen werden (und zwar auch dann, wenn man keinen Twitter-Account hat). Dass auch in solchen Texten Emojis verwendet werden, überrascht nicht (siehe dazu die Twitter-Studie von Pavalanathan/Eisenstein 2016). Nicht zuletzt zeigen das auch die Tweets, die zur IDS-Tagung 2019 unter dem Hashtag IDSJT19 gepostet wurden (obwohl es hier nur wenige sind). Und auch in Instagram-Posts, die ja ebenfalls zur öffentlichen Kommunikation zählen, finden sich Emojis. In einer aktuellen Studie, in der die verschiedenen Funktionen von Emojis auf Instagram im Detail beschrieben werden, heißt es dazu: „To the best of our knowledge, Instagram features the highest rate of emoji use“ (Siever/Siever i. Ersch.). Wie aber sieht es mit Online-Zeitungsartikeln aus? Dabei handelt es sich um eine monologisch-massenmediale Kommunikation im öffentlichen bzw. teilöffent-

10 Anders ist es bei den weiter oben aufgelisteten graphischen Funktionen. Um festzustellen, ob Emojis Elemente auf Wort-, Morphem- oder auf Graphemebene substituieren, genügt es, die Struktur der betreffenden Sequenz zu analysieren.

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lichen Raum (z.B. auf Facebook, einsehbar für alle Follower). Werden hier auch Emojis verwendet, und in welcher Relation stehen diese zum jeweiligen Text? Und wie präsentieren sich große Firmen im Netz, wie schreiben sie ihre Kund/innen an? Hier können diese Fragen nur aufgeworfen und einige Beispiele präsentiert werden, weiterführende Untersuchungen sind notwendig. Die ersten beiden Beispiele stammen aus der Neuen Zürcher Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, genauer: vom Facebook-Account dieser beiden Zeitungen (siehe dazu unter www.facebook.com/nzz/ und www.facebook.com/faz/). Wie die folgenden beiden Screenshots zeigen, wurden hier von den Zeitungsredaktionen jeweils thematisch passende Emojis eingefügt.

Abb. 1: Emojis in der FAZ und in der NZZ (Stand: 12.4.2019)

Vergleicht man den Facebook-Auftritt von FAZ und NZZ mit der Printausgabe und mit dem E-Paper beider Zeitungen, dann stellt man fest, dass sich hier keine Emojis finden – und zwar weder in den Artikeln noch in den Anreißermeldungen auf den Frontseiten (es sei denn, es wird über dieses Phänomen berichtet). Allein die Tatsache, dass ein Artikel auf Facebook erscheint, scheint also, als These zugespitzt, für beide Zeitungen eine Legitimation für das Verwenden von Emojis zu sein. Allerdings sei angemerkt, dass die Emojis nur in den Anreißermeldungen stehen, nicht in den Artikeln selbst. In dieser Teaser-Position erfüllen sie einen wichtigen Zweck: Zusammen mit dem danebenstehenden kurzen Text sollen sie die Leser/innen zum Klick auf den betreffenden Artikel motivieren. Damit komme ich zur zweiten Domäne, die hier im Fokus steht, zur Unternehmenskommunikation. Wie die Durchsicht der Facebook-Seiten einiger großer Wirtschaftsunternehmen zeigt (z.B. Lidl, Rossmann, DB, Sparkasse, Flixbus, Coop, Migros, Orell Füssli), kommen auch hier Emojis zum Einsatz. Das zeigt bereits ein



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erster Blick auf die Website dieser Firmen (siehe z.B. unter www.facebook.com/ lidl/). Dies verwundert gemäß meiner obigen These nicht, wie aber sieht es mit Nachrichten aus, die solche Unternehmen im Zuge der Direktwerbung an ihre Kund/innen schicken? Die folgenden drei Beispiele stammen aus den Betreffzeilen von Werbe-E-Mails der Schweizer Buchhandlung Orell Füssli (vgl. Abb. 2). Bemerkenswert ist, dass auch in einem solchen Kontext, in dem nicht bereits durch die Plattform (Facebook) eine gewisse Informalität gegeben ist, Emojis verwendet werden:

Abb. 2: Betreffzeilen in Werbe-E-Mails

In den Betreffzeilen dieser E-Mails fungieren die Emojis als Eyecatcher, das Unternehmen möchte damit die Aufmerksamkeit auf die betreffenden Nachrichten lenken. Das gelingt zum einen dadurch, dass die Verwendung von Bildern resp. Bildzeichen im Betreff von E-Mails noch ungewöhnlich ist, zum anderen erscheinen die Emojis je nach Empfangsgerät in Farbe, fallen den Empfänger/innen also allein deshalb auf. Wie man sieht, stehen in der ersten Betreffzeile zwei Emojis, die das Thema Filme und Spiele bildlich aufnehmen, in der zweiten und dritten Betreffzeile erschließt sich die Motivation für die Wahl des Emojis dagegen nicht auf Anhieb. Dazu muss man wissen: Diese beiden E-Mails nehmen Bezug auf den Internationalen Frauentag am 8. März 2019, sie datieren vom 8. März („Nur noch heute“) bzw. 6. März 2019 („Nicht verpassen“). Öffnet man die Mails, dann sieht man, dass es hier um Rabatte auf Buchtitel geht, die von Frauen verfasst wurden bzw. frauenspezifische Themen behandeln. Durch die Wahl desselben Motivs wird einerseits also der Zusammenhang zwischen den beiden Mails angezeigt, andererseits verweist das Frauen-Emoji auf das Thema der Nachricht (Sonderangebote zum Internationalen Frauentag). Angemerkt sei auch, dass in den Nachrichten selbst keine Emojis stehen; wie bei den Zeitungsartikeln auf Facebook werden sie nur im Teaser (d.h. hier nur im Betreff) verwendet. Emojis kommen also nicht nur in der informellen Kommunikation vor (wie z.B. in privaten Nachrichten über WhatsApp), sondern auch in öffentlichen Kontexten (siehe die NZZ- und FAZ-Anreißermeldungen auf Facebook) und in der Unternehmenskommunikation (siehe die Betreffzeilen in Werbe-E-Mails) – und damit auch in solchen Situationen, in denen man nicht wissen kann, wie die Empfänger/innen

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auf diese Art der Textgestaltung reagieren. Doch offensichtlich gehen die Firmen damit kein großes Risiko ein. Sie wissen: Emojis werden immer populärer – und dies nicht nur unter jüngeren Internetnutzer/innen. Dazu sei abschließend auf eine Mediennutzungsstudie im Auftrag des Digitalverbands Bitkom aus dem Jahr 2018 hingewiesen. In der Pressemitteilung, in der über die Studie berichtet wird, liest man: Unter den Jüngeren zwischen 14 und 29 Jahren nutzen fast neun von zehn (86 Prozent) solche Emojis in Kurznachrichten. In der Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen bedienen sich mit 83 Prozent ähnlich viele an den Symbolen, bei den 50- bis 64-Jährigen sind es 74 Prozent. In der Generation 65 Plus nutzt sie immerhin mehr als jeder Zweite (57 Prozent).11

Es stellt sich natürlich die Frage, wie diese Entwicklung weitergehen wird. Wird die Popularität von Emojis – über alle Generationen hinweg – noch zunehmen? Auf diese und andere Fragen, die das zukünftige Schreiben in Sozialen Medien betreffen, werde ich im nächsten Abschnitt eingehen.

4  Perspektiven Der letzte Teil dieses Beitrags umfasst drei Themenbereiche: Zum einen wird es darum gehen, wie das Schreiben in Sozialen Medien in der Schule behandelt wird und welchen curricularen Stellenwert dieses Thema in Zukunft haben wird. Zum anderen gehe ich der Frage nach, ob die Popularität von Emojis noch zunehmen wird. Und schließlich werde ich fragen, ob das digitale Schreiben in Zukunft möglicherweise von anderen kommunikativen Praktiken abgelöst wird. Zunächst zum ersten Punkt: Zum Schreiben in Sozialen Medien gibt es bereits detailliert ausgearbeitete Unterrichtsvorschläge, so dass es an dieser Stelle genügt, auf eine neuere Publikation aus der Sprachdidaktik (Gailberger/Wietzke (Hg.) 2018) und auf entsprechende Informationsquellen im Netz zu verweisen. Genannt sei beispielsweise die Website „Medienkompetenzrahmen NRW“, die als Leitfaden für die Medienkonzepterstellung an Schulen in Nordrhein-Westfalen dient.12 Hier kann man unter dem Link „Unterrichtsmaterialien“ gezielt nach Vorschlägen zur Medienanalyse/ Medienreflexion für eine bestimmte Jahrgangsstufe und ein bestimmtes Schulfach suchen. So gibt es Arbeitsblätter, Lösungen und didaktische Hinweise zu einer Unterrichtsreihe mit dem Titel „Chatten und Texten – WhatsApp und mehr“,

11 Befragt wurden 1.212 Personen ab 14 Jahren. Siehe dazu Carius/Klöß (2018). 12 Siehe dazu https://medienkompetenzrahmen.nrw.de/ (Stand: 14.4.2019).



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die fünf bis sieben Unterrichtsstunden umfasst (für die 2. bis 6. Klasse).13 Erwähnt sei an dieser Stelle auch das Lernmodul „Verletzendes Online-Verhalten: Unterrichtsreihe zum Erwerb einer digitalen Konfliktkompetenz“, in dem u.a. dazu angeregt wird, „Regeln für den guten Umgang in der Netzgemeinschaft“ zu erarbeiten (7. bis 10. Klasse). In der Erläuterung zu diesem Modul heißt es: Die Entwicklung hin zu einer digitalen Gesellschaft hat auch den Raum erweitert, in dem Menschen Konflikte austragen. Neben Cyber-Mobbing sind hier Shitstorms, Bashing, Trolling, ‚digitale Pranger‘ oder Hassrede im Netz als weniger rühmliche Beispiele zu nennen.14

Das Zitat soll deutlich machen, dass es im Deutschunterricht nicht nur um die sprachliche Analyse von Texten gehen darf, sondern auch um die Frage, wie sozialverträglich die Texte sind, die in den Sozialen Medien kursieren. Insofern ist es verdienstvoll, dass auf dieser Website auch Lernmodule vorgeschlagen werden, die die Schüler/innen zu einer Reflexion über diese Frage anregen. Es bleibt zu hoffen, dass noch viele solche Unterrichtsmaterialien ausgearbeitet werden. Damit komme ich zum Kernstück dieses Abschnitts, zu den Perspektiven: Welchen Stellenwert wird das Thema Schreiben in Sozialen Medien künftig in der Schule haben? Was den Deutschunterricht betrifft, so ist anzunehmen, dass die Medienanalyse und die Medienreflexion noch mehr an Bedeutung gewinnen werden. Dafür spricht u.a. die Tatsache, dass die Kultusministerkonferenz im Jahr 2016 ein Strategiepapier zum Thema „Bildung in der digitalen Welt“ verabschiedet hat, an dem sich die Bundesländer in ihren Unterrichtsplanungen ausrichten müssen. Darin wird gefordert, dass „alle Schülerinnen und Schüler, die zum Schuljahr 2018/2019 in die Grundschule eingeschult werden oder in die Sek I eintreten, bis zum Ende der Pflichtschulzeit die in diesem Rahmen formulierten Kompetenzen erwerben können“ (KMK 2016, S. 13).15 Das Strategiepapier listet sechs Kompetenzbereiche (mit zahlreichen Unterpunkten) auf und hält fest, dass jedes einzelne Fach seinen Beitrag in diesen Bereichen zu leisten hat.16 Ein Kompetenz-

13 Siehe dazu unter https://medienkompetenzrahmen.nrw.de/unterrichtsmaterialien/detail/ chatten-und-texten-whatsapp-und-mehr/. Verwiesen sei hier auch auf die Unterrichtsvorschläge (inkl. Kopiervorlagen, Info-Materialien etc.) von Michael Beißwenger (vgl. https://deutsch-klett.de/ chat-sms-und-co/ (beide Stand: 15.4.2019). 14 Siehe unter medienkompetenzrahmen.nrw.de/unterrichtsmaterialien/detail/verletzendes-on line-verhalten-unterrichtsreihe-zum-erwerb-einer-digitalen-konfliktkompetenz/ (Stand: 15.4.2019). 15 Die Frage stellt sich natürlich, wie die darin formulierten Ziele erreicht werden können und welche Kosten das verursachen wird (vgl. dazu die Diskussion um den „DigitalPakt Schule“, mit dem der Bund für eine bessere digitale Ausstattung der Schulen sorgen will). 16 Zum Vergleich: In der Schweiz wurde im neuen „Lehrplan 21“, der für alle deutsch- und mehrsprachigen Kantone Gültigkeit hat, für die Sekundarstufe I ein neues Schulfach „Medien und Infor-

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bereich steht z.B. unter der Überschrift „Analysieren und Reflektieren“. Dazu heißt es in einem der Unterpunkte, dass die Schüler/innen die „Wirkungen von Medien in der digitalen Welt (z.B. mediale Konstrukte, Stars, Idole, Computerspiele, mediale Gewaltdarstellungen) analysieren und konstruktiv damit umgehen“ können (KMK 2016, S. 19). Die Unterrichtsreihe zum verletzenden Online-Verhalten, die weiter oben erwähnt wurde, schließt explizit an diesen Kompetenzbereich an. Die zweite Frage, die in die Zukunft weist, betrifft die Popularität von Emojis. Wie auf der Unicode-Website zu lesen, liegt ihre Zahl im Unicode-Zeichensatz inzwischen bei 3.019 (Stand: 14.4.2019), weitere Anträge zur Aufnahme von Emojis wurden bereits eingereicht.17 Welche dieser Anträge gutgeheißen werden, hängt von verschiedenen Kriterien ab, die auf der Unicode-Website unter der Überschrift „Selection factors“ erläutert sind. Ein Kriterium lautet z.B.: „There should be high expected usage worldwide, or high expected usage within a very large user community.“ Wie daraus zu erschließen, haben vor allem solche Anträge eine Chance, die gesellschaftlich aktuelle Tendenzen aufnehmen (z.B. Inklusion, Diversität) und auf Emojis abzielen, die vermutlich häufig gebraucht werden.18 Doch unabhängig davon, welche Emojis letztlich in den Unicode-Zeichensatz aufgenommen werden – eines steht fest: Auch in Zukunft werden jedes Jahr neue Anträge gestellt. Ihre Zahl wird also weiter zunehmen – und damit vermutlich auch ihre Popularität. Denn je mehr Emojis es gibt, desto passgenauer können sie eingesetzt werden. Zwar mag man einwenden, dass viele Schreiber/innen das passende Emoji in dieser langen Liste gar nicht finden werden. Da es aber immer häufiger vorkommt, dass das Betriebssystem neben Wortvorschlägen auch Emoji-Vorschläge präsentiert, stellt sich dieses Problem in vielen Fällen gar nicht mehr. An dieser Stelle sei noch ein Wort zum Unicode-Konsortium gesagt (vgl. dazu ausführlich Dürscheid 2018). Dieses Konsortium begutachtet alle Anträge, die zur Aufnahme neuer Zeichen eingereicht werden. Vorrangig geht es dabei um Schriftzeichen (z.B. aus Schriftsystemen, die noch nicht im Unicode-Zeichensatz erfasst sind), aber auch um die Kodierung neuer Emojis. Im Jahr 2019 beispielsweise waren es 230 Emojis, die auf diese Weise im Unicode hinzugekommen sind. Dem Konsortium gehören die Vertretungen aller großen Internetfirmen an (z.B. Adobe,

matik“ eingeführt. Dieses umfasst insgesamt sieben Kompetenzbereiche (vier zum Themenfeld Medien, drei zu Informatik), die sich teilweise mit den im KMK-Papier formulierten Bereichen decken. 17 Siehe dazu die Angaben auf der Website des Unicode-Konsortiums unter https://unicode. org/emoji/charts/emoji-counts.html (Stand: 14.4.2019). 18 So überrascht es nicht, dass in der letzten Unicode-Auswahlrunde zahlreiche Emojis aufgenommen wurden, die Menschen mit körperlichen Einschränkungen darstellen (z.B. eine Rollstuhlfahrerin). Alle Auswahlkriterien sind unter http://unicode.org/emoji/proposals.html#selection_ factors einsehbar (Stand: 14.4.2019).



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Apple, Microsoft, Google), aus der Linguistik ist aber bisher nur eine Person vertreten: Dr. Deborah Anderson von der University of California, Berkeley (http:// linguistics.berkeley.edu/sei/about-us.html, Stand: 18.4.2019). Das sollte sich ändern; unser Fach muss ein Interesse daran haben, an der Gestaltung des Unicode-Zeichensatzes mitzuarbeiten. Nun zum dritten Punkt: Wird das Schreiben in Sozialen Medien auch in 20 Jahren noch ein Thema im Diskurs sein? Zu bedenken sind hier zwei Aspekte: Bereits jetzt tritt die digitale Mündlichkeit in Konkurrenz zum digitalen Schreiben. Das zeigt sich nicht nur an der zunehmenden Nutzung von Sprachassistenten wie Siri oder Alexa; es werden auch immer mehr Sprachnachrichten verschickt. So sei an dieser Stelle nochmals auf die oben erwähnte Bitkom-Studie hingewiesen, in der auch Zahlen zum Versand von Sprachnachrichten erhoben wurden. In der Pressemitteilung dazu heißt es: „Jeder zweite Messenger-Nutzer (55 Prozent) verschickt Sprachnachrichten. Bei den Jüngeren zwischen 14 und 29 Jahren sind es sogar rund drei Viertel (73 Prozent).“19 Und noch eine Entwicklung zeichnet sich bereits ab: die Hinwendung zum Analogen (vgl. dazu das Büchlein „Analog ist das neue Bio“ von André Wilkens 2015). In seiner Arbeit mit dem Titel „Analoge Nos­ talgie in der digitalen Medienkultur“ hat Dominik Schrey diese Tendenz treffend als eine „Fetischisierung des Analogen“ bezeichnet. Auf dem Klappentext zu seinem Buch stehen zwei Beispiele: „Software-Filter verleihen Smartphone-Fotografien einen hippen Polaroid-Look und digitalen Musikproduktionen wird das Knistern von Schallplatten beigemischt“ (Schrey 2017, o.S.). Was ebenfalls in diese Richtung weist, ist das Schreiben von Hand auf papierähnlichen Tablets (sog. Remarkables). Bei diesen Geräten wird das Analog-Feeling noch dadurch gesteigert, dass die Bildschirmoberfläche einem Blatt Papier gleicht und dass man das Gefühl von Schreiben auf echtem Papier hat. Das Schreiben wird hier zwar nicht vom Sprechen abgelöst, das Tastaturschreiben aber vom Handschreiben. Zu Beginn war angekündigt worden, dass der Beitrag mit einem Blick in die Zukunft enden wird. Das habe ich in diesem Abschnitt versucht, auch wenn es sich dabei nur um Mutmaßungen handelt. Was man aber für das Jahr 2039 vor­ her­sagen kann: In diesem Jahr wird die 75. Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache stattfinden. Und vielleicht wird diese Tagung – nach den Jahren 1999 und 2019 – nochmals die Internetkommunikation zum Thema haben. Sollte das der Fall sein, dann bietet es sich an, wieder einen Twitter-Account einzurichten, in dem das Thema nicht nur vor Ort, sondern auch im Internet diskutiert wird. Dass es einen solchen Account geben wird, ist zu vermuten (sofern es Twitter noch gibt), den Hashtag dazu gibt es auf jeden Fall schon (#IDSJT39).

19 Siehe unter Carius/Klöß (2018).

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Schreiben in Sozialen Medien. Bestandsaufnahme und Perspektiven 

 49

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Spezifische Phänomene Sozialer Medien unter der Lupe

Andrea Abel/Aivars Glaznieks (Bozen)

Textqualität in Sozialen Medien Abstract: Wie wirkt sich das Schreiben kürzerer Texte in interaktionsorienterter Online-Kommunikation langfristig auf das Schreiben und die Qualität monologischer Texte aus? Auf diese Frage geht der Beitrag ein und präsentiert dazu empirische Daten aus einer Korpus-Vergleichsstudie, in der die Verwendung ausgewählter Konnektoren in einem Facebook-Korpus quantitativ und qualitativ analysiert und mit der Verwendung in dialogischen Texten von Wikipedia-Diskussionsseiten einerseits und in monologischen Texten wie Zeitungskommentaren und Schülertexten anderseits verglichen wurde. Die Analysen fokussieren darauf, wie Konnektoren in Online-Texten eingesetzt werden, ob sich spezifische Online-Verwendungen etablieren und ob „Spuren“ typischer Online-Verwendungen auch in normgebundener Umgebung nachweisbar sind.

1  Einleitung Schreibprodukte in sozialen Netzwerken entsprechen nicht immer den normativen Erwartungen, die man an redigierte Texte in der Presse, der Wissenschaft oder der Belletristik heranträgt. Ob und wie sich vernetztes, multimodales und dialogisches Kommunizieren einerseits und schreibproduktorientiertes, monologisches Formulieren andererseits wechselseitig beeinflussen und inwiefern sich das auf unsere Normerwartungen auswirkt, ist eine häufig gestellte Frage, die bislang für das Deutsche kaum empirisch beantwortet ist (vgl. u.a. Storrer 2017). Dabei interessiert nicht nur die Frage, wie sich das Online-Kommunizieren langfristig auf unsere Schriftsprache im Allgemeinen, sondern insbesondere, wie es sich auf die Qualität von Texten der Digital Natives auswirken wird. Im öffentlichen Diskurs wird das Thema nicht selten im Zusammenhang mit dem Begriff des Sprachverfalls diskutiert (vgl. Dürscheid/Frick 2016). Medien titeln etwa „Diagnose Sprachverfall. Wer spricht noch korrektes Deutsch?“ (Deutsch-

https://doi.org/10.1515/9783110679885-004

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 Andrea Abel/Aivars Glaznieks

landfunk, 24.11.2017)1 oder „Das Gefühl des Sprachverfalls trügt nicht“ (Welt, 22.3.2013).2 Mit der in diesem Beitrag vorgestellten Studie möchten wir Veränderungen im geschriebenen Sprachgebrauch im digitalen Zeitalter empirisch untersuchen und dadurch die bislang auf magerer Datenbasis geführte Debatte über mögliche Auswirkungen digitalen Schreibens auf die Qualität von Schreibprodukten versachlichen. Sie ist Teil des Projekts „MIT.Qualität“3, das sich mit der Frage nach Methoden zur Messung von Textqualität im digitalen Zeitalter und den damit verbundenen theoretischen Herausforderungen befasst (Abel et al. (Hg.) i.Ersch.). Im Folgenden gehen wir veranschaulichend auf einen kleinen Ausschnitt daraus ein, nämlich auf die korpusbasierte Analyse einzelner Konnektoren, da Konnektoren häufig als Indikator für Kohärenz und damit für einen wesentlichen Bereich von Textqualität herangezogen werden. Dazu führen wir vorab relevante Begriffe ein. Anschließend stellen wir Design und Methoden unserer Fallstudien vor, bevor wir auf die Ergebnisse eingehen und abschließend weitere Überlegungen zur Textqualität in Sozialen Medien anstellen.

2  Aspekte der Textqualität im traditionellen und digitalen Schreiben Vor dem Hintergrund der zentralen Frage nach möglichen Auswirkungen digitalen Schreibens auf das traditionelle Schreiben ist zunächst abzuklären, was unter „Textqualität“ traditionell, d.h. in monologischen Texten, zu verstehen ist. Im Hinblick auf die Frage, welche sprachlichen Qualitätsmerkmale und linguistischen Beschreibungsebenen sowie Kategorien für die Beschreibung von Textqualität relevant sind, können auf der Grundlage der Auswertung einschlägiger Literatur zum Thema (vgl. Bartz 2018, S. 21–23) und in Anlehnung an Nussbaumer (1991)

1 www.deutschlandfunk.de/diagnose-sprachverfall-wer-spricht-noch-korrektes-deutsch.1176. de.html?dram:article_id=401458 (Stand: 4.4.2019). 2 www.welt.de/kultur/article114694278/Das-Gefuehl-des-Sprachverfalls-truegt-nicht.html (Stand: 4.4.2019). 3 Das Projekt wurde im Rahmen der Förderlinie „Originalitätsverdacht?“ von der VW-Stiftung von Dezember 2017 bis Mai 2019 gefördert. Antragstellend waren daran die Universität Mannheim (Angelika Storrer, Projektleitung), das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (Carolin MüllerSpitzer) und Eurac Research (Andrea Abel, Aivars Glaznieks) beteiligt. Weitere Informationen zum Projekt sind auf https://mitqualitaet.com/ nachzulesen.



Textqualität in Sozialen Medien 

 55

die wesentlichen Qualitätskriterien zur Textbewertung wie folgt zusammengefasst werden: – – – –

das Kriterium der orthografischen Normkonformität das Kriterium der grammatischen Wohlgeformtheit das Kriterium der semantischen Konsistenz sowie das Kriterium der pragmatischen Angemessenheit, das sich aufgliedert in die Teilkriterien: pragmatische Markierung, Explizitheit/Inexplizitheit, Informationsstruktur/Gewichtung und funktional-thematische Organisation. (Bartz 2018, S. 62)

Ausgehend von diesen Kriterien wollen wir uns in einem nächsten Schritt der Online-Kommunikation zuwenden. Da diese sich in wesentlichen Punkten von der Produktion traditioneller Texte unterscheidet, kann dies als interaktions­ orientiertes Schreiben bezeichnet werden, das vom textorientierten abgegrenzt werden kann. Beim interaktionsorientierten Schreiben steht das aktuelle Kommunikationsgeschehen im Fokus eines Netzwerk-Akteurs […]. Bestimmend für die Versprachlichungsstrategien ist der kommunikative Erfolg in der laufenden Interaktion; hierfür kann die Schnelligkeit der Reaktion wichtiger sein als Prägnanz und sprachliche Elaboriertheit. Für das Interaktionsmanagement und die Beziehungsgestaltung bilden sich neue Formulierungstraditionen und grafische Konventionen heraus. (Storrer 2013, S. 337)

Das textorientierte Schreiben hat hingegen ein anderes Schreibziel, nämlich ein schriftsprachliches Produkt, das über den laufenden Kommunikationszusammenhang hinausgehend Bestand haben soll. […] Textorientierte Schreibprodukte sind auf eine Rezeptionssituation hin konzipiert, bei denen keine unmittelbare Interaktion zwischen Schreiber und Leser vorgesehen ist; das geschriebene Wort muss unabhängig vom kommunikativen Kontext interpretierbar sein. (ebd.)

In diesem Zusammenhang geht man davon aus, dass Texte orthografischen und grammatischen Standards sowie etablierten Strukturierungs- und Formulierungs­ traditionen folgen (vgl. Storrer 2013, S. 337). Die zur Qualitätsbewertung angesetzten Normen entsprechen im Wesentlichen den in Anlehnung an Nussbaumer (1991) bereits angeführten Kriterien. Das Schreiben nach diesen Kriterien „steht im Zentrum der schulischen Schreibdidaktik […]; es prägt aber auch viele Schreibanlässe in beruflichen und institutionellen Kontexten – auch das literarische, journalistische und wissenschaftliche Schreiben ist üblicherweise textorientiert“ (Storrer 2013, S. 337). Dass Schreibprodukte in Sozialen Medien häufig von den normativen Erwartungen an elaborierte Schriftlichkeit abweichen, ist unübersehbar. In unserem Beitrag gehen wir auf einzelne kohärenzstiftende Mittel kontrastierend näher ein.

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 Andrea Abel/Aivars Glaznieks

Kohärenz und Kohäsion sind Textualitätsmerkmale prototypischer Texte, wobei wir im Folgenden mit Storrer (2003, S. 276) Kohäsion „als Spezialfall von Kohärenz (als durch grammatische Mittel gestiftete Kohärenz)“ auffassen „und die als Kohäsionsmittel bezeichneten sprachlichen Kategorien […] unter die generelle Kategorie der Kohärenzbildungshilfen“ subsumieren, „zu denen auch nichtsprachliche, z.B. auditive […] oder layoutbezogenen Hilfen gehören“. Wichtig ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass Kohäsionsmittel die Kohärenzbildung im Rezeptionsprozess erleichtern sollen (vgl. Becker-Mrotzek et al. 2014). Kohäsionsmittel spielen in der Bewertung von Textqualität eine Rolle, da sie für die textgrammatische Verknüpfung einzelner Sätze zuständig sind und dadurch die Kohärenzbildung unterstützen (u.a. Nussbaumer 1991).

3  Forschungsleitende Fragen Unter Berücksichtigung der eben eingeführten Einschränkungen hinsichtlich unserer Untersuchung von Textqualität in interaktionsorientierten Online-Texten formulieren wir zwei forschungsleitende Fragen: 1. Wie und in welcher Form werden Konnektoren zur Herstellung von Kohäsion und Kohärenz in interaktionsorientierten Online-Texten eingesetzt? 2. Sind „Spuren“ typischer Online-Verwendungen auch in normgebundenen Schreibumgebungen nachweisbar? In Bezug auf Forschungsfrage 2 stehen vor allem Schülertexte im Mittelpunkt der Analyse, aber auch andere standardsprachliche Schreibprodukte, nämlich Zeitungstexte, werden berücksichtigt. Die beiden forschungsleitenden Fragen werden wir mithilfe zweier Fallstudien beantworten.

4  Methode Zur Beantwortung der Forschungsfragen haben wir in verschiedenen Korpora Analysen durchgeführt, zum Teil quantitativ, zum Teil qualitativ. Die Untersuchungen wurden zunächst anhand eines Korpus mit interak­ tionsorientierten Online-Texten durchgeführt und anschließend in geeigneten Vergleichskorpora wiederholt, die einerseits aus einer anderen Internet-Kom­ munikationsform und andererseits aus monologischen Texten bestehen. In der quantitativen Korpusanalyse wurden die Vorkommen ausgewählter Konnektoren



Textqualität in Sozialen Medien 

 57

form- und funktionsbasiert über Frequenzlisten in ihren jeweiligen Kontexten untersucht. In der qualitativen Korpusanalyse wurden darüber hinaus auch die vorkommenden verknüpften Elemente, also die Konnekte, und die dazu verwendeten syntaktischen Konstruktionstypen berücksichtigt. Je nach Konnektor kann diese Analyse unterschiedlich tief gehen. Abschließend wurden dann sowohl die Ergebnisse der quantitativen wie auch die qualitativen Analysen in den jeweiligen Korpora miteinander abgeglichen.

5  Datenbasis Für die Fallstudien wurden mehrere frei zugängliche Korpora ausgewählt. Das DiDi-Korpus (Frey/Glaznieks/Stemle 2016; Glaznieks/Frey i.d.Bd.), das FacebookTexte aus Südtirol enthält, steht im Fokus der Analysen. Es repräsentiert inter­ aktionsorientiertes Schreiben unterschiedlicher Kommunikationsformen, nämlich Statusmeldungen, Kommentare sowie Chat-Nachrichten. Die Texte stammen alle aus dem Jahr 2013 und geben die gesamte Kommunikation einzelner Personen aus diesem Jahr wieder.4 Weitere Texte interaktionsorientierten Schreibens finden sich in den Wikipedia-Korpora des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) (Margeretha/Lüngen 2014), und zwar in den Wikipedia-Diskussionsseiten. Für die vorliegende Untersuchung haben wir sowohl Benutzerdiskussionen (i.e. die Diskussionsseiten, die den einzelnen Benutzerinnen und Benutzern zugewiesen sind und hauptsächlich zur Kommunikation mit diesen dienen) als auch Artikeldiskussionen (i.e. Diskussionen zu einzelnen Wikipedia-Einträgen) verwendet. Woher die Schreiberinnen und Schreiber der Texte kommen, ist leider nicht bekannt. Wir haben die Datensätze des IDS verwendet, die Benutzer- und Artikeldiskussionsseiten bis ins Jahr 2017 einschließen.5 Für den Korpusvergleich verwenden wir Texte von Schülerinnen und Schülern, da sie als Digital Natives mehr oder weniger mit dem Internet und den da­

4 Das DiDi-Korpus kann entweder direkt über eine ANNIS-Suchoberfläche verwendet werden (https://commul.eurac.edu/annis/didi) oder über das CLARIN-Repository heruntergeladen werden. Der Link zum Download des Korpus lautet: http://hdl.handle.net/20.500.12124/7 (beide Stand: 12.9.2019). 5 Die Wikipedia-Korpora stehen frei über das CLARIN-Repository zur Verfügung. Der Link zum Download der Artikeldiskussionsseiten lautet: http://hdl.handle.net/10932/00-03B6-558F-5EA06301-B, der Link zum Download der Benutzerdiskussionsseiten lautet: http://hdl.handle.net/ 10932/00-03B6-558F-6EF0-6401-F (beide Stand: 12.9.2019).

58 

 Andrea Abel/Aivars Glaznieks

mit verbundenen diversen Kommunikationsformen sozialisiert wurden. Anhand dieser Texte wurden „Spuren“ spezifischer sprachlicher Internetphänomene in normgebundenen Schreibumgebungen untersucht. Für die vorliegenden Fallstudien verwenden wir das Schülertexte-Korpus KoKo, das aus Erörterungsaufsätzen matura- bzw. abiturführender Oberschulen aus Thüringen, Nordtirol und Südtirol zusammengestellt wurde (Abel et al. 2016).6 Alle Texte wurden 2011 geschrieben. Erörterungsaufsätze sind im Gegensatz zu Facebook-Texten und Wikipedia-Diskussionen monologische Texte, die dem normgebundenen, textorientierten Schreiben zugeordnet werden können. Schließlich wurden im Korpusvergleich auch journalistische Texte berücksichtigt, da Zeitungstexte in jüngerer Vergangenheit zunehmend für die Beschreibung von geschriebener Standardsprache bzw. zur „Rekonstruktion einer Gebrauchsnorm“ (Eisenberg 2007) herangezogen werden. Sie durchlaufen normalerweise eine redaktionelle Prüfung und sind ebenfalls dem normgebundenen Schreiben zuzuordnen. Für unsere Untersuchungen haben wir uns auf Zeitungskommentare konzentriert, da sie für gewöhnlich die Meinung des Textproduzenten bzw. der Textproduzentin wiedergeben und in dieser Hinsicht den anderen Texten der Fallstudien ähnlicher sind als andere journalistische Textsorten. Die Zeitungskommentare stammen aus dem DeReKo.7 Als Zeitungskommentare wurden für die vorliegende Studie solche Texte kategorisiert, die in der Rubrik oder in der Angabe des Texttyps den Teilstring „Kommentar“, „Leitartikel“, „Editorial“ oder „Meinung“ beinhalten. Zeitungskommentare standen aus deutschen, österreichischen und Schweizer Tageszeitungen für den Zeitraum 2010–2017 zur Verfügung.

6  Design Für die Fallstudien wurden aus den genannten Korpora Untersuchungskorpora gesampelt, die einer Richtgröße von etwa 375.000 Token entsprechen. Das ist in etwa die Token-Anzahl des kleinsten der ausgewählten Korpora. Anschließend wurden geeignete Konnektoren für die gegenüberstellende Analyse ausgewählt, was überwiegend anhand von Frequenzlisten geschah. Wir haben uns für die vorliegenden Fallstudien auf die Analyse und den Vergleich der Vor-

6 Informationen zur Nutzung des Schülertexte-Korpus KoKo befinden sich auf der Internetseite www.korpus-suedtirol.it/koko. 7 Das DeReKo ist über Cosmas II (https://cosmas2.ids-mannheim.de:6344/cosmas2-web/) frei zugänglich.



Textqualität in Sozialen Medien 

 59

kommen der Kausalkonnektoren (KK) denn, da und weil fokussiert sowie von ausgewählten metakommunikativen Konnektoren (MK), und zwar von sogenannten formulierungsbezogenen MK wie das heißt, sprich u.Ä. sowie von diskursfunktionsbezogenen MK wie und zwar, zum Beispiel oder übrigens (vgl. Breindl/Volodina/Waßner 2014). Gründe hierfür sind, dass sie erstens in allen Korpora relativ häufig vorkommen, zweitens potenziell unterschiedliche Vorkommen je nach Korpus bzw. je nach Kommunikationsform und Textsorte aufweisen, wie man das beispielsweise im Hinblick auf den Gebrauch von denn vs. weil in standardsprach­ lichen und nicht-standardsprachlichen Kontexten erwarten kann, und drittens, dass anhand der Belege damit verbundene linguistische Phänomene analysiert werden können, die zum Beispiel orthografischer Natur, z.B. abgekürzte und ausgeschriebene Varianten bei das heißt oder zum Beispiel, oder grammatischer Natur sind, wie der Gebrauch von weil mit Verbletzt- oder Verbzweitsätzen. Die Korpusanalyse bestand aus unterschiedlichen Teilschritten: Zunächst wurden automatisch Kandidaten für KK bzw. MK auf der Basis möglicher Wortformen (laut Breindl/Volodina/Waßner 2014) aus den Untersuchungskorpora extrahiert. Im nächsten Schritt wurden die Kandidaten als KK bzw. MK verifiziert. Dies geschah zunächst durch zwei, dann aufgrund der hohen Übereinstimmung durch eine Person. Bei den verifizierten Konnektoren erfolgte anschließend eine Annotation, für die eigene Annotationsrichtlinien erstellt wurden und die je nach Konnektorengruppe unterschiedlich gestaltet waren. Die Annotation der KK orientierte sich beispielsweise an den in Breindl/Walter (2009) vorgeschlagenen Kategorien. Auch hier wurde zunächst ein Teil der Vorkommnisse doppelt und anschließend von einer Person allein annotiert. Das Interrater-Agreement war sowohl für die Verifizierung als auch für die Annotationen sehr hoch (>90% Übereinstimmung). Da die jeweiligen Untersuchungskorpora doch recht klein sind, wurde außerdem kontrolliert, ob die untersuchten Korpora Verzerrungen aufweisen, die auf einzelne Texte bzw. Schreiberinnen oder Schreiber zurückzuführen sind, um den Einfluss von Ausreißern aufgrund einzelner Texte oder Personen ausschließen zu können. Abschließend wurden die Vorkommen in den jeweiligen Korpora miteinander verglichen und einzelne Besonderheiten qualitativ analysiert.

60 

 Andrea Abel/Aivars Glaznieks

7  Ergebnisse der Fallstudien 7.1  Überblick Bevor wir zu den Ergebnissen der Korpusanalysen im Detail kommen, möchten wir ein paar allgemeinere Angaben zu den Korpora und den Vorkommnissen der KK und MK vorwegschicken. Tab. 1: Allgemeine Übersicht über die Untersuchungskorpora und die analysierten Konnektoren Zeitungs­ kommentare

Schülertexte

Wiki-AD

Wiki-BD

Facebook

376.678 897 897

376.184 602 602

376.478 673 4.161

377.373 573 3.198

373.383 8.909 130

KK Anzahl total Anzahl pro 1.000 Wörter

875 2,32

1.834 4,88

913 2,43

763 2,02

697 1,87

MK Anzahl total Anzahl pro 1.000 Wörter

518 1,38

777 2,07

646 1,72

423 1,12

204 0,55

Anzahl Token Anzahl Texte Anzahl Autoren

Während die Token-Anzahl der verwandten Korpora sehr homogen ist, machen die Zahlen in Tabelle 1 deutlich, dass dennoch strukturelle Unterschiede vorhanden sind: So erlauben die Zeitungs- und Schülertexte eine Eins-zu-eins-Zuweisung von Text und Produzent bzw. Produzentin, die Wikipedia- und FacebookDaten hingegen nicht. In den Wikipedia-Korpora schreiben mehrere Personen an dem, was wir in dieser Studie als Text auffassen, nämlich einer Diskussionsseite. Im Facebook-Korpus liegen mehr Texte i.S.v. Thread-Beteiligungen vor als Personen im Korpus vertreten sind. Tabelle 1 ist auch die Anzahl der berücksichtigten KK sowie MK zu entnehmen, sowohl in absoluten als auch auf 1.000 Wörter relativierten Vorkommen. Es fällt auf, dass KK häufiger auftreten als MK und dass beide Konnektorenarten in den Schülertexten am häufigsten, in den FacebookTexten hingegen am seltensten vorkommen. Der hohe Wert an KK in den Schülertexten mag der Textsorte Erörterung geschuldet sein.



Textqualität in Sozialen Medien 

 61

7.2  Metakommunikative Konnektoren Als Einstieg in die exemplarischen Ergebnisdarstellungen dient ein Blick auf die Vorkommensverteilungen der analysierten MK (Tab. 2). Insgesamt wurden 30 MK abgefragt: 29 davon sind als diskursfunktions- respektive als formulierungsbezogene MK in Breindl/Volodina/Waßner (2014, S. 1140) gelistet; zusätzlich dazu wurde etwa berücksichtigt, das die Online-Version des Wörterbuchs der Konnektoren8 anführt. Tabelle 2 ist zu entnehmen, dass alle diskursfunktionsbezogenen MK in allen Korpora verwendet werden, nicht hingegen die formulierungsbezogenen. Die Konnektorenvielfalt in den Korpora unterscheidet sich: Die größte Vielfalt weisen die Zeitungskommentare auf, die geringste die Facebook-Daten. Während in den Facebook-Texten einerseits die geringste Type-Variation vorzufinden ist, ist darin andererseits die Schreibvariation am größten. So stellen wir etwa allein für die abgekürzte Schreibung von zum Beispiel im Facebook-Korpus elf Varianten bei 47 Vorkommen fest. Im Vergleich dazu gibt es in den Schülertexten zwei Varianten bei 266 Vorkommen; dabei handelt es sich um ein fehlendes Spatium, das auch aus der Interpretation bei der Transkription resultieren kann. Die Zeitungskommentare enthalten insgesamt lediglich vier Vorkommen, was unter Umständen auf Redaktionsvorgaben zurückzuführen ist. Unterschiede bestehen auch in Bezug auf die Vorkommen von MK-Klassen, angeführt von den exemplifizierenden MK mit einem Anteil von rund 64% an allen MK, wobei zum Beispiel in unserem Datenset bei weitem am frequentesten ist, gefolgt von den relevanzbezogenen MK mit rund 17% und schließlich den identifizierenden mit 8%. Weiterhin betreffen Vorkommensunterschiede auch die verwandten Korpora: So bestehen fast 85% aller untersuchen MK in den Schülertexten ausschließlich aus zum Beispiel und beispielsweise. Auch in den Zeitungstexten wird viel mit dieser Konnektorengruppe spezifiziert, wobei etwa überwiegt. Die Facebook-Daten liegen hingegen, zusammen mit den Wikipedia-Benutzerdiskussionen, ganz vorn bei der Verwendung von Konnektoren zur Angabe relevanzschwacher Nebeninformation (vgl. Breindl/Volodina/Waßner 2014, S. 1144). Sie stechen zudem in der Verwendung von Konnektoren hervor, die alternative Formulierungen darstellen (vgl. Breindl/ Volodina/Waßner 2014, S. 1144), und zwar von d.h. und sprich, wobei d.h. viermal häufiger verwendet wird als sprich. Dass d.h. in Wiki­pedia-Korpora frequenter ist als sprich, weist ebenso Storrer (2019, S. 239) nach. Auch in Korpora gesprochener Sprache lässt sich dieselbe Verteilungstendenz erkennen (z.B. Kaiser/Schmidt 2016).

8 Über die Internetadresse https://grammis.ids-mannheim.de/konnektoren (Stand 24.4.2019) zu erreichen.

62 

 Andrea Abel/Aivars Glaznieks

relevanzbezogene Konnektoren präzisierende Konnektoren exemplifizierende Konnektoren reformulierende Konnektoren identifizierende Konnektoren

Formulierungsbezogene metakommunikative Konnektoren

Diskursfunktionsbezogene metakommunikative Konnektoren

Tab. 2: Übersicht über die Vorkommen der MK in den Untersuchungskorpora (Angaben in Prozenten, Bezugsgröße: Anzahl aller abgefragten MK) Zahlenangaben in %

Zeitungskommentare

Schülertexte

Wiki-AD

Wiki-BD

Facebook

übrigens

07,9

00,4

18,3

28,6

27,0

nebenbei

00,6

00,4

02,5

00,9

02,5

überhaupt

05,2

01,2

01,4

01,7

05,4

nämlich

08,3

02,7

06,7

01,9

02,5

und zwar

05,8

02,1

03,7

02,8

04,9

zum Beispiel/z.B.

20,5

69,4

39,0

35,2

26,0

beispielsweise/bspw.

06,2

13,8

10,4

11,3

00,5

etwa

34,0

01,2

08,7

08,7

01,5

anders gesagt

00,0

00,1

00,2

00,2

00,5

anders herum

00,2

00,0

00,0

00,0

00,0

andersrum

00,2

00,0

00,0

00,0

00,0

auf ( gut ) xy gesagt

00,0

00,0

00,0

00,0

00,0

mit anderen Worten

01,0

00,1

00,5

00,2

00,5

m.a.W.

00,0

00,0

00,0

00,0

00,0

sozusagen

01,4

03,2

00,5

02,1

02,0

das heißt/d.h.

03,9

03,1

05,4

02,6

20,1

id est/i.e.

00,0

00,0

00,7

00,0

00,0

soll heißen

00,2

00,0

00,2

00,2

00,0

sprich

01,4

01,4

00,9

01,2

05,9

will heißen

00,0

00,0

00,0

00,0

00,0

 

 

Textqualität in Sozialen Medien 

identifizierende Konnektoren



Zahlenangaben in %

Zeitungskommentare

Schülertexte

Wiki-AD

Wiki-BD

Facebook

will sagen

00,4

00,0

00,3

00,7

00,0

besser gesagt

00,0

00,1

00,2

00,5

00,5

genau genommen

00,4

00,0

00,2

00,2

00,5

genau gesagt

00,0

00,0

00,0

00,0

00,0

genauer ( gesagt )

00,6

00,1

00,2

00,0

00,0

im Klartext ( gesprochen)

00,0

00,0

00,0

00,0

00,0

in xy Worten

00,2

00,0

00,0

00,0

00,0

in/mit einem Wort

00,0

00,0

00,0

00,0

00,0

kurz ( gesagt )

01,0

00,5

00,5

00,5

00,0

kurz und gut

00,0

00,0

00,0

00,0

00,0

kurzum

01,0

00,1

00,0

00,2

00,0

kürzer

00,0

00,0

00,0

00,0

00,0

allgemeiner ( gesagt )

00,0

00,0

00,0

00,0

00,0

( ganz ) allgemein gesprochen

00,0

00,1

00,0

00,0

00,0

 

 

resumptive Konnektoren

 

generalisierende Konnektoren

Formulierungsbezogene metakommunikative Konnektoren

 63

 

 

 

 

 

 

Im Folgenden werden wir ausgewählte Ergebnisse qualitativer Analysen mit einem Fokus auf (neuen) Verwendungen von Konnektoren in Social-Media-Texten anhand des MK übrigens vorstellen. Mit dem ersten Beispiel bewegen wir uns an der Schnittstelle von Syntax und Semantik. Ausgangspunkt nicht nur für die Auswahl, sondern auch die Beschreibung der MK bildet Breindl/Volodina/Waßner (2014). Danach zählt übrigens zu den „wenigen nicht positionsbeschränkten metakommunikativen Adverbkonnektoren“ (ebd., S. 1153). Als Teil der relevanzbezogenen Konnektoren kennzeichnet es

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 Andrea Abel/Aivars Glaznieks

wie nebenbei (gesagt) „das interne Konnekt als relevanzschwache Nebeninformation“ (ebd., S. 1152). Métrich/Faucher (2009, S. 881) merken u.a. an, dass übrigens gelegentlich auch „auf dem Wege loser Assoziationen einen völlig neuen Gedanken einführen kann im Sinne von ‚Da fällt mir ein‘ oder ‚Was ich noch sagen wollte‘“. Online-Referenzwerke wie Duden online9 und DWDS10 geben ausschließlich die Lesart i.S.v. ‚nebenbei bemerkt‘ an – ohne weitere diasystematische Markierungen oder kontextuell bedingte Besonderheiten. Egbert (2003, S. 191 ff.) bemängelt, dass in der Referenzliteratur Bedeutungsunterschiede von übrigens abhängig von der syntaktischen Position nicht berücksichtigt werden. In ihrer Studie zur Verwendung von übrigens im Mittelfeld in Alltagsgesprächen kann sie einen assoziativ ausgelösten Themenwechsel nicht feststellen. Ein abrupter Themenwechsel durch denselben Sprecher sei selten und im Mittelfeld von Aussagesätzen zudem kontraproduktiv. Wenden wir uns nun unseren Korpusdaten zu: Hier stellen wir eine ungleiche Verteilung von übrigens in Nullposition fest, die, wenngleich insgesamt selten, so doch häufiger in den Facebook- (13 Vorkommen) und Wikipedia-Diskussionstexten (fünf Vorkommen in Artikel-, 28 in Benutzerdiskussionen) aufscheint. In den Schülertexten gibt es insgesamt nur drei Vorkommen.  

Textbeispiel 1: übrigens in Nullposition mit abruptem Themenwechsel in einem Facebook-Thread (DiDi-Korpus, User-ID: 54635) User 5463 (Statusmeldung): ich bekomme sooo einen hals, wenn ich an das neue liftprojekt in ORT_1 denke. neue lifte als einzige antwort auf die tourismuskrise sind ausdruck armseliger kreativitätslosigkeit. arme natur, arme menschen. PERSON_1: KOMMENTAR_1 PERSON_1: KOMMENTAR_2 User 54635 (Kommentar_3): können wir gerne liebe PERSON_1 ? PERSON_1: KOMMENTAR_4 PERSON_2: KOMMENTAR_5 User 54635 (Kommentar_6): viele haben noch nicht begriffen, dass die party zu ende ist. daher gilt es zumindest das zu schützen, was unsere einzige ressource für die zukunft ist. PERSON_3: KOMMENTAR_7 User 54635 (Kommentar_8): hallo PERSON_3! schön von dir zu hören!! lass mich halt mal ein bisschen frust loswerden. ivielleicht reagier ich so, weil es die landschaft meiner kindheit betrifft. und zum thema party: ich bin mir sicher, dass das was jetzt kommen wird, nennen wir es die zeit der kleine-

9 www.duden.de/ (Stand: 16.4.2019). 10 www.dwds.de/ (Stand: 16.4.2019).



Textqualität in Sozialen Medien 

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ren brötchen, uns nicht unglücklicher machen wird. im gegenteil. und deshal schlaf ich jetzt mit einem lächeln ein :-) User 54635 (Kommentar_9): ünrigens: ich bon FÜR den ORT_2 flughafen. nur, damit es nicht dogmatisch wird. Der Ausschnitt aus dem Facebook-Korpus DiDi (Textbeispiel 1) zeigt zur Veranschaulichung einen Initialpost zu einem Skiliftprojekt in einer Südtiroler Skiregion, auf den eine Reihe von Kommentaren dazu folgen.11 Schließlich stoßen wir auf übrigens in Nullposition (Kommentar_9), das einen abrupten Themenwechsel insofern einleitet, als plötzlich die Meinung zu einem Flughafenbauprojekt kundgetan wird. In den 13 Vorkommen im Facebook-Korpus findet elfmal ein abrupter Themenwechsel statt, einmal gibt es einen losen Bezug zum vorher Genannten und einmal eine Nebeninformation. Die Verwendungen im Mittelfeld weichen hingegen davon ab: Hier stellen wir eine Anknüpfung an Vorheriges fest, das Aufrecht­ erhalten des Themas oder das Nennen einer Nebeninformation.

7.3  Kausalkonnektoren Die KK da, denn und weil sind in den untersuchten Korpora unterschiedlich verteilt (vgl. Tab. 3). In den Facebook-Texten aus dem DiDi-Korpus werden etwa drei Viertel aller Vorkommnisse (74,5%) der untersuchten KK von weil abgedeckt, in den Wikipedia-Diskussionen wird dagegen im Verhältnis häufiger da verwendet als weil. In allen drei Korpora jedoch kommt denn anteilig relativ selten vor (Facebook: 12,8%, Benutzerdiskussionen auf Wikipedia: 12,4%, Artikeldiskussionen auf Wikipedia: 15,7%). Warum in den Wikipedia-Diskussionsseiten da am häufigsten verwendet wird, müsste in einem weiteren Schritt genauer analysiert werden, mag aber mit den spezifischen Diskussionsinhalten bzw. Begründungen auf diesen Seiten zusammenhängen. Oft wird sich auf bestehende Regeln in der Wikipedia-Community bezogen; eine naheliegende Erklärung könnte daher sein, dass den informationsstrukturellen Eigenschaften von da Rechnung getragen wird, indem der Inhalt des internen Konnekts durch die Verwendung von da als bekannt vorausgesetzt gekennzeichnet wird (u.a. Blühdorn 2006, S. 261). Denn ist wahrscheinlich aus demselben Grund verhältnismäßig selten, da denn – im Gegensatz zu da – für die Verknüpfung nicht-präpositionaler, fokaler Inhalte verwendet wird (vgl. Pasch et al. 2003, S. 590 f.).

11 Aus rechtlichen Gründen können die Kommentare von Personen, deren Einverständniserklärung nicht vorliegt, hier nicht wiedergegeben werden.

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 Andrea Abel/Aivars Glaznieks

Die Schülertexte verhalten sich bei der Verteilung der KK einigermaßen konservativ (vgl. Wegener 2000): Weil wird am seltensten verwendet (24,5%), denn (43,9%) und da (31,6%) kommen dagegen häufiger vor. Diese Verteilung könnte auf Vorgaben in der Schulwelt zurückzuführen sein und würde dann eine standardsprachliche bzw. schriftsprachliche Präferenz für denn gegenüber weil widerspiegeln (vgl. Pasch et al. 2003, S. 401). In Zeitungskommentaren sind wieder die weilVorkommnisse vergleichsweise häufig (53,4%), da wird hingegen selten verwendet (8,5%), während denn im schriftsprachlichen Standard häufiger (38,2%) vertreten ist. Tab. 3: Relative Verteilung der Kausalkonnektoren denn, da und weil (in Prozent) Zeitungs­ kommentare

Schülertexte

Wiki-AD

Wiki-BD

Facebook

denn

 

38,2

43,9

15,7

12,4

12,8

da

 

8,5

31,6

49,6

46,1

12,8

weil

 

53,4

24,5

34,7

41,4

74,5

davon

weil_VL

97,9

96,2

93,7

96,2

67,8

 

weil_V2

0,6

2,2

3,2

0,6

26,2

 

weil Ellipse

0,6

0

1,6

1,3

4,1

 

weil Rest

0,9

1,6

1,6

1,9

1,9

Kommen wir nun zur Verwendung von weil in Verbletzt- und Verbzweitsätzen und illustrieren Verwendungen auf syntaktischer Ebene: In den Facebook-Texten fällt sofort der hohe Anteil an weil-Verbzweit-Sätzen auf, der immerhin knapp mehr als ein Viertel (26,2%) der weil-Verwendungen ausmacht (Tab. 3). Dieser Wert ist sehr hoch und wurde in der Literatur unseres Wissens noch nicht für geschriebene Texte dokumentiert, lediglich in Korpora gesprochener Sprache ist der Anteil vergleichbar (vgl. Wegener 2000, S. 58). Diesen hohen Wert finden wir nicht in den Wikipedia-Korpora, wo die Anteile in den Artikeldiskussionen (3,2%), aber besonders in den Benutzerdiskussionen (0,6%), sehr gering sind (vgl. dazu auch Storrer 2019, S. 232–237). In den Schülertexten kommen insgesamt nur 10 Verwendungen von weil mit Verbzweitsatz vor, was einem Anteil von 2,2% entspricht. Dieser Wert ist eben-



Textqualität in Sozialen Medien 

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falls sehr gering. In den Zeitungskommentaren kommen weil-Verbzweitsätze so gut wie gar nicht vor. Tabelle 4 zeigt die Verwendung von weil als Subjunktion mit Verbletztsatz in den Untersuchungskorpora. Diese Verwendungsweise ist, wie gerade gezeigt, die häufigste in allen Untersuchungskorpora, auch in den Facebook-Texten, und das trotz der relativ hohen Anzahl von weil mit Verbzweitsätzen. Eine Auffälligkeit im Facebook-Korpus, auf die noch kurz eingegangen werden soll, betrifft den relativ hohen Wert an syntaktisch selbstständigen weil-Nebensätzen. Das sind solche weil-Verbletztsätze, die in Anlehnung an Pasch et al. (2003, S. 401) entweder nach Sprecherwechsel (z.B. in Antwortsätzen) gebraucht werden (das externe Konnekt also von einem Interaktionspartner geliefert wird) oder auf eine außersprachliche äußerungsbegleitende Handlung Bezug nehmen, die nicht verbalisiert wird. In Bezug auf Kommunikationsformen in Facebook können diese außersprachlichen Handlungen zum Beispiel das Posten von Bildern und Videos sein, die dann durch einen selbstständigen weil-Satz begründet werden. Beim Blick auf die Zahlen in Tabelle 4 finden wir in den Facebook-Texten insgesamt 45 solcher selbstständigen weil-Verbletzt-Sätze (fast 13% der Vorkommen). Diese kommen in 35 Fällen nach Sprecherwechsel vor, dann in FacebookKommentaren oder Chat-Nachrichten, in sieben Fällen aber auch mit einem nichtsprachlichen externen Konnekt aus einer anderen semiotischen Modalität. In diesem Fall können sie als handlungsbegleitende Äußerungen interpretiert werden, was sich in der Kombination unterschiedlicher Modalitäten manifestiert. Weil fungiert dann als sprachliches Mittel zur Herstellung multimodaler Kohärenz. Tab. 4: Verteilung von weil in Verbletztsätzen (absolut und in Prozent), unterteilt nach orthografischer Trennung vom externen Konnekt Zeitungskommentare

Schülertexte

Wiki-AD

Wiki-BD

Facebook

weil (absolut) 

467

450

317

316

519

weil-VL (absolut)

457

433

297

304

352

weil-VL (in %) 

97.86

96.22

93.69

96.20

67.82

0.44

0.00

2.36

0.99

12.78

davon selbstständig (in %)

Im Folgenden möchten wir ein Beispiel für eine solche multimodale Verknüpfung geben (siehe Abb. 1). In diesem rekonstruierten Beispiel aus dem Facebook-Kor-

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pus steht der selbstständige weil-Satz weil ich die Petition gelesen habe über einem Bild, auf dem ein Flüchtlingsboot abgebildet ist, unter dem der als Aufforderung zum Unterschreiben gemeinte Satz Can you spare a minute to help […]? steht, der wiederum mit der Webseite der Petition auf change.org verlinkt ist. Der Post stellt also insgesamt einen hypermodalen Text dar. Aus der Rezeptionsperspektive stellt der weil-Satz eine Begründung für die kommunikative Handlung des Postens eines Aufrufs zur Beteiligung an einer bestimmten Petition dar. Hier liegt eine handlungsbegleitende Begründung vor. Der selbstständige weil-Verbletzt-Satz dient also als sprachliches Kohäsionsmittel zur Herstellung multimodaler Kohärenz und legt dabei eine Begründungsrelation nahe.

Abb. 1: Beispiel für die Verwendung eines syntaktisch selbstständigen weil-Verbletztsatzes als kausaler Konnektor in einem hypermodalen Facebook-Text

7.4  Spurensuche Nun möchten wir auf die Beantwortung der Forschungsfrage 2 übergehen, nämlich ob „Spuren“ typischer Online-Verwendungen auch in normgebundenen Schreib­ um­gebungen nachweisbar sind. Zur Illustration gehen wir zunächst auf zwei MKBeispiele, anschließend auf ein KK-Beispiel näher ein.



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Zunächst greifen wir den MK übrigens noch einmal auf und lenken den Blick dieses Mal auf die funktional-pragmatische linguistische Ebene: Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass die Vorkommen im Schülertexte-Korpus mit insgesamt drei, davon eines in Nullposition, sehr gering sind. Textbeispiel 2: Verwendung von übrigens in Nullposition in einem Schülertext (KoKo-Korpus, Text-ID: 2194) […] In der Jugendzeit macht man viele Erfahrungen, zwar auch Fehler, aber aus denen lernt man. Es gibt sehr viele Jugendliche die nicht gerne in die Diskothek gehen und lieber zu Hause sind um zu lesen oder einfach bei der Familie sein möchten. Übrigens, eine Diskothek ist nicht schrecklich, man muss sich nicht betrinken nur weil die anderen Freunde dies tun und man macht oft neue Bekanntschaften. Wenn ein Jugendlicher ein wenig selbstständig ist, dann kann er auch selbst entscheiden was richtig oder falsch ist, denn später wenn man erwachsen ist, sagt einem auch keiner mehr ob man das Richtige macht. […)] Das Beispiel in Nullposition in Textbeispiel 2 ist insofern erwähnenswert, als darin kein abrupter Themenwechsel angekündigt wird, wie wir ihn für unser Facebook-Korpus feststellen konnten, sondern eine Nebenbemerkung eingeschoben wird, die als assoziative Abschweifung beschrieben werden kann. Interessant ist darüber hinaus eine weitere Beobachtung, die in Textbeispiel 3 wiedergegeben ist. Textbeipiel 3: Verwendung von übrigens mit additiver Lesart in einem Schülertext (KoKo-Korpus, Text-ID: 1818) […] Andererseits sollte man als Jugendlicher Spaß haben und das Leben genießen, die ein – oder andere Dummheit darf dabei natürlich auch nicht fehlen. […] Ein weiterer Punkt, der für die Jugend spricht, ist, dass ein Jugendlicher viel freier als ein Erwachsener ist. […] Als Jugendlicher macht man sehr wichtige Erfahrungen für die „richtige Welt“. Diese Zeit spielt für später also auch eine große Rolle. Der Schriftsteller erwähnt übrigens, dass Jugendliche nur an Klamotten und Diskotheken denken. Der Grund dafür ist einfach, dass sie Spaß haben wollen und das tun, das ihnen Freude bereitet. […] Die Lesart von übrigens als ‚nebenbei bemerkt‘ ist in diesem Textabschnitt nicht plausibel. Es geht weder um einen abrupten Themenwechsel noch um eine Abschweifung oder um eine Relevanzzurücknahme, wie die wissenschaftliche Literatur die Funktionen darlegt (vgl. Breindl/Volodina/Waßner 2014, S. 1152; Egbert 2003, S. 191 f.). Auch laut Duden online, dem DWDS und der Duden-Grammatik

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 Andrea Abel/Aivars Glaznieks

(2005, S. 598, 601) ist ‚nebenbei bemerkt‘ die einzige übliche Lesart. Die Textstelle im Schüleraufsatz (Textbeispiel 3) legt hingegen eine additive Lesart i.S.v. ‚außerdem, auch, des Weiteren‘ nahe. Halten wir uns an die genannten Referenzwerke, hätten wir es mit einem Lernerphänomen, einem lexikalischen Fehler, zu tun. Dass eine Abgrenzung zwischen einer additiven und einer metakommunikativen Lesart schwierig ist, dazu liefert die Forschungsliteratur Hinweise: So wird z.B. bei Breindl/Volodina/Waßner (2014, S. 1153 f.) auf diese Schwierigkeit hin­ gewiesen, wenngleich mit Bezug auf die Abgrenzung zwischen übrigens und im Übrigen. Bei Métrich/Faucher (2009, S. 877–887) werden zwar beide Lesarten angeführt, die Unterschiede sind allerdings nicht klar herausgearbeitet. Wie bei den MK fällt die Spurensuche auch bei den KK wenig ertragreich aus. Wir beschränken uns bei dieser Darstellung auf das syntaktische Phänomen der weil-Sätze mit Verbzweitstellung. Wie oben dargestellt, ist die Vorkommenshäufigkeit in Schülertexten mit 2,2% aller weil-Sätze minimal. Wenn sie in Schülertexten vorkommen, werden sie ausschließlich epistemisch verwendet (Textbeispiel 4). Textbeispiel 4: Verwendung von weil mit Verbzweitsatz in einem Schülertext (KoKo-Korpus, Text-ID: 2755) […] Jedoch müssen Eltern ihren Söhnen Freiheiten lassen, Freiheiten womit man dann selber entscheiden muss, ohne Empfehlungen von anderen, welchen Weg man nehmen soll. Das gehört auch zum Erwachsen werden. Die Jugend ist keine beneidenswerte Phase des Lebens, diese könnte man sehen als ein Wendepunkt im eigenen Leben, weil in dieser Zeit entscheidet man, was aus unserer Zukunft (werden) wird. Es ist oft sehr schwierig, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es tauchen immer wieder andere Problemen auf die man noch nicht gewohnt ist, (diese) zu bekämpfen. […] In Wikipedia-Diskussionen kommen sie in epistemischer und sprechaktbegründender Funktion vor, in Zeitungskommentaren auch in fingierten Dialogen.

8  Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick Die Analyse der MK hat gezeigt, dass sich Online-Kommunikation in unserer Datengrundlage durch eine geringere Type-Variation bei gleichzeitig höherer graphematischer Schreibungsvariation auszeichnet. Zudem werden Präferenzen für bestimmte Konnektoren in einzelnen Korpora deutlich, z.B. sprich in FacebookTexten. Auffallend ist weiterhin, dass Verwendungsweisen nachweisbar sind, die in gängigen Referenzwerken wie dem Duden online, dem DWDS oder der Duden



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Grammatik (2005) nicht beschrieben sind, etwa positionsabhängige Bedeutungsunterschiede wie bei übrigens in Nullposition. Die Analyse der KK hat eine Präferenz für weil über denn und da in FacebookTexten gezeigt, die wir in der Ausprägung in keinem der Vergleichskorpora vorfinden. Im Schülertextekorpus wird denn am häufigsten verwendet, weil sogar seltener als da. Insgesamt finden wir einen relativ hohen Anteil an denn-Vorkommen in Zeitungskommentaren und Schülertexten und einen geringen Anteil in Wikipedia-Diskussionen und Facebook-Texten. Der Anteil von da ist in den Wikipedia-Texten am höchsten. Bezüglich der Verwendung von weil können wir als spezifisch für Facebook Folgendes festhalten: Wir finden erstens einen höheren Anteil von weil-Verbzweit-Anschlüssen und zweitens einen auffälligen Anteil an syntaktisch selbstständigen weil-Sätzen, meist mit Verbletzt-, seltener mit Verbzweitstellung. Die syntaktisch selbstständigen weil-Sätze kommen meist nach Sprecherwechsel vor und unterstützen damit die Herstellung von interaktionaler Kohärenz. Gelegentlich werden sie auch zur Verdeutlichung multimodaler Verknüpfungen verwendet und unterstützen dann die Herstellung multimodaler Kohärenz. Insgesamt konnten aber kaum „Spuren“ in Texten traditioneller Schriftlichkeit nachgewiesen werden, selbst in den Schülertexten nicht, und zwar für beide in unserer Studie analysierten Konnektorenklassen. Die vorliegende Studie hat unseres Wissens zum ersten Mal die Verwendung von Konnektoren in unterschiedlichen Textgenres anhand von fünf Korpora gegenüberstellend untersucht. Das Ziel bestand darin herauszuarbeiten, welche sprachlichen Mittel im Bereich des heutigen geschriebenen Deutsch verwendet werden und wie sich diese Verwendungsweisen in unterschiedlichen Textsorten und Kommunikationsformen zeigen, um mögliche Auswirkungen von interak­ tionsorientiertem auf textorientiertes Schreiben herauszustellen. Wir haben dabei verschiedene Korpora analysiert, deren verbindendes Element (mehr oder weniger) meinungsbetonte Genres mit argumentativen Vertextungshinweisen waren. Der Korpusvergleich weist auch einige Schwächen auf, auf die abschließend noch kurz eingegangen werden soll. Die ausgewählten Korpora sind insofern nicht vergleichbar, als ihre Texte aus unterschiedlichen Anlässen geschrieben wurden und daher auch unterschiedliche Funktionen aufweisen; dieses Problem wurde aber für die angestrebte Synopse in Kauf genommen. Außerdem beinhaltet das verwendete Facebook-Korpus nur Texte aus Südtirol, was die Aussagekraft der Ergebnisse regional einschränken könnte. Auch dieses Problem haben wir in Kauf nehmen müssen, da aktuell für das Deutsche keine besseren Social-MediaKorpora frei zur Verfügung stehen. Schließlich sind die verwendeten FacebookTexte aus dem Jahr 2013 und spiegeln damit wahrscheinlich nicht den heutigen Stand im Jahre 2019 wider. Auch dieses Grundproblem der Internetlinguistik mussten wir aus Ermangelung aktuellerer Korpora akzeptieren.

72 

 Andrea Abel/Aivars Glaznieks

Die vorgestellten Fallstudien müssen als ein Mosaikstein für die Herausforderung, Textqualität in Sozialen Medien zu beschreiben, betrachtet werden. Weitere Analysen sind genauso notwendig, um ein genaueres Bild zu erhalten, wie weitere und umfangreichere frei zugängliche Korpusressourcen (vgl. Abel et al. (Hg.) i.Ersch.). Schließlich fehlt für die Bewertung und Untersuchung von Textqualität in Social-Media-Texten ein geeignetes Bewertungsinstrument, das die Eigenheiten inter­aktionsorientierter Schriftlichkeit und unterschiedlicher Kommunikationsformen internetbasierter Kommunikation angemessen berücksichtigt. Unsere Fallstudien haben gezeigt, dass bei sprachlichen Elementen, die normalerweise bei der Beurteilung von Textqualität in traditionellen Texten herangezogen werden, in Sozialen Medien aufgrund der Eigenheiten und Möglichkeiten der zugrunde liegenden Kommunikationsplattform Unterschiede in der Verwendungsweise zu Texten anderer Kommunikationsformen oder Textsorten feststellbar sind, die wiederum bei der Beurteilung von Textqualität in Online-Texten Berücksichtigung finden müssen. Ein Vorschlag dazu, wie ein neues Textqualitätenmodell aussehen könnte, wird in Abel et al. (Hg.) (i.Ersch.) gegeben.

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Jannis Androutsopoulos (Hamburg)

Digitalisierung und soziolinguistischer Wandel Der Fall der digitalen Interpunktion Abstract: Der Beitrag diskutiert Interpunktion als ein Teilsystem des Deutschen, an dem das Verhältnis zwischen Sprachwandel und dem gesamtgesellschaftlichen Wandelprozess der Digitalisierung besonders gut ablesbar ist. Der Gebrauch von Interpunktionszeichen im interaktionsorientierten digitalen Schreiben ist gekennzeichnet durch eine distributive Umstrukturierung des Interpunktionsinventars sowie durch Prozesse der Pragmatikalisierung, Syntaktisierung und Ikonizität, die verschiedene Satzzeichen betreffen. In der privaten und öffentlichen metasprachlichen Reflexion zeigen sich eine nicht-binäre Wahrnehmung digitaler Interpunktion und eine Registrierung einzelner Interpunktionspraktiken mit sozialen Gruppen. Die Verlagerung interpersonaler Kommunikation auf digitale Schriftlichkeit führt insgesamt zu einer Ausfächerung des interaktionalen Umgangs mit Interpunktion und zur Herausbildung domänenspezifischer Interpunk­tionsstile.

1  Einleitung Unter ‚digitale Interpunktion‘ ist der Gebrauch von Interpunktionszeichen in der digitalen schriftbasierten Interaktion zu verstehen (Androutsopoulos 2018, i. Ersch.). Der relevante Gegenstandsbereich beschränkt sich dabei ausdrücklich auf das interaktionsorientierte Schreiben (Beißwenger/Storrer 2012), bei dem zwei oder mehrere Personen durch digital vernetzte Geräte und Software-Applikationen Beiträge austauschen und interaktionale Sequenzen aufbauen. Zwar ist die Abgrenzung zwischen text- und interaktionsorientiertem Schreiben nicht immer leicht, der Grundgedanke ist jedoch, dass nicht digitale Kommunikationsmedien als solche, sondern erst die Bedarfe der durch sie vollzogenen Interaktion eine Voraussetzung für Innovation und Wandel im Gebrauch von Interpunktionszeichen in der digitalen Schriftlichkeit darstellen. Verglichen mit Emojis sind Interpunktionszeichen (IPZ) im digitalen Sprachgebrauch weit weniger erforscht und in der Öffentlichkeit beachtet. Zwar wird die Relevanz grafischer Variation in der linguistischen Onlineforschung bereits ab https://doi.org/10.1515/9783110679885-005

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 Jannis Androutsopoulos

Mitte der 1990er Jahre diskutiert, IPZ wurden jedoch zunächst nur im Hinblick auf ihren unkonventionellen bzw. normabweichenden Gebrauch betrachtet. So z.B. wurden das Fehlen von Satzzeichen auf das Streben nach sprachlicher Ökonomie beim schnellen Chatten zurückgeführt, die Iteration von Frage- und Ausrufezeichen als Mittel von Expressivität unter Bedingungen kommunikativer Informalität bewertet (vgl. Bieswanger 2013; Androutsopoulos 2018). Spätere empirische Forschung konstatiert Genderunterschiede bei der Frequenz von Ausrufezeichen, der Auslassung von Punkt und Komma und dem Gebrauch des Apostrophs (Herring/Zelenkauskaite 2008; Squires 2012). Neuere Forschungsarbeiten wenden sich dem Gebrauch einzelner IPZ im sequenziellen Verlauf digitaler Interaktionen zu und beschreiben Interpunktion als genuin grafische Ressource der Koordination schriftbasierter Interaktion (Ong 2011; Vandergriff 2013; Busch 2017; McSweeney 2018; Androutsopoulos 2018). Auf diese Arbeiten komme ich im Folgenden zurück. Dieser Beitrag untersucht Formen und Funktionen digitaler Interpunktion im Deutschen unter zwei Gesichtspunkten. Erstens wird gezeigt, dass in der medialen Ökologie der digitalen Kommunikation verschiedene IPZ pragmatische und strukturelle Aufgaben wahrnehmen. Zweitens wird am Beispiel der Interpunktion der oft gestellten, aber noch nicht geklärten Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprachwandel und digitaler Kommunikation nachgegangen (Haase et al. 1997; Androutsopoulos 2011). Mit dem Konzept des soziolinguistischen Wandels wird argumentiert, dass mit der gesamtgesellschaftlichen Durchdringung der digitalen Schriftlichkeit mehrere IPZ neue Funktionen gewinnen, um Bedarfen der Kontextualisierung und Verständnissicherung in der schriftbasierten Interaktion entgegenzukommen. Daraus hervorgehende Sprachwandelprozesse werden auf drei Ebenen untersucht: (a) Gebrauchsfrequenz von IPZ im informellen digitalen Schreiben, (b) Gebrauchsmuster ausgewählter IPZ in einer Spannung zwischen syntaktischen und pragmatischen Aufgaben und (c) gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung der digitalen Interpunktion. Die herangezogenen empirischen Daten entstammen verschiedenen Quellen. Einen wichtigen Teil macht das Promotionsprojekt von Florian Busch über digitale Schreibregister aus (Busch 2020; Androutsopoulos/Busch 2020). Seine Daten umfassen u.a. 23 individuelle Textportfolios mit Samples aus schulischem und digital informellem Schreiben sowie sprachreflexive Gruppeninterviews mit 16 Proband/innen. Die Textportfolios enthalten 47 WhatsApp-Chatverläufe mit insg. 18.802 Nachrichten und 151.970 Worttokens. Weitere untersuchte Daten entstammen Facebook-Profilen von Hamburger Schüler/innen, einem Korpus von WhatsApp-Konversationen unter jungen Akademiker/innen sowie Belege für die Thematisierung bzw. Stilisierung von digitaler Interpunktion im Mediendiskurs (vgl. Androutsopoulos 2018).



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Im folgenden Abschnitt (Kap. 2) werden das Konzept des soziolinguistischen Wandels und das Verhältnis zwischen Digitalisierung und Interpunktionswandel umrissen. Daran anschließend (Kap. 3–5) werden Formen, Praktiken und Ideologien von digitaler Interpunktion exemplarisch untersucht. Abschließend (Kap. 6) werden Implikationen für die standardsprachliche Interpunktionsnorm und die Entwicklung von Schreibrepertoires im digitalen Zeitalter diskutiert.

2  Digitalisierung, Kontextualisierung und Sprachwandel Schon seit mehr als 20 Jahren wird das Verhältnis zwischen internetbasierter Kommunikation und Sprachwandel vielfältig und kontrovers diskutiert. Manchmal findet dies unter kulturpessimistischen und latent technophoben Vorzeichen statt, indem ein Verlust sprachlicher Kompetenzen durch das Internet heraufbeschworen wird (vgl. Baron 2008; Dürscheid/Frick 2016). In der empirischen Linguistik pendeln die Positionen zwischen Dramatisierung und Zurückhaltung. Während Sigurd Wichter (1991, S. 89) voraussagt, dass „die neuen Entwicklungen durchaus die Auswirkungen erreichen können, die dem Buchdruck zu Beginn der Neuzeit oder der Fernübertragungstechnik im Anfang des 20. Jahrhunderts zukommen“, ist nach David Crystal (2011, S. 57) Internetkommunikation noch so rezent, dass jenseits recht offensichtlicher Phänomene wie lexikalische Innovationen und Bildzeichen kein grundlegender Sprachwandel diagnostiziert werden könne. Analytisch werden Listen innovativer Phänomene vorgelegt und nach Strukturbereichen klassifiziert (vgl. Androutsopoulos 2011; Dürscheid/Frick 2016), wobei ihre Persistenz und Entwicklung hin zu gesamtgesellschaftlichem Sprachwandel nicht immer nachzuweisen sind. So führt die viel beachtete Arbeit von Haase et al. (1997) über „Internetkommunikation und Sprachwandel“ zahlreiche Phänomene auf grammatischer, lexikalischer und diskurspragmatischer Ebene an, wovon viele aus heutiger Sicht als Kuriositäten der frühen Internetkultur einzustufen sind (vgl. Androutsopoulos 2011). Im Unterschied zu Haase et al. (1997) ist der hier vorgelegte Zugang zum Verhältnis von Digitalisierung und soziolinguistischem Wandel präziser und zugleich umfassender. Präziser, weil nur das Teilsystem der Interpunktion (Bredel 2011) unter die Lupe genommen wird, und umfassender, weil das hier zugrunde gelegte Konzept des soziolinguistischen Wandels (sociolinguistic change, Coupland 2009) den variationslinguistischen Fokus auf sprachstrukturellen Wandel erweitert. Mein Interesse richtet sich auf Sprachwandelprozesse in spätmodernen Gesell-

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schaften, deren sprachliche Trends und Gebrauchsstandards durch medialen Sprachgebrauch und mediale Diskurse geprägt sind (vgl. Coupland 2014; Androutsopoulos 2017). Inzwischen ist es in der Soziolinguistik weitgehend Konsens, dass die Rolle von Medien im Sprachwandel nicht mehr (wie noch in der frühen korrelativen Soziolinguistik) pauschal verworfen werden kann, sondern empirisch zu prüfen ist.1 Das Konzept des soziolinguistischen Wandels wurde von Nikolas Coupland theoretisch und epistemologisch geschärft (Coupland 2009, 2014; Androutsopoulos (Hg.) 2014, 2017). Coupland kritisiert korrelativ-variationslinguistische Zugänge zum Sprachwandel als reduktionistisch, weil sie die gesellschaftliche und ideologische Dimension von Sprachwandelprozessen nicht näher erforschen. Dem hält Coupland entgegen, dass Veränderungen in den kommunikativen Praktiken und Sprach­ideologien (zum Begriff vgl. Busch 2019) einer Gesellschaft als integraler Bestandteil von Sprachwandelprozessen anzusehen und in ihrem Zusammenspiel mit Strukturwandel zu untersuchen sind. Gerade weit reichende Sprachwandelprozesse – etwa Standardisierung und Destandardisierung, Kreolisierung oder Revitalisierung von Minderheitensprachen – beinhalten nicht nur sprachstrukturellen Wandel, sondern eine Umstrukturierung gesellschaftlicher Sprachrepertoires und Sprachideologien. Mit dem Konzept des soziolinguistischen Wandels wird nun versucht, eine der zentralen Fragestellungen der soziolinguistischen Sprachwandelforschung – „how change [is] embedded in social practice“ (Britain 2016, S. 143) – neu zu denken, indem die mit Strukturwandel verbundenen kommunikativen Praktiken und metasprachlichen Reflexionen gesellschaftlicher Akteur/innen in den Vordergrund gerückt werden. Die Grundlage für den hier untersuchten soziolinguistischen Wandel in der Interpunktion ist der übergreifende Prozess der Digitalisierung, worunter aus kommunikationstheoretischer Sicht die langfristige Durchdringung aller gesellschaftlicher Handlungsfelder durch Prozesse digitaler Kommunikation zu verstehen ist (Krotz/Despotovic/Kruse (Hg.) 2017). Die Digitalisierung des Alltags hat seit Ende der 1990er Jahre zu einer Umstrukturierung des gesamtgesellschaftlichen kommunikativen Haushalts geführt und die Rolle von Schriftlichkeit nachhaltig verändert. Während sich gesellschaftliche Literalität in prä-digitalen Zeiten v.a. als eine Literalität des Lesens darstellte und alltägliches Schreiben primär auf institutionelle Kontexte fokussiert war, vollzieht sich mit der Digitalisierung des kommunikativen Alltags ein Wandel hin zur einer schreibenden Gesellschaft, in der Schriftlichkeit zu einem Medium für informelle, interpersonale Kommuni-

1 Vgl. Androutsopoulos (2017); Tagliamonte (2014) und weitere Beiträge in der Debatte über „Media and language change“ im Themenheft des Journal of Sociolinguistics 8, 2, 2014.



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kation wird (Androutsopoulos 2007; Androutsopoulos/Busch 2020; Jucker/Dürscheid 2012; Beißwenger/Storrer 2012). Durch mobile Geräte entsteht eine Kultur der ständigen Verfügbarkeit mit zahlreichen digitalen Praktiken, die v.a. auf Affordanzen mobiler digitaler Kommunikationsgeräte (Smartphones) aufbauen (vgl. Baron 2008; Jones/Chik/Hafner (Hg.) 2015). Wie aktuelle Erhebungen bei Jugendlichen zeigen, muss man sich inzwischen nicht mehr fragen, wann und wozu Menschen (insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene) digital und vernetzt schreiben, sondern unter welchen Umständen sie es nicht tun (vgl. JIMStudie 2018; Busch 2020). Im Zuge der durch Digitalisierung vorangetriebenen Ausbreitung schriftbasierter Interaktion entstehen und konsolidieren sich grafische Mittel der Kontextualisierung digital vermittelter Beiträge. Kontextualisierung, die Kennzeichnung intendierter Kontexte und Lesarten einer Äußerung (Gumperz 1992), ist dabei als unhintergehbarer Bedarf menschlicher Kommunikation zu verstehen. Jede verbale Interaktion wirft interpretative Grundsatzfragen auf, welche die Beteiligten fürund miteinander durch nichtreferenzielle Sprachmittel implizit beantworten (Auer 1986): Wird miteinander interagiert? Wer ist an der Interaktion beteiligt? Um welche Themen geht es? Wie stehen die Beteiligten zueinander? Usw. Bei der Interaktion auf medial grafischer Grundlage mittels vernetzter (mobiler) Geräte müssen nun interpretative Hinweise auf Fragen dieser Art durch grafisch-visuelle Mittel kontextualisiert werden. Der Einsatz von Emoticons zur Kennzeichnung von Ironie ist hier ein klassisches Beispiel, und es scheint berechtigt anzunehmen, dass das Repertoire an visuellen Kontextualisierungsmitteln weiter wächst, sofern digitale Interaktion im Zuge der mobilen Messenger-Kultur an gesellschaftlicher Verbreitung gewinnt und die für digitalsprachliches Handeln verfügbaren Zeichenrepertoires ausgebaut werden (z.B. Emojis, GIFs). Ausschlaggebend für Interpunktionswandel im digitalen Sprachgebrauch ist im hier nur knapp skizzierten Theorierahmen also eine ‚Interaktionalisierung‘ der Interpunktion, deren Aufgabe nicht mehr nur darin besteht, Texte syntaktisch zu strukturieren, sondern auch darin, im Sinne einer visuellen Prosodie Interpretationsrahmen zu eröffnen und aufrechtzuerhalten sowie Beziehungsarbeit zu leisten. Wohlgemerkt ist dies nicht gleichzusetzen mit einer älteren Auffassung computervermittelter Kommunikation als ‚verarmt‘ oder ‚defizitär‘ gegenüber ko-präsenter Kommunikation. Digitaler Sprachwandel besteht ja nicht in einem Verlust an Komplexität, sondern in der Umstrukturierung vorhandener Zeichenrepertoires (u.a. der Interpunktion) und Entstehung neuer Zeichenrepertoires (etwa Emojis), um neu aufkommenden kommunikativen Bedarfen zu entsprechen. Allerdings ist der Bedarf an grafischer Kontextualisierung kein Garant für den Gebrauch von Satzzeichen. Denn diese sind Teil einer grafisch-visuellen Ökologie, die auch andere Mittel der grafischen Organisation (z.B. Emojis) bereit-

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hält, zu denen IPZ in einem Verhältnis der Konkurrenz und Kookkurrenz stehen (vgl. Androutsopoulos 2018 und Kap. 4). Nicht zuletzt ist es wichtig zu fragen, welche Konsequenzen der digitale Interpunktionswandel für die normierte Zeichensetzung haben könnte. Nach derzeitigem Wissensstand gehen orthografische Interpunktionsnormen durch digitalen Interpunktionswandel nicht verloren. Vielmehr ist in der informellen digitalen Schriftlichkeit eine Ausfächerung neuer Schreibregister zu konstatieren, in denen Interpunktion anders gebraucht und interpretiert wird als in der standardsprachlichen Schriftnorm (vgl. Kap. 6).

3  Das Interpunktionsinventar im informellen digitalen Schreiben Erste Beobachtungen legen nahe, dass im interaktions­orientierten Schreiben eine Umstrukturierung des IPZ-Inventars stattfindet, so dass bestimmte Satzzeichen übermäßig viel, andere kaum noch gebraucht werden (Androutsopoulos 2018). Die Auswertungen von Busch (2020) erhärten diesen Eindruck. Busch ermittelt folgende Unterschiede zum kleineren schulischen Sample (Tab. 1).2 Alle Zeichen kommen sowohl in Schultexten als auch in WhatsApp-Chats vor, bestimmte Satzzeichen werden jedoch kaum noch verwendet, v.a. das Semikolon. Die normalisierten Frequenzen zeigen, dass im schulischen Schreiben insgesamt mehr interpunktiert wird als im informellen digitalen Schreiben. Allerdings kommen das Fragezeichen, der Apostroph und die Auslassungspunkte häufiger in Chats als in Schultexten vor. Die größten Unterschiede sind beim Komma und Punkt zu verzeichnen, die fast 27 bzw. 20 Mal häufiger im schulischen Schreiben Verwendung finden. Umgekehrt sind Fragezeichen und Auslassungspunkte fünf bzw. sieben Mal häufiger in den Chat-Daten. Die nachfolgende Diskussion fokussiert auf drei Zeichen, bei denen soziolinguistische Wandelprozesse gut ablesbar sind.

2 Das IPZ-Inventar wird in drei Klassennach Bredel (2011) eingeteilt. Syntaktische Zeichen (Punkt, Komma, Semikolon, Doppelpunkt) regeln die Verarbeitung im Leseprozess, indem sie z.B. auf den Abschluss einer Informationseinheit hinweisen. Kommunikative Zeichen (Ausrufe-, Frage-, Anführungszeichen und Klammern) leiten leserseitige Rollenwechsel ein. Scan-Zeichen (Apo­ stroph, Auslassungspunkte, Divis und Gedankenstrich) weisen auf Abweichungen vom normalen Lesefluss auf Satz- oder Textebene hin.



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Tab. 1: Interpunktionszeichen auf 1.000 Wörter im Vergleich (absolute Frequenzen in Klammern; Quelle: Busch i. Ersch.) Schultexte Syntaktische Zeichen

Kommunikative Zeichen

Scan-Zeichen

Ʃ

Whatsapp-Chats

72,1 (1.662)

3,7 (568)

54,8 (1.263)

2 (297)

0,2 (4)

0,007 (1)

6,7 (155)

1,3 (193)

2,1 (49)

1,2 (188)

3,3 (77)

17,2 (2.621)

13,6 (313)

0,3 (47)

9,7 (223)

0,5 (74)

11,3 (261)

0,5 (79)

5,1 (121)

0,2 (32)

0,1 (3)

0,4 (63)

0,9 (21)

6,3 (952)

181,2 (4.152)

33,7 (5.115)

4  Interpunktionspraktiken im digitalen Wandel 4.1  Pragmatisierung: Der beitragsfinale Punkt Die Auslassung des Punktes am Ende digitaler Nachrichten wird gewöhnlich als Folge der grafischen Gestaltung der Nachrichtenthreads eingestuft. Da die grafische Rahmung einer Messenger-Nachricht auch ihren Abschluss markiert, scheint der finale Punkt in seiner syntaktischen Funktion zumindest am Ende der Nachricht redundant. Baron/Ling (2011, S. 59) sprechen hier vom ‚Sparsamkeitsprinzip‘ („principle of parsimony“). Vor dieser Folie richtet sich nun das Interesse auf den doch – wenn auch selten – gesetzten finalen Punkt, der sich auch bei sehr kurzen Beiträgen findet. Neuere Forschungsarbeiten zeigen, dass der Abschlusspunkt eine Reihe von pragmatischen Bedeutungen gewinnt, die hier mit dem Begriff der Pragmatisierung (bzw. Pragmatikalisierung), also des Zugewinns eines sprachlichen Zeichens an pragmatischen Funktionen (Günthner/Mutz 2004), diskutiert werden. In experimentellen Studien stellen Gunraj et al. (2016) und Houghton/Upadhyay/Klin (2018) fest, dass ein Schlusspunkt eine Messenger-Nachricht

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als unaufrichtig oder ruppig erscheinen lässt. Androutsopoulos (2018) und McSweeney (2018) beschreiben die Funktion des Schlusspunktes als Signal einer thematischen oder handlungsbezogenen Grenze. Je nach Kontext kann er als Markierung einer thematischen Abgeschlossenheit, eines Beharrens auf der eigenen Position, einer fehlenden Bereitschaft zur weiteren Verhandlung oder der Dispräferenz verstanden werden. Nach McSweeney folgt im britischen Usus auf diese Bedeutung der Abgeschlossenheit eine neuere Bedeutung des Unbehagens: „before the period was ‘pissed,’ it was ‘final’“ (McSweeney 2018, S. 95). In den Daten von Busch (2020) gibt es mehrere Belege dafür, dass der finale Punkt die vage pragmatische Bedeutung des Beharrens bzw. der Dispräferenz aufweist. In den nachfolgenden Beispielen markiert der Informant „Frank“ mit dem Punkt Dispräferenz im zweiten Glied eines Adjazenzpaares, um Anfragen seines Freundes „Martin“ abzulehnen. Durch die Kürze der Beiträge wirkt der Punkt umso auffallender. Beispiel 1 (Busch 2020) Martin: Gleich GTAV? Frank: Ne sorry. Beispiel 2 (Busch 2020) Martin: Hast du am Freitag also morgen Zeit? Frank: Nein. Leider nicht. Martin: Hast du echt keine Zeit? In den Daten von Uhlenberg (2016; vgl. Androutsopoulos 2018, S.  736 ff.) sind Punkte eines der seltensten beitragsfinalen Zeichen und stehen in der Gebrauchsfrequenz weit nach Emojis sowie Frage- und Ausrufezeichen. Eine Informantin, die insgesamt sehr wenige finale Punkte setzt, tut dies in einer längeren Chat­ sequenz dennoch systematisch, um eine Terminentscheidung unter mehreren Freundinnen im Gruppenchat festzulegen. So ergeben sich Kontrastbelege wie die im Beispiel 3. Beispiel 3 (vollständige Beiträge; Uhlenberg 2016) Also wir kommen auch um 21h zur s-Bahn  (a) Ok, dann nehmen wir jetzt den 1. Mai. (b) Beiträge wie (3a) sind typisch für den Duktus dieser Informantin generell, abschließende Punkte wie in (3b) tauchen mehrmals auf, wenn sie versucht, Druck auf die Gruppenchat-Mitglieder auszuüben und anzudeuten, dass sie den gesetzten Termin nicht weiter verhandeln möchte. Eben dann schlägt ihr ganzer Schreibstil ins Förmlichere um, dessen Teil auch die orthografisch korrekte Punktsetzung ist.



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Die Pragmatisierung des Schlusspunktes führt vermutlich zu einer höheren interaktionalen Salienz des Zeichens, dem Intentionalität zugeschrieben wird. Der Punkt wird im Zusammenhang mit dem propositionalen Gehalt bzw. der Sprechhandlung der Bezugsäußerung sowie ihrer sequenziellen Stellung interpretiert. Seine Bedeutung ist dabei unscharf und variabel. Mal kann sie mit „ich bin sauer“, mal mit „ich will nicht weiter darüber reden“ umschrieben werden. In Anlehnung an das soziolinguistische Konzept des indexikalen Felds (Eckert 2008) ist festzuhalten, dass der beitragsfinale Punkt keine stabile pragmatische Bedeutung aufweist, sondern ein Feld von Bedeutungspotenzialen eröffnet, wo­ raus im situierten Sprachgebrauch des Zeichens einzelne Bedeutungsnuancen selegiert werden.

4.2  Multifunktionalität und Syntaktisierung: Auslassungspunkte Auslassungspunkte stechen in den vorliegenden Daten durch ihre hohe Frequenz und flexible Topologie hervor. Pragmatische Funktionen, die Meibauer (2007) für diverse Textsorten sowie Ong (2011) und Vandergriff (2013) für digitale Interaktionen beschreiben, finden sich auch bei Busch (2020) und Androutsopoulos (2020) wieder. In topologischer Perspektive sind vier Positionen des Zeichens in digitalen Interaktionen zu unterscheiden, die auch miteinander kombiniert auftreten: –– Beitragswertige Auslassungspunkte machen eine komplette Nachricht aus, ihre Funktion ist daher nur sequenziell zu erschließen. Je nach Kontext können sie u.a. stille Zustimmung oder Dispräferenz zum Ausdruck bringen. –– In beitragsfinaler Position ist die schulgrammatische Funktion der Auslassungspunkte als Marker für fehlendes lexikalisches oder syntaktisches Material in den digitalen Daten praktisch obsolet. Zentral im digitalen Gebrauch ist die Andeutungsfunktion (Meibauer 2007; Bredel 2011) der beitragsfinalen Auslassungspunkte, die (auch nach vollständigen Sätzen) signalisieren, dass zum relevanten Sachverhalt auch Weiteres, leicht zu Erschließendes, gesagt werden könnte. –– In der seltener belegten beitragsinitialen Position zeigt sich eine pragmatischtextuelle Leistung, die Meibauer (2007) als „Verbindungsfunktion“ beschreibt. Auslassungspunkte kennzeichnen dann einen Beitrag bzw. eine Texteinheit als Fortsetzung einer anderen lokal präsenten Texteinheit. –– Die beitragsmediale Position ist in den Daten von Busch (2020) und Androutsopoulos (2020) bei weitem am häufigsten. Hier fungieren Auslassungspunkte als segmentierende Zeichen (vgl. bereits Raclaw 2006) und treten funktionsäquivalent zu syntaktischen Satzzeichen (Punkt und Komma) auf.

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Eine ‚Syntaktisierung‘, d.h. ein Zugewinn syntaktischer Funktionen, kann insb. für beitragsmediale Auslassungspunkte konstatiert werden. In den Daten treten sie als häufigstes, z.T. alleiniges Zeichen der Binnengliederung eines Beitrags auf und übernehmen damit die Funktion, die üblicherweise syntaktische IPZ (Punkt und Komma) erfüllen. An zwei Beispielen aus Busch (2020, jeweils vollständige Beiträge) lassen sich verschiedene Segmentierungsmuster erläutern. Beispiel 4 (Busch 2020) Anne: Hi johanna … ist das ok wenn nelly mit kommt ..[Emoji] Beispiel 5 (Busch 2020) Nils: moin moin… ich hab gehört dass ihr noch n buch braucht.. :D fährst du auf dem weg zu lisa die isengard straße entlang? :D Ein Muster, das Raclaw (2006) an amerikanischen und Androutsopoulos (2020) an griechischen Daten belegen, ist die Setzung von Auslassungspunkten als Trennmarker zwischen dem besetzten Vor-Vorfeld, wo eine Anrede, Lachausdrücke oder Partikeln stehen können, und dem Rest des Beitrags (Beispiele 4, 5). In längeren Beiträgen, die aus Platzgründen nicht angeführt werden können, erscheinen beitragsmediale Auslassungspunkte auch zwischen einzelnen Sätzen oder Satzfragmenten, die eigenständige Informationseinheiten bilden. Auch in (5) sieht man dies, wobei das Zeichen als Allograph mit zwei statt drei Punkten erscheint, während in (4) die zwei Punkte auch beitragsfinal erscheinen. In beiden Fällen signalisieren die Auslassungspunkte neben der Segmentierung auch, dass der fragliche Sachverhalt noch offen und „diskussionsfähig“ ist. Beitragsmediale Auslassungspunkte grenzen also Informationseinheiten mit unterschiedlichem syntaktischem Status (Sätze, Satzfragmente, einzelne Wörter) voneinander ab, weswegen Androutsopoulos (2020) sie als „Allzweck-Segmentierer“ bezeichnet. Als Mittel der Binnensegmentierung von Messenger-Beiträgen in den Daten dienen allerdings auch Punkt und Komma sowie Emojis und Emoticons, die in der neueren Forschung ebenfalls als „Grenzsignale“, die den inneren Aufbau eines Beitrags strukturieren, beschrieben werden (Dürscheid/Siever 2017; Pappert 2017). Das Gesamtbild ist also das der Konkurrenz von grafischen Elementen aus mehreren Graphemklassen, die zur Binnengliederung längerer MessengerBeiträge herangezogen werden. Die segmentierende Funktion der Auslassungspunkte wird dadurch ermöglicht, dass sie im Interpunktionssystem des Deutschen ein funktional wenig belastetes Zeichen sind (vgl. Bredel 2011), während ihre kanonische Aufgabe, syntaktische Unvollständigkeit am Satzende zu markieren, für digitale Interaktionen praktisch obsolet ist. Gleichzeitig belegen Auslassungspunkte einen größeren



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visuellen Raum als der Punkt und können deswegen schon rein assoziativ als eine Art ‚gedehnter Punkt‘ verstanden werden. Sie bilden visuelle Trennmarken, deren Ausdehnung in die Fläche flexibel gehandhabt werden kann (Androutsopoulos 2020). Wie beim iterierten Ausrufezeichen sind also auch hier ikonische Zeichenbildungsverfahren (Auer 1989) im Gange. Innovativ bei den Auslassungspunkten ist insgesamt ihr Gebrauch zur Segmentierung von Beiträgen in einzelne Informationspakete einerseits, ihre vage interaktionale Bedeutung der Offenheit bzw. Nichtabgeschlossenheit andererseits. Dadurch stellen sie ein pragmatisches Gegenstück zum beitragsfinalen Punkt dar.

4.3  Konventionalisierte Ikonizität: Das iterierte Ausrufezeichen Die Iteration von Frage- und Ausrufezeichen ist wohl das auffälligste Phänomen digitaler Interpunktion, das gemeinhin als expressives Verfahren verstanden wird. In der Forschung hat man die Iteration von Satzzeichen und Graphemen im Allgemeinen als Abbildung phonischer Qualitäten bzw. „Simulation“ von Mündlichkeit interpretiert (vgl. bereits Haase et al. 1997; Dürscheid/Frick 2017). Überzeugender finde ich jedoch eine Erklärung durch das semiotische Prinzip der Ikonizität (vgl. Androutsopoulos 2018 in Anlehnung an Auer 1989; Sandig 2006). Ikonische Zeichenbildungsverfahren stellen eine Analogie zwischen der semiotischen Beschaffenheit einer Äußerung und den darin ausgedrückten Handlungen oder Sachverhalten her. Die Iteration eines Zeichens bringt grundsätzlich eine Intensivierung zum Ausdruck, die je nach Kontext als Steigerung, Nachdruck oder Bekräftigung verstanden wird.3 Bezogen auf IPZ lässt sich eine einfache Ikonizitätsregel wie folgt ausdrücken: Je mehr Tokens des Zeichens, desto stärker die emotionale Beteiligung der Schreibenden an ihrer Äußerung. Es wird also dafür plädiert, die Iteration von grafischen Zeichen nicht einem entsprechenden phonischen Phänomen unterzuordnen, sondern sowohl phonisch als auch grafisch realisierte Iterationen als Ausprägungen eines gemeinsam zugrundeliegenden, d.h. intermodal operierenden, Zeichenbildungsverfahrens zu betrachten. Aus dieser Perspektive ist die Wiederholung von kommunikativen IPZ kein Versuch, eine bestimmte prosodische Struktur ins Schriftliche zu übertragen, sondern eine modalitätsspezifische Materialisierung von Ikonizität zum Zweck der expressiven Intensivierung.

3 Sandig (2006) zählt die Längung durch Graphemiteration neben grammatikalisierten bzw. usualisierten Dopplungen (bitte, bitte oder langsam-langsam) zu den ikonischen Verfahren.

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Die sprachreflexiven Interviews von Busch (2020) legen nahe, dass eine dreifache Iteration von Ausrufezeichen von norddeutschen Jugendlichen gegenwärtig als Normalfall wahrgenommen wird. Auch dieser Befund bestärkt die Vermutung, dass im interaktionsorientierten Schreiben eine Konventionalisierung von Graphemiterationen stattfindet (vgl. auch Darics 2013). Der Konventionalisierungsbegriff impliziert zweierlei: Erstens werden Iterationen zum unmarkierten Fall, sind also nicht mehr auffällig, sondern im Gegenteil hochgradig erwartbar, wobei erst lokales Wissen der Interaktionspartner/innen dafür ausschlaggebend ist, wie viele Iterationen ihnen eine besondere expressive Steigerung bedeuten. Zweitens entwickelt die Iteration von IPZ eine gewisse Signalisierungsinflation, so dass ihr einfaches Vorkommen für den Ausdruck einer sozial angemessenen expressiven Haltung nicht mehr ausreicht. Das nichtiterierte Zeichen kann folglich sogar als Kontextualisierung von Desinteresse wahrgenommen werden (vgl. Tannen 2013; Darics 2013; Androutsopoulos 2018).

5  Interpunktionsideologien im digitalen Wandel: Ent-Binarisierung und Registrierung In den meisten Handlungsfeldern schriftlicher Kommunikation ist der Umgang mit IPZ in der Sprachreflexion binär organisiert: Entweder hält man die Rechtschreibregeln ein oder nicht, sei es durch Unkenntnis der Regeln oder Unachtsamkeit. Ein von dieser Bewertung losgelöster, expressiv-kreativer Umgang mit IPZ scheint nur wenigen Textsorten, etwa Privatbriefen oder Comics (SanchezStockhammer 2016), vorbehalten. Schon seit den 1990er Jahren wird Interpunktion als Beispiel für ‚normabweichende‘ geschriebene Sprache im Internet thematisiert (vgl. Brommer 2007, S. 329 ff.; Baron 2008, S. 176; Squires 2010; Androutsopoulos 2011, S. 146). Auch heute noch wird digitale Interpunktion in den Medien oft als Problemfall gerahmt, indem z.B. Satzzeichen nur ex negativo, als normwidrig fehlende Zeichen, thematisiert werden. Zu fragen ist, ob nicht genau an dieser Stelle ein sprachideologischer Wandel dahingehend stattfindet, dass digitale Interpunktion nicht mehr binär, sondern mit Bezug auf die schriftbasierte Interaktion und den individuellen Schreibstil der Kommunikationspartner interpretiert wird. Dieses Wegrücken von einer dichotomischen Richtig-Falsch-Wahrnehmung von Satzzeichen nenne ich „Ent-Binarisierung“4.

4 Der Terminus scheint in der sozialwissenschaftlichen Genderforschung gelegentlich gebräuchlich, ein interdisziplinärer Abgleich muss an dieser Stelle jedoch ausbleiben.



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Zumindest bei jüngeren, digital affinen Segmenten der Bevölkerung scheinen bestimmte IPZ im interaktionsorientierten Schreiben in erster Linie als kontextuell motivierte, stilistische Sektionen wahrgenommen zu werden.5 Dass diese Entwicklung nicht mit der Befürchtung gleichzusetzen ist, jüngere Schreiber/innen würden die Interpunktionsregeln nicht mehr beherrschen, wird im Fazit diskutiert. Belege für diesen sprachideologischen Wandel finden sich in metadiskursiven Reflexionen im deutschsprachigen und internationalen Mediendiskurs: –– In einem Beitrag in den „New York Times“ wird David Crystal zum Thema Punktsetzung zitiert (Bilefsky 2016). Crystal nennt diverse Bedeutungsnuancen des Punktes im digitalen Sprachgebrauch: „the period is being deployed as a weapon to show irony, syntactic snark, insincerity, even aggression“. Ihm zufolge sei der Punkt sogar eine Art Emoticon geworden („has become an emoticon of sorts“). –– In einer Folge der US-amerikanischen Fernsehshow „Jimmy Kimmel live“ vom Jahr 2016 thematisiert der Moderator Kimmel den finalen Punkt satirisch als Mittel des „passiv-aggressiven“ Schreibens. Kimmel kontrastiert die Messenger-Nachrichten und – mit Ausrufezeichen und Punkt respektive – und versprachlicht unterhaltsam die durch den Punkt ausgelösten Inferenzen: „period instead of the exclamation point means either I thought we were going out just the two of us, or I don‘t care if Dave comes, or maybe because I don’t like Dave“6. –– Ein deutscher Videobericht vom Dezember 2016 (Schlagzeile: „Darum sollten Sie WhatsApp-Nachrichten nie mit einem Punkt beenden“) bringt die Auslassung des Schlusspunktes mit der Gruppe der „WhatsApp-Profis“ in Verbindung, wobei im Videobericht zumeist junge Frauen bzw. weibliche Hände beim Lesen und Eintippen von Kurznachrichten gezeigt werden (vgl. Androutsopoulos 2018). Dadurch entsteht folgende implizite Zuschreibung: Ein ausgelassener Schlusspunkt sei im digitalen Austausch die neue Norm, jungen Frauen komme dabei eine Vorreiterrolle zu. Dies sind drei Beispiele dafür, wie ein Satzzeichen im öffentlichen Diskurs nicht mehr auf seine Normkonformität bewertet, sondern auf seine Funktion als inter-

5 Bei einer weiterführenden Analyse müsste zwischen einzelnen IPZ-Klassen genauer unterschieden werden. Bereits im schulischen Schreiben ist das stilistische Potenzial einzelner IPZ durchaus unterschiedlich. Iterierte Ausrufezeichen z.B. sind auch in einem Schulaufsatz nicht im strengen Sinne ‚falsch‘, sondern allenfalls ‚unangemessen‘. Florian Busch danke ich für Diskussion zu diesem Punkt. 6 https://www.youtube.com/watch?v=07TinrpKG6o (Stand: 1.10.2019).

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aktionale Ressource reflektiert wird. Der gesetzte bzw. nichtgesetzte finale Punkt wird mit interpersonalen und affektiven Haltungen einerseits, bestimmten sozialen Gruppen andererseits in Verbindung gebracht. Die diskursive Verbindung zwischen Sprachzeichen und sozialen Stereotypen bzw. Aktivitätstypen wird in der neueren Soziolinguistik mit dem Konzept der Registrierung (enregisterment, Agha 2003; Busch 2019) diskutiert. Auch in den von Busch (2020) durchgeführten sprachreflexiven Interviews bringen die Informant/innen bestimmte Praktiken der Zeichensetzung mit sozialen Zuordnungen in Verbindung. Beispielsweise wird normkonforme Punktsetzung mit dem schulischen Schreiben und der Orientierung an Lehrkräften assoziiert, während iterierte kommunikative Zeichen als expressiv und indirekt als ‚typisch weiblich‘ registriert sind (Busch 2020, Kap. 10). Eine soziale Registrierung dieser Art wird für die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung der digitalen Interpunktion jedoch erst dann relevant, wenn sie durch mediale Dissemination eine massenweise Rezeption erreicht, so dass Menschen in ihrer Anschlusskommunikation eine bestimmte Repräsentation von Satzzeichen (z.B. in einer Fernsehshow) als gemeinsam bekannt voraussetzen können (vgl. Agha 2003, S. 266; Androutsopoulos 2017, S. 410). In dieser Hinsicht ist sprachideologischer Wandel mit medialen Repräsentationen, in denen soziale Zuordnungen von sprachlichen Formen und Praktiken dargestellt und bewertet werden, eng ver­bunden. Gegenwärtig sind solche Repräsentationen neben dem finalen Punkt auch für das iterierte Ausrufezeichen zu verzeichnen. Seine ehemalige Assoziation mit (weiblichen) Teenagern wird in den letzten Jahren durch eine Registrierung mit dem Rechtspopulismus abgelöst. Ein Beitrag im Zeit-Magazin (Kemper 2016) beschreibt das Ausrufezeichen als „Satzzeichen der ewig Unverstandenen, die das Gefühl haben, nicht ausreichend gehört zu werden – und als Konsequenz erst mal die Lautstärke hochdrehen“ –, womit Iterationen des Zeichens gemeint sind. Als Ort seiner „inflationären“ Ausbreitung werden dort „Kommentarspalten auf Facebook oder unter Artikeln“ genannt. Die neue soziale Registrierung des Ausrufezeichens geht also mit einer Rekontextualisierung vom privaten Schreiben zu den öffentlichen digitalen Plattformen (der Sozialen Medien) einher. Ihnen entstammen die abschließenden Beispiele: Beispiel 6: Kommentare auf facebook.com/pegidaevofficial (2019) HR: Sie bekommen langsam Angst ,weil sie merken, das sich das Blatt wendet ! Macht weiter ,immer Weiter !!!!! BR: Richtig ,denn im März stehen ja 3 Landtagswahlen an und daher fangen jetzt auch Politiker langsam an die Forderungen auszusprechen die von AfD und Pegida schon seit über 1 Jahr gesagt wird !!!



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Beispiel 7: Statusmeldung auf facebook.com/hasnain.kazim (2019) IN MEINEM HAUS BESTIMME IMMER NOCH ICH, WAS AUF DEN TISCH KOMMT!!!!! WEM’S NICHT PASST, KANN JA GEHEN!!!!!! Beispiel 8: Statusmeldung auf facebook.com/spiegelonline (2018)7 Jetzt nehmen uns die Ausländer auch noch die Schönheit weg!!1! Beispiel 6 zeigt Kommentare auf der Facebook-Präsenz der rechtspopulistischen Organisation Pegida. Sie können als Belege dafür gelten, dass die Registrierung des iterierten Ausrufezeichens als ‚rechtspopulistisch‘ auf einer empirisch beschreibbaren Distribution des Zeichens in einschlägigen digitalen Diskursräumen beruht; dies müsste gesondert untersucht werden (vgl. auch Androutsopoulos 2019). Jedenfalls wird diese Distribution in der Registrierung des ‚rechtspopulistischen’ iterierten Ausrufezeichens präsupponiert (vgl. Spitzmüller 2013, S. 277). Wenn z.B. der Journalist Hasnain Kazim in einer Statusmeldung durch Versalienschreibung und mehrfachen Ausrufezeichen eine autoritäre Stimme stilisiert (Beispiel 7), ist dies nicht nur deshalb als Parodie erkennbar, dass diese grafischen Stilmittel bei Hasnain Kazim ansonsten nicht vorkommen, sondern auch deshalb, weil man unterstellt, dass ‚Wutbürger‘ eben mit Versalien und Iterationen schreiben. Gleiches gilt für die in Beispiel 8 gezeigte grafische Parodie, bei der ein oder mehrere Graphen des Ausrufezeichens durch die (wiederholte) Ziffer und gelegentlich ein ausgeschriebenes oder begleitet werden. Das Resultat – bei Androutsopoulos (2019) „Aufregezeichen“ genannt – wird im aktuellen deutschsprachigen Netzdiskurs als distanzierende Stilisierung einer nationalistischen bzw. rechtspopulistischen Position verstanden.

6  Schlussfolgerungen und Ausblick Dieser Beitrag diskutiert Interpunktion als ein Teilsystem des Deutschen, an dem das Verhältnis zwischen Sprachwandel und dem übergreifenden soziokulturellen Wandelprozess der Digitalisierung besonders gut ablesbar ist. Interpunktionswandel wird an der Schnittstelle dreier Perspektiven untersucht: a) Distributive Umstrukturierung des Interpunktionsrepertoires im digitalen Sprachgebrauch,

7 Dies ist die journalistische Statusmeldung zu einem geteilten Medienbericht über rechtspopulistische Empörung in Österreich, ausgelöst durch die Wahl von Parsa Djawadiraad als „Mr. Kärnten“.

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aus der überaus frequente und nahezu obsolete Satzzeichen hervorgehen, b) Praktiken des Interpunktierens, die als Prozesse der Pragmatikalisierung, Syntaktisierung und konventionalisierten Ikonizität beschreibbar sind, sowie c) sprachideologische Verschiebungen, die zu einer Ent-Binarisierung in der Reflexion über digitale Interpunktion und zur sozialen Registrierung einzelner Interpunktionspraktiken führt. Diesen drei Analyseperspektiven ist gemeinsam, dass der gegenwärtig beobachtbare Interpunktionswandel nicht durch die eingesetzten Kommunikationstechnologien bedingt ist, sondern auf Bedarfe der visuellen Kontextualisierung unter Bedingungen schriftbasierter Interaktion reagiert. Die digitale Hard- und Software, die interaktionsorientiertes Schreiben erst ermöglicht, stecket ein Feld mit Spielräumen und Beschränkungen ab, in dem ein vorhandenes Zeicheninventar neue Gebrauchsmuster gewinnt, welche durch Konventionalisierung und öffentliche Sprachreflexion soziolinguistischen Wandel konsolidieren. Der interaktionsorientierte Gebrauch von IPZ im informellen digitalen Schrei­ ben geschieht nicht in einem sozialen Vakuum. Er setzt Traditionen privater Schriftlichkeit fort, die gesondert zu untersuchen wären8, und koexistiert mit der nach wie vor unangefochtenen orthografischen Normorientierung im institutionellen Schreiben. Welche Implikationen könnten die beschriebenen Interpunktionspraktiken für die standardsprachliche Zeichensetzung im Deutschen haben? Stellen sie – wie oft befürchtet – eine Bedrohung für das normorientierte Schreiben dar? Die Ergebnisse dieses Beitrags können diese Befürchtung nicht bestätigen, sondern zeigen gegenteilige Tendenzen auf. Ähnlich wie bei der Studie von Dürscheid/Wagner/Brommer (2010) liefern auch die Ergebnisse von Busch (2020) keine Belege für eine Auswirkung des informellen digitalen Schreibens auf die schulische Schriftlichkeit. Im Gegenteil wird deutlich, dass Schüler/innen sehr wohl zwischen dem je nach Handlungsbereich angemessenen Schreib- und damit auch Interpunktionsstil zu unterscheiden wissen. Festzuhalten ist abschließend: Die Digitalisierung des kommunikativen Alltags und die Verlagerung interpersonaler Kommunikation auf das Medium der digitalen Schriftlichkeit führen zu einer Ausfächerung des interaktionalen Umgangs mit Interpunktion, zur Herausbildung domänenspezifischer Schreib- bzw. Interpunktionsstile, zwischen denen gewechselt werden kann, und insgesamt zu einer schärferen Wahrnehmung kleinster grafischer Unterschiede, denen affektive und soziale Bedeutungen zugeschrieben werden.

8 Helga Kotthoff und Angelika Linke danke ich für Hinweise zu diesem Punkt.



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Marcel Fladrich/Wolfgang Imo (Hamburg)

♀  = ♂ ? Oder: Das Gelächter der Geschlechter 2.0: Emojigebrauch in der WhatsApp-Kommunikation Abstract: Praktiken des ‚doing‘, ‚undoing‘ und ‚indexing‘ von Gender finden sich auch in der computervermittelten Kommunikation, und es ist zu erwarten, dass sie sich dort ganz besonders im Gebrauch von Emojis niederschlagen. Zu erwarten ist dies, weil Emojis ein wichtiges Mittel zur Hervorbringung von Nähe, Emotionalität und Gruppenzugehörigkeit sind, und Gender ist ein Parameter, der bei diesen Aspekten eine Rolle spielt. In dem vorliegenden Beitrag soll auf der Basis der Mobile Communication Database 2 (MoCoDa2), einer Datenbank mit WhatsAppInteraktionen, aus quantitativer und qualitativer Perspektive gefragt werden, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich im Emojigebrauch von Männern und Frauen finden lassen.

1  Einleitung Die linguistische Genderforschung kann inzwischen auf eine lange Geschichte zurückblicken: In den Anfängen ging es vor allem um Fragen, ob es so etwas wie ‚Frauensprache‘ oder ‚Männersprache‘ gibt, ob Frauen und Männer ‚zwei Kulturen‘ angehören, was sich dann entsprechend in der Sprache zeigen sollte, oder inwiefern Sprache selbst diskriminierend wirkt, indem Frauen ‚unsichtbar‘ gemacht werden. Mit zunehmender Zahl empirischer Untersuchungen vor allem zu Gender in der gesprochenen Sprache wurde deutlich, dass pauschalisierende Aussagen über gendertypischen Sprachgebrauch nicht zu halten sind. Der Fokus wurde nun vor allem auf lokale Prozesse des ‚doing‘, ‚undoing‘ oder ‚indexing‘ Gender gelegt (Ayaß 2008; Kotthoff/Nübling 2018). Mit dem Bereich der computervermittelten Kommunikation entstand ein neues Forschungsfeld der Genderlinguistik. Durch die leichter zu erhebenden Daten ist es nun möglich, sowohl quantitativ als auch qualitativ der Frage nachzugehen, an welchen Stellen in Interaktionen sich gendertypische sprachliche Variation zeigt. In letzter Zeit ist zu den schon lange im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden ‚Kandidaten‘ geschlechtsspezifischer Sprachverwendung – Schimpfwörter bzw. Fluchen, Einsatz von ‚hedges‘, Präferenz für bestimmte Lexik, unterschiedliches Verhalten https://doi.org/10.1515/9783110679885-006

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beim Turn-Taking, gendertypische Prosodie etc. (ein sehr guter Überblick dazu findet sich in den Kapiteln 4 und 6 bei Ayaß 2008) – ein neuer Untersuchungs­ gegenstand hinzugekommen: Emoticons und Emojis, die als nonverbale Kommunikationsmittel vor allem dem Bereich der Herstellung von Nähe, Emotionalität und Gruppenzugehörigkeit zugeordnet werden. Der vorliegende Beitrag greift dieses Thema auf: Anhand von WhatsApp-Interaktionen soll quantitativ und qualitativ nach den Unterschieden und möglichen Erklärungen dafür im Emojigebrauch von Männern und Frauen gefragt werden.

2  Gender und Konversationsanalyse/ Interaktionale Linguistik Ausgangspunkt ist hier schriftliche, informelle, interaktionale Kommunikation. Um diese Art der Kommunikation zu analysieren, sind Ansätze aus der Konversationsanalyse und Interaktionalen Linguistik am besten geeignet (Imo 2017). Dabei spielen Konzepte wie „doing gender“, „indexing gender“ sowie „Kontextualisierung“ eine wichtige Rolle. Ausgangspunkt der konversations- und interaktionslinguistischen Beschäftigung mit Sprache und Gender war die Feststellung, dass eine bloß quantitative Korrelation von sprachlichen Variablen mit dem Merkmal Gender zu kurz greift: Vielmehr benötigt man qualitative Analysen, die den Kontext, in dem eine Interaktion stattfindet, umfassend berücksichtigen. Neben der Verkürzung der Analyse auf ausgewählte sprachliche Einzelvariablen und der Ausblendung des Kontexts wurde darüber hinaus auch die Hypostasierung der Variablen Gender als stabile Kategorie kritisiert (Ayaß 2008, S. 83 f.; Günthner 2006; Pavlidou 2011). Beide Verkürzungen führten dazu, dass übersehen wurde, dass Gender im Kern eine prozessuale, sich stets im Herstellungs- und Aushandlungsprozess befindliche Kategorie ist. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Aspekt des Kontexts, der allerdings nicht selbst wieder als gesprächsexternes Set von stabilen Variablen betrachtet werden darf. Das bedeutet letzten Endes, dass sowohl die Kategorie Gender als auch der Kontext sich wechselseitig bedingen und hervorbringen. Gender wird entsprechend als „a routine accomplishment embedded in everyday interaction“ (West/Zimmerman 1987, S. 125) betrachtet, womit eines der Kernkonzepte der Konversationsanalyse ins Spiel gebracht wird: Die Fokussierung auf die Beschreibung der sprachlichen Ressourcen, die Interagierende für das „Tun“, das „doing“, von Handlungen einsetzen. Bezogen auf Gender impliziert das eine Abkehr von früheren Ideen, so etwas wie eine Frauensprache oder einen Genderlekt zu beschreiben, die beide auf der Annahme beruhen, „Geschlecht sei permanent die



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relevanteste Identitätskategorie des Menschen und würde permanent auch konversationell inszeniert“ (Kotthoff 2003, S. 131) werden. Stattdessen werden nun „kulturelle Instanziierungspraktiken zentriert, nicht biologische Gegebenheiten“ (ebd., S. 125). Im Unterschied zu der Annahme von Genderlekten bedeutet das, dass (i.) die in einem Datenset feststellbaren Korrelationen aus sprachlichen Mitteln mit der Kategorie Gender zunächst als Stilpräferenzen gewertet werden, was wiederum bedeutet, dass „stilistische Präferenzen nicht in jedem Kontext ausagiert werden“ (ebd., S. 132). Es ist also zu fragen, wie die verwendeten Mittel bestimmte stilistische Rahmungen, bestimmte Kontexte erzeugen und wie umgekehrt bestimmte kommunikative Konstellationen die Verwendung lokal gendermarkierender Sprache ermöglichen bzw. wahrscheinlich machen. Es ist (ii.) zu berücksichtigen, dass man erst ab einer gewissen Salienz, d.h. wenn sprachliche und außersprachliche, in einer bestimmten Situation deutlich beobachtbar genderkonstruierende kommunikative Mittel eingesetzt werden, von „doing gender“ sprechen sollte (Kotthoff 2003, S. 140; West/Zimmerman 1987, S. 126). In den meisten Interaktionen kommt ein solches explizites „doing gender“ nicht zum Vorschein, was allerdings nicht bedeutet, dass die Kategorie Gender somit lokal keine Rolle spielen würde. Sie spielt eine Rolle, allerdings auf einer ‚unverbindlicheren‘ Ebene, die mit dem Begriff „indexing gender“ (Kotthoff 2012) erfasst werden kann. Wie Kotthoff (ebd., S. 253) in ihrer Kritik des „doing gender“Ansatzes von West/Zimmerman (1987) feststellt, kann Gender „als soziale Kategorie im Agieren von Gesellschaftsmitgliedern nicht immer die wichtigste sein“. Im Vordergrund von Interaktionen laufen somit andauernd Aktivitäten ab, die nichts mit Gender zu tun haben. Dennoch können auch bei solchen, nicht direkt mit einem Hervorbringen von Gender befassten Tätigkeiten Aspekte von Gender durch ein ständig mitlaufendes, niedrigschwelliges „accomplishment“ (Kotthoff 2012, S. 253) mitschwingen. Um dieses „accomplishment“ näher zu fassen, hat sich schon früh das Konzept des „indexing gender“ parallel zum „doing gender“ etabliert. Auch wenn Gender stets lokal in situativ gebundenen Interaktionen sprachlich indiziert wird, ist dennoch aus dem Grund eine Abstraktion im Sinne von ‚gendertypischer Sprache‘ möglich, dass wiederholtes implizites Indizieren von Gender sowie routinierte Rollen- und Verhaltensstereotype die damit assoziierten sprachlichen Merkmale als ‚typisch‘ für genderbezogenes Sprechen wirken lassen (Ochs 1992, S. 346). Dazu gehört beispielsweise der oft in der Literatur genannte vermehrte Einsatz von Rückversicherungssignalen (tag questions) durch Frauen, der nicht zu einem „doing gender“, sondern einem „indexing gender“ führt (Kotthoff 2012, S. 260). Gleiches gilt auch für prosodische Mittel (CouperKuhlen 2006; Kotthoff 1994), die ohnehin traditionell als kontextualisierende Mittel analysiert werden, sowie für Lachen und Lächeln, wobei festzustellen ist, dass Frauen häufiger lächeln (Kotthoff 1992, S. 122). Dieser Befund wurde schon

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früh gemacht, und anfangs wurden simple Erklärungen wie der gesellschaftliche Druck zu angenehmem Verhalten vor allem bei Mittelschichtmüttern (ebd., S. 124) vorgeschlagen. Wie Kotthoff (ebd.; vgl. auch Kotthoff 1996) bemerkt, greift eine solche Korrelation aber zu kurz: Lächeln kann je nach Kontext zwar auch eine Adaption an eine Erwartung ‚angenehmen Verhaltens‘ sein, dazu kümmern sich Mütter aber immer noch zeitlich länger um ihre Kinder als Männer, was dazu führt, dass sie als Zeichen der Einfühlung im Sprechen mit Kindern lachen und lächeln. Zudem kann Lächeln auch als eine der „Listen der Ohnmacht“ betrachtet werden, die Frauen in untergeordneten Positionen anwenden. Lachen bzw. Lächeln indiziert also eine Reihe von lokalen, situativen Zielen – und nur deswegen, weil Frauen mehr Ziele verfolgen (müssen), die Lächeln als indexikalische Strategie erfordern, lächeln sie auch mehr. Diese Hypothese wird auch durch die Arbeit von Günthner (2006, S. 49) gestützt, die feststellt, dass Wissenschaftlerinnen in Diskussionen mit Wissenschaftlern deutlich seltener „ironische Spielarten von Kritik“ einsetzen. Dies sei aber kein Indiz für einen Genderlekt, sondern hänge mit der speziellen Kommunikationskonstellation wissenschaftlicher Debatten zusammen: Denn dieselben Sprecherinnen verwenden in anderen Kontexten und Gattungen (in privaten Argumentationen, informellen Streitgesprächen etc.) sehr wohl unabgeschwächte Formen der Dissensmarkierung, ironische Angriffe und konfrontative Strategien. Und männliche Sprecher verwenden durchaus auch abgeschwächte Dissensformate, vergleichbar mit denen sozial hoch stehender Frauen. (ebd.)

Als Fazit dieses Abschnitts lässt sich festhalten, dass sich para- und nonverbale sprachliche Mittel nicht als vom Kontext losgelöste Verfahren des „doing/indexing gender“ analysieren lassen. Es sind somit qualitative, den Kontext berücksichtigende Analysen notwendig.

3  Gender und CMC Aus Platzgründen kann nicht ausführlich auf die inzwischen umfangreiche Literatur zu Gender und CMC eingegangen werden – für einen guten Überblick sei auf Herring/Stoerger (2014) verwiesen. Die Ergebnisse der von Herring/Stoerger zusammengefassten Untersuchungen weisen nicht in eine eindeutige Richtung und widersprechen sich teilweise sogar: So deuten Analysen u.a. von Fullwood/Morris/ Evans (2011); Thelwall/Wilkinson/Uppal (2010); Baron/Ling (2007) oder Waseleski (2006) auf genderbezogene Sprachverwendung hin, wobei vor allem die Verwendung von Emoticons und graphostilistischen Mitteln als typisch für weibliches Schreiben genannt werden. Im Widerspruch dazu steht eine Untersuchung von



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Herring/Zelenkauskaite (2009), die herausfanden, dass Emoticons von Frauen selten benutzt werden, dafür mehr nicht-standardsprachliche Schreibweisen und orthografische Zeichen. Andere Arbeiten stellen heraus, dass sich genderbezogene Sprache weniger in sprachlichen Mitteln als in unterschiedlichen Interaktionsstilen zeigt (vgl. zu einem Überblick Herring/Kapidzic 2015, S. 151) und die Korrelation von Gender und Sprache in den Studien oft zu widersprüchlichen Befunden führt. Ein Grund für die teilweise widersprüchlichen Befunde liegt darin, dass viele der genannten Studien zu wenig die Kommunikationssituation mitreflektieren: Zum einen spielt die verwendete Kommunikationsform mit ihren medialen affordances eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es macht einen Unterschied, ob man mittels SMS auf einem alten Mobiltelefon oder mittels WhatsApp auf einem Smartphone schreibt, alleine schon was die Bereitstellung beispielsweise von Emojis angeht. Zum anderen spielt die kommunikative Situation eine Rolle: Es ist wenig verwunderlich, dass sprachliche Unterschiede innerhalb einer Fachgemeinschaft und innerhalb institutioneller Kommunikation weniger stark ausgeprägt sind als innerhalb unterschiedlicher Freundeskreise in privater Kommunikation. Der kommunikative Zweck bzw. die kommunikative Situation muss daher bei den Analysen stärker beachtet werden. Einfach nur kontextfrei Variablen auszählen und als Belege für genderbezogene Sprachdifferenzen zu werten, kritisiert Baker (2014) als unzureichend: In einer kritischen Auseinandersetzung mit Untersuchungen, die systematische Unterschiede zwischen Männer- und Frauensprache konstatieren, gibt er zu bedenken, dass korpuslinguistische Untersuchungen „have tended to find and report on linguistic gender differences, in written, spoken and online contexts“. Das vorab definierte Interesse, Unterschiede herausfinden zu wollen, führt dabei dazu, so der Vorwurf, dass „researchers in a ‚difference‘ mindset“ versetzt würden, was „findings that reveal differences while backgrounding similarities“ (ebd., S. 24) privilegieren würden. Am Beispiel von Listen mit ‚typisch weiblichen‘ bzw. ‚typisch männlichen‘ Wörtern würde dies deutlich: Forscher/innen würden solche Listen als Belege für Unterschiede zwischen Männer- und Frauensprache präsentieren und dabei ausblenden, dass die weitaus größere Zahl von Wörtern eben keine Unterschiede im Gebrauch aufweist. Und damit ist man bei dem oben genannten Kritikpunkt, dass Situationen und unterschiedliche Sprechergruppen stärker berücksichtigt werden müssen. Ein nicht unerheblicher Verzerrungseffekt entsteht dadurch, dass Kommunikation von Männern häufiger in „workplace context“ aufgezeichnet wird und die von Frauen häufiger in „‘at home’ contexts“ (ebd., S. 41). Vergleiche man dagegen Männer und Frauen in ähnlichen kommunikativen Settings, nehmen die beobachtbaren Unterschiede deutlich ab und sind „only slightly larger than comparisons of single-sex groups“ (ebd.). Ein zweiter kritischer Aspekt betrifft zudem auch den Verzerrungseffekt, der durch

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hochfrequenten Gebrauch bestimmter sprachlicher Strukturen durch kleine Gruppen entsteht (ebd.). Bei Analysen von Sprache und Gender muss versucht werden, diese Effekte weitgehend zu kontrollieren – und dies bedeutet, dass rein quantitative Analysen stets durch qualitative Analysen zu erweitern sind. Auch qualitative Analysen, die den Fokus auf ‚doing gender‘ legen, liegen inzwischen zahlreich für computervermittelte Kommunikation vor: So zeigen Thomson/Murachver/Green (2001) in zwei Akkomodationsexperimenten, dass sich in gemischten Gruppen die Sprachverwendung im Verlauf der Interaktion schnell angleicht und so kaum noch genderbezogene Unterschiede zu beobachten sind. Entsprechend müssen Studien wie die von Kommer (2008), Barrett/Lally (1999) oder Sun et al. (2007), die genderbezogende Unterschiede belegen, mit Vorsicht betrachtet werden, denn dort werden oft nicht genügend Faktoren als Einflussvariablen berücksichtigt. In einer frühen Untersuchung von Weblogs von Herring/Paolillo (2006, S. 456) stellte sich nämlich heraus, dass sprachliche Merkmale nicht systematisch mit Gender korrelierten, dafür aber eindeutig mit Textsortenmerkmalen. Relevant ist also, ob es sich um ein Tagebuch-Weblog, einen Infoblog, Fotoblog, Foodblog etc. handelt: Innerhalb der jeweiligen Gattungen finden sich starke Gemeinsamkeiten, zwischen den Gattungen Unterschiede. Marx (2017) bringt dabei den lange diskutierten Aspekt der anonymen Kommunikation im Internet ins Spiel und stellt die These auf, dass die Möglichkeit, anonym zu kommunizieren, zu einer Angleichung des Kommunikationsverhaltens gerade auch in Bezug auf den Ausdruck von Aggression führt. Dies kann erneut als Plädoyer gegen stabil mit der Kategorie Gender verbundener Sprache und für situationsbedingte Sprache gewertet werden (vgl. ebd., S. 351). Zum Abschluss des Literaturüberblicks soll nun noch speziell auf Forschung zu Gender und Emoji/Emoticon-Gebrauch eingegangen werden. Emojis sind zu großen Teilen zu den Kontextualisierungshinweisen zu zählen (Pappert 2017), was sie zu einem potenziellen Mittel sowohl des ‚doing‘ als auch des ‚indexing gender‘ macht. In diese Richtung deuten die Ergebnisse von Baron (2004) und Parkins (2012). Eine der größten bislang erhobenen Studien zu Emojigebrauch und Gender stammt von Chen et al. (2018), die insgesamt 410 Millionen Kurznachrichten von 134.419 Nutzer/innen (53% davon Frauen) aus 183 Ländern (58 unterschiedliche Sprachen) untersuchten. Insgesamt fanden sich 1.356 verschiedene Emojivarianten. Knapp 84% aller Nutzer/innen haben mindestens einmal in den von ihnen bereitgestellten Daten ein Emoji verwendet. Die Auswertung ergab klare Belege für genderbezogenen Emojigebrauch: We find that there exist statistically significant differences between female and male users in emoji usage: (1) women are more likely to use emojis than men; (2) men and women have different preferences for emojis, some of which are consistent with the common beliefs of



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gender differences; (3) men and women have different preferences in using emojis to express sentiments, some of which are surprisingly different from the common beliefs. (ebd., S. 2)

Die oben genannten Unterschiede sind statistisch hochsignifikant – bei dem Versuch, mittels eines Algorithmus alleine über den Emojigebrauch das Geschlecht der Schreiber/innen festzustellen, wurde – sprach- und kulturunabhängig – eine Trefferrate von knapp über 80% erzielt (ebd.). Betrachtet man die genderbezogenen Präferenzen für unterschiedliche Emojivarianten, so ergibt sich allerdings eine erstaunliche Parallelität: Von den 10 jeweils am häufigsten eingesetzten Emojis sind 8 bei Frauen und Männern gleichermaßen vertreten (ebd., S. 3 f.). Genderbezogene Unterschiede offenbaren sich dagegen in der Bandbreite von Emojis (Frauen nutzen insgesamt deutlich mehr unterschiedliche Emojis als Männer) und in der Emoji-Optik (Frauen bevorzugen buntere und komplexer gestaltete Emojis) (ebd., S. 4). Wie wichtig die Berücksichtigung von Gruppen (‚communities of practice‘) als Faktor ist, zeigt die Tatsache, dass manche Emojis wie der Fuß- oder Basketball in Gruppen, deren Mitglieder jeweils Fußball oder Basketball spielen, gleich verteilt sind. Allerdings kombinieren Männer die Ball-Emojis häufiger mit einem Emoji für eine Sportmedaille oder einem Pokal, während Frauen sie mit Emojis verbinden, die Badewannen oder Duschen zeigen: Trotz der gleichen Grundthematik, so zeigt sich, setzen Frauen und Männer unterschiedliche Dinge relevant. Ein weiterer Unterschied betrifft den Einsatz von Emojis, die Gesichter darstellen: Frauen verwenden „face-related emojis“ (ebd., S. 5) häufiger als Männer. Als Erklärung wird dabei auf die Emotionsdarstellung verwiesen. Nicht geklärt ist dagegen der Grund für den Befund, dass Männer häufiger als Frauen Herz-Emojis einsetzen (ebd.). Hierzu fehlt der Studie schlicht der qualitative Zugriff, um Erklärungen dafür anzubieten. Die letzte hier diskutierte Untersuchung stammt von Siebenhaar (2018) und befasst sich mit deutscher WhatsApp-Kommunikation aus dem „What’s up Deutschland“-Korpus (374.000 Einzelnachrichten). Siebenhaar (ebd., S. 19) verglich die Verteilung beim Emojigebrauch nach Alter und nach Geschlecht der Interagierenden. Sein Ergebnis spricht deutlich für eine differenziertere Betrachtung genderbezogenen Sprachgebrauchs: Hier unterscheiden sich die Jugendlichen und die 25–35-Jährigen von den 18–25- und 35–50-Jährigen, wobei die ersten beiden Gruppen weniger Emojis gebrauchen. Die Unterschiede sind zwar signifikant, allerdings lässt sich keine wirklich sinnvolle Erklärung dafür finden. Erstaunlich ist dabei jedoch, dass dieses Muster von Frauen und Männern gleich genutzt wird, wobei die Frauen jeweils einen um 0,2 Emojis/Sprechblase höheren Wert aufweisen als die Männer. (ebd.)

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Quantitative Auswertungen sind also nicht ohne Grund problematisch; sie müssen Erklärungen für beobachtete Phänomene meist offen lassen (vgl. Busch i. Vorb. zu einer kritischen Diskussion quantitativer Vorgehensweisen).

4  Die Mobile Communication Database (MoCoDa) Die Datenbank MoCoDa2 wird in einem eigenen Beitrag in diesem Band vorgestellt, auf den hier verwiesen wird (vgl. Beißwenger et al. in diesem Band). Lediglich die für die vorliegende Untersuchung relevanten Daten zu Geschlecht, Tätigkeiten und Altersgruppen der Schreiber/innen in der MoCoDa2 werden im Folgenden präsentiert:

Abb. 1: Verteilung der Geschlechter

Die Auswertungen der 238 Chats (21.845 Nachrichten mit 177.797 Token) zeigen, dass die Daten zum Großteil von Studierenden (67%) im Alter von 16-30 Jahren (82%) stammen. Dies führt einerseits entsprechend zu einem ‚Bias‘, andererseits unter der Perspektive der geplanten kontinuierlichen Datenerhebung aber auch zu einer besseren Vergleichbarkeit der Daten.

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Abb. 2: Verteilung der Berufe

https://doi.org/10.1515/xxxxxxxxxxxxxxxxx

Abb. 3: Verteilung der Altersgruppen

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5  Quantitative Analyse Zunächst wird eine quantitative Analyse mit folgenden Fragen durchgeführt: 1. Wie häufig nutzen Frauen und Männer Emojis? 2. Wie verändert sich diese Häufigkeit, wenn man nur Chats betrachtet, die zwischen gleichgeschlechtlichen Schreiber/innen stattfinden? 3. Wie verändert sich diese Quote in Chats, in welchen beide Geschlechter beteiligt sind?

Abb. 4: Emojis pro Nachricht

Auch wenn die Differenz etwas geringer als in den im vorigen Abschnitt genannten Studien ausfällt, zeigt sich auch in unseren Daten, dass Frauen mehr Emojis pro Nachricht verwenden als Männer (0,610 zu 0,564). Dabei wurden alle Nachrichten ohne den Einbezug der jeweiligen Chatkonstellationen betrachtet. Wenn man die gleiche Auswertung in gleichgeschlechtlichen Chats durchführt, so zeigt sich ein deutlicherer Unterschied: Frauen nutzen untereinander signifikant mehr Emojis pro Nachricht als Männer es untereinander tun (0,649 zu 0,549). Wie sich die relativ ähnliche Gesamtfrequenz ergibt, zeigt die dritte Auswertung der Nachrichten der jeweiligen Geschlechter in gemischten Chats: Dort nähert sich die Frequenz nicht nur an, sondern Männer verwenden in diesen Chatkonstellationen sogar mehr Emojis (0,579 zu 0,571). In einer weiteren Untersuchung wurde der Gebrauch hinsichtlich der verschiedenen Emojis in den Blick genommen. Dazu wurden ebenso zunächst die Nut-

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zungshäufigkeiten der Frauen und Männer in jeweils gleichgeschlechtlichen Chats analysiert. Abbildung 5 zeigt die Top 20 der genutzten Emojivarianten.

Abb. 5: Top 20 Emojis von Frauen und Männern in gleichgeschlechtlichen Chats

Es fällt auf, dass etwa jedes neunte Emoji (11,09%) bei den weiblichen Schreiberinnen mit dem vermeintlichen Ausdruck von Zuneigung in Form eines Herzens verbunden ist ( , und ). Bei den männlichen Schreibern sind es jedoch nur rund 2%, die derartige Emojis ausmachen ( und ). Diese Häufigkeiten verändern sich merklich, wenn die Gruppen sowohl aus weiblichen als auch aus männlichen Teilnehmer/innen bestehen (vgl. Abb. 6). Die Verwendung des Herz-Emojis ist dann sowohl bei den Schreiberinnen als auch den Schreibern sehr frequent.

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Bei den Frauen macht die Verwendung der Emojis , und zusammen rund 17,2% aller Emojis aus. Bei den Männern entfallen 17,6% auf ebendiese Emojis.

Abb. 6: Top 20 Emojis von Frauen und Männern in gemischtgeschlechtlichen Chats

Abbildung 7 zeigt, wie stark sich die Nutzungshäufigkeit des Herz-Emojis in den verschiedenen Chatkonstellationen verändert. Wenn man allein die Häufigkeit der Verwendung des Herz-Emojis oder der Herz-Kombinationen der männlichen Schreiber in gemischten Chats betrachtet und dabei von der Grundfunktion ausgeht, dass mit der Verwendung stets Zuneigung einer anderen Person gegenüber ausgedrückt werden soll, könnte man der

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Spekulation von Chen et al. (2018, S. 5) folgen, dass Männer „are more willing to express love through emojis in textual communication“. Ob die jeweiligen Emojis wirklich die Intention des Ausdrucks von Liebe haben, wie es Chen et al. (2018) mutmaßen, muss aber in einer qualitativen Analyse geprüft werden, da die jeweilige Funktion der Verwendung der Emojis in den quantitativen Auswertungen nicht berücksichtigt wurde. Hierbei ist anzumerken, dass von allen in die Analyse einbezogenen Chats lediglich drei Chats zwischen Teilnehmer/innen stattfanden, die Liebespaare waren.

Abb. 7: Verwendung des Herz-Emojis

Zusammengefasst zeigen die quantitativen Auswertungen, dass 1. Frauen häufiger Emojis als Männer verwenden. 2. Frauen untereinander häufiger Emojis verwenden als Männer. 3. Frauen untereinander andere Emojis verwenden als Männer. 4. Männer in gemischtgeschlechtlichen Chats mehr Emojis verwenden als Frauen. 5. Frauen untereinander die Emojis , und deutlich häufiger nutzen als Männer. 6. Männer in gemischtgeschlechtlichen Chats ebendiese Emojis häufiger verwenden als Frauen.

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6  Qualitative Stichprobenanalyse Wie eingangs erwähnt, besteht bei der Untersuchung von Sprache und Gender die Gefahr einer vorschnellen Rückführung quantitativer Befunde auf den Parameter Sexus. Stattdessen müssen aber zunächst so viele Parameter wie möglich auf ihren Einfluss hin untersucht werden, wie z.B. „gender and age, gender and class, race, institutional demands, social milieu etc.“ (Kotthoff/Baron 2002, S. xi; vgl. auch Günthner 1996). In der Auswahl der Beispiele für die qualitative Analyse haben wir entsprechend versucht, möglichst viele Parameter gleich zu halten: Alle Schreiber/innen waren zwischen 20 und 25 Jahre alt, sie stammen aus dem gleichen sozialen Milieu (meist befreundete Studierende) und führen jeweils gleiche Aktivitäten durch. Ausgewählt wurden einmal ein reiner Männerchat und einmal ein reiner Frauenchat. Als erste Aktivität wurde das Wünschen von „Viel Spaß“ bei einer Reise einer der beteiligten Personen und die Reaktionen darauf ausgewählt und als zweite Aktivität eine Terminabsage auf Grund von Krankheit mit „gute Besserung“-Wünschen. Während die quantitative Analyse lediglich Korrelationen des Emojigebrauchs mit festen sozialen Parametern wie Alter oder Geschlecht zuließ, sollen hier nun die Variablen Emojigebrauch und Gender in ihrer interaktionalen Situiertheit betrachtet werden.

6.1  Aktivität 1: Wünschen von „viel Spaß“ bei einer Reise Der erste Auszug stammt aus einem reinen Männerchat, der sich über einen Zeitraum von vier Jahren (2.652 Nachrichten) erstreckt und an dem elf befreundete Studierende beteiligt sind. Die Sequenz in Beispiel 1 findet am 31.12.2017 statt. Zwei Teilnehmer aus der Gruppe – David und Kevin – sind in Italien, wobei ihnen von den anderen viel Spaß gewünscht wird:

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Beispiel 1: MoCoDa2-Chat #4I1Cp, Nachrichten 2308–2320

Insgesamt kann man sehen, dass mit Emojis recht sparsam umgegangen wird. Manche Nachrichten enthalten überhaupt keine Emojis, die übrigen eines oder zwei. Keines der Emojis kann dem Feld der Kontextualisierung von Gender (weder „doing“ noch „indexing gender“) zugerechnet werden: Die Emojis haben illustrierend-ausschmückende Funktionen (die Konfetti, die auf die Neujahrsfeier deuten, in Nachricht #2308, die erhobenen Hände für Dank in #2309 und die Italienflagge in #2310), Modalisierungsfunktionen (das lachende Emoji in #2314, das scherzhafte Interaktionsmodalität anzeigt, oder das ‚verschwörerisch‘ zwinkernde Emoji in #2317) sowie die etwas schwerer einzuordnenden Hand-Emojis, die hier in einer Kombination aus orthografischen Funktionen (Handlungs- und Nachrichtenabschluss wird angezeigt) sowie einer darstellenden Funktion der Abbildung der entsprechenden Geste der Markierung von etwas Positivem (vgl. Pappert 2017, S.  188–205 zu einer Übersicht über Emojifunktionen) verwendet

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werden. Die Funktion der Beziehungsgestaltung wird bei Pappert (2017, S. 188) als eigene Funktion angenommen. Der Chat zeigt jedoch, dass alle Emojis mehr oder weniger starke beziehungsgestaltende Funktionen haben. So modalisiert das lachende Emoji aus #2314 nicht nur die Äußerung als scherzhaft, es stellt zugleich auch Gemeinschaft her. Mit seiner gespielt genervten Antwort „bibedibabedi“, mit der er die Beschwerde von David als ‚Gemeckere‘ markiert (vgl. Günthner 2002 zum Einsatz von nicht-bedeutungstragenden Silben in Beschwerdekontexten), reagiert er auf Davids Frotzelaktivität aus #2314. Frotzeln und dessen verwandtes Muster Dissen haben stark gemeinschaftsstiftende Funktionen (Günthner 1999; Deppermann/Schmidt 2001), und das Emoji ist in der Schriftsprache notwendig, um den sonst non- oder paraverbal indizierten Scherzmodus zu markieren. Alle Emojis sind weder unmittelbar mit Gender verbunden noch mit Kategorien, die prototypisch sozial gegendert sind (z.B. Bierglas- vs. SektglasEmoji). Vergleicht man Beispiel 1 mit Beispiel 2 aus dem Frauenchat, so fallen direkt Unterschiede auf, die einen Genderbezug nahelegen. Der Ausschnitt stammt aus einem sich über zwei Jahre erstreckenden Chat (2016–2018; 409 Nachrichten) von vier Freundinnen im Alter zwischen 20 und 25 Jahren, die sich im Rahmen eines Freiwilligenprojekts in den USA kennengelernt haben und danach Freundinnen geblieben sind. Drei davon (unter anderem K.) sind Studierende, eine (D.) ist Bürokauffrau.

Beispiel 2: MoCoDa2-Chat #gcPuE, Nachrichten 404–407

Die Aktivität ist vergleichbar – zwei der Freundinnen sind im Urlaub im Ausland, D. wünscht ihnen dabei viel Spaß. Der Stil entspricht allerdings hier deutlich dem, was stereotyp von genderbezogenem Sprachgebrauch erwartet wird: Innerhalb von nur vier Nachrichten kommen fünf Herz-Emojis vor, die in Verbindung

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mit der Lexik eindeutig als beziehungsgestaltend zu werten sind und emotionale Verbundenheit anzeigen (vgl. die entsprechenden Äußerungen „hab euch ganz arg lieb“ in #404 sowie „Danke Schatz!!!“ und „Liebste Grüße“ in #405). Die übrigen Emojis erfüllen zwar auch beziehungsgestaltende Funktionen, haben aber primär andere Funktionen, wie die Markierung von Handlungseinheiten (z.B. Trennung von Gruß und Anliegen in #404) oder die Darstellung und Kommentierung von Sachverhalten (z.B. die beiden ‚ausgelassenen‘ Emojis, die das Ergebnis der Aufforderung „trinkt einen t’kill ya für mich mit“ in #404 illustrieren oder die zufrieden-fröhlichen Emojis in #406, die die Freude über den erhaltenen Gruß aus Wien anzeigen). Der Vergleich der Beispiele legt die Interpretation nahe, dass Frauen stärker emotionale Emojis sowie – durch Iteration – auch eine Aussageverstärkung durch Emojis bevorzugen. Allerdings muss bedacht werden, dass die Darstellung von WhatsApp-Verläufen als „endloses Band“ (Imo 2015) dazu führt, dass neue sprachliche Handlungen als Fortsetzungen bereits abgeschlossener Sequenzen wahrgenommen werden (ebd.). Betrachtet man die Kommunikation unmittelbar vor dem eben besprochenen Auszug, so fällt erneut die hohe ‚Herzdichte‘ auf.

Beispiel 3: MoCoDa2-Chat #gcPuE, Nachrichten 400–404

Während der massive Einsatz von Herz-Emojis bei einem bloßen Gruß an Freundinnen im Urlaub als gendertypische, möglicherweisen übertrieben phatische Kommunikationsweise erscheint, ist der Einsatz von Herz-Emojis in der Episode unmittelbar davor einleuchtend: Schreiberin J. schickte ein Bild, das Erinnerungen an den gemeinsamen Aufenthalt der Freundinnen in den USA wachrief. Der

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Verweis auf gemeinsam Erlebtes hat eine hohe phatische Kraft, die den Herzeinsatz auslöst. Es ist nun zu fragen, ob die Verwendung der Herzen in dem vorigen Austausch nun den Einsatz von Herzen im Folgeaustausch ‚getriggert‘ hat im Sinne einer Strukturlatenz (bzw. auch ausgelöst durch die technisch bedingte Tatsache, dass zuletzt bzw. häufig verwendete Emojis in der Emojiliste des Messengers oben stehen und so beim Tippen schneller zugänglich sind). Dafür könnte die Beobachtung sprechen, dass die Freundinnen an vielen Stellen auch völlig ‚herzfrei‘ kommunizieren, wie in folgendem Auszug:

Beispiel 4: MoCoDa2-Chat #gcPuE, Nachrichten 291–299

Sowohl die Tatsache, dass D. sich nicht mit K. treffen kann und daher „voll genervt“ (#292) ist als auch die Besprechung der Wochenendpläne im Anschluss sprächen potenziell ja durchaus für den Einsatz von Herzen: Das tröstende „Ouh man“ (#293) wäre ebenso ein passender Ort wie das aufmunternde „Sehen uns ja

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morgen wieder“ (#296) oder der Dank für das Besorgen der Karten und das Kümmern um die Plätze durch D. in #299. Es kommen aber ‚nur‘ Emojis in einer Art und Weise zum Einsatz, wie sie in Beispiel 1 auch schon zu finden waren, mit entsprechend illustrierender, ausschmückender, orthografischer und kommentierend-modalisierender Funktion (eine Ausnahme könnte das Affenemoji sein; vgl. Fladrich i. Vorb.). Umgekehrt finden sich in anderen Kontexten auch in dem Männerchat Herzen, wie in den folgenden beiden Auszügen:

Beispiel 5: MoCoDa2-Chat #4I1Cp, Nachrichten 2239–2244

Beispiel 6: MoCoDa2-Chat #4I1Cp, Nachrichten 3493–3495

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In Beispiel 5 wird von Nicolas die Ankündigung von Dominik, nach der Arbeit mit seiner Freundin zu der Party zu kommen, mit „Ok“ und einem Kuss-Herz-Emoji quittiert, mit dem Freude über die Zusage ausgedrückt wird. Die mögliche Bandbreite des Signalisierens von Nähe und Gruppenzugehörigkeit ist allerdings breiter: Neben dem Kuss-Herz-Emoji von Nicolas finden sich auch die „thumbs-up“Emojis von Eric ohne weiteren verbalen Kommentar (#2242) und dafür umgekehrt das knappe rein verbale „Am Start. Aber allein“ von Jonas (#2244) sowie schließlich auch noch das Wortspiel „Okäse“ für „okay“ von Torben (#2242). Hier zeigt sich, dass dieselbe Funktion durch ganz unterschiedliche Mittel ausgeübt werden kann: Gruppenzugehörigkeit und Nähe können entweder durch verbalen und nonverbalen ‚Aufwand‘ (z.B. „Ich habe euch lieb“ oder Herz-Emojis) oder aber durch das genaue Gegenteil, nämlich knappes und saloppes Sprechen hervorgerufen werden (vgl. hierzu auch Kiesling 2001, S. 265, der in seiner Untersuchung der amerikanischen Burschenschaften ähnliche Techniken gefunden hat, die gruppenkonstituierend wirken). Noch komplizierter wird das Bild in Beispiel 6. Hier zeigt sich, wie wichtig sequenzielle Kontexte für die Erzeugung von Emojibedeutungen sind. Auf das „Prost Jungs“ von David (#3493), das mit einem Bierglas gerahmt wird, folgt ein ‚Muskelarm‘-Emoji und ein Herz von Jonas und zeitgleich zwei anstoßende Bierkrüge von Dominik. Das Herz hat hier nicht die Funktion, eine Aussage im Sinne von „ich liebe euch“ zu treffen, sondern im Kontext liegt die Lesart nahe, dass Jonas damit so etwas wie „ich liebe es, kräftig zu feiern“ ausdrücken will. Mit anderen Worten: Herz ist nicht gleich Herz, was bei quantitativen Untersuchungen schnell vernachlässigt wird.

6.2  Aktivität 2: Absage von einem Treffen wegen Krankheit Um einen Vergleich von Aktivitäten zu erhalten, wurde nun in den gleichen Gruppenchats nach der Phrase „gute Besserung“ gesucht, um zu fragen, wie die Interagierenden damit umgehen, wenn jemand ein Treffen wegen Krankheit absagen muss – eine Konstellation, die ein hohes Maß an phatischer Kommunikation erwarten lässt. Zunächst in Beispiel 7 eine Absage wegen Krankheit aus dem Chat der vier Freundinnen:

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Beispiel 7: MoCoDa2-Chat #gcPuE, Nachrichten 332–339

Die Absage selbst zeigt, dass Entschuldigungshandlungen und Absagen mit Facework verbunden sind (zu Entschuldigungs-E-Mails vgl. Weidacher 2011): Schreiberin D. drückt in Nachricht #332 ihr Bedauern aus („Es tut mir wirklich Leid“), liefert eine ausführliche Begründung (Darstellung der Symptome, Schilderung der unternommenen Heilungsversuche) und wiederholt nochmals ihr Bedauern („tut mir wie gesagt Leid“), wobei sie mit zwei Emojis schließt: Einem traurig blickenden Emoji, das das Bedauern mimisch darstellt und einem HerzKuss-Emoji, das beziehungsgestaltende Funktion hat. Als Antwort auf die Absage folgt von J. in Nachricht #333 ein Rezeptionssignal („Okay“), ein ‚Entschärfen‘ der potenziell gesichtsbedrohenden Handlung einer Absage („kein Problem“), der Wunsch „Gute Besserung“ und das gleiche beziehungsgestaltende Herz-Kuss-Emoji – das sich auch in fast allen Folgenachrichten fortsetzt, was die These der Routinierung bzw. der Konstruktionsübernahme im

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Sinne dialogischer Sprachverwendungsmodelle wie bei Du Bois (2014) nahelegt. Dessen ungeachtet ist der explizit beziehungsgestaltende Aufwand, der von den Interagierenden durch den Einsatz von positiven verbalen (vgl. z.B. Anrede „Süße“ in #336) und nonverbalen (Kuss-Emojis) Mitteln betrieben wird, höher als im Männerchat:

Beispiel 8: MoCoDa2-Chat #4I1Cp, Nachrichten 214–221

Vergleicht man die Absage von Sebastian mit der von D. in Beispiel 7, so fällt auf, dass die Nachricht deutlich kürzer gehalten ist. Es werden keine Details der Krankheit genannt, die im Sinne eines impliziten „Angebots eines Beweises“ (Weidacher 2011, S. 68) fungieren könnten. Jenseits dessen sind die Parallelen aber deutlich: Die Begrüßungen sind ähnlich („Guten Morgen Mädels!!“ vs. „Hey Jungs“), an die Stelle des ‚Beweises‘ für die Krankheit tritt mit „Müssen wir später nachholen“ ein „Versprechen/Ersatzangebot“ (ebd.), es wird eine – wenn auch



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deutlich verbal reduziertere – Entschuldigung geliefert („sry“) und das gleiche ‚traurige‘ Emoji eingesetzt. Der hauptsächliche Unterschied besteht dabei im Aufwand, der für Beziehungsarbeit eingesetzt wird: Die knappe, formelhafte Entschuldigung von Sebastian gegenüber der doppelten, ausführlichen und durch „wirklich“ (Beispiel 7, #322) noch als besonders aufrichtig gestalteten Entschuldigung von D. im Frauenchat und der Einsatz von nur einem paraverbal Trauer illustrierenden Emoji durch Sebastian im Vergleich zu dem illustrierenden Emoji in Kombination mit einem beziehungsgestaltenden bei D. in Beispiel 7. Auffällig ist, dass im Beispiel des Frauen-Chats alle Gute-Besserung-Wünsche mit einem Emoji phatisch ausgestaltet wurden, während dies im MännerChat (#216, #217, #221) nicht der Fall ist. Allerdings kann nun nicht geschlussfolgert werden, dass die Männer keine Beziehungsarbeit leisten – diese fällt lediglich anders aus: Anstelle einer lexikalisch eindeutig das positive Image pflegenden Anrede wie „Süße“ im vorigen Beispiel wird das etwas nüchternere „Junge“ (#221) eingesetzt, das nicht positive Imagepflege betreibt, aber ‚Kumpelhaftigkeit‘ markiert und so in diesem Kontext die gleichen Aufgaben erfüllen kann. Auch die Scherzkommunikation der Teilnehmer erfüllt diesen Zweck: Anstatt Mitgefühl auszudrücken, werden saloppe Sprüche geschickt, wie provokante Nachfrage nach der Art der Erkrankung „Vorne und hinten?“ von Jonas (#218) oder das Angebot „wenn du ein Zäpfchen möchtest sag bescheid“ von Torben (#219), das durch die beiden zwinkernden bzw. die Zunge herausstreckenden Emojis als scherzhaft modalisiert wird.

7  Fazit Als Fazit kann festgehalten werden: Eine reine Zählung der Emojimenge oder auch der Emojiarten greift zu kurz. Während die quantitative Auswertung ein recht deutliches Bild zeigt, das klare Korrelationen zwischen Emojigebrauch und Gender nahelegt, offenbaren detailliertere Analysen, dass diese Korrelationen nicht ganz so einfach sind. Gendertypische Präferenzen für bestimmte Emojis sind zwar feststellbar (z.B. Herzen bei Frauen in reinen Frauenchats), aber es handelt sich dabei eher um Grade der Häufigkeit. Zudem scheinen die Daten darauf hinzuweisen, dass Emojis sequenziell getriggert werden und sich entsprechend auch ‚aufschaukeln‘ können. So kann der Einsatz von Herz-Emojis in einer Sequenz dazu führen, dass sie in der Folgesequenz erneut eingesetzt werden. Hierzu wären allerdings entsprechende Anschlussforschungen nötig, um über die zeitliche Entwicklung eines Chats hinweg zu untersuchen, ob sich ein solches ‚Aufschaukeln‘ von Emojis finden lässt.

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Darüber hinaus sind Emojis auch mit den Handlungen zusammen zu betrachten, in denen sie auftauchen: So verwenden sowohl Frauen als auch Männer Herz-Emojis und sowohl bei Frauen als auch Männern können sie zum Signalisieren von Freundschaft verwendet werden (wenn auch in unterschiedlicher Quantität, man vergleiche die zahlreichen Herz-Emojis in Beispiel 2 mit dem ‚Herzaugen‘Emoji in Beispiel 3). Hier wäre eine direkte Vergleichbarkeit gegeben. Ein Herz-Emoji, wie es in Beispiel 6 verwendet wird, muss dagegen anders eingestuft werden, da es nicht direkt beziehungsgestaltend wirkt, sondern eher als positive Evaluierung von ‚Trinken und Feiern‘ fungiert. Der Genderbezug ist in beiden Verwendungsweisen ein anderer. Ebenso ist die Schlussfolgerung, dass Frauen mehr Beziehungsarbeit leisten, vorsichtig zu bewerten. Auf der einen Seite ist in Beispiel 7 klar zu sehen, dass die Menge der Kuss-Herz-Emojis als beziehungsgestaltender Marker fungiert. Auf der anderen Seite zeigt sich in Beispiel 8, dass Beziehungsarbeit aber auch durch andere Mittel als positives Facework geleistet werden kann, beispielsweise durch eine Frotzelaktivität, die dann entsprechend mit anderen, zunächst eher nicht phatisch konnotierten Emojis (z.B. einem die Zunge herausstreckenden Emoji) gerahmt werden. Der kurze, stichprobenartige qualitative Einblick zeigt eine Reihe von Forschungsdesiderata auf: So müssen, um valide Aussagen über Emojigebrauch und Gender treffen zu können, umfassende Analysen von Interaktionen in reinen Männerchats, reinen Frauenchats und gemischten Chats verglichen werden. Dabei müssen jeweils unterschiedliche Altersgruppen, soziale Milieus und Aktivitäten berücksichtigt werden. Zudem ist es inzwischen auf Grund der wachsenden Datenmengen und der umfangreichen Chats, die gespendet werden, auch möglich, der Frage nachzugehen, wie sich innerhalb einer Gruppe der Emojigebrauch entwickelt und verändert.

Literatur Ayaß, Ruth (2008): Kommunikation und Geschlecht. Eine Einführung. (= Kohlhammer-UrbanTaschenbücher 627). Stuttgart. Baker, Paul (2014): Using corpora to analyze gender. London. Baron, Naomi S. (2004): See you online: Gender issues in college student use of instant messaging. In: Journal of Language and Social Psychology 23, 4, S. 397–423. Baron, Naomi S./Ling, Rich (2007): Emerging patterns of American mobile phone use: Electronically-mediated communication in transition. Internet: www.researchgate.net/ publication/228634663_Emerging_patterns_of_American_mobile_phone_use_Electro nically-mediated_communication_in_transition (Stand: 23.10.2018). Washington, D.C., S. 1–25.



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Hans-Jürgen Bucher (Trier)

Zwischen Deliberation und Emotionalisierung: Interaktionsstrukturen in Sozialen Medien Abstract: Die Sozialen Medien haben sich zunehmend zu einem Raum öffentlicher Meinungsbildung entwickelt. Die öffentliche Diskussion um Hass-Kommentare im Internet macht deutlich, dass Soziale Medien über die epistemische Dimension rationaler Diskurse hinaus emotionalisierte, strategische und identitätsorientierte Diskurse begünstigen, die das deliberative Paradigma öffentlicher Meinungsbildung und die Prinzipien politischer Rationalität und logischen Argumentierens in Frage stellen. Der Beitrag untersucht am Beispiel der drei Plattformen Facebook, Twitter und Youtube den Zusammenhang von Plattformlogik und Interaktionsstrukturen mit einem Schwerpunkt auf den Diskurspraktiken des Emotionalisierens. Es wird auch die Frage geklärt, inwiefern die vorhandenen Ansätze der Konversationsund Dialoganalyse auf Interaktionen in Sozialen Medien anwendbar sind.

1  Interaktion und politische Meinungsbildung In der Woche vom 28. Januar bis zum 4. Februar fand auf Facebook eine Art Interaktions-Experiment statt: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und der Spiegel-Online Journalist Hasnain Kazim tauschten ihre Facebook-Profile, so dass jeder für eine Woche mit den Followern des jeweils anderen Profils kommunizierte. Die Brisanz dieses „Blasentausches“, wie die beiden ihr Experiment nannten, lag darin, dass die beiden Akteure für sehr unterschiedliche politisch-weltanschauliche Positionen stehen, die sich auch in unterschiedlichen Facebook-Gemeinschaften widerspiegeln: Palmer, der grüne Oberbürgermeister und Politiker mit populistisch-konservativen Ansichten zur Migration, und der Spiegel-Journalist Hasnain Kazim mit indisch-pakistanischen Eltern, der sich in anti-rassistischen Projekten engagiert und wiederholt rassistischen Angriffen ausgesetzt war. Ziel des Expe­ riments war es, so Kazim, herauszufinden, ob man auch mit den insgesamt etwa 50.000 „Freunden“ und „Abonnenten“ eines anderen, weltanschaulich unterschiedlichen Akteurs, „in den Dialog treten kann“ – ob man also aus der eigenen Filterblase ausbrechen kann (Kazim 2019).

https://doi.org/10.1515/9783110679885-007

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 Hans-Jürgen Bucher

Während Kazim zu dem Schluss kam, dass „ein sinnvoller Dialog auf der Facebook‐Seite von Boris Palmer nicht möglich ist“ (ebd.), fiel dessen Resümee deutlich optimistischer aus: Er bescheinigte einer „großen Mehrheit, positiv, offen und zumindest kritisch-dialogbereit“ (Boris Palmer 4.2.20191) zu sein. Ganz unabhängig von der unterschiedlichen Einschätzungen der beiden Hauptakteure, zeigt das Experiment, dass in den Sozialen Medien die Anschlusskommunikation ein entscheidender Faktor für die öffentliche Meinungsbildung geworden ist: Die 32 Posts von Kazim lösen über 7.000 Kommentare und insgesamt knapp 8.500 textliche Reaktionen aus. Im Falle der 49 Posts von Palmer sind es rund 10.000 Kommentare und insgesamt 14.400 Textreaktionen. Ein auffallendes Indiz für die interaktionalen Strukturen der Anschlusskommunikation liefern die zahlreichen reflexiven Beiträge, in denen über Kommunikationsmaximen, Wortwahl, Stil, Strategien oder über die Registerangemessenheit von Äußerungen diskutiert wird. Die Konstellation, dass der initiale Akteur mit einem Publikum kommuniziert, das auf einen anderen Akteur eingestellt ist, hat zur Folge, dass regelmäßig Vergleiche und Vergewisserungsverfahren stattfinden. Insofern zeigt das Experiment „Blasentausch“ auch, dass eine interaktionale Perspektive der natürlichen Sichtweise der teilnehmenden Kommunikationspartner entspricht und nicht künstlich theoretisch eingeführt werden muss. Meinungsbildung beruht auf dem kommunikativen Austausch von Sachverhalten, Meinungen und Argumenten und impliziert dementsprechend eine interaktionale Struktur. Der Maßstab für die Qualität dieser symbolbasierten Interaktion ist im Bereich der politischen Kommunikation traditionellerweise das maßgeblich von Jürgen Habermas entwickelte Konzept der Deliberation, das offensichtlich auch Kazims kritischer Diagnose zugrunde liegt (Habermas 1994, 2009). Allerdings gilt es als typisches Merkmal Sozialer Medien, dass sie über die epistemische Dimension rationaler Diskurse hinaus emotionalisierte, strategische und identitätsorientierte Diskurse begünstigen, die das deliberative Paradigma öffentlicher Meinungsbildung und die Prinzipien politischer Rationalität und logischen Argumentierens in Frage stellen. Das Umschlagen in „affektive Öffentlichkeiten“ (Papacharissi 2015) und Empörungsgemeinschaften (Pörksen/Detel 2012) ist der Kommunika­ tionslogik Sozialer Medien gewissermaßen inhärent. Für eine interaktionale Analyse der Kommunikation in Sozialen Medien stellen sich vor diesem Problem­ hintergrund folgende Fragen: –– Wie können interaktionale Sequenzen in der Abfolge der Tweets, Postings oder Kommentare identifiziert werden? Welche Art von Interaktion findet dabei statt?

1 www.facebook.com/ob.boris.palmer am 4.2.2019.



Zwischen Deliberation und Emotionalisierung 

 125

–– Mit welchen Mitteln werden Interaktionsbeziehungen von den Beteiligten aufgebaut? –– In welcher Weise wirkt sich die Medienlogik von Twitter, Facebook und YouTube – also ihre sozio-technische Infrastruktur – auf die Struktur der Kommunikationsverläufe aus und wie unterscheiden sie sich von Face-toFace-Interaktionen? In diesem Beitrag werden diese Fragen an Beispielen von drei unterschiedlichen Plattformen behandelt, um damit auch zu zeigen, wie sich die Plattformlogik auf die Interaktionsstrukturen auswirken: 1. Am Beispiel des fernsehbegleitenden Twitterns zu politischen Talkshows, was auch als Second-Screen-Szenario oder Social-TV bezeichnet wird (Harrington 2014; Selva 2016), werden plattformspezifische Werkzeuge der Interaktions­ organisation analysiert. 2. Am Beispiel von Kommunikationssequenzen auf Facebook, die sich aus Posts, Kommentaren und Entgegnungen zusammensetzen, wird gezeigt, wie man Emotionalisierungen als Interaktionsmuster analysieren kann. 3. Am Beispiel von Kommentarsequenzen auf YouTube, die sich an Wissenschaftsvideos anschließen, werden Interaktionsstrukturen in der Wissenskommunikation rekonstruiert. Den drei Beispielen ist gemeinsam, dass die Beiträge der Anschlusskomunikation einen gemeinsamen Bezugsgegenstand haben: die Fernsehsendung beim fernsehbegleitenden Twittern, das Initialposting im Falle der Facebook-Kommentare und das Video im Falle von Facebook. Damit sind eine thematische und funktionale Kohärenz sowie ein gemeinsam geteilter Aufmerksamkeitsfokus gewährleistet.

2  Grundlagen einer Interaktionsanalyse Sozialer Medien In der Medien- und Kommunikationswissenschaft hat die Analyse der Anschlusskommunikation in Sozialen Medien aber auch den Kommentarspalten der OnlineNachrichten von Fernsehen und Printmedien einen kleinen Boom ausgelöst (Bergt/ Welker 2013; Ziegele/Jost 2016; Neumann/Arendt 2016; Gruber 2017; Johnen/Jungblut/Ziegele 2018; Kalch/Naab 2017; Schwarzenegger/Wagner 2018). Nutzerkommentare gelten als Schnittstellen zwischen der medialen Massenkommunikation und der interpersonalen Kommunikation, sind ein Beispiel kommunikativer Par­

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 Hans-Jürgen Bucher

tizipation und Indikatoren für mediale Aneignungsprozesse. Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass in den bisherige Untersuchungen zur Kommunikation in Sozialen Medien die Interaktionsstrukturen und die Praktiken der Beteiligten zum Aufbau eines Kommunikationszusammenhangs unterbelichtet bleiben (Housley et al. 2018; Tolmie et al. 2018; Reeves/Brown 2016; Brooker/ Dutton/Greiffenhagen 2017). Für die Erforschung der Interaktionsstrukturen in Sozialen Medien bedarf es eines alternativen Ansatzes, der über eine Analyse der Metadaten von Tweets oder sprachstatistischen Auswertungen hinaus den Kommunikationsprozess und die ihn konstituierenden sequenziellen Zusammenhänge selbst zum Gegenstand macht und die „moment-by-moment-activities“ rekonstruiert (Reeves/Brown 2016, S.  4) mit denen eine „Interaktionsordnung“ (Goffman 1994) aufgebaut wird. Eine interaktionale Analyse der Social-Media-Kommunikation kann auf ethnomethodologische, dialog- und konversationsanalytische Ansätze zurückgreifen, wie sie für die Analyse von Face-to-Face-Kommunikation entwickelt wurden. Die von diesen Ansätzen als zentral ausgegebenen Aufgabe, „die Methoden der Gesellschaftsmitglieder (zu untersuchen), die sie anwenden, um formale Strukturen der Alltagshandlungen zu produzieren und zu erkennen“ (Garfinkel/Sacks 1976, S. 141; Garfinkel 1967; Schegloff 2007), lässt sich produktiv auf die Sozialen Medien übertragen. Der einzelne Online-Beitrag wird aus dieser Perspektive eine kontextuelle „Hervorbringung“ („accomplishment“) und kann als konversationeller Beitrag analysiert werden, mit dem eine Interaktionssequenz intendiert wird. Ob sie dann zustande kommt, liegt nicht in der Hand des Verfassers, sondern hängt davon ab, ob der Tweet, der Kommentar, oder das Posting in irgendeiner Weise weiterverarbeitet wird. Der Begriff der Interaktion ist vom Begriff der Interaktivität zu unterscheiden, der auch die Mensch-Computer-Kommunikation einschließt (Bucher 2004). Unter einer konversationsanalytischen Perspektive müssen folgende Kriterien erfüllt sein, damit eine Interaktion vorliegt: –– Eine wechselseitige Anerkennung einer gemeinsamen Beziehung zwischen Akteuren (Hall 2018, S. 165), die Esser (2000, S. 229–239) „Koorientierung“ nennt: Sie ist die Grundlage dafür, dass die Beteiligten ihre Handlungen danach ausrichten, dass sie sich in einer gemeinsamen sozialen Situation sehen. –– Gemeinsam geteilte Aufmerksamkeit für ein Thema oder einen Gegenstand (Esser 2000, S. 229–239): Sie ist die Grundlage für Entscheidungen, was in einer bestimmten Interaktion relevant ist (vgl. Goffman 1977, S. 31–51). –– Ein kommunikativer Austausch mit einem Mindestmaß an Verständigung zwischen den Beteiligten, demzufolge jeder in Bezug auf den anderen die „Why-that-now-Frage“ beantworten kann (Schegloff 2007, S. 244).



Zwischen Deliberation und Emotionalisierung 

 127

–– Eine Sequenz von mindestens zwei aufeinander bezogenen Handlungen – sogenannte Minimalpaare –, die die Grundlage bildet für weitere Interaktionen, auch mit neuen Partnern.

3  Zur Medialität der Kommunikation in Sozialen Medien Kommunikation in Sozialen Medien zeichnet sich dadurch aus, dass sie unter nicht-anwesenden Partnern, als Mehrparteien-Kommunikation und sowohl synchron als auch asynchron stattfindet. Durch die im Prinzip uneingeschränkte Zugänglichkeit erfolgt die Sprecherorganisation ausschließlich durch Selbstwahl (Housley et al. 2017). Diese spezifische Medialität hat zur Folge, dass Kommunikation in Sozialen Medien allgemein ein hohes Maß an konversationeller Diskontinuität aufweist: Zusammenhängende Tweet-Sequenzen müssen nicht in unmittelbar räumlicher Nachbarschaft stehen und können sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Auf diese räumliche und zeitliche Zerdehnung lassen sich die Kohärenzprobleme zurückführen, die sich sowohl für die Analyse als auch für die Teilnahme ergeben. Die Digitalität Sozialer Medien hat außerdem zur Folge, dass die „Interaktionsordnung“, wie sie sich auf dem Interface zeigt, durch verschiedene Algorithmen gesteuert ist. Es finden sich: –– Chronologische Sequenzen, die nach dem digitalen Zeitstempel der Beiträge organisiert sind; –– Relevanz-gesteuerte Sequenzen auf der Basis der Diskurs-Reputation eines Beitrags (Reaktionen); –– Personale Sequenzen auf der Basis des jeweiligen Autorenprofils und der entsprechenden Follower; –– Thematische Sequenzen, z.B. auf der Basis von Hashtags, in denen die entsprechend annotierten Beiträge zu einem bestimmten Themenbereich zusammengestellt sind. Die Interaktionsstrukturen in Sozialen Medien können auch durch Kontrolloptionen der Akteure wir Sperren oder Löschen beeinträchtigt sein. In der Konversationsanalyse und der Ethnomethodologie sind eine Reihe von Organisationsmechanismen beschrieben worden, mit denen Gesprächspartner ihre Kommunikation rezeptiv und produktiv organisieren: der Sprecherwechselmechanismus (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974), die Minimalpaar-Sequenzen (Goodwin/ Heritage 1990), die Reparaturen (Schegloff 2007, S. 100–106), das gemeinsame Wissen (Goodwin/Heritage 1990). Diese Mechanismen sind zwar auch in der Twit-

128 

 Hans-Jürgen Bucher

ter-Kommunikation anwendbar, erfordern aber aufgrund fehlender Kopräsenz der Kommunikationsteilnehmer Umsetzungswerkzeuge, um eine einseitige monologische Konstellation in soziale Interaktion zu überführen. Dazu gehören beispielsweise die @-Adressierung, das Retweeten, die Reply-Option, die Zitieroption, der Hashtag, die Kommentarfunktion und die implementierten Reaktionsformen wie Liken, Teilen und Favorisieren. Diese Werkzeuge konstituieren die Diskursarchitektur der jeweiligen Plattform, die exemplarisch für Twitter, Facebook und YouTube rekonstruiert werden soll.

4  Twitterspezifische Mechanismen zur Interaktionsorganisation 4.1  @-Operator als Kohärenzmittel: Erwähnungen und Adressierungen Da eine Beteiligung an der Twitter-Kommunikation durch Selbstwahl erfolgt, ergibt sich für die Beteiligten das Problem, einen bestimmten Adressaten gezielt „zum Sprechen“ zu bringen.2 Auf Twitter – wie auch in anderen Sozialen Medien – hat sich dafür der sogenannte @-Operator etabliert, mit dem nach dem Muster „@ Name“ – oder auf Facebook und YouTube nur durch Namensnennung – ein spezifischer Teilnehmer adressiert werden kann, vergleichbar mit einem Blickkontakt in der direkten Kommunikation. Als Interaktionsindikator ist der @-Operator allerdings in verschiedener Hinsicht mehrdeutig: Wenn die adressierte Person in einem bestimmten Kommunikationsabschnitt mehrere Tweets gepostet hat, ist offen, auf welchen davon sich die @-Adressierung bezieht. Außerdem kann der @-Operator neben der twitter-internen Adressierung eine ganze Reihe verschiedener Funktionen übernehmen (vgl. auch Honeycutt/Herring 2009): Er kann zur parasozialen Adressierung eines Talkshow-Gastes verwendet werden, er kann als Themen- oder Referenzindikator („deictic marker“; Zappavigna 2011, S. 790) verwendet werden, um anzuzeigen, dass ein Tweet von einer bestimmten Person, einem bestimmten Gegenstand handelt, was beim fernsehbegleitenden Twittern

2 Basis der folgenden Analyse ist ein Korpus, von 23.570 Tweets zu zehn politischen Talkshows die zwischen September 2016 und März 2018 von ARD oder ZDF ausgestrahlt wurden. Die Anzahl der Tweets pro Sendung lag zwischen knapp über 1000 und rund 4.800, wobei die Tweets von 30 Minuten vor der Sendung bis 30 Minuten nach der Sendung berücksichtigt wurden (ausführlicher mit quantitativen Auswertungen siehe Bucher 2019).



Zwischen Deliberation und Emotionalisierung 

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ein etabliertes Verfahren zur Bezugnahme auf Personen in der Sendung darstellt. Der Operator kann als Präposition (at, in) eingesetzt werden, man kann in einem Retweet damit den Original-Autor markieren oder man verwendet den Operator zur Markierung einer Referenz, um sicherzustellen, dass der entsprechende Tweet in der Timeline der markierten Person auftaucht. Die Offenheit in der Verwendung des @-Operators macht deutlich, dass @-Verwendungen nicht automatisch als Interaktionsindikatoren zu sehen sind. Es ist deshalb eine unzulässige Generalisierung, ihn als metrisches Mittel zur Bestimmung des Interaktionsanteils in einer Twitter-Kommunikation zu verwenden (Elter 2013). Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, dass im untersuchten Korpus die Liste der Haupt-Akteure mit den meisten Tweets und die der Akteure mit den meisten @-Erwähnungen keine oder nur sehr geringe Überschneidungen aufweisen. Offensichtlich garantiert in der Twitter-Kommunikation hohe Beteiligungsaktivität nicht automatisch ein hohes Maß an kommunikativer Beachtung, wie das in der Face-to-Face-Kommunikation der Fall ist. Insgesamt zeigt eine Auswertung der @-Adressierungen bei fernsehbegleitendem Twittern, dass fast die Hälfte davon an Sendungsteilnehmer gerichtet ist, was für einen hohen Anteil parasozialer Interaktion spricht – und eben nicht die Interaktionsdichte anzeigt.

4.2  Replies: Sequenzielle Anschlüsse und Interaktionssequenzen Verlässlichere Indikatoren für konversationelle Interaktionen sind die sogenannten Replies, die allerdings in den 10 Talkshows deutlich seltener vorkommen als @-Adressierungen und zwischen 12 Prozent und knapp 16 Prozent aller Tweets zur Sendung ausmachen (vgl. Tab. 1). Die Anschluss-Tweets auf der ersten Ebene sind jeweils mit der Phrase „replying to @-Name“ als direkte Entgegnungen erkennbar gemacht. Die Tabelle 1 zeigt eine reply-induzierte Interaktionssequenz im Zeitverlauf aus der Sendung „hart aber fair“ vom 5.3.2018. Obwohl zwischen dem ersten und dem letzten Tweet rund 22 Stunden liegen, erlaubt es der Reply-Mechanismus, kohärente Interaktionssequenzen herzustellen, die sich an einen mit dem Ausgangstweet 1 gemachten Vorschlag anschließen. Eine erste Sequenz bilden die Tweets 1 und 9: Mit Tweet 9 wird die Behauptung zurückgewiesen, „hart aber fair“ sei bedeutungslos, die die Grundlage des Verbesserungsvorschlages von Sonja Eckmann bildet. Die Tweets 2 und 7 bilden mit Tweet 1 jeweils dialogische Minimalpaar-Sequenzen, die mit einem Vorschlag eröffnet werden: Der in Tweet 1 gemachte Verbesserungsvorschlag für die Sendung „hart aber fair“ wird in Tweet 2 hinsichtlich der gemachten Voraussetzungen problematisiert (Jutta Ditfurth wäre ein oppositionellerer Gegenpart zu den

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 Hans-Jürgen Bucher

anderen Talkgästen als es Katja Kippling ist). Tweet 7 stimmt dem Vorschlag zu und erweitert ihn, indem er mit Markus Söder auch einen konservativen Gegenpart ins Spiel bringt. Tweet 8 bezieht sich als „Expansion“ (Schegloff 2007, S. 109–114) der ursprünglichen Vorschlagskommunikation auf Tweet 7 und kann als Ablehnung des in 7 gemachten Vorschlags verstanden werden, Markus Söder an der Sendung zu beteiligen. Eine Medialisierung dieser Interaktionssequenz besteht in zweierlei Hinsicht: Erstens wird die Sequenz durch den Reply-Mechanismus algorithmisch erzeugt und für die Beteiligten erst dadurch als solche erkennbar und zweitens erlaubt Twitter eine zeitliche Entgrenzung der Anschluss-Tweets (hier auf 22 Stunden), was man als zerdehnte Sequenzialität bezeichnen kann.

Tab. 1: Interaktionssequenz aus den Tweets zur Sendung „hart aber fair“ vom 5.3.2018 (Schreibungen aus dem Original wurden beibehalten) Nr.

Zeit

Verfasser

Tweet-Text

1

10:32 PM, 5 Mar 2018

Sonja Eckmann @ lucylawless

Zähle die Tage, bis @hartaberfair abgesetzt wird. Die totale Bedeutungslosigkeit ist ja schon erreicht. Hätte gerne eine echte Diskussion mit z.B. @jutta_ ditfurth gesehen. #hartaberfair #maaaann

2

10.38 PM

Kinnon @SirKinnon

Replying to @lucylawless @jutta_ditfurth #hartaberfair Liegen Katja Kipping und Jutta Ditfurth denn so weit auseinander?

3

10:41 PM

Jutta Ditfurth @ jutta_ditfurth

Keine Ahnung, ich weiß nicht, was sie sagt.

4

10:47 PM

Kinnon @SirKinnon

Sorry, ich dachte, Sie schauen zu, weil Sie mitkommentieren

5

10:50 PM

Jutta Ditfurth @ jutta_ditfurth

Nö. Hier kam nur ein rechter Schwall rein.

6

10:50 PM

Kinnon @SirKinnon

Sie haben wenig bis sehr wenig verpasst

7

10:52 PM

Replying to @lucylawless @hartaberfair @jutta_ Heiko Rotter (icon: Memo) @heiko_rotter ditfurth Wo sind eigentlich die Kämpfer in dieser Sendung geblieben. Ja, ich hätte mir auch @jutta_ditfurth und @markussoeder als Gegensätze gewünscht. Das wäre ja auch medienpolitisch gewesen. #Arme werden auf Grund der starken Presenz als gegeben empfunden.



Zwischen Deliberation und Emotionalisierung 

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Nr.

Zeit

Verfasser

Tweet-Text

8

3:00 PM, 6 Mar 2018

Lafo Knecht @ lafoknecht

Replying to @lucylawless @hartaberfair @jutta_ ditfurth Der Söder wäre doch heulend in der Sendung zusammengebrochen und hätte dann die Sendung Fluchtartig verlassen.(Icon: Grinning face)

9

8:11 PM, 6 Mar 2018

Dr. Seepferdchen @ OnkelMaike

Replying to @lucylawless @jutta_ditfurth @ hartaberfair ich finde #hartaberfair leider überhaupt nicht "bedeutunglos". für mich sind sie teil einer bürgerlich-rechten allianz, die den diskurs immer weiter nach rechts treibt. plasberg zb immer mit seiner gleichsetzung von afd und linke. das hat eine große bedeutung nur keine gute

Ein weiterer Medialisierungseffekt zeigt sich in der Sequenz der Tweets 2 bis 6, die in der übergeordneten Vorschlagskommunikation eine Nebensequenz bilden. Sie wird dadurch ausgelöst, dass die in Tweet 2 adressierte Person, Jutta Ditfurth, sich zu Wort meldet, indem sie die in Tweet 2 gestellte Frage zu ihrer Person beantwortet. Diese Sequenz weicht nun erheblich von einer Face-to-Face-Sequenz ab. Dass Kinnon den Tweet 2 auch an Jutta Ditfurth adressieren kann, setzt voraus, dass er sie bereits als Kommunikationsteilnehmerin wahrgenommen hat. Diese Voraussetzung bestätigt Kinnon mit dem Tweet 4, mit dem er aber auch einräumt, dass er von einer falschen Voraussetzung ausgegangen ist: Er hat angenommen, dass Jutta Ditfurth nicht nur im Kommunikationsraum anwesend ist, sondern auch fernsehbegleitend twittert und somit den Bezug der Tweets und insbesondere seiner Frage auf die Sendung herstellen kann. Tweet 4 stellt insofern eine Reparatur dar (Schegloff 2007, S. 100–109; Reeves/Brown 2016, S. 10), als Kinnon seine Fehlannahme explizit einräumt („ich dachte Sie schauen zu“), den Grund dafür angibt („weil sei mitkommentieren“) und sich dafür entschuldigt („sorry“). Im Kontext dieser Reparatur erhält der Tweet 2 von Kinnon einen anderen Sinn: Die Adressierung „@jutta_ditfurth“, die zunächst deiktisch intendiert schien („mention“), wird lesbar als Aufforderung an Ditfurth sich zu äußern, auch wenn über sie in der dritten Person geschrieben wird und die sprachliche Form den Tweet als direkte Rückfrage an Sonja Eckman indiziert. Mit Tweet 4 räumt Kinnon ein, dass er Ditfurth bereits als Mitleserin („Overhearer“) identifiziert hatte. Es handelt sich hier offensichtlich um eine Form der Mehrfachadressierung, die durch die medienspezifischen Kommunikationsbedingungen möglich wird: In den Sozialen Medien stehen private und öffentliche Kommunikation in einem

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fluiden Wechselverhältnis (Papacharissi 2010), was sich hier in der ambigen Verwendung des @-Operators ausdrückt. Tweet 2 erhält dadurch eine Doppelfunktion: Die zunächst erkennbare „privat-persönliche“ Funktion, mit dem Tweet Sonja Eckmann aufzufordern, ihren Vorschlag, Ditfurth einzuladen, zu begründen, wird erweitert um eine „öffentliche“ Aufforderung an Jutta Ditfurth: Sie soll die in dem Vorschlag implizierte Diskrepanz zwischen ihr und Katja Kipping erläutern. Erst auf der Grundlage dieser zweiten, durch die Reparatur eröffneten Interpretation, wird der Tweet 3 von Ditfurth als kohärente Anschlussäußerung verständlich. Ditfurth schließt dann die Reparatur-Sequenz ab durch eine Bestätigung der Selbst-Korrektur von Kinnon („Nö“) und eine Begründung ihrer Beteiligung auch unabhängig von der Sendung: der „rechte Schwall“ in der Kommunikation habe sie veranlasst sich kritisierend einzuschalten – wofür sie gute Gründe hat, denn insgesamt sind es 56 Tweets innerhalb von rund 2,5 Stunden während und nach der Sendung, in denen sie erwähnt wird – davon 40 negativ bis beleidigend („Inbegriff der Schwätzerin auf Staatskosten“; „ist ja nicht ganz dicht“; „hat uns gerade noch gefehlt“; „personifizierte Linksversiffte“). Die Sequenz 2 bis 6 wäre in der direkten Kommunikation nicht möglich gewesen: Die Fehlannahme von Kinnon wird verursacht durch die fehlende Kopräsenz der Kommunikationsteilnehmer und der damit ausgeschalteten wechselsei­tigen Wahrnehmung. Dass eine Interaktionssequenz trotzdem entstehen konnte, beruht auf den twitterspezifischen Mechanismen der Kommunikationskoordination: dem Einsatz des Hashtags und des @-Operators, der es ermöglicht, dass Ditfurth sich in die Kommunikation einschalten kann. Er sorgt dafür, dass der Tweet in ihrer Timeline auftaucht.

4.3  Zerdehnte Interaktionen durch Retweets Verschiedene Studien zur Twitter-Kommunikation haben gezeigt, dass bis zu 75 Prozent der Beiträge keine Original-Tweets sondern Retweets sind, also Weiterleitungen anderer Tweets. Eine quantitative Auswertung des Tweet-Korpus zu genannten zehn politischen Talkshows zwischen Juni 2016 und März 2018 hat ergeben, dass auch beim fernsehbegleitenden Twittern zwischen 35 und fast 85 Prozent der Tweets Weiterleitungen sind (Durchschnitt 50,2 Prozent). Retweets bewirken, dass ein Beitrag nicht nur zum Zeitpunkt seiner Artikulation in der Kommunikation präsent ist, sondern über einen längeren Zeitraum. Die Folge davon ist eine Dekontextualisierung des Beitrags, was neue Bearbeitungs- und Bezugsmöglichkeiten eröffnet, wodurch der Tweet ein „Eigenleben“ erhält (Boyd/ Golder/Lotan 2010). Das Retweeten trägt – neben der Archivierung der Tweets – zur zerdehnten Sequenzialität in der Twitter-Kommunikation bei. Das Retweeten



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erweist sich als eine grundlegend affirmative Kommunikationspraxis: Tweets werden nicht weitergeleitet, um sie zu problematisieren oder zu kritisieren, wie das zum Beispiel mit Zitierungen erfolgt, sondern um die mit ihnen ausgedrückte Meinung zu verstärken. Insofern liegt es in dieser affirmativen Kommunikationslogik, dass die Tweets mit den meisten Weiterleitungen in der Regel eindeutige und oft emotionale Meinungsbekundungen darstellen.

5  Facebook-Interaktionen: Interaktionale Emotionalisierung 5.1  Zum Begriff der Emotionalisierung Während die Twitterkommunikation in einem öffentlichen Raum stattfindet, der für alle gleichermaßen zugänglich ist, findet Facebook-Kommunikation in einem eher privaten und kontrollierten Raum statt, der in verschiedenen Abstufungen von einem Host (Gastgeber) öffentlich zugänglich gemacht werden kann. Selbst öffentliche Profile, wie die der beiden blasentauschenden Akteure Boris Palmer und Hasein Kazim erlauben es den Hosts, Beiträge zu löschen und bestimmte Personen von einer Beteiligung auszuschließen – zu blockieren –, was gegenüber Twitter eine Einschränkung der Selbstwahl bedeutet. In der Diskussion um Hassbotschaften und Fakenews spielt Facebook eine herausragende Rolle, so dass die Plattform in Medienberichten bereits als „asoziales Netzwerk“ bezeichnet wurde. Für eine Interaktionsanalyse wird damit die Frage aufgeworfen, inwiefern die spezifische Plattformlogik von Facebook emotionale Diskursverläufe beeinflusst. Zur Beantwortung dieser Frage werden Emotionalisierungen als interaktionales Phänomen betrachtet. Ausgangspunkt dafür ist ein dynamischer Emotionsbegriff, demzufolge Emotionen nicht im Rahmen eines wirkungsorientierten Paradigmas als Auslöser oder Effekt verstanden werden, sondern als Praktiken der Emotionalisierung und deren Bearbeitung betrachtet werden (Bucher/Barth 2019). Im Falle von „Emotionalisieren“ handelt es sich um eine komplexe Handlungsform, die jeweils andere Handlungsformen als Träger benötigt: Man kann z.B. emotionalisieren, indem man etwas behauptet („Kevin Kühnert schadet der SPD enorm“), einen Vorwurf macht („Die AfD polarisiert nur“) oder lobt („Barley ist als Spitzenkandidatin allen andern weit überlegen“). Emotionalisierungen implizieren eine „bewertende Stellungnahme“ (Fiehler 2008, 759), gehen aber über Bewertungen hinaus: Sie drücken eine Einstellung des Bewertenden zum Bewer-

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tungsgegenstand aus (target affect: Ablehnung, Hass, Zustimmung, Sympathie, Unterstützung), intendieren eine emotionale Reaktion beim Adressaten (observer affect: Ablehnung, Zustimmung, Ermutigung, Ärger, Furcht, Respekt), besitzen eine bestimmte Valenz (positiv, negativ, ablehnend, zustimmend, neutral) und weisen abgestufte emotionale Intensität auf (aggressiv, ablehnend, kritisch; euphorisch, wohlwollend) (ausführlich mit weiteren Literaturverweisen: Bucher/Barth 2019, S. 59–66). Diese vier Aspekte „target affect “, „observer affect “, emotionale „Valenz“ und „Intensität“ zusammen genommen bilden die emotionale Ladung eines Diskursbeitrags. Ihre jeweilige Ausprägung ist abhängig von der Basishandlung, mit der emotionalisiert wird.  

 

5.2  Beispiel: Interaktionssteuerung durch Emotionalisierung Eine typische Emotionalisierungs-Strategie in der Facebook-Kommunikation der AfD besteht darin, ein Ereignis, das bereits Gegenstand der Berichterstattung war, mit einer eigenen ideologischen Rahmung wiederzugeben. Auslöser des folgenden Beitrags ist ein Interview mit Bundeskanzlerin Merkel im rbb am 15.9.2016, in dem sie vorschlägt, syrischen Flüchtlingen ein Darlehen von 500 Euro zu gewähren, damit sie die Gebühr für die Umschreibung ihres syrischen Führerscheins aufbringen können, um so ihre Chancen am Arbeitsmarkt zu verbessern. Während Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen sachlich über diesen Vorschlag berichten, postet die AfD am selben Tag um 14:02 Uhr auf ihrem Facebook-Profil Folgendes: Facebook-Eintrag auf dem AfD-Profil vom 15.09.2016 (1) Die Kanzlerin hatte mal wieder eine Idee. (2) Jeder Flüchtling soll für 500 Euro die Fahrerlaubnis seines Heimatlandes in eine deutsche umschreiben lassen, „um schneller in Arbeit zu kommen“. Finanziert wird’s mit einem Darlehen. (3) Wenn nur jeder zweite Flüchtling das Angebot annimmt, kostet das schlappe 300 Millionen Euro. (4) Fragt sich, wer das letztendlich blechen wird? (5)  Lustig wird’s bestimmt für die Polizei, wenn ein DarlehensVerkehrsteilnehmer ohne Kenntnisse unserer Straßenverkehrsordnung in eine Kon­trolle kommt. (6)  Wie wär’s, Frau Merkel: Noch einen Schnellkurs Arabisch für Polizeibeamte anschieben ... SIE schaffen das! (7) Es wird höchste Zeit für Veränderungen! Zeit für #AfD.

Innerhalb eines Tages erhält der Beitrag 8.942 Likes und 2.686 Kommentare, nach zehn Tagen hat er 9.805 Likes, 5.744 Shares und 3.013 Kommentare, sodass man selbst für AfD-Verhältnisse von einer hohen Resonanz sprechen kann. In dem Beitrag selbst werden mehrere Emotionalisierungsverfahren eingesetzt, die die Verbreitung insofern fördern, als sie als Anschlussstellen für die Kommentare – und vermutlich auch als Gründe für Likes und Shares – fungieren.



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Bereits mit der eröffnenden Äußerung (1) wird der Vorschlag von Merkel abgewertet, indem er in eine Reihe ähnlich erwartbarer Vorschläge gestellt wird, aus­ gedrückt durch die Formulierung „mal wieder“. Mit (2) wird der Sachverhalt beschrieben, allerdings durch die Bezeichnung „jeder Flüchtling“ in unzutreffender Weise ausgeweitet. Durch das Zitat wird ein spezifischer Aspekt hervorgehoben – die Eingliederung von Migranten in den Arbeitsmarkt – von dem der Autor beim größten Teil der Leser voraussetzen kann, dass er eine emotionale Ablehnung auslöst, was durch die anschließenden Kommentare auch bestätigt wird. Äußerung (3) scheint auf den ersten Blick eine neutrale Kostenkalkulation zu sein, entpuppt sich aber als irreführende Übertreibung, die auf eine Entrüstung der Adressaten über eine finanzielle Begünstigung von Migranten zielt: Entsprechend der Kostenermittlung der AfD müssten 600.000 syrische Flüchtlinge eine Umschreibung ihres Führerscheins beantragen. Allerdings haben nur 157.000 syrische Flüchtlingen, auf die sich Merkels Vorschlag beschränkt, im relevanten Zeitraum einen Asylantrag gestellt – inklusive Kinder, Jugendliche, ältere Menschen und Frauen, für die eine Führerschein-Umschreibung gar nicht oder aus kulturellen Gründen eher seltener in Frage kommt. Die mit (4) gestellte rhetorische Frage impliziert eine Antwort – der deutsche Steuerzahler – und damit einen Vorwurf an die Regierung, die deutsche Bevölkerung ungebührlich zu belasten, was das Entrüstungspotenzial nochmals erhöht. Äußerung (5) weist auf eine Konsequenz von Merkels Vorschlag hin (mögliche Verständigungsprobleme bei Verkehrskontrollen), allerdings in sarkastischer Weise. Mit der ironischen Formulierung „lustig wird’s“ und der Kennzeichnung der neuen Verkehrsteilnehmer als „Darlehens-Verkehrsteilnehmer“ werden auch die Migranten selbst zum Gegenstand einer negativen „wertenden Stellungnahme“, worauf sich die meisten der anschließenden Kommentare beziehen. Damit wird die Voraussetzung dafür geschaffen, dass in der Anschlusskommunikation der Kommentare ein Sündenbock-Diskurs geführt werden kann, wie er für rechts­ populistische Gruppierungen typisch ist. Äußerung (6) spitzt den Sarkasmus gegenüber Merkel zu, indem eine absurde und unrealistische Maßnahme zu Vermeidung des genannten Verständigungsproblems vorgeschlagen und mit der Aufmunterung „SIE schaffen das!“ auf eine berühmte Äußerung Merkels zur Flüchtlingsproblematik angespielt wird. Äußerung  (7) formuliert dann die Konsequenz, die sich aus der vorausgegangenen Evaluierung des Vorschlags von Merkel als absurde Maßnahme ergibt: Wer eine solche Politik verhindern will, muss die AfD unterstützen und wählen. Der folgende Abschnitt wird zeigen, wie durch diesen Auftakttext Anschlussstellen für Emotionalisierungen etabliert werden.

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5.3  Emotionale Interaktionsdynamik in der Facebook-Kommunikation Wertet man die 130 Kommentare, die in den ersten zehn Minuten gepostet werden, hinsichtlich ihrer Ausrichtung auf den Merkel-Vorschlag aus, so ergibt sich folgendes Ergebnis: Tab. 2: Emotionales Klima im Anschluss-Diskurs (n = 130) Interaktionsmuster

Zustimmung  Ablehnung Erweiterung

Emotionale Intensität

hoch unmarkiert

Emotionale Valenz

negativ positiv neutral

Bezugnahme

Merkel Vorschlag Flüchtlinge Kommentar sonstige

104 4 22

80,0% 3,1% 16,9%

87 43

66,9% 33,1%

110 5 15

84,6% 3,8% 11,5%

25 35 38 13 19

19,2% 26,9% 29,2% 10,0% 14,6%

In 80 Prozent der Kommentare wird der Ablehnung des Merkel-Vorschlags zugestimmt. Zwei Drittel der Kommentare weisen eine hohe emotionale Intensität auf. Über 80 Prozent der Kommentare äußern sich negativ zum Merkel-Vorschlag oder zu den Flüchtlingen, so dass die Ablehnung des Vorschlags und die negative Emotionalisierung des Ausgangsbeitrags in der Anschlusskommunikation weitergeführt werden. Wie die Daten zur Bezugnahme zeigen, findet in den Anschlusskommentaren eine deutliche Themenverschiebung statt: Nicht der Vorschlag Merkels steht im Zentrum der ablehnenden Kritik, sondern die Flüchtlinge und Merkel selbst. Der Diskurs weist also keine sachbezogene ad-rem-Ausrichtung auf, sondern eine personalisierte ad-hominem-Ausrichtung. Die hohe Anzahl der Kommentare, die die Flüchtlinge zum Gegenstand haben, zeigt, dass die Sündenbock-Strategie der AfD aufgeht. Wie spezifisch der Verlauf des Diskurses auf dem Facebook-Profil der AfD ist, zeigt ein Vergleich mit den Kommentaren auf ZEIT-online zu einem Beitrag, der ebenfalls über den Merkel-Vorschlag berichtet: Von den ausgewerteten 131 Kommentaren beziehen sich mehr als zwei Drittel auf andere Kommentare, fast ein



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Drittel auf den Vorschlag von Merkel, und nur 12 Prozent auf Flüchtlinge. Auch wenn einige der Beiträge ebenfalls emotionalisierende und abwertende Ausdrücke einsetzen („Biodeutsche“, „Merkels Sommermärchen“, „Flüchtlinge durchfüttern“, „Alibiaktionismus der Kanzlerin“, „Berliner Alimenteempfänger“, „Madam Raute“) und die meisten der Kommentare den Vorschlag ablehnen, ist der Diskurs deutlich weniger migrations- und flüchtlingskritisch und deutlich weniger emotional aufgeladen, dafür aber stärker dialogisch strukturiert. In welcher Weise der Ausgangsbeitrag eine hochgradige Emotionalisierung des Diskurses einleitet, zeigt sich auch auf der Handlungsebene der einzelnen Diskursbeiträge (Tab. 2). Die emotionalisierenden Handlungen des Ausgangsbeitrags werden in den Kommentaren als Anschluss-Stellen genutzt, reproduziert und emotional intensiviert („seht es positiv, dann können sie die Frauen nicht nur vergewaltigen, sondern auch überfahren“).

6  YouTube-Kommentare: Epistemische Interaktionen 6.1  YouTube als Plattform der Wissenschaftskommunikation Analog zur politischen Kommunikation ist auch in der Wissenschaftskommunikation durch die Sozialen Medien ein eigenständiger Kommunikationsraum entstanden, in dem sich zum großen Teil unabhängig von der Wissenschaft und dem Wissenschaftsjournalismus eine neuartige partizipative Parallelöffentlichkeit etabliert (Brossard 2013; Neuberger/Jarren 2017). Die von der Reichweite her wichtigste Plattform der Wissenschaftskommunikation im Internet ist YouTube (Welbourne/ Grant 2016). Mit dem Suchbegriff „Science“ findet man weltweit über 10 Millionen Kanäle. Um sich über Wissenschaft und Forschung zu informieren, nutzen laut Wissenschaftsbarometer 2018 bereits dreiviertel der 14- bis 29-Jährigen YouTube oder ähnliche Video-Plattformen sehr häufig, häufig oder mindestens gelegentlich. YouTube-Wissenschaftsvideos erreichen international mehrere Millionen Aufrufe, die Spitzenwerte bei deutschen Wissenschaftsvideos liegen im einstelligen Millionen-Bereich, die Top-Kanäle erreichen regelmäßig sechsstellige Abrufzahlen, sind also in der Reichweite vergleichbar mit den Einschaltquoten von Quarks, der bekanntesten Wissenschaftssendung der ARD. Für eine Interaktionsanalyse sind Wissenschaftsvideos insofern relevant, als sich an das eröffnende Video Kommentarsequenzen mit zum Teil mehreren Tausend Beiträgen anschließen, in denen über die wissenschaftlichen Inhalte des

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entsprechenden Ausgangsvideos kommuniziert wird. Zur epistemischen Leistung von YouTube-Wissenschaftsvideos gehören demzufolge neben den Videos selbst auch die Anschlussäußerungen. Für eine Interaktionsanalyse ist es eine relevante Frage, ob zwischen den Ausgangsvideos und der Anschlusskommunikation systematische und regelhafte Zusammenhänge bestehen. Zur Klärung dieser Frage werden Befunde aus einem Forschungsprojekt herangezogen, in dem zur Vorbereitung einer Rezeptionsstudie von Wissenschaftsvideos eine Video-Typologie entwickelt wurde. Basis dafür war ein Korpus von rund 400 deutschsprachigen YouTube-Wissenschaftsvideos, das in einem systematischen Sampling nach Reichweite und Themen zusammengestellt und nach Kriterien wie Hauptfunktion, Teilfunktionen, Gestaltungsformen, Autorentypen, Typen vorkommender Akteure, oder eingesetzte Modalitäten ausgewertet wurde. Aus dem Korpus lassen sich vier Basistypen von Wissenschaftsvideos ableiten: –– Der Expertenfilm, in dem eine Forscherpersönlichkeit im Zentrum steht, die ein bestimmtes Forschungsgebiet verkörpert und erläutert, und der in der Regel eine narrative Struktur hat. Man könnte sie als wissenschaftliche Por­ trätfilme bezeichnen. –– Der narrative Erklärfilm basiert in der Regel auf einer Ausgangsfrage, die im Verlaufe des Beitrags beantwortet wird. Erklärfilme haben eine argumentative und narrative Struktur: Sie liefern die Argumente, warum etwas so ist/ sein soll und nicht anders oder warum etwas existiert. Und sie leisten das meistens entlang einer erzählten Geschichte. –– Der Animationsfilm, in dem schematische Bewegtbilder – oft computerbasiert – einen Prozess, ein Problem, einen Sachverhalt veranschaulichen. Animationsfilme können auch Live-Drawings, und Writings, oder WhiteboardVideos sein. –– Der Präsentationsfilm: Charakteristisch für diese Kommunikationsform ist es, dass ein Präsentator die wissenschaftlichen Inhalte in direkter Ansprache an die Rezipienten vermittelt – in der Form eines Online-Vortrags, einer Vor­ lesung oder eines Live-Experiments. Im Zentrum dieses Basistyps steht eine wiederkehrende Person als Sprecher oder Sprecherin, die als Anchor-Man oder Anchor-Woman für den entsprechenden Kanal fungiert. Die ersten beiden Typen, der Expertenfilm und der narrative Erklärfilm sind auch typische Fernsehformate, die beiden letzten typische YouTube-Formate. In dem Korpus sind die beiden YouTube-spezifischen Formate mit einem Anteil von zusammen 60 Prozent deutlich stärker vertreten als die klassischen Formate, die auch im Fernsehen vorkommen. Von der Reichweite her betrachtet – also von den Aufrufzahlen her – sind die beiden YouTube-spezifischen Formate deutlich populärer als die beiden Fernseh-spezifischen Formate. Die beiden reichweitenstärksten Formate werden



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hauptsächlich von wissenschaftlichen Laien produziert, die Videos mit weniger Reichweite und höherem Produktionsaufwand dagegen von wissenschaftlichen Experten.

6.2  Anschlusskommunikation: epistemische Aufarbeitung der Wissenschaftsvideos Die Anschlusskommunikation auf die vier Videotypen fällt sehr unterschiedlich aus: Während Präsentationsfilme im Durchschnitt 683 Kommentare auslösen, Ani­ mationsfilme 471, sind es im Falle der Erklärfilme 60 und im Falle der Expertenfilme gerade einmal 2 Kommentare. Die Tendenz, dass die von Laien produzierten Formate höhere Abrufzahlen haben, setzt sich auf der Ebene der Kommentare fort: Auch in der Anschlusskommunikation sind die von Laien produzierten Formate um ein Vielfaches präsenter als die von wissenschaftlichen Experten produzierten Videos. Man könnte nun vermuten, dass die Anzahl der Kommentare deshalb höher ist, weil die vermeintliche „Unprofessionalität“ der Laien-Videos mehr Widerspruch hervorruft. Um solche Fragen zu klären, wurden sechs Videos einer Detailanalyse unterzogen. Dass mehr als die Hälfte der Kommentare sich auf vorausgegangene Beiträge anderer Nutzer beziehen, verweist auf eine hohe interaktionale Dichte. Welche Funktionen diese Bezugnahmen haben, zeigt folgende Abbildung 1.

Abb. 1: Typen von Anschlusshandlungen an Wissenschaftsvideos

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Am häufigsten unter den rund 200 Kommentareinheiten ist die epistemische Würdigung vertreten – also Äußerungen, in denen die Validität und Angemessenheit des jeweiligen Videos behandelt wird (erste Säule). Es folgen die Kommentaranteile, in denen die Wissensvermittlung des Videos ergänzt oder erweitert wird (zweite Säule); und an dritter Stelle die Beiträge, in denen die Kommentatoren persönliche Auskünfte geben z.B. über ihre Lebensumstände, ihre Kompetenz und ihre Einstellungen (dritte Säule). Allerdings kann die Anschlusskommunikation, wie die Abbildung 2 zeigt, je nach Video ein sehr unterschiedliches Profil aufweisen. 21; 6% 89; 23%

69; 18%

48; 13% 78; 21%

39; 10% 5; 1%

31; 8%

Epistemische Würdigung allg.

Reflexive Kommentare allg.

Wissensvermittlung allg.

Evaluative Einschätzung allg.

Selbstauskunft allg.

Beziehungspflege allg.

Themenwunsch äußern

Sonstiges

Abb. 2: Anschlusskommunikationen für die beiden Videos „Schwarze Löcher“ und „Déjà-Vu“

Die Kommentare zu beiden Videos weisen einen hohen Anteil an epistemischen Würdigungen von jeweils 23% auf, obwohl die behandelten Themen aus ganz unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen stammen: Das Thema „Schwarze Löcher“ aus der Astronomie, das Thema „Déjà-Vu“ aus der Kognitionspsychologie. In den Kommentaren zum Präsentationsfilm von Dr. Watson über Schwarze



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Löcher bilden wissensvertiefende Beiträge und die Evaluierung des Videos einen weiteren Schwerpunkt. Man kann daraus auf eine durchaus inhaltsbezogene Kommunikation schließen. Im Falle der Kommentare zum Déjà-Vu-Video fällt der hohe Anteil an Selbstauskünften auf, was auf die Nähe dieses Themas zur Erfahrungswelt der YouTube-Nutzer verweist. Eine genauere funktionale Analyse zeigt allerdings, dass die epistemische Würdigung für die beiden Videos sehr unterschiedlich ausfällt (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Formen der epistemischen Würdigung für die beiden Videos „Schwarze Löcher“ und „Déjà-Vu“

Während das Déjà-Vu-Video in über dreiviertel der Kommentaräußerungen Zustimmung findet, sind das im Falle des Videos über Schwarze Löcher nur rund 30 Prozent. Etwa ein Drittel der Kommentaräußerungen widersprechen den Ausführungen von Dr. Watson oder anderen Kommentatoren, und über 20 Prozent insistieren auf ihren Aussagen. Solche adversativen Formen der Kommunikation sind in den Kommentaren zum Déjà-Vu-Video nur schwach ausgeprägt. Die bisherigen Auswertungen basieren zwar auf interaktionalen Kategorien, blenden aber die Interaktionsdynamik sowie die rhetorische Umsetzung der Anschlussäußerungen aus. Epistemische Würdigungen können sachorientiert und argumentativ sein, sie können aber auch als Trägerhandlungen für Emotionalisierungen in Form von Verunglimpfungen und Beschimpfungen fungieren.

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–– „Wer sowas nicht glaubt hat verkackt !!!“, –– „du solltest nicht jeden scheiss glauben was wissenschaftler labbern“ –– „hahahaahahahahahahagagaga agsgagagaggaaghagaga­hahhahahahahaha hahahahahhhahahaha“, –– „+Der Türke Bist du wirklich dumm oder tuhst du nur so ???“. Von diesen ad-hominem- oder ad-personam-Äußerungen lassen sich Anschlusskommentare unterscheiden, die eine ausgeprägte argumentative Funktion haben: –– „Es ist relativ schwer das zu widerlegen. Es gibt viele solcher Theorien und man kann nie wissen wer recht hat.“ –– „Das macht soweit auch durchaus Sinn und ist für mich sogar deutlich wahrscheinlicher als so manche "offizielle" Theorie :D“. Kommentare dieser Art intendieren eine Vertiefung der im Video präsentierten Erklärung von Schwarzen Löchern. Eine epistemische Würdigung von wissenschaftlichen Sachverhalten kann also in sehr verschiedenen Interaktionsmustern realisiert werden.

7  Schlussfolgerungen Die Analyse der Beispiele von drei Online-Plattformen zeigt, dass neben den Akteurs-Netzwerken, den Inhalts- und Themenstrukturen oder den sprachstatischen Strukturen die Interaktionsstrukturen in Sozialen Medien eine relevante Analyse-Dimension darstellen. Welcher Art die personalen Beziehungen in OnlineNetzwerken sind, welche Funktionen Themen und Inhalte spielen oder was sprachstatische Befunde bedeuten, wird erst dann erklärbar, wenn die Dynamik dieser Kommunikationsräume – eben die Interaktionsstrukturen – mitberücksichtigt werden. Die Beispielanalysen haben auch gezeigt, dass auf Twitter, Facebook und YouTube tatsächlich symbolbasierte Interaktionen stattfinden – emotionale und deliberative. Es wurde auch erkennbar, dass die Akteure Soziale Medien als „Interaktionsordnungen“ wahrnehmen und nicht nur als Echokammern, in die sie monologisch hineinrufen. Das belegen auch die reflexiven Kommentierungen im Interaktionsexperiment „Blasentausch“, mit denen die Beteiligten ihre jeweilige „Interaktionsordnung“ absichern und ggf. reparieren. Prinzipiell ermöglichen die Sozialen Medien zwei unterschiedliche Strategien der Beteiligung: Die erste, monologische Strategie nutzt den Selbstwahlmechanismus, um möglichst viele Beiträge zu einem bestimmten Thema in einem Kommunikationsraum abzuset-



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zen, in der Annahme, dass die gemeinsam geteilte Aufmerksamkeit zu einer hohen Resonanz der Beiträge und der damit verbreiteten Informationen und Meinungen führt. Die zweite, dialogische Strategie nutzt einen konstituierten Kommunikationsraum, um mit Hilfe der plattformspezifischen Handlungsoptionen wie der Kommentarfunktion, den Replies, der Zitierungen, der @-Adressierung oder der operativen Reaktionsroutinen dialogische Sequenzen zu konstituieren, um zu einer interaktionalen Meinungsbildung oder Wissensvermittlung beizutragen. Eine interaktionale Sichtweise auf Soziale Medien ist auch ein Kontrastprogramm zu einer Hypostasierung der Sprache auf Kosten der Kommunikation: Wenn von Sprachverrohung, sprachlicher Gewalt oder von Metaphern, die wie Gift wirken, die Rede ist, oder dass es Wörter sind, die einen Frame aktivieren, gerät leicht aus dem Blick, dass es die Kommunikation ist, also die interaktionale Verwendung sprachlicher – und auch bildlicher – Mittel, der berechtigterweise solche Effekte zuschreibbar sind.

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Zwischen Deliberation und Emotionalisierung 

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Matthias Kohring/Fabian Zimmermann (Mannheim)

„Fake News“: Aktuelle Desinformation Eine Begriffsexplikation Abstract: Seit dem Präsidentschaftswahlkampf in den USA sorgen „Fake News“ für eine lebhafte wissenschaftliche Debatte. Bisherige Definitionen sind allerdings weder einheitlich noch widerspruchsfrei und werden zudem nicht nachvollziehbar entwickelt, sondern meist einfach gesetzt. Unser Beitrag will dieses Theoriedefizit mittels einer Begriffsexplikation unter Rückgriff auf Literatur zu Desinformation, Lüge und (öffentliche) Kommunikation abstellen. Dabei ersetzen wir den Begriff „Fake News“ durch „aktuelle Desinformation“ und erörtern systematisch, welche Bedingungen notwendig sind, um von diesem Phänomen sprechen zu können. Wir definieren aktuelle Desinformation als Kommunikation wissentlich und empirisch falscher Informationen zu neuen und relevanten Sachverhalten mit dem Anspruch auf Wahrheit.

1  Einleitung Während des Präsidentschaftswahlkampfes in den USA 2016 lösten einige Nachrichten ungläubiges Staunen aus: Der Papst unterstütze die Kandidatur Donald Trumps. Hillary Clinton führe einen Kinderpornoring, getarnt als Pizzeria. Auch im Bundestagswahlkampf 2017 gab es brisante Meldungen: Angela Merkel habe mit einem islamistischen Attentäter auf einem Selfie posiert. Der Vater von Martin Schulz sei ein KZ-Aufseher gewesen. Solche falschen Informationen im Gewand echter Nachrichten, bald „Fake News“ genannt, sorgen seitdem für eine lebhafte wissenschaftliche Debatte. Im Mittelpunkt steht dabei ihre Distribution über digitale und vor allem Soziale Medien, die es jedem Akteur ermöglichen, Informationen zu aktuellen Themen und Ereignissen an potenziell unbegrenzte Publika zu verbreiten. Online lancierte „Fake-News“-Kampagnen untergraben, so die Befürchtung, die Möglichkeit eines legitimen Meinungs- und Willensbildungsprozesses auf Basis korrekter Informationen. Mittlerweile gibt es schon einige empirische Studien zur Verbreitung von „Fake News“ und zum potenziellen Einfluss auf politische Wahlen (z.B. Allcott/Gentzkow 2017; Barrera Rodriguez et al. 2018; Fletcher et al. 2018; Neudert/Kollanyi/ Howard 2017; Vargo/Guo/Amazeen 2018). Gleichzeitig muss man jedoch konstatieren, dass die theoretische Beschäftigung mit „Fake News“ hinter deren empirihttps://doi.org/10.1515/9783110679885-008

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scher Erforschung zurückbleibt. Dies zeigt sich schon daran, dass der Begriff selbst umstritten ist. Ursprünglich richtete sich der Fokus auf fingierte Informationsangebote im Internet, die sich explizit als Alternative zu den etablierten Nachrichtenmedien begreifen. Der Ausdruck wurde dann aber auch (analog zu „Lügenpresse“) insbesondere von Politikern strategisch eingesetzt, um gerade diese etablierten Medien zu diskreditieren. Egelhofer/Lecheler (2019) unterscheiden daher zwischen „Fake News“ als Genre und „Fake News“ als Label. Genre meint die vorsätzliche Herstellung pseudo-journalistischer Falschinformationen, Label die politische Instrumentalisierung, um die etablierten Nachrichtenmedien zu delegitimieren. Wir folgen dieser Differenzierung und sprechen uns zusätzlich dafür aus, die Bezeichnung „Fake News“ auf die strategische Etikettierung zu beschränken (vgl. auch Vosoughi/Roy/Aral 2018; Wardle/Derakhshan 2017). Für die Bezeichnung des Genres plädieren wir dagegen für den Begriff der aktuellen Desinformation, um das zur Debatte stehende Phänomen an die reichhaltige Literatur zu Desinformation anzubinden und als dessen Subkategorie auszuweisen. Unser Ziel ist es, im Sinne von Chaffee (1991) eine Explikation dieses Konzepts vorzulegen, um einen bislang eher intuitiv geprägten und zugleich ideologisch aufgeladenen Begriff wie „Fake News“ durch ein wissenschaftlich valides Konstrukt zu ersetzen.1 Ein Blick auf die sehr knappen Definitionen von „Fake News“ (ausführlich hierzu Zimmermann/Kohring 2018) führt zu zwei generellen Beobachtungen: 1) Zum Ersten sind die Definitionen im Vergleich untereinander weder einheitlich – d.h. sie bemühen unterschiedliche und unterschiedlich viele Kriterien –, noch sind sie widerspruchsfrei, d.h. sie benennen einander widersprechende Kriterien. Zwei Definitionskriterien sind in der Literatur weitgehend anerkannt: –– Die Produktion von falschen oder potenziell irreführenden Informationen geschieht intentional bzw. wissentlich. –– Diese Informationen werden als „echte“ Nachrichten formatiert. Bei den folgenden Punkten ist dagegen keine Übereinkunft darüber ersichtlich, ob es sich um notwendige Kriterien für die Bestimmung von „Fake News“ handelt: –– Sind „Fake News“ immer ein reines Internet- bzw. Online-Phänomen? –– Sind „Fake News“ empirisch immer falsch? –– Sind „Fake News“ immer mit einer Täuschungsabsicht verknüpft? –– Setzt die Bestimmung einer Nachricht als „Fake News“ immer die tatsächliche Täuschung der Rezipienten voraus?

1 Bei dem Text handelt es sich um eine stark gekürzte Überarbeitung eines Beitrags in Medien & Kommunikationswissenschaft (Zimmermann/Kohring 2018).



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2) Zum Zweiten werden die Definitionen nicht nachvollziehbar entwickelt, sondern – bis auf seltene Ausnahmen – nur gesetzt. Während der erste Aspekt mit zum wissenschaftlichen Streit um angemessene Definitionen gehört, erschwert der zweite Aspekt, dass dieser wissenschaftliche Streit überhaupt stattfinden kann: Weder lässt sich die Angemessenheit einer bestimmten gesetzten (oder „destillierten“) Definition beurteilen, noch ist es möglich, anhand einer Diskussion der herangezogenen Kriterien alle Definitionen vergleichend zu bewerten. Damit ist ein Theoriedefizit benannt, das nicht nur Konsequenzen für unser Verständnis des Phänomens „Fake News“ und dessen möglicher Verbindung (oder Gleichsetzung) mit anderen Phänomenen der öffentlichen Kommunikation hat (wie z.B. Desinformation, Gerüchten oder Lügen), sondern auch beeinflusst, was wir diesbezüglich empirisch überhaupt in den Blick nehmen (können).

2  Definitionskriterien aktueller Desinformation Viele Autoren verstehen „Fake News“ implizit, teilweise auch explizit als „species of disinformation“ (Gelfert 2018, S. 103; vgl. auch Marwick/Lewis 2017, S. 44; Wardle/Derakhshan 2017, S. 20). Auch wir bestimmen das Phänomen als Subkategorie von Desinformation. Schon aus Gründen der theoretischen Präzision sollte der Terminus „Fake News“ durch einen Ausdruck ersetzt werden, der diese Anbindung eindeutig signalisiert. Wir schlagen hierzu den Begriff aktuelle Desinformation vor, den wir im Folgenden anhand von sechs Kriterien systematisch erörtern werden (siehe Abb. 1). Neben den Eigenschaften der Desinformation orientieren wir uns auch an denen der Lüge und ziehen insbesondere die philosophische und informationswissenschaftliche Literatur zu diesen Themenkomplexen heran. Dabei zeigen wir aber auch auf, in welchen Punkten sich die beiden Konzepte voneinander unterscheiden. Gleichzeitig werden wir diese Forschungstradition kommunikationswissenschaftlich einbetten, um so die öffentlichkeitstheoretische Spezifik von aktueller Desinformation zu verdeutlichen. Wenn wir im Folgenden die Merkmale von aktueller Desinformation diskutieren, vollführen wir erkenntnistheoretisch einen gewissen Spagat: Zum einen gehen wir kommunikationstheoretisch davon aus, dass es der Verstehensakt des Rezipienten ist, und nicht eine Absicht des Kommunikators oder eine vermeintlich manifeste Eigenschaft eines Textes, der maßgeblich ist für die sozialen Auswirkungen von Kommunikation. Zum anderen haben wir es aber bei Desinformation (ähnlich der Lüge) mit einem Kommunikationsangebot zu tun, dessen soziale Konsequenzen gerade in seiner Nicht-Erkennung als Desinformation bzw. in seinem falschen Verstehen als wahrer Information begründet liegen. Unsere Begriffsexplikation ist

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also gewissermaßen konstruktivistisch und ontologisch zugleich. Wir beschreiben eine bestimmte Textsorte, nehmen dabei aber gleichzeitig auch Aspekte mit hinzu, die auf in der Kommunikation nicht wahrnehmbare Kommunikatormerkmale abheben (z.B. Unwahrhaftigkeit, siehe Kap. 2.5) als auch das Wissen eines externen Beobachters voraussetzen (z.B. Unwahrheit, siehe Kap. 2.4). Wir tun dies aus einem pragmatischen und einem methodischen Grund: Aus einer pragmatischen Sicht gehen wir davon aus, dass Desinformationen gerade dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie im Kommunikationsprozess nicht als solche verstanden werden. Aus methodischer Sicht ist es daher notwendig, sie für die empirische (Wirkungs-) Forschung objektiv identifizieren zu können.

Abb. 1: Definitionskriterien aktueller Desinformation

2.1  Kommunikation Desinformation richtet sich als soziale Handlung an mindestens einen anderen Akteur und stellt mithin, wie auch die Lüge, eine Form der Kommunikation dar (Liessmann 2010, S. 127; Thummes 2013, S. 104). Nimmt man diese Prämisse ernst, ergeben sich daraus folgende Einsichten: Zunächst sollte man festhalten, dass Desinformation und Lüge auf Mitteilungen beruhen. Nicht-kommunikative Formen der



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Irreführung wie die Geheimhaltung, also das bloße Zurückhalten bestimmter Informationen, sind daher nicht gemeint (Thummes 2013, S. 42).2 Die Mitteilung ist wiederum von der durch sie vermittelten Information, also ihrem Bedeutungsinhalt, zu unterscheiden. Im Kontext der Desinformation stehen wahrheitsfähige Mitteilungen mit repräsentationalem Gehalt im Vordergrund.3 Diese bilden einen Wirklichkeitsausschnitt in einer bestimmten Art und Weise ab. Beispielsweise repräsentiert die Mitteilung „Die Katze sitzt auf der Matte“, dass sich die Katze tatsächlich auf der Matte befindet. Die mitgeteilte Information, nicht die Mitteilung selbst, kann empirisch sowohl wahr als auch falsch sein (siehe Kap. 2.4). Insofern betrachten wir wie Fallis (2015, S. 404 f.) auch eine unwahre Desinformation als eine Information. Im Gegensatz zur Lüge, die sich auf verbale Irreführung beschränkt, schließt der Desinformationsbegriff auch visuelle Mitteilungsformen ein (Fallis 2014, S. 138). So besitzt auch das Bild einer auf der Matte sitzenden Katze denselben repräsentationalen Gehalt, beinhaltet also dieselbe Information wie die sprachliche Mitteilung. Damit kann aktuelle Desinformation auch in Form von (manipulierten) Fotografien und Videos oder sogenannten Memes Verbreitung finden, sofern diese einen bestimmten Wirklichkeitsausschnitt darstellen. Allerdings greifen Theorien zu kurz, die die Desinformation und die Lüge als bloßen Mitteilungs- oder Sprechakt konzipieren (vgl. Dietz 2002; Müller 2007). Diese Konzeptionen konzentrieren sich einzig auf die Mitteilungshandlung des Irreführenden und lassen den Verstehensakt aufseiten des Adressaten außer Acht. Eine Lüge bzw. Desinformation ist allerdings erst dann abgeschlossen und Bestandteil der sozialen Realität, wenn ein Adressat den repräsentationalen Gehalt dieser Mitteilung auch als solchen erkannt hat (Falkenberg 1982, S. 106). Er vollzieht also nach, dass es sich bei einer Aussage oder einem Bild um das Abbild eines bestimmten Wirklichkeitsausschnitts handeln soll. Das bedeutet allerdings nicht, dass Lüge und Desinformation, um als solche bezeichnet werden zu können, auch erfolgreich sein, also geglaubt werden müssen (Fallis 2015, S. 406; Mahon 2008, S. 211; Shiffrin 2014, S. 13). Der Status einer Mitteilung als Desinformation hängt also nicht zusätzlich von einem bestimmten Effekt beim Adressaten ab. Falsche Informationen bleiben aus Sicht eines externen Beobachters auch dann falsch, wenn Rezipienten die entsprechende Information nicht glauben.

2 Vgl. aber Ekman (1989) als entgegengesetzten Theorieentwurf, der die Geheimhaltung explizit als Form der Lüge definiert. 3 Der aus der Linguistik bekannte Begriff des „propositionalen Gehalts“ wird hier bewusst nicht verwendet, da er für Aussagesätze, d.h. sprachliche Mitteilungen, reserviert ist (vgl. Fallis 2009a, Kap. 4.4).

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2.2  Aktualität Die Spezifik der hier fokussierten Art der Desinformation liegt in ihrem Aktualitätsbezug. Der kommunikationswissenschaftliche Begriff der Aktualität ist hier nicht nur im zeitlichen Sinne zu verstehen. Vielmehr wird er hier als Produkt von Neuigkeitswert (zeitliche Komponente) von Informationen und deren öffentlicher Relevanz (soziale Komponente) verstanden (Merten 1973, S. 218; Scholl/ Weischenberg 1998, S. 78). Die spezifische Qualität von Journalismus besteht mit Blick auf Aktualität (insbesondere im Gegensatz zur Öffentlichkeitsarbeit) darin, aktuelle Fremd- statt Selbstdarstellungen anzubieten. Er beobachtet die Gesellschaft und die Interdependenzen ihrer Teilbereiche wie Politik, Wirtschaft oder Recht also (idealiter) von einer externen Warte aus (Kohring/Hug 1997, S. 27 f.). Auch aktuelle Desinformation orientiert sich an den genannten Aktualitätskriterien: Sie behandelt bevorzugt überraschende Themen mit (potenziell) großer Auswirkung auf die Gesellschaft. So ermöglicht sie ihrem Publikum die Ausbildung von (wenn auch empirisch unzutreffenden – siehe Kap. 2.4) Erwartungen und dadurch die Orientierung in einer komplexen Welt. Bei aktueller Desinformation handelt es sich somit um eine Form journalistischer Kommunikation und nicht bloß um deren Nachahmung. Ihr journalistischer Charakter ergibt sich dabei nicht aus Art und Ursprung ihrer Verbreitung. Aktuelle Desinformation kann sowohl im redak­tionellen Kontext als auch von einer Einzelperson erstellt werden. Auch das Format der Mitteilung ist nicht entscheidend – auch wenn klassische journalistische Darstellungsformen die Glaubwürdigkeit steigern werden, ist dies keine conditio sine qua non, wie manche Definition vermuten lässt. Ebenso ist die mediale Form der Verbreitung nicht für den Status aktueller Desinformation maßgeblich: Zwar wird aktuelle Desinformation vornehmlich über das Internet und hier besonders über Soziale Medien verbreitet, genauso wurde und wird sie aber auch offline verbreitet – nicht nur über Printmedien oder Rundfunk, sondern auch in der interpersonalen Kommunikation. Abzugrenzen ist diese besondere Form von Desinformation zum einen von nicht-aktueller Desinformation. Dazu gehören beispielsweise historische Lügen wie die Leugnung des Holocausts, die keine neue Erkenntnis präsentieren, sondern bekannte Aussagen wiederholen. Zum anderen geht es bei aktueller Desinformation nicht um private Kommunikation. Die mitgeteilte Information bezieht sich also nicht etwa auf den Kommunikator selbst. So gehört die bewusstseins­ bezogene Lüge, bei der über die eigenen Vor- oder Einstellungen getäuscht werden soll (Chisholm/Feehan 1977, S. 151 f.; Mahon 2008, S. 220; Thummes 2013, S. 34), gemäß unserer Definition nicht zum Gegenstandsbereich der aktuellen Desinformation. Diese bezieht sich als öffentliche Fremdbeobachtung stattdessen immer



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auf ein Ereignis bzw. einen Sachverhalt in der gesellschaftlichen Umwelt des Urhebers (X desinformiert Y über Z).

2.3  Wahrheitsanspruch Journalistische Medieninhalte werden erst dann zu sozial verbindlichen Wirklichkeitsbeschreibungen, wenn sie sich nicht nur an Neuigkeitswert und Relevanz, sondern auch an Faktizität ausrichten (Scholl/Weischenberg 1998, S. 78). Auch die aktuelle Desinformation beansprucht implizit oder explizit die Wahrheit bzw. Gültigkeit ihrer Informationen. Erst diese (vorgetäuschte) Orientierung an Faktizität begründet ihren Status als (desinformierende) Nachricht. Wie die Lüge setzt die Desinformation also eine Situation voraus, in welcher der Sprecher die Wahrheit seiner Aussage gewährleistet (Carson 2010, S. 30; Saul 2012, S. 3). Andere Autoren implizieren im Grunde dasselbe, indem sie die Lüge als Behauptung klassifizieren (Fallis 2009b, S. 33; Sorensen 2007, S. 256). Wesentlich für eine Behauptung bzw. Feststellung ist nämlich die Versicherung, dass der Aussageinhalt eine wirkliche Sachlage darstellt, also der Geltungsanspruch der Wahrheit (Habermas 1973, S. 212; Searle 1988, S. 100). Die Maxime „Sage nichts, wovon Du glaubst, dass es falsch ist“, ist hier als Kommunikationsnorm in Kraft (Fallis 2009b, S. 33). Bisherige Konzepte verorten den Wahrheitsanspruch allerdings ausschließlich aufseiten des Irreführenden: Ob die erwähnte Kommunikationsnorm in einer bestimmten Situation gilt, wird so nur durch die Intention bzw. den Glauben des Sprechers bestimmt (Mahon 2008, S. 227). Mit Blick auf den zuvor eingeführten Kommunikationsbegriff beziehen wir aber auch den Adressaten bei der Konstatierung eines Wahrheitsanspruchs mit ein. Der Kommunikator kann zwar durch bestimmte Signale sprachlicher wie nicht-sprachlicher Art ein bestimmtes Verständnis nahelegen, das Publikum aber definiert die soziale Situation und die darin geltenden Normen mindestens gleichberechtigt mit. Letztlich wird der Wahrheitsanspruch also kommunikativ ausgehandelt. Diese Erkenntnisse können auch auf die (aktuelle) Desinformation übertragen werden. Laut Fallis (2009a, Kap. 4.5) muss es (für einen externen Beobachter) plausibel sein, dass der Adressat einer mitgeteilten Desinformation einen falschen Schluss über den entsprechenden Sachverhalt aus ihr ziehen könnte. Notwendige Voraussetzung dafür ist ein Kontext, in dem ein Wahrheitsanspruch gilt. Dadurch lässt sich die aktuelle Desinformation von meinungsäußernden journalistischen Darstellungsformen wie dem Leitartikel oder dem Kommentar abgrenzen. Stark tendenziöse und ideologisch gefärbte Berichterstattung (wie z.B. von RT deutsch) gehört demnach nicht zwangsläufig zum Spektrum der Des-

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information, solange hier lediglich Meinungen geäußert werden (z.B. „Dreizehn Jahre Merkel sind mehr als genug.“). Meinungen gehören nämlich nicht zur Klasse der Behauptungen und sind insofern auch nicht wahrheitsfähig. Auch bei der Nachrichtensatire handelt es sich zwar um aktuelle Kommunikation mit repräsentationalem Gehalt, jedoch nicht um Desinformation. Die einschlägige Quelle (z.B. „Der Postillon“), bestimmte Stil- und Textmerkmale sowie Kontextinformationen kennzeichnen den (frei erfundenen) Inhalt als humoristische Kunstform und setzen den Wahrheitsanspruch als Kommunikationsnorm in der Rezeptionssituation außer Kraft.4

2.4  Unwahrheit Im Gegensatz zu „wahren“ Nachrichten löst aktuelle Desinformation den zuvor beschriebenen Wahrheitsanspruch nicht ein. Sie birgt per definitionem die Gefahr, falsche Vorstellungen zu einem bestimmten Sachverhalt aufseiten des Adressaten hervorzurufen (Fallis 2015, S. 406). Dieses irreführende Potenzial besitzen nur tatsächlich unzutreffende Behauptungen. Die (aktuelle) Desinformation ist also zwingend empirisch falsch (Hernon 1995, S. 134; Fallis 2009a, Kap.  4.2; Floridi 2011, S. 260).5 Hierin besteht ein Unterschied zur Lüge: Es ist auch möglich zu lügen, ohne dabei die Unwahrheit zu sagen (z.B. Bok 1980, S. 22–31; Falkenberg 1982, S. 54).6 Während die empirische Falschheit also keine notwendige Bedingung der Lüge darstellt (Müller 2007, S. 29), ist dies bei der Desinformation der Fall. Insofern sind die beiden Begriffe auch nicht gleichzusetzen, wie es etwa Fetzer (2004, S. 231) insinuiert. Das Wahrheitsurteil bezieht sich dabei wie gesagt nicht auf die Mitteilung selbst (Satz, Bild, Video etc.), sondern immer auf deren Bedeutungsinhalt (Fallis 2009a, Kap. 4.6; Floridi 2011, S. 260; vgl. auch Habermas 1973, S. 211 f.). Es ist somit auch möglich, mittels sogenannter falscher Implikaturen zu desinformieren (Fallis 2014, S. 138). In diesem Fall impliziert die Mitteilung (z.B. aufgrund des Kon-

4 Diese Abgrenzung wird aus Sicht eines externen Beobachters getroffen. Natürlich besteht dennoch die Möglichkeit, dass einzelne Rezipienten, z.B. aufgrund mangelnder Erfahrung, geringer Medienkompetenz o.Ä. auch satirischer Berichterstattung einen Wahrheitsanspruch zuschreiben. 5 Referenzpunkt ist hier natürlich nicht die „Wahrheit“ im ontologischen, sondern im Sinne einer sozial akzeptierten Konstruktion von Wirklichkeit, wie sie beispielsweise die Wissenschaft liefert. 6 Ein eindrucksvolles Beispiel für eine solche Art der „wahren Lüge“ findet sich in Sartres Kurzgeschichte „Die Mauer“. Hier verrät ein politischer Gefangener seinen Bewachern, obwohl er sie anlügt, versehentlich das tatsächliche Versteck seines Kameraden (vgl. Fallis 2009b, S. 39; Mahon 2008, S. 219).



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texts) eine Bedeutung, die nur angedeutet, jedoch nicht direkt gesagt bzw. gezeigt wird. Wenn Y beispielsweise auf die Frage: „Wo ist X?“ antwortet: „Er ist oft in der Bar um die Ecke“, impliziert er, dass sich X jetzt gerade in der besagten Bar befinde. Ist dies zu diesem Zeitpunkt nicht der Fall, ist die (implizite) Information empirisch falsch, auch wenn X sonst tatsächlich viel Zeit in der Bar verbringt (Adler 1997, S. 437 f.). Eine falsche Implikatur ist natürlich auch durch ein nicht richtig kontextualisiertes Bild denkbar. Da der Adressat durch solche „Halbwahrheiten“ auch, vielleicht sogar besonders geschickt in die Irre geführt werden kann, sollten auch sie der Desinformation zugerechnet werden. Ähnliches hat auch Fallis (2009a) im Sinn, wenn er betont: „While disinformation will typically be inaccurate, it does not have to be inaccurate. It just has to be misleading“ (ebd., Kap. 5). Die Irreführung besteht aber nur in der Art und Weise der Desinformation durch die Implikatur (Mitteilung ≠ Information). Die Information selbst, also der eigentliche Bedeutungs­ inhalt, bleibt auch in diesem Spezialfall der sogenannten „true disinformation“ (Fallis 2015, S. 409) unwahr. Die aktuelle Desinformation stellt eine Form der Falschmeldung dar. Diese ist für ihr Publikum potenziell irreführend, da die berichteten Informationen nicht einer überprüfbaren sozialen Realität entsprechen. Anhand des Wahrheitskriteriums unterscheidet sich aktuelle Desinformation vom Gerücht, das (noch) unentschieden gegenüber der Unterscheidung wahr/falsch ist. Das Gerücht zeichnet sich insbesondere durch das Fehlen eines verbrieften Wahrheitsgehalts und mithin durch seine Unverbürgtheit aus. Die Geltung der mitgeteilten Informationen liegt hier allein im Bereich des Vorstellbaren (vgl. Fleck 2014; Kirchmann 2004). Erst nach erfolgter Wahrheitsüberprüfung löst sich das Gerücht als solches auf, und sein Inhalt wird je nach Befund in den Geltungsbereich […] der Fehlinformation oder aber in den der nunmehr verifizierten Information […] überwiesen (Kirchmann 2004, S. 74).

2.5  Unwahrhaftigkeit Die notwendige Bedingung der Unwahrheit reicht allerdings nicht aus, um den Begriff der aktuellen Desinformation trennscharf zu erfassen. Die Unwahrhaftigkeit kommt als entscheidendes Definitionskriterium hinzu. So konstatiert Falkenberg (1982) bezüglich der Lüge: „Das Gegenteil der Lüge ist nicht die Wahrheit – wie die klassische Theorie annimmt, wenn sie die Falschheit zum Konstituens der Lüge erklärt […] –, sondern die Wahrhaftigkeit“ (ebd., S. 55). Eine Lüge setzt also eine unwahrhaftige bzw. unaufrichtige Aussage voraus; der Sprecher glaubt selbst nicht an deren Gültigkeit (z.B. Chisholm/Feehan 1977, S. 152; Fallis 2009b, S. 38; Mahon 2015, Kap. 1.2; Müller 2007, S. 29 f.; Thummes 2013, S. 32 f.). Die Behauptung

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des Kommunikators und sein subjektives Fürwahrhalten stehen in Konflikt miteinander (Dietz 2002, S. 111). Auch bei der Desinformation muss der Kommunikator davon überzeugt sein, dass die Information, die er mitteilt, nicht der Wahrheit entspricht (Fallis 2009a, Kap. 4.7; Floridi 2005, Kap. 3.2.3). Das Desinformieren ist eine bewusste, unaufrichtige Handlung.7 Diese Eigenschaft „distinguishes disinformation from more innocuous forms of misleading information, such as honest mistakes“ (Fallis 2015, S. 406). Die Unwahrhaftigkeit markiert also die Trennlinie zwischen unwissentlicher Fehlinformation („misinformation“) und vorsätzlicher Desinformation („disinformation“) (Hernon 1995, S. 134). Die aktuelle Desinformation unterscheidet sich damit grundlegend von redaktionellen Fehlern, die unbewusst z.B. aufgrund von Geldmangel oder Zeitdruck entstehen. Auch wenn beide Arten Falschmeldungen und damit als potenziell irreführend einzustufen sind, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Qualität der Falschinformation und deren moralischer Bewertung. Den Kommunikatoren (journalistischer) Irrtümer ist in der Regel daran gelegen, diese zu vermeiden bzw. nach einer Entdeckung umgehend zu korrigieren. Aktuelle Desinformation wird demgegenüber im Bewusstsein ihrer Falschheit in Umlauf gebracht. Die mögliche Irreführung der Rezipienten erfolgt somit nicht unbewusst, sondern wissentlich. Während man Produzenten fehlerhafter Nachrichten höchstens Fahrlässigkeit vorwerfen könnte (Stichwort: „poor journalism“), handeln die Urheber von aktueller Desinformation vorsätzlich. Dabei wird keineswegs vorausgesetzt, dass aktuelle Desinformation direkt von einem unwahrhaftigen Kommunikator bezogen wird. „In order for something to count as disinformation, it clearly does not have to be the immediate source of the information who believes that the information is misleading“ (Fallis 2009a, Kap. 5). Wissentlich in die Welt gesetzte Falschmeldungen können also auch von Intermediären (Journalisten, Freunden etc.) weiterverbreitet werden, die irrtümlicherweise von der Wahrheit dieser Informationen ausgehen. Obwohl diese Inter-

7 Spätestens hier wird deutlich, dass der Begriff der „Verschwörungstheorie“ quer zu dem hier präsentierten Schema liegt. Zum einen können Verschwörungstheorien sowohl wahre als auch unwahre Behauptungen umfassen oder gar so abstrakt sein, dass sie im Modus des Spekulativen verbleiben (Kuhn 2010, S. 107). Zum anderen werden Verschwörungstheorien häufig vom Urheber selbst aufrichtig geglaubt und sind daher nicht zwingend unwahrhaftig (Fallis 2015, S. 411). Konstitutiv ist lediglich ihre inhaltliche Grundüberzeugung, „(wichtige) Ereignisse als Folge […] geheimer Absprachen und Aktionen zu erklären“ (Hepfer 2015, S. 24). Verschwörungstheorien bzw. einzelne Elemente davon können zwar unter Umständen in den Bereich aktueller Desinformation fallen, die Begriffe sind allerdings keinesfalls gleichzusetzen.



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mediäre also lediglich unbewusst fehlinformieren, verlieren die Meldungen ihren Status als Desinformation damit trotzdem nicht.

2.6  Täuschungsabsicht Zuletzt soll erörtert werden, ob aktuelle Desinformation notwendigerweise darauf abzielt, falsche Vorstellungen aufseiten des Rezipienten hervorzurufen, also mit einer Täuschungsabsicht verknüpft sind; oder fallen unter den Begriff auch wissentliche Falschmeldungen, denen andere Motive zugrunde liegen? Einige Autoren, die sich mit dem Gegenstand der Lüge befassen, bestehen darauf, dass die Absicht zu täuschen eine unerlässliche Definitionsbedingung darstellt (z.B. Bok 1980, S. 31; Ekman 1989, S. 13; Mahon 2008, S. 227 f.; Müller 2007, S. 31). Andere stellen dies mit dem Verweis auf offensichtliche (alle Beteiligten wissen um die Falschheit der Information) und erzwungene Lügen (Kommunikator wird von Dritten zur Täuschung genötigt) infrage (z.B. Carson 2010, S. 20; Fallis 2009b, S. 41–43; Sorensen 2007). Auch im Kontext der Desinformation wird häufig auf eine Täuschungsabsicht seitens des Kommunikators verwiesen (Fetzer 2004, S. 231; Floridi 2011, S. 260; Hernon 1995, S. 134). Wir vertreten jedoch die Auffassung, dass diese Bedingung den Geltungsbereich der Desinformation zu stark einschränkt. Beispielsweise werden Falschinformationen zum Teil nur deshalb in Wikipedia-Artikel eingebaut, um zu testen, ob und wie schnell diese von den Verantwortlichen korrigiert werden. Die Irreführung des Lesers wird hier nicht beabsichtigt, sondern ist „nur“ eine mögliche Begleiterscheinung der gestreuten Falschinformation. Dennoch sind diese „side effect disinformation“ genau wie die vorsätzlich täuschende Desinformation intentionale Irreführungen, da die unwahren Informationen wissentlich zu einem bestimmten Zweck verbreitet werden (Fallis 2014, S. 138 f.). Eine mögliche Irreführung des Publikums geschieht damit nicht zufällig, sondern wird bewusst in Kauf genommen. Unsere Begriffsbestimmung umfasst also zum einen die propagandistische Desinformation, also intentional täuschende Falschmeldungen, deren Urheber dezidiert politische Ziele verfolgen (Jowett/O’Donnell 2012, S. 24). Diese hegen die Absicht, die Vorstellungen der Rezipienten mittels unwahrer Behauptungen zu manipulieren, um deren Meinungen, Einstellungen und Handeln in eine bestimmte Richtung zu lenken. Zum anderen gibt es aber auch wissentliche Falschmeldungen, die keine genuine Täuschungsabsicht verfolgen. Zum einen ist hier die Clickbait-Desinformation zu nennen, die sich falscher Informationen bedient, um Werbeeinnahmen im Internet zu generieren. Die reißerischen und teils absurden Überschriften solcher Artikel oder Videos sollen vor allem die Neugier der Rezipi-

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 Matthias Kohring/Fabian Zimmermann

enten wecken und deren Aufmerksamkeit binden. Ob diese Falschmeldungen letztlich geglaubt werden oder nicht, ist für die Produzenten allerdings unerheblich. Ihr Zweck liegt lediglich in der Generierung höherer Klickzahlen zur ökonomischen Gewinnmaximierung. Schließlich kann aktuelle Desinformation auch, wie schon am Beispiel der Wikipedia-Artikel illustriert, eine aufklärerische Funktion übernehmen: Nutzer und Journalisten sollen für das Risiko gezielter Falschmeldungen im Netz sensibilisiert und zu einer gründlicheren Prüfung von Informationen bewegt werden.8 Auf Basis der ausführlichen Diskussion aller notwendigen Bedingungen definieren wir „aktuelle Desinformation“ somit als Kommunikation wissentlich und empirisch falscher Informationen zu neuen und relevanten Sachverhalten mit dem Anspruch auf Wahrheit.

3  Fazit Im vorliegenden Beitrag haben wir den Begriff „Fake News“ nach eingehender Erörterung durch den der aktuellen Desinformation ersetzt. Der Vorteil dieser Begriffsbestimmung besteht darin, dass sie systematisch aus Theorien der Lüge und Desinformation sowie der (öffentlichen) Kommunikation deduziert wurde. Sie lässt sich, wie es eine umfassende Konzeptexplikation erfordert, auch als operationale Definition verwenden (Chaffee 1991), d.h. sie benennt mit Kommunikation, Aktualität, Wahrheitsanspruch, Unwahrheit und Unwahrhaftigkeit explizit die Merkmale, mit deren Hilfe das Konstrukt empirisch identifiziert und von verwandten Phänomenen abgegrenzt werden kann. Da es sich hierbei nicht um bloße Setzungen handelt, lässt sich die Definition zugleich wissenschaftlich kritisieren, sowohl was die gewählten Kriterien selbst angeht als auch unsere Entscheidung, bestimmte Ausprägungen dieser Kriterien für notwendige Bedingungen von aktueller Desinformation zu halten. Wenn wir unsere Begriffsbestimmung auf die Fragen beziehen, die sich aus der Heterogenität der bisherigen Definitionsversuche ergeben haben, so können wir nun folgende Schlüsse ziehen: 1. Der Nachrichtencharakter von aktueller Desinformation ergibt sich durch ihren spezifischen Sinn (Aktualität und Wahrheitsanspruch) und ist nicht an

8 Ein Beispiel ist der italienische Journalist Tommaso De Benedetti, der Falschmeldungen auf Twitter verbreitet, um Journalisten auf ihre Verantwortung aufmerksam zu machen und vor den Risiken ihres Berufs zu warnen.



„Fake News“: Aktuelle Desinformation 

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ein bestimmtes (Verbreitungs-)Medium gebunden.9 Zwar mag sie zurzeit vorrangig im Internet und insbesondere in sozialen Medien in Erscheinung treten; dabei handelt es sich allerdings bloß um eine empirisch kontingente Feststellung und nicht um ein grundlegendes Charakteristikum (und auch keinen Wirkungsnachweis). Auch in traditionellen Medien fanden und finden sich wissentliche Falschmeldungen; zudem wird aktuelle Desinformation auch in der interpersonalen Kommunikation verbreitet, möglicherweise sogar erzeugt. Aktuelle Desinformation ist in der Tat kein qualitativ neuartiges Phänomen des digitalen Zeitalters. Andere Formen öffentlicher Kommunikation dürfen daher nicht aus dem Auge verloren werden. Dennoch scheinen die digitalen Kommunikationsinfrastrukturen großangelegte Desinformationskampagnen zu begünstigen und verdienen deshalb besondere Aufmerksamkeit. 2. Die in aktueller Desinformation mitgeteilte Information ist empirisch immer falsch. Da sich das Wahrheitsurteil auf den repräsentationalen Gehalt der Mitteilung bezieht, der entweder zutreffend oder nicht zutreffend sein kann, ist Faktizität nach unserer Auffassung nicht wie bisweilen vorgeschlagen als Kontinuum zu betrachten. Eine Unterscheidung zwischen gänzlich falscher und lediglich irreführender Desinformation ist definitorisch mithin nicht sinnvoll. Natürlich kann empirisch zwischen verschiedenen Techniken der Irreführung unterschieden werden. So können auch „Halbwahrheiten“ unter den Begriff subsumiert werden. Sie bedienen sich des Unterschieds zwischen Mitteilung und Information auf besonders geschickte Art und Weise. Doch auch bei solchen falschen Implikaturen ist der eigentliche Bedeutungsinhalt der Mitteilung unwahr. 3. Aktuelle Desinformation ist nicht notwendig mit einer Täuschungsabsicht verknüpft. Wie unsere Ausführungen gezeigt haben, gibt es sowohl täuschende als auch nicht-täuschende Varianten. Das Kriterium ist zwar keine notwendige Bedingung, eignet sich aber durchaus, um unterschiedliche empirische Ausformungen zu systematisieren. Hier nicht bloß auf politische und wirtschaftliche Motive abzustellen, weitet den Blick auch zugunsten untypischer und möglicherweise unterschätzter Arten. 4. Die Bestimmung einer Mitteilung als aktuelle Desinformation setzt nicht unbedingt eine erfolgte Irreführung der Rezipienten voraus. Wir verstehen Desinformieren nicht als Erfolgsbegriff („success term“), sondern als Irreführungsversuch im Sinne des Vollzugs einer Kommunikation zwischen mindestens zwei Akteuren. Dabei geht es allein um das Erkennen einer aktu-

9 Um den Nachrichtencharakter dieser Desinformationsform besonders hervorzuheben, könnte auch der Ausdruck desinformierende Nachrichten („disnews“) verwendet werden.

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ellen Information als mit Wahrheitsanspruch versehen (und nicht z.B. als Nachrichtensatire) durch den Adressaten. Auf die Annahme oder Ablehnung der mitgeteilten Information als wahr kommt es – zumindest was die Definition angeht – jedoch nicht an. Dies macht vor allem für die empirische Operationalisierung Sinn: Würde das Glauben der Falschinformation zum notwendigen Definitionskriterium geraten, könnte eine als falsch durchschaute Nachricht empirisch auch nicht als aktuelle Desinformation gewertet werden.

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Christian Stegbauer (Frankfurt a.M.)

Soziologische Aspekte sozialer Netzwerke mit Blick auf Relationen in der digitalen Welt Abstract: Was macht eigentlich die Netzwerkforschung im Zusammenhang mit Beziehungen und deren Struktur in der digitalen Welt? Wie hängt Struktur und die Herausbildung von Kultur und Sprache zusammen? Obwohl Kultur noch mehr als Sprache umfasst, sind die Aushandlung von Kultur und die Anwendung von Kulturelementen kaum ohne Sprache vorstellbar. Sprache ist also integrativer Teil von Kultur – ohne Sprache keine Kultur. Die Herausbildung von Sprachkulturen ist wesentlicher Teil dieser Entwicklungen. Wenn wir nun auf den Zusammenhang von Netzwerken und Kultur schauen, so können wir feststellen, dass hier kaum eine Kausalität behauptet werden kann, sondern beides ist miteinander tief verwoben. Zunächst werden einige wichtige Aspekte der Netzwerkforschung exemplarisch angesprochen und mit eigener Forschung illustriert. Danach gehe ich auf einen Shitstorm ein, an dem ich einige Aspekte aus dem Anfangsteil noch einmal aufnehme.

1  Was bedeutet Kultur und wie entwickelt sie sich? Der Begriff „Kultur“ im hier gemeinten Sinn bedeutet nicht die Hochkultur, die Museen oder die Werke von Kunstschaffenden. Der Begriff verweist hier auf das alltägliche Zusammenleben. Wie versteht man bestimmte Symbole für sich und gemeinsam mit den anderen? Wie verhält man sich in einer bestimmten Situation? Welche Werte und welche Normen bilden den Hintergrund des Verhaltens? Bei dieser Kulturdefinition orientiere ich mich an der Soziologin Ann Swidler (1986). Natürlich werden die Komponenten der Kultur über Sprache vermittelt, aber auch die sprachlichen Konstrukte, die Art und Weise, wie man sich ausdrückt und was dies bedeutet, gehören zur Kultur. Das Verhalten, woran man sich orientiert etc., all das ist veränderlich und das muss auch immer wieder erneuert und an sich verändernde Gegebenheiten angepasst werden. Das bedeutet, dass überall, wo Menschen zusammen kommen, Kulturentwicklung stattfindet.

https://doi.org/10.1515/9783110679885-009

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Obgleich so gesehen, die Entwicklung der Kultur niemals zum Stillstand kommt, ist nicht alles gleichermaßen verhandelbar, denn im Verhalten greift man auf bereits etablierte kulturelle Muster zurück. Etabliert bedeutet, dass diese nicht (mehr) strittig sind (Swidler 1986), ja sie sind teilweise kaum wahrnehmbar. Das betrifft beispielsweise bestimmte Höflichkeitsregeln; es kann auch Sprachwendungen oder die Sprachkultur betreffen. So ist der Geschlechterbias der Sprache niemandem aufgefallen, bevor dieser nicht auf die politische Agenda einer Geschlechtergleichstellung kam. Erst die feministische Sprachkritik hat darauf aufmerksam gemacht, dass Sprache und Geschlecht miteinander verknüpft sind (Pusch 1991). Seitdem ist dieser Aspekt der Kultur gar so strittig, dass er laufend verhandelt wird und zu großen Unsicherheiten führt. Die Verwendung einer bestimmten sprachlichen Form ist also von der nicht reflektierten (nicht reflektierbaren) Verwendung in einen ideologischen Raum verschoben worden. Seitdem kommt es hier zu Kritik und zu ständigen Aushandlungen, die unsichere Anpassungsvorgänge beinhalten oder ideologisch begründet werden. Das bedeutet, dass etablierte Kultur an dieser Stelle geöffnet und wieder verhandelbar gemacht wurde. Sie ist strittig und die eine oder andere Position einzunehmen ist begründungsbedürftig. In einigen Bereichen der Sozialität, die sich mittels Netzwerkstrukturuntersuchungen abgrenzen lässt, ist sie das aber nicht mehr, hier wurde eine Praxis weitestgehend anerkannt. In der Folge können die Beteiligten an die Aushandlungsergebnisse anknüpfen, sodass die Aushandlung unter denselben Personen nicht immer wieder aufs Neue vorgenommen werden muss. Die Erfahrungen aus den Aushandlungen und deren Ergebnisse bleiben im Gedächtnis der Beteiligten. Man könnte sagen, sie gehen ein in das sogenannte „cultural toolkit“ (ein Begriff, der ebenfalls von Ann Swidler stammt). Der soziale Prozess führt also zu einer Übernahme von Werkzeugen auf der individuellen Ebene. Diese „Tools“ lassen sich in einer folgenden Situation in die dann notwendige Aushandlung einbringen. An dieser Stelle ist vielleicht ein Wort dazu notwendig, was ich hier unter „Aushandlung“ verstehe. Aushandlung bedeutet nur ganz selten, dass tatsächlich eine Verhandlung stattfindet, vielmehr beobachten sich die Beteiligten gegenseitig in ihrem Verhalten und orientieren sich aneinander. Sie rechnen dann damit, dass sie sich auch in Zukunft darauf verlassen können, dass sich die Anderen in einer ähnlichen Weise wie zuvor verhalten. Hierdurch entsteht ein Stück weit Sicherheit in einer ansonsten sehr variablen sozialen Umwelt (Stegbauer 2016, S. 8). Da sich die Situationen voneinander hinsichtlich ihres Kontextes unterscheiden, können nicht alle vorhandenen Tools gleichermaßen in eine Situation eingebracht werden. Die Möglichkeit des Einbringens und der Beeinflussung der Aushandlung ist also auch an das kulturelle Genre (oder in der Begrifflichkeit von



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Harrison White die Domain oder die Netdom, die Netzwerkdomaine (White 1995; Mische/White 1998)), gebunden. Wir haben es also mit einer ständigen Neuaushandlung oder Neukonstruktion von Kultur zu tun (Stegbauer 2016).

2  Kulturentwicklung und soziale Netzwerke Wenn, wie gesagt, Kulturentwicklung überall stattfindet, wo Menschen zusammenkommen, und dies immer in bestimmten Beziehungskonstellationen (Netzwerken) geschieht, dann kann man die Netzwerkforschung auch als Kulturforschung begreifen, sofern man die Strukturen mit Bedeutung versieht. Das gilt umso mehr, als kaum anzugeben ist, ob die Beziehungsstruktur (Netzwerk) die Kultur hervorbringt oder umgekehrt. Es besteht eine gegenseitige Abhängigkeit von Netzwerk und Kultur – sie sind interdependent miteinander verflochten (Mische 2011). An dieser Stelle wäre zu fragen, was Netzwerke überhaupt sind und was Netzwerkforschung klassischerweise untersucht. Sie benutzt als Grundlage Beziehungen zwischen Menschen. Solche Beziehungen werden für einen bestimmten Bereich des Netzwerkes zusammengenommen. Die Netzwerkforschung zielt dann auf die Analyse der Struktur der Beziehungen. So ähnlich hat es einer der Begründer der Netzwerkanalyse, Radcliffe-Brown (1940), ausgedrückt. Eine allgemeinere Definition besagt, dass ein soziales Netzwerk aus einem endlichen Set von Akteuren und der Beziehung/den Beziehungen zwischen ihnen besteht (Wassermann/ Faust 1994, S. 20). Dabei müssen die „Akteure“ nicht einmal Menschen sein, es können auch beispielsweise Staaten oder Organisationen sein. Auch hinsichtlich dessen, was das „endliche Set“ angeht, gibt es zahlreiche Varianten. Dennoch erscheint es mir sinnvoll diese formale Definition hier noch einmal zu erwähnen. Sie soll auch zeigen, dass es sich bei der Netzwerkforschung um einen allgemeinen Forschungsansatz handelt. Dieser ist keineswegs identisch mit den sozialen Netzwerkplattformen wie Facebook und Twitter, obwohl sich die Beziehungsstrukturen dort mit den Mitteln der Netzwerkforschung beschreiben lassen.

2.1  Was macht Netzwerkforschung? In der Netzwerkforschung finden sich zahlreiche, sich unterscheidende Forschungsansätze. Einer davon blickt auf die Zentralitäten im Netzwerk. Hierfür wurden verschiedene Konzepte entwickelt. Das einfachste und am häufigsten angewendete, ist das der Degree-Zentralität. Bei dieser Gradzentralität wird ein-

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fach die Zahl der Verbindungen der Knoten im Netzwerk addiert. Am zentralsten ist ein Knoten dann, wenn er über die meisten Verbindungen verfügt. Andere Konzepte betrachten das gesamte Netzwerk, so etwa die Closeness-Zentralität. Diese ist dann am größten, wenn alle anderen Knoten im Durchschnitt am wenigsten weit entfernt liegen. Ein weiteres Konzept ist die Betweenness-Zentralität: Hier sind die Konten am zentralsten, über die die meisten kürzesten Verbindungen im Netzwerk laufen. Solche Konzepte führen den Blick etwas in die Irre, weil häufig hohe Zentralität mit besonderen individuellen Eigenschaften oder Fähigkeiten verbunden werden. Man sollte aber nicht vergessen, dass auch zentrale Personen ihre Position nur aufgrund der Struktur des gesamten Netzwerkes einnehmen können. Insofern ist die Zentralität eines Einzelnen abhängig von allen anderen Personen eines Netzwerks. Aus diesem Grunde sind positionale Forschungskonzepte besser geeignet, die gesamte Struktur des Netzwerkes darzustellen. In unserer Forschung arbeiten wir meist mit dem schon etwas in die Tage gekommenen Concor-Algorithmus (White/ Boorman/Breigner 1976), der darauf abzielt, strukturell äquivalente Knoten in bestimmten Clustern (hier Blöcke genannt: „Blockmodellanalyse“) zusammen zu fassen. Sind die Knoten tatsächlich strukturell äquivalent, so sind die in einem Cluster zusammengefassten Knoten untereinander austauschbar. Das bedeutet, man muss nicht mehr auf individuelle Teilnehmende schauen, sondern man betrachtet die Beziehungen zwischen den Blöcken. Wir haben im Laufe der Jahre ziemlich viele unterschiedliche Formen der sozialen Begegnung im Internet untersucht. Allen voran die Struktur von Mailinglisten (Stegbauer/Rausch 1999; Stegbauer 2001), aber auch Chatgruppen (Stegbauer/Rausch 2006) und die Struktur von Wikipedia (Stegbauer 2009; Stegbauer/ Mehler 2011). Das Hauptergebnis dieser Untersuchungen ist, dass sich in den meisten Fällen eine Zentrum-Peripherie-Struktur herausbildet (Stegbauer/Mehler 2019). Eine solche Struktur bedeutet, dass ein starker Unterschied zwischen den unterschiedlichen Positionen vorhanden ist. Das Zentrum kommuniziert untereinander und das gilt auch für manche der peripheren Blöcke. Jedoch ist das Zentrum der einzige Block, der mit praktisch allen anderen, auch den peripheren Blöcken in Kontakt steht. Der Teil der Peripherie, der sich aktiv einbringt, beteiligt sich meist nur temporär. Das Zentrum hingegen ist über einen längeren Zeitraum aktiv und partizipiert fast an jeder Kommunikation. Das bedeutet aber auch, dass wenn Kultur immer dann weiterentwickelt wird, wenn Menschen zusammen kommen, und sei es im Internet und hierbei Ergebnisse von Aushandlungen einfließen, dann ist es diese Position, welche am stärksten an der Herausbildung einer eigenen Kultur beteiligt ist. Das Zentrum verfügt über den größten Erfahrungsschatz im Umgang mit anderen, es kennt die Themen und die Art und Weise, wie diese



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üblicherweise behandelt werden. Die Mitglieder des Zentrums kennen sich aus, sie besitzen das am weitesten zurückreichende Gedächtnis und sie verfügen aufgrund ihrer Erfahrung über die kulturellen Werkzeuge, um die anfallenden Probleme in diesem Netzwerkbereich zu lösen. Man könnte sagen, die Cultural Toolbox ist dort besonders reichhaltig gefüllt. Da die Aktiven im Zentrum schon so viel gesehen haben, treten sie sicher auf. Sie sind bedeutendere Träger der Kultur als alle anderen Beteiligten. Sie besitzen als einzige eine sich aus der Beteiligung ergebende Prominenz. Hieraus entsteht ein größerer Einfluss. So können die zentralen Personen Positionswechsel von anderen Teilnehmenden anregen und diese auch durchsetzen. Die ungleiche Beteiligung sorgt zudem für eine verzerrte Wahrnehmung dessen, was die vorherrschende Meinung in einem solchen Forum angeht. Diejenigen, die sich immer beteiligen, prägen das, was wahrnehmbar ist, viel stärker als die Peripherie. Dies führt dazu, dass sich zwar alle an der Aushandlung beteiligen können, die Einflusschancen jedoch ungleich verteilt sind. Das Zentrum dürfte dabei über deutlich mehr Gewicht verfügen. In der statischen Analyse wird die inhärente Dynamik verschleiert. Diese lässt sich aber untersuchen. Wenn man das tut, zeigt sich, dass die unterschiedlichen Blöcke, in denen mit dem Zentrum kommuniziert wird, nicht alle gleichzeitig aktiv sind. Vielmehr findet sich eine Abfolge von Themen, die bestimmte Teilnehmende ansprechen. Diese beteiligen sich an den nächsten Themen aber nicht mehr – nur das Zentrum mischt praktisch überall mit. Die Aufgabe des Zentrums wird hier umso deutlicher – dieses steht für die Stabilität und die Weitergabe von bewährten Verhaltensweisen. Die Betrachtungen bisher beschränkten sich jeweils auf einzelne Foren, nicht aber auf deren Zusammenhang. Ferner fehlt ein wichtiger Bereich, der, sofern man nur auf die aktive Beteiligung schaut, gar nicht auftaucht. Es handelt sich um die sogenannten „Lurker“. Diejenigen, die zwar nominell anwesend sind, aber keine Beiträge leisten. Von diesen wissen wir, dass sie irgendwann eingetreten sind, aber es ist unbekannt, ob sie die Inhalte überhaupt wahrnehmen. Zumindest tun dies einige, konnten wir doch in Langzeituntersuchungen ermitteln, wer eingetreten ist und wann diese Personen aktiv wurden (Stegbauer/Rausch 2001). Aktiv werden Teilnehmende, wenn überhaupt, kurz nach ihrem Eintritt. Wer sich nach drei Monaten noch nicht beteiligte, tut dies auch nicht mehr. „Lurking“ kann nach unseren Forschungen als eine Position angesehen werden. Das wird dadurch deutlich, dass der Positionswechsel häufig schwer fällt. Dies lässt sich daran ablesen, dass ein solcher Wechsel der Position häufig begründet werden muss. Diejenigen, die von Schweigen zur Aktivität wechseln, tun dies oft mit einer Aussage wie: „Ich habe nun schon lange mitgelesen und finde die Beiträge großartig, nun aber muss ich auch einmal etwas sagen“.

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Die Lurker gehören, obgleich unsichtbar, ebenfalls dazu und was diese Position so bedeutsam macht, ist, dass in jeder der von uns untersuchten Mailing­ listen zu diesem Thema (es waren acht) die Lurker in der Mehrheit sind. Von manchen Forschenden dieses Gebiets wurde die nichtaktive Teilnahme psychologisch in einer besonderen Schüchternheit begründet. Wir können aber nachweisen, dass sich die Lurker häufig in anderen Bereichen des Internet (damals im Usenet) durchaus aktiv beteiligen. Wir nehmen vielmehr an, dass die Themen, bei denen diese mitlesen, nicht die zentrale Aufmerksamkeit der Lurker genießen. Die zentrale Position dagegen ist hinsichtlich des Gegenstandes der Liste, in der sie hochengagiert auftritt, stark involviert. Die dort behandelten Themen genießen die genaue Beobachtung und Beteiligung durch die zentralen Teilnehmenden. Bei den Lurkern ist das anders – sie sind in viel weiter entfernten Bereichen des Internet aktiv. Das bedeutet, dass Übertragungen von Inhalten in inhaltlich weiter abgelegene Bereiche des Internet möglich werden. Man kann dies durchaus mit der Überbrückung von strukturellen Löchern vergleichen (Burt 1992). Burts Haupt­ argument ist, dass in „Inkreisen“, wie dem Zentrum, die Informationen (aber auch die Kultur) allen bekannt seien. Durch die Übertragung in Felder, in denen diese unbekannt seien, werde eine Verknüpfung, eine neue Kombination dieser Informationen möglich. Potenziell erhöhe sich durch diese Übertragung die Chance für Innovationen. So gesehen ist die Peripherie der Peripherie, sofern man das so ausdrücken kann, ebenfalls von Bedeutung. Unter Umständen, etwa bei der Verbreitung viraler Inhalte, könnte dieser Position sogar eine Schlüsselbedeutung zukommen, weil sie Informationen und Kultur in andere, für das Zentrum nicht erreichbare Bereiche übertragen kann. Bis jetzt wurde argumentiert, dass mit der Herausbildung von bestimmten Strukturen sich auch eine Kultur koevolutioniert, die aufgrund ihrer Eigenschaften, die Teilnehmenden in ungleiche Zusammenhänge stellt.1 Zum einen ist das Zentrum in besonderem Maße für die Kontinuität, die Entwicklung und die Aufrechterhaltung der „Mikrokultur“ in einem Netzwerkbereich zuständig. Zum anderen kommen Neuerungen potenziell aus der Peripherie, mit denen sich dann die Etablierten auseinandersetzen müssen. Die bisher betrachteten Beziehungen, die zu den hier diskutierten Netzwerken zusammengefasst wurden, entstammen meistenteils aus direkt ermittelten Beziehungen. Die Netzwerkforschung kann sich aber auch mit der Konstruktion von „indirekten“ Beziehungen behelfen. Dies geschieht mit Hilfe von sogenannten „bimodalen“ Netzwerken.

1 Natürlich könnte die Struktur in Teilen auch durch die Kultur (etwa durch kulturelle Barrieren) entstehen.



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Dieses ist besonders wichtig, wenn keine direkten Beziehungen erhoben werden können. Dann hat man vielleicht Listen von Personen, die zu bestimmten Events zusammen anwesend waren. In einer solchen Liste stehen in den Zeilen die Personen und in den Spalten die Events. Aus diesen Listen lassen sich die Beziehungen zwischen Personen rekonstruieren. So kann man fragen, wer mit wem zusammen während eines bestimmten Events anwesend war. Wenn die Events nicht zu groß sind, lässt sich daraus schließen, dass die Anwesenden miteinander in Kontakt gekommen sein müssen. Das wurde beispielsweise in der klassischen Untersuchung von Davis/Gardner/Gardner (2009) getan. Für diese Herangehensweise gibt es zahlreiche Reanalysen (z.B. Freeman 2003, mit einer Metaanalyse). Die Rekonstruktion von Beziehungen zwischen den beteiligten Personen wird meist als eine Art „Krücke“ oder Ersatz für die Ermittlung direkter Beziehungen angesehen. Wie der Name bereits sagt, bestehen bimodale Netzwerke aus zwei unterschiedlichen Modi. Der eine Modus betrifft die beteiligten Personen, der andere die Events. Somit können nicht nur Beziehungen zwischen den Personen, sondern auch die Beziehungen zwischen den Events rekonstruiert werden. Beziehungen zwischen Events werden von den teilnehmenden Personen hergestellt. Man kann dann darauf schauen, welche kulturellen Tools/welche Sprachkultur ausgehandelt wurden und wie deren Weitergabe zum nächsten Event erfolgt (Stegbauer 2016). Allerdings muss hier stärker darauf geachtet werden, dass die Events in einer zeitlichen Reihenfolge stehen, also nur vergangene Treffen neuere beeinflussen können und nicht umgekehrt. Wenn dieselben Personen oder zumindest zentrale Teilnehmende in einer Kette von Events (Collins 2005) beteiligt sind, haben bereits erreichte Aushandlungen eine ziemlich große Chance, wiederaufgegriffen zu werden. M.a.W. es kommt zu einer gewissen Stabilisierung des Ausgehandelten (der Mikrokultur) in diesem Bereich des Netzwerks. Fine (1979) zeigt dies anhand von Sprache (z.B. spezielle Nicknames) und Verhaltensweisen (kein Kaugummi auf dem Spielfeld) am Beispiel von Kinder-/Jugendbaseballmannschaften auf. Da die Spieler jeweils nur einen gewissen Zeitabschnitt ihrer Sportkarriere in einer bestimmten Liga verbringen, wissen sie meist nicht um den Ursprung der verwendeten Spezialsprache und der speziellen Verhaltensweisen. Die zur Kultur geronnenen Rituale werden dennoch von Situation zu Situation weitergegeben und überleben auf diese Weise Generationen. Dies ist ein Baustein für die Entwicklung von Kultur und insbesondere auch Sprachkultur. Im Folgenden nun komme ich zu einem Anwendungsbeispiel aus der eigenen Forschung.

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3  Entstehung und Wirkung eines Shitstorms Im Februar 2016 wurde eine Mitteilung auf der Facebook-Seite von Multikulti-Watch gepostet. Diese Seite enthält explizit fremdenfeindliche Inhalte.² Dort wurden auch die Inhalte von klassischen Medien immer wieder in Frage gestellt, ebenso wie die Regierungspolitik, welche die Schuld für die Grenzöffnung für Asylsuchende zu verantworten habe. In der Mitteilung findet sich folgender Text: Hilfsbedürftige Deutsche, Behinderte und Kinder müssen Eintritt zahlen, illegale Einwanderer & sog. „Flüchtlinge“ nicht. Diskriminierung gegen uns Deutsche im Freilichtmuseum Hessenpark. „Der Aufsichtsrat der Freilichtmuseum Hessenpark GmbH hat deshalb beschlossen, Flüchtlingsgruppen und ihren Betreuern bis auf weiteres freien Eintritt zu gewähren.“ Hier ist die FB-Seite, hinterlasst ruhig einen Kommentar.

Es folgt das „wink“-Emoticon und die Facebook-Adresse, der Internetzugang und die Webadresse mit dem Dokument zum Beschluss des freien Eintritts. Bei dem Text handelt es sich um einen Kommentar zu einem Foto. Auf diesem Bild ist die Liste der Eintrittspreise abgebildet. Es deutet ein Finger auf die Zeile: „Asylbewerber**, Flüchtlinge und deren Betreuer 0,00 €.“ Die Erklärung zu den beiden Sternchen besagt, dass eine vorherige Anmeldung erfolgen müsse, um in den Genuss der Ermäßigung zu kommen. Dieses Detail wird aber nirgendwo auf der asylfeindlichen Facebook-Seite erklärt. Der Normaleintritt beträgt 7€, Ermäßigungen werden für verschiedene andere Gruppen gewährt, etwa für Grundsicherungsempfänger (2,50€); allerdings muss für Hunde auch ein Obolus von einem Euro (inkl. Kotbeutel) entrichtet werden. Der Kommentar neben dem Bild kann als Aufruf zum Shitstorm interpretiert werden und so wirkte er auch. In der Folge wurde dieses Bild mit Kommentar von über 3.000 Personen geliked, mit über 4.000 Kommentaren versehen und ca. 19.000-mal geteilt.³ Richtig bekannt wurde der Shitstorm erst durch die Berichterstattung in zahlreichen Zeitungen und dem regionalen Fernsehen. Man kann nun fragen, was unter einem Shitstorm zu verstehen ist. Ich würde ihn im Blick auf das bereits Diskutierte als das Aufeinander-Einwirken von ansonsten separierten Netzwerken mit eigenen Öffentlichkeiten definieren. Es geht also

 Eine genauere Auseinandersetzung mit dem Phänomen und insbesondere auch mit diesem Beispiel findet sich im Buch des Autors zu diesem Thema: „Shitstorms – Der Zusammenprall digitaler Kulturen“ (Stegbauer 2018).  Die Tatsache selbst ist eigentlich kaum der Rede wert, da nur etwa 200 von 215.000 Besuchern freien Eintritt erhielten. Hätte man die Flüchtlinge wie normale Besucher behandelt, wären dem Freilichtpark bis zum Shitstorm 500€ mehr zugeflossen.

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um den Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen. Dabei handelt es sich um Mikrokulturen (Fine 1979; Stegbauer 2016). Zur Erinnerung: Kultur (Mikrokultur) wird in Situationen ausgehandelt (vorhandene passende Kulturelemente fließen ein): Interpretationen, Bedeutungen, Verhaltensweisen, Verhaltenserwartungen, Normen und Werte, die Sprache etc. (im Sinne von Swidler 1986). Die Weitergabe von Kultur erfolgt in einer Kette von Situationen und zwischen denselben Personen (im Sinne von Collins 2005). Das, was hier als Shitstorm bezeichnet wird, spielt sich eigentlich in verschiedenartigen Arenen ab, die voneinander getrennt betrachtet werden müssen.

Abb. 1: Typen von Arenen, in denen sich der Shitstorm entwickelt und dann auswirkt

Der zu untersuchende Shitstorm ging, wie schon gesagt, von der Facebookgruppe Multikulti-Watch aus. Dort fand die Aufladung der Emotionen über die scheinbare Ungerechtigkeit statt. Der Ärger darüber wurde vor allem auf der Facebook-Seite des Hessenparks durch einen Shitstorm offenbar. Die Entrüstung führte aber auch dazu, dass das Bild mit dem Kommentar vielfach geteilt wurde. Hier entfaltet sich wiederum eine ganz andere Wirkung als in den beiden anderen Arenatypen.

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3.1  Die Entrüstung auf der Multikulti-Watch-Facebook-Seite Oben wurde von der Analyse von Kommunikationsforen im Internet berichtet. Eine solche Untersuchung hätte ich auch hier angestrebt, um herauszufinden, inwieweit auch eine solche Gruppe von einer Zentrum-Peripherie-Struktur geprägt ist. Allerdings fanden sich kaum Zusammenhänge in der Diskussion. Wobei man von einer Diskussion eigentlich gar nicht reden kann. Praktisch alle Beiträge beinhalten Entrüstung über die „Ungerechtigkeit“, die im Kommentar zu dem Bild mit den Eintrittspreisen behauptet wurde. Das hat allerdings auch inhaltliche Gründe, denn alternative Positionen, die Anlass zu einer Auseinandersetzung geboten hätten, wurden von den Betreibern explizit ausgeschlossen. Damit aber hatte man die Möglichkeit der Diskussion auch so stark begrenzt, dass diese praktisch unmöglich wurde. Es handelt sich also nicht um ein Diskussionsforum; mehr könnte man sagen, dass es sich um ein kollektives Entrüstungsforum handelt, bei dem es gar nicht auf die Aushandlung einer Position ankommt. Es findet sich also kaum ein Beziehungszusammenhang, der analysierbar wäre. Welche Analysemöglichkeiten finden sich dann noch? Eine Herangehensweise wäre die Textanalyse, um von dieser auf die Mikrokultur zu schließen, die sich dort entwickelt hat. Wenn sich schon keine explizite Beziehungsstruktur herausbildet, dann kann man fragen, ob sich wenigstens eine implizite Struktur findet. Implizit wäre die Struktur dann, wenn man zwar nicht kontrovers diskutiert und sich nicht direkt auf einen vorangegangenen Beitrag bezieht, aber trotzdem auf die anderen Beiträge in einer bestimmten Art eingeht. Das lässt sich an einem Beispiel untersuchen: Das Motiv, dass für Hunde ein Eintrittsgeld von einem Euro entrichtet werden muss, Asylsuchende das Museum aber kostenlos besuchen dürfen, wird von vielen Kommentaren aufgegriffen. Die Untersuchungsidee war nun, dass eine Entrüstungsmitteilung häufig an die anderen, die im Stream sichtbar werden, anschließt. Als forschender Leser fällt einem auf, dass auf ein Kommentar zu einem Hund oft eine Variation des Hundemotivs folgt. Das könnte etwa so ausschauen, dass jemand kommentiert: „Eintritt für Hunde – Asylbewerber sind aber frei“. Der nächste geht zwar nicht direkt auf diesen Kommentar ein, variiert aber das Thema. Wenn das der Fall wäre, dann wären Motivklumpen ein Anzeichen dafür, dass sich die Teilnehmenden am Diskurs des Forums orientieren. Dies lässt sich als Hinweis auf situationale Aushandlungen interpretieren. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Kultur, die im Forum dann doch „ausgehandelt“ wird. Es kommt also zu einer impliziten Aushandlung der Netzwerkstruktur. Das Wort „Hund“ kommt insgesamt 552-mal vor. In 78 Fällen folgt „Hund“ in einem Kommentar auf einen anderen Kommentar mit diesem Wort innerhalb von zwei Minuten. Wenn wir die Kommentare in zahlreichen Simulationen (hier 300)



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zufällig aufeinander folgen lassen, so können wir feststellen, wie häufig dann der Begriff in Kommentaren in dieser Zeitspanne hintereinander verwendet wird. So lässt sich auch eine Häufigkeitsverteilung der simulierten Werte konstruieren. Im Durchschnitt folgt in der Simulation nur 64-mal Hund auf Hund. In der Simulation wird der empirisch ermittelte Wert von 78 nur in acht von 300 Fällen erreicht. Damit ist das Ergebnis signifikant. Man kann sagen, dass wir eine zumindest moderate Orientierung an den vorgängigen Kommentaren finden. Dieses Ergebnis ist ein Zeichen dafür, dass selbst in scheinbar nebeneinander stehenden Kommentaren eine gegenseitige Bezugnahme stattfindet, die dafür steht, dass auch hier Kulturentwicklung stattfindet. Entwickelt werden Formen der Anklage und der Schmähung von anderen. An dieser Stelle handelt es sich also um die Entwicklung einer Kultur der Ausgrenzung von Fremden. Die Diskussion ist sehr stark von Sozialneid geprägt. Dabei werden andere hilfsbedürftige Gruppen, etwa Behinderte oder Empfänger von Grundsicherung gegen Flüchtlinge ausgespielt. Ob die aufgestellten Behauptungen tatsächlich stimmen, darauf kommt es nicht an. Deutlich ist, dass in den Kommentaren ein kategorialer Unterschied zwischen „uns“ und „denen“ konstruiert wird. Die Flüchtlinge werden nicht als gleichwertig anerkannt. Auch finden sich Beschimpfungen mit eindeutigen Schuldzuweisungen an „die Bonzen“4, die „Gutmenschen“ und die Politiker, insbesondere die Bundeskanzlerin „Merkel“. Einige der Kommentare sind eindeutig volksverhetzend, etwa wenn Asylsuchende mit Ratten oder mit dem „Borstenvieh“ in den Ställen gleichgesetzt werden. Die Tatsache, dass für Hunde 1€ Eintritt (inkl. Kotbeutel) gezahlt werden muss, ist ein weiterer Aufhänger der Diskussion. Es findet sich eine deutlich rechtsradikale Gesinnung. Die vorgeschlagene Lösung ist meistens Boykott der Einrichtung, allerdings findet sich auch die Forderung, das Freiluftmuseum gleich niederzubrennen. Auffällig sind die vielen unterschiedlichen Schreibweisen des Begriffs „Boykott“. Dieses Wort ist nur ganz selten korrekt geschrieben. Nur vereinzelt finden sich leicht beschwichtigende Kommentare. Allerdings wird, wie schon gesagt, Kritik nicht geduldet. Mehrfach wird ein Kommentar dazu von den Forumsbetreibern gepostet: „Achtung, jeder, der hier Diskriminierung gegen uns Deutsche in irgendeiner Weise rechtfertigt, gutheißt oder sogar bejubelt wird hier ohne Vorwarnung blockiert. Rassismus gegen uns Deutsche hat nichts mit >Integration< zu tun!“. Es handelt sich dabei auch um den Beitrag mit den meisten Likes (insgesamt 95). Die Verteilung der Beiträge ist sehr homogen. Die allermeisten Kommentierenden kommen genau einmal vor. Auch das zeigt, dass keine Diskussion stattfindet.

4 Hier bediene ich mich teilweise der Sprache, wie sie im Forum verwendet wurde.

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Die Texte lassen sich mit einfachen Mitteln noch etwas näher beschreiben. So kann der Flesch-Reading-Ease-Wert (Flesch 1948)5 ermittelt werden. Dieser beträgt für die Texte dort 75, was auf sehr einfache und leicht verständliche Texte hindeutet. Die Zeichenzahl der Kommentare ist sehr kurz, sie beträgt im Durchschnitt nur 107 Zeichen. Die Texte weisen eine hohe Rate an Rechtschreibfehlern auf (4,5%), auf die Anzahl der Worte bezogen finden sich ein Prozent Grammatikfehler. Resümieren wir dieses Ergebnis, so lassen sich sehr viele ähnlich klingende oder sogar gleichlautende Kommentare mit zahlreichen Rechtschreib- und Grammatikfehlern feststellen. Die verwendete Sprache ist sehr einfach. Es finden sich auch zahlreiche Berichte über eigene Armutserfahrungen oder solche aus dem Bekanntenkreis. Eine naheliegende Interpretation wäre, dass es sich bei den Empörten im Durchschnitt um nicht besonders gut gebildete Menschen handelt. Allerdings mag es sein, dass sich vom Anschein nicht so ganz einfach auf die dahinter stehenden Personen schließen lässt. Der geringe Wert korrekter Schreibweise könnte auch, bzw. zusätzlich eine Folge der ausgehandelten Kultur (Sprachkultur) sein. In diesem kulturellen Raum erhebt sich keiner über falsch geschriebene Kommentare. Diese Erfahrung mag dazu führen, dass sich hier eine größere Fehlertoleranz oder sogar eine Antirechtschreibkultur herausgebildet hat.

3.2  Die Entladung des Shitstorms auf der Facebook-Seite des Hessenparks Der gesamte Shitstorm, der auf die Facebook-Seite des Hessenparks niederprasselte, ließ sich nicht vollständig erfassen, weil ein ganzer Tag gelöscht wurde. Am zweiten Tag, an dem meine Analyse beginnt, hatte sich durch die Berichterstattung in den Medien schon eine Reihe von Personen gefunden, die den Hessenpark verteidigten und versuchten mit den Kritikern in einen Diskurs zu kommen. Die Untersuchung dort bezieht sich vor allem auf eine längere Diskussions­ sequenz auf der Facebook-Seite des Hessenparks. Dort finden anders als auf der Multikulti-Watch-Seite tatsächlich Auseinandersetzungen statt. Dies lässt sich an der Verteilung der Beiträge ablesen. Hier haben viele Beteiligte mehr als einmal in die Diskussion eingegriffen. Damit entstehen wahrnehmbare Positionen, die sich auch netzwerkanalytisch untersuchen lassen.

5 Es wird eine Indexzahl ermittelt, die auf die deutsche Sprache angepasst ist. Siehe: http://tuwort.net/flesch-wert/index.php#flesch-wert (11.4.2019).



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Wenn diskutiert wird, ist es nötig, zu argumentieren. Das bedeutet, dass die Kommunikationssequenzen länger als beim reinen Schimpfen sein müssen. Der Flesch-Wert beträgt 58, was auf durchschnittlich verständliche Texte hinweist, die etwa einfachen Zeitungstexten entsprechen. Es wird mehr Wert auf korrekte Rechtschreibung gelegt, obwohl es immer noch 2,6% Rechtschreibfehler (auf die Wortanzahl bezogen) und weniger als die Hälfte Grammatikfehler (0,4%) gibt. Die Länge der Kommentare beträgt im Durchschnitt 254 Zeichen, also mehr als das Doppelte der Multikulti-Watch-Seite. Zurückgeschlossen auf die Teilnehmenden bedeutet das, dass die Diskutanten über eine höhere Bildung verfügen. Allerdings dürfte die Rechtschreibkultur (mit mehr Wert auf korrekte Schreibweise) bei den Teilnehmenden einen gewissen Druck erzeugen, sich anzupassen.

Abb. 2: Darstellung der Auseinandersetzung in einer längeren Diskussionssequenz

In der Abbildung wird gezeigt, dass die Mehrzahl der Diskussionen durch negative Beziehungen geprägt ist. Der Streit wird deutlich. Aufgezeigt werden kann aber auch, dass selbst gelöschte Teilnehmende noch sichtbar sind. Diejenigen, die in der Abbildung als Quadrat markiert sind, wurden gelöscht und mit ihnen ihre Beiträge. Was noch vorhanden ist und rekonstruiert werden kann, sind die Beiträge der noch anwesenden zu den gelöschten Teilnehmern. In der Darstellung zeigt sich,

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ähnlich wie oben diskutiert, die übliche Zentrum-Peripherie-Struktur. Im Zentrum sind einige wenige Teilnehmende, die sich gegenseitig beharken – die Masse setzt nur einen Kommentar ab. Was sich in diesem Bereich des Shitstorms ablesen lässt ist, dass die Verteidiger des Hessenparks in dieser Phase Oberhand gewonnen haben. Die Angreifenden werden nicht einfach wegen ihrer anderslautenden Meinung gesperrt. Allerdings kommt es schnell zu einer Eskalation der Auseinandersetzung. Die am Shitstorm Beteiligten haben es schwer mit einer differenzierten Argumentation mitzuhalten. Sie flüchten sich schnell in üble Beschimpfungen und manchmal auch in eine volksverhetzende Sprachweise. Das führt dann dazu, dass die entsprechenden Teilnehmer aus dem Forum ausgeschlossen werden. Bevor das aber passiert, erfolgt eine Abwertung dieser Teilnehmenden nicht nur wegen der Inhalte, sondern auch wegen der benutzten sprachlichen Formen. In der Kritik stehen die Begriffe, die gebraucht werden, aber auch der Sprachstil und die Rechtschreibung. Die Folge dieses Verhaltens ist, dass die Angreifenden mehr und mehr vertrieben werden und am Ende wieder eine Homogenität der Meinungen bei der ganz überwiegenden Mehrheit der Teilnehmenden besteht. Man bestätigt sich schließlich gegenseitig in der wahrnehmbaren Meinung. Aus der vorübergehenden Heterogenität während des Angriffs ist eine stärkere Einheitlichkeit als zuvor hervorgegangen.

3.3  Weiterleitungen auf Facebook-Teilnehmerseiten Wenn ein solches Bild mit Kommentar geteilt wird, dann bedeutet dies, dass es in einen anderen Kontext, einen persönlichen, übertragen wird. Dort wird es konfrontiert mit potenziell allen „Facebookfreunden“, sofern der Inhaber der Teilnehmerseite allen den Inhalt zugänglich macht und der Algorithmus von Facebook es den Kontakten auch tatsächlich anzeigt. Facebookfreunde sind bei vielen Menschen alle, die im Leben bedeutend waren, bzw. dies noch sind. Man kann die Sammlung der Kontakte als eine lebensgeschichtlich geprägte „Kreuzung sozialer Kreise“, ähnlich wie Simmel (1908) sich das vorstellte, ansehen. Wenn dem so ist, dann dürften dort ganz unterschiedliche Personen vertreten sein, alte Mitschüler/innen, ehemalige Kollegen/innen, Kommiliton/innen etc. Aufgrund der Auffächerung dieser Kreise in der Moderne, sollten diese Kreise über eine deutlich höhere Diversität als in früheren Zeiten verfügen. Obwohl das Gesetz der Homophilie (McPherson/SmithLovin/Cook 2001) gilt, wonach man sich am liebsten mit Personen umgibt, die einem ähnlich sind, sollte dennoch eine gewisse Diversität der Kontakte vorhanden sein.



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Wenn im hier behandelten Zusammenhang jemand etwas teilt, wird eine Nachricht aus einem homogenen xenophoben Umfeld in private,6 in meist diversere Kontexte übertragen. Das Bild wurde mindestens 19.000-mal geteilt. In die folgende Untersuchung einbezogen wurden davon 1437. Abgesehen von „likes“ waren nur 261 Weiterleitungen mit einem Kommentar versehen. In 80% der Fälle (210 von 261) ging der Kommentar in dieselbe Richtung wie der, welcher zum geteilten Bild gehört. In 20% (51 Fälle) kam es zu Widerspruch. Dieser erscheint mir besonders interessant, weil dies ein Zeichen dafür ist, dass die Kultur im Umfeld noch nicht ausgehandelt ist. Widerspruch deutet jedenfalls Aushandlungsbedarf an. Erfolgt das Teilen in einem Milieu mit homogenen gleichlaufenden Meinungen, so ist kaum Widerspruch zu erwarten. Eine mögliche Ursache ist, dass bereits eine ausgehandelte Kultur besteht, es kann aber auch sein, dass sich in diesem Umfeld niemand zu widersprechen traut. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn in solchen Fällen schützt das Schweigen die Beziehung. Eigentlich müsste man sagen, dass Schweigen die eigene soziale Integration nicht in Gefahr bringt, denn es geht nicht nur um die Beziehung zu demjenigen, der den Inhalt teilte; genauso sind alle anderen Freunde und Bekannte, die sich auf Facebook im selben Kontext bewegen potenziell davon betroffen. Erklärbar wird dies durch verschiedene soziologische Prozesse, die hier ablaufen. Zum einen geht es darum, was als die vorherrschende Meinung im sozialen Umfeld wahrgenommen wird. Das muss nicht der „wirklichen“ Meinung der beobachtenden Person entsprechen. Da die Anzahl der Beiträge auch in solchen privaten Kontexten sehr ungleich verteilt ist (Stegbauer/Mehler 2019), kann es zu einer Verzerrung der Wahrnehmung kommen. Das mag dann in einer ähnlichen Weise anpassend wirken, wie es Noelle-Neumann (1980) in der „Schweigespirale“ für eine eher diffuse öffentliche Meinung behauptet hatte. Dabei sollte dem persönlichen Umfeld eine weitaus stärkere Bedeutung zukommen, als der schwer fassbare Eindruck über eine wiederum durch Medien geprägte Haltung in der Gesellschaft. Noelle-Neumann behauptete, dass sich die Furcht vor sozialer Isolation sogar im Interview mit einem Fremden in den Umfrageergebnissen widerspiegele. Tatsächlich würde ich in der Interpretation noch weitergehen und behaupten, dass die „wirkliche“ Meinung sich in Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld erst herausbildet, bzw. in Aushandlungen situational moderiert wird (LaPiere 1934). Meinungsanpassung erfolgt so gesehen aufgrund der Wahrnehmung der

6 Die Weiterleitung erfolgte in manchen Fällen aber auch in eine andere ebenfalls fremdenfeindliche Umgebung, etwa die FB-Gruppen „Wir wollen keinen Islam in Deutschland und Österreich“, „Patrioten Rostock-Rügen-Stralsund“ oder „Dithmarschen steht auf Wir wehren uns“.

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Haltungen und Verhaltensweisen im persönlichen Umfeld und der jeweiligen Anforderungen einer Situation. Es handelt sich also darum, dass man zur selben Mikrokultur wie die Freunde und Bekannten gehört. Auch für diesen Anpassungsprozess lassen sich soziologische Erklärungen finden. Eine der Erklärungen bedient sich der Theorie der strukturellen Balancierung (Heider 1958; Newcomb 1961). Hier wird gesagt, dass in Dissonanz mit dem sozialen Umfeld zu geraten, tatsächlich eine Bedrohung der Beziehungen wäre – was ich auch gleich an einigen Beispielkommunikationssequenzen demonstrieren werde. Der Schutz der Beziehung kann aber auch erfolgen, ohne dass eine direkte Anpassung vorgenommen wird. Dann würde man eine kritische Haltung der Person gegenüber, die so etwas weiterleitet, verbergen, bzw. hinter dem Rücken dieser Person mit anderen diskutieren. White (1992) bezeichnet das Verbergen einer negativen Beziehung als „Ambibuity“: Man klammert strittige Meinungen aus, schweigt darüber oder übergeht die Meinungen der anderen. Hierdurch bleibt der Anschluss an die Beziehung offen. Sie kann immer wieder erfolgen, solange die negative Einstellung zu der Person nicht explizit wird. Die schon angesprochene Kulturentwicklung im persönlichen Umkreis kann als ein kollektiver Prozess angesehen werden. Jeder Beitrag (aber auch das Schweigen) geht in den Aushandlungsprozess ein. Schweigen trägt nämlich auch dazu bei, eine solche Mikrokultur zu prägen, denn kein Widerspruch kann auch als eine Art impliziter Zustimmung angesehen werden. Hier wird deutlich, dass die Aushandlung einer Kultur nicht etwas Individuelles ist und es auch nicht nur eine Sache zwischen Person A und Person B ist; es handelt sich vielmehr immer um einen kollektiven Prozess. Oft wird in sozialen Beziehungen „Homophilie“ (McPherson/Smith-Lovin/ Cook 2001) beobachtet. Damit ist gemeint, dass man sich mit ähnlichen Personen umgibt, also solchen, die hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Position und ihren Meinungen und Interessen starke Überschneidungen aufweisen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Struktur, die aus rein voluntaristischem Verhalten entspringt, vielmehr wird sie zunächst durch Strukturation (Giddens 1984) gestützt. Die Möglichkeit jemanden kennenzulernen, der so ähnlich tickt wie man selbst, erwächst eben in der Regel nicht dem Zufall, auch wenn der Einzelne dies so zu erleben scheint. Sie ist geordnet über die Struktur der Gesellschaft – wer sich wann wo über den Weg läuft, ist also nicht zufällig. Hat man sich dann aber erst einmal getroffen, so entwickelt man Präferenzen gemeinsam und auch die Unterschiede entspringen oft der Distinktion in solchen Beziehungen (Stegbauer/Rausch 2014). Was lässt sich nun beobachten, wenn unterschiedliche Meinungen im Internet am genannten Beispiel des Eintritts in ein Heimatmuseum aufeinanderprallen? Wir untersuchen also, ob sich die gerade genannten Erklärungen anwenden lassen. Hierzu werden drei Beispiele vorgestellt.

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Im ersten Beispiel finden wir die Anpassung an eine andere Person, die auf die Problematik hinweist: Nachdem Oliver⁷ das Multikulti-Watch-Foto geteilt hat, kommentiert Mario: „Solche Fakes werden leider immer schnell erstellt um die negativen Hirnschwingungen so mancher Proleten in Wallung zu versetzen. So was denke ich hast du nicht nötig Oliver.“ Olivers Reaktion ist einfaches Einlenken: „Hast recht, man sollte immer kritisch sein.“ Mario antwortet noch mit einem „Like“. Was wir hier finden, ist eine Sequenz, in der die Mikrokultur in einer Beziehung ausgehandelt wird. Der Freund sorgt für die öffentliche Anpassung. Das Resultat ist, dass in diesem Kontext die einheitliche Meinung wieder her- und zur Schau gestellt werden kann. Mit dem Einlenken ist die Beziehung gerettet. Das gelingt im nächsten Beispiel nicht, denn nachdem Klaus das Foto in seinen Freundesbereich übertragen hat, meldet sich Marion mit folgendem Kommentar: „Ich lösche dich jetzt aus meiner Freundesliste, das ist so plump und blöd.“ Ein solcher Angriff kann als Provokation gedeutet werden. Nach dem Gesetz der Reziprozität wird mit mindestens gleicher Schärfe geantwortet oder diese noch übertroffen. Das ist auch notwendig, um vor dem Publikum das Gesicht zu wahren. Klaus antwortet: „So wie Du dümmer geht nicht Molukken Matratze.“ Auch diese Sequenz ist Teil der mikrokulturellen Aushandlung. Während im ersten Beispiel Einlenken den Konsens im sozialen Umkreis wiederherstellte, ist es hier „Entfreunden“. Das ist eine Maßnahme, die wahrscheinlich eher zwischen entfernteren Bekannten erfolgt. Allerdings ist das Resultat ähnlich: in diesem Kontext findet sich kein weiterer Widerspruch. Die Einheitlichkeit wird über das Entfernen von Personen mit anderer Meinung aus dem eigenen Bereich (wieder)hergestellt. Beides sind Live-Beispiele dafür, wie Meinungsblasen entstehen. Es geht aber auch anders, wie im nun folgenden dritten Beispiel zu sehen. Nachdem Ute das Foto von Multikulti-Watch geteilt hatte, findet sie Beifall in Form von „Likes“ durch Minna und Ilona. Steffi kommentiert beipflichtend mit diesen Emojis: . Darauf antwortet Ute: „unfassbar…“. Dies wiederum bestärkt Steffi darin, einen weiteren Kommentar abzugeben: „Unglaublich jep wie so alles die sollen sich anpassen und arbeiten gehen was auch einige machen nur ja leider nicht alle die nutzen es nur aus.“ Ilona findet das auch „zum kotzen“. Soweit die nun einhellige Meinung und die gegenseitige Bestärkung darin. Jetzt meldet sich aber Jasmina mit „oh da bin ich ja neidisch…“. Ein Kommentar, der von Nina offensichtlich nicht verstanden wird, da er die Einheitlichkeit stört: „????“. Karl bleibt beim bereits erzielten Konsens: „Was für eine frechheit wir deutsche dürfen bald nichts mehr im eigenem land.“ Nun wird es

 Die Namen der Beteiligten wurden geändert.

https://doi.org/10.1515/xxxxxxxxxxxxxxxxx

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brenzlig, denn Nadja mischt sich ein: „So Fremdschämen… Was fehlt euch denn? Welchen Nachteil habt ihr denn dadurch, dass dort Flüchtlinge/Asylbewerber nichts zahlen müssen… Sorry, aber die Einstellungen kann ich echt nicht verstehen…“ Dieser Beitrag wird durch Semra mit einem „Like“ unterstützt. Nun äußert sich Steffi nochmals: „Dann mach weiter die Augen zu ihr versteht es sowieso nicht es geht immer mehr Berg ab hier . Und warum Denk mal nach.“ Es folgt ein „Like“ von Nina. Die Sequenz wird von Steffi mit einem weiteren Kommentar abgeschlossen: „Aber ich diskutiere nicht mehr Schluss.“ In dieser Sequenz kommt es zu einer eher seltenen Kontroverse. Es ist sichtbar, wie die beiden Meinungen gegeneinander stehen. Das sicherste, um die Beziehungen im Umfeld nicht zu gefährden ist das, was Steffi dann tut. Sie beendet die Diskussion und klammert das Thema aus. Zwar bleibt die Angelegenheit nun ungeklärt und auch der Dissens wird offenbar, durch das folgende Schweigen jedoch kann der Konflikt nicht die Beziehungen zerstören, wie im zweiten Beispiel – wahrscheinlich würde er quer durch den Freundeskreis gehen. Es gibt sicherlich noch andere Dinge, auf die sich die Beziehungen stützen, die wichtiger sind, als diese an einer solchen Frage auseinanderbrechen zu lassen.

4  Gesamtschau Beziehungsstrukturen und die Herausbildung von Mikrokulturen sind miteinander verbunden. Beides, die Entwicklung der Struktur im Zusammenhang mit der Kultur folgt bestimmten Regeln, die oft nicht direkt sozialen Ursachen entspringen: etwa der Beschränkung von kognitiven Verarbeitungsmöglichkeiten, der Sequenzialität und der endlichen Zeit. Hieraus und aus der Herausbildung von unterschiedlichen Positionen in Sozialräumen, auch wenn sie (teilweise) im Internet verortet werden können, ergeben sich Konsequenzen. Hierzu gehört die Unterschiedlichkeit, mit der sich ein Teil der Personen (diejenigen, die zentraler sind) in ihrem Umfeld einbringen. Diese verschiedenen Grade der Beteiligung führen zu zentralen oder weniger zentralen Positionen. Zwar sind periphere Teilnehmende ebenfalls von Bedeutung für einen Sozialraum. Das, was die Beteiligten aber als die in dieser Teilöffentlichkeit vorhandenen Meinungen wahrnehmen, wird vor allem von den stark Engagierten geprägt. Viele, die nicht ganz so aktiv sind, äußern sich lieber nicht gegen die zentralen, um nicht in Dissonanz mit ihrem Umfeld zu geraten. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der auch Anpassungen beinhaltet (Alignment) – wenn die anderen, zumal auf Facebook die Freunde und Bekannten nicht widersprechen, dann erscheint die von den Zentralen verbreitete Meinung vielleicht auch



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gar nicht so falsch. Auf diese Weise kommt es dazu, dass relativ wenige, die eine zentrale Position erreicht haben, den Ton angeben. Es besteht eine gewisse Unsicherheit darüber, wozu Widerspruch führt. Im Falle von Multikulti-Watch gab es eine explizite Ausschlussdrohung; bei der Verteidigung des Hessenparks wurde ebenfalls ausgeschlossen – aber aus anderen Gründen. In diesen beiden Fällen sollte der Ausschluss etwas weniger bedeutend sein, sofern nicht Freunde oder Bekannte dies beobachten. Im Gegenteil, von den politischen „Gegnern“ ausgeschlossen zu werden, kann im eigenen Kreis sogar als Auszeichnung betrachtet werden. Anders ist es, wenn der Ausschluss im Bekanntenkreis stattfindet – das kommt potenziell einer Ächtung gleich. Je näher die Diskussion an die eigenen Beziehungen rückt, umso wichtiger wird, was die anderen in der Umgebung denken. Anpassung hilft, die Beziehungen aufrecht zu erhalten. Falls es nicht gelingt, einen Konsens herzustellen, so lässt sich häufig das Problem ausklammern, um die Beziehungen zu retten. Das geschieht auch aus Unsicherheit vor den Haltungen jener, die sich nicht einmischen. Es ist nicht klar, wieviel Gegenwind jemand aushalten muss, wenn er oder sie sich gegen einen anderen stellt. Im Beitrag sollte dargestellt werden, welche Mechanismen wirken, um Ordnung in das soziale Geschehen zu bringen. Einen dieser Ordnungsfaktoren kann man unter dem Begriff der Kultur oder Mikrokultur fassen. Dieser ist es aber nicht alleine – die Struktur mit ihren Randbedingungen ist ebenfalls von Bedeutung. Da „Kultur“ im hier gemeinten Sinne immer ausgehandelt wird, ist neben Kultur und Struktur auch immer die Sprache betroffen. Die Sprachverwendung folgt der Beziehungsstruktur (und sicherlich auch umgekehrt). Aus Sicht des Soziologen ist die Sprache ein Indikator für die interessierenden Komponenten der Kultur und der Struktur – aus der Perspektive der Sprachforschenden mag sie zentral sein. Möchte man den Ursachen der Unterschiede auf die Spur kommen, so sollte eine Verschränkung der verschiedenen Perspektiven der Netzwerkforschung, Soziologie und Sprachwissenschaft von hohem Nutzen sein.

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Anatol Stefanowitsch (Berlin)

Der Shitstorm im Medium Twitter Eine Fallstudie Abstract: In internetgestützten Medien ist eine Reihe von medienspezifischen Kommunikationspraktiken entstanden – vom Flaming und Trolling aus der Frühzeit des Internet bis zum für die Sozialen Medien charakteristischen Shitstorm. In diesem Beitrag befasse ich mich anhand einer Fallstudie eines von mir als „personalisiert“ bezeichneten Shitstorms gegen die Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch mit der Frage, inwiefern diese Form des Shitstorms mit den medialen Eigenschaften sozialer Netze – speziell, des Netzwerks Twitter – zusammenhängt und welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen er benötigt.

1  Einleitung Das „Internet“, speziell die Sozialen Medien, werden in der öffentlichen Diskussion seit längerem für eine zunehmende sprachliche Entgrenzung verantwortlich gemacht. Der Eindruck einer Zunahme ist dabei schwer überprüfbar: Die Kommunikationsmedien, die alltagssprachlich als „das Internet“ bezeichnet werden, schaffen einen beispiellosen öffentlichen Kommunikationsraum, zu dem mehr Menschen Zugang haben, als zu irgendeiner Form der Öffentlichkeit zuvor. Für die Sichtbarkeit von Kommunikation vor und nach Erfindung des Internet gibt es deshalb keinen gemeinsamen Maßstab. Dass es internetspezifische Kommunikationspraktiken gibt, die durch sprachliche Entgrenzung gekennzeichnet sind, steht dagegen außer Frage. Schon in der Frühzeit des Internet haben sich in den ungenau als „Netzgemeinde“ bezeichneten Communities of Practice Begriffe wie Flaming und Trolling etabliert, neuere Beispiele sind z.B. Cybermobbing und Shitstorm. Sprachliche Entgrenzung war also immer ein salienter Aspekt netzgestützter Kommunikation. Für einige dieser Kommunikationspraktiken ist die Existenz des Internet notwendige Vorbedingung. Eine von diesen will ich im vorliegenden Beitrag daraufhin untersuchen, wie sie sich aus den Eigenschaften des Mediums ergibt, in dem sie sich abspielt: Den Shitstorm (vgl. Lobo 2013; Stegbauer 2018 und in diesem Band), bei dem es sich, grob gesagt, um eine in kurzer Zeit auftretende nicht oder nur lose koordinierte Vielzahl empörter Äußerungen gegen eine einzelne Person oder Organisation handelt. Ich beschränke mich dabei auf ein konkretes soziales https://doi.org/10.1515/9783110679885-010

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Netzwerk, Twitter, da das Internet selbst aus meiner Sicht kein Medium, sondern technisches Substrat für eine Reihe sehr unterschiedlicher Medien mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften ist. Eine medienlinguistische Analyse muss das berücksichtigen. In Abschnitt 2 werde ich deshalb zunächst skizzieren, welche Eigenschaften für das Medium Twitter charakteristisch sind. In Abschnitt 3 werde ich dann einen konkreten Twitter-Shitstorm analysieren, der sich im März 2015 gegen die Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch und die Zeitschrift EMMA richtete und auch von großen Medien kommentiert wurde (z.B. in der Zeit (Becker 2015), der tageszeitung (Krüger 2015), und der Welt (Lühmann 2015)).1 Dabei zeige ich zunächst, wie die Praxis Shitstorm mit den Eigenschaften des Mediums Twitter zusammenhängt. Danach gehe ich auf einige der in diese Praxis eingebetteten wiederkehrenden Inhalte ein, in denen sich die oben angesprochene sprachliche Entgrenzung manifestiert. In Abschnitt 4 werde ich abschließend die Frage anreißen, was die Sprachwissenschaft dazu beitragen könnte, dem gesellschaftlich häufig schädlichen Phänomen des Shitstorms etwas entgegenzusetzen.

2  Sprache und Medium 2.1  Internetlinguistik Eine sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Internet gibt es seit den frühen 1990er Jahren, zunächst unter dem Dach der Computer-Mediated Communication oder computervermittelten Kommunikation (z.B. Herring 1993; Runkehl/ Schlobinski/Siever 1998) und seit Mitte der 2000er Jahre zunehmend unter der von Crystal (2006) eingeführten Bezeichnung „Internetlinguistik“ (Internet Linguistics). Die in diesen fast dreißig Jahren entstandene Forschungslage kann ich im Folgenden nur anreißen (vollständigere Überblicksdarstellungen sind z.B. Crystal 2011 und Marx/Weidacher 2014, 2019). Die Kernfrage der Internetlinguistik lautet: Wie beeinflusst das Medium Internet die in diesem Medium manifestierte Sprache? Damit sich diese Frage auf konkretere Forschungsvorhaben beziehen lässt, müssen vorab zwei Fragenkomplexe geklärt sein:

1 Ich bedanke mich sehr herzlich bei Luise Pusch für die Erlaubnis, den Shitstorm hier noch einmal zum Gegenstand sprachwissenschaftlicher Analyse zu machen.



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1. Welche Aspekte von Sprache sollen untersucht werden? 2. Welches Medium meinen wir mit „Internet“ und welche Eigenschaften hat es? Die erste Frage wird meist systemlinguistisch beantwortet: Ein Großteil der Forschung befasst sich mit der Frage, wie mediale Aspekte des Internet das Sprachsystem und seinen Gebrauch formen (in weiten Teilen z.B. Runkehl/Schlobinski/ Siever 1998 oder Dürscheid/Frick 2016). Sie wird aber seit Beginn der Internetlinguistik auch auf die Pragmatik sprachlichen Handelns bezogen: Zwei der frühesten linguistischen Beschäftigungen mit dem Internet, Herring (1993) und Sutton (1994), befassen sich mit männlicher Dominanz in scheinbar egalitären Medien (E-Mail-Diskussionslisten bzw. USENET-Gruppen), und die herausragenden Arbeiten von Marx (2017, 2018) befassen sich mit den medialen Rahmenbedingungen und Auswirkungen des Cybermobbing. Die zweite Frage ist aus meiner Sicht die eigentlich entscheidende. Der diffuse Begriff „Internetlinguistik“ suggeriert, dass so unterschiedliche Kommunikationsformen wie z.B. E-Mail, Foren, Chats, verschiedene soziale Netzwerke Erscheinungsformen desselben zugrundeliegenden Mediums sind. Diese Annahme ist aber bei näherer Betrachtung nicht haltbar: Das Internet ist im Kern nur eine Ansammlung von Computern, die mittels einer relativ standardisierten Hard- und Software-Infrastruktur nahezu in Echtzeit Daten miteinander austauschen. So, wie Computer dadurch charakterisiert sind, dass sie (innerhalb der technischen Grenzen ihrer Hardware und ihres Betriebssystems) beliebige Programme ausführen können, ist das Internet dadurch charakterisiert, dass es (innerhalb der technischen Grenzen seiner Hard- und Software) beliebige Kommunikationsformen simulieren kann. Deren Eigenschaften (Grad und Richtung der Vernetzung und gegenseitigen Erreichbarkeit, Geschwindigkeit der Kommunikation, Form und Länge der ausgetauschten Nachrichten, usw.) sind durch das technische Substrat Internet an bestimmten Stellen begrenzt, aber sie werden durch dieses Substrat nicht bestimmt. Stattdessen beruhen sie zum größten Teil auf bewussten oder zufälligen Entscheidungen der SchöpferInnen2 der jeweiligen Kommunikationsform. Diese Entscheidungen, und nicht die Architektur des Internet, machen etwa die E-Mail und das soziale Netzwerk zu grundlegend unterschiedlichen Medien.

2 Ich verwende im Folgenden das durch Luise Pusch bekanntgewordene Binnen-I, um Personen jeglichen Geschlechts zu bezeichnen, Artikel und Adjektive dekliniere ich im Interesse eines subjektiv besseren Leseflusses durchgängig feminin. Mir ist bewusst, dass es Kritik an der vermeintlichen Binarität des Binnen-I gibt, folge hier aber dem Sprachgefühl von Luise Pusch, die das Binnen-I nie binär gemeint hat.

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Die Ausgangsfrage einer „internetlinguistischen“ Untersuchung muss also lauten: Wie beeinflusst ein spezifisches internetgestütztes Medium die in diesem Medium manifestierten sprachlichen Handlungen und Ausdrucksformen? Wenden wir uns deshalb den spezifischen Eigenschaften des sozialen Netzwerks Twitter zu.

2.2  Das Medium Twitter Während die traditionelleren internetgestützten Medien auf etablierten technischen Standards aufbauen und sich über die Zeit nur wenig verändern, werden soziale Netzwerke als Eigentum einzelner Firmen ständig weiterentwickelt. Ihre medialen Eigenschaften unterliegen so einem andauernden Wandel, der bei der Beschreibung bedacht werden muss. Ich charakterisiere das Netzwerk Twitter im Folgenden auf dem Stand von 2015 und konzentriere mich dabei auf grundlegende Eigenschaften, die sich für die einzelne NutzerIn je nach Zugriffsart (Programme und Smartphone-Apps verschiedener Anbieter oder Webbrowser) leicht unterschiedlich darstellen können. Für die Twitter-NutzerIn bildet die sogenannte Timeline den zentralen Aspekt der grafischen Oberfläche (und damit der User Experience). Diese Timeline war 2015 eine rückwärts sortierte chronologische Auflistung sogenannter Tweets, mit dem neuesten Tweet oben, wie im fiktiven Beispiel einer Nutzerin Alice in Abbildung 1a. In der Timeline werden die Tweets aller NutzerInnen angezeigt, die Alice abonniert hat (oder denen sie in der Terminologie von Twitter „folgt“, weshalb die AbonnentInnen einer NutzerIn als deren Follower bezeichnet werden). Ein Tweet besteht aus (1) einem kurzen Text (2015 hatte er maximal 140 Zeichen), der (2) die für das Internet typischen (Hyper-)Links enthalten kann, die auf eine Webseite weiterleiten, wenn man sie anklickt, sowie sogenannte (3) Hashtags – Zeichenketten, die mit der Raute (engl. hash) beginnen. Klickt man diese an, wechselt die Ansicht von der Timeline zur Tweet-Suche und zeigt alle Tweets, die das entsprechende Hashtag enthalten. Hashtags sind damit eine speziell für das Medium Twitter konstitutive Eigenschaft, die genutzt werden kann, um Tweets zu einem bestimmten Thema oder Ereignis gemeinsam auffindbar zu machen (wie es im obersten Tweet in Abb. 1a beabsichtigt ist). Wird ein Hashtag innerhalb kurzer Zeit von vielen NutzerInnen in ihren Tweets verwendet, taucht es in den sogenannten Trends auf – einer ständig aktualisierten Liste der am häufigsten verwendeten Hashtags, die in manchen Apps automatisch neben der Timeline angezeigt wird, in anderen nur, wenn die NutzerIn sie sich anzeigen lässt. Durch die Trends können NutzerInnen auf thematisch zusammenhängende Tweets aufmerksam werden, die nicht in ihrer Timeline erscheinen und nach denen sie nicht aktiv gesucht haben.

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Abb. 1: Das Netzwerk Twitter

Ein Tweet zeigt außerdem (4) den frei wählbaren User-Namen (sowie optional ein Profilbild) seiner VerfasserIn und (5) deren (Twitter-)Handle, der bei der Anmeldung je nach Verfügbarkeit frei gewählt werden kann und immer mit dem Zeichen @ beginnt. Während der User-Name und Profilbild nur zur Orientierung dienen, hat das Handle eine für das Medium Twitter konstitutive Funktion: Es identifiziert nicht nur die NutzerIn eindeutig, sondern dient auch dazu, diese zu

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kontaktieren (dazu gleich mehr). Außerdem enthält jeder Tweet (mindestens) drei Schaltflächen, über die andere NutzerInnen mit ihm interagieren können. Sie können (6) auf den Tweet antworten („Reply-Funktion“), ihn (7) retweeten, also unverändert an die eigenen FollowerInnen weiterleiten, und (8) liken, also der VerfasserIn zu erkennen geben, dass der Tweet ihnen gefällt (die Anzahl der Retweets und Likes wird neben der jeweiligen Schaltfläche angezeigt). Seit 2013 können Tweets auch (9) Bilder oder Videos enthalten. Antworten auf einen Tweet wurden 2015 chronologisch sortiert unter dem Ausgang angezeigt, eine Linie zeigte die Verknüpfung der Tweets (siehe Abb. 1b). Twitter fügte automatisch das (10) Handle der NutzerIn, auf deren Tweet man antwortete, am Anfang des Tweettextes ein. Der Antworttweet erschien so nur in den Timelines von NutzerInnen, die beiden Beteiligten (hier: @bobfriedmann und @Frl_Alice) folgten. Er war aber auch für alle sichtbar, die den Ausgangstweet anklickten. Eine besondere Art der Antwort ist der „manuelle Retweet“, der üblich war, bevor 2009 die oben beschriebene unveränderte Weiterleitung von Tweets möglich wurde, und die sich auch 2015 noch findet. Dabei antwortet man auf den Tweet, der retweetet werden soll, zitiert dessen kompletten Inhalt in Anführungszeichen, und setzt (11) „RT“ (Re-Tweet) vor das Handle des zitierten Nutzers. Sobald das Handle nicht mehr am Anfang des Tweets steht, wird dieser für alle FollowerInnen der VerfasserIn (hier: Alice) sichtbar, auch wenn sie der VerfasserIn des Ausgangstweets (hier: Bob) nicht folgen. Diese technische Eigenheit wurde auch genutzt, wenn man eine Antwort für alle eigenen FollowerInnen sichtbar machen wollte: man setzte einfach (12) einen Punkt vor das Handle. Antwortete man auf einen Tweet, der im Text ein oder mehr Handles enthielt, wurden auch diese automatisch in den Antworttweet übernommen – im Beispiel in Abbildung 1 antwortet @Lauscher_in auf einen Tweet von @Frl_Alice, der das Handle @bobfriedmann enthält, so dass auch dieses in ihrer Antwort auftaucht. Das Handle ermöglicht auf verschiedenen Wegen den Kontakt zwischen NutzerInnen auf Twitter. Erstens öffnet sich das Twitter-Profil einer NutzerIn, wenn man auf deren Handle klickt (Abb. 1c). Das Profil beinhaltet neben Profilbild, UserName und Handle optional (13) eine kurze Beschreibung und den Wohnort der NutzerIn, wobei diese frei wählbar sind. Außerdem befindet sich dort (14) eine Schaltfläche, mittels derer man dem Profil „folgen“ kann, und es findet sich die Information, wieviele NutzerInnen dem Profil folgen und wie vielen es umgekehrt folgt. Unter dem Profil erscheinen in umgekehrter chronologischer Reihenfolge alle Tweets, die die betreffende NutzerIn geschrieben oder retweetet hat. Zweitens erscheinen alle Tweets, die ein bestimmtes Handle enthalten, im sogenannten Mentions-Bereich der betreffenden NutzerIn (Abb. 1d), unabhängig davon, ob sie bei einer Antwort automatisch übernommen wurden (wie in Abb. 1b (11)), oder von Hand eingefügt wurden (wie in Abb. 1c (15)) (letztere nenne ich im



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Folgenden „direkte Mentions“). Auch hier sind sie rückwärts chronologisch sortiert. Der Mentions-Bereich ist typischerweise hinter einem Reiter versteckt, den die NutzerIn anklickt, um die Mentions (Tweets, die ihr Handle enthalten) zu sehen (Abb. 1c (15)), aber es gibt auch Apps, die die Mentions direkt in der Timeline erscheinen lassen. Ein Tweet kann für eine NutzerIn also auf vier verschiedene Weisen sichtbar werden: erstens, weil sie der VerfasserIn folgt oder zweitens, weil der Tweet von einem Profil retweetet wird, dem sie folgt (in beiden Fällen erscheint der Tweet in ihrer Timeline); drittens, weil er ihr Handle enthält (dann erscheint er im Mentions-Bereich); und viertens, weil er ein Hashtag enthält, das sie angeklickt hat (dann erscheint er im Such-Bereich). Aus der beschriebenen Funktionsweise des Mediums Twitter ergeben sich u.a. folgende Eigenschaften: 1. eine hohe, flüchtige Konnektivität – das Netzwerk beruht zwar zum Teil auf stabilen symmetrischen oder asymmetrischen Verbindungen durch ein- oder gegenseitiges Abonnieren von Profilen, aber darüber hinaus entstehen ständig flüchtige Verbindungen durch das Antworten auf Tweets und das Erwähnen von Handles; 2. inhärente Multilogizität – verbale Interaktionen auf Twitter sind öffentlich und beziehen potenziell immer das gesamte Netzwerk ein; wegen der hohen Konnektivität können NutzerInnen beliebige andere NutzerInnen auch gegen deren Willen zu Beteiligten an verbalen Interaktionen machen; 3. kommunikative Niederschwelligkeit – wegen der Kürze der Tweets und der Abwesenheit von technischen Vorbedingungen wie einer Freigabe sind Äußerungen oft ungeplant und ähneln eher inneren Monologen; sie sind außerdem häufig distanzlos – wegen der hohen flüchtigen Konnektivität wissen NutzerInnen oft wenig über die Personen, mit denen sie interagieren; 4. eine hohe Viralität – mit Retweets, Hashtags und Mentions gibt es drei verschiedene Wege, Informationen schnell über das eigene stabile Netzwerk hinaus zu verbreiten.

3  Anatomie eines Twitter-Shitstorms Unter dem Begriff Shitstorm verstehe ich eine schnell auftretende Häufung negativer Kommentare vieler verschiedener NutzerInnen in einem öffentlich einsehbaren Kommunikationsmedium (typischerweise einem sozialen Netzwerk), die gegen Institutionen oder (Gruppen von) Individuen gerichtet sind und die (tatsächlich oder vorgeblich) durch Empörung über deren Verhalten getragen sind.

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Die Kommentare müssen dabei nicht aggressiv, beleidigend oder herabwürdigend sein, sind es aber oft, vor allem dort, wo sich ein Shitstorm gegen einzelne Personen richtet – in diesem Fall spreche ich von einem „personalisierten Shitstorm“, der Ähnlichkeiten und Überschneidungen mit dem Cybermobbing aufweist (eine in zentralen Punkten unterschiedliche Definition findet sich bei Stegbauer 2018, obwohl die untersuchten Phänomene durchaus Ähnlichkeiten aufweisen). Cybermobbing lässt sich grob als „absichtliche, wiederholte, aggressive Handlungen [gegen eine Person] unter Zuhilfenahme von neuen Technologien“ definieren (siehe Marx 2017, S. 24 ff.). Ein Unterschied ist, dass die wiederholten Handlungen beim Mobbing sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und keine hohe Frequenz erreichen müssen, während der Shitstorm durch einen schnellen, starken Frequenzanstieg und -abfall gekennzeichnet ist. Außerdem besteht beim Cybermobbing normalerweise eine persönliche Verbindung zwischen TäterInnen und Opfer, beim Shitstorm typischerweise nicht. Einen personalisierten Shitstorm werde ich im Folgenden untersuchen. Er ereignete sich am 28. März 2015 und den folgenden Tagen und richtete sich gegen die Zeitschrift EMMA und die Feministin und Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch. Ich werde diesen Shitstorm zunächst grob umreißen und mich dann vor allem auf die Entstehungsphase konzentrieren, um zu zeigen, wie die oben beschriebenen medial bedingten Eigenschaften der Kommunikation im Sozialen Medium Twitter zusammenwirken. Abschließend gehe ich auf typische Inhalte ein, die innerhalb dieses Shitstorms dominierten.

3.1  Hintergrund Anlass des Shitstorms war eine Glosse von Luise Pusch, die am Mittag des 27.3.2015 in ihrem Blog Laut und Luise (Pusch 2015a) und am selben Abend in der OnlineAusgabe der EMMA (Pusch 2015b) erschien. Pusch befasst sich darin aus feministischer Perspektive mit dem Germanwings-Flug 9525, dessen wegen einer möglichen Psychose in Behandlung befindliche Pilot das Flugzeug am 24. März 2015 absichtlich abstürzen ließ. Dabei starben alle Crewmitglieder und alle 144 Reisenden, unter denen sich 14 Schülerinnen, zwei Schüler und zwei Lehrerinnen eines deutschen Gymnasiums befanden (siehe BEA 2016). Pusch argumentiert in ihrem Beitrag in sehr sachlichem Ton, dass Männer Selbsttötungen, vor allem in Verbindung mit der Tötung Dritter, sehr viel häufiger begehen als Frauen, und dass eine Frauenquote für PilotInnen der Flugsicherheit deshalb zuträglich wäre. Sie weist außerdem darauf hin, dass die Variable „Geschlecht“ in diesem Fall (wie auch in ähnlichen Fällen) selten wahrgenommen werde. In einem Nebensatz vermutet sie, dass der dafür verantwortliche „blinde



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Fleck“ möglicherweise derselbe sei, der in der Berichterstattung „aus den beiden getöteten Lehrerinnen […] ‚Lehrer‘ und aus den 14 getöteten Mädchen und zwei Jungen ‚16 Schüler‘“ gemacht habe. Die Version in der EMMA war zunächst zusätzlich mit einem Teaser versehen, der mit dem Satz „Amoktrips sind Männersache“ begann und mit dem Satz „Die Opfer sind überwiegend Frauen, die Täter sind männlich“ endete. Das ist inhaltlich richtig, (z.B. Adler 2000; zit. n. Scheithauer/Bondü 2011, S. 42), hatte aber mit Puschs Beitrag inhaltlich nur am Rande zu tun. Pusch selbst distanzierte sich sowohl während des Shitstorms als auch danach (Pusch 2015c) von dieser Formulierung und Fokussierung, die möglicherweise zur negativen Wahrnehmung des Textes beitrug. Puschs Twitterprofil existiert seit 2008 und hatte 2015 geschätzt 1200 Follower­ Innen3, war zu diesem Zeitpunkt also kein sehr reichweitenstarkes Profil. Auch die Aktivität des Profils war und ist gering. Pusch veröffentlicht ein bis zwei Tweets pro Woche, meistens um auf Texte zu feministischen und sprachwissenschaftlichen Themen hinzuweisen oder auf Mentions zu antworten. Sie folgt nur etwa 50 Profilen. Auch die Interaktionen sind typisch für ein kleines, eher privates Profil. In den 28 Tagen vor dem Shitstorm gab es pro Tag im Schnitt 0,14 Antworten auf Tweets von Pusch und 0,64 weitere Mentions (diese und alle folgenden Zahlen sind Untergrenzen: Sie wurden über das Suchfenster der Twitter-Suche ermittelt, die nur Tweets findet, die heute noch veröffentlicht sind, d.h., die weder gelöscht sind noch auf privaten Profilen stehen). Auch die Person Pusch und ihr Blog spielten trotz ihrer Präsenz in den klassischen Medien zum Zeitpunkt des Shitstorms keine große Rolle auf Twitter. In den 28 Tagen vor dem Shitstorm verlinken pro Tag im Schnitt 1,07 Tweets das Blog und 0,43 Tweets erwähnen den Namen „Luise Pusch“ ohne Nennung ihres Handles. Das seit 2011 bestehende Twitter-Profil der Zeitschrift EMMA hatte 2015 geschätzt 3800 FollowerInnen und damit deutlich mehr Reichweite als Puschs persönliches Profil. Inhaltlich war es ähnlich ausgerichtet: Es diente hauptsächlich zum Verlinken von Texten der EMMA-Redaktion und reagierte regelmäßig auf Mentions. Obwohl es das Profil eines bekannten Mediums mit starker Online- und Print-Präsenz ist, spielte es im Netzwerk Twitter zum Zeitpunkt des Shitstorms aber ebenfalls keine große Rolle. In den 28 Tagen vor dem Shitstorm gab es im Schnitt pro Tag 0,64 Antworten auf Tweets, 1,75 Mentions und 2,89 Verlinkungen auf die Webseite der EMMA.

3 Hier und im Folgenden schätze ich die Anzahl von FollowerInnen im Jahr 2015 indem ich von einem linearen Wachstum vom Erstellungsdatum bis heute ausgehe. Die Annahme eines linearen Wachstums ist sicher problematisch, aber es gibt keine bessere Methode zur Schätzung historischer FollowerInnenzahlen.

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Vergleicht man die genannten Zahlen mit denen der ersten drei Tage des Shitstorms, wird dessen relative Intensität deutlich. Puschs Profil erhielt vom 27.3. bis 29.3.2015 im Schnitt pro Tag 30 Antworten und 93 zusätzliche Mentions, sechs Verlinkungen ihres Blogs und 15 Tweets, die ihren Namen erwähnen. Ihr Blog erhielt für den betreffenden Beitrag insgesamt 156 Kommentare (im Vergleich: der vorangehende Beitrag erhielt 34 Kommentare), von denen die Mehrzahl in Tonfall und Inhalt den Kommentaren auf Twitter gleicht (Pusch hat die Kommentare zu Dokumentationszwecken stehen lassen und liefert in Pusch 2015c, d erste Analysen). Das Twitter-Profil der EMMA erhält in den ersten drei Tagen des Shitstorms im Schnitt pro Tag 30 Antworten und zusätzliche 150 Mentions, sowie 130 Verlinkungen auf EMMAs Version von Puschs Text.

3.2  Zeitlicher Ablauf Betrachten wir zunächst den zeitlichen Ablauf des Shitstorms. Am 27.3.2015, drei Tage nach dem Absturz, veröffentlicht Pusch ihren Beitrag zunächst in ihrem Blog und verweist am frühen Nachmittag im in (1a) zitierten Tweet darauf. Am Abend desselben Tages übernimmt die EMMA den Beitrag in ihre Online-Ausgabe und verlinkt ihn mit dem Tweet in (1b): (1)

a. Für mehr Sicherheit: Frauenquote fürs Cockpit! Meine neue Glosse ist online: [URL Pusch 2015a] (@luisepusch, 27.3.2015, 13:41) b. Eine #Frauenquote fürs #Cockpit fordert @luisepusch [URL Pusch 2015b] (@EMMA_Magazin, 27.3.2015, 19:19)

Bis zum Morgen des Folgetages erhalten die Tweets nur jeweils eine (neutrale) Antwort und kaum Retweets oder Likes. Der Tweet in (2a) erscheint kurz nach Puschs Tweet; durch die Anführungszeichen vor dem Handle ist er für alle FollowerInnen der VerfasserIn lesbar, erhält aber keine Reaktionen. Im Tweet in (2b) will der Österreichische Frauenring die eigenen FollowerInnen auf den Text hinweisen und Meinungen dazu einholen; da der Tweet als direkte Antwort auf den Tweet der EMMA erfolgt, können ihn aber nur die gemeinsamen FollowerInnen von @EMMA_Magazin und @Frauenring lesen und auch hier erfolgen keine weiteren Antworten: (2)

a. „@luisepusch: Für mehr Sicherheit: Frauenquote fürs Cockpit! Meine neue Glosse ist online: [URL]“ Wahr, aber keine Glosse! (@annette_ schulz, 27.3.2015, 13:57)

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b. @EMMA_Magazin @luisepusch interessanter Vorschlag – was meint ihr dazu? (@Frauenring, 27.3.2015, 20:04) Die weitgehend ausbleibende Reaktion bestätigt die oben umrissene eher randständige Rolle der Profile innerhalb des Netzwerks: Sie haben relativ wenige stabile Verbindungen, über die sich ihre Tweets verbreiten könnten, und so verbreiten sich auch die Texte selbst zunächst kaum. Bis zum nächsten Morgen wird die Version der EMMA in drei Tweets verlinkt, die Version in Puschs Blog nur in zweien (inkl. dem in (2a) zitierten). Nichts deutet auf einen Shitstorm oder auch nur eine kontroverse Diskussion hin. Auch am nächsten Vormittag bleibt dies zunächst so. Abbildung 2 zeigt für den 28.3.2015 in 5-Minuten-Intervallen sechs Bereiche, in denen sich der Shitstorm manifestiert: Verlinkungen auf den Beitrag in der EMMA, Antworten auf den in (1b) zitierten Tweet der EMMA, Puschs Mentions insgesamt, Puschs direkte Mentions, Antworten auf den in (1a) zitierten und einen weiteren am Abend des 28.3. veröffentlichten Tweet und Kommentare in Puschs Blog.

Abb. 2: Zeitlicher Ablauf verschiedener Manifestationen des Shitstorms gegen Luise Pusch und die EMMA im März 2015

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Bis etwa 11:00 Uhr geschieht nicht viel. Es gibt zwei vereinzelte Verlinkungen auf den Text der Emma und eine im Ton aggressive, aber vereinzelte Antwort auf Puschs Tweet: (2)

c. @luisepusch Vielleicht hätten sie sich lieber als Pilotin damals bewerben sollen, statt „Journalistin“ zu werden. Liegts daran? (@Balzer82, 28.3.2019, 7:02)

Ab 11:00 treten dann plötzlich Verlinkungen zum Beitrag auf, die überwiegend mit negativen Anmerkungen versehen sind. Hier zeigen sich die Eigenschaften der Replikation und Vernetzung: Eine NutzerIn entdeckt den Text und verlinkt ihn, andere sehen den Tweet und verlinken in eigenen Tweets ebenfalls. Die Plötzlichkeit und die für die EMMA deutlich überdurchschnittliche Häufigkeit der Verlinkungen lassen vermuten, dass die betreffenden NutzerInnen keine regelmäßigen LeserInnen der EMMA sind – es ließe sich schon hier eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Text vorhersagen. Ab 11:40 erfolgen dann die ersten Kommentare unter dem Tweet der EMMA, die durchgängig kritisch sind. Diese treten ebenfalls gehäuft auf und klingen dann wieder ab. Ich werde im nächsten Abschnitt eine Vermutung über die Ursache dafür darlegen. Die gezielte Ansprache der EMMA in diesen Kommentaren stellt den Übergang von einem potenziellen allgemeinen Shitstorm zu einem potenziell personalisierten Shitstorm dar: Auch Puschs Mentions steigen parallel zu dieser ersten Welle von Kommentaren an – zum Teil, weil ihr Handle im Tweet der EMMA vorkommt und deshalb automatisch in die Antworten auf diesen Tweet übernommen wird, zum Teil, weil direkte Antworten auf Puschs Tweet ab diesem Zeitpunkt ebenfalls langsam zunehmen. Bewusst gesetzte direkte Mentions von Puschs Handle treten mit einer weiteren Verzögerung gehäuft ab etwa 13:20 auf. Hier lösen sich Puschs Mentions in ihrer Häufigkeit von den Antworten auf den Tweet der EMMA – der Shitstorm personalisiert sich weiter, was sich auch an der steigenden Frequenz von Kommentaren in Puschs Blog zeigt. Der in Abbildung 2 dargestellte Ablauf zeigt in groben Zügen, wie Eigenschaften des Mediums Twitter bei der Entstehung des Shitstorms eine Rolle spielen. Zunächst wird der Text selbst verbreitet (Viralität). Das erfolgt zum einen durch den insgesamt für internetgestützte Medien typischen Link, der direkt auf den verlinkten Text leitet. Zum anderen spielt hier auch die stabile Vernetzung von Profilen innerhalb von Twitter eine Rolle – die Geschwindigkeit und Quantität der Verbreitung hängen dabei von der Reichweite der Accounts ab, die den Text verlinken. Betrachten wir die eben skizzierten Phasen und vor allem die Übergänge zwischen ihnen nun im Detail.



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3.3  Ein Shitstorm entsteht Wie bereits erwähnt, erhalten die Artikel zunächst keine große Aufmerksamkeit in Form von Verlinkungen innerhalb des Netzwerks. Die Version in Puschs Blog kann für den Shitstorm vernachlässigt werden, es wird insgesamt nur 17 Mal darauf verlinkt, was vergleichbar mit anderen Artikeln in ihrem Blog ist. Die Kommentare zum Link sind darüberhinaus überwiegend neutral bis tendenziell positiv (z.B. (1b) oben), nur sechs sind eher negativ (z.B. (3a, b)): (3)

a. Laut und Luise wäre lautlos diesmal besser! Frauenquote fürs Cockpit [URL Pusch 2015a] (@SabineMartiny, 28.3.2015, 14:23) b. Alberner wird es heute nicht. RT @luisepusch: Für mehr Sicherheit: Frauenquote fürs Cockpit! Meine Glosse ist online: [URL Pusch 2015a] (@zuagroasda, 28.3.2015, 12:52)

Alle Tweets wenden sich ausschließlich an die jeweils eigenen FollowerInnen und zielen nicht darauf ab, mit Puschs Profil selbst zu interagieren. Wo Puschs Handle genannt wird, liegt dies an der Praxis des manuellen Retweetens, wie in (3c). Auch solche Tweets erscheinen in Puschs Mentions und können dort eine mobbing-artige Wirkung entfalten. Der eigentliche Shitstorm beginnt aber mit der Verbreitung des Links auf die EMMA-Version. Auch die bleibt zunächst unbeachtet: Bis zum nächsten Morgen finden sich nur drei Verlinkungen – alle von kleinen Profilen. In nur einem Fall gibt es Reaktionen auf einen dieser Tweets (den in (4a)); es entstehen kurze Interaktionen (wie die in (4b, c)): (4)



a. Zur Minderung der Selbstmordgefahr wird in der #Emma eine Frauenquote im Cockpit gefordert. #germanwings [URL Pusch 2015b] (@udostiehl, 27.3.2015, 22:22) b. @udostiehl ich weiß nicht, ob ich das lustig oder traurig finden soll (@ChristineAsbach, 27.3.2015, 22:31) c. @ChristineAsbach Ich fürchte, Satire kann ausgeschlossen werden. Die Kommentatorin meint das allem Anschein nach ernst. (@udostiehl, 27.3.2015, 22:39)

Hier wird zwar kritisch über den Text gesprochen, und Pusch wird indirekt erwähnt, aber der Tweet in (4a) richtet sich an die eigenen FollowerInnen und – über das Hashtag #germanwings – an NutzerInnen, die allgemein an Tweets zum Absturz interessiert sind. Es besteht also keine Absicht, die EMMA oder Pusch in die Diskussion einzubinden oder sie der – noch recht milden – Kritik auszusetzen.

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Die frühen Verlinkungen führen nicht zu einer Weiterverbreitung des Textes. Erst ab 11:00 Uhr am nächsten Vormittag finden sich gehäuft Verlinkungen, die im Tonfall nun auch deutlich kritischer werden. Sie bezeichnen den Text etwa als „Boulevard“ (5a), „Satire“ oder „Schwachsinn“ (5b) und die AutorIn als „bescheuert“ (5c): (5)

a. Neues Genre: feministischer Boulevard. [URL Pusch 2015b] (@mischke_ thilo, 28.3.2015, 11:00) b. #Cockpitquote? Soviel Satire trau‘ ich der #Emma nicht zu. Soviel Schwachsinn schon. [URL Pusch 2015b] (@_dankhn, 28.3.2015, 11:13) c. Arbeiten bei Emma eigentlich nur Bescheuerte? Frauenquote hätte Absturz des Flugzeugs verhindert? [URL Pusch 2015b] (@kbojens, 28.3.2015, 11:36)

Auch hier wird die Autorin aber nur indirekt, ohne Nennung der Handles, erwähnt (in (5a) als #Emma, in (5c) als „Bescheuerte“, die „bei Emma arbeitet“) – an einer Interaktion besteht auch hier noch kein Interesse. Es lässt sich noch kein Einfluss spezifischer medialer Eigenschaften von Twitter auf die Entstehung des Shitstorms erkennen; relevant ist nur die internettypische Eigenschaft der Verlinkbarkeit. Die hohe potenzielle Viralität von Twitter wird zur Verbreitung der Texte erst in der nächsten Stunde in wahrnehmbarem Umfang genutzt – ab 12:00 nimmt die Häufigkeit der Verlinkungen stark zu, und diese zeigen nun auch eine höhere Interaktion in Form von Antworten, Likes und Retweets. Die Tweets in (6a–e) sind die ersten fünf Verlinkungen mit über 20 Retweets, sie stammen mehrheitlich von (gut vernetzten) JournalistInnen: a. Die Emma fordert eine Frauenquote im Cockpit, weil Amokläufe Männersache sind. Kannst du dir nicht ausdenken. [URL Pusch 2015b] (@theresarentsch, 28.3.2015, 11:57) 13 Antworten, 69 Retweets, 59 Likes b. Ernsthaft, #Emma? Die Katastrophe #4U9525 für #Feminismus ausschlachten? Ihr seid so ekelhaft… [URL Pusch 2015b] (@B_Vetter, 28.3.2015, 12:03) 1 Antwort, 20 Retweets, 23 Likes c. Nein, Emma, so nicht. Du menschenverachtendes Magazin voller Peinlichkeiten. [URL Pusch 2015b] [BILDSCHIRMFOTO] (@leitmedium, 28.3.2019, 12:08) 13 Antworten, 130 Retweets, 125 Likes (6)



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d. Die Emma zeigt dann mal, warum manche Themen nicht miteinander vermischen werden sollten: [URL Pusch 2015b] [BILDSCHIRMFOTO] (@SimonHurtz, 28.3.2015, 12:08) 10 Antworten, 65 Retweets, 61 Likes e. Instrumentalisiert die Emma hier wirklich Tote für die Quote?!? Verrückt. #4U9525 [URL Pusch 2015b] [BILDSCHIRMFOTO] (@RobertRossmann, 28.3.2015, 12:23) 7 Antworten, 41 Retweets, 19 Likes Sie sind auch im Tonfall noch einmal deutlich negativer als die vorangehenden und kommunizieren mit der Verlinkung des Textes deutliche Empörung („kannst du dir nicht ausdenken“, „ernsthaft?“, „menschenverachtend“). Die kommunikative Niederschwelligkeit von Twitter wird hier deutlich. Drei Kommentare (6b, d, e) thematisieren dabei die als unzulässig wahrgenommene Verbindung des Flugzeugabsturzes mit der Forderung nach einer Frauenquote, liefern also einen (scheinbar) rationalen Anlass für ihre Kritik. Alle Tweets erwähnen die EMMA stellvertretend für die nicht genannte AutorIn, zwei von ihnen (6b, c) verwenden den Namen der Zeitschrift sogar als Vokativ und machen die Autorin damit konzeptuell bereits zu einer Beteiligten an einem Multilog. Sie verwenden dabei aber nicht die Handles @EMMA_Magazin oder @luisepusch, nutzen also nicht die medialen Eigenschaften von Twitter, um sie auch tatsächlich zu Beteiligten zu machen. Sehr wahrscheinlich sind Tweets dieser Art aber entscheidend an der Personalisierung des Shitstorms beteiligt, indem sie hier zunächst die EMMA als legitimes Ziel teilweise massiver Angriffe darstellen (hier ist vor allem die mit 130 Re­tweets reichweitenstärkste Verlinkung in (6c) mit dem herablassenden Tonfall („so nicht“) und dem massiven Vorwurf („menschenverachtend“) auffällig) – man beachte, dass im direkt angrenzenden Zeitfenster die direkten Antworten auf den Tweet der EMMA eine erste Spitze zeigen. In den Stunden nach dem in (6a) zitierten Tweet nehmen die Verlinkungen auf die EMMA-Version des Textes dann weiter stark zu – der Text und die Empörung darüber verbreiten sich, ohne, dass die Ziele des Shitstorms, die EMMA und Pusch, es merken würden. Ab 11:44 wird der Shitstorm aber parallel zur weiter ansteigenden Verlinkung persönlich – am Ende der ersten Welle von Verlinkungen erscheint die erste direkte Antwort auf den Tweet der EMMA in (7a), der zu diesem Zeitpunkt 16 Stunden online steht. In der nächsten Stunde folgen 10 weitere direkte Antworten – drei davon sind in (7b–d) zitiert:

200  (7)







 Anatol Stefanowitsch

a. .@EMMA_Magazin @luisepusch Seid ihr bescheuert? Das dürfte daran liegen, dass sich deutlich mehr Männer als Frauen bewerben. (@1000millimeter, 28.3.2015, 11:44) b. @EMMA_Magazin @luisepusch Amoktrips sind Männersache?! Sexismus gibt es in beide Richtungen. Das solltet ihr eigentlich wissen… (@wingnut_89, 28.3.2015, 11:50) c. .@EMMA_Magazin @luisepusch wenn ich mich nicht täusche, benennt man solche Argumente im Netz «sexistische Kackscheiße» –also ernsthaft, Pff (@IchBinJazz, 28.3.2015, 11:54) d. @EMMA_Magazin @luisepusch ist es nicht herrlich, wie sich alles instrumentalisieren lässt? (@NastaPandy, 28.3.2015, 12:04)

Auf die Frage, warum zu diesem Zeitpunkt plötzlich Antworten erfolgen, komme ich noch zurück. Bleiben wir zunächst bei dem Unterschied zwischen den direkten Antworten in (7a–d) und den vorangehenden Verlinkungen. Letztere enthielten zum Teil auf sprachlicher Ebene direkte Ansprachen, aber nicht auf medialer. Solche sprachlichen Markierungen finden sich auch in den direkten Antworten – man vergleiche etwa „Seid ihr bescheuert“ in (7a) mit „Arbeiten bei EMMA […] nur bescheuerte“ in (5c), und „Das solltet ihr eigentlich wissen“ in (7b) mit „traue ich der #Emma nicht zu“ in (5b). Zusätzlich sind die Tweets in (7a–e) aber auch medial direkte Ansprachen – sie enthalten die Handles der Angesprochenen und machen sie nun tatsächlich zu Beteiligten des zu diesem Zeitpunkt sprachlich bereits sehr aufgeheizten Multilogs. Im Fall der EMMA liegt dies daran, dass es sich um direkte Antworten auf deren Tweet handelt. Dass auch Puschs Handle in diesen Tweets erwähnt wird, liegt an der in Abschnitt 2.2 beschriebenen automatischen Übernahme erwähnter Handles in Antwort-Tweets. Ob die VerfasserInnen der Tweets in (7a–d) Pusch bewusst an ihren Multilogen beteiligen wollen, lässt sich deshalb nicht mit Sicherheit sagen – das Medium Twitter selbst sorgt hier dafür, dass dies geschieht. Die Tweets in (7a, c) zeigen aber, dass die AutorInnen sich durchaus Gedanken über den AdressatInnenkreis gemacht haben: Beide setzen wie in Abschnitt 2.2 beschrieben einen Punkt vor das Handle der EMMA, um den AdressatInnenkreis auf alle eigenen FollowerInnen zu erweitern. Im selben Schritt hätten sie Puschs Handle löschen können, um sie nicht am Multilog zu beteiligen. Dass dies nicht geschehen ist, deutet möglicherweise darauf hin, dass die Antworten bewusst auch an Pusch gerichtet sein sollten. Während die Verwendung von Puschs Handle in Tweets wie denen in (7) möglicherweise unabsichtlich ist, erfolgt die Verwendung im in (1b) zitierten Tweet der



Der Shitstorm im Medium Twitter. Eine Fallstudie 

 201

EMMA auf jeden Fall absichtlich. Sie erfüllt zunächst keinen offensichtlichen Zweck in der Kommunikation mit den eigenen FollowerInnen – der Tweet hätte ebensogut „Eine #Frauenquote fürs #Cockpit fordert Luise Pusch“ lauten können, analog zum Tweet in (8): (8) Die zusätzliche Ultraschalluntersuchung beim Frauenarzt könnt ihr euch sparen! Weiß #EMMA-Redakteurin Chantal Louis. [URL] (@EMMA_Magazin, 29.8.2014, 6:40) Sowohl der Tweet in (1b) als auch der in (8) stellen inhaltlich keine Interaktion mit der jeweiligen Autorin dar; beide sollen die FollowerInnen der EMMA auf den Text aufmerksam machen. Indem die VerfasserIn von (1b) Puschs Handle verwendet, führt sie also bewusst eine twitterspezifische kommunikative Handlung aus, die zum Ausnutzen der flüchtigen Konnektivität und Multilogizität anregt. Diese Handlung wäre eine ausführliche Untersuchung wert, sie dürfte ein zweifaches kommunikatives Ziel verfolgen. Zum einen lässt man den betreffenden Tweet im Mentions-Bereich der erwähnten NutzerIn erscheinen und setzt sie so in Kenntnis darüber, dass man über sie redet. Zum anderen lässt man durch die Erwähnung des Handles in einem Tweet dessen AdressatInnen wissen, dass die erwähnte Person überhaupt ein Twitterprofil hat und damit als potenzielle Beteiligte an weiteren Multiloge zur Verfügung steht. Die Funktionsweise des Twitterhandles ermöglicht es also, NutzerInnen von Personen, über die gesprochen wird, zu Personen zu machen, mit denen gesprochen wird (und so auch zum Ziel eines Shitstorms). Die AdressatInnen des Tweets in (1b) nehmen diese Information auch tatsächlich zur Kenntnis. Nach einem vereinzelten positiven Kommentar um 11:05 (siehe [9a]) erscheinen ab 12:24 direkte, per Reply-Funktion erstellte und durchgängig negative Antworten auf Puschs in (1a) zitierten Tweet, z.B. die in (9b–e): (9)





a. @luisepusch @doncish Mehr Frauen in Entscheidungspositionen würde die Sicherheit der ganzen Welt erhöhen. (@villebooks, 28.3.2015, 11:05) b. @luisepusch Männer sind Mörder.Frauen sind Mörderinnen.Geschlechtsbezogene Verallgemeinerungen sind ein Zeichen mangelnder Differenziertheit (@kleinewaeschere, 28.3.2015, 12:24) c. @luisepusch Zwischen Binnen-I und Geschmacklosigkeit fehlt noch die Forderung zur Umbenennung von Cockpit in Pussypit… Amirite? #Emma (@searchBloque, 29.3.2015, 12:37)

202 



 Anatol Stefanowitsch

d. Klar, mit einer Frau im Cockpit wäre das nicht passiert. Frauen haben ja nie psychische Probleme und so.. @luisepusch (@hex2, 28.3.2015, 13:57) e. der Tanz um die #Frauenqoute Fr. @luisepusch scheint Ihren Geist doch ziemlich verwirrt zu haben…;Sie sollten einen Arzt aufsuchen! #emma (@filiusmontium, 28.3.2015, 14:22)

Die zeitliche Nähe zu den ersten Antworten auf den Tweet der EMMA und die Tatsache, dass vorher fast 24 Stunden lang kaum eine Reaktion erfolgte, deuten darauf hin, dass die VerfasserInnen der Kommentare in (9) zunächst den Tweet der EMMA entdecken, über das dort erwähnte Handle auf Puschs Profil kommen und dort deren Tweet vorfinden und kommentieren. Inhaltlich und im Tonfall sind diese Tweets zunächst heterogener als die direkten Antworten auf den Tweet der EMMA. Sie sind zwar alle negativ, können aber teilweise als Kommentar zum Text verstanden werden (in (9b, d)). Auch hier treten aber, wie in den Antworten auf den Tweet der EMMA, persönliche Angriffe auf (in (9c, e)), die sich gegen die sprachfeministischen Positionen von Pusch richten bzw. ihre geistige Verfassung infrage stellen. Auch der Tweet in (8e) zeigt wieder die bereits beobachtete Praxis, Dritte in einen Multilog einzubeziehen – statt einen Punkt vor das Handle zu setzen, wird es als Teil der Anrede „Fr. @luisepusch“ verwendet, um so den AdressatInnenkreis auf alle eigenen Follower auszuweiten. In der Folge häufen sich Tweets, in denen Pusch direkt angesprochen wird: (10) a. @luisepusch Emanzipatorische Frage sollte lauten: Warum laufen Männer öfter Amok? Aber soweit kam das Frauenhirn nicht. Zynismus ftw… ;-( (@p_humm, 28.3.2015, 14:54) b. @luisepusch Als „Journalistin“ sollten Sie lernen, besser zu recherchieren, bevor Sie so einen Müll verbreiten. (@gespensterhure, 28.3.2015, 18:11) c. @luisepusch wie tief kann man sinken um sich am tot von 150 Menschen mit so einem Artikel zu profilieren? Arm!!! (@joneum, 28.3.2015, 19:32) Inwiefern Tweets wie diese tatsächlich als Gesprächsangebot an die Angesprochene zu verstehen sind, ist unklar. Pusch reagiert wohlweislich auf kaum einen der Tweets. Sie meldet sich am 28.3.2015 um 17:13 zum ersten Mal seit ihrem in (1a) zitierten Tweet, und kommentiert den Shitstorm allgemein:



Der Shitstorm im Medium Twitter. Eine Fallstudie 

 203

(11) Während der Shitstorm gegen mich tobt, melden viele LeserInnen, dass sie die Frauenquote fürs Cockpit gut finden. [URL Pusch 2015a] (@luisepusch, 28.3.2015, 17:13) Einer der wenigen Dialoge, die sie als Reaktion auf die Kritik initiiert, lässt aber daran zweifeln, dass der Verfasser der Kritik tatsächlich ein Gespräch führen wollte: (12)





a. @luisepusch Es wurden «aus den 14 getöteten Mädchen und zwei Jungen „16 Schüler“» gemacht. Das ist (u.A.) ihr Problem? Abartig! (@skeptikaa, 28 Mar 2015, 17:40) b. @skeptikaa Das sehen ganz viele Frauen völlig anders. 75 Deutsche und 35 SpanierInnen sind auch nicht zusammen 110 Deutsche. (@luisepusch, 28.3.2015, 17:44) c. @luisepusch MENSCHEN sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Da interessiert mich weder Geschlecht, Religion, Nationalität etc. (@skeptikaa, 28.3.2015, 17:47)

Statt auf Puschs Erklärung einzugehen, die darauf hinweist, dass in der Berichterstattung die Nationalität der Getöteten, nicht aber deren Geschlecht thematisiert wurde, verschiebt er sein Argument auf eine allgemeine Kritik an Differenzierungen (die er aber während der drei Tage nirgendwo anders äußert). Vermutlich sollte der Tweet in (12a) trotz der direkten Ansprache hauptsächlich dazu dienen, ihr die Meinung des Verfassers („Abartig!“) mitzuteilen. Auch die direkten Antworten dürften also wenigstens teilweise dazu gedacht sein, über Pusch zu reden, nicht mit ihr. Das gilt in jedem Fall für die in der nächsten Phase des Shitstorms auftretenden direkten Mentions, also solche, in denen Puschs Twitterhandle erwähnt wird, obwohl sie keine Antwort auf einen ihrer Tweets darstellen. Ein Beispiel einer direkten Mention stellt, wie bereits diskutiert, der Ausgangstweet der EMMA dar. Wie dort erwähnt, dient diese Erwähnung auch als Signal an die LeserInnen, dass die betreffende Person ein Twitterprofil besitzt und als AdressatIn oder Beteiligte an Multilogen zur Verfügung steht. Dass Handles auf diese Weise gelesen werden, zeigt der in (13) zitierte Tweet, der um 11:44, also etwa zeitgleich mit der ersten direkten Antwort auf den Tweet der EMMA und unmittelbar zu Beginn des Shitstorms erscheint:

204 

 Anatol Stefanowitsch

(13) Keine Katastrophe ist so schlimm, dass man sie nicht noch vor den GenderKarren spannen kann, ‚ne @EMMA_Magazin #KOTZ

 [Bildschirmfoto des Tweets der EMMA-Redaktion] (@Mobilegeeksde, 28.3.2015, 11:44)

Bei @mobilegeeksde handelt es sich um das seit 2012 existierende Profil eines Technikblogs, das 2015 geschätzte 10.500 FollowerInnen hatte. Woher das Interesse an einem in der EMMA erschienenen Text kommt, ist unklar (die EMMA wird von diesem Profil zwischen 2012 und heute nur zwei Mal erwähnt). Es liegt aber nahe, dass dieser Tweet entscheidend zum Entstehen des Shitstorm beigetragen hat: Wie das im Tweet enthaltene Bildschirmfoto zeigt, hatte der Tweet der EMMA selbst zu diesem Zeitpunkt nur zwei Retweets: den oben bereits zitierten des Österreichischen Frauenrings und einen des Autorprofils des in (6a) zitierten Tweets (das 2015 unter 500 FollowerInnen hatte). @mobile­ geeksde ist damit das erste reichweitestarke Profil überhaupt, das auf den Text verweist, und die zeitliche Nähe der ersten direkten Interaktionen mit dem Profil der EMMA und etwas später auch Puschs persönlichem Profil legen nahe, dass erst der Tweet in (13) die Aufmerksamkeit einer größeren Zahl von NutzerInnen auf den Text und die Profile gelenkt hat. Auch die Verlinkungen ohne Erwähnung von Handles nehmen nach diesem Tweet deutlich zu, und die in (6b, d und e) zitierten ihrerseits reichweitestarken Verlinkungen greifen dabei inhaltlich die als unzulässig wahrgenommene Verbindung der Themen Quote und Flugzeugabsturz auf, die im Tweet von @mobilegeeksde durch die Formulierung „vor den Gender-Karren spannen“ vorgegeben wird. Vermutlich stammen also auch einige dieser Verlinkungen von Profilen, die ihrerseits erst durch den Tweet in (12) auf den Text aufmerksam geworden sind. Wir sehen an (13), wie die spezifischen Eigenschaften des Mediums Twitter dazu beitragen, dass zunächst der Tweet und das Profil der Emma (und, wie wir unten sehen werden, auch Puschs Tweet und Profil) die Aufmerksamkeit anderer NutzerInnen erlangen und damit die Bedingungen dafür schaffen, dass aus einer



Der Shitstorm im Medium Twitter. Eine Fallstudie 

 205

sich in den in (3) bis (5) zitierten Tweets abzeichnenden kontroversen Debatte eines Textes ein personalisierter Shitstorm wird. Der in (13) zitierte Tweet ist hier deshalb besonders interessant, weil er einige der medialen Möglichkeiten des Mediums Twitter bewusst ausspart – er verlinkt nicht auf den Text oder den Tweet der EMMA, sondern enthält nur ein Bildschirmfoto – weder der Tweet noch der Text sind so direkt durch anklicken erreichbar. Diese Praxis verwenden Twitter-NutzerInnen manchmal, um das zitierte Profil nicht darauf aufmerksam zu machen, dass hier ein Tweet zitiert wird, denn anders als bei einem manuellen oder nativen Retweet erscheint ein Bildschirmfoto natürlich nicht in den Mentions. In (13) ist die Situation aber komplexer, denn im Text des Tweets selbst wird das Handle @EMMA_Magazin verwendet, womit der Tweet eben doch im Mentions-Bereich der EMMA erscheint. Das könnte auf die Absicht hinweisen, sehr wohl mit diesem Profil interagieren zu wollen. Auch die sprachliche Form legt das nahe: Die EMMA wird mit dem Frageanhängsel „ne, @EMMA_ Magazin“ direkt adressiert. Andererseits ist deutlich, dass der Tweet sich eher an die eigenen FollowerInnen richtet. Wenn es vorrangig um eine direkte Interaktion mit dem Profil der EMMA gehen sollte, würde es sich zunächst anbieten, den Tweet auch als direkte Antwort zu deren Tweet zu veröffentlichen und ihn ggf. zusätzlich den eigenen FollowerInnen zugänglich zu machen. Das geschieht hier nicht, stattdessen wird ein selbstständiger Tweet formuliert, der das Handle der EMMA nur erwähnt. Auch das Bildschirmfoto zeigt, dass der Tweet eher an die eigenen FollowerInnen gerichtet ist, denn der EMMA ist ihr eigener Tweet ja bekannt und das Foto damit überflüssig, die FollowerInnen von @mobilegeeksde kennen den Tweet hingegen nicht. Wenn es, wie oben vermutet, stimmt, dass der Tweet in (13) ein wichtiger Ausgangspunkt für den Shitstorm war, dann zeigt sich hier, wie die Verwendung des Handle als Hinweis auf die Existenz des betreffenden Profils wahrgenommen wird und zur direkten Kontaktaufnahme anregt. Das gilt sogar für Puschs Profil, obwohl dies im Text des Tweets in (13) gar nicht enthalten ist, sondern nur auf dem Bildschirmfoto des Tweets der EMMA. Somit wird es nicht automatisch in den AdressatInnenkreis des Antworttweets übernommen. Trotzdem finden sich unter den Antworten auf den Tweet in (13) einige, die Puschs Handle enthalten: (14)



a. .@Mobilegeeksde Frag mich grad ernsthaft, wie oft man @luisepusch ins Gehirn geschissen hat! @EMMA_Magazin #GermanWingsCrash (@wagener_bjoern, 28.3.2015, 11:50) b. @Mobilegeeksde @Reisebiene @EMMA_Magazin Ich fordere die auswanderung @luisepusch nach Saudi-Arabien (@timonisch, 28.3.2015, 12:11)

206 

 Anatol Stefanowitsch

Die VerfasserInnen haben den zusätzlichen Schritt unternommen, das Handle manuell in ihre Antworten einzufügen, um Pusch in den Multilog hineinzuzwingen und andere NutzerInnen auf deren Profil aufmerksam zu machen. Dies ist eine bewusste kommunikative Entscheidung, die auch aufgrund der inhaltlich stark herabwürdigenden bis bedrohlichen Inhalte dafür spricht, dass die VerfasserInnen bewusst zu einem personalisierten Shitstorm gegen Pusch beitragen wollen. Beide Tweets zeigen die in Abschnitt 2.2 erwähnte konzeptuelle Distanzlosigkeit; der Tweet in (14a) zeigt außerdem die Niederschwelligkeit der Kommunikation in sozialen Netzwerken – die Formulierung „Frag mich grad ernsthaft…“ markiert die Äußerung explizit als Verbalisierung eines inneren Monologs, den man außerhalb von Twitter vielleicht für sich behalten würde. In den nächsten Stunden finden sich immer mehr direkte Mentions bis diese die direkten Antworten auf Puschs Tweets in ihrer Häufigkeit überholen. Sie sind durchgängig mit Beleidigungen oder massiven Angriffen auf Pusch verbunden. Einige Beispiele: a. Jesus Christ, Emma, this is a new low. Dass Sie sich nicht schämen, @ luisepusch. [Bildschirmfoto von Headline und Teaser des EMMA-Artikels] (@the­ truemilhouse, 28.3.2015, 12:53) b. Sie sind zum Kotzen @luisepusch. #TotefürQuote #germanwings #EMMA (@KEIOS, 28.3.2015, 19:05 PM) c. Die #Emma-Autorin @luisepusch erfreut sich am Tod von 150 Menschen, in dem sie ihre wirren Gedanken in einen Text packt. #4U9525 (@TobiasHuch, 28.3.2015, 17:58) (15)

Die Tweets in (15a, b) richten sich dabei in ihrer sprachlichen Form scheinbar an Pusch („Dass Sie sich nicht schämen…“, „Sie sind zum Kotzen“). Auch hier kann aber bezweifelt werden, dass Pusch tatsächlich die primäre Adressatin der Tweets ist – vielmehr wird hier die twitterspezifische Möglichkeit ausgeschöpft, die Tweets in Puschs Mentions erscheinen zu lassen, um sie wissen zu lassen, dass sie hier beleidigt und erniedrigt wird. Bei dem Tweet in (15c) ist das noch deutlicher, da dieser sich nicht einmal in der sprachlichen Form an Pusch richtet, sondern über sie redet. Die beleidigende Wirkung wird durch diese indirekte Ansprache noch verstärkt. Abschließend ist auffällig, dass sich kein Hashtag für den Shitstorm herausbildet, was im Einklang mit der Diagnose ist, dass es sich hier vorrangig um einen personalisierten, gegen Pusch und die EMMA gerichteten Shitstorm handelt. Innerhalb dieses personalisierten Shitstorms finden sich am häufigsten die Hashtags #Emma, #4U9525 und #germanwings. Das Hashtag #Emma ist aufgrund der Viel-



Der Shitstorm im Medium Twitter. Eine Fallstudie 

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deutigkeit wenig wirksam bei der Verbreitung des Shitstorms, während die zum Zeitpunkt des Shitstorms verbreiteten Hashtags #4U9525 und #germanwings möglicherweise dazu beigetragen haben, dass die so gekennzeichneten Tweets von NutzerInnen gefunden wurden, die am Absturz allgemein interessiert waren und die auf diese Weise den Shitstorm entdeckt haben. Den erfolgreichsten Versuch, ein eigenes Hashtag für den Shitstorm zu etablieren, stellt das Hashtag #emmagate dar, für das sich über den gesamten Zeitraum des Shitstorm etwa 100 Treffer finden: (16)





a. (E)y (MMA)aaa geht‘s noch? #EMMA #emmagate (JnScha @JnScha, 28.3.2015, 12:20) b. Ich distanziere mich ausdrücklich von diesen fundamentalistischen Kampf-Emanzen der #Emma. #LeistungstattQuote #emmagate (@hoppeditz67, 29.3.2015, 1:21) c. Anstatt etwas gegen die vielen Selbstmorde bei Männern zu unternehmen, reicht auch eine Frauenquote bei Piloten – #emmagate in a nutshell. (@ErnaLauert, 29.3.2015, 15:23) d. #emmagate Frauen würden gut ins Flugzeug passen, das Einparken übernehmen ja andere … :) (@mahagonyz, 31.3.2015, 14:06)

Abgesehen vom ersten Tweet mit diesem Hashtag, der in (16a) zitiert ist, sind die so gekennzeichneten Tweets mehrheitlich allgemeine mehr oder weniger sachliche Kommentare zum Inhalt des Beitrags. Persönliche Angriffe oder Beleidigungen finden sich kaum, allerdings finden sich Herabwürdigungen von Frauen allgemein, wie in (16d). Dass sich unter dem einzigen nennenswert verbreiteten Hashtag nur wenige schwer beleidigende und kaum persönliche Angriffe finden, zeigt einen grundlegenden Unterschied bei der Verwendung von Hashtags und Handles innerhalb eines Shitstorms. Während das Handle dazu führt, dass beleidigende Tweets automatisch im Mentions-Bereich des genannten Profils auftauchen, werden Tweets mit Hashtag nur gefunden, wenn man direkt danach sucht. Dementsprechend dienen Handles immer auch dazu, Betroffene wissen zu lassen, was man von ihnen als Person hält, während Hashtags eher den Versuch darstellen, eine inhaltliche Diskussion über das Hashtag auffindbar zu machen.

3.4  Die (Un-)Vermeidbarkeit von Twitter-Shitstorms Wenn es eine mediale Eigenschaft von Twitter gibt, die mehr als alle anderen für die Personalisierung des Shitstorms gegen Pusch verantwortlich war, so ist es die

208 

 Anatol Stefanowitsch

Funktionsweise des Handle, also die jederzeit verfügbare Konnektivität des Netzwerks. Der Shitstorm richtete sich gegen Pusch, weil NutzerInnen ihr Handle und damit ihr Twitterprofil entdeckten und er traf Pusch direkt, weil die NutzerInnen ihre Beiträge durch Verwendung des Handle direkt in Puschs Mentions einspeisen und sie so in die vielfach überlappenden Multiloge hineinzwingen konnten. Auch die automatische Übernahme des Handles in Antworten spielt hier eine Rolle. Dies ist keine zwingende Eigenschaft internetgestützter Medien – wenn wir z.B. eine E-Mail schreiben, wird diese nicht automatisch an Menschen verschickt, deren E-Mail-Adresse im Text der Mail genannt wird –; es ist eine bewusst geschaffene Eigenschaft von Twitter. Dem Ansturm der Mentions könnte sich jemand in Puschs Situation nur entziehen, indem sie sich aus dem Netzwerk abmeldet – aber dann wäre sie dort auch für Zuspruch und Unterstützung oder thematisch vom Shitstorm unabhängige Kommunikation nicht mehr erreichbar. Twitter bietet einen technischen Kompromiss: Es ist möglich, die angezeigten Mentions auf NutzerInnen zu begrenzen, denen man folgt. So bleibt die Erreichbarkeit wenigstens teilweise erhalten. Aber die hohe und technisch kaum beschränkte Konnektivität des Handle ist eine der Eigenschaften, die Twitter auch im positiven Sinne einzigartig machen. Sie führt zu einer Egalität in der Kommunikation, die zu bereichernden Gesprächssituationen führt, die in keinem anderen Medium überhaupt entstehen würden. Mit einer technischen Einschränkung der Konnektivität geht ein zentraler Grund verloren, Twitter überhaupt zu verwenden. Um die Konnektivität des Handle zu erhalten aber dessen Shitstormpotenzial zu senken, wäre es nötig, einen verantwortungsvollen Umgang damit zu pflegen. Es kann zur Lösung des Problems beitragen, das es selbst verursacht: Gibt man das Handle einer beliebigen NutzerIn in die Twitter-Suche ein, erhält man eine Auflistung aller Tweets, die das Handle enthalten – also eine Annäherung der Mentions der NutzerIn. Diese Eigenschaft des Netzwerks erlaubt es, sich in die Position dieser NutzerIn zu begeben und das eigene Kommunikationsverhalten entsprechend anzupassen. Das wird NutzerInnen nicht abhalten, die sich bewusst an einem Shitstorm beteiligen wollen, aber es kann dazu führen, dass diejenigen, die sich unabsichtlich daran beteiligen, dies unterlassen. NutzerInnen scheint oft nicht bewusst, dass sie nur einen kleinen Teil der vielfach überlappenden Multiloge sehen und deren eigentliche Dimension nicht erfassen. Im Shitstorm gegen Luise Pusch findet sich zum Beispiel folgende Interaktion (das Handle einer NutzerIn habe ich entfernt, da sie die Tweets zum Zeitpunkt der Untersuchung gelöscht hatte):



Der Shitstorm im Medium Twitter. Eine Fallstudie 

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a. (Heiliger Marx, was sich da gegen die #emma und @luisepusch formiert ist ja auch ein gruseliger Empörungshaufen.) [GIF von Cpt. Jack Sparrow, der die Flucht ergreift] (@_juliaschramm, 28.3.2015, 15:03) b. @_juliaschramm @luisepusch vielleicht weil der Text in dieser Form zu dieser Zeit einfach nur widerlich ist? (@[…], 28.3.2015, 15:28) c. @[…] @luisepusch vielleicht finde ich den artikel auch nicht gut, aber die allianz, die sich da bildet halt gruselig? (@_juliaschramm, 28.3.2015, 15:30) d. @_juliaschramm @luisepusch ich hab noch keine Allianz gesehen, nur eine sehr fassungslose Timeline. (Aber wenns um Maskus geht: ja :( ) (@[…], 28.3.2015, 15:31) e. @[…] @luisepusch unter dem hashtag #emma habe ich sehr sehr bekannte avatre gesehen :( (@_juliaschramm, 28.3.2015, 15:32) (17)

Die erste NutzerIn hat den Shitstorm mitbekommen und stellt sich mit der Formulierung „gruseliger Empörungshaufen“ auf die Seite der Betroffenen. Die zweite NutzerIn stellt sich auf die andere Seite und bezeichnet Puschs Text als „widerlich“, verwendet also genau den sprachlichen Duktus, der den Shitstorm ohnehin schon dominiert. Dabei will sie Pusch vermutlich nicht direkt ansprechen, sondern tut dies nur, weil Twitter deren Handle automatisch in die Antwort übernimmt. Die erste Sprecherin distanziert sich nun ebenfalls inhaltlich von Pusch, bekräftigt aber ihre Kritik an den Angreifenden, indem sie sie noch einmal als gruselig bezeichnet, und mit dem Wort Allianz den mobbing-artigen Charakter des Shitstorms hervorhebt. An dieser Stelle müsste die erste NutzerIn, die den Shitstorm mitbekommen hat, sich bewusst machen, dass sie einen Multilog unter Beteiligung von Pusch führt, und damit gerade Teil des Shitstorms ist, über den sie redet. Die zweite NutzerIn macht in ihrer Antwort deutlich, dass sie den Shitstorm gar nicht mitbekommen hat, sondern sich nur auf die sachlichere Kritik verlässt, die sie in ihrer eigenen Timeline vorfindet. Sie müsste sich klar machen, dass die Multiloge, an denen sie beteiligt ist, nur ein Teil derer sind, an denen Pusch beteiligt ist und könnte sich diese über die Suche nach dem Handle ansehen. Auch sie würde dann erkennen, dass sie Teil des Shitstorm ist, den sie bis eben gar nicht bemerkt hat. Die NutzerInnen würden sich dann vielleicht verhalten wie der Nutzer, der auf den in (18a) zitierten Tweet antwortet, in dem ich am dritten Tag des Shitstorms Solidarität mit Pusch ausdrücken wollte:

210  (18)



 Anatol Stefanowitsch

a. Meine Kollegin @luisepusch hat schon Shitstürme überstanden, lange bevor es ein Wort dafür gab. Weiterhin viel Kraft! (@astefanowitsch, 29.3.2015, 12:26) b. @astefanowitsch Für dich ist es nicht fragwürdig, mit Spekulation über männliche Amokflieger eine Frauenquote zu begründen? (@jensbest, 29.3.2015, 19:37)

Der Nutzer will mit mir über den Text diskutieren und dabei seine negative Einschätzung zum Ausdruck bringen, aber – und das ist entscheidend – er entfernt vorher Puschs Handle aus seiner Antwort, das in meinem Tweet enthalten ist und damit auch in alle abfälligen Antworten übernommen wird. Der Nutzer entscheidet sich also bewusst, Pusch vom Multilog auszuschließen, um sie seiner Kritik nicht auszusetzen. Dieses Beispiel zeigt, das NutzerInnen den Eigenschaften eines Kommunikationsmediums nicht unbedingt hilflos ausgeliefert sind. Wenig von dem, was in den vorangehenden Abschnitten gezeigt wurde, wurde also durch das Medium Twitter determiniert – wohl aber durch seine Funktionsweise stark erleichtert.

4  Schlussbetrachtungen Wie der Shitstorm gegen Luise Pusch entstehen und wie er personalisiert werden konnte, ist durch die vorliegende Studie hoffentlich wenigstens in groben Zügen deutlich geworden. Die Frage, warum er entstanden ist, ist damit aber nicht beantwortet. Dafür ist es nötig, seine Inhalte genauer zu betrachten. Pusch (2015c) identifiziert in einer ersten Analyse der Blogkommentare, die sie während des Shitstorms erhalten hat, vier häufige Themenbereiche: den Vorwurf einer unangemessenen Verquickung von Themen, Todeswünsche, sexualisierte Drohungen und den Vorwurf, sie suche nach Aufmerksamkeit. Diese Kategorien finden sich auch in den über 750 Tweets des Shitstorms, die ihr Handle enthalten. Den Vorwurf der missbräuchlichen Themenverquickung habe ich bereits ausführlich diskutiert. Beispiele für Todeswünsche finden sich in (19a, b), für sexualisierte Abwertung in (20a, b) und für den Vorwurf des Strebens nach Aufmerksamkeit in (21a, b): (19)

a. @luisepusch Leserinnen die geistig genau wie sie auf dem Niveau eines 6 Jährigen sein müssen. Bitte verreck einfach b. Jo, ich fordere hiermit offiziell @luisepusch zum freestylebattle heraus! Aber mit Fäusten, du Lachnummer #zweifäustefüreinhaltdiefresse



Der Shitstorm im Medium Twitter. Eine Fallstudie 

 211

(20)

a. @luisepusch fotze b. @luisepusch saugen meinen schwanz

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a @luisepusch Geilen sie sich eig jetzt daran auf, dass sie endlich mal beachtet werden? b. @luisepusch jetzt hat ihre erbärmliche kleine Persönlichkeit endlich ihre 15 Minuten Ruhm. Genießen sie‘s, danach sind sie wieder ein nichts



Weitere häufig auftretende Themen sind abwertende Geschlechterstereotype (siehe (22a, b)), das Absprechen geistiger Zurechnungsfähigkeit (siehe (23a, b)) und entmenschlichende Darstellungen (siehe (24a, b)): (22)

a. @luisepusch Hände weg von Twitter und zurück in die Küche. b. @EMMA_Magazin @luisepusch Vorschlag abgelehnt. Frauen gehen immer zu zweit aufs Klo. Dann wäre ja niemand mehr im Cockpit.

(23)

a. .@EMMA_Magazin Eine Vollidioten-Quote scheint ihr in der Redaktion ja schon zu haben. Wie sonst ließe sich @luisepusch erklären. b. der Tanz um die #Frauenqoute Fr. @luisepusch scheint Ihren Geist doch ziemlich verwirrt zu haben…;Sie sollten einen Arzt aufsuchen! #emma



(24) a. .@[…] Vermutlich. Oder @luisepusch ist einfach ein feiges Stück menschlicher Abfall, der zu seiner Äußerung nicht steht. b. @EMMA_Magazin @luisepusch Ein Papagei, der nur einen Satz kräht, weiß auch nicht, dass man nicht auf Särge kotet. Nun sind all diese Themen – darauf weist auch Pusch hin – keineswegs neu, und sie sind auch nicht auf die Kommunikation in sozialen Netzwerken begrenzt. Sie gehören schon immer zum Standardinventar antifeministischer Rhetorik. Pusch sieht den Shitstorm deshalb als opportunistisch genutzte Chance seitens organisierter AntifeministInnen, ihre Inhalte anzubringen: Die Chance ergab sich diesmal dadurch, dass der immer sprungbereite und inzwischen gut organisierte Hass auf Feministinnen unter dem Vorwand der moralischen Entrüstung über ‚mediengeile und menschenverachtende Ausschlachtung einer Katastrophe‘ und ‚fanatischen Männerhass‘ zur Hetzjagd blasen konnte […]. (Pusch 2015c)

Diese Analyse wird dadurch gestützt, dass ein substanzieller Teil der Kommentare explizit gegen den Feminismus gerichtet ist (siehe [25a, b]), in manchen Fällen auch explizit gegen Inhalte der feministischen Sprachwissenschaft (siehe (26a, b)):

212  (25)

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 Anatol Stefanowitsch

a. @[…] Ein ganz normaler Artikel einer fanatischen Feministin. @larsmb @luisepusch b. @[…] Das würde ich so nicht sagen. Mir geht nur dieser femi­nistische Stuss auf den Geist. @[…] @EMMA_Magazin @luisepusch a. @[…] hm – Die Linguistin @LuisePusch hat aber schon Probleme mit der deutschen Sprache. Schwierigkeiten mit dem Genus… @[…] b. @luisepusch Das Scheiß-Binnen-I können Sie streichen, Sie staatlich bezahlte Uni-Hure! #4U9525

Nun wäre es zu einfach, den Shitstorm in seiner Gesamtheit ideologisch gefestigten AntifeministInnen zuzurechnen. Um zu erklären, warum es immer wieder zu antifeministischen Shitstorms kommt, muss man anerkennen, dass antifeministische Positionen tief in gesellschaftlichen Strukturen verankert sind, und dass wir alle sie zunächst soweit internalisieren, dass uns Angriffe auf FeministInnen auch dort begründet oder zumindest nachvollziehbar erscheinen, wo wir die konkrete Form, in der sie auftreten, ablehnen. Um diese internalisierten antifeministischen Positionen abzulegen, bedarf es einer individuellen und gesellschaftlichen Reflexion, und an dieser Stelle sind wir nicht nur als Menschen, sondern auch als SprachwissenschaftlerInnen gefordert. Gerade die Überlegungen und Forschungsergebnisse der feministischen Sprachwissenschaft werden immer wieder stellvertretend für den Feminismus insgesamt angegriffen – etwa die Kritik am generischen Maskulinum, die Pusch in ihrem Beitrag anspricht, oder die Versuche, alternative Formen zu finden. Die institutionalisierte Sprachwissenschaft hat diese Überlegungen (wie sie z.B. in Pusch 1984, 1990, 1999 zusammengestellt sind) bis heute nicht ernsthaft rezipiert und in den Stand der Forschung oder in die in linguistischen Studienanteilen vermittelten Lehrinhalte integriert. Pusch und andere frühe feministische LinguistInnen wurden zu anderen Themen hin oder gleich ganz aus den Universitäten gedrängt. Die akademische Forschung in diesem Bereich blieb weitgehend PsychologInnen überlassen (exemplarisch sei der Überblick in Braun/Sczesny/Stahlberg 2005 genannt), während etablierte Sprachwissenschaftler sich öffentlich regelmäßig abfällig über geschlechtergerechte Sprache äußern, ohne diese Forschung oder die Arbeiten der feministischen Linguistik auch nur rezipiert zu haben. So kann der sprachpuristische Verein Deutsche Sprache einen Aufruf veröffentlichen, in dem zum „Widerstand“ gegen die „lächerlichen Sprachgebilde“ der geschlechtergerechten Sprache aufgerufen und dann gefordert wird, „die deutsche Sprache gegen diesen Gender-Unfug wieder durch[zusetzen]“ – und bekommt dafür die Unterschriften namhafter Germanisten, inklusive eines ehemaligen Direktors des Instituts für Deutsche Sprache (VDS 2019).



Der Shitstorm im Medium Twitter. Eine Fallstudie 

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Widerspruch oder differenzierende Diskussionen und Aufklärung zu diesen Themen, wie sie für eine Reflexion gesellschaftlich verankerter Vorurteile nötig wären, gibt es Seitens der akademischen Sprachwissenschaft kaum – Lobin/Nübling (2018) ist eine seltene Ausnahme. Die akademische Sprachwissenschaft ist so für den unterschwelligen Antifeminismus mitverantwortlich, der sich mit bildungsbürgerlichem Habitus im Feuilleton und in weitgehend entgrenzter Form in den Sozialen Medien Bahn bricht. Wenn sich die Sprachwissenschaft in Zukunft wieder stärker in gesellschaftliche Debatten um Sprache und Sprechen in der Öffentlichkeit (auch in der digitalen) einmischen will, sollte sie das nicht aus dem Blick verlieren.

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 Anatol Stefanowitsch

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Soziale Medien im Einsatz

Nicola Würffel (Leipzig)

Soziale Medien im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht: Potenziale und Herausforderungen Abstract: Zum (Fremdsprachen-)Lernen mit Sozialen Medien existieren verschiedene Hypothesen, von denen ein paar eine große Stoßkraft entwickelt haben, obwohl sie sich empirisch nicht belegen lassen. In diesem Artikel werden einige von ihnen dekonstruiert, gleichzeitig wird aber auch gezeigt, warum und mit welchen Zielen ein Einsatz Sozialer Medien im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht sinnvoll ist. Möglichkeiten des Einsatzes werden beispielhaft für die Förderbereiche des kooperativen Schreibens sowie für eine Verbindung von informellem und formalem Lernen thematisiert. Dabei wird ein besonderer Schwerpunkt auf die Betrachtung sozialer Netzwerke gelegt. Abschließend wird auf Herausforderungen eingegangen, die sich im Zusammenhang mit dem Einsatz Sozialer Medien im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht stellen.

1  Einleitung In bildungspolitischen und bildungswissenschaftlichen Diskursen über den Einsatz Sozialer Medien zum Lernen allgemein und zum Fremdsprachenlernen im Spezifischen wird gern von folgenden Hypothesen ausgegangen: –– Soziale Medien spielen im Leben der meisten Menschen in Deutschland und weltweit eine große Rolle. –– Weil Soziale Medien im privaten Leben von Lernenden eine so wichtige Rolle spielen, sollten sie auch in Lehr-Lernkontexten eingesetzt werden, um Lebenswelt und Lernwelt zu verbinden. –– Je jünger die Menschen sind, desto eher kann man davon ausgehen, dass sie „Digital Natives“ sind (bzw. der Net-Generation angehören) und damit als medienkompetent angesehen werden können. –– Weil soziale Netzwerke im Leben so vieler Menschen eine wichtige Rolle spielen, kann man zudem davon ausgehen, dass die Menschen inzwischen anders lernen: Wenn Kooperation mit anderen im Privaten wichtig ist, stehen Lernende kooperativen Arbeits- und Lernformen positiver gegenüber und können diese effizient einsetzen. https://doi.org/10.1515/9783110679885-011

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Diese Hypothesen lassen sich unterschiedlich verifizieren bzw. falsifizieren. Nachdem in Kapitel 2 kurz erläutert wird, was in diesem Artikel unter Sozialen Medien und sozialen Netzwerken verstanden wird, werden in Kapitel 3 einige der oben genannten Hypothesen diskutiert, um auf diese Weise zu begründen, warum eine Beschäftigung mit Sozialen Medien für den Unterricht in Deutsch-als-Fremdsprache (DaF) dringend nötig erscheint. In Kapitel 4 wird thematisiert, mit welchen Zielen Soziale Medien im DaF-Unterricht eingesetzt werden können bzw. sollten, und in Kapitel 5 werden deren Potenziale am Beispiel zweier Förderschwerpunkte ausgeführt. Die mit einem Einsatz verbundenen Herausforderungen werden in Kapitel 6 benannt. Ein kurzes Fazit schließt den Artikel ab.

2  Soziale Medien und soziale Netzwerke Unter Sozialen Medien verstehe ich nach Büffel/Pleil/Schmalz Publikations- und Kommunikationsformen […], die nicht nur als Instrumente für das individuelle und kollaborative Wissensmanagement eingesetzt werden können, sondern neben der reinen Informationsverknüpfung auch dabei helfen, eine soziale Beziehung zwischen ihren Nutzern zu etablieren (Büffel/Pleil/Schmalz 2007, S. 1).

Soziale Netzwerke (mit Text-, Bild-, Audio- und/oder Videoteilfunktion) sind dabei die Form Sozialer Medien, die vor allem kontaktunterstützend bzw. profilbildend wirken, wohingegen andere Soziale Medien wie Foren, Wikis, Blogs und Microblogging-Dienste, Podcasts, Foto-, Video- und Audiotauschplattformen etc. stärker zu den informationsorientierten Sozialen Medien gehören (vgl. u.a. Reinhardt 2019, S. 17). Eine andere mögliche Unterscheidung bezieht sich auf die von den Sozialen Medien genutzten Kodierungsformen: So unterscheiden Lomicka/Lord (2016) bei sozialen Netzwerken zwischen denen, die vor allem den schriftlichen Austausch unterstützen (Facebook, LinkedIn, Twitter), denen, die den mündlichen Austausch unterstützen (PodOmatic, VoiceThread), und denen, die dem Austausch von Bildern dienen (Instagram, Pinterest, Snapchat). Da neuere Soziale Medien zunehmend komplexer werden und mehrere Anwendungen zusammenfassen, werden solche Abgrenzungen aber immer schwieriger. Um die Bedeutung Sozialer Medien für Lernende verschiedener Altersklassen in Deutschland darzustellen, wird gern auf die Ergebnisse der KIM- und JIM-Studie (für die Gruppen der Kinder und Jugendlichen) sowie auf die ARD/ZDF-OnlineStudie (für die Gruppe der Erwachsenen) verwiesen. Diese belegen, dass Soziale Medien und soziale Netzwerke für alle Gruppen in Deutschland im Privaten einen



Soziale Medien im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht 

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wichtigen Platz einnehmen: Der Messenger-Dienst WhatsApp (zum Verschicken von Textnachrichten, aber auch von Fotos oder Videos) ist das am häufigsten genutzte Werkzeug; es folgen Anwendungen, mit denen Fotos und Videos geteilt werden können (Instagram und Snapchat). Facebook wird von Jugendlichen in Deutschland dagegen inzwischen etwas weniger genutzt (die größte Nutzergruppe sind hier – das zeigt die ARD/ZDF-Online-Studie – die 21-29-Jährigen, bei denen der Facebook-Gebrauch unverändert hoch ist, vgl. Frees/Koch 2018, S. 410). Interessant sind auch die detaillierten Ergebnisse zur Anwendung der Sozialen Medien bei den Jugendlichen: Bei Snapchat z.B. besteht die häufigste Nutzung im Anschauen der Produkte anderer Nutzer und Nutzerinnen; das Erstellen eigener Produkte nimmt zumindest bei der Nutzung der Foto- und Video-Austauschanwendungen einen viel geringeren Raum ein. Dem Charakter der sozialen Netzwerke entsprechend werden zudem vor allem Produkte persönlich bekannter Personen angeschaut; das Anschauen der Produkte öffentlich bekannter Persönlichkeiten ist viel weniger wichtig (vgl. mpfs 2018, S. 42).

3  Beliebte Hypothesen zum Einsatz Sozialer Medien für das Lernen Die seit Jahren steigende intensive Nutzung digitaler Medien vor allem durch jüngere Menschen führt dazu, dass der schon vor 17 Jahren von Prensky geprägte Begriff der „Digital Natives“ (ebd. 2001, S.  1) oder der etwas später aufgekommene Begriff der Net-Generation weiterhin ungebremst genutzt werden: Diese Generation [die Generation App – d.h. Personen, die mit Smartphones aufgewachsen sind] wird von einem technisch geprägten Blick auf Leben und Wirklichkeit bestimmt. Das „App-Denken“ beginnt mit der Idee, dass Handlungen im Leben der Menschen wie Algorithmen funktionieren: Bestimmte Aktivitäten führen zu berechenbaren Ergebnissen. (Ascherl/ Ballis 2017, S. 6)

Einer ganzen Generation von Menschen wird damit zum einen die Kompetenz zugesprochen, souverän mit Medien umgehen zu können, weil sie damit aufgewachsen ist; zum anderen werden Unterschiede im Lernverhalten postuliert – wie bei Ascherl/Ballis zum Beispiel ein Mangel an Kreativität. Obwohl Schulmeister schon 2012 in einem Artikel zur Net-Generation eine Dekonstruktion des Begriffs der Digital Natives vorgelegt und zudem nachgewiesen hat, dass generationsbezogene Zuschreibungen prinzipiell nicht funktionieren (Schulmeister 2012), halten sich die Begrifflichkeiten beständig. Schulmeister und Loviscach sprechen deshalb von einer Mythenbildung:

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Die Grenze zwischen populären Darstellungen und ernstzunehmenden Studien zur Digitali­ sierung verschwimmt in der öffentlichen Wahrnehmung. Viele „commonsensical“ Annahmen gründen auf der Vorstellung, dass die Medien selbst für die Wirkung auf die Lernenden verantwortlich seien: „Most people working in this area are driven by an underlying belief that digital technologies are in some way capable of improving education“ (Selwyn 2011, S. 713). Aus unreflektierten Alltagserfahrungen werden Mythen, die unser Verständnis vom Lernen mit Medien beeinflussen. (Schulmeister/Loviscach 2017, S. 1)

Dass sich die Begriffe nicht nur im gesellschaftspolitischen Diskurs finden, sondern auch in fachdidaktisch-wissenschaftlichen Publikationen und Diskussionen immer noch – meist völlig unkommentiert – auftauchen (siehe das Zitat von Ascherl/Ballis 2017 oben oder u.a. Hsien-Chin 2016, S. 485), ist umso befremdlicher, als es inzwischen ausreichend Studien gibt, die zeigen, dass die meisten (jüngeren) Lernenden zwar medienaffin sind, aber nicht (umfassend) medienkompetent; sie nutzen Lehr- und Lernmedien zudem nicht als Selbstzweck, sondern verstehen diese eher (arbeitsökonomisch gedacht) als Instrument zur Zielerreichung. Digitale Medien werden von diesen Lernenden meist sehr pragmatisch genutzt, häufig vor allem in der Zeit vor den Prüfungen und meist im Selbststudium. Die private Mediennutzung wiederum übersetzt sich nicht zwangsläufig in die Nutzung der Medien für das Lernen; dort ist das Medienverhalten eher konservativ. Von den Institutionen und Lehrenden erwarten die Lernenden häufig nicht mehr Medieneinsatz, sondern einen (in ihrem Sinne) besseren. Dieser sollte aus ihrer Sicht vor allem darauf abzielen, heute gängige Prüfungsformate bestehen zu können (siehe u.a. Dehne/Lucke/Schiefner-Rohs 2017, S. 78; Hess 2006). Auch dass man mit Sozialen bzw. digitalen Medien anders lerne, kann in dieser Pauschalität nur als Mythos bezeichnet werden. Studien zeigen bislang nur: Mit Medien lernt man nicht schlechter als ohne (Langner 2017, S. 142). Das eigentliche Grundproblem dieses Mythos ist aber noch ein anderes: ‚Lernen mit Sozialen Medien‘ ist keine Methode; Soziale Medien sind (nur) Lehr- und Lernmedien unter vielen anderen, mit denen wiederum unterschiedlichste methodische Ansätze in völlig unterschiedlichen Kontexten umgesetzt werden. Allgemeine Aussagen zum Lernen mit Sozialen Medien sind deshalb gar nicht möglich. Betrachtet man methodisierte Werkzeuge (also zum Beispiel eine bestimmte Sprachlernapp auf einem Smartphone), dann müssen feststellbare Effekte immer in Zusammenhang mit dem didaktischen Design insgesamt gesehen werden – und nicht (nur) mit dem Einsatz des Mediums an sich. Ein dritter Mythos betrifft die Fähigkeit zum kooperativen Lernen, über die jüngere Lernende angeblich in hohem Maße verfügen sollen: Die DNA der Generation Y ist kollaborativer: Studierende lösen Aufgaben heute eher im Team als allein (Dräger/Friedrich/Müller-Eiselt 2014, S. 5).



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Auch wenn es erfreulich wäre, träfe das tatsächlich zu, zeigen Studien, dass die Übertragung aus dem privaten ins professionelle Handeln kein Automatismus ist und dass altersbezogene Zuschreibungen fehl am Platz sind. In Würffel (2011) habe ich die Ergebnisse einer Studie zur virtuellen kooperativen Zusammenarbeit von spanischen und deutschen DaF-Studierenden vorgestellt, die zeigen, dass Kooperations- und Gruppenprozesse im digitalen Raum Studierende vor große Herausforderungen stellen: Sie kämpfen mit der geringeren sozialen Präsenz der Gruppen­ mitglieder und dem Einfluss der Kanalreduktion der verwendeten Medien auf die Kommunikationsprozesse, die deshalb expliziter und/oder aufwendiger angeregt werden müssen. Insgesamt beschreiben sie die Gruppenabstimmungsprozesse beim Online-Arbeiten als zunächst ungewohnt, schwierig, chaotisch, aufwendig und anfällig für Missverständnisse – erst mit der Zeit schaffen es die Gruppen, konfliktfreier miteinander zu arbeiten. Als hinderliche Aspekte nennen die Studierenden zudem die geringere Verbindlichkeit beim Online-Arbeiten (wobei andere aber auch von einem stärkeren sozialen Druck durch die höhere Sichtbarkeit der Beiträge der einzelnen Gruppenmitglieder berichten) und den unterschiedlichen Arbeitsrhythmus der Gruppenmitglieder. Von einer kollaborativen DNA kann also nicht die Rede sein: Lernende müssen – wie immer schon – an das kooperative Arbeiten herangeführt und darin trainiert werden. Wichtig erscheint dabei auch, dass der Gewinn für das Produzieren erhöht und eine kooperative Autorenschaft eingeübt sowie honoriert werden muss. Die Integration computergestützten kooperativen Arbeitens sollte zudem für längere Zeiträume geplant und vorgenommen werden (Würffel 2011). Die hohe Beständigkeit dieser (und vergleichbarer) Mythen sowie die unzureichende Wahrnehmung vorhandener Forschungsergebnisse zum Mediennutzungsverhalten und den tatsächlichen Medienkompetenzen von Lernenden hat wiederum Auswirkungen auf die Unterrichtspraxis an Schulen und Hochschulen. Die verbreitete Annahme, dass Digital Natives mit fortgeschrittenen Medienkompetenzen in die Schulen und an die Hochschulen kämen und deshalb in diesen nicht mehr gefördert werden müssten, hat dazu geführt, dass die Vermittlung von Medienkompetenzen und die inhaltliche Beschäftigung mit der Rolle von digitalen Medien für die verschiedenen Bereiche des Fremdsprachenlernens bislang sowohl in DaF-Curricula als auch in der Ausbildung von DaF-Lehrenden unzureichend verankert sind. Das ändert sich gerade langsam, auch weil die Vermittlung einer fächerübergreifenden wie auch einer fachbezogenen digital literacy in bildungspolitischen Papieren weltweit immer stärker gefordert (für Deutschland siehe das entsprechende KMK Papier von 2016) und das Erstellen von diesbezüglichen Kompetenzrastern bildungspolitisch unterstützt wird (siehe u.a.

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Vuorikari et  al. 2016 für den DigComp und Redecker/Punie 2017 für den DigCompEdu). Bei der Erstellung dieser Kompetenzraster muss auch bedacht werden, dass sich die notwendigen Kompetenzen und damit die Lernziele in Zeiten einer zunehmenden Digitalisierung der Gesellschaft schon verändert haben und noch stärker verändern müssen (Krommer 2018): Sie sollten grundlegend überdacht und auch an neue oder veränderte Textsorten, Kommunikationsformen und Sprachverwendungskontexte im Bereich Deutsch als Fremdsprache angepasst werden.

4  Ziele für den Einsatz Sozialer Medien im DaF-Unterricht Digitale Medien wurden in der Fremdsprachendidaktik sehr früh im Sinne Sozialer Medien verstanden – schon zu einer Zeit, als es den Begriff der Sozialen Medien und die meisten der darunter gefassten Anwendungen noch gar nicht gab. So ging es z.B. in einem der ersten größeren Projekte zum Einsatz digitaler Medien im Fremdsprachenunterricht DaF um die Begegnung von Sprachlernanfängern und -anfängerinnen mit Zielsprachensprechenden bzw. -lernenden: Das Projekt „Das Bild der Anderen“ entstand 1989 im Rahmen des European Schools Project (ESP), das 1988 von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Universität Amsterdam gegründet worden war und bis heute existiert (http://www.espnet.eu/image/). Schon früh also wurde in der Fremdsprachendidaktik der Wert der digitalen Medien nicht nur als Informationsmedien, sondern vor allem auch als Kommunikations-, Interaktions-, Produktions- und Publikationsmedien erkannt. Die Wahr­nehmung der Breite der Anwendungsmöglichkeiten verstärkte sich noch einmal mit dem Aufkommen der Sozialen Medien zu Beginn der 2000er Jahre – dies zeigt sich auch in einem Anstieg der diesbezüglichen Forschungsliteratur ab 2008/9 (siehe u.a. Würffel 2008; Lomicka/Lord 2009; Thomas (Hg.) 2009). Vom Einsatz Sozialer Medien versprach und verspricht man sich eine Vereinfachung, Vervielfachung und vor allem auch Veränderung der Qualität der Möglichkeiten zur Interaktion und Produktion beim fremdsprachlichen Lernen. Zunehmend wird zudem in den Blick genommen, dass über den Einsatz bzw. die Nutzung von Sozialen Medien eine Verbindung zwischen formalem und informellem Lernen hergestellt werden kann. Eng damit verknüpft ist wiederum die Hoffnung, durch den Einsatz Sozialer Medien das selbstgesteuerte oder autonome Lernen der Lernenden zu fördern. Wie das im Einzelnen aussehen kann, wird im Folgenden anhand ausgewählter Kompetenz- und Interaktionsbereiche verdeutlicht.



Soziale Medien im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht 

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5  Einsatz Sozialer Medien im DaF-Unterricht Anwendungen, die als Soziale Medien und/oder soziale Netzwerke bezeichnet werden, werden im Fremdsprachenunterricht inzwischen zu sehr unterschiedlichen Zwecken eingesetzt; die Darstellung möglicher Potenziale und Herausforderungen ihres Einsatzes für das DaF-Lernen kann deshalb nur ausschnitthaft erfolgen. Ausgewählt wurden die Förderung des Schreibens und die Verbindung von formalem und informellem Lernen, da damit zwei sehr unterschiedliche Aspekte des Fremdsprachenlehrens und -lernens abgedeckt werden.

5.1  Förderung des (kooperativen, kreativen oder identitätsbildenden) Schreibens Im Zusammenhang mit dem Einsatz Sozialer Medien im DaF-Unterricht ist schon früh auf deren Potenzial für das kooperative Schreiben hingewiesen worden. Untersuchungen und didaktische Vorschläge gibt es inzwischen für den Einsatz von kooperativen Texteditoren wie Wikis, aber auch zu sozialen Netzwerken wie Facebook oder didaktischen Netzwerken wie der Pasch-Net-Community (siehe u.a. Peterwerth 2014). Ein anderer Schwerpunkt liegt in der Nutzung Sozialer Medien für das Anregen des kreativen Schreibens. Hier liegen u.a. Vorschläge für Microblogging-Dienste wie Twitter vor (Schmidt/Hagelmoser/Saage 2010). Schließlich gibt es mit Blick auf die Nutzung von Blogs Vorschläge zur Unterstützung eines selbst­reflexiven und selbstdarstellenden Schreibens (u.a. Vurdien 2013). Im Rahmen dieses Artikels wird nur die Förderung des kooperativen Schreibens in den Blick genommen und gezeigt, wie Wikis dafür eingesetzt werden können. Bei Wikis handelt es sich um öffentliche oder durch Passwort geschützte Webseiten, die von den Nutzenden nicht nur gelesen, sondern auch direkt bearbeitet werden können. Die bekannteste Anwendung der Wiki-Software ist sicherlich Wikipedia; aber auch Angebote wie das ZUM-Wiki der Zentrale für Unterrichtsmedien sind in lokalen Kontexten inzwischen fest verankert. Gut ein halbes Jahrzehnt nach dem Aufkommen von Wikis waren die Erwartungen an diese Form kooperativer Texteditoren in Bezug auf ihren Einsatz im Fremdsprachenunterricht zur Unterstützung des kooperativen Schreibens sehr hoch: One of the most powerful benefits of using wikis in language learning is as a collaborative tool. Potentially, everyone in a group could work at changing and editing a document and work towards a final version of a particular text. This can help develop bonds between members of the class and create a community spirit. The premise here is that the learners can learn from each other, and learn through their interactions with other group members. (Sharma/Barrett 2007, S. 123)

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Man erhoffte sich also, dass durch die spezifischen Eigenschaften von Wikis Prozesse des kooperativen Schreibens besonders gut unterstützt werden könnten. Zu diesen Prozessen zählt man, dass Lernende sich bei dem für sie sehr problemträchtigen, kognitiv anstrengenden und zeitaufwändigen Prozess des Schreibens unterstützen, z.B. indem die Lernenden von dem in der Gruppe vorhandenen orthografischen, grammatischen, textgrammatischen, lexikosemantischen, text­ sortenspezifischen und/oder kulturellen Wissen profitieren, das alle gleichberechtigt in den zu verfassenden Text einbringen können; aber auch, indem sie für den gesamten Text nicht mehr allein verantwortlich zeichnen müssen, sondern die Verantwortung für positive wie negative Ergebnisse mit den anderen Gruppenmitgliedern teilen können (Reduzierung der Gefahr des Gesichtsverlusts). Durch das gemeinsame Schreiben soll für die Lernenden zudem eine Notwendigkeit geschaffen werden, viele Handlungsschritte zu verbalisieren und sich dadurch z.B. die eingesetzten Strategien bewusst zu machen. Auch die Möglichkeit zu gegenseitigen Korrekturen am gemeinsamen Text wird als Möglichkeit der gegenseitigen Unterstützung gesehen (funktioniert aber nicht immer aufgrund der starken Verankerung der individuellen Autorenschaft bei vielen Lernenden, siehe für eine Übersicht Würffel 2008). Wikis bieten ein leicht zu benutzendes Werkzeug, um den gemeinsamen Schreibprozess einfach zu realisieren. Dabei können die Schreibenden sowohl am selben Ort sein (was der Verbalisierung von Handlungsschritten zugutekäme) als auch zeit- und ortsversetzt arbeiten (was einem unterschiedlichen Arbeitstempo der einzelnen Lernenden entgegenkommt, aber auch das kooperative Schreiben von Gruppen an unterschiedlichen Orten erst ermöglicht). Der Einsatz von Wikis kann den gemeinsamen Schreibprozess zudem durch die Möglichkeit zur permanenten Speicherung unterstützen, die alle Vorgänge der in den Wikis ablaufenden Zusammenarbeit sichert und damit langfristig verfügbar macht (wie z.B. die Vorschläge von Mitlernenden zur Erweiterung oder Verbesserung bestimmter Textteile; Bloh 2002, S. 159), wodurch Lernende die Vorgänge reflektierter rezipieren können. Lehrenden wiederum wird dadurch die Möglichkeit geboten, auf Gruppenarbeitsprozesse zuzugreifen, zu denen sie sonst keinen Zugriff haben, und diese gezielt zu unterstützen. Ein weiterer großer Vorteil von Wikis ist, dass damit Texte leicht veröffentlicht werden können: Man erhofft sich von dieser Öffentlichkeit einen Anreiz für die Lernenden, Texte von höherer Qualität zu erstellen. Dass Wikis erfolgreich zur Unterstützung kooperativen Schreibens eingesetzt werden können, zeigen inzwischen zahlreiche Publikationen (für ein Projekt für den Primarbereich siehe z.B. Anskeit 2012).



Soziale Medien im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht 

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5.2  Verbindung von formalem und informellem Lernen Im Bereich des Fremdsprachenlernens erfährt der Begriff des informellen Lernens seit dem Aufkommen mobiler und Sozialer Medien größere Beachtung. Bevor man über den positiven Einfluss des informellen Lernens auf das formale Lernen sprechen kann, muss man den Begriff des informellen Lernens deutlicher fassen. In vielen Publikationen wird dafür auf die Definition der Europäischen Kommission von 2001 rekurriert, die das informelle Lernen vor allem vom Subjekt her fasst und mit einem nicht-intentionalen Lernen in Verbindung bringt. Informelles Lernen: Lernen, das im Alltag, am Arbeitsplatz, im Familienkreis oder in der Freizeit stattfindet. Es ist (in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung) nicht strukturiert und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Informelles Lernen kann zielgerichtet sein, ist jedoch in den meisten Fällen nicht intentional (oder „inzidentell“/beiläufig). (Europäische Kommission 2001, S. 33)

Der in dieser Defintion hergestellte Bezug zwischen informellem und nicht-intentionalem Lernen erscheint allerdings problematisch, da nicht-intentionales Lernen genauso gut in formalen und non-formalen Kontexten stattfinden kann. Zudem entspricht eine solche Definition offensichtlich nicht dem Verständnis vieler Lernender, wie Bohlinger in einer Untersuchung feststellen konnte. In dieser wurden Personen nach ihren Formen informellen Lernens gefragt. Als mögliche Formen wurde angegeben: –– Selbstständiges Lernen anhand von Unterlagen in gedruckter Form (Fachbücher, Fachzeitschriften etc.); –– computergestütztes Lernen bzw. Weiterbildung sowie internetgestützes Lernen; –– Lernen mit Hilfe von Bildungssendungen in Rundfunk und Fernsehen oder offline am Computer; –– Besuche von Einrichtungen zur Vermittlung von Bildungsinhalten (Bibliotheken, Lernzentren etc.) (Bohlinger 2009, S. 175). Besser beschreiben lassen sich diese Konkretisierungen informellen Lernens mit einer Definition, die den Kontext als Bezugspunkt für eine Unterscheidung von informellem und formalem Lernen nutzt. Mit einer solchen Definition arbeiten Sauro und Zourou, die mit Bezug auf die Nutzung digitaler Medien im Fremdsprachenunterricht von einem learning in the wild sprechen und dieses als ein „informal language learning that takes place in digital spaces, communities, and networks that are independent of formal instructional contexts“ (Sauro/Zourou 2017, S. 186) definieren. Learning in the wild findet nach ihrem Verständnis in Kontexten statt, die soziale Interaktion unterstützen und die weniger kontrollierbar und gesteuert sind als ein institutioneller Unterricht. Für das DaF/DaZ-Lernen bieten diese

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Kontexte „interesting, and perhaps even compelling, opportunities for intercultural exchange, agentive action, and meaning making“ (Thorne 2010, S. 144). Tatsächlich zeigen Untersuchungen zur Nutzung Sozialer Medien für das Fremd­sprachenlernen, dass Lernende selbst ihr zielsprachiges Interagieren in sozialen Netzwerken als Möglichkeit zum informellen und unstrukturierten Lernen ansehen (Selwyn 2008). Das zielsprachige Interagieren dient häufig nicht primär dem Sprach­erwerb, sondern eher sozialen oder identitätsbildenden Zwecken (Alm 2018). Lernende schätzen bei der Nutzung Sozialer Medien zudem die Möglichkeiten zur leichteren Vernetzung mit Zielsprachensprechenden und zum multimodalen Interagieren. Insgesamt werden Zugewinne vor allem im Bereich der interkulturellen und soziopragmatischen Kompetenzen gesehen sowie in der Möglichkeit zum zielgruppenspezifischen sprachlichen Produzieren (Reinhardt 2019). Angesichts dieser Ergebnisse überrascht es wenig, dass sich die Fremdsprachendidaktik darüber Gedanken macht, wie man diese Kontexte und das darin statt­ findende informelle Lernen auch für ein formales Lernen im gesteuerten Unterricht nutzbar machen kann. Erste Ergebnisse gibt es inzwischen u.a. zur Nutzbarmachung des Lernens mit/in Computerspielen (Sundqvist 2019), des Lernens in FanCommunities (Shafirova/Cassany 2019), von sozialen Netzwerken zur Förderung sozialer (fremdsprachlicher) Kontakte (Alm 2018) und von Facebook-Gruppen zur Förderung soziopragmatischer Diskurskompetenz (Sablotny 2017; Reinhardt 2019).

6  Herausforderungen beim Lernen mit Sozialen Medien im Bereich DaF/DaZ Selbstverständlich ist ein Einsatz Sozialer Medien im DaF/DaZ-Unterricht auch mit vielen Herausforderungen verbunden. Auf drei Aspekte wird beispielhaft eingegangen: Dazu gehören die Nutzungsgewohnheiten der Lernenden, die starken Einfluss auf das (mögliche) Lernen mit den Medien nehmen, der Faktor Öffentlichkeit, mit dem man allzu schnell die Hoffnung auf eine Motivierung der Lernenden verbindet, und schließlich auf die Anerkennung von DaF-bezogenen Leistungen aus informellen Kontexten in formalen Kontexten, da dies noch ein weitgehend unbearbeitetes Feld darstellt (für weitere Herausforderungen vgl. u.a. Würffel 2008). Wie schon oben ausgeführt, entspricht das Mediennutzungsverhalten von Lernenden in institutionellen Kontexten keineswegs ihrem Nutzungsverhalten außerhalb dieser Kontexte. Das liegt auch daran, dass der formale Charakter von Lernsituationen das Nutzungsverhalten im institutionellen Lernen maßgeblich beeinflusst (Lin/Groom/Lin 2013). Es ist zudem keineswegs sicher, dass Lernende in formalen Kontexten die motivierenden und eigentlich als lernförderlich wahr-



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genommenen Möglichkeiten der Sozialen Medien zu Lernzwecken überhaupt nutzen (wollen) (Waragai/Ohta/Raindl 2017). Einige Soziale Medien, die im Unterricht eingesetzt werden, werden wiederum privat gar nicht genutzt bzw. sind nicht bekannt (z.B. Wikis, siehe Rott/Weber 2013). Ein didaktisch sinnvoller Gebrauch Sozialer Medien muss deshalb auf jeden Fall immer explizit trainiert werden. In Kapitel 4 wurde darauf hingewiesen, dass man sich beim Einsatz Sozialer Medien vom Faktor Öffentlichkeit sowohl eine Steigerung der Motivation der Lernenden als auch das Entstehen eines gewissen sozialen Drucks auf die Lernenden erhofft; beides soll dazu führen, dass eine bessere Qualität der Produkte erreicht werden kann. Vor allem in Bezug auf Wikis, aber auch mit Blick auf andere Soziale Medien, haben zahlreiche Studien inzwischen belegt, dass man gerade mit diesem Faktor vorsichtig und didaktisch reflektiert umgehen muss. Zwar ließ sich für einige Lehr-/Lernkontexte eine motivations- und/oder qualitätssteigernde Wirkung nachweisen, gleichzeitig wirkte die öffentliche Zugänglichkeit der Lernereinträge aber für einige Lernende auch einschüchternd sowie hemmend und führte dazu, dass sich diese Lernenden nur in geringem Umfang äußerten (Vurdien 2013). Mehrere Autoren und Autorinnen weisen deshalb darauf hin, dass Lernende an der Entscheidung beteiligt werden sollten, ob das fremdsprachliche, durch Aufgaben gesteuerte Schreiben in einem öffentlichen oder in einem passwortgeschützten Raum stattfinden soll (Guth 2007; Würffel 2008). Zudem sollte darauf geachtet werden, dass unterschiedliche Partizipationsgrade der Lernenden vorgesehen und erlaubt sind (Bradley/Lindström/Rystedt 2010). Insbesondere im Bereich des Arbeitens mit Sozialen Medien erscheint es für den DaF-Unterricht sinnvoll, die in informellen Lernkontexten erfolgenden Lernprozesse für formale Kontexte stärker nutzbar zu machen. Dabei gibt es aber ein großes Hindernis: Unfortunately, the considerable audience and register awareness, interactional, and identity performance skills involved in SNS use are usually neither recognized nor legitimized in traditional writing or language instruction. (Reinhardt 2019, S. 21)

Die Tatsache, dass informelle Lernergebnisse in formalen Lernkontexten nicht anerkannt werden und damit ihre Integration in diese erschwert wird, hat viel mit dem kulturbezogenen didaktischen Design dieser formalen Unterrichtskontexte zu tun. Anerkennungsmaßnahmen müssten deshalb systematisch integriert werden (die Änderungen also systemisch erfolgen) und nicht nur in Bezug auf einzelne digitale Medien. Ähnliches gilt auch für die Schaffung von Anreizen dafür, dass Lernende bei der Nutzung Sozialer Medien im DaF-Unterricht in deutlich stärkerem Maße zu Produzierenden werden, als sie das bei ihrem außerunterrichtlichen Umgang mit diesen Medien tun.

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7  Fazit In einem konsequent handlungsorientierten und autonomiefördernden DaF-Unter­ richt könnten Soziale Medien lernunterstützend wirken. Ein solcher Unterricht (der zudem von Lehrenden und Lernenden gleichermaßen getragen wird) stellt aber nicht die (Unterrichts-)Realität an vielen Stellen der DaF-Welt dar. Ein gewinnbringender Einsatz Sozialer Medien im DaF-Unterricht kann deshalb erst dann stattfinden, wenn sich der ‚formale‘ DaF-Unterricht ändert – dafür müssten sich vielfältige Routinen aller Akteure und einige Rahmenbedingungen formaler Lernkontexte ändern. Allein schon die Bemühungen um Standardisierung und um eine kleinschrittige Überprüfbarkeit von Kompetenzen läuft dem entgegen. Das sollte man sich bewusstmachen, ehe man anfängt, nur über die Integration einzelner Sozialer Medien in den DaF-Unterricht nachzudenken, ohne dem ganzen Tableau aktueller DaF-Unterrichtsrealitäten genauere Aufmerksamkeit zu schenken.

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Alexander Lasch (Dresden)

Partizipationswunsch oder Prokrastinationsverdacht? Wissenschaftsvermittlung auf Blogs Abstract: Viele neue Orte des akademischen Lesens und Schreibens sind Anfang der 2000er im Mitmachnetz „Web 2.0“ entstanden, die heute als „Soziale Medien“ Forschung und Lehre sowohl hinsichtlich Produktion und Rezeption als auch als Gegenstand massiv beeinflussen. Zu diesen Formen zählt u.a. auch die Wissenschaftsvermittlung auf (Micro-)Blogs, an der (beinahe typisch) die nicht immer reibungslosen Annäherungen einer Fachkultur an digitale Formen der Textproduktion im Beitrag nachgezeichnet werden. Angesichts der ambivalenten Bewertung dieser neuen Formen der Fachkommunikation wird dafür votiert, (Micro-) Blogs als Arbeitsplattformen zur Kollaboration und nur als solche zu begreifen.

Blogs (von Web Log(book)s) gehören seit ca. 15 Jahren zu den medialen Formen, die gemeinhin mit dem ‚Web 2.0‘ assoziiert werden – ein Begriff, den man heute nur noch analytisch gebrauchen kann, eher spricht man von den „Sozialen Medien“. Anders als bspw. Kommunikation via Chatclients oder Messenger konnte sich das spezifische Publikations- und Diskussionsformat der Blogs bisher noch nicht im Mainstream der Internetlinguistik als Gegenstand etablieren; aber es rückt nach und nach ins Sichtfeld der Forschung, wie die aktuell erschienene gleichnamige Bibliografie von Konstanze Marx (oder auch Beißwenger (Hg.) 2017) ausweist. Interessant ist weiter, dass Blogs zwar als Medium für die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit immer wieder ins Spiel gebracht werden, aber bei Lichte betrachtet ist auch dies keine Erfolgsgeschichte im Sinne des partizipativen Gedankens des ‚Mitmachnetzes‘. Von dieser Beobachtung ausgehend wird der Artikel, wie der Vortrag auf der Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim im März 2019 (die Präsentation ist verfügbar unter http://bit.ly/Lasch_IDSJT19, Stand: 27.5.2019), argumentativ entwickelt. Er ist als Diskussionsbeitrag zu verstehen, der Blogkommunikation und inkommensurable Bewertungspositionen von Blogkommunikation als Ausgangspunkte nimmt, um Publikations- und Publikationsbewertungspraxen zu hinterfragen. Der Beitrag stellt unterschiedliche Zuschreibungen 1) an Blogs sowie 2) an und 3)  von Blogger/innen an den Ausgangspunkt. Sucht man eine Antwort auf die Frage, was Nachwuchswissenschaftler/innen dazu bewegt, ein Blog aufzusetzen https://doi.org/10.1515/9783110679885-012

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oder sich an einem Blog zu beteiligen, kann man u.a. schnell auf einen – mal mehr oder mal weniger explizierten – Partizipationswunsch stoßen. Aus der Erfahrung und dem Verständnis eigener Schreibtätigkeit heraus und vor dem Hintergrund eingeübter Kommunikationspraxen in Sozialen Netzwerken kann die Idee erwachsen, sich anderen mitzuteilen und mit ihnen in kommunikativen Austausch zu treten. Blogs, die sich – mit je unterschiedlichen Adressat/inn/en – der Vermittlung von wissenschaftlichen Ergebnissen bzw. der Öffnung wissenschaftlicher Fragestellungen hin zu einer interessierten Öffentlichkeit widmen, sind als niederschwellige Publikationsform für ein solches Anliegen auf den ersten Blick ideal: Hier können Ideen zur Diskussion gestellt, (spielerisch) gemeinsam weiterentwickelt, in einem bestimmten Arbeitsstand dokumentiert werden. Mit anderen Worten: Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Das ist zugleich auch der größte Nachteil von Blogs. Das Publikum ist nicht spezifiziert, der Status vermittelter Ideen grundsätzlich nicht abgesichert und Arbeitszwischenständen haftet das Unfertige als Makel an – und hieraus speist sich eine andere Zuschreibung an Blogger/innen, nämlich die des Prokrastinationsverdachts. Diese Spezifika des Mediums und die Selbst- sowie Fremdzuschreibungen an Blogs und deren Autor/ inn/en können als einige Gründe dafür genannt werden, weshalb Blogs als Kommunikationsmedium wissenschaftlicher Ergebnisse im Bereich der Germanistischen Sprachwissenschaft eher skeptisch begegnet wird; in anderen Fächern (bspw. den Geschichtswissenschaften oder der Archäologie) haben Blogs einen anderen Status. Die oben kurz skizzierten nicht vereinbarten Zuschreibungen werden in diesem knappen Beitrag als Dilemma charakterisiert zwischen dem Wunsch nach Partizipation am wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Skepsis gegenüber einer niederschwelligen Publikationsform, deren Autor/inn/en Prokrastinationsvorwürfe zumindest erwarten. Ich möchte mich auf folgende Punkte konzentrieren. Die Hoffnung auf Partizipation ruht auf zwei Prämissen: 1) Es gibt so etwas wie eine interessierte Fachöffentlichkeit oder eine interessierte breitere Öffentlichkeit für wissenschaftliche Fragestellungen. 2) Dieses Publikum kann man mit einem Weblog adressieren, da es Blogkommunikation als relevant einschätzt. Diese Grundannahmen sind per se nicht verkehrt – ich werde darauf zurückkommen –, aber die darauf ruhende Hoffnung wird in der Realität häufig genug enttäuscht, da sie (häufig allein) vom akademischen Standpunkt aus gedacht werden und die Aufmerksamkeitsökonomien des Internets und die damit verbundenen erforderlichen Transferleistungen wenn nicht missachten, dann doch zumindest häufig genug inadäquat analysieren. 3) Weiter wird zu fragen sein, weshalb Kommunikation auf Blogs und Microblogs wie Twitter nicht selten als ‚Verschwendung von Zeit und Ressourcen‘ unter den Vorzeichen des ‚Vertagens qualifikationsrelevanter Publikationen‘ und damit unter



Partizipationswunsch oder Prokrastinationsverdacht? 

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Prokrastinationsverdacht verhandelt wird. Ich möchte hier die Hypothese vertreten, dass diese beiden Sichtweisen auf eine digitale Publikationsform nicht bzw. nicht gut miteinander vereinbar sind, weil beide mit einer impliziten Grundannahme verbunden sind: Beide Sichtweisen stehen zum Phantasma des monolithischen, ganzheitlichen und stabilen Textentwurfs nach qualitativen wissenschaftlichen Standards in einem spezifischen Verhältnis. Macht man diese Verhältnisse transparent und löst Blogkommunikation von damit verbundenen Erwartungen an akademisches Publizieren, dann wird das niederschwellige digitale Publizieren auf Arbeitsplattformen wie (Micro-)Blogs breitere Akzeptanz erfahren. Blogs wiederum können ihr partizipatives Potenzial entfalten, indem sie bspw. der kollaborativen Erschließung von Quellen, Genese von Daten, Erprobung von Methoden und Technologien oder Exploration von Gegenständen im Angesicht der Öffentlichkeit und zunächst nicht für die Öffentlichkeit dienen, und dabei helfen, Wissenschaft vor einem neuen (dann medialen) Utilitarismus zu bewahren. An wenigen illustrierenden Beispielen möchte ich abschließend dafür votieren, (Micro-)Blogs als solch ein Display zu verstehen, bei dem Textschaffende nicht nur im Angesicht einer Öffentlichkeit zusammenarbeiten, sondern ihre eigene Praxis reflektieren, kritisch begleiten und dabei lernen, Hybridität von Texten auszuhalten und in kollaborativen Arbeitsumgebungen Fragestellungen zu erproben und neue Themengebiete zu erschließen. So eröffnen sich nicht nur neue Räume für die Formulierung von wissenschaftlichen Fragestellungen, sondern Möglichkeiten zur Reflexion eigener guter wissenschaftlicher Praxis.

1  Wissenschaftsvermittlung und (Micro-)Blogging Seit Anfang der 2000er erfreuen sich Blogs als Publikationsorte im Internet zunehmender Beliebtheit. Sie orientieren sich zunächst stark an asiatischen Vorbildern und sind ebenfalls sehr stark von der angloamerikanischen blogosphere beeinflusst. Neben Wikis und traditionellen Websites finden Blogs als neue Publikationsorte schnell ihre Autor/inn/en und Leser/innen. Im Westen sind blogspot (ab 1999, Google, heute blogger) und Wordpress (ab 2003) dominierende Anbieter, später kommt Tumblr noch hinzu (2007). Blogs ziehen ihren besonderen Reiz daraus, dass ein/e Autor/in beliebige Themen in Threads behandeln kann, die sie oder er der Öffentlichkeit präsentiert: (editierbare) Artikel unterschiedlichen Umfangs, Kategorisierungen, Verschlagwortung via Tags, Kommentarfunktionen und vor allem das unproblematische Teilen und Weitergeben aller digitalen Inhalte

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führen die Möglichkeiten, die sich u.a. in den immer noch beliebten Internetforen ebenfalls an Diskussionsoptionen bieten, auf ein Autorsubjekt, eine Stimme zusam­men. Das ist neu und in dieser Form an der Jahrtausendwende einzigartig. Das ‚Mitmachnetz‘ Web 2.0 dürfte in der Anfangszeit ganz wesentlich von diesem Novum getragen worden sein, denn soziale Netzwerke, wie wir sie heute kennen, existieren noch nicht: MySpace wird 2003 veröffentlicht, Facebook kommt 2004 dazu, Twitter wirbt ab 2006 für seine Plattform, Instagram kann seit 2010 (2012 zu Facebook) genutzt werden, mit Google Plus startet schließlich Google 2011(–2019) sein soziales Netzwerk. Instant Messenger sind zur Jahrtausendwende ebenfalls noch in weiter Ferne: Das heute für viele nicht mehr wegzudenkende WhatsApp erscheint bspw. erst 2009 (2014 zu Facebook). Heute sind die Grenzen zwischen sozialen Netzwerken und Instant Messengern beinahe fließend. Daneben etablieren sich Sharing-Plattformen, die Audio- und Videoinhalte anbieten; exemplarisch seien hier zum einen das omnipräsente Youtube (seit 2005, 2006 zu Google) genannt, zum anderen iTunes (Apple, ab 2001), das Audio-Podcasts hoffähig macht, deren Nutzung seit wenigen Jahren international rasant zunimmt. All diese Dienste, vor allem Facebook, Instagram, Twitter, WhatsApp sowie verschiedene Sharing-Dienste für Video- und Audiopodcasts übernehmen heute viele der Funktionen, die in der Anfangszeit des Web 2.0 Alleinstellungsmerkmale von Blogs waren. Insofern hat sich freilich vor allem in den letzten 10 Jahren ihre Funktion und ihr Status massiv geändert und es ist vor dieser Entwicklung sinnvoll, z.B., um nur zwei Aspekte auszuwählen, zwischen Blogging (z.B. auf einem Wordpress-Blog) und Microblogging (z.B. via Twitter) und den unterschiedlichen Funktionen und entsprechenden Nutzungskanälen zu unterscheiden, da mit dieser Unterscheidung auch die Frage verbunden ist, welche Dienstleister heute ein entsprechendes und ansprechendes Angebot offerieren. Wissenschaftskommunikation bedient in den letzten Jahren aktiv verstärkt beide Formen, Video- oder Audiopodcasts (auch Vid- bzw. Screencasts) sind hingegen in der deutschsprachigen Community noch die Ausnahme. Die Veränderungen an der Grundtechnik, die hinter Blogs steht, sind über die Jahre gesehen kosmetischer Natur. Das Blog wird auch heute noch entweder selbst gehostet, bei einem Dienstleister für Webspace und Domain als spezifisches Angebot eingebunden oder direkt als Software-as-a-Service über eine der bekannten Bloggingplattformen veröffentlicht. Neben Wordpress existieren noch andere Dienstleister (z.B. blogger von Google oder Tumblr), die in der deutschsprachigen Community allerdings deutlich weniger Bedeutung haben: Die meisten Blogs, die dem Transfer von wissenschaftlichen Positionen in die interessierte Öffentlichkeit dienen, basieren aktuell auf der von Wordpress bereitgestellten Publikationssoftware. Das gilt auch für die Blogs, die über ein Portal veröffentlicht werden – in der scientific community werden vor allem die vom Spektrum der Wissenschaft verant-



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worteten scilogs und das Portal hypotheses genutzt. Aber egal, auf welcher Basis ein Blog heute gehostet wird, fast alle Blogs betreiben bspw. einen Twitterkanal, auf dem für erschienene Artikel und andere Inhalte geworben wird. Twitter dient außerdem der Diskussion dieser Artikel und der Kontaktaufnahme zwischen Wissenschaft und einem interessierten Publikum, z.B. zahlreichen Journalist/inn/en. In der Tat lässt sich beobachten, dass Twitter hierfür in der deutschsprachigen Forschungsgemeinschaft an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit eine besondere Rolle zugewachsen ist, die kein anderes Netzwerk im öffentlichen Raum bietet: Wenn man so will, ist Twitter das Schaufenster der auf Blogs veröffentlichten Artikel und der damit verbundenen Interessen, Haltungen und Einstellungen. Blogartikel wiederum haben als Texte spezifische Eigenschaften, die eine Bewertung als Publikationsformate wissenschaftlicher Praxis erheblich erschweren können – andererseits aber auch Chancen eröffnen, die deutlich artikuliert werden müssen. Blogs und ihre Artikel zeichnen sich durch diese Bedingtheiten aus: 1)  Jede/r kann Autor/in fachwissenschaftlicher Inhalte sein. 2)  Mit einem Blog kann ein/e Wissenschaftler/in aus traditionellen Verbreitungsmechanismen erarbeiteten Wissens heraustreten, in der Öffentlichkeit sichtbar werden (Visibilität) und die kommunikative Reichweite für eigene Ideen (potenziell) vergrößern. 3) In tagesaktuellen Debatten ist es ein unschätzbarer Vorteil, dass Wissenschaftler/innen auf Blogs schnell reagieren und auf diese Bezug nehmen können (Aktualität). 4)  Auf Blogartikel kann schnell reagiert werden, Rede und Gegenrede sind in der Anfangszeit des Bloggens eher die Regel als die Ausnahme und Diskussionen sind heute auf Twitter nicht unüblich und dienen der Vernetzung (Resonanz und Reziprozität). 5) Die produzierten Artikel sind hybride, können verändert, ergänzt und erweitert werden (Hybridität und Volatilität), was nicht zuletzt 6) an ihrer besonderen (digitalen) Medialität liegt.

2  Partizipationswunsch oder Prokrastinationsverdacht? Sprechen wir über Partizipation, dann soll diese hier so gefasst werden, dass mit der Publikation auf einem Blog die Hoffnung auf Teilhabe an der Diskussion in der scientific community und im öffentlichen Diskurs verbunden sein kann. Zumindest ist es diese Intention, die den meisten Blogs, die von Wissenschaftler/inne/n geführt werden, in der scientific community unterstellt wird. Damit verbunden sind häufig (Selbst- und Fremd-)Urteile bezüglich der Qualität und des Status’ des Publizierten und nicht selten finden sich Autor/inn/en in Situationen wieder, in denen sie ihre Intentionen offenlegen (sollen), um ihre eigene Arbeit unter den

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 Alexander Lasch

Bedingungen von Blogkommunikation (Visibilität, Aktualität, Reziprozität und Resonanz, Hybridität und Volatilität sowie Medialität) einzuordnen. Hier stoßen in der Praxis und der Diskussion in den einzelnen Wissenschaften Auffassungen und Haltungen zu guter wissenschaftlicher Praxis sowie Vorstellungen von Autorschaft und Text (fast) inkommensurabel aufeinander, da es innerdisziplinär meist keine Verständigung darüber gibt, wie Blogkommunikation im Fach als Publikationsformat überhaupt zu bewerten sei oder wie man im Wissenschaftssystem von Blogkommunikation profitieren könne. Um diese Fragen im Folgenden zu diskutieren, möchte ich zunächst exemplarisch drei Blogs kurz vorstellen, die gezielt eine interessierte Öffentlichkeit adressieren, wenn sie sich der Wissenschaftsvermittlung (germanistischer) Sprachwissenschaft widmen: Die EngelbartGalaxis. Digitale Welten jenseits der Schriftkultur von Henning Lobin, das Sprachlog von Susanne Flach, Kristin Kopf und Anatol Stefanowitsch und das SprAACHENblog von Jochen A. Bär und Thomas Niehr. In der Engelbart-Galaxis (https://scilogs.spektrum.de/engelbart-galaxis/, Stand: 27.5.2019) widmet sich Henning Lobin (@HenningLobin) aktuellen Themen, in denen Diskussionen in der Öffentlichkeit linguistische Expertise berühren, die er zeitnah einordnet und so z.B. für Journalist/inn/en und eine interessierte Öffentlichkeit zu einer wahrnehmbaren Stimme wird, wie jüngst das so genannte „Framinggate der ARD“ oder die Debatte um geschlechtergerechte Sprache exemplarisch zeigten. Es mag sein, dass zu diesen Themen nicht nur Henning Lobin eine Meinung hat, aber die (journalistische) Öffentlichkeit neigt dazu, vor allem Kontakte zu jenen Wissen­schaft­ler/inne/n herzustellen, die in den Sozialen Medien – und das heißt für die Wissenschaft: auf Twitter – sichtbar sind. Henning Lobin nutzt sein Blog, um zum einen die Sicht eines linguistischen Experten auf aktuelle Debatten ins Spiel zu bringen und die meist nicht in der Öffentlichkeit kommunizierten wissenschaftlichen Standpunkte präsent zu halten. Neben einer rein deskriptiven Haltung, die für das wissenschaftliche Publizieren angezeigt ist, bewertet er aber zum zweiten auch. Das ist eine bewusste und persönliche Entscheidung; einen Stilführer und allgemein geltende Standards für diese bestimmte Form von Wissenschaftskommunikation gibt es nicht, was sie stärker auf den bzw. die Autor/in zentriert als wissenschaftliche Publikationen. Von ähnlicher Prominenz und Ausrichtung ist das Sprachlog (http://www.sprachlog.de/, Stand: 27.5.2019) von Susanne Flach (@skeptikantin), Kristin Kopf (@Schplock) und Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch). Das Sprachlog ist über lange Jahre einer der Anlaufpunkte, wenn es um aktuelle Debatten geht, die linguistischer Beschreibungs- und auch Bewertungskompetenz bedürfen – die Autor­/inn/en sind also um den Transfer linguistischer Expertise in die öffentliche Debatte bemüht (gewesen): Heute sind die drei Autor/inn/en nicht mehr so produktiv wie noch vor wenigen Jahren, aber das Sprachlog hat u.a. mit Publikation und Ver-



Partizipationswunsch oder Prokrastinationsverdacht? 

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breitung der Ergebnisse der Wahl des „Anglizismus des Jahres“ in der deutschsprachigen Community an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit immer noch einen bemerkenswerten Stellenwert. Auch das linguistische SprAACHENblog – initiiert und getragen von Jochen A. Bär und Thomas Niehr – wendet(e) sich der Vermittlung zwischen Fachwissenschaft und Öffentlichkeit dezidiert zu. Exemplarisch kann dafür die „Aachener Erklärung zur Rolle der Sprachwissenschaft in der Öffentlichkeit in der Gesellschaft“ von 2013 sein, die in zwei Untertiteln zum einen einen Aspekt der Selbst- und Fremdwahrnehmung – „Alternativen zum Elfenbeinturm“ – aufruft, zum anderen eine Willensbekundung ausgibt: „Linguistik will stärker in die Öffentlichkeit hineinwirken“. Dieses „Hineinwirken“ stellt man sich in der Erklärung folgendermaßen vor: Die Sprachwissenschaft sollte neue Wege gehen, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Verstärkt genutzt werden könnten Blogs, Foren und Soziale Netzwerke. In diesem Sinne haben wir im Anschluss an unsere Aachener Tagung ein linguistisches Weblog eingerichtet […], in dem sprachwissenschaftliche Themen in allgemein verständlicher Form behandelt werden und in dem Interessierte mitdiskutieren können. (https://spraachenblog.wordpress.com/ 2013/03/08/386/, Stand: 8.3.2019; Hervorhebung von mir, A.L.)

Die Autor/inn/en der Engelbart-Galaxis, des Sprachlogs und, da explizit wohl am deutlichsten, des SprAACHENblogs zielen auf den öffentlichen Diskurs und möchten an ihm teilhaben. Sie gehen bei ihren Publikationsvorhaben auch von den Prämissen aus, die ich einleitend kurz erwähnte: Zum einen, dass es für linguistische Gegenstände eine interessierte Öffentlichkeit und eine interessierte Fachöffentlichkeit gibt, die zum zweiten Wissenschaftskommunikation via Blogs als relevant einordnet. Weder das eine noch das andere sind als gegeben vorauszusetzen, besonders die unhinterfragte Annahme des zweiten Punktes wird noch zu thematisieren sein. Die kritische Reflexion über das eigentliche Zielpublikum und dessen Interessen und Bedarfe ist für Fachwissenschaftler/innen eine Herausforderung, da, strenggenommen und überspitzt formuliert, allein öffentliche Sprachkritik (meint die Einlassungen über „Sprachverfall“ und „Sprachregelung“ in allen möglichen Facetten), „Etymologie“ und „Dialektologie“ immer auf öffentliches Interesse stoßen. Man muss sich als Fachwissenschaftler/in also fragen, ob man dieses Interesse auch bedienen will und kann. Weiterhin mag man bemerken, dass das bisweilen zu Grunde liegende Kommunikationsmodell für monodirektionalen Transfer von Wissenschaft in Öffentlichkeit – besonders beim SprAACHENblog wird das offensichtlich – einem einfachen und mechanistischen Sender-Empfänger-Modell zu entsprechen scheint, das nicht vordergründig auf die für „Soziale Medien“ charakteristische Dialogizität ausgerichtet ist und konzeptionell eher der massenmedialen Distribution von Information gleicht – dafür sind Blogs aber nicht die ideale Plattform.

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Beide Punkte, das Was und das Wie des Transfers von linguistischer Expertise in eine interessierte Öffentlichkeit, setzen Verständigung, genaue Planung und Explizitheit bzgl. der Kommunikationsbedingungen voraus. Es muss immer wieder deutlich werden, dass mit einem Medienwechsel zwingend eigene Kommunikations- und Publikationsgewohnheiten und -sicherheiten neu verhandelt werden. Unterbleibt dies, wird man den sich verändernden und sehr spezifischen Kommunikationsbedingungen und Aufmerksamkeitsökonomien eines (Micro-)Blogs nicht gerecht. Alle Merkmale, die Blogartikel auszeichnen, werden in der Diskussion in der Fachöffentlichkeit außerdem auch kritisch diskutiert. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass selbst bei der Etablierung von sprachlichen Gegenständen das Phantasma des stabilen Textes (implizit) immer noch dominant ist, z.B. im Bereich der Textlinguistik: Selbst neuere Ansätze zur Textanalyse […] konzentrieren sich auf gestaltstabile, linear organisierte Schrifttexte. Viele Kategorien zur Textanalyse […] setzen implizit voraus, dass Texte eine stabile Gestalt haben und linear organisiert sind, d.h. in einer eindeutig identifizierbaren Abfolge vom Textanfang zum Textende führen. (Storrer 2019, S. 221; Hervorhebung von mir, A.L.)

Blogartikel sind – greifen wir auf die Merkmale der Blogkommunikation zurück – durch Aktualität, Hybridität und Volatilität sowie besondere (digitale) Medialität ausgezeichnet. Blogartikel, die diese Merkmale tragen, müssen vor dem Hintergrund der Vorstellung von einem Text als stabiler Gestalt als defizitär erscheinen, zumal wenn man mitbedenkt, dass Blogs und Blogartikel in der Regel keiner Qualitätskontrolle unterliegen und alles andere als stabil im Sinne archivalischer Nachhaltigkeit sind. Ausgehend von dieser Vorstellung können Texte auf Blogs für Wissenschaftskommunikation als nicht adäquat erscheinen – das fällt besonders dann ins Gewicht, wenn von einem der beiden nicht vereinbarenden Sichtpunkte aus die Relevanz von hybriden, digitalen Texten für die akademische Qualifikation ins Spiel gebracht wird und der Prokrastinationsverdacht im Raume steht bzw. ausgesprochen wird. Dass es diese zwei unvereinbaren Perspektiven im Fach gibt, zeigt zweierlei an, nämlich, dass sich möglicherweise erstens Publikationspraxen ändern und die hierarchischen Ordnungen von Wissensexploration und -dokumentation sowie -transfer im Zuge der Digitalisierung in Frage gestellt werden. Zweitens zeigt sich aber auch, dass Vertreter/innen der beiden Sichtweisen auf Blogkommunikation ihre Grundannahmen nicht (immer) offenlegen und verhandeln. Das sollten sie aber tun, um deutlich herauszustellen, dass z.B. nur unter Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit der Blogkommunikation Bewertungshandlungen bspw. in aktuellen Debatten überhaupt erst durch Blogs in der Breite möglich werden.



Partizipationswunsch oder Prokrastinationsverdacht? 

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3  Quo Vadis? Blogs als Ermöglichungsräume für kollaboratives Arbeiten In einem erst kürzlich erschienenen Beitrag von Philipp Schrögel (@schroep) und Christian Humm (@cml_net) sowie Susanne Rauscher wird unter dem Titel „Wissenschaft für alle?! Zehn Erkenntnisse zur Ansprache neuer Zielgruppen“ (https://www.wissenschaftskommunikation.de/wissenschaft-fuer-alle-zehnerkenntnisse-zur-ansprache-neuer-zielgruppen-25287/, Stand: 27.5.2019) der aktuelle Ergebnisstand des fast gleichnamigen Projektes „Wissenschaft für alle“, das vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Wissenschaft im Dialog und der Robert Bosch Stiftung getragen wird, diskutiert. Im Grunde formulieren sie zehn knappe Imperative (um nicht zu sagen, Gebote), wie Wissenschaftskommunikation mittels Blogs gelingen kann; implizit verhandeln die Autor/inn/en damit die spezifischen Kommunikationsbedingungen von Blogkommunikation. Hier – in Fazit und Ausblick – diskutiere ich diese Imperative und setze sie abschließend noch einmal in Bezug zur Argumentation des Artikels. 1) „Vor dem Machen erst mal zuhören: Es gilt, die Wünsche und Werte der Zielgruppe zu erfahren und auch zu respektieren“. Ist Reichweitenvergrößerung und Austausch mit einer interessierten (Fach-)Öffentlichkeit eher ein nachgeordnetes Ziel, kann man mit Gleichgesinnten zu fachspezifischen Themen immer in Kontakt kommen. Will man aber mit einem Wissenschaftsblog die Schnittstelle zur Öffentlichkeit bedienen, kann man diesen Imperativ nicht in Handlung übersetzen, wenn das einem Blog zugrundeliegende Kommunikationskonzept ein mono­direktionales Transfermodell ist. Es ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: Man unterwirft sich den Aufmerksamkeitsökonomien und Interessen der Sozialen Medien und setzt sich auf einem Blog – wie schon überspitzt gesagt – vornehmlich mit Areallinguistik, Etymologie und Sprachkritik thematisch auseinander. Das liegt nicht allen. Alternativ kann man ein Thema auch entwickeln – als Beispiel kann ich aus eigener Erfahrung die Barrierefreie Kommunikation nennen, mit der ich mich, beinahe ausschließlich, im Rahmen von Blogkommunikation und in der akademischen Lehre auseinandersetze und kleinere Studien vorantreibe (vgl. exemplarisch: https://lingdrafts.hypotheses.org/396, Stand: 27.5.2019). An der Schnittstelle zur Öffentlichkeit hat auch der zweite Imperativ besondere Relevanz: 2) „Distanz abbauen: Akademische Sprache, eine herablassende Haltung, ein Fokus auf formelle Vorbildung und vermeintliche Selbstverständlichkeiten können abschreckend wirken.“ Der angesprochene Superioritätsgestus ist eng mit dem ersten Punkt verbunden – folgt man einem monodirektionalen Transfer, werden die Rezipient/inn/en und deren Bedürfnisse nicht sichtbar: 3) „Alltags­relevanz als Zugang: Dies können sowohl eine Anwendbarkeit von wissenschaftlichen Erkennt-

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 Alexander Lasch

nissen als auch andere Anknüpfungspunkte […] sein.“ Mit diesem Imperativ ist eine Themenwahl indirekt insofern verbunden, als damit Themen als anschlussfähig markiert werden, denen die Verzahnung von wissenschaftlicher Darstellung und direktem Anwendungsbezug eingeschrieben ist. Deshalb sollte man auch 4) „[d]orthin gehen, wo die Menschen sind: Zugängliche Orte und Kommunikationswege nutzen, mit denen die Gruppen vertraut sind und die Teil ihrer Lebenswelt sind“. Schließlich geht 5) „[n]ichts […] ohne Kooperationen“ (vgl. grundsätzlich auch Gloning 2018). Das ist im akademischen Kontext nur auf den ersten Blick eine Herausforderung. Zum einen ergeben sich Kooperationsmöglichkeiten z.B. mit kulturvermittelnden Institutionen. Zum anderen bewegen wir uns alle im Kontext von Bildung und Vermittlung. Wir unterrichten selbst und lehren zukünftige Lehrer/innen; die akademische Lehre ist unser praxisnaher Ort. Allerdings: 6) „[…] Partizipation ist voraussetzungsreich, Angebote mit einem konkreten Bezug und didaktisch aufbereiteten Themenzugängen bieten einen Einstieg.“ Zusammenarbeit ist das eigentliche Ziel. Auf dem Microblog Twitter steht der Hashtag #twitterlehrerzimmer bspw. in besonderem Maße für eine sich entwickelnde Kultur des Miteinanders, die auch Antworten auf die folgende Frage bietet: 7) „Wie können interessierte Kooperationspartnerinnen und -partner profitieren? Es ist entscheidend, sie nicht nur als Dienstleister zu sehen, sondern ihre Ressourcen, ihre eigenen Anliegen und ihren möglichen Nutzen bei einer Kooperation zu berücksichtigen.“ Wie überall in den Sozialen Medien gilt, dass 8) „[e]inmalige Aktivitäten [nur] wenig erfolgversprechend [sind]. […] Es gilt, langfristige Perspektiven zu entwickeln“. Auch in diesem Punkt ist die Entscheidung zur Zusammenarbeit wesentliche Voraussetzung und gleichzeitig Ziel einer Einstellungsentwicklung im akademischen und schulischen Kontext – die besten digitalen Werkzeuge nützen nichts, wenn damit eingeübte Arbeitspraxen lediglich von einem analogen in ein digitales Medium übersetzt werden. 9) Für langfristige Perspektiven ist die Bereitschaft notwendig, ein Projekt zu übernehmen, hineinzuwachsen und auch wieder weiterzugeben (vgl. Muuß-Merholz 2018). Das setzt voraus, dass man Hybridität, Volatilität und Vorläufigkeit gemeinsamer Projektergebnisse als charakteristisch anerkennt – dann ist auch die adäquate Beurteilung des Status’ von Blogkommunikation abgesichert. 10) „Zum Schluss ein wichtiger Rat: Geduld haben! Es gibt häufig Kritik von verschiedenen Seiten, die selten konstruktiv und wohlmeinend klingt. Wir möchten dazu ermutigen, trotzdem dran zu bleiben, auch hinter polemischen Kommentaren können manchmal hilfreiche Hinweise stecken.“ Einigte man sich darauf, Blogartikel als das zu nehmen, was sie sind – volatile, hybride und vorläufige Werkstattergebnisse im Licht der Öffentlichkeit –, und befreite man sie damit von überzogenen Ansprüchen (Qualität, Stabilität, Transferleistung, Qualifikationsadäquatheit), dann würde eine Chance bestehen, eine Umgebung für kollaboratives Arbeiten etablieren zu können, die als solche anerkannt ist.



Partizipationswunsch oder Prokrastinationsverdacht? 

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Genau das ist auch die Kernidee hinter lingdrafts (Linguistische Werkstatt­ berichte, https://lingdrafts.hypotheses.org/, Stand: 27.5.2019). Hier soll der Ermöglichungsraum von Blogkommunikation ausgestellt werden, indem mit verschiedenen Darstellungsmodi experimentiert wird und die auf dem Blog entstehenden Artikel in ihrer Vorläufigkeit und Hybridität markiert werden, die z.T. ihrer Aktualität geschuldet sind. Ein illustratives Beispiel für das Ineinandergreifen dieser Aspekte ist der kollaborative Bericht zur Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (https://lingdrafts.hypotheses.org/512, Stand: 25.5.019), der parallel zur Tagung durch die Zusammenarbeit verschiedener Autor/inn/en mittels eines webbasierten Text­editors zur kollaborativen Bearbeitung von Texten (https://piratenpad.de/p/IDS2019/timeslider#0, Stand: 25.5.2019) entstand und sich dort in seiner Genese noch Schritt für Schritt nachvollziehen lässt. Ergänzt wird der Bericht durch Vernetzungsvisualisierungen der Kommunikation auf dem Microblog Twitter:

Abb. 1: Twitterinnen-Netzwerk zum Hashtag #IDSJT19; (c) Mark Dang-Anh (https://twitter.com/ mdanganh)

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 Alexander Lasch

Ein weiterer konkreter Anwendungsfall, in dem wir heute von einer solchen Publikationsplattform profitieren könnten, ist die semantische Annotation von Sprachdaten für die linguistische Analyse. Die automatischen Entscheidungsalgorithmen, die im öffentlichen Diskurs als ‚Künstliche Intelligenz‘ (KI) verhandelt werden, sind heute nicht in der Lage, eine semantische Annotation von Sprachdaten vorzunehmen und sie werden es auch in den nächsten Jahren nicht sein. Dafür ist die Zusammenarbeit von linguistisch geschulten Sprachnutzer/inne/n notwendig: Schöch (2017) betont in diesem Zusammenhang das Crowdsourcing als Methode und Kohle (2017) reflektiert über Nano-Publikationen (z.B. die formale und semantische Annotation von „Nano-Publikationen“ wäre eine solche) im Netz und beide fordern dazu auf, alternative Formen der Wissensexploration und deren Dokumentation zu fördern. Dazu könnten Blogs als offene Werkstätten nützlich sein. Wissenschaft wäre in der Öffentlichkeit präsent, wir zeigten uns, indem wir die eigene Arbeit sichtbar ausstellen, ohne intentional auf einen Transfer in eine Öffentlichkeit zielen zu müssen – Blogs können dann als Erprobungsorte und Ermöglichungsräume für das eigene Schreiben, Ideenentwicklung und den gemeinsamen Austausch und die Förderung von Projekten dienen, Forschung und Lehre verzahnen, Wissenschaft und interessierte Öffentlichkeit zueinander bringen und bei der Identifikation neuer Themenstellungen, die sich aus der Kollaboration entwickeln, helfen. Blogkommunikation auf den Kontext des Transfers linguistischen Wissens in die Öffentlichkeit zu beschränken bzw. sie nur daran zu messen, ob sie traditionellen wissenschaftlichen Publikationsformen adäquat sei, heißt, eines der hilfreichsten Werkzeuge für kollaboratives Arbeiten nicht in seiner Eigengesetzlichkeit zu erkennen, anzuerkennen und schließlich nutzen zu können.

Literatur Beißwenger, Michael (Hg.) (2017): Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation. (= Empirische Linguistik/Empirical Linguistics 9). Berlin/Boston. Gloning, Thomas (2018): Forschungsinfrastrukturen und Informationssysteme im Zeichen der Digitalisierung: Aspekte der Kollaboration und der Nutzer-Einbindung. In: Lobin, Henning/ Schneider, Roman/Witt, Andreas (Hg.): Digitale Infrastrukturen für die germanistische Forschung. (= Germanistische Sprachwissenschaft um 2020 6). Berlin/Boston, S. 11–31. Jannidis, Fotis/Kohle, Hubertus/Rehbein, Malte (Hg.) (2017): Digital Humanities. Eine Einführung. Stuttgart. Kohle, Hubertus (2017): Digitales Publizieren. In: Jannidis/Kohle/Rehbein (Hg.), S. 199–205. Marx, Konstanze (2019): Internetlinguistik. (= Literaturhinweise zur Linguistik 10). Heidelberg. Muuß-Merholz, Jöran (2018): Freie Unterrichtsmaterialien finden, rechtssicher einsetzen, selbst machen und teilen. Alles über Open Educational Resources. Weinheim.



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Schöch, Christof (2017): Digitale Wissensproduktion. In: Jannidis/Kohle/Rehbein (Hg.), S. 206–212. Storrer, Angelika (2019): Text und Interaktion im Internet. In: Eichinger, Ludwig M./Plewnia, Albrecht (Hg.): Neues vom heutigen Deutsch. Empirisch – methodisch – theoretisch. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2018). Berlin/Boston, S. 221–244.

Eva Gredel (Mannheim)

Digitale Diskursanalysen: Das Beispiel Wikipedia Abstract: Texte aus Sozialen Medien finden in linguistischen Diskursanalysen bisher noch wenig Berücksichtigung. Viele Diskursanalysen konzentrieren sich auf Zeitungstexte als Untersuchungsgegenstände. Dieser Beitrag unterbreitet einen Vorschlag zur Überwindung dieses Newspaper Bias, um das Programm und das Methodeninventar der Diskurslinguistik am Beispiel der Wikipedia hin zu digitalen Diskursanalysen zu erweitern. Neben den besonderen Eigenschaften digitaler Diskurse wird die Bedeutung digitaler Objekte (v.a. Links) in den Diskursfragmenten der Wikipedia thematisiert. Zuletzt wird ein Analysemodell präsentiert, das einen umfassenden Rahmen für die Untersuchung von digitalen Diskursen bietet.

1  Einführung Deutlich wurde in den letzten Jahren, dass sich die Einschätzung des Internets und der Sozialen Medien grundlegend gewandelt hat. Die Auffassung des Internets als virtuelle und relativ isolierte Welt der 1990er Jahre wurde in den 2000er Jahren durch das Bild des Resonanzraums sozialer Realitäten abgelöst (Rogers 2013, S. 19). Zuletzt hat sich die Haltung verbreitet, dass in digitalen Diskursen durch die Interaktion vieler Akteure soziale Wirklichkeiten konstruiert und verändert werden. Dies gilt insbesondere auch für politische Diskurse, weshalb im Folgenden ein Beispiel aus der Europapolitik (konkret zum sogenannten Grexit) aufgegriffen wird. Für das Forschungsfeld der Diskurslinguistik bedeutet die Relevanz digitaler Diskurse, dass bisherige Forschungspraktiken und Schwerpunkte unter neuen Vorzeichen diskutiert werden müssen. Digitale Texte aus Sozialen Medien sind zu berücksichtigen, wenn es darum geht, gesamtgesellschaftlich geführte Diskurse zu analysieren. Bisher lässt sich aber ein Newspaper Bias der Diskurslinguistik feststellen: Die Mehrzahl der linguistischen Diskursanalysen arbeitet […] mit Zeitungskorpora bzw. Textsammlungen aus politischen Journalen, manchmal auch mit Zeitschriftenbeiträgen. Diese Konzentration auf vor allem journalistische Genres reduziert die Breite von Diskursdaten meines Erachtens in problematischer Weise. (Warnke 2013, S. 191)

https://doi.org/10.1515/9783110679885-013

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 Eva Gredel

Zur Überwindung des Newspaper Bias folgt der Beitrag den folgenden Fragestellungen: –– Warum eignet sich Wikipedia als (diskurs)linguistischer Untersuchungs­ gegenstand? (Kap. 2) –– Wie sehen digitale Diskursfragmente in Wikipedia aus und welche Rolle spielen dabei genuin digitale Daten (z.B. Links)? (Kap. 3) –– Welche Eigenschaften zeichnen digitale Diskurse aus? (Kap. 4) –– Welche Analyseebenen müssen in diskurslinguistischen Modellen berücksichtigt werden, um digitale Diskurse angemessen untersuchen zu können? (Kap. 5)

2  Wikipedia als Untersuchungsgegenstand Wikipedia zeichnet sich weltweit durch ihre hohe Relevanz als digitale Plattform aus, was sie zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand macht: Im AlexaRanking, das die weltweite Relevanz von Internetseiten u.a. über Seitenaufrufe der Nutzer/innen misst, steht Wikipedia auf der Rangliste der wichtigsten Internetseiten auf Platz 5 – direkt nach Internetseiten wie Google, YouTube, Facebook und der chinesischen Suchmaschine Baidu (Alexa 2019). Auch die Reichweite der Wikipedia mit ihren 295 Sprachversionen spricht für deren Nutzung als linguistischer Untersuchungsgegenstand. Das Spektrum der in Wikipedia verhandelten Themen zeigt sich an der Zahl der Einträge, die sich aktuell auf 49,3 Mio. beläuft. Mit rund 2,66 Mio. registrierten Autor/innen ist die Wikipedia-Gemeinschaft eine der größten Online-Gemeinschaften weltweit (Wikimedia 2018). Die Mehrzahl dieser Autor/innen verfolgt dabei das Ziel, zum Projekt einer kollaborativ erstellten Online-Enzyklopädie konstruktiv beizutragen. Der zielgerichtete Austausch der Autor/innen über die enzyklopädischen Inhalte vollzieht sich in eigens dafür vorgesehenen Bereichen der Wikipedia. Vielen Nutzer/innen bleibt der Charakter der Wikipedia als soziale Plattform allerdings verborgen, da sie diese Bereiche nicht kennen und den enzyklopädischen Kern der Wikipedia isoliert rezipieren. Deshalb soll der Aufbau der Wikipedia in Kapitel 3 thematisiert werden. Die Wikipedia bietet sich als Untersuchungsgegenstand auch an, da sie bei rechtlichen, ethischen und forschungspraktischen Aspekten Vorzüge bietet, die Wissenschaftler/innen bei der Analyse anderer Plattformen zunächst einmal vor große Herausforderungen stellen: Alle Autor/innen der Wikipedia veröffentlichen ihre Texte unter freien Lizenzen (Creative Commons-Lizenzen), die die Nachnutzung der Texte auch für die Wissenschaft rechtlich ermöglichen. Daraus ergeben sich auch für ethische Aspekte der Forschung Konsequenzen: Wikipedia-Autor­/



Digitale Diskursanalysen: Das Beispiel Wikipedia 

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innen müssen den wissenschaftlichen Inhaltsanalysen ihrer Beiträge nicht gesondert zustimmen (Wikipedia 2019a). Der Wille der Wikipedia-Gemeinschaft, die Wikipedia-Texte zur Nachnutzung zur Verfügung zu stellen, geht sogar so weit, dass die Inhalte der Wikipedia über sog. Dumps zum massenhaften Download zur Verfügung gestellt werden, was ein günstiger Ausgangspunkt für die Korpuserstellung ist. Diese Vorzüge haben dazu geführt, dass die Wikipedia in den Fokus (sprach-) wissenschaftlicher Forschung gelangt ist. Es hat sich ein eigenes Forschungsfeld unter dem Titel Wikipedistik herausgebildet, das „die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Wikipedia im Speziellen und mit Wikis im Allgemeinen beschreibt“ (Wiktionary 2019). Für den Teilbereich der „Linguistischen Wikipedistik“ (vgl. Gredel/Herzberg/Storrer 2018) zeigt sich, dass Wikipedia in verschiedenen Teildisziplinen der Linguistik als digitaler Untersuchungsgegenstand genutzt wird – u.a. in der Text- und Interaktionslinguistik1, in der Lexikografie2 sowie in der Grammatik3. Für diesen Beitrag sind die folgenden drei disziplinären Perspektiven von besonderer Bedeutung: Zum einen sind dies sprach- und medien­ wissenschaftliche Diskursanalysen4, die die transtextuelle Verbreitung von sprachlichen Mustern in digitalen Diskursen der Wikipedia analysieren. Zum anderen sind dies die Arbeiten im Bereich des Sprachvergleichs, die die verschiedenen Sprachversionen kontrastieren.5 Und nicht zuletzt sind dies auch Untersuchungen, die die multimodale Dimension der Wikipedia fokussieren.6 Bei der Zusammenschau der methodischen Arbeiten im Forschungsfeld wird deutlich, dass sich zwei Zugänge zur Wikipedia besonders anbieten (vgl. Gredel 2018b). Dies ist zum einen der korpuslinguistische Zugang, der über die WikipediaKorpora des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) eröffnet wird.7 Dort sind neben den Artikelseiten der Wikipedia auch die Artikel-, Nutzer- sowie Redundanzdiskussionen zugänglich (IDS 2019). Zusätzlich zu den deutschen Korpora sind Wikipedia-Texte in weiteren neun Sprachen über COSMAS II für sprachübergreifende Analysen verfügbar. Zudem ergänzen digitale Methoden die Möglichkeiten, die korpuslinguistische Verfahren zur Analyse der Wikipedia bieten. Digitale Methoden operieren direkt auf den „born digital“ Daten der Wikipedia und bieten zusätzlich interessante

1 Kallass (2015); Beißwenger (2016); Storrer (2019) 2 Cölfen (2012); Mederake (2016); Gredel (2019a) 3 Dalmas/Fabricius-Hansen/Schwinn (Hg.) (2016) 4 Pentzold (2007); Beyersdorff (2011); Arendt/Dreesen (2015); Gredel (2017) 5 Rogers (2013); Gredel (2018a) 6 Hammwöhner (2013); Wessler et al. (2017); Gredel (2019b) 7 Margaretha/Lüngen (2014)

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Optionen der Auswertung, indem sie etwa den Zugriff auf die multimodale Dimension der Wikipedia eröffnen. Digitale Methoden gehören zum Methodenspektrum der Sozial- und Medienwissenschaften und sind dadurch charakterisiert, dass sie sich weniger an den sprachlichen Formen als an der Logik des Mediums orientieren. Mittlerweile existieren zahlreiche Tools, die den Prinzipien der Digital Methods folgen und auf Wikipedia-Daten operieren.8

3  Digitale Diskursfragmente in Wikipedia: Links als digitale Objekte zur Strukturierung von Diskursfragmenten Zwei der gerade beschriebenen Tools geben Aufschluss darüber, durch welche Metadaten sich das Diskursfragment Grexit auszeichnet, das hier als Fallbeispiel dient: Erstellt wurde die Artikelseite am 15.5.2012; sie hat bis zum Februar 2019 insgesamt 811 Bearbeitungen erfahren und wurde von 252 Autor/innen (darunter zehn Bots als maschinelle Akteure) bearbeitet (Xtools 2019a). Die korrespondierende und hypertextuell verlinkte Diskussionsseite wurde am 4.1.2015 initiiert und hat seither 420 Bearbeitungen durch 48 Autor/innen (darunter vier Bots) erfahren (Xtools 2019b). Insgesamt ist das Lemma Grexit der deutschen Sprachversion über die Interlanguage-Links mit thematisch passenden Beiträgen in 30 anderen Sprachversionen verlinkt. Zusätzlich finden sich im Fließtext des Wikipedia-Eintrags Grexit 70 Wikipedia-interne Links, die auf andere Wikipedia-Seiten verweisen (Wikipedia 2019b). Hypertexte befördern mit der Möglichkeit, Links zu setzen, die selektive Rezeption der Inhalte, sodass Nutzer/innen je nach Interesse selbst entscheiden können, welche Inhalte sie wann abrufen möchten. Für den Charakter digitaler Diskursfragmente in Wikipedia sind neben den Inhaltlinks auch Strukturlinks bedeutsam. In der horizontalen Navigationsleiste finden sich neben dem Reiter Artikel (Abb. 1, A) auch der Reiter Diskussion (Abb. 1, B) und Versionsgeschichte (Abb. 1, C), die über Links den Zugang zu diesen Bereichen eröffnen. Auf den Diskussionsseiten tauschen sich Wikipedia-Autoren zu den enzyklopädischen Inhalten aus und die Versionsgeschichte verzeichnet alle früheren Versionen eines Wikipedia-Eintrags. Auf der vertikalen Navigationsleiste bietet die Wikipedia über

8 Das Wiki „Linguistische Wikipedistik“ (2019) dokumentiert mehr als 30 Wikipedia-spezifische Tools.



Digitale Diskursanalysen: Das Beispiel Wikipedia 

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die Interlanguage-Links (Abb. 1, D) die Option, thematisch zum Artikel Grexit passende Einträge in anderen Sprachen aufzurufen, was die multilinguale Dimension der Wikipedia konstituiert. Wie deutlich werden sollte, eröffnen Links Pfade zu Bereichen, die weit über die von vielen Internetnutzern/innen isoliert rezipierten Artikelseiten hinausgehen.

Abb. 1: Screenshot des Wikipedia-Eintrags Grexit (Wikipedia 2019b)

Verfolgt man den Strukturlink zur Versionsgeschichte im Diskursfragment Grexit nach, erhält man zunächst eine Liste mit 811 Versionen. Standardmäßig werden diese in der sogenannten Diff-Ansicht paarweise in zwei Spalten gegenübergestellt. Der Kopf der Diff-Ansicht gibt Aufschluss darüber, wann die Version erstellt wurde und von wem. Im hier exemplarisch betrachteten Versionsunterschied wurde die ältere Version am 30.3.2015 um 20:36 Uhr vom Wikipedia-Autor Neun-X erstellt, die neuere Version von Autor Phi am selben Tag um 20:47 Uhr (Wikipedia 2019c). In dieser Diff-Ansicht ist markiert, was im Artikel verändert wurde: Phi hat die von Neun-X eingefügten Absätze wieder aus dem Artikel gelöscht. Bei den entfernten Absätzen handelt es sich um mehrere tagesaktuelle Entwicklungen zum Grexit, deren Aktualität Neun-X jeweils sprachlich durch eine genaue Datumsangabe markiert: „Griechenland muss am 9. April einen Kredit über etwa 450 Millionen Euro an den Internationalen Währungsfonds zurückzahlen“ (Wikipedia 2019c). Als Beleg dafür integriert er einen Link zu einem Zeitungsartikel vom selben Tag. Phi löscht

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die eingefügten Absätze nur wenige Minuten später und legitimiert diese Bearbeitung des Wikipedia-Eintrags in der Kommentarzeile, in der die vorgenommenen Bearbeitungen zusammengefasst werden können, folgendermaßen: „revert. Kein Konsens zu dieser Newstickeritis, siehe Disku“ (Wikipedia 2019c). Es handelt sich um sehr komplexe Angaben, die Elemente der Wikipediatypischen Werkstattsprache enthalten. Ein Revert etwa ist das „Wiederherstellen der alten Fassung eines Artikels in einem Wiki“ (Wikipedia 2019d). Konkret bedeutet dies, dass eine ältere Version des Artikels wieder zur aktuellen gemacht wird. Dazwischen liegende Versionen – hier die von Neun-X bearbeitete Version – wird gelöscht und sein Text ist somit im zugehörigen Wikipedia-Eintrag nicht mehr vorhanden. Mit dem Wortbildungsprodukt Newstickeritis begründet Phi diesen Revert. Gemeinsprachliche itis-Kombinationen wie Newstickeritis dienen der Wikipedia-Gemeinschaft zur verbalen Sanktionierung und Normierung nicht regelkonformer Beiträge zur Online-Enzyklopädie (Gredel 2018c, S. 66). Bei Newstickeritis geht es konkret darum, dass bei aktuellen Ereignissen die technischen Möglichkeiten des Wikis nicht dazu genutzt werden sollen, die Online-Enzyklopädie wie einen Newsticker zu bedienen: Sie soll nicht ständig aktualisiert werden, noch bevor Ereignisse gemäß der online-enzyklopädischen Regeln verifiziert werden konnten. Zuletzt verweist Phi mit siehe Disku auf eine aktuell durchgeführte Kontroverse auf der Diskussionsseite. Verfolgt man diesen Hinweis nach, wird bei der Durchsicht der archivierten Diskussionsseite schnell deutlich, dass Phi recht hat: Das Einarbeiten tagesaktueller Diskursäußerungen aus medialen Diskursen – konkret aus Zeitungsdiskursen – zu den Grexit-Ereignissen ab dem Dezember 2014 bis zum Frühjahr 2015 wird hier besonders kontrovers verhandelt. Deutlich wird in der Diskussion dort, dass Neun-X das Löschen seiner Textbausteine sowie den Vorwurf der Newstickeritis nicht hinnimmt. Nach einer Textpassage zu den Gründen, warum seine Textbausteine in den Wikipedia-Eintrag passen, fasst er kurz nach der Löschung der Textteile durch Phi auf der Diskussionsseite zusammen: „Kurzum: ich empfinde es in diesem Fall als persönlichen Angriff und sachlich ungerechtfertigt, wenn mir hier Newstickeritis unterstellt wird“ (Wikipedia 2019e). Andere Wikipedia-Autor/innen reagieren sehr schnell und überwiegend negativ auf Neun-X. Insbesondere Phi führt noch einmal explizit und umfangreicher als in der Kommentarzeile der Versionsgeschichte aus, warum er den Beitrag von Neun-X für nicht regelkonform hält und diesen gelöscht hat. In der Folge bleibt es auch bei der von Phi durchgeführten Löschung. Über den Link, der der digitalen Signatur von Phi auf der Diskussionsseite hinterlegt ist, lassen sich Informationen zu diesem Diskursakteur eruieren, der sich im vorgestellten Beispiel mit seinen Bearbeitungen durchsetzt: Dort finden sich neben Angaben zu Alter, Beruf und Wohnort von Phi auch die Ausführungen zu seinen zahlreichen Beiträgen in digitalen Diskursen der Wikipedia, mit denen er sich als verdienter Wikipedia-Autor



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inszeniert (vgl. Wikipedia 2019f). Die Benutzerseiten eröffnen somit eine akteurs­ orientierte Perspektive auf digitale Diskurse. Verlinkt zu dieser Benutzerseite ist über den Reiter Diskussion die Benutzerdiskussionsseite. Dort verhandelt die Wikipedia-Gemeinschaft die Beiträge des jeweiligen Autors zum Projekt. Eine beliebte Möglichkeit, engagierte Autor/innen auszuzeichnen, sind digitale Orden und Preise, die auf den Benutzerdiskussionsseiten verliehen werden. Phi hat im Juli 2016 die Auszeichnung „Held der Wikipedia erster Klasse“ erhalten, was ebenfalls dessen starke Position im digitalen Diskurs der Wikipedia belegt. Bei der Beschreibung digitaler Diskursfragmente ist nun noch der Metabereich zu ergänzen, der etwa über Grundprinzipien und Richtlinien maßgeblich beeinflusst, was in digitalen Diskursen der Wikipedia erlaubt ist. Eine häufig auf Diskussionsseiten zitierte und verlinkte Seite des Metabereichs ist etwa die unter dem Titel „Was Wikipedia nicht ist“ (Wikipedia 2019g). Hier werden die onlineenzyklopädischen Texte der Wikipedia gegenüber anderen Textsorten (z.B. Sprachwörterbüchern und wissenschaftlichen Texten) abgegrenzt: Unter Ziffer zwei geht es um den Begriff Theoriefindung, der der Wikipedia-spezifischen Werkstattsprache zuzuordnen ist. Wikipedia-Autor/innen sollen in Wikipedia nicht wie Wissenschaft­ ler/innen neue Theorien oder Modelle erarbeiten, sondern auf bereits vorhandene zugreifen. Aus dieser Richtlinie leitet sich auch ab, dass Aussagen durch intertextuelle Verweise auf geeignete Quellen belegt werden müssen. Zudem wird Wikipedia gegenüber Newstickern abgegrenzt, was bereits im Beispiel oben eine große Rolle gespielt hat. Wie in diesem Metabereich der Wikipedia deutlich wird, hat sich im Zusammenhang mit den kollaborativen Schreibprozessen eine Werkstattsprache herausgebildet, die zum Verständnis diskursiver Aushandlungen sehr relevant ist. Um Außenstehende oder neue Wikipedia-Autor/innen an diese Werkstattsprache heranzuführen, dokumentiert die Gemeinschaft diese durch den Ausbau eines Glossars, in dem bspw. auch der Terminus Theoriefindung erläutert wird (Wikipedia 2019d). Die gerade präsentierten Zusammenhänge von Artikel- und Artikeldiskussion sowie der Versionsgeschichte zum Eintrag Grexit legen es nahe, all diese Bereiche in Diskursanalysen zu berücksichtigen: Stellen die Artikelseiten das Produkt diskursiver Aushandlung dar (Abb. 2, a), wird über die Interaktion der WikipediaAutor/innen auf den Diskussionsseiten der Prozess diskursiver Aushandlung deutlich (Abb. 2, b). Die Versionsgeschichte dokumentiert diskursive Dynamiken sowie Änderungen des Bildmaterials oder ganz allgemein der online-enzyklopädischen Inhalte (Abb. 2, c). Aus einer textlinguistischen Perspektive beschreiben Kohl/Metten (2006, S. 183) diese Einheit aus Artikel- und Diskussionsseite sowie Versionsgeschichte in Anlehnung an die Terminologie von Liebert (2002, S. 128) als Textverbund. Sie erläutern, dass Textverbünde in ihrer Gesamtheit berücksichtigt werden müssen, um Wissenskonstruktionsprozesse in Wikipedia adäquat ana-

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lysieren zu können. Mein Vorschlag aus einer diskurslinguistischen Perspektive geht weiter: Auch die Benutzerseiten (Abb. 2, d) und Benutzerdiskussionsseiten (Abb. 2e) sowie der Metabereich (Abb. 2 f) mit den Seiten zu Richtlinien und Prinzipien sind zu berücksichtigen.

Abb. 2: Schematische Darstellung eines digitalen Diskursfragments in Wikipedia. Eigene Darstellung

Nicht zu vernachlässigen sind bei der Beschreibung digitaler Diskursfragmente in Wikipedia auch externe Links (Abb. 2, g), die in Wikipedia etwa im Bereich der Einzelnachweise auf den Artikelseiten gesetzt werden und die diskursive Funktion haben, über die eingefügten intertextuellen Verweise getätigte Diskursäußerungen zu legitimieren. Diskursanalytisch relevant sind auch die Interwiki-Links zu Daten in anderen Schwesterprojekten. Exemplarisch sei hier Wikimedia Com­ mons (2019) genannt, das Bildmaterial unter freien Lizenzen bereitstellt (Abb. 2, h).



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Es hat sich gezeigt, dass Wikipedia eine sehr komplexe Ressource für Diskursanalysen darstellt. Die Komplexität ergibt sich über die durch Links erzeugte NonLinearität der digitalen Diskursfragmente.

4  Eigenschaften der Wikipedia Mit dem Begriff der Non-Linearität ist das erste Stichwort für die Thematisierung von fünf Eigenschaften der Wikipedia genannt, die in digitalen Diskursanalysen zu berücksichtigen sind. Neben der Non-Linearität sind dies vier weitere Eigenschaften: Die Wikipedia ist multilingual, multimodal, interaktiv und dynamisch.

4.1  Wikipedia – multilingual Aktivieren Nutzer/innen die Interlanguage-Links zum deutschen Eintrag Grexit, finden sich in der englischen und französischen Sprachversion die jeweils anders gelagerten Lemmata Greek withdrawal from the eurozone (Wikipedia 2019h) und Débats sur l‘exclusion de la Grèce de la zone euro (Wikipedia 2019i). Diese Lemmata verweisen auf Konvergenzen und Divergenzen der diskursiv etablierten Sprachmuster in den verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia. Die gewählten Lemmata sind jedoch in der diskursiven Aushandlung auf den jeweiligen Diskussionsseiten nicht unumstritten. Auf der Diskussionsseite der deutschen Sprachversion beurteilt ein Nutzer etwa die Artikelüberschrift als „falsche Überschrift“ (Wikipedia 2019j) und setzt in seiner Diskursäußerung zur Legitimation der Aussage über ein direktes Zitat einen intertextuellen Verweis auf das Lemma der englischen Sprachversion. Eine Antwort auf diese Aussage bleibt in der deutschen Sprachversion jedoch aus. Verfolgt man den Verweis auf die englische Sprachversion nach, wird auf der Diskussionsseite deutlich, dass das Lemma des englischen Eintrags dort kontrovers verhandelt wird. Ein Nutzer kritisiert den langen Titel des englischen Eintrags. Während er zunächst Zustimmung durch den Initiator des Eintrags erhält, schaltet sich kurz darauf ein dritter Wikipedia-Autor in die Interaktion ein, der ausführlich und metasprachlich begründet, warum Grexit durch den längeren Titel ersetzt wurde. In seiner metasprachlichen Argumentation charakterisiert er Grexit als slang neologisme, als ambigue und verweist auf den Wunsch nach der Einheitlichkeit des dominanten Diskursvokabulars (Wikipedia 2019k). Das Wortbildungsprodukt Grexit ist trotz dieser Kontroverse zugunsten des langen Lemmas im System der englischen Sprachversion der Wikipedia hinterlegt: Gibt man im Suchfenster der englischen Sprachversion Grexit ein, wird man über eine sog.

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Weiterleitung zum offiziellen Lemma geführt, was in der Wikipedia-spezifischen Werkstattsprache als redirect bezeichnet wird (Wikipedia 2019d). Diese technische Möglichkeit des Wikis erlaubt es, konkurrierendes Diskursvokabular etwa für Suchmaschinen verfügbar zu machen. Besonders dominant gesetzt wird jedoch dasjenige Diskursvokabular, das sich tatsächlich im Titel des Wikipedia-Eintrags wiederfindet. Hierzu gibt es häufig umfassende Kontroversen, da gerade dort Sachverhalte im digitalen Diskurs der Wikipedia perspektivisch konstituiert werden.

4.2  Wikipedia – multimodal, interaktiv und dynamisch Thema diskursiver Aushandlung auf der Diskussionsseite zum Lemma Grexit ist auch das in die Artikelseite integrierte Bildmaterial, das zur multimodalen Dimension der Wikipedia beiträgt. Zieht man das digitale Tool „Cross-lingual Image Analysis“ (DMI 2019) heran, werden über die diagrammatische Operation der Listenbildung die Unterschiede des Bildmaterials in den verschiedenen Sprachversionen transparent. Die deutsche Version weist im Februar 2019 lediglich eine Karte der Mitgliedsstaaten der Eurozone aus. In der französischen Sprachversion (Wikipedia 2019i) ist kein Bild zu finden und in der englischen Version findet sich eine Art Europa-Karte, auf der Domino-Steine dargestellt sind (Wikipedia 2019h). Dieses Bild soll im Folgenden näher betrachtet werden.

Abb. 3: Version des Wikipedia-Artikels Grexit vom 17.7.2015 (Wikipedia 2015)



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Untersucht man die Versionsgeschichte zum deutschen Lemma Grexit näher, wird deutlich, dass dieses Bild (siehe Abb. 3 oben) zeitweise auch in der deutschen Sprachversion vorzufinden ist. Zusammen mit der noch vorhandenen EurozonenKarte wurde das Domino-Stein-Bild im Juli 2015 eingefügt und mit einer Bildunterschrift versehen. Zum ersten Bild mit den Domino-Steinen heißt es dort: „a) Die Flaggen der 19 Mitgliedsländer der Eurozone (Stand Juni 2015)“ (Wikipedia 2015). Zur zweiten blau eingefärbten Karte heißt die Bildunterschrift: „b) Die Mitgliedsländer der Eurozone (Stand Juni 2015)“ (Wikipedia 2015). Diese Text-Bild-Kombinationen und letztendlich auch die Bild-Bild-Kombination, die über die Benennung in a) und b) einen Zusammenhang zwischen dem Bildmaterial suggeriert, bleibt einige Tage im deutschen Eintrag bestehen. Am 2.8.2015 wird das Bild mit den Domino-Steinen Gegenstand diskursiver Aushandlung auf der korrespondierenden Diskussionsseite (Wikipedia 2019e). Wikipedia-Autor ich901 hinterfragt die Angemessenheit und Relevanz des Bildes. Am Folgetag antwortet Autor Herbert81, der das Bild eingefügt hat, auf diese Frage. Er zeigt sich einsichtig und bezeichnet die Integration des Bildes als graphische Theoriefindung (Wikipedia 2019e). Mit diesem Argument, das die institutionelle Dimension der Wikipedia anspricht (vgl. die Ausführungen zu „Was Wikipedia nicht ist“), löscht Herbert81 selbst noch an diesem Tag das Bild aus dem deutschen Eintrag Grexit. Tatsächlich wird über das Bild an mediale Diskurse zum Grexit angeschlossen: Verronneau (2018) zeigt, dass sich die Metapher vom Domino-Effekt in Zeitungsartikeln zum Grexit als diskursive Einheit herausgebildet hat, um die Konsequenzen eines ungeordneten Austritts Griechenlands aus der Eurozone zu thematisieren. Die Metapher legt nahe, dass das Los eines einzigen Landes die ganze Euro-Zone gefährden kann. Dieser Gedanke drängt sich umso stärker auf, als die Dominotheorie mit dem benachbarten Konzept des Domino-Effekts erweitert wird, das an den Höhepunkt der Krise 2008 erinnert und bei manchen eine Reaktion der Panik hervorruft (Verronneau 2017, S. 243).

Das Beispiel führt vor, dass auch über die multimodale Dimension der Wikipedia – z.B. über multimodale Metaphern – an gesamtgesellschaftliche Diskurse angeschlossen wird. So können Bilder zur perspektivischen Sachverhaltskonstitution beitragen. Deutlich wurde auch, wie die enzyklopädischen Inhalte in der sozialen Interaktion der Autor/innen auf den Diskussionsseiten ausgehandelt werden. Durch die Aushandlungsprozesse ergeben sich diskursive Dynamiken in Wikipedia, die sich durch den Wandel von Bildinventaren, Text-Bild-Relationen (durch Bildunterschriften und begleitende Textpassagen) sowie Bild-Bild-Relationen manifestieren. In digitalen Diskursanalysen ist es somit wichtig, die Multimoda-

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lität, Interaktivität sowie Dynamik digitaler Diskurse zu beachten, um diese adäquat analysieren zu können.

5  Analysemodell für digitale Diskursanalysen

B. Institutionelle Ebene C. Transtextuelle Ebene D. Ebene der Akteure 1. Textorientierte Ebene E. Intratextuelle Ebene

2. Propositionsorientierte Ebene 3. Wortorientierte Ebene

F. Multimodale Ebene

A. Hardware- und Software-bezogene Ebene

G. Sprachübergreifende Ebene

Das vorgestellte Modell ist als methodologisches Integrationsmodell zu sehen, das Orientierung in digitalen Diskursanalysen ermöglicht. Wie die Übersicht (Abb. 4) zu diesem Modell zeigt, würdigen die Ebenen C, D und E mit den Ebenen zur Trans­ textualität, zu den Akteuren und zu den intratextuellen Beziehungen das Potenzial bisheriger Modelle – insbesondere des DIMEAN-Modells von Spitzmüller und Warnke (2011, S. 201). Vier weitere Ebenen zur Hardware und Software, zu institutionellen sowie zu multimodalen und sprachübergreifenden Aspekten digitaler Diskurse sind zu ergänzen.

Abb. 4: Analysemodell für digitale Diskurse. Eigene Darstellung

Die zentrale Stellung der Akteure (Abb. 4, D) ist auch für digitale Diskursanalysen sehr sinnvoll: Wie gerade am Beispiel der Wikipedia deutlich wurde, sind es Akteure, die Wissen in der kollaborativen Textproduktion hervorbringen. Akteure sind dabei nicht unbedingt personale Größen. Bots sind etwa als maschinelle Akteure zu verstehen. Linguistische Diskursanalysen Sozialer Medien sind zudem rückgebunden an Mikroanalysen. Die intratextuelle Ebene (Abb. 4, E) fokussiert alle bedeutungs­ generierenden Sprachmuster vom Morphem (vgl. itis-Kombinationen wie Newsti­ ckeritis) bis zum Text. Die transtextuelle Ebene (Abb. 4, C) fokussiert die textübergreifende Dimension von Diskursphänomenen.



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Nun zu den vier weiteren Ebenen: Hardware und Software sind hochrelevante Elemente der Kommunikationssituation digitaler Texte und determinieren somit auch die Struktur digitaler Diskurse. Die genutzte Hardware in Form von verschiedenen Endgeräten bestimmt, welche Sicht Nutzer/innen auf Wikipedia haben: So werden je nach Endgerät (Desktop-PC, Tablet oder Smartphone) Text-Bild-Relationen unterschiedlich dargestellt. Social Software stellt zudem die technische Umgebung zur kollaborativen Texproduktion, zur Beziehungspflege und zum Aufbau der Wikipedia-Gemeinschaft dar. Sie prägt somit ebenfalls ganz grundlegend digitale Diskurse. Die der Wikipedia zugrundeliegende Software MediaWiki ermöglicht es etwa, zu jeder Zeit Wiki-Seiten und damit die Inhalte im Wiki in relativ kurzen Zeitabständen zu editieren, also Inhalte hinzuzufügen, zu löschen und zu verlinken, was die beschriebene Geschwindigkeit diskursiver Dynamiken in Wikipedia möglich macht. Sehr wichtig ist auch die institutionelle Dimension der Wikipedia: Institutionen sind „bestimmte, in den Erwartungen der Akteure verankerte, sozial definierte Regeln mit gesellschaftlicher Geltung und daraus abgeleiteter ‚unbedingter‘ Verbindlichkeit für das Handeln“ (Esser 2000, S. 6). Im vorgestellten Beispiel zu News­ tickeritis wurde deutlich, dass die Wikipedia-Gemeinschaft im Metabereich beispielsweise regelt, dass die technische Möglichkeit des Wikis, Artikel schnell (z.B. im Minuten- bzw. Sekundentakt) zu aktualisieren, nicht ausgeschöpft wird. Zur Sanktionierung dieser nicht regelkonformen Verhaltensweisen hat sich das Wortbildungsprodukt Newstickeritis transtextuell in den digitalen Diskursen der Wikipedia verbreitet. Das Beispiel führt vor, wie relevant die Ebenen A, B, C und E des Analysemodells sind und wie diese im konkreten Fall zusammenspielen: Ein trans­ textuell verbreitetes sprachliches Muster auf Wortebene (eine itis-Kombination, konkret: Newstickeritis) wird dazu genutzt, den Gebrauch der technischen Möglichkeiten der Software auf ein institutionell gewünschtes Maß zu reduzieren. Es ist also zentral, die verschiedenen Ebenen nicht isoliert voneinander, sondern in ihrem Zusammenspiel zu betrachten. Wie die vorgestellten Beispiele zur multimodalen Domino-Stein-Metapher gezeigt haben, sind digitale Diskurse als semiotisches Kohärenzphänomen zu verstehen, was die Ebene des Modells zur Multimodalität digitaler Diskurse legitimiert (Abb. 4, F). Auch die sprachübergreifende Dimension der Wikipedia (Abb. 4, G) ist über die Interlanguage-Links ganz grundsätzlich angelegt und zeigt sich an intertextuellen Verweisen (z.B. Zitaten) zwischen den Sprachversionen. Diskursanalytisch sehr interessant sind Konvergenzen und Divergenzen der sprachlichen Muster in den hypertextuell verknüpften Sprachversionen: Sichtbar wurde, dass sich Lemmata von Wikipedia-Artikeln deutlich unterscheiden können und ganz unterschiedliche Aspekte von Ereignissen in den Vordergrund schieben.

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6  Fazit Wikipedia als soziale Plattform eignet sich als (diskurs)linguistischer Untersuchungsgegenstand nicht nur aufgrund ihrer Relevanz und Reichweite, sondern auch aufgrund rechtlicher, ethischer und forschungspraktischer Vorzüge. Als methodische Zugänge zu digitalen Diskursen bieten sich neben korpuslinguistischen Verfahren auch Tools an, die den Prinzipien der Digital Methods folgen. Zudem wurde deutlich, dass digitale Diskursfragmente in Wikipedia aufgrund von Links non-linear und sehr komplex sind. Neben den Artikel- und Diskussionsseiten sowie Versionsgeschichten sind auch Benutzer- und Benutzerdiskussionsseiten, der Metabereich sowie Links zu externen Quellen als Elemente digitaler Diskursfragmente zu berücksichtigen. Eigenschaften digitaler Diskurse sind neben deren Non-Linearität auch Multilingualität, Multimodalität, Interaktivität und Dynamik. Im vorgestellten Analysemodell wurden Ebenen zu Hard- und Software, zu institutionellen Aspekten sowie zur multimodalen und multilingualen Dimension digitaler Diskurse ergänzt.

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Axel Schmidt/Konstanze Marx/Isabell Neise (Mannheim)

Produktion – Produkt – Rezeption? Medienketten in audiovisuellen Webformaten am Beispiel von Let’s Plays Abstract: Der Beitrag beschäftigt sich mit kommunikativen Praktiken in audio­ visuellen Webformaten am Beispiel von sogenannten „Let’s Plays“, in denen ein Videospiel im Internet für Zuschauende gespielt und kommentiert wird. An live ausgestrahlten Let’s Plays zeigen wir, wie Zuschauende mit Produzierenden wäh­ rend der Ausstrahlung interagieren und so integraler Bestandteil des entstehenden Produkts werden. Live ausgestrahlte Let’s Plays machen eine Trennung zwischen Produktion, Produkt und Rezeption, wie wir sie von traditionellen Medien ken­ nen, obsolet. Wir sprechen daher von sogenannten Medienketten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die drei genannten Elemente, aufgrund der gegebenen medialen Affordanzen ineinander übergehen, sich dynamisch beeinflussen oder gegenseitig hervorbringen.

1  Einleitung: Medienkommunikation und Medienketten Der vorliegende Beitrag versteht sich als Zwischenbilanz eines am Leibniz-Insti­ tut für Deutsche Sprache seit 2016 durchgeführten Projekts mit dem Titel Medienketten. Der Fokus liegt auf audiovisuellen Webformaten. Grundidee ist, die für Kommunikationsprozesse im Web typische Durchdringung von Produktion und Rezeption an konkreten kommunikativen Erscheinungsformen nachzuzeichnen. Medienkommunikation im Allgemeinen zeichnet sich durch die Trennung von Produktions- und Rezeptionskontexten aus. Im Falle interpersonaler Medien, ob Telefon, Videokonferenz oder Chat, befinden sich die Teilnehmenden an verschie­ denen Orten und haben nur begrenzten (medienspezifisch bedingten) Zugang zu Kommunikationspartner/innen während der Produktion von Kommunikations­ beiträgen. Im Falle der sogenannten Massenmedien kommt – neben Produktion und Rezeption – etwas Drittes hinzu, nämlich die Gestaltung eines Medienprodukts, das auf bestimmte Publika zugeschnitten ist. Mit dieser Zielsetzung geht häufig ein Wechsel der Kommunikationsform von wechselseitig zu einseitig ein­ her: Produzierende gestalten ein Produkt für Rezipierende. Handlungstheore­ tisch weisen massenmediale Produkte daher zweierlei Formen des Handelns auf: https://doi.org/10.1515/9783110679885-014

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Die gezeigten Handlungen, etwa das Gespräch in einer Talk-Show, sowie die zei­ genden Handlungen, die dieses Gespräch erst zum Erscheinen bringen, etwa die Arbeit der Kameraleute.1 Diese „doppelte Inszenierung“ – wie das Seel (2001, S. 50) nennt – zwingt die Forschung zur Berücksichtigung mehrerer, miteinander verwobener Handlungsebenen. Medienforschung setzt daher häufig – insbesondere wenn es sich um Mas­ senmedien handelt – an der Trias Produktion, Produkt, Rezeption an (vgl. Wil­ lems 2000). Die Produktionsforschung fragt nach den zeigenden Handlungen, Produktforschung nach sichtbaren Gestaltungen und Rezeptionsforschung nach der Nutzung und dem Gebrauch. Natürlich hängen die drei Aspekte aufs Engste miteinander zusammen: Produzierende orientieren sich bereits in der Produktion an der möglichen späteren Rezeption. In beiden Fällen – interpersonal-medienvermittelter und Massenkommuni­ kation – orientieren sich Kommunikationspartner/innen am Gegenüber und schneiden ihre Beiträge auf diese zu. Im Falle der Massenmedien sind diese Ori­ entierungsmöglichkeiten allerdings enorm zerstreut und zerdehnt: Was einzelne Zuschauer/innen unmittelbar mit einem Produkt tun, bleibt Produzent/innen unzugänglich.2 Sie sind auf nachträgliche und summative Rezeptionserhebungen angewiesen (Einschaltquoten, Befragungen etc.). Einerseits ändert sich dies nun bekanntlich im Falle des Internets: Produzie­ renden- und Rezipierendenrollen – so eine frühe Erkenntnis – vermischen sich.3 Andererseits jedoch bleibt eine massenmediale Verbreitungs- und Erfolgslogik in Form einer Ökonomie der Aufmerksamkeit (Franck 2007) erhalten oder verstärkt sich noch: Der Erfolg oder die Wirksamkeit von YouTuber/innen, Influencer/ innen, Tweets auf Twitter etc. dokumentiert sich unweigerlich in Page Impressions, Klicks, Likes, ReTweets etc. Es handelt sich hierbei um eine Art auf die Netz­ welt angepasstes Einschaltquotensystem, was zeigt, dass die Instanzen der Pro­ duzierenden, des Produkts und der Rezipierenden strukturell weiterhin eine große Rolle spielen – nur dass sie vertauschbarer geworden sind und teilweise ineinander übergehen. Unser Fokus liegt folglich auf Medienketten. Hierunter verstehen wir kommu­ nikatives Anschlusshandeln, das durch das Medium ‚Computer/Internet‘ ermög­ licht wird. Medienketten kommen zustande, indem initiale kommunikative Akte (etwa ein Post auf Facebook, ein Video auf YouTube etc.) im Netz Reaktionen erfahren (etwa Kommentare), die ihrerseits wiederum kommentiert werden kön­

1 Siehe hierzu grundlegend: Reichertz (2005). 2 Vgl. hierzu die Beiträge in Sutter/Charlton (Hg.) (2001). 3 Dies wird häufig unter dem Stichwort „Prosumer“ (Toffler 1987) verhandelt.



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nen. Medienketten ermöglichen so intersubjektive Aushandlung, da Initiierende auf Reaktionen wiederum reagieren können. Das macht Medienketten vergleich­ bar mit Alltagskommunikation. Allerdings sind initiierende kommunikative Akte im Netz häufig nicht bloß ‚erste Züge‘ in einem symmetrischen wechselseitigen Austausch, sondern sie stehen – wie oben angedeutet – in medialen Aufmerksam­ keitslogiken. Das Konzept der Medienkette berücksichtigt daher zugleich, dass kommunizierte Inhalte aufgrund ihrer Persistenz (Marx/Weidacher 2014) bzw. ihrer „Enflüchtigung“ (Beißwenger 2007, S.  13 ff.) als selbstständige Bausteine (oder: als Produkte) weitergegeben werden können. Ein Video auf YouTube, ein Post auf Facebook oder jeder beliebige andere Kommunikationsausschnitt kann im Netz nicht nur kommentiert, sondern immer auch als solcher geteilt werden. Diese Mehrfachverwertung durch unterschiedliche mediale Plattformen ist der Netzkommunikation inhärent (Schanze 2008) und ist die Grundlage für netzspe­ zifische Phänomene (z.B. dass etwas ‚viral geht‘ oder auch für Internet-Memes4). All das legt nahe, dass die medienwissenschaftlich zentrale Trias aus Produk­ tion, Produkt und Rezeption einerseits zwar obsolet geworden zu sein scheint, sich andererseits jedoch in modifizierter Form erhalten hat. Wir verwenden die Untertei­ lung in Produktion, Produkt und Rezeption im Folgenden als analytische Trennung und versuchen auszuloten, was davon übriggeblieben ist. Wir skizzieren zu diesem Zweck für audiovisuelle Webformate typische kommunikative Praktiken. Wir tun dies am Beispiel von sogenannten Let’s Plays (im Folgenden kurz: LPs). Im ersten Teil widmen wir uns dem Produkt der live ausgestrahlten LPs (Kap. 2). Im zweiten Teil zeigen wir an der Produktion von live ausgestrahlten LPs die Auswirkungen technischer Realisierungsbedingungen für die Konstitution von Interaktion (Kap. 3). Im dritten Teil gehen wir kurz auf Rezeptionsmöglichkeiten nach Beendigung der live Ausstrahlung von LPs ein (Kap. 4) und schließen mit einem kurzen Fazit.

2  Produkt: Let’s Plays 2.1  Aufgenommene versus live ausgestrahlte Let’s Plays In LPs spielen eine oder mehrere Spieler/innen (im Folgenden: LPer) ein Video­ spiel im Internet, dass sie zeitgleich sprachlich für ein Publikum kommentieren.5

4 Siehe z.B. Bülow/Merten/Johann (2018). 5 Zu LPs siehe Ackermann (Hg.) (2016); Hale (2013); Ligman (2011); Marx/Schmidt (2019); Smith/ Obrist/Wright (2013) und Stephan (2014).

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LPs können entweder aufgenommen und später hochgeladen oder als Live Stream angeboten werden. Mit aufgenommenen LPs haben wir uns an anderer Stelle aus­ führlich beschäftigt (Marx/Schmidt 2019). Im Gegensatz zu aufgenommenen LPs, die – ähnlich wie eine Fernsehsendung fertige Produkte sind –, durchbrechen in Echtzeit ausgestrahlte LPs, sogenannte Live Streams, den einseitigen Kommuni­ kationsfluss. Live Streams werden typischerweise zusätzlich durch einen Zuschauer­ Live Chat begleitet (siehe Abb. 1).6 Neben dem Stream, der das Videospiel sowie die spielenden Moderator/innen zeigt, befindet sich ein Chat­Fenster. Dort haben eingeloggte Zuschauende die Möglichkeit, zeitgleich zum Stream Chat­Nachrich­ ten zu verfassen, die sowohl von den Moderierenden als auch von anderen Zuschauenden gesehen werden können.

Abb. 1: Aufbau eines Live Streams

Im Gegensatz zu aufgenommenen LPs, ermöglichen Streams Zuschauenden damit eine unmittelbare Beteiligung am gerade produzierten On­Air­Format. In solchen Live Streams wird die oben skizzierte, analytische Differenzierung von Produktion­Produkt­Rezeption problematisch, da die Rezeption des angebo­ tenen Produkts, hier des LPs, bereits in der Produktion des Produkts stattfindet

6 Vgl. zu cross­modaler Kommunikation: Sindoni (2012); Newon (2016); zu Online­Videospielen und Chat: Stertkamp (2017); zu Live Streams von LPs: Hamilton/Garretson/Kerne (2014); Moore/ Ducheneaut/Nickell (2007); Recktenwald (2017), (i.Dr.); Smith/Obrist/Wright (2013) sowie Taylor (2018).

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und so integraler und emergenter Bestandteil des Produkts wird. Ein simples Bei­ spiel sind Sequenzen, in denen Streamer/innen auf Chatter/innen reagieren, die sich in ihren Chatbeiträgen auf vorangegangenes Verhalten der Streamer/innen bezogen. Eine solche dreizügige Sequenz zeigt das folgende Beispiel: Transkript 1: Und Dirk wieder am Essen⁷

Im Ausschnitt begrüßt der Moderator D essend das Publikum mit HA:llo (Z1). Ein Chatter namens WadiDercho postet und Dirk wieder am Essen xD (Z. 2). Mit die­ sem noticing (Schegloff 2007, S. 217–219) setzt er einen bestimmten Ausschnitt sei­ ner visuellen Wahrnehmung, nämlich Ds Essen, relevant. Zugleich produziert er eine spielerische8 Kritik an Ds Anmoderation in lateraler Adressierung, wodurch er D und sein Verhalten – auch für andere Zuschauende – als Objekt der Beobach­ tung exponiert. D produziert nach einer Begrüßung beider Moderatoren (Z. 3–5) einen Account: ich muss ma kurz noch hinterkauen (.) eigentlich (Z. 6/7). Moderationen – wie das Beispiel zeigt – können nicht als Monologe geplant und durchgesprochen werden. Sie orientieren sich immer wieder am Input der Chatter, wodurch sie einen zukunftsoffenen und improvisierten Charakter bekom­

 Verbales wurde gemäß GAT2 (Selting et al. 2009), Multimodales gem. Mondada (2014) tran­ skribiert. Für Abbildungen erscheint Abb in der Sprechzeile. Einzelne relevante Chatbeiträge erscheinen als Screenshots mit dem Siglum Chat im Transkript und werden mittels des Pluszei­ chens (+) aligniert. 8 Kontextualisiert mittels des Emoticons xD, was Lachen/lachendes Gesicht bedeutet.

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men (vgl. Sawyer 2003). Zudem etablieren solche dreizügigen Sequenzen die Grundlage zur interaktiven Herstellung von Intersubjektivität, da die Reaktion auf eine initiale Handlung in der dritten Position vom Initiator qualifiziert werden kann (Schegloff 1992; Deppermann 2008). Hier behandelt der Streamer das noticing des Chatters als (spielerischen) Vorwurf, indem er sich entschuldigt. Dreier-Sequenzen im Stream ermöglichen auf diese Weise einen quasi-syn­ chronen Austausch, da alle Beteiligten zwar zeitgleich verfügbar (oder: online) sind, jedoch aufgrund einer Trennung von Produktions- und Distributionsakten nicht am Produktionsprozess von Beiträgen anderer teilhaben können. Im Falle des reinen Chats heißt das: Produktionsprozess (tippen) und Äußerungsprozess (verschicken, posten) erfolgen technologiebedingt nacheinander. Sichtbar wird nur das Ergebnis (als Post), der Produktionsprozess dagegen bleibt den Teilneh­ menden wechselseitig verschlossen und erzeugt so eine Zeitverzögerung, die als medienspezifische Affordanz des Chattens Interaktionsmöglichkeiten systema­ tisch prägt. Quasi-Synchronizität und deren interaktionale Auswirkungen sind seit Ende der 1990er Jahre für den Chat vielfach beschrieben worden.9

2.2  Cross-modale Kommunikation In unserem Fall allerdings ist die Streamer/innen- oder die Produzent/innen-Seite als audiovisueller Stream kontinuierlich gegeben, während es die andere Seite, die Chatter/innen, nicht ist. Da Chatter/innen schriftliche und Streamer/innen audiovisuelle Ressourcen verwenden, handelt es sich um cross-modale Kommu­ nikation. Rosenbaun/Rafaeli/Kurzon (2016, S. 29) verstehen darunter „interac­ tions in which the production modality is different from the interlocutor’s feed­ back modality, in the same communicative event and in synchronous fashion“. Der audiovisuelle Zugang der Chatter/innen zur Interaktionsproduktion der Strea­ mer/innen wurde sehr schön in obigem Beispiel greifbar: Der Chat-Beitrag und Dirk wieder am Essen fokussiert nicht auf einen sprachlichen, sondern auf einen körperlichen Vorgang (nämlich Essen) und streicht damit die Möglichkeit der visuellen Wahrnehmung von Streamer/innen heraus. Zugleich dokumentieren sich auf diese Weise Wahrnehmungs-Wahrnehmungen (Hausendorf 2003): Der Streamer nimmt wahr, dass er wahrgenommen wurde.

9 Vgl. Androutsopoulos (2007); Beißwenger (2007, 2008a, b, 2016); Dürscheid/Brommer (2009); Garcia/Jacobs (1999); Schönfeldt/Golato (2003); Hutchby (2001); Imo (2015); Meredith/Stokoe (2014); Paolillo/Zelenkauskaite (2013); Storrer (2001, 2018).



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Verallgemeinert bedeutet das: Einerseits können Chatter/innen das körperli­ che Ausdrucksverhalten von Streamer/innen wahrnehmen und – gegebenenfalls wie oben gesehen – thematisieren, was Streamer/innen umgekehrt nicht können. Andererseits steht Streamer/innen aufgrund ihrer audiovisuellen Verfügbarkeit die gesamte Symptomfülle körperlichen Ausdrucksverhaltens zur Verfügung, zu dessen Konstitutionslogik Chatter/innen permanent Zugang haben. Cross-modale Kommunikation, wie sie spezifisch für Live Streams (von LPs) ist, verändert Inter­ aktion daher in systematischer Weise. Wir wollen uns die interaktionskonstitutiven Konsequenzen nun an einigen ausgewählten Beispielen genauer anschauen. Materialgrundlage sind Videoauf­ nahmen eines Streamers, der sich selbst H4NS nennt und dessen Streaming-Akti­ vitäten wir seit 2016 verfolgen (siehe hierzu ausführlicher Kap. 3). Vergleicht man cross-modale Kommunikation in Streams mit schriftbasierter Chat-Kommunika­ tion, die bisher das Gros an Untersuchungen im Bereich Computer-MediatedCommunication (CMC) bzw. Computer-Mediated-Discourse (CMD)10 ausmacht, fällt zunächst trivialerweise die kontinuierliche audiovisuelle Ver­füg­bar­keit der Streamer/innen auf. Das hat zur Folge, dass Phänomene, die typisch für die Online-Produktion (Auer 2000) gesprochener Sprache sind, eine Rolle spielen, wie etwa die inkrementelle Hervorbringung von Äußerungen.11 Anders als im Chat, wo Versprachlichungsakt und Verschickungsakt strikt getrennt sind (Beiß­ wenger 2007), können Zuschauende in Echtzeit verfolgen, wie der Streamer H4NS seine Äußerungen produziert. Auf diese Weise werden Projektionen (vgl. Auer 2015; Streeck 1995) möglich: Chatter/innen können bis zu einem gewissen Grad abschätzen, was als nächstes geschieht, bevor es geschieht. Die Möglichkeit, Streamer/innen in Echtzeit zu verfolgen, hat daher weitreichende Konsequenzen für die Interaktion. In Beispiel 2 beantwortet H4NS eine Frage des Chatters spar­ tabrummer, der noch während der Antwort von H4NS reagiert. Im Beispiel stellt ein Chatter namens spartabrummer eine Frage: wie kann man mitspielen? während H4NS sein Publikum begrüßt (Z. 1). Ab Zeile 3 widmet sich H4NS der Frage von spartabrummer. Seine Antwort erstreckt sich über das gesamte Transkript (Z. 3–13). Interessant ist nun, wann der Chatter spartabrum­ mer auf die Antwort von H4NS reagiert. Nachdem H4NS in Zeile 5/6 die Frage von spartabrummer abschlägig beantwortet (nein du darfst nicht mitspielen) und diese Ablehnung begründet (die Leute werden immer auserwählt), setzt er in Zeile 8 zu einem zweiten Account an (du bist leider das erste Mal da). Zu diesem Zeitpunkt ist die Frage spartabrummers im Kern aber bereits beantwortet. spar­

10 Vgl. Georgakopoulou (2013); Herring (2007); Herring/Androutsopoulos (2015). 11 Vgl. Selting (2000).

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tabrummer antwortet daher noch während H4NS dabei ist, seinen zweiten Account zu produzieren. Nach du in Zeile 8 (markiert mit +) erscheint der Beitrag okee schade nadann von spartabrummer im Chat. Transkript 2: SPARTABRUMMER12

Diese frühe antizipative Reaktion von Chatter/innen ist möglich, weil sie die Äuße­ rungen der Streamer/innen in ihrer prozessualen Verfertigung verfolgen können. Anders als Chatnachrichten haben die in der Entstehung begriffenen Beiträge der Streamer/innen damit – ähnlich wie in Face­to­Face­Interaktion – projektives Potenzial. Antworten können daher – wie in obigem Beispiel – produziert wer­

12 Mehrere Beiträge im Live Chat erhalten im Transkript eine eigene Spalte mit der Bezeichnung Chat und sind mit einer zusätzlich eingefügten Zeitspalte aligniert. Aufgenommen in das Tran­ skript wurden nur diejenigen Posts, die für die jeweilige Analyse eine Rolle spielen. Im Verlauf werden an den jeweiligen Zeitstellen relevante Posts angezeigt, die entweder dazukommen oder verschwinden (markiert mittels Durchstreichung). Ausgewählte Posts sind mittels des Pluszei­ chens (+) mit dem Gesprochenen aligniert.



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den, sobald antizipierbar ist, was ein Beitrag voraussichtlich ‚tut‘. Anders als in Face-to-Face-Interaktionen führt die ‚frühe‘ Reaktion des Chatters hier allerdings weder zu einer ‚Überlappung‘ (was aufgrund der unterschiedlichen Modalitäten auch nicht möglich ist) noch zu einem Abbruch der Antwort seitens H4NS (was aufgrund nicht möglicher Überlappungen auch nicht notwendig ist). Das hat folgende systematischen Konsequenzen: Aufgrund der audiovisuellen und kommunikativen Verfügbarkeit von Streamer/innen und – kehrseitig – der kontinuierlichen Orientierung von Streamer/innen am Chat nehmen Chatter/ innen fortlaufend Einfluss auf das Verhalten der Streamer/innen. Resultat ist spontane Interaktion, die konstitutiverweise emergent ist und als solches das Produkt der Live-LPs erst (mit)herstellt. In diesem Sinne dokumentiert sich Rezeption bereits in der Produktion und wird so integraler Bestandteil des Pro­ dukts, das häufig in dieser Form im Nachhinein als fixiertes Upload (etwa auf YouTube) weiterhin zugänglich ist. Die unterschiedlichen Möglichkeiten zu kommunizieren, prägen die Kommu­ nikation in Live Streams in einer zweiten entscheidenden Hinsicht: Die Möglich­ keit der Teilnahme führt zu formatspezifischen Asymmetrien. Streamer/innen wer­ den als Hauptaktivität, der Chat als Nebenaktivität wahrgenommen. Deutlich wird dies an Praktiken in Streams, etwa dem Vorlesen von Chatnachrichten. In Bei­ spiel 3 sehen wir den Streamer H4NS, wie er sich dem Chat zuwendet. Mit der expliziten Ankündigung jetzt noch_n bisschen auf_n chat gucken rahmt H4NS sein Tun als routinierten Teil seiner Streaming-Praxis. Auf einen Teil der Chatbeiträge geht er in der Folge ein: Er erwidert einen Gruß des Chatters The DoubleDC in Zeile 3/4 (mittels Grußpartikel und Klarnamen: Hey Michi). Andere Chatbeiträge liest er – murmelnd oder verständlich – vor (Z. 7/8 und 10/11), um dann darauf einzugehen (Z. 9 und 12). Dadurch werden bestimmte Chatbeiträge selegiert, während andere unberücksichtigt bleiben. Durch das Vorlesen werden Chatbeiträge partiell zitiert (etwa der Beitrag von th3errordyn4mic31 in Z. 10/11). Diese Streaming-typische Praktik hat Recktenwald (2017) als topicalizing bezeich­ net. Hierdurch transformiert der Streamer Chatbeiträge vom Modus der Schrift in einen mündlich-multimodalen Modus. Solche Beiträge werden Teil des audiovi­ suellen Streams und sind somit präsenter als andere. Auf diese Weise positionie­ ren sich Streamer/innen als Performende und die Chatter/innen als ihr Publikum. Insgesamt spiegeln solche Praktiken die Konstellation eines one-to-many in Streams, was augenscheinlich einer ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit‘ (Franck 2007) folgt.13

13 Besonders deutlich wird dies in einer für Streams typischen Praktik, die Recktenwald (i.Dr., Kap. 7) beschreibt: dem sogenannten donating, dem Chatter/innen online Geld spenden, um im Stream erwähnt und damit herausgehoben zu werden.

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Hierin lässt sich eine Wiederkehr der Differenz von Produktion, Produkt und Rezep­ tion erkennen: Obwohl – wie oben gezeigt – der Chat integraler Bestandteil des Streams wird, wird der Stream als das Produkt wahrgenommen, das durch den Chat rezipiert wird – und zwar – wie oben gesehen – durch die Beteiligten selbst. Transkript 3: jetzt noch bisschen auf_n Chat gucken

Der Kommunikation mit Zuschauenden kommt daher in Live Streams nicht nur eine größere Rolle zu, sie ist vielmehr qualitativ grundverschieden von jener in aufgenommenen LPs: Es ist keine soziale Para­Interaktion, sondern echte Inter­



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aktion. Sprechen und Handeln im Spiel sind demzufolge weniger eng aufeinan­ der bezogen als in den oben beschriebenen aufgenommenen LPs. Streamer/ innen müssen ihre Handlungen – wie oben gezeigt – immer wieder mit der zeit­ gleich stattfindenden Kommunikation im Chat koordinieren. Umgekehrt müssen Chatter/innen dem Stream folgen und ihre Beiträge auf den aktuellen Stand zuschneiden. Ähnlich wie in Face-to-Face-Interaktionen spielt daher die wech­ selseitige zeitliche Koordination eine wesentliche Rolle. Anders als in Face-toFace-Interaktion hängt diese allerdings auch von technisch erzeugten Zeitlichkei­ ten in der Produktion ab. Wir wollen deshalb im Folgenden einen genaueren Blick in die Produktion solcher LPs werfen:

3  Produktion 3.1  Zeitverzögerung in der Übertragung von Streams Massenmediale und teilweise auch interpersonal-medienvermittelte Kommuni­ kation (z.B. Chats) kennzeichnet eine Trennung von Produktion und Produkt.14 Aufnahmen der Produktion gewähren dann einen Einblick in die Verfertigung von Produkten.15 Wir greifen diese Forschungsperspektive auf, indem wir nun nicht allein (oben erläuterte) Strukturen des Produkts berücksichtigen, sondern zudem dessen Herstellung. Datengrundlage sind Videoaufnahmen der Produktion von Streams bei NerdStar.TV (Bielefeld) und dem Streamer H4NS (Köln) in den Jahren 2016/17.16 In beiden Fällen wurde die Live-Produktion im Studio mit mehre­ ren Kameras dokumentiert sowie der entstandene Stream im Web aufgenommen. Zudem wurden Interviews zum jeweiligen Technik-Setup geführt. Die Art und Weise, wie Streams technisch produziert werden, hat einen systematischen Effekt auf die Interaktion zwischen Streamer/innen und Chatter/innen und damit auf die im Produkt stattfindende Rezeption. Wir wollen im Folgenden zwei ausge­

14 Vgl. für Massenmedien: Thompson (1995); für Chat: Storrer (2001). 15 Die Erforschung der Produktion von Medienkommunikaten erweitert den Zugang einer wis­ senschaftlichen Analyse. Im Falle des Chats bedeutet Produktionsforschung, dass nicht bloß die Bildschirmprotokolle (der Chatlog) verfügbar sind, sondern zudem die Produktionshandlungen der Chatter/innen am Bildschirm. Solche Daten erlauben die Rekonstruktion der Herstellungs­ handlungen von Chatbeiträgen (vgl. Beißwenger 2007, 2008 a, b; Garcia/Jacobs 1999) und geben so etwa Aufschluss über im Chatlog nicht sichtbare Selbstreparaturen (Meredith/Stokoe 2014) oder über das sequenzielle Verhältnis einzelner Chat-Beiträge (vgl. Beißwenger 2008 a, b). 16 Siehe https://nerdstar.de/ sowie https://www.H4NS.net/.

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wählte Effekte vorstellen, die als Grundbedingung für die Interaktion in Streams gelten können. Der erste Effekt betrifft die bei Streams bekannte Zeitverzögerung, die durch die Übertragung des Streams zum Server entsteht, der die entsprechende Sen­ dung hostet. Dazu werfen wir zunächst einen Blick auf das Technik­Setup des Steamers H4NS (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Technik-Setup des Streamers H4NS (Stand 2016)

H4NS erzeugt im Studio mittels Mikrofon, Kamera und Spielkonsole einen audio­ visuellen Stream aus Sprechen, einer visuellen Repräsentation seiner selbst sowie dem Computerspiel. Diese drei Komponenten erscheinen mit einem Versatz von 12 Sekunden als Stream auf der Twitch­Website. Grundsätzlich ist diese Zeitverzögerung (auch: Twitch­Versatz) bereits der Produktion im Studio eingeschrieben (siehe Abb. 3).

Abb. 3: TWITCH-Versatz

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Wie den beiden Timern (siehe weiße Markierung) zu entnehmen ist, sind in der Produktion zwei zeitliche Realitäten relevant: Zum einen die aktuelle Produkti­ onszeit (rechts oben) sowie zum anderen die Twitch­Zeit (links unten), also jene Zeit, in der der produzierte Stream im On­Air­Format für Zuschauende sichtbar wird. Entscheidend ist, dass dieser Versatz nur für den Stream, nicht aber den Chat gilt. Denn: Das On­Air­Format auf der Twitch­Website, das die Zuschauen­ den sehen, ist eine Komposition aus Website­generiertem Live Chat und studio­ generiertem Stream. Der Stream hat – wie oben erläutert – einen zeitlichen Ver­ satz von 12 Sekunden, der Chat dagegen ist in Echtzeit verfügbar. Das bedeutet: Das On­Air­Format repräsentiert zwei verschiedene zeitliche Realitäten innerhalb eines Bildschirmkommunikats (siehe Abb. 4).

Abb. 4: Komposition des Bildschirmkommunikats bei Live-Streams

Da der Stream einen Versatz von 12 Sekunden hat, der Chat aber unabhängig vom Stream in Echtzeit auf dem Twitch­Server läuft, hat dieser Zeitversatz je nach Kommunikationsrichtung unterschiedliche Auswirkungen: Initiieren nämlich Streamer/innen Sequenzen, erfolgen Chat­Antworten relativ schnell, initiieren dagegen Chatter/innen Sequenzen, erfolgen Reaktionen der Streamer/innen ver­ zögert. Wir schauen uns im Folgenden beide Fälle genauer an, zunächst eine Streamer­initiierte und darauffolgend eine Chatter­initiierte Sequenz.

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3.2  Stream-initiierte Sequenzen Im folgenden Ausschnitt adressiert H4NS eine spielerische Drohung an einen Chatter namens der_0815_gamer (er nennt ihn kurz gamer). Dieser reagiert rasch im Chat (er postet Skandal). Die Erwiderung von H4NS auf den Beitrag Skandal erfolgt aber erst sehr viel später. Transkript 4: Skandal

Werfen wir einen genaueren Blick auf die Sequenzorganisation dieses Beispiels: H4NS ist gerade dabei, die Chatter zu begrüßen. An einen der Chatter namens

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der_0815_gamer adressiert er eine spielerische Drohung: wenn du jetz nich mitspielst hör ich soFORT auf zu STREAmen un dann- geh_ma wieder nach HAUse; (Z. 5–9). Der Chatter reagiert – die spieleri­ sche Modalität aufgreifend – im zweiten Zug mit der extreme case-Formulierung (Pomerantz 1986) Skandal und einem entsprechenden Emoji, das Überraschung/ Schock symbolisiert.1⁷ Bevor H4NS seinerseits darauf reagiert, vollzieht er andere Aktivitäten, zum Beispiel reagiert er auf einen Sound­Einspieler, die sogenannte Bar (Z.  10–21), um dann seine Begrüßungsaktivität fortzusetzen (ab Z.  22). Er schließt mit dem Hinweis, dass nur Leute, die auch aktiv chatten, begrüßt werden (Z.  29–33). Erst jetzt greift er mittels topicalizing den Chatbeitrag Skandal (was sacht er skanDAL?) auf, bezieht ihn aber offensichtlich nicht auf seine spieleri­ sche Drohung, sondern auf seine letzte Äußerung, nämlich den Hinweis auf seine Begrüßungspraxis. Hierfür spricht, dass H4NS den Chatbeitrag Skandal nicht als spielerische Fortsetzung seiner zuvor produzierten, ebenfalls spielerischen Dro­ hung versteht, sondern als Kritik an seiner Begrüßungspraxis. Der Beitrag Skandal wird von H4NS daher auch nicht spielerisch fortgeführt, sondern mit was sacht er skanDAL?, nein (.) hör AUF; negierend abgewiegelt (Z. 37–39). Offensichtlich hat H4NS Probleme den Beitrag Skandal sequenziell zuzuord­ nen. Für ihn ist nicht mehr ersichtlich, auf welche seiner vorangegangenen Äuße­ rungen der Post Skandal eine Reaktion darstellt. Wirft man einen Blick auf die Zeitverhältnisse im On­Air­Format (siehe Abb. 5), sieht man, dass seine spieleri­ sche Drohung (A1) zwar bereits nach zwei Sekunden eine Reaktion im Chat erhält (A2), seine eigene Erwiderung allerdings erst 25 Sekunden später erfolgt (A3). Über den technisch bedingten Versatz von 12 Sekunden hinaus spielt hier auch der oben beschriebene Orientierungswechsel zwischen Moderation/Spiel und Chat­Rezeption eine Rolle.

Abb. 5: Zeitverhältnisse im On-Air-Format

1 Es handelt sich um ein sogenanntes, für Twitch typisches robot emote, das eine Weiterent­ wicklung des Emoticons :o darstellt (siehe https://twitchemotes.com/).

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Diese Art der Sequenzorganisation ist typisch für cross­modale Interaktion in Streams. Der Eindruck eines stockenden, nicht reibungslosen Interaktionsab­ laufs erklärt sich, wenn man die Produktionsperspektive und damit die zeitliche Realität der Streamer im Studio hinzunimmt (siehe Abb. 6).

Abb. 6: Sequenzverschiebung aus Produktionsperspektive

Aufgrund des Versatzes von 12 Sekunden (angezeigt durch die schrägen, hell­ gepunkteten Pfeile) sind Interaktionszüge, wie in obigem Fall die spielerische Dro­ hung von H4NS (A1), im On­Air­Format erst 12 Sekunden später zugänglich. Auf solche potenziellen ersten Paarteile kann im Chat rasch reagiert werden, wie im Beispiel die spielerische Entrüstung Skandal (A2). Wenn der Streamer diesen Chat­ Beitrag im Studio wahrnimmt, ist sein erster Zug aber bereits über 12 Sekunden alt (angezeigt durch den geraden, hell­gepunkteten Pfeil). Der Streamer ist dann aber bereits in andere, fortgesetzte Aktivitäten involviert, die ihrerseits wiederum erste Paarteile sein können (markiert mit B1). Wird der Chatbeitrag – so wie in unserem Beispiel – nicht unmittelbar nach Erscheinen aufgegriffen, können weitere Aktivitäten des Streamers folgen, die wiederum potenziell neue erste Paarteile darstellen, wie im Beispiel die Fortset­ zung der Begrüßung sowie der Hinweis auf seine Begrüßungspraxis (markiert mit C1). Trotz dieser zeitlichen Latenzen werden Reaktionen im Chat durch den Strea­ mer häufig später wieder aufgegriffen, wie in obigem Fall wenn H4NS den Chat­ Beitrag erst zitiert (was sacht er ‚Skandal‘) und anschließend kommentiert (nein, hör auf). So entsteht eine dritte Sequenzposition, in der Streamer Reaktionen im



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Chat auf eigene vorangegangene Beiträge behandeln (markiert mit A3). Aufgrund der zeitlichen Latenz bezieht H4NS den Beitrag Skandal nun aber nicht mehr auf seine vor über 25 Sekunden produzierte spielerische Drohung, sondern auf sei­ nen neuesten Beitrag, die Erläuterung seiner Begrüßungspraxis (also C1). Auf diese Weise entsteht eine andere Sequenz: Ein erster Paarteil (der Hinweis auf seine Begrüßungspraxis C1) scheint für ihn eine Reaktion im Chat zu erhalten (C2) auf die er in dritter Position (C3) entsprechend reagiert. Die ursprüngliche Sequenz A1, 2, 3 wird so durch eine neue Sequenz C1, 2, 3 überlagert, die dadurch zustande kommt, dass der ursprüngliche Bezug des Chatbeitrags Skandal (näm­ lich auf A1) ignoriert und dafür ein neuer Bezug (nämlich C1, markiert durch den hellgrau, gestrichelten Pfeil) hergestellt wird. Interessanterweise geschieht das, obwohl der Beitrag Skandal vor dem Hin­ weis auf die Begrüßungspraxis erfolgt, zeitlich gesehen also gar keine Reaktion auf diesen Beitrag sein kann. Solche Sequenzverschiebungen ereignen sich, weil die Produktion erwidernder Züge in dritter Position durch den Streamer aufgrund von Versatz-Effekten verzögert ist. Zwischen eine erste Paarsequenz (A1/2) und einen dritten erwidernden Zug (A3) schieben sich weitere, potenziell neue erste Paarteile des Streamers. Auf diese Weise werden Reaktionen (hier: Skandal) rück­ wirkend umgedeutet und es kommt eine andere – wenn man so möchte – eine verschobene Sequenz zustande. Dass solche Sequenzverschiebungen in den sel­ tensten Fällen eine Reparatur erfahren (auch in unserem Beispiel passiert das nicht), zeigt den routinierten Umgang der Teilnehmenden mit dieser Art von Kommunikation.

3.3  Chat-initiierte Sequenzen Einen zweiten Effekt möchten wir anhand des oben eingeführten Beispiels von NerdStar.TV demonstrieren. Der Versatz in der Übertragung bewirkt dieses Mal, dass Sequenzen, je nachdem ob man sie aus Produkt- oder Produktionsperspek­ tive anschaut, strukturell unterschiedlich sind. Im oben gesehenen Ausschnitt (Transkript 1) hatten wir eine Produktperspektive eingenommen, die schematisch in Abbildung 7 nochmals wiedergegeben ist. Zur Erinnerung: Im On-Air-Format sehen wir eine Dreier-Sequenz bestehend aus Dirks Essaktivität, die durch das noticing des Chatters in zweiter Position ret­ rospektiv zu einer ersten Position gemacht wird, worauf Dirks account in dritter Position erfolgt. Diese Dreier-Sequenz sieht aus Produktionsperspektive nun aber anders aus (s. Abb. 8).

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Abb. 7: Sequenz aus Produktperspektive (schematisch)

Abb. 8: Sequenz aus Produktionsperspektive

Das Beispiel repräsentiert die Sicht der Streamer im Studio, deren Aktivitäten – in diesem Fall – acht Sekunden vor dem On­Air­Format stattfinden. In dieser Pers­ pektive postet der Chatter seinen spielerischen Vorwurf (und Dirk wieder am Essen in Zeile 11) nach Ds account (in Zeile 5: ich muss mal kurz noch hinterkauen). Aus der Produktionsperspektive produziert D seinen account also unabhängig und daher in Unkenntnis vom noticing des Chatters. Für den Streamer im Studio erscheint es daher so, als ob der Chatter nur etwas wiederholt, für was er sich mit ich muss mal kurz noch hinterkauen bereits entschuldigt hat. Das bedeutet: Aus Produktionsperspektive invertiert sich die Reihenfolge der Beiträge.



Produktion – Produkt – Rezeption? 

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Im Falle solcher Chatter-initiierten Sequenzen kann es also vorkommen, dass sich aufgrund des Versatzes Chatter und Streamer unabhängig voneinander auf den gleichen Anlass im Stream (hier Ds Essen) beziehen. Was im On-Air-Format als Paarsequenz erschien (Chat: Vorwurf – Stream: account), entpuppt sich aus Produktionsperspektive als zwei nicht aneinander orientierte Beiträge.18 Verallgemeinert heißt das: Es existieren zwei unterschiedliche Interakti­ onsrealitäten: Eine Produktrealität, in der Chatter/innen unmittelbar auf Strea­ mer/innen reagieren können und Zuschauende das auch so wahrnehmen, und eine Produktionsrealität, in der Streamer/innen diese Beiträge der Chatter/ innen als nachzeitig im Vergleich zu eigenen Äußerungen wahrnehmen. In der Realität des Produkts ergibt sich in unserem Beispiel also eine Sequenz, die in der Realität der Produktion nicht existiert. Aufgrund der technisch bedingten unterschiedlichen Realitäten ist die Sequenzstruktur in cross-modaler Kommu­ nikation dieser Art also abhängig von den rollenspezifischen Perspektiven der Beteiligten.

4  Rezeption Natürlich endet die Rezeption nicht mit dem Live Stream. Typisch für Social-MediaKommunikate ist eine sich fortsetzende Rezeption, die sich ihrerseits – aufgrund der Persistenz internetbasierter Kommunikation – wiederum im Produkt doku­ mentiert und so Teil modifizierter, fortgeschriebener Produktketten wird. Im Falle des Streamers H4NS etwa werden Live Streams nach Beendigung auf Plattformen wie YouTube hochgeladen, dadurch fixiert und dort von User/innen erneut rezi­ piert und kommentiert. An folgenden Kommentaren (siehe Abb. 9) zu einem Stream von H4NS lässt sich einerseits gut sehen, dass Rezipierende es honorieren, wenn die unterschied­ lichen Affordanzen von YouTube und Twitch ausgeschöpft werden: korrekt dass du das noch mal auf YouTube bringst musste nämlich am Sonntag weg. Anderer­ seits findet hier eine kommunikative Nachbearbeitung statt, die gleichzeitig pro­ spektiv ausgerichtet ist (war live dabei vs. mehr davon) und damit cross-medial wie ein Kettenelement zwischen zwei Twitch-Streams fungiert.

18 Solche scheinbaren Sequenzen haben Ähnlichkeit mit den in der Forschung zum Chatten festgestellten phantom adjacency pairs (Garcia/Jacobs 1999, S. 354; siehe auch Beißwenger 2008b).

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Abb. 9: Kommentare

Zudem wird die Interaktion zwischen Streamer/innen und Rezipierenden häufig auf andere Kanäle, wie z.B. Twitter, und andere Kontexte, wie zum Beispiel ein Offline­Treffen auf der Steamcom, ausgeweitet. Insgesamt trägt die fortgesetzte Interaktion, die sich um bestimmte Produkte rankt, in unserem Fall Live Streams von LPs, zur Community­Bildung bei. Auf diese Weise wird der als Video inklu­ sive begleitendem Chat fixierte Live Stream Teil eines neuen, wiederum durch Rezeptionsakte geprägten Produkts, das aufgrund dessen letztlich immer dyna­ misch bleibt.

5  Fazit In Live Streams findet nicht bloß soziale Para­Interaktion sondern echte Interak­ tion statt. Wir haben gesehen, wie Streamer/innen und Chatter/innen ihre Hand­



Produktion – Produkt – Rezeption? 

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lungen fortlaufend wechselseitig miteinander koordinieren. Die Rezeption wird so zum integralen Bestandteil des Produkts, dessen Emergenz zu einem wesentli­ chen Teil durch die Orientierung der Produktion an der zeitgleich stattfindenden Rezeption hervorgebracht wird. Die Interaktion im Produkt unterliegt des Weiteren aufgrund produktions­ technischer Affordanzen besonderen zeitlichen Bedingungen, die – so haben wir gezeigt – weitreichende Konsequenzen für Interaktion haben. Da die Rezeptions­ akte aber Teil des Produkts sind, geht es nicht bloß um einen Zeitverzug in der Übertragung, der auch bereits bei massenmedialen Kommunikationsformen vor­ kommt. Vielmehr schreiben sich die zeitlichen Latenzeffekte in das Produkt selbst ein. Die Rekursivität der Rezeption und ihrer technischen Bedingtheit werden so konstitutiver Bestandteil von Produktion und Produkt. Darüber hinaus entstehen durch die technische Verzahnung cross-modaler Kommunikation – so haben wir schließlich gesehen – Kommunikationszusam­ menhänge, in denen die Beteiligten in unterschiedlichen zeitlichen Realitäten miteinander agieren. Dies hat den Effekt, dass Sinnzuschreibungen und damit die Konstruktion einer „kommunikativen Realität“ je nach Perspektive unter­ schiedlich ausfällt. Zukünftige Forschung zu cross-modaler, technisch vermittelter Interaktion wird sich damit zu beschäftigen haben, wie sie angesichts dieser Bedingungen ihren Gegenstand definiert. Sicherlich wird der tiefere Blick in Pro­ duktionsverhältnisse dabei eine Rolle spielen.

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Videospiele Outlast 2 (Red Barrels 2017) Dead by Daylight (Starbreeze Studios 2016)

Methodische Zugänge zu Sozialen Medien

Michael Beißwenger (Duisburg-Essen)

Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem Abstract: Der Beitrag behandelt die Frage, wie sich das spezifisch Neue internetbasierter Kommunikation unter linguistischer Perspektive fassen und in Traditionen des sprachlichen Handelns einordnen lässt. Es wird gezeigt, dass sich die internetbasierte Kommunikation weder als Interaktion noch als Textkommunikation hinreichend beschreiben lässt, zugleich aber Merkmale mit beiden Formen teilt. Mit dem Konzept der Textformen-basierten Interaktion wird ein Vorschlag formuliert, wie dieses Dilemma aufgelöst werden kann: Das Innovationspotenzial internetbasierter Kommunikationstechnologien liegt gerade darin, dass diese durch Indienstnahme von Textformen die Möglichkeiten von Interaktion erweitern. Das hat einerseits Konsequenzen für die linguistische Analyse und lässt sich andererseits fruchtbar machen für die Entwicklung von Standards für die Repräsentation von Korpora.

1  Einleitung Im Kontext der Modellierung und Analyse sprachlicher und kommunikativer Praktiken bildet die internetbasierte Kommunikation einen spannenden Untersuchungsgegenstand. Geradezu Fishbowl-artig lässt sich an (und in) ihr studieren, wie sich die Nutzerinnen und Nutzer internetbasierter Kommunikationstechnologien an die von der Technologie gesetzten Rahmenbedingungen anpassen, um unter diesen Bedingungen bestmöglich das zu tun, wozu die Technologie gemacht ist: Interaktion zu gestalten. Die Kommunikation im Netz ist dabei ständigem technologischem Wandel unterworfen. Anwendungen verändern sich: Facebook und Twitter weisen heute ein anderes Funktionsspektrum auf als vor fünf Jahren. Die Kommunikationsform Chat feiert seit dem Aufkommen mobiler Messenger-Anwendungen wie WhatsApp ein Revival als Instrument für die digital vermittelte, sequenziell organisierte Individualkommunikation. Nutzerinnen und Nutzern, die über diese Anwendungen kommunizieren und ihre sozialen Netzwerke pflegen, stehen damit andere

https://doi.org/10.1515/9783110679885-015

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 Michael Beißwenger

Ressourcen zur Verfügung als in früheren Versionen desselben Systems oder in Vorläufersystemen; entsprechend ändern sich auch die Praktiken der sozialen Vernetzung und der Interaktionsgestaltung. Der Forschungsgegen­stand ‚Kommunikation in Social-Media-Umgebun­gen‘ ist unter dieser Perspektive schwierig zu fixieren. Er ist ein moving target. Die nachhaltige Präsentation datengestützter linguistischer Untersuchungen zum Gegenstand ist daher in der Regel mit einem nicht unerheblichen Dokumentationsaufwand verbunden, insofern die technischen Bedingungen, unter denen Sprachdaten produziert wurden, auf Stand des Produktionszeitpunkts erfasst und als äußere Rahmenbedingungen für den Nachvollzug der an ihnen analytisch rekonstruierten Praktiken beschrieben werden müssen. Bei all der Variabilität von Ressourcen und darauf bezogenen Praktiken gibt es aber durchaus Formate, die sich als sehr beständig gegenüber dem stetigen technologischen Wandel erwiesen haben, auch wenn sie uns in einzelnen Apps und Plattformen in unterschiedlichen Instanziierungen gegenübertreten. Die Tatsache, dass diese Formate übergreifend zu einzelnen Softwareanwendungen und -versionen in verschiedensten Kommunikationstechnologien immer wieder neu reproduziert werden, darf als Reflex der technologischen Entwicklung auf Nutzungspraktiken und die in diesen Praktiken artikulierten Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer aufgefasst werden: Die durch Software bereitgestellten Funktionalitäten werden durch massenhafte und wiederholte Nutzung in unterschiedlichsten Kontexten und für unterschiedliche Zwecke über soziale Praxis validiert; die damit an die Entwicklerinnen und Entwickler rückgespiegelte Akzeptanz führt dazu, dass bewährte Funktionskonstellationen bei der Weiterentwicklung der Technologien beibehalten werden. In der Präsentation und im exakten Funktionsumfang unterschiedlich, hinsichtlich zentraler Strukturmerkmale aber von hoher Übereinstimmung sind beispielsweise die folgenden Formen internetbasierter Kommunikation: Threads auf Diskussionsseiten der Wikipedia; Sequenzen von aufeinander bezogenen Kommentar-Postings zu YouTube-Videos; Diskussionsverläufe in Online-Foren, deren Beiträge in chronologischer oder thematischer Anordnung am Bildschirm persistent vorgehalten werden; ein Tweet mit den dazu verfassten und am Bildschirm darunter angeordneten Antwort-Tweets; initiale Postings auf Facebook-Seiten mit den dazu verfassten Folgebeiträgen anderer Nutzerinnen und Nutzer; Chatverläufe auf WhatsApp oder in Webchats, in denen die Beiträge der einzelnen Beteiligten in zeitlicher Abfolge auf einem prinzipiell endlosen Protokoll vorgehalten werden. Auf den ersten Blick mögen in diesen Formen internetbasierter Kommunikation zunächst die Unterschiede ins Auge stechen. In struktureller Hinsicht weisen die Kommunikationsverläufe – sowohl als Produkte als auch im Prozess ihrer Hervorbringung – aber dieselbe grundlegende Merkmalhaftigkeit auf, auch



Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion 

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wenn die einzelnen Umgebungen ihren Nutzerinnen und Nutzern ganz unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten für ihre Kommunikationsbeiträge bereitstellen und die ausgetauschten Äußerungen in jeweils unterschiedlicher Optik am Bildschirm präsentieren. 20 Jahre, nachdem das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) erstmals eine Jahrestagung dem Thema „Sprache und neue Medien“ gewidmet hat (1999), ist die Kommunikation im Internet „reif“ genug, um danach zu fragen, wie sich die in der Zwischenzeit etablierten Formate – als gesellschaftlich verifizierte und in Software kondensierte Erfolgsmodelle – in ihrer Spezifik beschreiben lassen. Für ein umfassendes Verständnis des „Phänomens Internet“ ist nicht nur die Analyse der jeweils neuesten Entwicklungen von Interesse, sondern auch, unter all der Dynamik und Vielfalt nach sich abzeichnender Kontinuität zu forschen. Ein solcher Versuch soll mit dem vorliegenden Beitrag unternommen werden. Ausgehend von den Gemeinsamkeiten, die prominente Formen internetbasierter Kommunikation aufweisen, widmet er sich der Frage, wie sich diese Gemeinsamkeiten in Form eines Basisformats internetbasierter Kommunikation beschreiben lassen. Die folgenden Fragestellungen lege ich dabei zugrunde: 1. Was ist das spezifische „Neue“ an der internetbasierten Kommunikation? Diese Frage ist ebenso alt wie die linguistische Beschäftigung mit dem Gegenstand. Sie zieht sich durch die Forschungsliteratur wie ein roter Faden – bis heute. 2. Wie lässt sich ein Basisformat internetbasierter Kommunikation beschreiben, das deutlich macht, in welchen Traditionen die dialogisch-sequenziell organisierte Kommunikation in Chats, Foren, WhatsApp, auf Wikipedia-Diskussionsseiten, auf Facebook und auf Twitter steht? Hier interessieren mich die Gemeinsamkeiten mit und die Unterschiede zu Organisationsformen sprachlichen Handelns, für die die Linguistik bereits über etablierte Beschreibungsmodelle verfügt – die Interaktion und das sprachliche Handeln mit Texten. In Hinblick auf das Basisformat, für dessen Spezifik ich ein Beschreibungsmodell vorlegen werde, konzentriere ich mich auf Kommunikationsformen wie die oben aufgeführten. Entsprechend verwende ich im Weiteren den Terminus ‚Internetbasierte Kommunikation‘ in diesem eingeschränkten Sinne. Ich schließe nicht aus, dass es ggf. mehrere Basisformate internetbasierter Kommunikation gibt. Das Format, um dessen Rekonstruktion es mir geht, ist dennoch nicht zufällig herausgegriffen. Es begegnet uns in der Geschichte internetbasierter Kommunikationsformen seit Jahrzehnten sehr prominent und in einer großen Zahl von Anwendungen und ist bereits in frühen Vorläuferformen heutiger Chat-, Foren- und Messaging-Anwendungen aus den 1980er-Jahren belegt. Damals war es aufgrund begrenzter Übertragungsbandbreiten undenkbar, gesprochene Sprache zeitnah über das Internet zu vermitteln. Entsprechend blieb als alternative Möglichkeit

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 Michael Beißwenger

für die Realisierung eines dialogisch-sequenziell organisierten, zeitnahen Austauschs nur die Schrift, und zwar in einer auf das Zeicheninventar des ASCII-Codes reduzierten Version. Neben (kurzlebigen) Systemen mit zeichenweiser Übermittlung (UNIX Talk) setzte sich dabei schon früh ein Format durch, bei dem Zeichenketten paketiert übermittelt wurden (vgl. Beißwenger 2007, S. 64–66) – passend zu dem auf die paketierte Datenübertragung ausgelegten TCP/IP-Protokollsockel des Internets. Die Entscheidung für Schriftlichkeit ist somit ursprünglich technologiegeschichtlich begründet und sozusagen aus der Not geboren – mit weitreichenden Konsequenzen für den gesellschaftlichen Umgang mit Schrift und für den dadurch ausgelösten sprachlichen Wandel (vgl. dazu Storrer 2014). Ich greife im Folgenden zunächst exemplarisch einige Positionen aus der linguistischen Diskussion auf, die ich für die Entwicklung des Ausgangspunkts meiner Argumentation benötige (Kap. 2). Davon ausgehend werde ich einen Modellierungsvorschlag für das angezielte Basisformat entwickeln, der sich als Beitrag zur linguistischen Diskussion versteht (Kap. 3 und 4). Abschließend werde ich zeigen, wie dieser Vorschlag auch für die Repräsentation von Korpora fruchtbar gemacht werden kann und im Bereich der Digital Humanities bereits konkret Anwendung findet (Kap. 5).

2  Einige Positionen aus der linguistischen Diskussion Die Frage „Wie kann ein geeignetes Modell zur Erfassung der Spezifik internet­ basierter Kommunikation aussehen?“ ist eng verknüpft mit der Frage, welche Modelle für die Organisation sprachlichen Handelns, die die Linguistik bereits ausgearbeitet hat, sich sinnvoll auf die Beschreibung des Gegenstands übertragen lassen. Dass die internetbasierte Kommunikation mit Blick auf ihre im Grundsatz sequenziell intendierte Organisationsform der Interaktion näher steht als dem Text, kann mit Blick auf die Forschungsliteratur als weitgehend unstrittig gelten. Dürscheid/Brommer (2009) und Imo (2013, S.  281) kommen zu dem Schluss, dass es zwar durchaus Unterschiede zu mündlichen Interaktionen gebe, die Gemeinsamkeiten aber überwögen; entsprechend sei der Analysezugang der Interaktionalen Linguistik (Selting/Couper-Kuhlen 2000) grundsätzlich auch auf die internetbasierte Kommunikation anwendbar – wenngleich, wie in der frühen, konversationsanalytisch ausgerichteten Forschung zur computer-mediated communication wiederholt gezeigt wurde, Analysekategorien, die an mündlichen Gesprächen entwickelt wurden, bei der Anwendung auf schriftlich realisierte Formen auf den Prüfstand gestellt und ggf. angepasst werden müssen. Eine viel­



Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion 

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zitierte Arbeit ist in diesem Zusammenhang Garcia/Baker Jacobs (1999). Die Autorinnen weisen auf den grundsätzlich asynchronen Charakter internetbasierter Kommunikation hin, und zwar selbst in Fällen wie den klassischen Chats, in denen die Beteiligten zeitlich kopräsent sind. Garcia und Baker Jacobs prägen in diesem Zusammenhang den Ausdruck ‚quasi-synchronous computer-mediated communication‘ (ebd., S. 339), einen Terminus, der in der Folge neben anderen von Dürscheid (2005) aufgegriffen wird. Zitzen/Stein (2005, ähnlich auch Beißwenger 2003), führen konkreter aus, worin diese Asynchronie besteht, und verweisen auf die grundsätzliche Entkoppelung der Produktions- von der Rezeptionssituation. Insbesondere beim Chatten hat das erhebliche Auswirkungen auf das Interaktionsmanagement, wie in Beißwenger (2007) empirisch gezeigt wird. Zitzen/Stein (2005) kommen anhand ihrer Befunde zu dem Vorschlag, neben orality und literality für die internetbasierte Kommunikation ein Drittes anzunehmen, das sie vorläufig als digitality bezeichnen (ebd., S. 1015 f.). Wiewohl viele der Beobachtungen und Feststellungen in der Arbeit von Zitzen und Stein sehr treffend sind, hat sich dieser Vorschlag nicht durchgesetzt, was vermutlich daran liegt, dass ein Konzept ‚konzeptionelle Digi­ talität‘ (digitality) in seiner Beziehung zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie zu den damit in Zusammenhang stehenden Traditionen zu unspezifisch und damit forschungspraktisch kaum handhabbar ist. Es lohnt sich aber durchaus darüber nachzudenken, ob die internetbasierte Kommunikation nicht „ein Drittes“ darstellt – und zwar nicht ein Drittes neben Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern vielmehr ein Drittes neben Interaktion und Text. Angelika Storrer spricht in ihrem Beitrag zum IDS-Jahrbuch 2013 – dort in Bezug auf Korpora internetbasierter Kommunikation – von Korpora „dritter Art“ (Storrer 2014, S. 189–191), deren Gegenstand sich von mündlichen Gesprächen wie auch von schriftlichen Texten so weitgehend unterscheide, dass für seine Erfassung neue Methoden und Werkzeuge benötigt würden. Zugleich zeigt Storrer, dass die sprachliche Gestaltung internetbasierter Kommunikation in Traditionen des Schreibens steht – das aber im Falle von Chat, Foren und vergleichbaren Formen den Zwecken der Interaktion folgt. Entsprechend führt Storrer (2013, 2014) das Konzept des ‚interaktionsorientierten Schreibens‘ in die Diskussion ein, das es erlaubt, die Spezifik der sprachlichen Gestaltung schriftlicher internetbasierter Kommunikation gegenüber der sprachlichen Gestaltung von Texten nicht nur auf der Ebene einzelner sprachlicher Phänomene zu beschreiben, sondern auch konzeptuell zu profilieren. Mit den Arbeiten von Imo/Lanwer (2019) und Hausendorf et al. (2015) soll im Folgenden noch auf zwei Positionen eingegangen werden, die die Frage, ob die internetbasierte Kommunikation sinnvoll als ein Fall von Interaktion zu beschreiben ist, auf sehr unterschiedliche Weise beantworten.

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 Michael Beißwenger

Imo/Lanwer (2019) entwickeln im Rahmen des Ansatzes der Interaktionalen Linguistik die Perspektive einer „Interaktionalen Schriftlinguistik“ und führen an Analysen vor, wie sich die Konzepte der interaktionalen Linguistik auf die Kommunikation in WhatsApp anwenden lassen. Zugleich machen sie deutlich, dass die Übertragung des Ansatzes auf schriftlich realisierte Kommunikation in theoretischer und methodischer Hinsicht noch weiter entwickelt werden müsse: Mit zunehmenden Forschungsergebnissen [ist] auch kritisch zu evaluieren, welche Konzepte aus der Konversationsanalyse und der Interaktionalen Linguistik für die Analyse von interaktionaler Schriftlichkeit übernommen werden können, welche angepasst werden müssen und wo man eventuell vollständig neue Konzepte benötigt. (Imo/Lanwer 2019, S. 294)

Hausendorf et al. (2015) gehen demgegenüber von einem Interaktionskonzept aus, das Interaktion für die Kommunikation unter Anwesenden reserviert, und betonen – wo Imo/Lanwer die Gemeinsamkeiten herausstellen – gerade die Differenz der schriftlichen Kommunikation im Netz zur Face-to-face-Begegnung: Für sie wird in der internetbasierten Kommunikation Anwesenheit durch Lesbarkeit ersetzt. Entsprechend beschreiben sie die internetbasierte Kommunikation als eine Form der „Textkommunikation, [die] in den Dienst eines dialogartigen Austauschs gestellt“ wird (Hausendorf et al. 2015, S. 126). Die beiden Perspektiven gegenüber­ gestellt demonstrieren sehr eindrücklich, wie neu und wie schwierig zu fassen der Gegen­stand für die Linguistik nach wie vor ist. Beide Vorschläge haben Erklärungskraft, akzentuieren die Stellung der internetbasierten Kommunikation zwischen Interaktion und Text aber ganz unterschiedlich. Gerade die Differenz zwischen den beiden Vorschlägen erscheint mir als sehr produktiv.

3  Internetbasierte Kommunikation als ein Drittes 3.1  Internetbasierte Kommunikation als Weiterentwicklung vorgängiger Organisationsformen des sprachlichen Handelns Die Spezifik internetbasierter Kommunikation ist meines Erachtens weder als „Interaktion mit Abstrichen“ noch als „Textkommunikation mit gewissen Besonderheiten“ zufriedenstellend erfasst. In Anbetracht der bedeutenden Rolle, die netzbasierte Formen der Kommunikation in immer mehr Bereichen des Alltags einnehmen, erachte ich es für nicht mehr zeitgemäß, der internetbasierten Kom-



Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion 

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munikation, obwohl deren Besonderheiten in der Forschung fraglos erkannt sind, nach wie vor nur einen Quasi-Status zuzuweisen. Wenig informativ und forschungspraktisch kaum operationalisierbar ist auch ein Label wie „Digitalität“ zur Beschreibung des Besonderen internetbasierter Kommunikation gegenüber mündlichen Gesprächen und schriftlichen Texten. Sinnvoll erscheint mir vielmehr eine Sichtweise, die die internetbasierte Kommunikation als ein Drittes auf einem Entwicklungsweg von Organisationsformen des sprachlichen Handelns betrachtet, an dessen Beginn (1) die mündliche Interaktion steht, dessen zweite Stufe (2) die Indienstnahme von Schriftlichkeit und Textformen und die gesellschaft­ liche Aneignung der situationsentbundenen Kommunikation mit Texten darstellt, und auf dem sich, ermöglicht durch die Kommunikationsinfrastruktur des Internets, (3) eine dritte Organisationsform ergeben hat, die die Qualitäten von Textformen adaptiert, um situationsentbundene, sequenziell intendierte Kommunikation zu ermöglichen.1 Die Perspektive auf den Gegenstand, die ich damit entwickeln möchte, kann als Vorschlag aufgefasst werden, die Idee einer ‚Inter­aktionalen Schriftlinguistik‘ im Sinne von Imo/Lanwer (2019) zu präzisieren und weiterzuentwickeln.2 Zugleich betone ich damit aber auch die neuen, ganz und gar Interaktions-untypischen Möglichkeiten der Gestaltung und Organisation kommunikativen Austauschs, die dann erkennbar werden, wenn man die ausgetauschten Produkte und die Strukturen, in die sie eingebettet sind, unter dem Gesichtspunkt ihrer Textformenhaftigkeit (und nicht nur ihrer medialen Schriftlichkeit) betrachtet. Damit greife ich einen Gedanken von Hoffmann (2004) auf, der die „Nutzung der Qualität von Textformen“ für die Organisation sequenziell intendierter Kommunikation als zentrales Charakteristikum internetbasierter Kommunikation beschrieben hat. In Beißwenger (2007) habe ich diesen Gedanken weiterentwickelt und die strukturelle Differenz der Chat-Kommunikation zum Gespräch empirisch ausgeleuchtet. Darauf aufbauend habe ich in Beißwenger (2016) eine Perspektive für

1 Situationsentbundene Kommunikation wird hier als Kommunikation unter Bedingungen der Zerdehnung (im Sinne von Ehlich 1983) aufgefasst, also als Kommunikation, in der der Kontakt zwischen den Beteiligten nicht über ein gemeinsames Hier und Jetzt gestiftet wird. 2 Eine solche Weiterentwicklung wäre freilich mit der Anforderung verbunden, Textformen und Schreiben als konstitutive Ressourcen der Interaktionsgestaltung systematisch mitzudenken und den methodischen Zugriff auf den Gegenstand entsprechend zu adaptieren. Das schließt ein, von gegenüber dem mündlichen Gespräch fundamental unterschiedlichen Zeitlichkeitsbedingungen auszugehen und Konzepte der Interaktionsanalyse, die auf die Zeitlichkeitsbedingungen gesprochener Sprache bezogen sind, auf den Prüfstand zu stellen und – ggf. auch rigoros – für die neuen Rahmenbedingungen anzupassen.

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die Analyse von Praktiken in der internetbasierten Kommunikation entwickelt, die die Zeitlichkeitsbedingungen von Kommunikation als den Dreh- und Angelpunkt betrachtet, um Organisationsformen sprachlichen Handelns in ihrer Spezifik zu erfassen und miteinander zu vergleichen. An diese Überlegungen knüpfe ich im Folgenden an. Unter einer Textform verstehe ich in Anlehnung an Hoffmann (2004) eine Repräsentationsform für sprachliche Äußerungen, die der Äußerung Überlie­ ferungsqualität verleiht, was die Organisation sprachlichen Handelns unter Be­ dingungen der ‚Zerdehnung‘ (sensu Ehlich 1983, 1984 et passim) ermöglicht. Die Überwindung von Flüchtigkeit (durch Ermöglichung von Persistenz) ist dafür konstitutives Merkmal. In Kombination mit schriftlicher Realisierung stellen Textformen weitere Qualitäten für die Gestaltung sprachlichen Handelns bereit: Flächigkeit, Visualität, multimodale Gestaltbarkeit. Von diesen Merkmalen und den Möglichkeiten ihrer Pragmatisierung wird in Kapitel  4 die Rede sein. Die auf Stufe (2) des oben skizzierten Entwicklungswegs über Jahrhunderte ausgearbeitete gesellschaftliche Institution ‚Text‘ stellt die prototypische Form der Indienstnahme von Textformen für Zwecke der Kommunikation unter Distanz­ bedingungen (zeitlich, räumlich, sozial) dar. Der Rückgriff auf Textformen ist aber nicht auf die Kommunikation unter Distanzbedingungen beschränkt. Zettelkommunikation wäre ein Beispiel ohne technische Vermittlung, das allerdings als gesellschaftlich randständig gelten kann und nur unter speziellen Kontext­ bedingungen auftritt. Erst die technologischen Innovationen des Internets stellen die Rahmenbedingungen und Potenziale bereit, unter denen Textformen und Schrift im großen Stil Aufgaben bei der Organisation sequenziell intendierter Kommunikation im Nahbereich übernehmen können. Die dadurch ausgelöste systematische Nutzung der Schrift im Nahbereich führt zu sprachlichen Besonderheiten, deren Auftreten Storrer (2014) als Indiz für sprachliche Ausbauprozesse (extensiv, intensiv) beschrieben hat.

3.2  Zeitlichkeitsbedingungen von Gesprächen – Zeitlichkeitsbedingungen internetbasierter Kommunikation Konstitutives Merkmal von Textformen ist die Überwindung von Flüchtigkeit. Dieses Merkmal kann in seiner Leistung und in seinen Folgen für die Organisation und Gestaltung sprachlichen Handelns nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für die Analyse der Zeitlichkeitsbedingungen internetbasierter Kommunikation



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möchte ich im Folgenden beim mündlichen Gespräch ansetzen, an dessen Kommunikationsbedingungen die Kategorien einer auf die Spezifik des Interaktionalen ausgerichteten Sprachanalyse entwickelt wurden. Vor diesem Hintergrund lässt sich entwickeln, wie fundamental sich die Textformen-basierte Interaktion von Gesprächen unterscheidet. Eine Analyse von Praktiken der gesprochenen Sprache ist ohne Berücksich­ tigung ihrer Zeitlichkeitsbedingungen und der daraus erwachsenden Ressourcen nicht denkbar (vgl. Auer 2000, 2007; Deppermann 2007; Hausendorf 2007; Couper-Kuhlen 2007 u.a.). Zeitlichkeitsbedingungen sind in der Mündlichkeit wesentlich auf die Dispositionen und auf die Reichweite körperlicher Mittel bezogen, die Deppermann (2018, S. 52) als „Infrastruktur leiblichen Handelns“ beschreibt. Aus der Körpergebundenheit lassen sich zentrale Zeitlichkeitsbedingungen mündlicher Gespräche ableiten: die Flüchtigkeit und die Irreversibilität der Verbalisierung, die Synchronisierung der „Bewusstseinsströme des Ich und des Du“ (Auer 2000, S. 46), auf deren Hintergrund Sprachstrukturen als grundsätzlich interaktional und kollaborativ erzeugte Leistungen zu konzipieren sind (Selting/ Couper-Kuhlen 2000, S. 81), sowie die Emergenz und die Inkrementalität des Strukturaufbaus, die sich auf allen Ebenen der sprachlichen Gestaltung und Organi­ sation von Gesprächen auswirken. Während die Zeitlichkeitsbedingungen mündlicher Gespräche an eine Infrastruktur der Leiblichkeit geknüpft sind, ist im Falle technisch vermittelter Interaktion Sprache eingebettet in eine Infrastruktur technischer Vermittlung, bei der – sensu Weingarten (1989, S. 32) – der „ganzheitliche, kontinuierliche und variable Kommunikationsprozeß […] nach festen Regeln in Ebenen und Einheiten zerlegt und so für den technischen Prozeß zugänglich gemacht“ wird und für die charakteristisch ist, dass gerade nicht unmittelbar leiblich gehandelt werden kann. Im Fall der internetbasierten Kommunikation hat das zur Konsequenz, dass die Zeitlichkeitsbedingungen mündlicher Gespräche nicht gelten. Wir betrachten ein Datenbeispiel aus dem Dortmunder Chat-Korpus, das bereits in Beißwenger (2005, S. 84 f.) und Beißwenger (2007, S. 268 f.) analysiert wurde und das in der Folge Imo (2013, S. 278 f.) noch einmal interaktional-linguistisch interpretiert hat (Abb. 1). An diesem Beispiel lässt sich sehr gut zeigen, wie die inter­aktionale Perspektive mit einer Perspektive der Textformenhaftigkeit zusammengebracht werden kann (bzw. muss), um der Spezifik der Interaktionskonstitution in Abhängigkeit von den technologisch gesetzten Rahmenbedingungen gerecht zu werden. Wir sehen einen Ausschnitt aus einem chatbasierten Beratungsangebot. BER ist der Berater, RS ein Ratsuchender.

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Abb. 1: Ausschnitt aus einem Chatverlauf

Auf den ersten Blick zeigt das Beispiel in Abbildung 1 eine sequenziell strukturierte Folge von Beiträgen, die mit klaren „Sprecherwechseln“ aufeinander folgen. Bei näherer Betrachtung knirscht es aber im sequenziellen Gebälk: Die Platzierung der einzelnen Äußerungen gelingt den Beteiligten nicht in jeder Hinsicht so wie es sequenziell Sinn ergeben würde: Auf die Frage von BER „darf ich fragen, wie alt du bist“ folgt mit nur zwei Sekunden Versatz als vermeintliche Antwort von RS die Äußerung „meine mutter is hysterisch“. Tatsächlich handelt es sich hier nicht um die Antwort auf die unmittelbar davor angezeigte Frage, sondern um die Fortsetzung einer davor über mehrere Postings verteilten, längeren Äußerung, mit der RS seine familiäre Situation schildert. BER hat möglicherweise die Äußerung von RS mit dem Beitrag 15:53:50 als abgeschlossen interpretiert und daraufhin eine Folgefrage produziert, während RS – für BER unsichtbar – mit der Produktion einer weiteren Fortsetzung seiner Äußerung beschäftigt war. Dass BER zwischenzeitlich eine neue Frage gestellt und einen Themenwechsel eingeleitet hat, hat RS vermutlich erst nach der Versendung seines Beitrags bemerkt. Er schiebt daraufhin eine weitere Äußerung hinterher – „12“ –, die als Antwort auf die zuvor gestellte Frage passt. Als Resultat ergeben sich, wenn man nur das Verlaufsprotokoll in die Analyse einbezieht, Sequenzmuster, die für mündliche Gespräche eher untypisch wären – von Garcia/Baker Jacobs (1999) als ‚Phantomadjazenz‘, von Imo (2015, S. 23) als ‚sequenzielle Überlappung‘ charakterisiert. Diese Interpretationen sind unter interaktionaler Perspektive naheliegend, bleiben aber oberflächennah. Dass die Beteiligten einen sequenziell organisierten Austausch führen möchten, ist unstrittig. Dass sie für dessen Strukturierung auf Konzepte zurückgreifen, die ihnen aus mündlichen Gesprächen vertraut sind, auch. Zu differenzieren ist aber zwischen (1) der Sequenzplanung der einzelnen Interaktionsbeteiligten, (2) der Umsetzung dieser Planung in schriftliche Beiträge, (3) der Einordnung der versen­



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deten Beiträge in das linear strukturierte Verlaufsprotokoll am Bildschirm und (4) der jeweils individuellen Wahrnehmung dieses aktuellen Stands. Durch die beständige Anforderung, Lese- und Schreibaktivitäten individuell zu koordinieren, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es zu einem Zeitpunkt eine geteilte Auffassung der Beteiligten über den Stand des Interaktionsgeschehens gibt. Der Standardfall ist die Divergenz der individuellen Sichten auf den Stand der Interaktion. Der zeitliche Versatz mag zwar in vielen Fällen gering sein; die grundsätzliche Entkopplung von Produktion, Übermittlung und Rezeption führt aber dazu, dass die Sequenzorganisation nicht über ein kollaboratives Interaktionsmana­ gement zur Laufzeit erzeugt werden kann. Kohärente Anschließbarkeit muss vielmehr individuell hergestellt werden, in der Produktion und in der Rezeption. Die Zeitlichkeitsbedingungen der internetbasierten Kommunikation gleichen unter dieser Perspektive viel eher den Zeitlichkeitsbedingungen beim sprach­ lichen Handeln mit Texten als in mündlichen Gesprächen. Frank Liedtke hat in seinem Beitrag „Schrift und Zeit“ (2009) drei Zeitpunkte unterschieden, die für das Handeln mit Texten konstitutiv sind: einen Inskriptionszeitpunkt, zu welchem die Äußerung produzierendenseitig vollständig ausformuliert und verschriftet vorliegt; einen Rezeptionszeitpunkt, zu welchem die Textäußerung von einem Rezipienten oder einer Rezipientin gelesen und damit rezipientenseitig aktualisiert wird; einen Obligationszeitpunkt, zu welchem als Resultat der Lektüre die „Festlegungen, Berechtigungen und Verpflichtungen“ (Liedtke 2009, S.  80) der mit dem Text intendierten sprachlichen Handlungen realisiert sind. Der Charakter der zeitlichen Ruptur beim sprachlichen Handeln mit Texten – die ‚Zerdehnung‘ sensu Ehlich (1983, 1984) – lässt sich allerdings noch detaillierter erfassen: Dem von Liedtke beschriebenen Inskriptionszeitpunkt lässt sich ein Intentionszeitpunkt voranstellen, zu welchem der bzw. die Produzierende beschließt, eine Textäußerung zu konzipieren. Der Intentionszeitpunkt bildet den Ausgangspunkt für die Produktion; der Zeitraum zwischen Intentions- und Inskriptionszeitpunkt bildet die Produktionszeit. Vom Inskriptionszeitpunkt ist weiterhin ein Verfügbarkeitszeitpunkt zu unterscheiden, der denjenigen Zeitpunkt bezeichnet, ab welchem die inskribierte Textäußerung für die Rezipientin oder den Rezipienten – typischerweise nach einem vorangegangenen Übermittlungs- oder Publikationsprozess – zugänglich ist. Der Verfügbarkeitszeitpunkt fällt nicht notwendigerweise zusammen mit dem Zeitpunkt der Wahrnehmung der Textäußerung durch potenzielle Rezipierende; zugleich ist der Zeitpunkt der Wahrnehmung der Textäußerung nicht identisch mit dem Zeitpunkt der Obligation, da für die rezipierendenseitige Aktualisierung der mit dem Text vollzogenen Handlungen zunächst die Rezeption erforderlich ist, die als Zeitraum zwischen einem Perzeptionszeitpunkt und dem bereits charakterisierten Obligationszeitpunkt beschrieben werden kann. Insgesamt ergeben sich, um die spezifischen Zeitlichkeitsbedingungen für die

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Konstitution des sprachlichen Handelns mit Texten in einem Modell zu erfassen, fünf relevante Zeitpunkte. Diese sind in Abbildung 2 veranschaulicht.

PRODUZENT

TEXT

REZIPIENT

PRODUKTIONSZEIT

ÜBERMITTLUNG/ PUBLIKATION

REZEPTIONSZEIT

t1

t2

t3

t4

t5

Inten�onszeitpunkt

Inskrip�onszeitpunkt

Verfügbarkeitszeitpunkt

Perzep�onszeitpunkt

Obliga�onszeitpunkt

Situation 1

Situation 2

Abb. 2: Zeitlichkeitsbedingungen beim sprachlichen Handeln mit Texten

Für die internetbasierte Kommunikation muss dieses Modell nur geringfügig angepasst werden (Abb. 3). Inskribiert ist die Äußerung zunächst bei der bzw. dem Produzierenden. Nach der Übermittlung erscheint sie im Verlaufsprotokoll auf dem Endgerät der Adressatin bzw. des Adressaten. Zwischen dem Intentionszeitpunkt und der Verarbeitung des Beitrags durch die Adressaten können sich die Kontextbedingungen für die mit dem Beitrag intendierten sprachlichen Hand­ lungen jederzeit ändern – weil sich das Bildschirmprotokoll ändern kann. Wie ein Beitrag sequenziell in den Kontext „passt“, lässt sich für die oder den Produzierende/n erst nach der Übermittlung und Platzierung im Protokoll, genau genommen sogar erst an den Folgebeiträgen der Rezipient/innen, ablesen. Das Verlaufsprotokoll am Bildschirm bildet dabei die zentrale Ressource, um sequenzielle Zuordnungen in der Rezeption herzustellen bzw. ggf. auch erst im Nach­ hinein zu rekonstruieren. Am Beispiel aus Abbildung 1 lässt sich das zeigen: Die sinnvolle sequenzielle Zuordnung des Beitrags „meine mutter is hysterisch“ bedarf für BER des Rücksprungs auf einen früheren Stand als denjenigen, den er mit seiner Frage „darf ich fragen, wie alt du bist?“ erzeugt hat. RS kann die gestellte Frage – obwohl in der Anzeige ein sequenziell deplatziertes Element interveniert – nachträglich beantworten, ohne das Thema der Frage sprachlich erneut aufgreifen zu müssen. Die Frage ist schriftlich am Bildschirm vorgehalten, und er kann seinem Partner unterstellen, dass dieser in der Lage ist, den entsprechenden Anknüpfungspunkt

Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion 



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im Protokoll eigenaktiv zu identifizieren. Die Persistenz des Geäußerten im Pro­ tokoll leistet somit einen wesentlichen Beitrag, um die gegenüber mündlichen Gesprächen eingeschränkten Möglichkeiten des Interaktionsmanagements zur Laufzeit bearbeitbar zu machen.

PRODUZENT

POSTING

REZIPIENT

PRODUKTIONSZEIT

ÜBERMITTLUNG

REZEPTIONSZEIT

t1

t2

t3

t4

t5

Inten�onszeitpunkt

Inskrip�onszeitpunkt

Verfügbarkeitszeitpunkt

Perzep�onszeitpunkt

Obliga�onszeitpunkt

Situation 1

Situation 2

Situation 3

Situation 4

Situation 5

Kontextbedingungen zu t1

Kontextbedingungen zu t2

Kontextbedingungen zu t3

Kontextbedingungen zu t4

Kontextbedingungen zu t5

BILDSCHIRMPROTOKOLL (Verarbeitungsgrundlage, kon�nuierlich aktualisiert)

Abb. 3: Zeitlichkeitsbedingungen in der internetbasierten Kommunikation (vgl. Beißwenger 2007, 2016)

Persistenz ist eine Ressource nicht nur auf der Ebene des Verlaufsprotokolls, sondern auch auf der Ebene der Produktion. Eingegebene Entwürfe werden dadurch wiederlesbar, editierbar und reversibel. Der Prozess der Formulierung und Gestaltung schriftlicher Beiträge kann damit rekursiv und reflexiv gestaltet werden – analog zu monologischen Schreibprozessen, bei denen der aufgeschriebene Text­ entwurf vom Schreibenden zum Input für den weiteren Schreibprozess und damit zum Gegenstand der Evaluation, der Reflexion und der erneuten Bearbeitung werden kann. Dass diese Möglichkeit auch tatsächlich und systematisch genutzt wird, habe ich in Beißwenger (2007) empirisch an einer Analyse von Prozessen der Beitragsproduktion in Chats gezeigt.

3.3  Zwischenfazit: Textformen-basierte Interaktion Die Ausgangsfragen aus Kapitel 2 lassen sich auf dem Hintergrund der in den Abschnitten 3.1 und 3.2 präsentierten Analyse der Zeitlichkeitsbedingungen inter-

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netbasierter Kommunikation wie folgt beantworten: In der internetbasierten Kommunikation ist, technologiegeschichtlich bedingt und eher zufällig, etwas Neues, Drittes, entstanden, das sich aber als enorm erfolgreich erwiesen hat. Die internetbasierte Kommunikation ist Textformen-basierte Interaktion und als solche eine Weiterentwicklung vorgängiger Organisationsformen sprachlichen Handelns – der Interaktion und des Textes – mit spezifisch eigenen Organisationsprinzipien und Leistungen. Systematisch werden in ihr Textformen für die Organisation eines als interaktional intendierten Austauschs genutzt. Textformen machen Potenziale der Verdauerung sprachlicher Information als Ressource für die Organisation von Kommunikation verfügbar und ermöglichen die zeitliche Entkopplung von Produktion, Übermittlung und Rezeption. Dialogisch-sequenziell intendierter Austausch wird dadurch zeitlich flexibel gestaltbar; die sequenziellen Zuschreibungen entstehen nicht als unmittelbar interaktionale Leistungen der Beteiligten, sondern in der individuellen Handlungsplanung und Rezeption. Dadurch bleibt eine grundsätzliche Differenz sowohl zur Interaktion als auch zum Text. Deshalb ist die Textformen-basierte Interaktion ein Drittes – gerade weil sie in Traditionen sowohl der Interaktion als auch des sprachlichen Handelns mit Texten steht. In den klassischen Chats hat sie ihr volles Potenzial nicht ausspielen können; vermutlich deshalb spielen klassische Chats, bei denen alle Beteiligten zeitgleich online sein mussten, heute nur noch eine randständige Rolle. Die Weiterentwicklung der klassischen Chats zu Anwendungen wie WhatsApp mit sitzungsübergreifend vorgehaltenem Verlaufsprotokoll „entschärft“ das Problem der Sequenz­ organisation gerade dadurch, dass Interaktion zeitflexibler gestaltbar wird. Hinzu treten vielfältige Möglichkeiten der multimodalen Gestaltung von Kommunikaten, von denen in Kapitel 4 noch zu sprechen sein wird.

Abb. 4: Textformen-basierte Interaktion



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Zwei Arten von Textformen sind prägend für das Basisformat internetbasierter Kommunikation, um das es mir geht: 1. das Posting: eine Zeichenfolge, die en bloc verschickt, nach Aufbereitung durch das vermittelnde System als flächiges Ganzes am Bildschirm präsentiert und dort visuell gegen Einheiten gleichen Typs abgegrenzt wird (Beißwenger 2016, 2018); 2. das Verlaufsprotokoll am Bildschirm, das die Verarbeitungsgrundlage bildet und in dem die Postings als Resultat des Zusammenspiels von Nutzereingaben und Systemroutinen in eine lineare, ggf. auch in Threads verzweigende Ordnung gebracht und in dieser Ordnung für die wiederholte Rezeption vorgehalten werden.

Abb. 5: Präsentation eines Audio-Postings am Bildschirm als visuelle, flächige, multimodale Form

Dass sich die Textformen-basierte Kommunikation als Erfolgsmodell entpuppt hat, zeigt sich einerseits in ihrer massenhaften Verbreitung, andererseits aber auch an der noch relativ jungen Innovation der sogenannten „Sprachnachrichten“ (Abb. 5). Sprachnachrichten ermöglichen es den Nutzerinnen und Nutzern von WhatsApp, eine Audio-Datei zu besprechen und über die Chatfunktion zu versenden. Sehr treffend sprechen Katharina König und Tim Moritz Hector (2017) in Bezug auf Sprachnachrichten von Audio-Postings. Mit Audio-Postings „hält die mediale Mündlichkeit mit all ihren Ausdrucksressourcen Einzug in die mobile MessengerKommunikation“ (König/Hector 2017, S. 36). Das Inventar der verfügbaren Gestaltungsmittel wird dadurch erweitert, Chats können wahlweise oder alternierend medial mündlich und medial schriftlich organisiert werden. Selbst bei ausschließ­ licher Nutzung von Sprachnachrichten bleibt der Chat aber strukturell Textformenbasiert; eine Annäherung an Gesprächsformen findet lediglich auf der Ebene der medialen Realisierung als gesprochene Sprache statt – aber selbst das unter dem

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Vorbehalt, dass zentrale Zeitlichkeitsbedingungen mündlicher Gespräche nicht gelten. Dazu passt auch, dass Audio-Postings im Verlaufsprotokoll als visuelle, flächige, multimodale Formen präsentiert werden, über die mittels Aktivierung eines Abspielsymbols die Audio-Aufzeichnung abgerufen werden kann.

4  Textformen-basierte Interaktion als Kommunikation über multimodale Sehflächen An der Gestaltung von Audio-Postings zeigen sich weitere wichtige Merkmale, die Textformen in die internetbasierte Kommunikation einbringen: die flächige Präsentation von Information und die Möglichkeit zur multimodalen und hypertextuellen Gestaltung. Das von Ulrich Schmitz (2006, 2011) eingeführte Konzept der ‚multimodalen Sehfläche‘ lässt sich sehr gut anwenden, um diese Gestaltungsmöglichkeiten zu beschreiben. „Sichtbarkeit in der Fläche“ (Schmitz 2011, S. 30) ist Zeitlichkeit unter den Bedingungen von Textformen: Sie gewährleistet, dass alle Einheiten eines Kommunikats gleichzeitig – d.h. simultan – für die Rezipientinnen und Rezipienten präsent gemacht werden können (Fiehler 2005, S. 1182). Dabei wird die temporale Logik linearer Kommunikation […] durch eine räumliche Logik ersetzt, in der die Zusammenhänge zwischen Elementen nicht mehr eindimensional fortlaufend, sondern zweidimensional in der Fläche bestehen (Bucher 2011, S. 139).

Das ermöglicht die Rezeption in eigenem Tempo, in selbstgewählter Richtung und in beliebiger Wiederholung. Flächigkeit ermöglicht es, schriftliche Elemente räumlich zu komponieren und mit visuellen Mitteln der Graphostilistik und des Layouts zu arbeiten. Flächigkeit ermöglicht es, über parallele Kanäle zu kommunizieren und mehrere Sinne anzusprechen, wobei die Schrift gemeinsam mit anderen visuell basierten Zeichentypen erscheinen kann oder auch andere Zeichen­ typen gänzlich ohne Beteiligung von Schrift ein Kommunikat bilden können. Die Textformen-basierte Kommunikation arbeitet mit multimodalen Sehflächen auf drei Ebenen: –– auf der Ebene des User Interfaces; –– auf der Ebene der Verlaufsprotokolle und hier als Gestaltungsleistung der zugrunde liegenden, die Kommunikation vermittelnden technischen Systeme; –– auf der Ebene des Inhalts einzelner Postings und damit als Leistung der jeweiligen Produzierenden und unter Nutzung von Assistenzfunktionen, die durch das technische System bereitgestellt werden.



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4.1  Das Verlaufsprotokoll als multimodale Sehfläche Die von den Beteiligten übermittelten Beiträge werden für die Darstellung im Display vom System auf eine zweidimensionale Präsentationsfläche aufgetragen, die als endlose Schriftrolle vorgehalten wird (Abb. 6). Auf dem User Interface ist ein Fenster definiert, über das ein Ausschnitt aus dem Protokoll betrachtet werden kann; anhand eines Scrollbalkens kann diese Auswahl verändert und können frühere Teile des Protokolls in die Anzeige geholt werden.

Abb. 6: Multimodale Gestaltung von User Interface und Verlaufsprotokoll am Beispiel WhatsApp

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Innerhalb des Protokolls sind die einzelnen Postings als Flächen mit klaren Begrenzungen ausgewiesen: Alles, was als user generated content zu einem Zeitpunkt von einem oder einer Beteiligten versendet wurde, wird innerhalb einer Parzelle dargestellt, die gegenüber dem Hintergrund farblich abgehoben ist. Dabei werden eigene Beiträge mit einer anderen Farbe hinterlegt als Beiträge der anderen Beteiligten. Eigenes ist rechtsbündig und Fremdes linksbündig an die vertikalen Begrenzungen der Protokollfläche angebunden. Als visuell-metaphorischer Verweis auf die Dialogizität des Austauschs fungiert die Sprechblasen­optik der hinterlegten Flächen.

4.2  Das Posting als multimodale Sehfläche Die Gestaltung der Protokollfläche wird vom System verantwortet. Auf der Ebene der Postings liegt hingegen die Gestaltungshoheit bei den Nutzerinnen und Nutzern, die dazu auf Assistenzfunktionen der Software zurückgreifen können.

Abb. 7: Multimodale Gestaltung von Nutzerpostings und hypermediale Vernetzung mit externen Ressourcen (hier: mit einem YouTube-Video)



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Abb. 8: Produktion des Nutzerpostings aus dem Beispiel in Abbildung 7

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Das letzte Posting im Beispiel aus Abbildung  6 enthält eine Vorschau auf ein YouTube-Video sowie, darauf deiktisch verweisend, den sprachlichen Äußerungsanteil „Kennt ihr die schon?“. Das Posting ist Teil einer Sequenz, in der sich die beiden Beteiligten über aktuelle TV-Serien unterhalten. Das Thema „Serien“ wurde im Vorgänger-Posting von Teresa sprachlich eingeführt. Die Vorschau auf das Video umfasst neben einem Screenshot verschiedene sprachlich präsentierte Angaben zur Serie, die vom System automatisch aus Metadaten zur entsprechenden Datei auf YouTube generiert wurden. Die Vorschau auf das Video wird vom System als aktivierbares Bildschirmelement präsentiert (Abb. 7 links), das bei Berührung eine Bild-in-Bild-Wiedergabe auslöst, die einerseits sprachlich angezeigt wird („Dieses Video wird Bild-in-Bild wiedergegeben“) und andererseits als Layer, der über dem Protokoll eingeblendet wird, direkt rezipiert werden kann (Abb. 7 rechts). Auch die URL des YouTubeVideos, die vom Produzenten in sein Posting eingefügt wurde, wird vom System als Hyperlink und damit als aktivierbares Bildschirmelement dargestellt. Seine Aktivierung führt zum Aufruf der Zielseite im Webbrowser. Externe Ressourcen werden dadurch in die laufende Interaktion integrierbar. Werfen wir abschließend noch einen Blick auf die Produktion des besprochenen Postings aus Abbildung 7. Die Analyse der Produktion, die in Abbildung 8 als Abfolge von vier Schritten veranschaulicht ist, macht sichtbar, wie stark das System selbst als künstlicher Akteur an der Gestaltung der Postings beteiligt ist. Zu Beginn des Produktionsprozesses steht die Berührung des Eingabefelds mit dem Finger. Dadurch signalisiert die Nutzerin bzw. der Nutzer dem System, dass sie bzw. er einen Beitrag produzieren möchte. Das System blendet daraufhin eine Bildschirmtastatur in das Interface ein. Durch längere Berührung des Eingabefelds mit dem Finger wird eine Assistenzfunktion aktiviert, die es ermöglicht, Inhalte aus der Zwischenablage des Betriebssystems einzufügen. Das System blendet dazu eine interaktive Schaltfläche ein, die mit „Einfügen“ beschriftet ist (Abb.  8, Schritt 1). Der bzw. die Produzent/in tippt mit dem Finger auf diese Schaltfläche, wodurch eine zuvor in der Zwischenablage gespeicherte URL eingefügt wird, die auf das YouTube-Video verweist (Schritt 2). Automatisch identifiziert das System daraufhin die eingegebene Zeichenfolge als URL, ruft im Hintergrund die Metadaten zur Videodatei aus YouTube ab und generiert eine Kurz-Vorschau (Schritt 3). Die Produzentin bzw. der Produzent weiß nun, dass er bzw. sie bestimmte Informationen zu der mit der URL referenzierten externen Ressource in seinem bzw. ihrem Beitrag nicht mehr sprachlich zu thematisieren braucht, sondern dass das System entsprechende Informationen automatisch in das Posting integriert. Er bzw. sie kann somit bei der weiteren Eingabe seines Beitrags (Schritt 4) bequem deiktisch auf die Zielressource verweisen, die



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über die Vorschau ad oculos verfügbar ist, wodurch das Verweisziel unmittelbar erschließbar wird. Bei der Betätigung der Senden-Funktion wird das Posting dann in ein für die Darstellung im Protokoll angepasstes Layout überführt und das Vorschaubild in ein abspielbares Medienobjekt transformiert (vgl. Abb. 7). An diesem Beispiel zeigt sich mustergültig, wie technische Bedingungen der Kommunikation und der Beitragsgestaltung unmittelbar sprachliche Praktiken unterstützen und wie die sprachliche Gestaltung von Beiträgen durch technische Assistenzfunktionen mitgeprägt wird.

4.3  Flächigkeit und Multimodalität als Ressourcen für Praktiken Die Präsentation und klare visuelle Abgrenzung der Postings auf der Protokollfläche sowie die Möglichkeit der multimodalen Gestaltung von Postings stellen Ressourcen dar, die die Interaktionsbeteiligten für die Interaktionsgestaltung nutzen. Exemplarisch sei dazu auf zwei aktuelle Untersuchungen verwiesen: –– Pragmatisierung der Sehfläche ‚Verlaufsprotokoll‘: Androutsopoulos (2018, S. 728) erklärt die Nichtsetzung von Satzschlusszeichen in WhatsApp-Interaktionen als „Redundanz des Abschlusssignals durch die technologische Vermittlung: Die Betätigung der Enter-Taste und die grafisch-visuelle Rahmung der Einzelbeiträge [Hervorhebung MB] übernehmen im Grunde die abschlussmarkierende Leistung des Punktes in der digitalen Interaktion“. Die Setzung des Punktes wird damit frei für pragmatische Reinterpretation. –– Pragmatisierung der Sehfläche ‚Posting‘: Beißwenger/Pappert (2019a, b) zeigen im Rahmen einer Untersuchung zum höflichen Handeln mit Emojis, wie positiv besetzte Emojis (z.B. das Daumen-hoch-Emoji) aufgrund ihrer Bildzeichenhaftigkeit als Modalisierer für gesichtsbedrohende Akte genutzt werden. Die Produzierenden machen sich dabei zunutze, dass Bildzeichen holistisch verarbeitet werden, ihre Bedeutung also nicht erst „erlesen“ werden muss, und eine individuelle Bedeutungszuschreibung auch unabhängig von der Kenntnis des sprachlichen Kontexts möglich ist. Mit dieser Eigenschaft können sie eingesetzt werden, um bei den Adressat/innen eine positive Erwartungshaltung in Bezug auf den Inhalt eines Postings auszulösen, noch bevor dieser Inhalt tatsächlich gelesen wurde.

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5  Adaption des Konzepts der Textformenbasierten Interaktion für die Repräsentation von Korpora Während bei der linguistischen Modellierung der Erkenntniszugriff auf den Gegen­ stand und, als Konsequenz, die Wahl bestimmter theoretischer und methodischer Zugänge zu dessen Analyse im Vordergrund stehen, geht es bei der Repräsentation von Korpora um die Entwicklung von Modellen, die formal in einem Repräsentationsschema ausgedrückt werden und die der Korpusannotation zugrunde gelegt werden können. Speziell bei der kurationsgetriebenen Modellierung – das ist nach Jannidis (2017, S. 102) eine Modellierung, die auf eine langfristige und nachhaltige Bereitstellung von Forschungsressourcen angelegt ist – spielen dabei die Aspekte der Nachnutzbarkeit und der Interoperabilität eine wichtige Rolle. Nachnutzbarkeit beschreibt das Ziel, Ressourcen in Formaten vorzuhalten, die unabhängig von der Weiterentwicklung von Betriebssystemen und Spezial­ software auch Jahrzehnte später mit Standardwerkzeugen verarbeitet und von Endnutzerinnen und -nutzern „verstanden“ werden können. Interoperabilität beschreibt das Ziel, Ressourcen so zu strukturieren, dass sie mit Ressourcen anderer Urheberinnen und Urheber kombiniert werden können. Eine wichtige Vorbedingung von Nachhaltigkeit und Interoperabilität bilden Repräsentations-Standards. Standards dienen nach Henning Lobin dazu, „dass nicht jeder das Rad neu erfinden muss“ (Lobin 2010, S. 107): Sie ermöglichen, dass für die zu lösende Aufgabe auf Lösungen zurückgegriffen werden kann, die sich in anderen Projekten ähnli­cher Art bereits bewährt haben. Ein wichtiger Baustein, um Standards zu etablieren, ist die Entwicklung geeigneter Datenmodelle. Die Repräsentation von Korpora ist nicht primär eine „technische“ Aufgabe, auch wenn die Annotationen, mit denen auf der Grundlage eines Datenmodells die Daten in einem Korpus angereichert werden, für ungeschulte Augen auf den ersten Blick sehr technisch anmuten mögen. Gerade die linguistische Perspektive wird bei der Entwicklung von Modellen für die Strukturrepräsentation von Korpusdaten dringend benötigt. Mit Jannidis (2017) kann Modellierung als der Punkt betrachtet werden, „wo das geisteswissenschaftliche Verständnis eines Weltausschnitts und die Kompetenz zur formalen Modellierung zusammentreffen und im besten Fall neue Fragestellungen und neue Forschungen ermöglichen“ (ebd., S. 107  f.). Das Konzept der Textformen-basierten Interaktion liefert gute Argumente dafür, weshalb Modelle für die Strukturannotation von redigierten Texten und von transkribierten Gesprächen nicht 1:1 geeignet sind, Korpora internetbasierter Kommunikation zu beschreiben. Auch bei der Repräsentation von Korpora erweist



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sich die internetbasierte Kommunikation als etwas Drittes, das aber in den Traditionen von Inter­aktion und Text verwurzelt ist. Etablierte Standards für die Strukturannotation texttragender Objekte in den Geisteswissenschaften, wie sie von der Text Encoding Initiative (TEI) angeboten werden, umfassen bislang keine Modelle für Sprachdaten internetbasierter Kommunikation (vgl. Lüngen/Kupietz i.d.Bd.). In den vergangenen Jahren hat eine Arbeitsgruppe mit Vertreterinnen und Vertretern von Korpusprojekten zu mehreren europäischen Sprachen ein Schema für die Annotation von Korpora internetbasierter Kommunikation entwickelt, das auf die Encoding-Formate der TEI aufsetzt und diese erweitert. Das Schema baut auf das TEI-Modell für strukturierte Texte auf. Gespeicherte Verlaufsprotokolle werden dabei zunächst als strukturierte Dokumente betrachtet, die Absatzgliederungen, Mittel der Textgestaltung, Medienobjekte und Hyperlinks enthalten können. Für diese textgliedernden und textgestaltenden Mittel stehen im TEI-Standard ausgearbeitete Modelle zur Verfügung, die für die internetbasierte Kommunikation nur geringfügig angepasst werden müssen. Zentral – und neu – ist Folgendes: Die Mittel der Textgliederung und -gestaltung werden im Schema für die internetbasierte Kommunikation um ein übergeordnetes, neues Modellierungskonstrukt erweitert, in dessen Rahmen sie auftreten können. Dieses übergeordnete Konstrukt trägt den Namen . Posts haben Produktcharakter. Sie reisen durchs Netz als kleine Dokumente mit nutzergeneriertem Inhalt und zugeordneten Metadaten. Ihre Funktion ist es, einen Beitrag zu einer laufenden Interaktion zu leisten, deshalb hat jede Instanz des Konzepts Post eine/n eigene/n Urheber/in. Posts werden nach ihrer Übermittlung als flächige Gliederungseinheiten in einem kontinuierlich fortgeschriebenen Dokument präsentiert. In dieser Form bilden sie die Verarbeitungsgrundlage für die anderen Interaktionsbeteiligten (Veranschaulichung des Modells: Abb. 9). Oberhalb der Ebene der Posts gibt es ein Strukturelement, das die Bündelung von Abfolgen von Post-Instanzen zu Verlaufsprotokollen beschreibt. Hierfür ist im Mo­dell ein neuer Subtyp des im TEI-Standard vorhandenen Elements (division für Textgliederungen) definiert. Damit sind die beiden für die internetbasierte Kommunikation prägenden Textformen – das Posting und das Verlaufs­ protokoll – als Strukturelemente verfügbar. Das Modell ist in Form eines RNGSchemas beschrieben, das über das TEI-Wiki3 zur Verfügung gestellt wird und das für Bedarfe eigener Projekte erweitert und modifiziert werden kann. Eine ausführ­ liche Begründung und Darstellung des Modells bietet Beißwenger (2018).

3 https://wiki.tei-c.org/index.php?title=SIG:CMC (Stand: 18.7.2019).

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 Michael Beißwenger

Abb. 9: Modell im TEI-Repräsentationsschema für Korpora internetbasierter Kommunikation

6  Fazit Das in diesem Beitrag vorgeschlagene Konzept der Textformen-basierten Interaktion bietet einen Beschreibungsrahmen sowohl für die linguistische Analyse internetbasierter Kommunikation als auch für die Repräsentation entsprechender Daten in Korpora. Für die linguistische Analyse ergibt sich die Möglichkeit, die Perspektive der Interaktion und die Perspektive der Analyse von Textformen systematisch miteinander zu verknüpfen. Interaktion ist das Ziel, Textformen sind das Mittel der Kommunikation. Interaktion wird durch Textformen zeitlich zerdehnt. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Sequenzorganisation und für die Gestaltung von Beiträgen. Die Zeitlichkeitsbedingungen des Gesprächs stehen nicht zur Verfügung. Die Integration der Perspektiven von Text und Schreiben ermöglicht es, die neuen Formen der Interaktion als das darstellbar zu machen, was sie sind: eine Weiterentwicklung sequenziell intendierten sprachlichen Handelns unter den Bedingungen von Visualität, Persistenz, Flächigkeit und Multimodalität.



Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion 

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Adaptiert für den Bereich Korpusrepräsentation ermöglicht es das Modell, Standards für die Repräsentation von textuellen Artefakten, wie sie die Text Encoding Initiative (TEI) bereitstellt, für die Strukturannotation von Korpora inter­ netbasierter Kommunikation anzupassen und um Modellierungskonstrukte zu erweitern, die die Indienstnahme von Textformen für die Zwecke der Interaktion darstellbar machen. Für die Entwicklung von Annotationsschemata und – mittelfristig – die mögliche Etablierung eines entsprechenden Annotationsstandards muss damit nichts grundlegend Neues entwickelt werden; auch hier erweist sich die Adaption des Instrumentariums, das für die Analyse von Textformen bereits vorhanden ist, als geeignetes Vorgehen, um auf der Basis des Bekannten das tatsächlich Neue und Innovative an der internetbasierten Kommunikation zu beschreiben und in Korpora abzubilden. Unter der in diesem Beitrag zugrunde gelegten Perspektive, die internetbasierte Kommunikation als ein Drittes auf einem Entwicklungsweg von Organisationsformen sprachlichen Handelns aufzufassen, der von der mündlichen, direkten Interaktion über die gesellschaftliche Aneignung und Ausdifferenzierung von Textformen und Texttraditionen hin zu einer Indienstnahme von Textformen für Zwecke der vermittelten Interaktion führt, ist ein solches Vorgehen nicht nur praktikabel, sondern – mag man dem vorgeschlagenen Modell folgen – auch in hohem Maße informativ.

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 Michael Beißwenger

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Harald Lüngen/Marc Kupietz (Mannheim)

IBK- und Social Media-Korpora am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Abstract: Der Beitrag untersucht vorhandene Lösungen und neue Möglichkeiten des Korpusausbaus aus Social Media- und internetbasierter Kommunikation (IBK) für das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo). DeReKo ist eine Sammlung gegenwartssprachlicher Schriftkorpora am IDS, die der sprachwissenschaftlichen Öffentlichkeit über die Korpusschnittstellen COSMAS II und KorAP angeboten wird. Anhand von Definitionen und Beispielen gehen wir zunächst auf die Extensionen und Überlappungen der Konzepte Social Media, Internetbasierte Kommunikation und Computer-mediated Communication ein. Wir betrachten die rechtlichen Voraussetzungen für einen Korpusausbau aus Sozialen Medien, die sich aus dem kürzlich in relevanten Punkten reformierten deutschen Urheberrecht, aus Persönlichkeitsrechten wie der europäischen Datenschutz-Grundverordnung ergeben und stellen Konsequenzen sowie mögliche und tatsächliche Umsetzungen dar. Der Aufbau von Social Media-Korpora in großen Textmengen unterliegt außerdem korpustechnologischen Herausforderungen, die für traditionelle Schriftkorpora als gelöst galten oder gar nicht erst bestanden. Wir berichten, wie Fragen der Datenaufbereitung, des Korpus-Encoding, der Anonymisierung oder der linguistischen Annotation von Social Media-Korpora für DeReko angegangen wurden und welche Herausforderungen noch bestehen. Wir betrachten die Korpuslandschaft verfügbarer deutschsprachiger IBK- und Social Media-Korpora und geben einen Überblick über den Bestand an IBK- und Social Media-Korpora und ihre Charakteristika (Chat-, Wiki Talk- und Forenkorpora) in DeReKo sowie von laufenden Projekten in diesem Bereich. Anhand korpuslinguistischer Mikro- und Makro-Analysen von Wikipedia-Diskussionen im Vergleich mit dem Gesamtbestand von DeReKo zeigen wir charakterisierende sprachliche Eigenschaften von Wikipedia-Diskussionen auf und bewerten ihren Status als Repräsentant von IBK-Korpora.

1  Einleitung: Definitionen Die drei Konzepte Social Media, Internetbasierte Kommunikation und Computermediated Communication werden in der Forschung auf den ersten Blick nebeneinander scheinbar für ein und dasselbe Kommunikationsgenre verwendet. Auch auf der Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) 2019 werden https://doi.org/10.1515/9783110679885-016

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 Harald Lüngen/Marc Kupietz

alle drei Begriffe gebraucht, wobei einzelne Forscher oder Forscherinnen in der Regel einen von ihnen primär verwenden. Inwieweit stimmen die drei Konzepte genau überein, und worin unterscheiden sie sich möglicherweise? Im Social Media Guide for Researchers definieren Cann/Dimitriou/Hooley (2011) Social Media als „Internet services where the online content is generated by the users of the service“. Im Erläuterungstext werden zwei weitere Merkmale angeführt, die wir auch als definitorisch verstehen: Erstens handelt es sich bei Social Media um Dienste des sogenannten Web 2.0, welches seit dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts existiert – ältere Formen wie Internet Relay Chat (IRC), Usenet News oder E-Mail sind somit ausgeschlossen. Und zweitens handelt es sich um Dienste, die der Kommunikation, der Kollaboration oder dem Teilen und Rezipieren von multimedialen Inhalten dienen.1 Als internetbasierte Kommunikation (IBK) bezeichnet Angelika Storrer (2018) den „Forschungsgegenstand, der sich mit Technologien, Prozessen und Produkten der Kommunikation unter Nutzung der technischen Infrastruktur des Internets beschäftigt“. Somit ist der Gegenstand von IBK weiter gefasst als der von Social Media, da IBK auf das Internet, d.h. auf diejenigen Technologien, die auf dem Protokoll TCP-IP beruhen, verweist, welche neben dem World Wide Web (WWW) auch E-Mail und das Usenet umfassen. Auf der anderen Seite zählen Technologien wie SMS, die auf dem Telefonnetz beruhen, nicht zu IBK, wie auch nicht zu Social Media. Ebenso stellen wir fest, dass in Storrers Definition nur die Kategorie Kommunikation angeführt wird, während in der Definition von Social Media wie oben wiedergegeben außerdem Kollaboration und Multimedia-Inhalte eine Rolle spielen. Der älteste der drei Begriffe ist Computer-mediated Communication, er wurde von Susan Herring geprägt. Ihre Definition in Herring (2007) lautet: CMC ist „predominantly text-based human-human interaction mediated by networked computer or mobile telephony“. Zwei Aspekte erscheinen hier wichtig, erstens verweist „networked Computer“ nicht zwingend nur auf das Internet als Netzwerk, und zweitens wird Telefonie explizit eingeschlossen.2

1 Wir danken den Kolleginnen und Kollegen aus der IDS-Abteilung Digitale Sprachwissenschaft, die uns mit ihrer Expertise und mit Ergebnissen für diesen Beitrag unterstützt haben: Peter Fankhauser, Peter M. Fischer, Paweł Kamocki und Eliza Margaretha-Illig. 2 In früheren Versionen der Definition wurde Telefonie nicht eigens genannt, z.B. Herring (2004, S. 27).

IBK- und Social Media-Korpora am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache 

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Abb. 1: Extensionen von CMC, IBK und Social Media

In Abbildung 1 haben wir diejenigen Plattformen bzw. Kommunikationsformen, von denen im weiteren Verlauf des Artikels hauptsächlich die Rede sein soll, einmal diesen drei Konzepten zugeordnet. Auf der linken Seite ist zu sehen, dass IBK im Prinzip deckungsgleich mit CMC ist, mit der Ausnahme, dass SMS-Kommunikation streng genommen nicht zu IBK gehört. Social Media ist aber erkennbar nicht synonym zu CMC, erstens weil die älteren Dienste Usenet, E-Mail und IRC auf der linken Seite nicht unter Social Media fallen, und zweitens weil Wiki als klassisches Web 2.0-Medium für das kollaborative Verfassen von Wiki-Seiten bzw. -Artikeln standardmäßig als Social Media verstanden wird, als IBK/CMC aber nur die Kommunikationskomponente Wiki Talk (auf Deutsch meist: Wiki-Diskussionen) – daher die Außenstellung von Wiki-Artikeln in Abbildung 1. Soweit unser Verständnis dieser drei Termini insbesondere im Hinblick auf Korpora. In der Praxis verwenden wir IBK auch als deutsche Übersetzung von CMC.

2  Voraussetzungen für IBK-Korpora in DEREKO In diesem Abschnitt untersuchen wir die Voraussetzungen und Möglichkeiten von Korpora Internetbasierter Kommunikation am IDS, genauer gesagt, für die Korpora der deutschen Schriftsprache der Gegenwart, die unter dem Namen Deutsches Referenzkorpus (DeReKo) durch den Programmbereich Korpuslinguistik angeboten werden. Im Rahmen der Schriftkorpora sind solche Korpora Internetbasierter Kommunikation und Sozialer Medien interessant, die nicht auf

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(Transkripten von) Audio- oder Video-Inhalten beruhen – derartige Korpora werden in der IDS-Abteilung Pragmatik aufgebaut und genutzt (vgl. Marx/Schmidt/ Neise in diesem Band). DeReKo ist die größte linguistisch motivierte Sammlung deutschsprachiger Texte mit über 42 Milliarden Tokens (Stand Juli 2019) aus Presse, Belletristik, wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Artikeln, Gebrauchstexten, Plenardebattenprotokollen und vielen weiteren Genres. Sie wird seit 1964 kontinuierlich aufgebaut und enthält Texte der Gegenwartssprache, die 1956 oder später verfasst wurden. DeReKo ist mehrfach morphosyntaktisch und syntaktisch annotiert (z.B. POS-Tagging, Konstituenz- und Dependenzanalysen). DeReKo ist rechtlich abgesichert durch mehr als 120 Lizenzverträge mit Rechteinhabern, 98% der Daten sind über die Korpusrechercheschnittstellen für wissenschaftliche Zwecke weltweit öffentlich nutzbar. DeReKo stellt somit eine Stichprobe des gegenwärtigen Schriftsprachgebrauchs dar und dient der germanistischen Sprachwissenschaft als empirische Grundlage überall dort, wo die Sprache der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit Gegenstand der Forschung ist, vor allem in quantitativen Untersuchungen, die große Korpora benötigen (Kupietz et al. 2018). Für die meisten Nutzer erfolgt der Zugriff auf DeReKo über die beiden Korpusrechercheschnittstellen des IDS, COSMAS II (Abb. 2; seit 1994, vgl. Bodmer Mory 2014) und KorAP (Abb. 3; seit 2016, vgl. Diewald et al. 2016).

Abb. 2: Korpusrechercheschnittstelle COSMAS II

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Abb. 3: Korpusrechercheschnittstelle KorAP

DeReKo möchte Daten Internetbasierter Kommunikation sampeln, die rechtlich einwandfrei als Korpus einem erweiterten, wissenschaftlichen Nutzerkreis zur Verfügung gestellt werden können. Der Aufbau derartiger Korpora tangiert Urheberrechte und allgemeine Persönlichkeitsrechte in besonderer Weise und anders als traditionelle Pressekorpora (Kamocki/Kinder-Kurlanda/Kupietz 2016). Im Folgenden stellen wir die rechtlichen Voraussetzungen für IBK-Korpora dar und untersuchen die wichtigsten deutschsprachigen frei verfügbaren IBK-Korpora sowie einige einschlägige IBK-Korpora anderer europäischer Sprachen daraufhin, wie mit diesen Voraussetzungen strategisch und technisch umgegangen wird.

2.1  Urheberrechtliche Voraussetzungen Auch IBK-Nutzerbeiträge (Posts) sind potenziell durch das Urheberrecht geschützt. Voraussetzung dafür ist, dass ein Post eine Schöpfungshöhe erreicht, also für sich ein „Werk” darstellt (§ 2 UrhG). Ob ein Text eine Schöpfungshöhe aufweist, hängt nicht unbedingt von seiner Länge ab, dies kann letztlich nur aufgrund seines konkreten Inhalts beurteilt werden. Für bestimmte Genres kann man aber Tendenzen aufzeigen. In dem Rechtsgutachten, das im Projekt zur Kuratierung des Dortmunder Chatkorpus für CLARIN-D-Infrastrukturen erstellt wurde, kamen die Anwälte zu dem Schluss, dass Chat-Posts in der Regel keine Schöpfungshöhe aufweisen, da sie nicht individuell genug sind (Beißwenger et al. 2017a). Twitter-

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Kommunikation scheint aber stärker zur Schöpfungshöhe zu neigen, schon allein dadurch dass Twitter grundsätzlich öffentlich ist. Twitter-Kommunikation ist insgesamt monologischer und weniger interaktiv ausgerichtet als Chat – einige User twittern Gedichte, einige positionieren sich sogar explizit als Autoren.3 Es fällt auch auf, dass Twitter-Posts nicht standardmäßig zu einer abgegrenzten Interaktion gehören, die auch durch ein eigenständiges Dokument analog einem ChatLogfile oder einer Webseite mit einem Blog-Beitrag und seinen Kommentaren repräsentiert wird. All dies spricht dafür, dass Tweets ein weitaus höheres Potenzial für eine gewisse Schöpfungshöhe und sogar für einen Status als eigenständige Texte aufweisen. Was sind nun die Strategien von IBK-Korpusprojekten für einen rechtlich sicheren Umgang mit dem Urheberrecht? Eine Möglichkeit ist eine gezielte Akquisition von Daten, die bereits unter einer liberalen Lizenz publiziert wurden – womit die Autoren dann bereits ihre Erlaubnis erteilt haben, dass ihre Texte gesampelt und wiederveröffentlicht werden dürfen. Eine solche Strategie wurde technisch für das Blog-­Korpus der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) umgesetzt, für das genau solche Wordpress-Blogs aus dem Web gesammelt wurden, die mit einer liberalen Creative Commons-Lizenz ausgewiesen sind (Barbaresi/Würzer 2014). Dies gilt aber auch für jegliche Wikipedia-Korpora (Margaretha/Lüngen 2014; Poudat et al. 2015; Ho-Dac/Laippala 2017; Fišer/Ljubešić/Erjavec 2018), da Texte auf dieser Plattform grundsätzlich unter der Lizenz CC-BY-SA 3.0 veröffentlicht werden. Eine zweite Möglichkeit besteht in einer Einholung von Nutzungsrechten von jedem einzelnen beteiligten Autor. Obwohl dies der aufwändigste Weg ist, wird er von den meisten, auch größeren Projekten weiterhin eingeschlagen, da nichts anderes übrig bleibt, will man auf bestimmte Daten nicht verzichten. In der Konsequenz heißt das auch, dass bestimmte Ausschnitte einer Interaktion evtl. nicht in das Korpus aufgenommen werden können, wenn die Zustimmung eines Beteiligten am Ende nicht vorliegt. Für dieses einwandfreie Vorgehen stehen z.B. das Südtiroler Korpus DiDi („Digital Natives – Digital Immigrants“, Frey/Glaznieks/ Stemle 2016), das SciLog-Korpus an der JLU Gießen (Grumt Suárez/Karlova-Bourbonus/Lobin 2016), die Korpora WhatsApp Switzerland (Ueberwasser/Stark 2017) und WhatsApp Deutschland (Siebenhaar 2018) sowie das Chat-Korpus MoCoDa2 (Mobile Communication Database, Beißwenger et al. 2018). Eine dritte Strategie liegt vor, wenn Korpora aufgebaut werden, für die Nutzungsrechte nur von einem zentralen Ansprechpartner erworben werden müssen. Das ist immer dann der Fall, wenn die Autorinnen und Autoren einem Social Media-

3 Wir danken Konstanze Marx, die uns auf diese Argumente aufmerksam gemacht hat.



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Service-Provider oder Plattformbetreiber umfangreiche Nutzungsrechte eingeräumt haben, was oftmals durch die Zustimmung zu AGBs (Allgemeinen Geschäftsbedingungen) bei der Registrierung zu solchen Diensten erfolgt. Dann reicht es für den Entwickler eines Korpus aus, sich an einen solchen Betreiber (beispielsweise Facebook, Inc. oder Twitter, Inc.) zu wenden, um die erforderlichen Lizenzen auszuhandeln. Hierfür fanden wir im Bereich linguistische Korpora allerdings keine Beispiele, vermutlich deswegen, weil solche Betreiber oftmals einen gewissen Geldbetrag für Nutzungsrechte verlangen. Die vierte Möglichkeit wäre die Ausnutzung der „Text- und Data-Mining“Schranke (TDM-Schranke) in der Neufassung des deutschen Urheberrechts von 2018 (§  60d). Auch hier ist derzeit noch kein Projekt bekannt, das sich darauf beruft. Für DeReKo ist diese Schranke ohnehin nicht anwendbar, da diese allenfalls das Anlegen von temporären Kopien ohne die Möglichkeit einer öffentlichen Verfügbarmachung erlaubt. Als fünfte nennen wir die Möglichkeit der Einholung eines Rechtsgutachtens, in dem die Unbedenklichkeit einer Wiederveröffentlichung von Daten ggf. unter bestimmten Bedingungen bescheinigt wird. Durch die Anwaltshaftung bekommt der Korpusbetreiber eine gewisse Sicherheit. Dies ist der Weg, der in dem CLARIN-D-Kurationsprojekt zum Dortmunder Chatkorpus gegangen wurde. Darin handelte es sich um Daten aus den Nullerjahren aus Plattformen, die zum großen Teil nicht mehr existieren. Für aktuelle Korpusprojekte wird sich diese Strategie selten lohnen. Schließlich gehen einige Korpusprojekte – sechste Möglichkeit – den Weg, nicht die Primärdaten der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen (eben weil keine Genehmigung vorliegt), dafür aber die entsprechenden Werkzeuge, die zum Download und zur Aufbereitung des Korpus verwendet wurden (Ljubešić/Erjavec/Fišer 2017; Scheffler 2017). Dies ist ein attraktives Vorgehen für Twitter-Projekte, denn die Tweet-IDs, welche einen Tweet eindeutig zu identifizieren und über die Twitter-API herunter zu laden erlauben, dürfen offiziell veröffentlicht werden. Somit können Korpusnutzer in die Lage versetzt werden, die zu einer Liste von Tweet-IDs gehörenden Tweets für den persönlichen wissenschaftlichen Gebrauch selbst herunterzuladen (so sie noch auf Twitter vorhanden sind) und das (im Idealfall identische) Korpus oder Datenset selbst herzustellen. Unser Zwischenfazit zum Umgang mit Urheberrecht für IBK-Inhalte in DeReKo lautet: Falls festgestellt wird, dass die Posts in einem Genre, für das ein Korpus zusammengestellt werden soll, zu einem hohen Anteil eine eigene Schöpfungshöhe aufweisen (letztlich aber auch, wenn man gar nicht die Mittel hat, dies zu überprüfen), gilt, dass für eine Nutzung in einem Referenzkorpus wie DeReKo die Einwilligung aller Autoren direkt oder indirekt vorliegen muss. Wie auch bei tra-

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 Harald Lüngen/Marc Kupietz

ditionellen Pressekorpora müssen Lizenzen eingeholt werden, auch wenn viele IBK-Inhalte anders als Verlagsarchive scheinbar frei im Web verfügbar sind.

2.2  Datenschutzrechtliche Voraussetzungen Der andere Bereich rechtlicher Voraussetzungen für den Aufbau von IBK-Korpora sind Persönlichkeitsrechte, darunter insbesondere Datenschutzrechte, die in der neuen (2018) EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sowie schon immer im Bundesdatenschutzgesetz und den Landesdatenschutzgesetzen formuliert sind: Die Erhebung, die Nutzung und die Veröffentlichung von personenbezogenen Daten bedürfen der Zustimmung eben dieser Personen. Personenbezogene Daten sind neben Metadaten über die Teilnehmer von IBK-Interaktionen auch sensible Referenzen in den Nutzerbeiträgen, welche dazu geeignet sind, Privatindividuen, die thematisiert werden, eindeutig zu identifizieren. Die folgende Strategien hinsichtlich des Umgangs mit Datenschutz wurden in IBK-Korpusprojekten umgesetzt: Zum einen eine automatische Anonymisierung der vorkommenden Personennamen und Firmennamen durch Named Entity Recognition (NER) wie im slowenischen IBK-Korpus JANES (Fišer/Erjavec 2018). Die Autoren weisen darauf hin, dass diese computerlinguistische Anwendung nicht fehlerfrei funktioniert, sehen aber das Risiko, dass jemand dadurch in seinem Persönlichkeitsrecht geschädigt wird, für ihr Korpus als gering an. Grundsätzlich ist dazu zu sagen, dass eine Anonymisierung von Namen eigentlich nicht ausreicht, da sensible Referenzen mehr als Namen umfassen. Andererseits erscheinen viele Namen von Personen des öffentlichen Lebens (Politiker, Sportler, „Celebrities“) in IBK-Texten, die gar nicht anonymisiert zu werden brauchen. Rechtlich sicherer und von den meisten Projekten praktiziert (z.B. Frey/Glaznieks/Stemle 2016; Ueberwasser/Stark 2017; Beißwenger et al. 2017a; Siebenhaar 2018), obwohl am aufwändigsten, ist das manuelle oder semi-automatische Anonymisieren von sensiblen Referenzen, wie es bei mündlichen Korpora Routine ist (vgl. DFG Handreichung 2013a). Als innovativ und vielversprechend betrachten wir die Methode, die für das Korpus elektronischer Kurznachrichten MoCoDA2 angewandt wird: Die textspendenden Nutzer legen, assistentengestützt und in einer Online-Umgebung, selbst eine Pseudonymisierungstabelle für ihre Chats an (Beißwenger et al. 2018). Schließlich, als vierte Möglichkeit, erfolgt in bestehenden Wikipedia-Korpora gar keine Anonymisierung, da hier zum einen offenbar davon ausgegangen wird, dass die Nutzer, die ja im urheberrechtlichen Sinne einer freien Nutzung zugestimmt haben, implizit auch der Nutzung ihrer Signatur und der Daten ihres Pro-



IBK- und Social Media-Korpora am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache 

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fils zugestimmt haben. Zum anderen könnten dadurch, dass Wikipedia ein offen zugängliches Webportal ist, in dem auch die vollständige Editierungsgeschichte der Wiki-Seiten abrufbar ist, anonymisierte Informationen jederzeit mit solch geringem Aufwand rekonstruiert werden, dass das Risiko, dass hier durch die fehlende Anonymisierung ein wirklicher Schaden entsteht, sehr gering ist. Sollte ein Betroffener verlangen, dass ihn betreffende persönliche Daten nachträglich maskiert werden sollen, wird dem nachgegeben; dieses Vorgehen ist Konsens (vgl. DFG-Handreichung 2013b).

3  Korpustechnologische Herausforderungen Neben den rechtlichen Bedingungen besitzen IBK-Korpora aufgrund ihrer sprachlichen und strukturellen Eigenschaften in vielen Bearbeitungsschritten technologische Herausforderungen, die für traditionelle Schriftkorpora als gelöst galten oder gar nicht erst bestanden. Im Folgenden stellen wir die sieben wichtigsten Arbeitsschritte bzw. Themen dar, für die es in der DeReKo-Verarbeitungspipeline so wie auch allgemein für IBK-Korpora derzeit noch keine befriedigende Lösung gibt. Content Scraping: Wikipedia-Archive werden in sogenannten Dumps fortlaufend zur Verfügung gestellt, erreichen uns also in ähnlicher Form wie Zeitungs­ archive. Für viele andere IBK-Genres muss aber ein jeweils spezifisches und Content Scraping implementiert werden, also ein Programm, das bestimmte Webseiten ggf. regelmäßig aufsucht, um bestimmte Inhalte – hier Textinhalte – aus ihnen zu extrahieren und in einer geeigneten Struktur abzulegen. Da die heute meist dynamisch generierten Webseiten keine stabile Präsenz aufweisen, müssen die Extraktionsroutinen praktisch permanent gewartet und überarbeitet werden. Korpusmodellierung und -repräsentation: Das DeReKo-Textmodell basiert wie das Modell vieler anderer Referenzkorpora auf den Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI). Internetbasierte Kommunikation ist in den TEI-Guidelines jedoch bisher nicht modelliert. Das betrifft die Frage, was genau ein Text in IBK ist, bis hin zur Modellierung ihrer typischen dialogischen Organisation in Threads und Posts mit Antwort- und Adressierungsstrukturen. Verschiedene IBK-Korpus­ projekte haben sich daher in der TEI Special Interest Group CMC zusammengeschlossen und ein Basismodell „“ für die Repräsentation von Nutzerbeiträgen in IBK für ihre Korpora als sogenannte Customisierung umgesetzt (Abb. 4; vgl. Beißwenger et al. 2017b sowie Beißwenger in diesem Band). Die TEI CMC SIG arbeitet zurzeit daran, dass dieses Modell in die offizielle TEI aufgenommen wird (Beißwenger et al. i. Ersch.).

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 Harald Lüngen/Marc Kupietz

Abb. 4: Posts des Chatkorpus nach TEI SIG CMC

IBK-spezifische Metadaten wie Daten zur Plattform, zum Plattformbetreiber, zum Datum des Downloads bis hin zu einer Beschreibung der Kommunikationssituation aus Nutzersicht, also dessen, was ein Benutzer sieht und welche Funktionen ihm zur Verfügung stehen, sind in gängigen Metadatenschemata wie z.B. dem TEIHeader bisher nicht vorgesehen. Da die Features von Social Media permanent im Fluss sind, ist es umso wichtiger, derartige Informationen auch festzuhalten.

Abb. 5: Anonymisierung im Chatkorpus

Anonymisierung (Abb. 5): Oben haben wir beschrieben, dass in vielen IBK-Korpusprojekten wie auch für mündliche Korpora die Daten manuell anonymisiert werden. Dies ist aber für sehr große Textmengen, wie DeReKo sie anstrebt, nicht praktikabel. Wir benötigen eine automatische Anonymisierung, die den juristischen Anforderungen genügt und gleichzeitig den Nutzen der Korpora so wenig wie möglich einschränkt. NER-Algorithmen decken dabei nur einen Teil der Anforderungen ab. Normalisierung und Tokenisierung (Abb. 6): IBK-Texte zeichnen sich durch nicht-standardkonforme Sprache auf allen Ebenen der Grammatik inklusive der Orthografie aus. Um IBK-Korpora vollständig nutzbar zu machen, bedarf es einer Abbildung auf standard-orthografische Schreibungen (Normalisierung), da kein Nutzer beim Formulieren einer Suchanfrage alle vorkommenden Varianten voraus-

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ahnen kann. Auch einige Methoden für nachgelagerte Annotationen (z.B. Tagging, Anonymisierung, s.u.) basieren auf normalisierten Daten (vgl. Horbach et al. 2015).

Abb. 6: Normalisierung im Chatkorpus

Tagging und linguistische Annotationen: Verfügbare Tagger und Parser für das Deutsche sind in der Regel auf Treebank-Annotationen von Zeitungstexten trainiert. Auf IBK-Daten haben sie eine entsprechend hohe Fehlerrate. Dies liegt nicht nur an dem Nicht-Standard-Charakter von IBK, sondern auch an den häufigen Vorkommen von IBK-spezifischen Einheiten wie Adressierungen, Emojis oder Hashtags. Für das POS-Tagging des Dortmunder Chatkorpus wurde ein auf Chat- und Forumsdaten nachtrainierter Tagger mit dem um CMC-Kategorien erweiterten Tagset STTS_IBK verwendet (Beißwenger et al. 2015b). Um dieses Forschungsfeld voranzubringen, werden weitere große Mengen von Trainingsdaten (manuell angefertigte und verifizierte syntaktische Annotationen) möglichst aller IBK-Genres benötigt (Beißwenger et al. 2016). Abfrageschnittstellen: Die spezialisierten Abfrageschnittstellen der Referenzkorpora wie z.B. KorAP in Abbildung 4 sind derzeit aufgrund der typischen Lizenzbedingungen für Texte professioneller Schreiber so implementiert, dass sie für Suchanfragen als Treffer eine Menge von Textstellen maximal in Zitatgröße anzeigen. Für die Bestimmung des anzuzeigenden Ausschnitts werden Satzgrenzen und Paragraphengrenzen berücksichtigt; im Fall von IBK wäre aber die Post-Grenze eine viel sinnvollere Einheit. Andererseits ist die Zitatgröße für IBK oftmals eine unnötig starke Beschränkung, da vorliegende Lizenzen für IBK-Daten durchaus mehr Kontext anzuzeigen erlauben. Und schließlich gelten in den derzeitigen Recherchesystemen Einheiten wie eine Diskussionsseite oder ein Chat-Logfile als die Einheit „Text“, zu der man sich Metadaten anzeigen lassen kann, nach denen man auch den Bestand durchsuchen und sortieren kann. Auf die Metadaten eines Posts (wie Zeit, Autor, Adressierung) hingegen kann, obwohl in den Korpusdaten vorhanden, von der Benutzerin derzeit nicht zugegriffen werden.

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 Harald Lüngen/Marc Kupietz

Für die Bearbeitung dieser Themen betreibt und sucht das Korpusausbauprojekt des IDS Kooperationen mit Forschungsprojekten in Europa oder auch mit Studierenden, die eine Abschlussarbeit in einem der Bereiche anfertigen möchten.

3  IBK-Ressourcen am IDS 3.1  Dortmunder Chatkorpus Das Dortmunder Chatkorpus enthielt ursprünglich 480 Chat-Logfiles verschiedener Plattformen und Genres (Freizeitchats, Politikerchats, Seminarchats u.a.) aus den Jahren 2000 bis 2006 und wurde von Michael Beißwenger und Angelika Storrer, damals an der TU Dortmund, aufgebaut. In einem Kurationsprojekt 2015–2016 (Partner Universität Mannheim, TU Dortmund, BBAW, IDS) wurden die Daten für die CLARIN-D-Forschungsinfrastrukturen aufbereitet, im Einzelnen wurden die Daten in das Format CLARIN-D-TEI (für CMC) überführt und mit CMC-spezifischem POS-Tagging versehen (Beißwenger et al. 2015a). Außerdem wurde ein Rechtsgutachten über die Möglichkeit der Wiederveröffentlichung in den CLARIN-D-Infrastrukturen eingeholt, infolgedessen zehn Logfiles entfernt und die restlichen Daten anonymisiert wurden (Beißwenger et al. 2017a). Sie sind nun mit einem Umfang von 470 Chat-Logfiles in den Infrastrukturen von BBAW und IDS verfügbar. Tab. 1: Dortmunder Chatkorpus 2.2 Inhalt

Chatlogs aus den Jahren 2000–2006; Freizeitchats, Seminarchats, Medienchats, u.v.m.

Umfang

470 Chatlogs 131.003 Posts 1.005.166 Tokens

Verfügbarkeit

Recherchierbar in COSMAS II CLARIN-D-TEI-Dateien herunterladbar aus dem IDS-Repositorium4

4 https://repos.ids-mannheim.de/



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3.2  Usenet News-Korpus Das Usenet ist ein alter Teil des Internets, der auf dem sogenannten NNTP-Protokoll basiert und 1980 startete. Es ist organisiert in sogenannten Newsgroups, dabei handelt es sich um themenbezogene Diskussionsforen, in denen Threads zu Unter­ themen gestartet werden können. Es gibt eine universelle Hierarchie von Newsgroups, so dass es theoretisch für jedes Thema genau eine Newsgroup gibt.5 Die Messages in einer Newsgroup werden auch News genannt. Das Usenet ist nicht proprietär, jeder kann mittels eines News-Clients (die meisten E-Mail-Programme können als News-Client konfiguriert werden) teilnehmen, es kann sogar jeder einen News-Server betreiben. Usenet News sind zweifellos nicht Social Media, gehören nicht einmal zum World Wide Web, sind aber definitiv IBK. Ihre Hochzeit war in den 1990er Jahren, das Usenet lebt aber weiterhin (vgl. Lüngen/Kupietz 2017 und Schlobinski in diesem Band). Tab. 2: Usenet-News-Korpus Inhalt

Alle Newsgruppen der de.-Hierarchie, 2013–2016

Umfang

375 Newsgruppen 1 Million Messages 92 Millionen Tokens

Verfügbarkeit

Recherchierbar in COSMAS II (bisher nur innerhalb des IDS)

3.3  Meta.Tagesschau.de-Korpus In einer Kooperation mit der IDS-Abteilung Grammatik werden Nutzerkommentare zu Berichten auf tagesschau.de seit 2013 fortlaufend aus dem Web gesammelt. Zusätzlich wurde der Retrobestand 2009–2014 von dem Web-Archiv archive.org heruntergeladen. Die Daten wurden ursprünglich in dem BMBF-Projekt Analyse und Instrumentarium zur Beobachtung des Schreibgebrauchs im Deutschen (2013– 2016) verwendet. Die Integration der Daten in DeReKo ist geplant, wenn eine rechtliche Klärung dafür grünes Licht gibt.

5 Beispiele von Namen deutschsprachiger Newsgroups: de.rec.musik.klassik, de.talk.jokes, de.rec.sport.motorsport.misc.

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 Harald Lüngen/Marc Kupietz

Tab. 3: Korpus meta.tagesschau.de Inhalt

Nutzerkommentare zu Berichten auf tagesschau.de ab 2009

Umfang

75.000 Threads 2,5 Millionen Posts 175 Millionen Tokens

Perspektive

Rechtliche Klärung, Integration in DeReKo

3.4  Wikipedia-Korpora Die Online-Enzyklopädie Wikipedia (seit 2001) ist eine der am meisten besuchten Websites im WWW. Sie beinhaltet riesige Archive an kollaborativ erstelltem Textmaterial, vorwiegend in den beiden Genres Enzyklopädie-Artikel und OnlineDiskussionen (engl. talk pages). Wie wir gesehen haben, ist Wikipedia ein klassisches Soziales Medium, in dem die Merkmale Kommunikation und Kollaboration realisiert sind. Als IBK gelten jedoch nur die Diskussionen. Seit 2005 wurden am IDS Wikipedia-Korpora in TEI konvertiert und in DeReKo integriert, seit 2011 werden alle zwei Jahre aus den aktuellen Wikipedia-Dumps neue Konvertierungen aller deutschsprachigen Artikel hergestellt und aufgenommen. Frü­ here Konvertierungen werden weiterhin vorgehalten, da nicht nur immer neue Tex­te hinzukommen, sondern vorhandene Artikel auch fortlaufend verändert werden. So wie die deutschsprachige Wikipedia gewachsen ist, so sind mithin auch die abgeleiteten Korpora gewachsen; in der Konvertierung von 2017, welche die letzte Säule in Abbildung 7 anzeigt, sind 1,5 Milliarden Tokens erreicht, davon sind der orange­farbene Bereich die Artikel mit 870 Millionen Tokens bzw. 57% der Konvertierung, die restlichen 43% entsprechend also Diskussionsseiten, die sich wiederum in Artikeldiskussionen und Nutzerdiskussionen aufteilen. Tab. 4: Umfang der Wikipedia-Konvertierungen 2017 Texte

Posts

Tokens

Artikel

2.065.926

-/-

873.182.923

Artikeldisk.

744.857

7.107.696

349.075.823

Nutzerdisk.

603.374

5.895.545

309.390.966

Redundanzdisk.

240

52.393

1.775.975

Σ

3.414.397

13.055.634

1.533.425.687

800000000 1200000000

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user talk article talk articles

0

400000000

#Tokens



2005

2011

2013

2015

2017

Wikipedia conversions sizes by #Tokens

Abb. 7: Größen der Wikipedia-Konvertierungen

Alle deutschsprachigen Wikipedia-Korpora bis 2017 sind Teil von DeReKo und in COSMAS II recherchierbar. Außerdem sind alle deutschsprachigen WikipediaKorpora der Konvertierung 2017 in KorAP recherchierbar. Der IDS-Wikipedia-Konverter mit Dokumentation ist herunterladbar – damit können Nutzer eigene Wikipedia-Korpora aus Wikipedia-Dumps herstellen. Schließlich bieten wir auch analog hergestellte Wikipedia-Korpora für acht weitere europäische Sprachen an, die in IDS-Projekten eine Rolle spielen. Alle Wikipedia-Korpora sind auch als TEI-I5-­ Dateien von unserem Download-Server herunterladbar.

4  Eigenschaften von IBK-Korpora: Wikipedia-Diskussionen Die sprachlichen und funktionalen Unterschiede zwischen Wikipedia-Diskussionen und Wikipedia-Artikeln haben nicht zuletzt Herzberg/Storrer (2019) und Gredel (in diesem Band) herausgearbeitet – im Folgenden möchten wir auf Eigenschaften der Wikipedia-Diskussionen (Korpus WDD17) im Vergleich zum vollständigen Deutschen Referenzkorpus (DeReKo-Gesamt) eingehen. Die Leitfragen dabei sind: Was zeichnet die Wikipedia-Diskussionen im Vergleich zu DeReKo-Gesamt aus, was ist ihr Beitrag zu DeReKo-Gesamt und was sind ihre typischen Eigenschaften? Können Wikipedia-Diskussionen als typisch für Kommunikation in Social Media gelten? Und lohnt sich der Aufwand der Wikipedia-Korpusaufbereitung?

334

 Harald Lüngen/Marc Kupietz

Abb. 8: Typischste Wörter in den Wikipedia-Diskussionen im Vergleich zu DeReKo-Gesamt (sortiert nach ihrem Beitrag zur Kullback-Leibler-Divergenz)

Abb. 9: Projektion des Word-Embedding Modells trainiert auf WDD17 und DeReKo-Gesamt

Unter den im Kontrast zu DeReKo-Gesamt typischsten Wörtern findet man zum einen, wie man es für IBK erwartet, Pronomina und Verbformen und der 1. und 2. Person Singular und Grußformeln, zum anderen spezifisches Vokabular des Editierens von Online-Enzyklopädieartikeln wie Benutzerkonten, Beitrag, Artikel, Änderung (Abb. 8). Interessanter wird es, wenn man sich mit dem Tool DeReKoBubbles (Fankhauser/Kupietz 2019) die jeweils typischsten Wörter im distributio-



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nell semantischen Kontext ansieht. Dieses Tool arbeitet mit einem zunächst auf DeReKo-Gesamt und dann auf WDD17 trainierten Word-Embedding-Modell. Die eigentlich 200-dimensionalen Wortvektoren wurden hier mit Hilfe von T-SNE so weit wie möglich Topologie-erhaltend auf eine Karte projiziert, so dass Nähe auf der Karte distributionelle Ähnlichkeit bedeutet (Abb. 9). Die dunklen Blasen stehen dabei für Vektoren aus WDD17. Man sieht, dass sie sich in bestimmten Bereichen klumpen, dabei aber nur bestimmte Teile des gesamten Raums, den DeReKo aufspannt (helle Blasen), abdecken. Das liegt daran, dass in Wikipedia einige pressespezifische Themen (wie Lokalpolitik, Veranstaltungen, Klatsch) keine Rolle spielen, aber auch daran, dass die für Diskussionen typischen Wörter sich hier textsortenspezifisch auf bestimmte Bereiche konzentrieren.

Abb. 10: Zoom auf Cluster

In dem Beispielcluster in Abbildung 10 sehen wir Vokabular, das sich auf Wikipediastrukturen und die Editionssituation bezieht wie Fachliteratur, Kategorie, bearbeiten; auch das von Gredel (in diesem Band) identifizierte Werkstattvokabular der Wikipedia findet sich in diesem Cluster (z.B. Theoriefindung, POV, Relevanz). Ein weiteres Cluster (ohne Abbildung) liefert ein reiches Inventar von Adverbien, die in der Argumentation der Textkritik gebräuchlich sind (allenfalls, offenkundig, annähernd, wohlgemerkt, …)

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 Harald Lüngen/Marc Kupietz

Um weitere offensichtliche Cluster dieser Art zu finden, hat sich die Differenz der paradigmatischen Projektion als nützlich erwiesen. Dabei handelt es sich um die Differenz zwischen der Anzahl der Nachbarn aus DeReKo-Gesamt eines Vektors und der Anzahl der Nachbarn aus WDD17 desselben Vektors in einem bestimmten Umkreis im distributionell semantischen Raum. Die paradigmatische Projektion (nach Entropie) ist in Tabelle 5 in der fünften Spalte wiedergegeben, nach der diese Tabelle auch sortiert ist. Dass hier die Form unglücklich besonders hoch bewertet ist, bedeutet also, dass die Anzahl ihrer Nachbarn in DeReKo im Vergleich zur Anzahl ihrer Nachbarn in WDD17 in demselben Raum besonders unterschiedlich ist, d.h. dass diese Form sich in ihrer Bedeutung in DeReKo-Gesamt besonders stark von der Bedeutung, die sie in den WikipediaDiskussionen hat, unterscheidet. Die Sortierung nach der paradigmatischen Projektion legt also die Hypothese nahe, das Wörter mit ansonsten vielfältigen Verwendungskontexten in DeReKo in den Wikipedia-Diskussionen hauptsächlich im Kontext der Textkritik verwendet werden, vgl. neben unglücklich auch die Form Schrott. Tab. 5: Wortvektoren aus WDD17 nach paradigmatischer Projektion word

fpmim

kldim

entim

entdim

distim

dist2dim

unglücklich

21.21

22.77

3.306

3.306

0.2163

0.291

Schrott

5.84

2.76

2.502

2.502

0.2214

0.120

Singles

4.85

−1.71

2.238

2.238

−0.1769

−0.095

Umstellungen

1.35

−0.61

2.036

2.036

−0.2676

−0.123

71.63

188.90

2.027

2.027

0.3611

1.479

unhaltbar

4.03

1.05

2.019

2.019

0.2941

0.755

Prima

8.71

18.21

1.952

1.952

0.2535

0.325

Regiment

2.67

−0.82

1.925

1.925

−0.1410

−0.065

11.26

14.50

1.921

1.921

0.1998

20.210

3.41

2.69

1.921

1.921

0.2072

0.148

vorherige

13.24

21.64

1.777

1.777

0.1172

0.130

morgen

47.71

−54.42

1.897

1.764

−0.2682

−0.104

genauer

77.97

153.60

1.752

1.752

0.0734

0.011

Trennung

28.92

12.41

1.714

1.714

0.1055

0.200

LG

Jo Setzen

IBK- und Social Media-Korpora am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache 

337

Abb. 11: Selbstorganisierende Karte in der DeReKoVeCS: Vergleich der Ähnlichkeiten von Schrott in WDD17 und DeReKo-Gesamt

Mit diesem Befund können wir uns Schrott im Mikrovergleich unter Verwendung von DeReKoVeCS (Kupietz et al. 2018) anschauen: In Abbildung 11 sind Schrott und seine 50 nächsten Nachbarn jeweils in WDD17 und in DeReKo-Gesamt auf einer selbstorganisierenden Karte zu sehen; dabei haben sich oben links in dem helleren Quadranten diejenigen Formen angeordnet, die in WDD17 in besonders ähnlicher Weise zu Schrott verwendet werden wie Blödsinn, Schwachsinn, Quatsch (unterstrichen), während sich in dem von DeReKo-Gesamt dominierten Quadranten unten rechts Formen wie Metallschrott, Altpapier und Altglas als semantisch nächste Nachbarn finden (nicht unterstrichen). Die Hypothese, dass bestimmte

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 Harald Lüngen/Marc Kupietz

Wörter in den Wikipedia-Diskussionen Lesarten aus dem Bereich der Textkritik annehmen, bestätigt sich also. Entsprechende Ergebnisse zeigt schließlich auch eine Kookkurrenzanalyse der nächsten syntagmatischen Nachbarn von Schrott in WDD17 (in Abb. 12, sortiert nach der Log-Dice-Score-Differenz zwischen WDD17 und DeReKo-Gesamt), die textkritische Kollokationen wie unbelegter, völliger oder reinster Schrott liefert, oder auch Schrott fabrizieren, Schrott verzapfen.6 Als Zwischenfazit dieses korpuslinguistischen Vergleichs der Wikipedia-Diskussionen gegenüber DeReKo-Gesamt in Mikro- und Makroanalysen lässt sich festhalten: Wikipedia-Diskussionen weisen sprachliche Aspekte von Social MediaKommunikation auf, sind dabei aber aufgabenspezifisch mit einem Fokus auf Textkritik versehen. Da sie außerdem nur einen begrenzten Autorenkreis haben, können sie als Ganzes eher nicht als typisches Beispiel für Social Media-Kommunikation dienen, wenn man davon ausgeht, dass typische Social Media-Kommunikation (wie Interaktionen auf Facebook, Twitter oder WhatsApp) thematisch und funktional offen ist. Andererseits gilt weiterhin, dass Wikipedia-Diskussionen eine große und weiter wachsende Ressource unter einer liberalen Lizenz darstellen, dass sie reich an Metadaten sind und dass sie in vielen Sprachen verfügbar sind. Viele einzelne linguistisch relevante Aspekte können durchaus anhand von Wikipedia-Diskussions-Korpora qualitativ und quantitativ untersucht werden, wie politische Diskurse zu verschiedenen Themen (vgl. Gredel 2018), kontrastiv-grammatische Aspekte (Augustin 2016), Höflichkeit oder Konflikte (Ho-Dac et al. 2017).

5  Perspektiven IBK-Korpora mit ihrem user-generated content bieten viele neue Möglichkeiten für die Untersuchung der Gegenwartssprache, beispielsweise für die Detektion und Analyse von Neologismen, für die Rechtschreibbeobachtung oder für die Diskursanalyse. Das Deutsche Referenzkorpus strebt daher an, den Bestand an IBK weiter auszubauen. In diesem Beitrag haben wir herausgearbeitet, dass nicht wie in allgemeinen Web-Korpora ein breit gestreutes Sampling von IBK auf Vorrat durchgeführt werden kann: Es gibt rechtliche Problematiken für viele Subgenres, es gibt jeweils eine große Anzahl potenzieller Lizenzpartner, und sie erfordern eine jeweils spezifische und aufwändige Aufbereitung. DeReKo plant daher, in spezifischen

6 Einige der Kollokate in Abbildung 12 erscheinen offenbar aufgrund von Vorkommen von Schrott als Tippfehler des Wortes Schrot.



IBK- und Social Media-Korpora am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache 

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Projekten und in Kooperationen zu bestimmten Subgenres weitere IBK-Korpora aufzubauen. Hierzu besteht derzeit eine Kooperation mit dem Projekt MoCoDa2 zu Privatchats. Für darüber hinausgehende Erweiterungen sind ebenfalls Kooperationen erforderlich, beispielsweise dem Zentrum für digitale Lexikographie der deutschen Sprache (ZDL) zur Akquisition von Blogdaten, mit dem Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (GESIS) zu Twitter-Daten und mit dem Forschungszentrum für Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung (L3S) zum Aufbau von vorstrukturierten (z.B. nach IBK, nach Lizenz) Webkorpora. Schließlich werden wir die am IDS betriebenen Korpusströme (Wikipedia, Usenet, TagesschauKommentare) weiterhin integrieren.

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 Harald Lüngen/Marc Kupietz

Beißwenger, Michael/Ehrhardt, Eric/Horbach, Andrea/Lüngen, Harald/Steffen, Diana/Storrer, Angelika (2015a): Adding value to CMC corpora: CLARINification and part-of-speech annotation of the Dortmund Chat Corpus. In: Beißwenger, Michael/Zesch, Torsten (Hg.): NLP4CMC 2015. Proceedings of the 2nd Workshop on Natural Language Processing for Computer-Mediated Communication/Social Media, 29. September 2015, University of Duisburg-Essen. Essen, S. 12–16. Beißwenger, Michael/Lüngen, Harald/Schallaböck, Jan/Weitzmann, John H./Herold, Axel/ Kamocki, Pawel/Storrer, Angelika/Wildgans, Julia (2017a): Rechtliche Bedingungen für die Bereitstellung eines Chat-Korpus in CLARIN-D: Ergebnisse eines Rechtsgutachtens. In: Beißwenger, Michael (Hg.): Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation. (= Empirische Linguistik/Empirical Linguistics 9). Berlin/New York, S. 7–46. Beißwenger, Michael/Wigham, Ciara R./Etienne, Carole/Grumt Suárez, Holger/Herzberg, Laura/Fišer, Darja/Hinrichs, Erhard/Horsmann, Tobias/Karlova-Bourbonus, Natali/ Lemnitzer, Lothar/Longhi, Julien/Lüngen, Harald/Ho-Dac, Lydia-Mai/Parisse, Christophe/ Poudat, Céline/Schmidt, Thomas/Stemle, Egon W./Storrer, Angelika/Zesch, Torsten (2017b): Connecting resources: Which issues have to be solved to integrate CMC corpora from heterogeneous sources and for different languages? In: Stemle, Egon W./Wigham, Ciara R. (Hg.): Proceedings of the 5th Conference on CMC and Social Media Corpora for the Humanities (CMC-corpora 17), 3.–4. Oktober 2017, Eurac Research Italy. Bozen, S. 52–55. Bodmer Mory, Franck (2014): Mit COSMAS II „in den Weiten der IDS-Korpora unterwegs“. In Steinle, Melanie/Berens, Franz-Josef (Red.): Ansichten und Einsichten. 50 Jahre Institut für Deutsche Sprache. Mannheim, S. 376–385. Cann, Alan/Dimitriou, Konstantia/Hooley, Tristram (2011): Social media: A guide for researchers. London: Research Information Network. Internet: http://hdl.handle. net/10545/196715 (Stand: 22.8.2019). DFG-Handreichung (2013a): Informationen zu rechtlichen Aspekten bei der Handhabung von Sprachkorpora. In: Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V. Internet: https://www.dfg.de/ download/pdf/foerderung/grundlagen_dfg_foerderung/informationen_fachwissenschaften/geisteswissenschaften/standards_recht.pdf (Stand: 22.8.2019). DFG-Handreichung (2013b): Empfehlungen zu datentechnischen Standards und Tools bei der Erhebung von Sprachkorpora. In: Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V. Internet: https:// www.dfg.de/download/pdf/foerderung/grundlagen_dfg_foerderung/informatio-nen_ fachwissenschaften/geisteswissenschaften/standards_sprachkorpora.pdf (Stand: 22.8.2019) Diewald, Nils/Hanl, Michael/Margaretha, Eliza/Bingel, Joachim/Kupietz, Marc/Bański, Piotr/ Witt, Andreas (2016): KorAP Architecture – Diving in the deep sea of corpus data. In: Calzolari, Nicoletta/Choukri, Khalid/Declerck, Thierry/Goggi, Sara/Grobelnik, Marko/ Maegaard, Bente/Mariani, Joseph/Mazo, Helene/Moreno, Asuncion/Odijk, Jan/Piperidis, Stelios (Hg.): Proceedings of the 10th International Conference on Language Resources and Evaluation (LREC 2016), 23.–28. Mai 2016, Portorož, Slovenia. Paris, S. 3586–3591. Fankhauser, Peter/Kupietz, Marc (2019): Analyzing domain specific word embeddings for a large corpus of contemporary German. In: Proceedings of the 10th International Corpus Linguistics Conference (CL2019), 22.–26. Juli 2019, Wales, Cardiff University. Cardiff. Fišer, Darja/Beißwenger, Michael (Hg) (2017): Investigating computer-mediated communication: Corpus-based approaches to language in the digital world. Ljubljana. Fišer, Darja/Ljubešić, Nikola/Erjavec, Tomaž (2018): The Janes project: Language resources and tools for Slovene user generated content. In: Language Resources and Evaluation, S. 1–24. Internet: https://link.springer.com/article/10.1007/s10579-018-9425-z (Stand: 28.8.2019).



IBK- und Social Media-Korpora am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache 

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342 

 Harald Lüngen/Marc Kupietz

Challenges in the Management of Large Corpora and Big Data and Natural Language Processing (CMLC-5+BigNLP 2017) including the papers from the Web-as-Corpus (WAC-XI) guest section. Birmingham, 24. Juli 2017. Mannheim, S. 20–24. Margaretha, Eliza/Lüngen, Harald (2014): Building linguistic corpora from Wikipedia articles and discussions. In: Journal for Language Technologie and Computational Linguistics (JLCL) 29, 2: Special issue on building and annotating corpora of computer-mediated communication. Issues and challenges at the interface between computational and corpus linguistics, S. 59–82. Poudat, Céline/Grabar, Natalia/Kun, Jin/Paloque-Berges, Camille (2015): Corpus wikiconflits, conflits dans le Wikipédia francophone. In: Chanier, Thierry (Hg.): Banque de corpus CoMeRe. Nancy. Internet: https://hdl.handle.net/11403/comere/cmr-wikiconflits (Stand: 22.8.2019). Scheffler, Tatjana (2017): Conversations on Twitter. In: Fišer/Beißwenger (Hg), S. 124–145. Siebenhaar, Beat (2018): Funktionen von Emojis und Altersabhängigkeit ihres Gebrauchs in der WhatsApp-Kommunikation. In: Ziegler, Arne (Hg.): Jugendsprachen: Aktuelle Perspektiven internationaler Forschung/Youth languages: Current perspectives of international research. 2 Bde. Berlin, S. 749–772. Storrer, Angelika (2018): Interaktionsorientiertes Schreiben im Internet. In: Deppermann, Arnulf/Reineke, Silke (Hg.): Sprache im kommunikativen, interaktiven und kulturellen Kontext. (= Germanistische Sprachwissenschaft um 2020 3). Berlin/Boston, S. 219–244. Ueberwasser, Simone/Stark, Elisabeth (2017): What’s up, Switzerland? A corpus-based research project in a multilingual country. In: Linguistik Online 84, 5, S. 105–126.

Kaleidoskop

Adrien Barbaresi/Alexander Geyken (Berlin)

Die Webkorpora im DWDS – Strategien des Korpusaufbaus und Nutzungsmöglichkeiten Die Kernaufgabe der Projektgruppe des DWDS besteht darin, den in den Korpora enthaltenen Wortschatz lexikografisch und korpusbasiert zu beschreiben. In der modernen Lexikografie werden die Aussagen zu den sprachlichen Aspekten und Eigenschaften der beschriebenen Wörter und zu Besonderheiten ihrer Verwendung auf Korpusevidenz gestützt. Empirisch können riesige Textsammlungen Hypothesen genauer oder ausführlicher belegen. Dabei wird deutlich, wie vielfältig Sprache im Gebrauch tatsächlich realisiert wird. Zu diesem Zweck bieten wir auf der DWDS-Plattform neben den zeitlich und nach Textsorten ausgewogenen Kernkorpora und den Zeitungskorpora eine Reihe von Spezialkorpora an, die hinsichtlich ihres Gegenstandes oder ihrer sprachlichen Charakteristika von den erstgenannten Korpora abweichen. Die Webkorpora bilden einen wesentlichen Bestandteil dieser Spezialkorpora.

1  Strategien des Korpusaufbaus Im Vergleich zu klassischen Textkorpora bestehen relevante Fragestellungen des Aufbaus von Webkorpora darin, Genres jenseits der Kategorien konventioneller Korpora zu berücksichtigen, die Ergebnisse zu kalibrieren (insbesondere hinsichtlich von Artefakten und unvollständigen Texten) sowie darin, die Texte mit den richtigen Metadaten zu versehen und gegebenenfalls zu klassifizieren. Alle betrachteten Webkorpora basieren auf einer Auswahl von Webseiten auf Deutsch (vor allem aus Deutschland, Österreich und der Schweiz). Auf der einen Seite gibt es allgemeingültige, universell einsetzbare Korpora im Sinne einer Einheitsgröße, die für eine Vielzahl von Nutzungsszenarien nützlich sein soll. Auf der anderen Seite gibt es spezifische Korpora aus bereits bekannten oder händisch überprüften Quellen, die möglicherweise reichere Metadaten beinhalten und auf bestimmte Forschungsziele ausgerichtet sind, wie beispielsweise Studien zu internetbasierter Kommunikation oder Sprachvariation. Es gibt kein umfassendes Verzeichnis von Webseiten oder Blogs, außerdem können sich Webstrukturen schnell ändern. Die Seiten werden also zunächst „entdeckt“, indem die deutschsprachige Websphäre maschinell erkundet wird (Webcrawling), und daraufhin bezüglich ihrer Qualität bewertet (Barbaresi 2016). Bei diesem Vorgehen wird ein Gleichgewicht durch Merkmale (Stichproben für https://doi.org/10.1515/9783110679885-017

346 

 Adrien Barbaresi/Alexander Geyken

jede Homepage) und formale Kontrollen angestrebt. Dabei werden qualitativ bessere Dokumente bevorzugt, die zum Beispiel Fließtext beinhalten. Außerdem spielen Metadaten eine wichtige Rolle, beispielsweise müssen die Texte im Kontext der lexikografischen Forschung datierbar sein.

2  Ergebnisse Ein „kleineres“ (ca. 100 Mio. laufende Wortformen) Korpus besteht aus Beiträgen und Kommentaren, die in Blogs veröffentlicht worden sind, deren Betreiber die Wiederveröffentlichung der Texte mittels Creative-Commons-Lizenzen ausdrücklich gefördert haben. Für weitere Details zur Erhebungsmethode vgl. Barbaresi/ Würzner (2014). Die Dokumentenbasis für ein größeres Webkorpus (derzeit mehr als 3 Mrd. laufende Wortformen) besteht aus mehreren hunderttausenden unterschiedlichen Webseiten, die zumindest eine Datumsangabe aufweisen müssen, um damit die zeitliche Datierung der Korpustreffer zu ermöglichen. Das Korpus enthält also vergleichsweise viele Blogeinträge. Die Webseiten werden sowohl professionell (z.B. Nachrichten- und Firmenseiten) als auch privat (Vereine, Gemeinschaften, Hobbys) betrieben, so dass das Korpus Sprechsituationen unterschiedlichster Art abdeckt. Diese Ressource wird fortlaufend verbessert, u.a. im Sinne einer qualitativ feineren Kalibrierung, sowohl auf inhaltlicher als auch auf der Metadatenebene (z.B. Extraktion des Titels und Heuristiken zur Bestimmung des Veröffentlichungsdatums einer Webseite1).

3  Integration in die DWDS-Plattform und Nutzungsmöglichkeiten Eine Voraussetzung für die Integration von Korpustexten in die DWDS-Plattform (Geyken et al. 2017) ist deren strukturelle und linguistische Annotation und die Bereitstellung von Metadaten. Die einzelnen Textwörter werden darüber hinaus mit weiteren, für die linguistische Suche relevanten Informationen versehen. Derzeit werden für jedes Textwort die Grundform (Lemma) und die Wortart angegeben und von der Suchmaschine indiziert. Die primär für die Zwecke der lexikografischen Arbeit der Projektgruppe erstellten Korpora haben seit der Veröffentlichung

1 Frei verfügbare Komponente: https://github.com/adbar/htmldate (Stand: 26.6.2019).



Die Webkorpora im DWDS 

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der DWDS-Webseite eine weit über diesen Kreis hinausgehende Nutzung erfahren, insbesondere bei den Nutzerinnen und Nutzern des Wörterbuchs, die die Wörterbucheinträge mit den Textquellen vergleichen wollen, aber auch bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die Korpora des DWDS als Quelle korpuslinguistischer Studien nutzen.

Literatur Barbaresi, Adrien (2016): Efficient construction of metadata-enhanced web corpora. In: Proceedings of the 10th Web as Corpus Workshop (WAC-X) and the EmpiriST Shared Task. Berlin, Germany, August 7–12 2016. Stroudsburg, PA: Association for Computational Linguistics, S. 7–16. Barbaresi, Adrien/Würzner, Kay-Michael (2014): For a fistful of blogs: Discovery and comparative benchmarking of republishable German content. In: Proceedings of KONVENS 2014, NLP4CMC workshop. Hildesheim, S. 2–10. Geyken, Alexander/Barbaresi, Adrien/Didakowski, Jörg/Jurish, Bryan/Wiegand, Frank/ Lemnitzer, Lothar (2017): Die Korpusplattform des „Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache“ (DWDS). In: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 45, 2, S. 327–344.

Michael Beißwenger (Duisburg-Essen)/Marcel Fladrich (Hamburg)/Wolfgang Imo (Hamburg)/Evelyn Ziegler (Duisburg-Essen)

Die Mobile Communication Database 2 (MoCoDa 2) Die MoCoDa 2 (https://db.mocoda2.de) ist eine webbasierte Infrastruktur für die Erhebung, Aufbereitung, Bereitstellung und Abfrage von Sprachdaten aus privater Messenger-Kommunikation (WhatsApp und ähnliche Anwendungen). Zentrale Komponenten bilden (1) eine Datenbank, die für die Verwaltung von WhatsAppSequenzen eingerichtet ist, die von Nutzer/innen gespendet und für linguistische Recherche- und Analysezwecke aufbereitet wurden, (2) ein Web-Frontend, das die Datenspender/innen dabei unterstützt, gespendete Sequenzen um analyserelevante Metadaten anzureichern und zu pseudonymisieren, und (3) ein WebFrontend, über das die Daten für Zwecke in Forschung und Lehre abgefragt werden können. Der Aufbau der MoCoDa-2-Infrastruktur wurde im Rahmen des Programms „Infrastrukturelle Förderung für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften“ vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert. Ziel des Projekts ist es, ein aufbereitetes Korpus zur Sprache und Interaktion in der deutschsprachigen Messenger-Kommunikation bereitzustellen, das speziell auch für qualitative Untersuchungen eine wertvolle Grundlage bildet.

Abb. 1: MoCaDa 2-Logo

Eine erste Version der Mobile Communication Database (MoCoDa 1) wurde von Marcel Fladrich und Wolfgang Imo 2011 initiiert. Zu Beginn der Datenerhebungen mit der MoCoDa 1 überwogen noch Interaktionen über den Kurznachrichtendienst SMS, ab 2012 wurden zunehmend auch WhatsApp-Daten erfasst. Da die MoCoDa zunächst als autonome ‚Insellösung‘ mit geringen Mitteln aufgebaut wurde und da sich zudem die Messenger-Kommunikation (v. a. in WhatsApp und vergleichbaren Anwendungen) zunehmend von einer primär schriftbasierten Kommunikation zur multimodalen Kommunikation wandelte, war eine grundlegende Neukonzeption der Datenbank erforderlich. Dies wurde möglich durch die Erweiterung https://doi.org/10.1515/9783110679885-018

350 

 Michael Beißwenger/Marcel Fladrich/Wolfgang Imo/Evelyn Ziegler

des Projektteams um Michael Beißwenger und Evelyn Ziegler und die Einwerbung der Infrastrukturförderung durch das Land Nordrhein-Westfalen. Im Rahmen der Neukonzeption wurde das Web-Frontend, über das die Spender/innen in den Prozess der Datenaufbereitung einbezogen werden, deutlich erweitert. Als Neuerungen gegenüber der Vorgängerversion wurde weiterhin ein unterstützter Datenimport1 aus dem WhatsApp-Messenger umgesetzt; zudem kann die Datenbank nun auch Gruppenchats abbilden. Die Möglichkeiten für die Erfassung von Metadaten zu einzelnen Chats und zu den Interaktionsbeteiligten wurden erheblich erweitert; u.a. lassen sich in der MoCoDa 2 die Beziehungsrelationen sämt­ licher Beteiligter spezifizieren. Darüber hinaus erkennt die MoCoDa 2 integrierte Medienobjekte (Bilder, Videos, Sprachnachrichten, Standorte, Sticker etc.) und repräsentiert diese aus datenschutz- und urheberrechtlichen Gründen anhand typisierter Platzhalter, die anschließend über das Web-Frontend um textuelle Beschreibungen (im Falle der Sprachnachrichten Wortlautabschriften oder Transkripte) ergänzt werden können. Die manuelle Pseudonymisierung der Chats durch die Spender/innen wird durch Assistenzfunktionen unterstützt. Über eine Kooperation mit dem Language Technology Lab der Universität Duisburg-Essen (Torsten Zesch und Mit­arbeiter) wurden zudem Verfahren für die sprachtechnologische Aufbereitung der in der MoCoDa 2 erfassten Daten (Part-of-Speech-Annotation) in die Infrastruktur integriert. Darüber hinaus nutzt die MoCoDa 2 Expertise und Ressourcen aus dem CLARIN-D-Kurationsprojekt „ChatCorpus2CLARIN“ (Lüngen et al. 2016), in dessen Rahmen 2016/17 das Dortmunder Chat-Korpus in die CLARIN-D-Korpusinfrastrukturen integriert und in diesem Zusammenhang um zusätzliche Annotationen erweitert wurde. Eine ausführliche Beschreibung der Konzeption und des aktuellen Stands der MoCoDa 2 bieten Beißwenger et al. (2019). MoCoDa 2 ist seit Sommer 2018 in Betrieb und ersetzt die vorherige Version. Wie die MoCoDa 1 ist auch die MoCoDa 2 (nach einer Online-Registrierung) für Forschung und Lehre frei zugänglich. Aktuell (Stand: Oktober 2019) enthält das noch junge Korpus 361 Chats mit insgesamt 1.759 Beteiligten, die insgesamt 31.189 Nachrichten bzw. 243.350 Token umfassen. Die Datenbank bietet einen einfachen Zugang mit einer intuitiven Recherche sowie Exportfunktionen und ist auf kontinuierliche Erweiterung ausgelegt: Jederzeit können weitere Daten gespendet und anhand des Web-Frontends für die Integration in die Datenbank aufbereitet werden. Die Daten lassen sich beim Recherchezugriff umfassend nach Metadaten (für die Chatbeteiligten: Alter, Geschlecht u.a.; für die einzelnen Chats: Kommunikationsanlass, Teilnehmerzahl) filtern.

1 Siehe dazu ausführlich https://db.mocoda2.de/c/input.

Die Mobile Communication Database 2 (MoCoDa 2) 

351

Für die Zukunft ist eine jährliche Überführung der Daten in das Deutsche Referenzkorpus (DEREKO) am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) geplant. Dadurch sollen die Daten auch über die Korpusrechercheschnittstellen des IDS zugänglich gemacht und dort mit Sprachdaten aus anderen in DEREKO vorhandenen Textsorten und Kommunikationsbereichen vergleichend ausgewertet werden können. Der weitere Ausbau der Ressource steht und fällt mit der Zahl der Datenspenden. Alle Leser/innen und möglichen künftigen Nutzer/innen sind herzlich eingeladen, mit der Spende eigener WhatsApp-Sequenzen dazu beizutragen, dass auf der Basis der MoCoDa 2 die linguistische Erforschung von Sprache und Kommunikation in der privaten Messenger-Kommunikation auf breiter und stets aktueller Datengrundlage ermöglicht werden kann.

Abb. 2: QR-Code mit der Weiterleitung zur Webseite der MoCoDa 2

Literatur Beißwenger, Michael/Fladrich, Marcel/Imo, Wolfgang/Ziegler, Evelyn (2019): https://www. mocoda2.de: A database and web-based editing environment for collecting and refining a corpus of mobile messaging interactions. In: European Journal for Applied Linguistics 7, 2, S. 1–12. Internet: https://doi.org/10.1515/eujal-2019-0004. Lüngen, Harald/Beißwenger, Michael/Herold, Axel/Storrer, Angelika (2016): Integrating corpora of computer-mediated communication in CLARIN-D: Results from the curation project ChatCorpus2CLARIN. In: Dipper, Stefanie/Neubarth, Friedrich/Zinsmeister, Heike (Hg.): Proceedings of the 13th Conference on Natural Language Processing (KONVENS 2016). Bochum, S. 156–164. Internet: www.linguistics.rub.de/konvens16/pub/20_konvensproc.pdf (Stand: 16.8.2019).

Aivars Glaznieks/Jennifer-Carmen Frey (Bozen)

Das DiDi-Korpus: Internetbasierte Kommunikation aus Südtirol Südtirol ist eine mehrsprachige italienische Provinz, in der die Verwendung unterschiedlicher Sprachen, besonders Deutsch und Italienisch, sowie der lokalen deutschen Dialekte in der mündlichen Kommunikation in formalen wie informalen Sprechsituationen einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert hat. Mit der Frage, welche Sprachen bzw. Varietäten in der schriftlichen Alltagskommunikation verwendet werden und welche soziolinguistischen Faktoren dabei eine Rolle spielen, hat sich das Projekt DiDi befasst, in dem die Sprach- und Varietätenverwendung in Facebook-Texten näher untersucht wurden.1 Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass das Schreiben im Dialekt besonders unter Jugendlichen weit verbreitet ist (Glaznieks/Frey 2018). Mithilfe des aus diesem Projekt entstandenen und für wissenschaftliche Nutzung frei zugänglichen Facebook-Korpus kann die Sprach- und Varietätenverwendung Südtiroler Facebooknutzer/innen in der internetbasierten Kommunikation aus unterschiedlichen linguistischen Per­ spektiven untersucht werden. Das DiDi-Korpus (vgl. Frey/Glaznieks/Stemle 2016) besteht insgesamt aus ca. 40.000 Facebook-Texten (bzw. 600.000 Token). Das Korpus ist eine Sammlung von soziolinguistisch und computerlinguistisch aufbereiteten Facebook-Statusmeldungen, -Kommentaren und -Chatnachrichten. Alle Texte stammen von privaten Profilen von 133 Personen aus Südtirol. Die Texte stellen die gesamte Textproduktion dieser Personen eines Jahres dar und stammen aus dem Jahr 2013. Die Schreiberinnen und Schreiber der Texte waren zum Zeitpunkt der Texterstellung zwischen 15 und 76 Jahre alt und sind überwiegend deutsche Muttersprachler/ innen. Auch die Texte sind überwiegend auf Deutsch verfasst, wobei das Korpus auch Texte in anderen Sprachen, allen voran auf Italienisch und Englisch, sowie gemischtsprachige Texte enthält. Eine weitere Besonderheit des Korpus stellt der relativ hohe Anteil an Texten dar, die in den lokalen Dialekten verfasst wurden. Alle dialektalen Texte wurden auf Tokenebene mit standardsprachlichen Token ergänzt, sodass Suchanfragen in der Standardsprache für alle Texte möglich sind. Zudem wurden alle Texte nach Wortart und Lemma automatisch und spezifische

1  Das Projekt Digital Natives – Digital Immigrants (DiDi) wurde von 2013–2015 von der Wissenschaftsförderung der Provinz Bozen – Südtirol finanziell gefördert (Landesgesetz vom 13. Dezember 2006, Nr. 14 „Forschung und Innovation“). Weitere Informationen zum Projekt finden sich online unter: www.eurac.edu/didi (Stand: 7.8.2019). https://doi.org/10.1515/9783110679885-019

354 

 Aivars Glaznieks/Jennifer-Carmen Frey

Phänomene internetbasierter Kommunikation wie die Verwendung von Emoticons, Emojis, Hashtags u.a. halbautomatisch annotiert. Schließlich stehen diverse personenbezogene Metadaten wie Alter, Geschlecht, regionale Herkunft u.a. zur Ver­ fügung, die das Korpus auch für soziolinguistische Untersuchungen interessant machen (vgl. Frey/Glaznieks 2018; Glaznieks/Frey 2018; Glaznieks/Glück 2019). Darüber hinaus kann das Korpus auch für didaktische Zwecke eingesetzt werden, um im schulischen und universitären Unterricht Besonderheiten von internet­ basierter Kommunikation an authentischen Texten herauszuarbeiten und zu illustrieren. Das Korpus kann über eine ANNIS-Suchoberfläche (https://commul.eurac. edu/annis/didi) direkt online durchsucht werden. Dies ermöglicht die Abfrage und Anzeige spezieller sprachlicher Phänomene in einer Keyword-in-Context-Ansicht, die auf mehrere Annotationsebenen zugreifen kann. Technisch versierte Benutzerinnen und Benutzer können das Korpus auch über die CLARIN-Infrastruktur (https://clarin.eurac.edu/; beide Stand: 7.8.2019) in Form von XML- oder JSONDateien herunterladen. Es steht somit auch für eine individuelle Weiterverarbeitung und Verwendung mit anderen Tools und Programmen zur Verfügung. Öffentlich zugänglich sind zurzeit nur die deutschsprachigen Texte; Texte in anderen Sprachen sollen jedoch zukünftig zum Korpus hinzugefügt werden.

Literatur Frey, Jennifer-Carmen/Glaznieks, Aivars (2018): The myth of the digital native: Analysing language use of different generations on Facebook. In: Vandekerckhove, Reinhild/Fišer, Darja/Hilte, Lisa (Hg): Proceedings of the 6th Conference on Computer-Mediated Communication (CMC) and Social Media Corpora (CMC-Corpora 2018). Antwerpen, S. 41–44. Frey, Jennifer-Carmen/Glaznieks, Aivars/Stemle, Egon W. (2016): The DiDi Corpus of South Tyrolean CMC Data: A multilingual corpus of Facebook texts. In: Corazza, Anna/ Montemagni, Simone/Semeraro, Giovanni (Hg.): Proceedings of the Third Italian Conference on Computational Linguistics (CLiC-it 2016). Turin, S. 157–161. Glaznieks, Aivars/Frey, Jennifer-Carmen (2018): Dialekt als Norm? Zum Sprachgebrauch Südtiroler Jugendlicher auf Facebook. In: Ziegler, Arne (Hg.): Jugendsprachen: Aktuelle Perspektiven internationaler Forschung/Youth Languages: Current perspectives of international research. Berlin/Boston, S. 859–889. Glaznieks, Aivars/Glück, Alexander (2019): From the valleys to the World Wide Web: Non-standard spellings on social network sites. In: Stemle, Egon W./Wigham, Ciara R. (Hg.): Building computer-mediated communication corpora for sociolinguistic analysis. (= Cahiers du LRL 8). Clermont-Ferrand, S. 19–43.

Daniel Pfurtscheller (Wien)

Öffentlichen Sprachgebrauch auf Facebook untersuchen Zugänge, Probleme, Erste Hilfe

1  Problemaufriss Für den öffentlichen Sprachgebrauch im Internet ist Facebook, das mit 15 Jahren zur älteren Generation von Social-Media-Sites zählt, nach wie vor hochrelevant. Im deutschsprachigen Raum ist es die am meisten genutzte Social-Media-Plattform (Newman et al. 2019). Zu den Diensten gehören unter anderem FacebookSeiten (Pages), die von Unternehmen, Parteien, Medien und anderen Institutionen oder Individuen betrieben werden und als öffentliche Angebote prinzipiell auch von nicht bei Facebook angemeldeten Personen eingesehen werden können. Solche öffentlichen Facebook-Seiten sind als sites of engagement zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Individuen reichhaltige Quellen für die linguistische Forschung. Im Vergleich zu anderen Plattformen bietet Facebook aber nur einen eingeschränkten Zugriff auf diese öffentlichen Sprach- und Interaktionsdaten (Freelon 2018). Während beispielsweise für Twitter viele Tools zur Datensammlung existieren und auch die Plattform selbst eine ausgebaute Suchmaske bietet, erschweren die limitierten Suchmöglichkeiten der Facebook-Plattform und das fehlende Angebot von einfach nutzbarer Software linguistische Projekte in Forschung und Lehre. Gleichzeitig stellen sich neben den praktischen Fragen an vielen Stellen auch forschungsethische Fragen im Umgang mit Onlinedaten.

2  Datenfangen auf Facebook: UI- und API-basierter Zugang Für die Sammlung von Sprach- und Interaktionsdaten auf Social-Media-Plattformen gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann Daten zum einen manuell auf der Oberfläche von Facebook.com oder der mobilen App sammeln und extrahieren. Dabei bewegt man sich im Rahmen des User Interface (UI) der Plattform (screen-based data collection, Androutsopoulos 2018). Zum anderen besteht die Möglichkeit, https://doi.org/10.1515/9783110679885-020

356 

 Daniel Pfurtscheller

die Programmierschnittstelle (Application Programming Interface, kurz API) von Facebook zu nutzen, mit der sich große Mengen von Sprach- und Metadaten maschinell sammeln und speichern lassen. Beide Zugänge sind kombinierbar und haben bestimmte Vor- und Nachteile (siehe Tab. 1). Eine UI-basierte Datensammlung ist mit geringem technischen Aufwand allerdings nur für eine überschaubare Datenmenge durchführbar. Man erhält in der Regel menschenlesbare Daten, die für die maschinelle Auswertung erst weiter aufbereitet werden müssen. Bei einer API-basierten Datensammlung ist es genau umgekehrt. API-basierte Zugänge sind beliebig skalier- und automatisierbar, aufgrund von Änderungen seitens Facebook allerdings auch recht fragil (Freelon 2018). Tab. 1: Ein Vergleich des UI-basierten und API-basierten Paradigmas Datensammlung

UI-basiert

API-basiert

Modell

Benutzeroberfläche

Programmierschnittstelle

Datenrepräsentation

Menschenlesbarkeit

Maschinenlesbarkeit

Skalierbarkeit

gering

hoch

technischer Aufwand

gering

hoch

Automatisierbarkeit

gering

hoch

Robustheit

hoch

gering

Öffentliche Sprachverwendung auf Facebook wird durch Algorithmen, Affordanzen und das visuelle Design der Plattform vorstrukturiert (Androutsopoulos 2016). Explorationen von API-Daten haben in diesem Zusammenhang den Vorteil, gänzlich neue, quer zum vorgegebenen Design liegende Sichten auf die Daten zu ermöglichen (eine Plattformlogik ist aber freilich ist auch in API-Daten eingeschrieben). Um Aspekte der Multimodalität der Social-Media-Interaktion einzufangen, eignen sich UI-basierte Daten, die in Plattformdesigns kontextualisiert vorliegen. Die Kombination der Zugänge erlaubt eine qualitativ-heuristische Entdeckungsmethodologie, bei der sich erweiterte Suchmöglichkeiten und empirische Belegkraft mit multimodaler Detailanalyse verbinden lassen.



Öffentlichen Sprachgebrauch auf Facebook untersuchen 

 357

3  Facebook-spezifische Softwaretools und Extraktionspraktiken Die Auswahl an Facebook-spezifischen Tools zur Datenextraktion und -analyse ist vergleichsweise gering. Der Schwerpunkt dieser Zusammenstellung liegt auf frei nutzbarer und offener Software. Eine UI-basierte Datensammlung auf Facebook lässt sich durch BrowserErweiterungen unterstützen: Ein Bookmarklet hilft dabei, die Kommentarverläufe unter Beiträgen ausklappen und automatisch erweitern zu lassen (Farley 2019). Für den Firefox-Browser gibt es eine eigene Screenshot-Erweiterung, die auch Möglichkeiten zur Anonymisierung bietet (Młokosiewicz 2019). Als Alternative zu Screenshots als Bilddatei bieten sich PDFs (über die Druckfunktion) oder HTMLArchive (Lormeau 2019) an, bei denen Texte durchsuchbar und alle Verlinkungen bestehen bleiben. Neben dem Sichern von einzelnen Postings per Copy-and-Paste oder als Screenshot lassen sich so auch ganze Kommentarverläufe in der ursprünglichen Präsentationsform dokumentieren und beispielsweise in qualitativer Analysesoftware (z.B. in MAXQDA oder ATLAS.ti) weiter auswerten. Für eine API-basierte Datensammlung gibt es im Fall von Facebook nur wenig Anwendungssoftware. Zuletzt hast sich die Lage noch verschärft: Das webbasierte Tool netvizz (Rieder 2013), das in vielen Studien zur Datensammlung verwendet wurde, ist seit August 2019 nicht mehr nutzbar. Auch die Software Facepager (Jünger/Keyling 2018) ist von einer Drosselung des öffentlichen API-Zugriffs betroffen. Durch diese Einschränkungen werden Aktivitäten auf Facebook für die Forschung immer undurchsichtiger. Es bleibt abzuwarten, wie mit dieser Datenzugangslücke (Walker/Marcea/Basos 2019) umzugehen ist und welche methodischen Lösungen sich im Post-API-Zeitalter (Perriam/Birkbak/Freeman 2019) durchsetzen können.

4  Forschungsethische Herausforderungen Neben technisch-praktischen Herausforderungen im Umgang mit Onlinedaten und ihrer Dynamik und Ephemeralität stellen sich in der Praxis auch forschungsethische Fragen. Die Association of Internet Researchers (AoIR) setzt sich kontinuierlich dafür ein, dass die Forschung im und über das Internet auf ethische und professionelle Weise durchgeführt wird und bietet Guidelines (Markham/Buchanan 2002). Im Rahmen einer Online-Ethnografie lassen sich UI-Daten auch individuell durch (im informierten Einverständnis abgesicherte) nutzerbasierte Daten ergän-

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 Daniel Pfurtscheller

zen. Insbesondere für multimodale Analysen stellen sich dabei aber auch spezi­ fische Fragen, die von bestehenden, zum Teil recht allgemeinen Guidelines nur in Ansätzen abgedeckt werden (Venema/Pfurtscheller/Lobinger i. Ersch.).

Literatur Androutsopoulos, Jannis (2016): Mediatisierte Praktiken: Zur Rekontextualisierung von Anschlusskommunikation in den Sozialen Medien. In: Deppermann, Arnulf/Feilke, Helmuth/Linke, Angelika (Hg.): Sprachliche und kommunikative Praktiken. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2015). Berlin/Boston, S. 337–367. Androutsopoulos, Jannis (2018): Online data collection. In: Mallinson, Christine/Childs, Becky/ Van Herk, Gerard (Hg.): Data collection in Sociolinguistics: Methods and applications. 2. Aufl. New York, S. 233–243. Farley, Jens-Ingo (2019): Expand All. JavaScript bookmarklet that expands all comments and replies in Facebook posts. http://com.hemiola.com/bookmarklet/ (Stand: 7.8.2019). Freelon, Deen (2018): Computational research in the post-API age. In: Political Communication 35, S. 665–668. Jünger, Jakob/Keyling, Till (2018): Facepager. An application for generic data retrieval through APIs. https://github.com/strohne/Facepager/ (Stand: 7.8.2019). Lormeau, Gildas (2019): SingleFile. A web extension to save a complete web page as a single HTML file. https://github.com/gildas-lormeau/SingleFile (Stand: 7.8.2019). Markham, Annette/Buchanan, Elizabeth (2002): Ethical decision-making and internet research: Recommendations from the AoIR Ethics Working Committee (Version 2.0). https://aoir.org/ reports/ethics2.pdf (Stand: 7.8.2019). Młokosiewicz, Jakub (2019): Facebook Post Screenshot. Firefox web extension to save Facebook posts as images. https://github.com/hckr/fb-post-screenshot/ (Stand: 7.8.2019). Newman, Nic/Fletcher, Richard/Kalogeropoulos, Antonis/Nielsen, Rasmus Kleis (2019): Reuters Institute Digital News Report 2019. Oxford. http://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/sites/ default/files/inline-files/DNR_2019_FINAL.pdf (Stand 8.11.2019). Perriam, Jessamy/Birkbak, Andreas/Freeman, Andy (2019): Digital methods in a post-API environment. In: International Journal of Social Research Methodology. DOI: 10.1080/ 13645579.2019.1682840. Rieder, Bernhard (2013): Studying Facebook via data extraction: The Netvizz application. In: Proceedings of the 5th Annual ACM Web Science Conference. New York, S. 346–355. Venema, Rebecca/Pfurtscheller, Daniel/Lobinger, Katharin (i. Ersch.): Doing visual analysis online. Forschungsethische Herausforderungen und Handlungsempfehlungen zur Analyse vernetzter Bilder. In: Brantner, Cornelia (Hg): Vernetzte Bilder. Köln. Walker, Shawn/Marcea, Dan/Bastos, Marco (2019): The disinformation landscape and the lockdown of social platforms. In: Information, Communication & Society 22, 11, S. 1531–1543.

Simon Meier (Dresden)

Blogs, Bots & Co. – Public Humanities in den Sozialen Medien Im Projekt fussballlinguistik.de baue ich Korpora mit schriftlichen und mündlichen Texten aus dem Bereich der Fußballberichterstattung auf und mache sie über das webbasierte Tool CQPweb (Hardie 2012) der Fachöffentlichkeit zugänglich (Meier 2017). Die Korpora (www.fussballlinguistik.de/korpora) enthalten vornehmlich internetbasierte Texte wie etwa Liveticker, Spielberichte und Taktikanalysen, aber auch transkribierte Radioreportagen im Umfang von 44,8  Mio. Tokens (Stand März 2019) in den Sprachen Deutsch, Englisch, Niederländisch und Russisch in vollständig annotierter Form. Ein Teil der Daten ist zudem in das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo 2018–II) eingegangen. Die seit gut 50 Jahren etablierte sprachwissenschaftliche Forschung zur Sprache des Fußballs hat dadurch eine in ihrer Themenspezifik einzigartige empirische Ressource erhalten. Aufgrund der großen Popularität des Fußballs besteht auch am Thema der Fußballsprache ein großes öffentliches Interesse, das sich in den zahlreichen Medienbeiträgen und Büchern etwa zu Fußballfloskeln widerspiegelt (Raack 2015). Auf dem Blog fussballlinguistik.de publiziere ich deshalb laufend Ergebnisse meiner eigenen Forschungsarbeiten mit den Korpora in kürzeren Beiträgen, die ausdrücklich auch an ein nichtwissenschaftliches Publikum gerichtet sind. Für die Aufgabe der Public Humanities, also die Schaffung von realen und virtuellen Räumen zur Vermittlung und gemeinsamen Reflexion von Gegenständen und Ergebnissen geisteswissenschaftlicher Forschung, hat sich insbesondere der Social Media Dienst Twitter als geeignete Plattform erwiesen. Einblicke in laufende Forschungsarbeiten können hier rasch publiziert und Blogbeiträge oder wissenschaftliche Publikationen beworben werden. Zu dem gerade auf Twitter äußerst lebendigen Diskurs der Fußballfans ergeben sich so interessante Schnittstellen, von denen dann auch die Forschung wieder profitieren kann (Meier i. Ersch.)

1  Demonstration der Digitalen Linguistik mit Twitterbots Die technischen Rahmenbedingungen von Twitter können aber auch genutzt werden, um mithilfe von Twitterbots die Aufgabenfelder und Methoden der Digitalen Linguistik live vorzuführen. Basierend auf korpuslinguistischen Forschungsergebnissen zur Formelhaftigkeit von Fußballlivetickern (Meier 2019b) generiert https://doi.org/10.1515/9783110679885-021

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 Simon Meier

der Livetickergenerator (@randomlivetext) zufällig Livetickermeldungen, indem in eine Reihe vordefinierter, teilschematischer Satzrahmen wie etwa Nach ADJA NN zufallsbasiert Füllwerte eingesetzt werden, die zuvor in entsprechenden Korpusabfragen aus den originalen Livetickern erhoben wurden (etwa Nach sehenswerter/ fulminanter Flanke/Einzelaktion). So produziert der Bot oft überspitzte und teils skurrile Livetickermeldungen, die aber gerade in ihrer Formelhaftigkeit den registertypischen Duktus (Kuiper 1996) gut abbilden können. Durch die automatisierte Generierung von Hashtags in der für Livetweets zu Fußballspielen typischen Form wie etwa #FCBBVB (Meier 2019a) mischen sich die automatisiert generierten Meldungen dann in den vielstimmigen Twitterdiskurs der Fans, der Redaktionen und der Vereine. Im Unterschied zu vielen anderen Twitterbots geht der Livetickergenerator aber nicht verdeckt vor. Nicht nur der Status als Bot wird explizit gemacht, sondern über das Portal GitHub (https://github.com/fussballlinguist/bots) wird der zugrundeliegende Perl-Algorithmus unter einer freien MIT-Lizenz offengelegt und kann für den eigenen Gebrauch verwendet und bei Bedarf angepasst werden. Über den Webservice der Korpora zur Fußballlinguistik kann auch die Erhebung der Füllwerte reproduziert und ggf. ergänzt werden. Für noch weitergehende Analysen können zudem die Korpora mithilfe der Skripte im GitHub-Repositorium Live Text (https://github.com/fussballlinguist/livetext) von Grund auf neu erstellt werden. Der Bot erlaubt es somit, etwa computerlinguistische Tasks der Text­ generierung, die gerade im Bereich der Fußballberichterstattung längst kommerziell eingesetzt werden, methodisch transparent zu machen und zugleich spie­ lerisch-unterhaltsam zu vermitteln. Auch für die akademische Lehre kann die Adaption und Weiterentwicklung des Bots eine didaktisch interessante Aufgabe sein. Schließlich können auch aktuelle Forschungsthemen etwa zur Schnittstelle von Konstruktionsgrammatik, Phraseologie und Korpuslinguistik (Steyer (Hg.) 2018) am generierten Textmaterial veranschaulicht werden.

2  Digital Football History An der Schnittstelle zur Digital History bewegt sich dagegen der zusammen mit Jürgen Hermes (Köln) entwickelte Twitterbot Goals from the past (@retrolivetext), der auf der Basis historischer Liveticker frühere Ausgaben von aktuellen Begegnungen zeitlich synchronisiert zu den jeweils aktuellen Spielen tickert. Die ebenfalls über GitHub frei verfügbare Java-Toolbox Ticker2Chirp (https://github.com/ spinfo/Ticker2Chirp) benötigt als Input einen aktuellen Spielplan, durchsucht das Liveticker-Korpus (im XML-Format, das die oben erwähnten Live Text-Skripte aus-



Blogs, Bots & Co. – Public Humanities in den Sozialen Medien 

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geben) auf Vorläuferpartien und rechnet die Minutenangaben der Livetickermeldungen vollautomatisiert so um, dass der historische Verlauf tatsächlich parallel zum aktuellen Spiel getickert werden kann. Technisch wird hierfür der freie Webservice autoChirp (https://autochirp.spinfo.uni-koeln.de/home, Hermes et al. 2017) genutzt, über den vorab terminierte Tweets automatisiert publiziert werden können. Die Tweets dieses Bots mischen sich abermals durch die passenden Hashtags unter die aktuellen Livetweets und kommen so dem unter Fußballfans ohnehin verbreiteten und gepflegten Erinnerungsbedürfnis in Echtzeit nach. Neben dem nostalgischen Charakter führen historische Liveticker aber auch (und trotz der eigentlich geringen zeitlichen Distanz von höchstens 16 Jahren) den Wandel der Textsorte Liveticker vor Augen. Im Vergleich zu aktuellen Livetickern erweisen sich die früheren Exemplare in vielerlei Hinsicht als roher, näher an den Formulierungstraditionen der konzeptionellen Mündlichkeit, aber auch ungleich stärker mit Nationalstereotypen und Invektiven hantierend.1 Die zunächst technisch motivierte Transposition historischer Liveticker in die Gegenwart erweist sich dadurch auch als Index eines nicht nur den Fußball betreffenden gesellschaft­ lichen Wandels.

Literatur Hardie, Andrew (2012): CQPweb – combining power, flexibility and usability in a corpus analysis tool. In: International Journal of Corpus Linguistics 17, 3, S. 380–409. Hermes, Jürgen/Hoffmann, Moritz/Eide, Øyvind/Geduldig, Alena/Schildkamp, Philip (2017): Twhistory mit autoChirp Social Media Tools für die Geschichtsvermittlung. In: Digitale Nachhaltigkeit. DHd 2017 Bern, 13.–18. Februar 2017. Konferenzabstracts. Bern, S. 277–279. Internet: http://www.dhd2017.ch/wp-content/uploads/2017/03/Abstractband_def3_März. pdf (Stand: 26.6.2019). Kuiper, Koenraad (1996): Smooth talkers: the linguistic performance of auctioneers and sportscasters. Mahwah, N.J. Meier, Simon (2017): Korpora zur Fußballlinguistik – eine mehrsprachige Forschungsressource zur Sprache der Fußballberichterstattung. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 45, 2, S. 345–349. Meier, Simon (2019a): mitfiebern – Mediatisierung emotionaler Kommunikationspraktiken in Fußball-Livetickern und Livetweets. In: Hauser, Stefan/Luginbühl, Martin/Tienken, Susanne (Hg.): Mediale Emotionskulturen. (= Sprache in Kommunikation und Medien 12 ). Bern u.a., S. 155–178.

1 Vgl. etwa https://twitter.com/retrolivetext/status/1109902451493220352 (Stand: 2.9.2019).

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 Simon Meier

Meier, Simon (2019b): Formulaic language and text routines in football live text commentaries and match reports – a corpus-linguistic approach. In: Callies, Marcus/Levin, Magnus (Hg.): Corpus approaches to the language of sports: Texts, media, modalities. London, S. 13–35. Meier, Simon (i. Ersch.): Diskurslinguistik für Fans. Kritisches Medienmonitoring von Fußballfans als Gegenstand und Ziel der Diskurslinguistik. In: Zeitschrift für Diskursforschung. Sonderheft: Transdisziplinäre Diskurslinguistik: Forschungspartnerschaften zwischen Wissenschaft und Berufspraxis. Raack, Alex (2015): Den muss er machen! Phrasen, Posen, Plattitüden – die wunderbare Welt der Fußball-Klischees. Hamburg: Edel. Steyer, Kathrin (Hg.) (2018): Sprachliche Verfestigung: Wortverbindungen, Muster, PhrasemKonstruktionen. (= Studien zur Deutschen Sprache 79). Tübingen: Narr.

Netaya Lotze (Münster)

Künstliche Intelligenz im Dialog – Ein methodologisches Konzept zur Analyse von Mensch-Maschine-Interaktion Der Mythos „Künstliche Intelligenz“ wird besonders von der sogenannten „transhumanistischen“ Community im Silicon Valley propagiert, deren Vertreter wie der Physiker Ray Kurzweil davon ausgehen, dass wir in spätestens 30 Jahren mit KIs kommunizieren könnten, wie mit einem Menschen (Kurzweil 2005). Saudi Arabien hat 2017 bereits dem anthropomorphen Roboter mit Sprachinterface Sophia die Staatsbürgerschaft zugesprochen (Arab News 2017). Künstliche Intelligenzen wie Apples Assistenzsystem Siri oder Amazons Alexa halten derzeit Einzug in unseren Alltag. Chatbots und Social-Bots wie der Twitter-Bot Tay nehmen Einfluss auf öffentliche Diskurse und interaktives Spielzeug mit Dialogfunktion führt bereits unsere Jüngsten an die Interaktion mit dem artifiziellen Gegenüber heran. Hier entsteht eine völlig neue Form der Dialogizität, die wir aus linguistischer Perspektive noch kaum verstehen. Unabhängige Studien zur MenschMaschine-Interaktion stellen also ein großes Desiderat dar. Momentan wird in erster Linie die Benutzer/innen-Freundlichkeit, die Usability, der Systeme in den Entwicklungsabteilungen von Apple, Amazon oder IBM evaluiert, um die DialogPerformance seitens der Bots zu verbessern. Dagegen gibt es wenige unabhängige Studien (Fischer 2006 (u.a); Pitsch et al. 2017 (u.a.); Lotze 2016, 2018), die die Auswirkungen der Systeme auf das sprachliche Verhalten ihrer Nutzer/innen objektiv beschreiben und interpretieren können. Nur auf dieser Basis können Prognosen gestellt werden für eine Zukunft, in der wir in unserem Alltag häufiger mit Bots konfrontiert sein werden. Aus linguistischer Perspektive ist das Szenario der Interaktion zwischen Mensch und KI besonders interessant, weil hier Grenzfragen der Interaktionsforschung aufgeworfen werden: Worin bestehen überhaupt die Grundvorraussetzungen für Dialogizität? Inwiefern erfüllen Bots diese Grundvoraussetzungen (nicht)? Und wie reagieren User/innen, wenn sie sich mit dieser selten störungsfreien Illusion von Agentivität konfrontiert sehen.

https://doi.org/10.1515/9783110679885-022

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 Netaya Lotze

1  Restriktionen von KIs in der Interaktion Microsoft-CEO Satya Nadella postulierte 2016 anlässlich der Facebook-Zulassung für Social Bots diese Technologie als intuitiv nutzbare Schnittstelle der Zukunft: „Chatbots will fundamentally revolutionize how computing is experienced by everybody. In time, human language will be taught to all computers and become the new interface.“ Aus linguistischer Perspektive ist menschliche Kommunikation aber bedeutend komplexer! Ihre logisch-semantische Referenzialität und die genutzten Wissensressourcen lassen sich nicht ohne Weiteres in einen Bot im­ plementieren. So gehen Dialogkohärenz und Kohäsion in der Mensch-MaschineInteraktion nicht über einfache Adjazenz-Strukturen hinaus (meist in Form von Frage-Antwort-Paaren). Grund dafür sind die fehlenden Voraussetzungen für Agentivität seitens des Bots: –– ein Bewusstsein, das Aussagen versteht und denkt (im Sinne des Locke’schen „Self“ und Searles „Intentionality“; Locke 1975; Searle 1997), –– Autonomie, um Handlungspläne aufzustellen und spontan zu ändern (im Sinne Kants; Kant 1999), –– Weltwissen im Sinne Habermas’ (1993) als Wissensressource, um geteiltes Wissen mit dem Gegenüber aufzubauen (Common Ground; Stalnaker 2002). Diese Aspekte sind unerlässlich, wenn sprach-ökonomisches und effizientes Dialogverhalten nach menschlichem Vorbild modelliert werden soll. Denn Menschen verbalisieren nur einen Bruchteil dessen, was mitgedacht wird. Zu infe­ rieren, was nicht verbalisiert wird, stellt bis heute eine enorme Herausforderung für jeden Parser dar.

2  Methoden zur Erforschung der Interaktion mit KIs Wie kann man sich also diesem äußerst komplexen Forschungsgegenstand methodisch annähern? Da unterschiedliche Ebenen der Interaktionssituation berücksichtigt werden müssen, empfehlen sich Methoden-Mix-Studien, die Ansätze aus Informationswissenschaften, Gesprächsforschung und Psycholinguistik konsistent zusammendenken: Die interaktive Ebene: Die Analyse der Dialoge sollte sowohl qualitativ-explorativ im Sinne einer genauen Deskription dieser neuen Form der Dialogizität erfolgen als auch quantitativ-kontrastiv, um Vergleiche ziehen zu können.



Künstliche Intelligenz im Dialog 

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1. Qualitativ-explorative Methoden der linguistischen Gesprächsforschung (u.a. Sacks/Schegloff/Jefferson 1992): In offenen Datensessions werden MenschMaschine-Dialoge gesichtet und wiederkehrende Muster extrahiert. So können relevante Forschungsparameter für weitere Untersuchungen isoliert werden: Störungen und Reparaturen, sprachliche Höflichkeit und „Flaming“ (Beschimpfungen), „Computer-Talk“ (Simplifizierung und Explizitheit), Dialog-Kohärenz und Kohäsion. 2. Quantitativ-vergleichende Methode der Korpuslinguistik: Annotation und Auszählung von Untersuchungsparametern sowie die statistische Aufbereitung von Dialogdaten kommen in der Mensch-Maschine-Interaktions-Forschung zum Einsatz, um Vergleiche ziehen zu können: a) zur Mensch-MenschKommunikation und b) zwischen unterschiedlichen Anwendungskontexten (unterschiedliche Chatbots, unterschiedliche Interaktionssituationen). Hier haben theorie-geleitete, hypothesen-prüfende Verfahren ihren Platz, aber immer erst im zweiten Schritt auf Grundlage der Explorationsphase. Die Untersuchungsparameter müssen klar quantifizierbar sein, wie z.B.: Turn-Längen (in WF), Adjazenzellipsen (pro Turn/pro Dialog), Konstruktionsübernahmen (pro Turn/pro Dialog), Emoticons/Emojis (pro Turn/pro Dialog). Die kognitive Ebene: Den herausgearbeiteten sprachlichen Phänomenen liegen kognitive Konzepte zugrunde (z.B. Konstruktionsübernahmen – interaktives Alignment, Kohäsionsmarker – logische Kohärenz), die in psycholinguistischen User/ innen-Experimenten überprüft werden können. Hier wäre ein mögliches Szenario z.B., dass User/innen gemeinsam mit einem System kollaborative Aufgaben lösen. Der Vorteil von Dialogsystemen in experimentellen Settings ist, dass sie hochgradig kontrollierbar sind. Sofern man testen möchte, wie sich Nutzer/innen gegenüber einer noch nicht vorhandenen Technologie verhalten würden (z.B. einem störungsfreien Assistenzsystem), eignen sich sogenannte „Wizard-of-Oz“Experimente, in denen ein/e Verbündete/r der Versuchsleitung sich als Bot ausgibt. Die technologische Ebene: Bei der Interpretation der Sprachdaten müssen die technologischen Rahmenbedingungen immer mitgedacht werden. Unterschied­ liche System-Architekturen (z.B. plan-basierte Systeme vs. statistische Big-DataAnsätze) und Dialog-Designs (z.B. einfacher Parsing-Prompting-Mechanismus auf der Basis von Keywords oder hinterlegte Dialog-Skripte) begünstigen nämlich unterschiedliche sprachliche User/innen-Strategien. Zur Interpretation dieser Variable ist ein in Informatik und Informationswissenschaften fundierter Zugang unerlässlich. Darauf aufbauend können im letzten Schritt auf der Basis der Ergebnisse der Grundlagenforschung neue Systeme oder Dialog-Designs entwickelt

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 Netaya Lotze

werden. In Usability-Studien kann dann evaluiert werden, ob die linguistisch fundiere Herangehensweise auch zu einer verbesserten Dialog-Performanz der KI führt.

Abb. 1: Methodenkreislauf der linguistischen KI-Forschung

Idealerweise entsteht so ein Kreislauf der Forschungsansätze und Methoden (vgl. auch Krämer 2008), da Theorie und Praxis in der Mensch-Maschine-Interaktionsforschung Hand in Hand gehen sollten. Die linguistische KI-Forschung ist also im Kern interdisziplinär und vereint Aspekte der Philosophie, Linguistik, Soziologie, Psychologie und Informatik.

Literatur Arab News (2017): Robot Sophia speaks at Saudi Arabia's Future Investment Initiative. Youtube Video. www.youtube.com/watch?v=dMrX08PxUNY (Stand: 21.4.2019). Fischer, Kerstin (2006): What computer talk is and isn’t: Human-computer conversation as intercultural communication. Saarbrücken. Habermas, Jürgen (1993): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Berlin. Kant, Immanuel (1999): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. (= Philosophische Bibliothek 519). Hamburg. Krämer, Nicole C. (2008): Soziale Wirkungen virtueller Helfer. Gestaltung und Evaluation von Mensch-Computer-Interaktion. Stuttgart. Kurzweil, Ray (2005): The singularity is near: When humans transcend biology. New York.



Künstliche Intelligenz im Dialog 

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Locke, John (1975): An essay concerning human understanding. Edited with an introduction, critical appartus and glossary by Peter H. Nidditch. Oxford. Lotze, Netaya (2016): Chatbots – eine linguistische Analyse. (= Sprache – Medien – Innovationen 9). Frankfurt a.M. Lotze, Netaya (2018): Zur sprachlichen Interaktion mit Chatbots – eine linguistische Perspektive. In: Hug, Theo/Pallaver, Günther (Hg.): Talk with the bots – Gesprächsroboter und Social Bots im Diskurs. Innsbruck, S. 29–50. Pitsch, Karola/Gehle, Raphaela/Dankert, Timo/Wrede, Sebastian (2017): Interactional dynamics in user groups: Answering a robot's question in adult-child constellations. In: Wrede, Britta/Nagai, Yukie/Komatsu, Takanori/Hanheide, Marc/Natale, Lorenzo (eds.): HAI ’17 – Proceedings of the 5th International Conference on Human Agent Interaction, Bielefeld, Germany, October 17–20, 2017. Bielefeld, S. 393–397. Sacks, Harvey/Schegloff, Emanuel A./Jefferson, Gail (1992): Lectures on conversation. 2 Volumes. Oxford. Searle, John R. (1980): Minds, brains and programms. In: Behavioural and Brain Sciences 3, S. 417–457. Searle, John R. (1997): Intentionalität – eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes. Frankfurt a.M. Stalnaker, Robert C. (2002): Common ground. In: Linguistics and Philosophy 25, S. 701–721. Zoeppritz, Magdalena (1985): Computer talk? (= Technical Reports/IBM Germany Heidelberg Scientific Center TN 85.05). Heidelberg.

Berfin Aktaş/Yulia Clausen/Tatjana Scheffler/Manfred Stede (Potsdam)

Diskursstrategien in Sozialen Medien

Die Sprache in Sozialen Medien zeigt auf allen Ebenen eine hohe Variabilität und wurde daher als eine Mischung verschiedener Register (Tagliamonte/Denis 2008) analysiert, die sowohl informelle als auch formelle Formen umfassen. Im Gegensatz zu herkömmlichen schriftlichen Medien, wie z.B. Zeitungstexten, sind Soziale Medien wie Chat, Twitter, Forumsdiskussionen, Facebook oder Blogs für diverse Autor/innen zugänglich, sind spontaner, und unterliegen weniger den sprachlichen Standards. Ein Teil der in diesen Kommunikationskanälen gefundenen Variabilität wird häufig auf Fehler zurückgeführt, es gibt jedoch viele Phänomene, die eigenen Regeln folgen. In Bezug auf das Kontinuum von konzeptueller/medialer Mündlichkeit/Schriftlichkeit (Koch/Oesterreicher 1985) befinden sich die meisten Social-Media-Beiträge in der Mitte des konzeptuellen Oralitätskontinuums, obwohl deren genaue Position bisher weitgehend unbestimmt ist. Soweit Nicht-StandardMerkmale untersucht wurden, wurde meist die Orthographie, Morphologie, das Lexikon und die Syntax (z.B. Abkürzungen, Emoticons, Ellipsis) berücksichtigt. Im Gegensatz dazu wählen wir einen pragmatischen, diskursorientierten Standpunkt: Welche Diskursstrategien wählen Sprecher/innen in Sozialen Medien und wie unterscheiden sich diese von bisher untersuchten Medienformen? Als Ausgangspunkt dient uns der Begriff des „Common Ground“ (CG; Stalnaker 1978, der das gemeinsame Wissen der Konversationsteilnehmer/in­nen bezeichnet, und dessen Maximierung als Ziel von Konversationen angesehen werden kann. Verschiedene Medien stellen nun verschiedene Mittel bereit, wie diskurs­ pragmatische Bedeutung enkodiert werden kann. Im Allgemeinen stellen wir die Hypothese auf, dass die beobachtete Variabilität in den Sozialen Medien nicht aus einer „alles geht“-Einstellung der Sprecher/innen resultiert, sondern aus der Interaktion des internen grammatikalischen Systems eines jeden Einzelnen mit den sozialen und kontextuellen Beschränkungen eines bestimmten sprach­lichen Beitrags. Die spezifischen Phänomene, die wir untersuchen, tragen alle zum CommonGround-Management im Diskurs bei. Wir untersuchen erstens die Funktionen ausgewählter Diskurspartikel (Frageanhängsel und Modalpartikeln), die sich auf den CG beziehen oder diesen verändern. Diese Partikeln sind häufig in gesprochener Konversation, aber nur wenig analysiert, weil sie in geschriebenen Texten selten vorkommen. Soziale Medien bieten hier ein interessantes Medium, welches spontane, gleichwohl geschriebene Sprache enthält. Zweitens adressieren wir Koreferenzphänomene wie die Referenzauflösung bei Personalpronomen. Aus https://doi.org/10.1515/9783110679885-023

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 Berfin Aktaş/Yulia Clausen/Tatjana Scheffler/Manfred Stede

der Literatur ist bekannt, dass gesprochene Gespräche und geschriebene Texte sich signifikant in Bezug auf die Länge und Form der Koreferenzketten unterscheiden (z.B. Fox 1987; Amoia/Kunz/Lapshinova-Koltunski 2012). Drittens betrachten wir die Diskursstruktur durch Kohärenzbeziehungen, die einen Diskursabschnitt an einen Teil des vorherigen Diskurses anhängen. Dieser Schritt wird durch die Verwendung von Konnektoren der Sprecher/innen erleichtert, die die Art der Beziehung signa­lisieren können. Auch hier sind große Unterschiede zwischen Kohärenzrelationen in gesprochener Sprache und Text in der Literatur belegt, und wir richten die Aufmerksamkeit insbesondere auf Konversationen in Twitter, wo relativ wenige Per­sonen miteinander interagieren und auf vorangehende Beiträge Bezug nehmen. In der ersten Projektphase stand die Konstruktion eines Korpus für die Untersuchung der genannten Fragestellungen im Vordergrund. Für die Koreferenz konzentrieren wir uns auf das Englische und nutzen mit OntoNotes (Hovy et al. 2006) und ARRAU (Poesio/Artstein 2008) zwei bereits annotierte Korpora, in denen sowohl geschriebene als auch gesprochene Sprache vertreten ist (beide sind über das Linguistic Data Consortium1 erhältlich). Ergänzend dazu haben wir ein Korpus von Twitter-Konversationen zusammengestellt und hinsichtlich der Koreferenzbeziehungen annotiert. Die gleichen Daten nutzen wir auch für die Untersuchung von Kohärenzrelationen, damit auch die Zusammenhänge zwischen beiden Annotationsebenen ausgelotet werden können. Die Kohärenz wird nach dem Muster der Penn Discourse Treebank (Prasad et al. 2008) analysiert, wo Konnektoren, konnexionsanzeigende Phrasen sowie implizite Diskursrelationen mit ihren Argumenten annotiert werden, dabei aber zunächst keine Annahmen über eine resultierende übergeordnete Struktur getroffen werden. Für die Analyse der Diskurs­ partikeln vergleichen wir Konversationen aus dem deutschen Twitterkorpus von Scheffler (2014) mit Telefongesprächen aus CALLHOME (Karins et al. 1997). Unsere ersten Analysen zeigen deutliche Unterschiede in der Verwendung der diskurspragmatischen Mittel in den Sozialen Medien im Vergleich zur geschrie­ benen oder gesprochenen Sprache. So werden z.B. Frageanhängsel wie „ne?“ in Gesprächen häufig verwendet, um sicherzustellen, dass Hörer/innen eines Fakts gewahr sind, während diese Verwendung auf Twitter fast völlig fehlt. Hier dienen Frageanhängsel zur Einforderung von Zustimmungen (1a) oder Bestätigungen (1b). Im Bereich der Koreferenz zeigen sich auch völlig neue Phänomene wie z.B. die exophore Referenz auf Objekte innerhalb von Bildern in Tweets wie in (2) – übertragen aus dem Englischen –, wo das Pronomen auf eine im Text nicht erwähnte Person auf dem Bild verweist.

1 https://www.ldc.upenn.edu/.



(1) (2)

Diskursstrategien in Sozialen Medien 

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a. Total crazy, oder? b. [über ein Produktfoto] Rewe, oder? Tweet1: […] Tweet2: die aussicht hätte mir gefallen ! zwinkere ihr zu !

Literatur Amoia, Marilisa/Kunz, Kerstin/Lapshinova-Koltunski, Ekaterina (2012): Coreference in spoken vs. written texts: A corpus-based analysis. In: Calzolari, Nicoletta/Choukri, Khalid/ Declerck, Thierry/Doğan, Mehmet Uğur/Maegaard, Bente/Mariani, Joseph/Moreno, Asuncion /Odijk, Jan/Piperidis, Stelios (Hg.): Proceedings of the Eight International Conference on Language Resources and Evaluation (LREC’12), Istanbul, Turkey, May 2012. Paris, S. 158–164. Calzolari, Nicoletta/Choukri, Khalid/Maegaard, Bente/Mariani, Joseph/Odjik, Jan/Piperidis, Stelios/Tapias, Daniel (Hg.) (2008): Proceedings of the 6th International Conference on Language Resources and Evaluation (LREC’08), Marrakech, Morocco. Paris. Fox, Barbara A. (1987): Discourse structure and anaphora: Written and conversational English. (= Cambridge Studies in Linguistics 48). Cambridge. Hovy, Eduard/Marcus, Mitchell/Palmer, Martha/Ramshaw, Lance/Weischedel, Ralph (2006): OntoNotes: The 90% Solution. In: Proceedings of the Human Language Technology Conference of the NAACL, New York June 04–09 2006. Companion Volume: Short Papers. Stroudsburg, PA, S. 57–60. Karins, Krisjanis/MacIntyre, Robert/Brandmair, Monika/Lauscher, Susanne/McLemore, Cynthia (1997): CALLHOME German transcripts. Philadelphia. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Muendlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36, S. 15–43. Poesio, Massimo/Artstein, Ron (2008): Anaphoric Annotation in the ARRAU Corpus. In: Calzolari et al. (Hg.), S. 1170–1174. Prasad, Rashmi/Dinesh, Nikhil/Lee, Alan/Miltsakaki, Eleni/Robaldo, Livio/Joshi, Aravind/ Webber, Bonnie (2008): The Penn Discourse Treebank 2.0. In: Calzolari et al. (Hg.), S. 2961–2968. Scheffler, Tatjana (2014): A German Twitter snapshot. In: Calzolari, Nicoletta/Choukri, Khalid/ Declerck, Thierry/Loftsson, Hrafn/Maegaard, Bente/Mariani, Joseph/Moreno, Asuncion/ Odijk, Jan/Piperidis, Stelios (Hg.): Proceedings of the 9th International Conference on Language Resources and Evaluation (LREC’14), Reykjavik, Iceland. Paris, S. 2284–2289. Stalnaker, Robert (1978): Assertion. In: Cole, Peter (Hg.): Pragmatics. (= Syntax and Semantics 9). New York, S. 315–332. Tagliamonte, Sali A./Denis, Derek (2008): Linguistic ruin? LOL! Instant messaging and teen language. In: American Speech 83, 1, S. 3–34.

Marc Kupietz/Nils Diewald/Eliza Margaretha/Franck Bodmer/ Helge Stallkamp/Peter Harders (Mannheim)

Recherche in Social-Media-Korpora mit KorAP 1  Einleitung

Die Korpusanalyseplattform KorAP1 wird als Nachfolgesystem zu COSMAS II am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) entwickelt und erlaubt einen umfassenden Zugriff auf einen Teil von DeReKo (Kupietz et al. 2010). Trotz einiger noch fehlender Funktionalitäten ist KorAP bereits produktiv einsetzbar. Im Folgenden wollen wir am Beispiel der Untersuchung von Social-Media-Korpora einige neue Möglichkeiten und Besonderheiten vorstellen.

2  Erstellung eines virtuellen Korpus Vor allem wenn es darum geht, eine bestimmte Sprachdomäne wie Social-MediaKommunikation auf Grundlage eines universellen Korpus zu untersuchen, ist die Möglichkeit der Bildung spezieller Sub-Korpora essenziell. In KorAP können solche sogenannten virtuellen Korpora (Kupietz et al. 2010, S. 1849) frei auf Basis indizierter, dokumentbezogener Metadatenfelder definiert werden (Bański et al. 2013). So lässt sich eine Suche auf Dokumente beschränken, die etwa einem bestimmten Texttyp zugeordnet sind oder von einem bestimmten Autor oder einer bestimmten Autorin verfasst wurden. Virtuelle Korpora, die nach komplexeren Kriterien erstellt werden müssen, um beispielsweise eine gewisse Größe oder eine Balanciertheit in Bezug auf eine Domäne aufzuweisen, lassen sich extern definieren und als hinterlegte virtuelle Korpora nach dem Vorbild von COSMAS II referenzieren (siehe Abb. 1; vgl. Kupietz et al. i. Ersch.). Diese referenzierten Korpora können zusätzlich Teil komplexerer virtueller Korpora werden – so lassen sich mehrere hinterlegte virtuelle Korpora kombinieren und unter Einbeziehung zusätzlicher Metadatenkriterien weiter einschränken.

1 https://korap.ids-mannheim.de/ (Stand: 24.9.2019). https://doi.org/10.1515/9783110679885-024

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 Marc Kupietz et al.

Abb. 1: Virtuelles Korpus aus allen Wikipedia-Dokumenten, die gleichzeitig Teil eines hinterlegten virtuellen Korpus² sind

Um die Definition virtueller Korpora zu vereinfachen, insbesondere, wenn dem Nutzer oder der Nutzerin die unterschiedlichen Werte der Metadatenfelder nicht bekannt sind, können diese mithilfe des „Corpus by Match“-Assistenten erstellt werden. Dabei kann durch Auswahl von Werten aus der Metadatenansicht eines bestimmten Treffers einem definierten virtuellen Korpus diese Werte als weitere Bedingungen hinzugefügt werden (siehe Abb. 2). Ähnlich dem „Query by Match“Assistenten (Kupietz et al. 2018) werden die neuen Kriterien zunächst angezeigt, bevor sie durch ein bestätigendes Klicken dem virtuellen Korpus hinzugefügt werden. Dies soll zum einen Fehler bei der Konstruktion des virtuellen Korpus vermeiden, zum anderen die Erstellung so transparent wie möglich machen.

Abb. 2: Der „Corpus by Match“-Assistent. Konstruktion eines virtuellen Korpus aus allen Texten mit der Korpus-Zugehörigkeit „Wikipedia“, die dem Texttyp „Benutzerdiskussion“ zugeordnet sind, anhand der Metadaten eines Treffers zum Suchwort „Newstickeritis“.

 In diesem Fall ein Subkorpus aus DeReKo, das mit einem Subkorpus des rumänischen Nationalkorpus CoRoLa vergleichbar ist (siehe Kupietz et al. i. Ersch.).

Recherche in Social-Media-Korpora mit KorAP 

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3  Hypermediale Einbindung Social-Media-Korpora weisen, wie alle Sammlungen hypermedialer Texte, eine Vielzahl verlinkter Ressourcen auf. Um diese für die Auswertung unter Umständen relevanter Informationen in KorAP abzubilden, wird die Hinterlegung beliebiger Ressourcen-Typen als Metadaten unterstützt. Diese Ressourcen können zwar abgefragt werden (per Web-API oder eingebettet in das Nutzerinterface), aber nicht Teil der Definition eines virtuellen Korpus werden. Jeder Ressource können mehrere zusätzliche Meta-Informationen beigefügt werden (modelliert als Parameter einer Data-URI³), auf deren Basis die Einbindung in das Nutzerinterface vorgenommen wird. Für die Wikipedia-Korpora wurden dabei zunächst die Quellen-URLs als externe Links eingebunden (siehe Abb. 3). So ist es möglich von einem Treffer in KorAP direkt zu der betreffenden Seite in der deutschen Wikipedia zu gelangen. Dies gilt sowohl für Artikelseiten, als auch für Nutzer- und Diskussionsseiten. Neben externen Links wird auch die Hinterlegung beliebiger Textdaten unterstützt, was Meta-Informationen erlaubt, die über das IDS-Textmodell (Lüngen/Sperberg-McQueen 2012) hinausgehen. In Zukunft planen wir, diesen Mechanismus auch für die Verlinkung weiterer Ressourcen zu nutzen, etwa auf Verfasser-Seiten von Social-Media-Beiträgen, oder auch für die Einbindung von Bild- und Tondokumenten.

Abb. 3: Einbindung beliebiger Ressourcen in Dokument-Metadaten

Um im Gegenzug Verlinkungen aus externen Applikationen zu ermöglichen, ist die Suche in KorAP zustandslos umgesetzt; das bedeutet, dass eine URL in KorAP alle

 https://tools.ietf.org/html/rfc2397 (Stand: 24.9.2019).

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relevanten Such-Parameter enthält, und so durch Weitergabe der URL ein Suchergebnis geteilt und verlinkt werden kann. Die Möglichkeit aus externen Anwendungen heraus KorAP-Recherchen auszulösen, wird beispielsweise vom CCDBNachfolgesystem (Arbeitstitel „DeReKo-Vecs“, siehe Lüngen/Kupietz in diesem Band) genutzt, um aus aggregierten Visualisierungen heraus gezielt die dem jeweiligen visualisierten Element zugrundeliegenden Konkordanzen aus einem bestimmten virtuellen Korpus anzeigen zu können. Auf diese Weise können das Zustandekommen der Visualisierung nachvollzogen und etwaige neue Hypothesen direkt überprüft werden. Die Funktionalität ist jedoch nicht auf WebApplikationen beschränkt. Sie wird auch von der Android-VR-App IDS-Wortraumstation⁴ verwendet, um in eingebetteten Web-Views die der 3D-Visualisierung zugrundeliegenden Konkordanzen innerhalb der virtuellen Realität darzustellen (siehe Abb. 4).

Abb. 4: Anzeige von Konkordanzen zu „Sockenpuppe“ in den Wikipedia-Diskussionskorpora innerhalb der Android-VR-App IDS-Wortraumstation

4  Guided Tour Ein schneller Einstieg in die Recherche mit KorAP in Social-Media-Korpora gelingt mit der neu entwickelten Guided Tour (siehe Abb. 5), die den Nutzer oder die Nutzerin anhand einer exemplarischen Suchanfrage durch das Programm führt. Dabei wird Schritt für Schritt die Erstellung einer solchen Anfrage erklärt und mittels Einblendungen die Funktionen erläutert, die dabei unterstützen.

 Siehe IDS aktuell 4/2018 unter http://www1.ids-mannheim.de/fileadmin/aktuell/newsletter/ pdf/IDS_aktuell_2018_4.pdf (Stand: 24.9.2019).

Recherche in Social-Media-Korpora mit KorAP 

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Die Benutzeroberfläche von KorAP ist mit dem Ziel konzipiert, sowohl Anfänger/innen als auch Expert/innen mit unterschiedlichen Forschungsinteressen einen einfachen Zugriff auf heterogene Korpora zu ermöglichen (Diewald/Barbu/ Verginica i. Ersch.). Die Suchanfrage wird, ähnlich wie bei Internetsuchmaschinen, unmittelbar eingegeben, komplexe Funktionalitäten und Informationen werden erst sichtbar, wenn sie gebraucht werden.

Abb. 5: Guided Tour

Die Guided Tour soll dazu dienen, ohne großen Einarbeitungsaufwand auch komplexere Funktionalitäten nicht zu übersehen.

Literatur Bański, Piotr/Frick, Elena/Hanl, Michael/Kupietz, Marc/Schnober, Carsten/Witt, Andreas (2013): Robust corpus architecture: A new look at virtual collections and data access. In: Hardie, Andrew/Love, Robbie (Hg.): Corpus Linguistics 2013. Abstract book. Lancaster, S. 23–25. Internet: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:mh39-44855 (Stand: 17.10.2019) Diewald, Nils/Barbu Mititelu, Verginica/Kupietz, Marc (i. Ersch.): The KorAP interface. Accessing CoRoLa via KorAP. In: Revue Roumaine de Linguistique. Kupietz, Marc/Diewald, Nils/Margaretha, Eliza/Bodmer, Franck/Stallkamp, Helge/Harders, Peter (2018): Neues von KorAP. In: Eichinger, Ludwig M./Plewnia, Albrecht(Hg.): Neues vom heutigen Deutsch. Empirisch – Methodisch – Theoretisch. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2018). Berlin/Boston, S. 345–349. Kupietz, Marc/Diewald, Nils/Trawiński, Beata/Cosma, Ruxandra/Cristea, Dan/Tufiş, Dan/Váradi, Tamás/Wöllstein, Angelika (i. Ersch.): Recent developments in the European Reference Corpus EuReCo. In: Granger, Sylviane/Lefer, Marie-Aude/Aguiar de Souza Penha Marion, Laura (Hg.): Book of abstracts. Using Corpora in Contrastive and Translation Studies Conference (5th edition). (= CECL Papers 1). Louvain-la-Neuve, S. 101–103.

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Kupietz, Marc/Belica, Cyril/Keibel, Holger/Witt, Andreas (2010): The German Reference Corpus DeReKo: A primordial sample for linguistic research. In: Calzolari, Nicoletta/Choukri, Khalid/ Maegaard, Bente/Mariani, Joseph/Odijk, Jan/Piperidis, Stelios/Rosner, Mike/Tapias, Daniel (Hg.): Proceedings of the Seventh International Conference on Language Resources and Evaluation (LREC 2010). Paris/Valletta, S. 1848–1854. Lüngen, Harald/Sperberg-McQueen, Christopher M. (2012): A TEI P5 document grammar for the IDS text model. In: Journal of the Text Encoding Initiative 3, S. 1–18. Internet: https:// journals.openedition.org/jtei/508 (Stand: 24.9.2019).